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German Pages 366 Year 2015
Thomas Etzemüller (Hg.) Die Ordnung der Moderne
H i s t o i r e | Band 9
Thomas Etzemüller (Hg.) Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
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Inhalt
Grundlagen Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze Thomas Etzemüller 11
Konturen von »Ordnung« in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts Anselm Doering-Manteuffel 41
Nordwesteuropa »Harmonie zu schaffen, ist Sinn und Zweck«. Der Verkehrsdiskurs und die räumliche Ordnung des Sozialen Anette Schlimm 67
Die »psychognostische Schwierigkeit der Beobachtung«. Industriebetriebliches Ordnungsdenken und social engineering in Deutschland und Großbritannien in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Timo Luks 87
Eine Moderne nach »menschlichem Maß«. Ordnungsdenken und social engineering in Architektur und Stadtplanung – Deutschland und Schweden, 1920er bis 1950er Jahre David Kuchenbuch 109
Ordnung, Ausgleich, Harmonie. Koordinaten raumplanerischen Denkens in Deutschland, 1920 bis 1970 Ariane Leendertz 129
USA »Clean Up«. Stadtplanung und Stadtvisionen in New Orleans, 1880er-1920er Jahre Nadine Klopfer 153
The Noblest Philosophy and Its Most Efficient Use: Zur Geschichte des social engineering in den USA, 1910-1965 Michael Hochgeschwender 171
Begriffsgeschichte and Übergriffsgeschichte in the History of Social Engineering. Carl Marklund 199
Die US-Verfassung als Experimentierbaukasten sozialer Gesetzgebung. Der Fall der Prohibition, 1920-1933 Thomas Welskopp 223
Grenzfälle? Social und soul engineering unter Stalin und Chruschtschow, 1928-1964 Klaus Gestwa 241
Durch »Auf bau« zur Neuordnung der Gesellschaft. Städtebauliche Leitbilder in der Volksrepublik China, 1949-1959 Susanne Stein 279
Transformationen Das »Harzburger Modell«. Ein Ordnungssystem für bundesrepublikanische Unternehmen, 1960-1975 Adelheid von Saldern 303
Residuen des Ordnungsdenkens in den 1970er Jahren? Kontinuitäten, Umbrüche, veränderte Bezugsgrößen. Die Fallbeispiele »grüne Bewegung« und »Flughafenausbau Frankfurt« Sabine Dworog/Silke Mende 331
Abbildungsnachweise 357
Autorinnen und Autoren 359
Grundlagen
Social engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze1 Thomas Etzemüller Was ist social engineering? Es gibt keinen Gegenstand, der klare Konturen aufweist. Es gibt keine personalen Netzwerke, keine zentralen Institutionen, in denen man lokalisieren könnte, was wir suchen. Forschungsliteratur existiert so gut wie keine, nicht einmal einen soliden Quellenbegriff finden wir. Wie nähert man sich einem Phänomen, das möglicherweise gar nicht existiert, wie lässt es sich konturieren? Ich versuche es zunächst mit einem prägnanten Beispiel, einer Ausstellung im Stockholm des Jahres 1930. Sie spielt in den Annalen der kontinentaleuropäischen Architekturgeschichte keine größere Rolle, doch in Schweden gilt sie nach wie vor als Durchbruch der architektonischen Moderne.2 Das ist zwar übertrieben, da sich der Funktionalismus in einem längeren Prozess durchsetzte,3 aber mit über vier Millionen Besuchern (bei sechs Millionen Einwohnern) stellte sie einen immensen Publikumserfolg dar. Es war eine Leistungsschau, die demonstrieren sollte, welchen Beitrag schwedische Architekten, Ingenieure und Kunsthandwerker 1. Ich danke Anette Schlimm, David Kuchenbuch und Timo Luks für intensive Diskussionen, ihnen sowie Ariane Leendertz, Dirk Thomaschke, Iris Carstensen und Silke Mende für wichtige Hinweise bzw. die Kritik dieses Textes. Profitiert habe ich besonders von den präzisen Anmerkungen Lutz Raphaels sowie den Diskussionen im Workshop »Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne. Nordwesteuropa, 1920er bis 1950er Jahre« und auf der Herbsttagung 2008 des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, weiterhin von meinen Präsentationen in mehreren Forschungskolloquien. – Alle Übersetzungen aus dem Schwedischen stammen von mir. 2. Zur Ausstellung ausführlich und mit zahlreichen Abbildungen: RUDBERG, Eva: The Stockholm Exhibition 1930. Modernism’s Breakthrough in Swedish Architecture, Stockholm 1999. 3. R ÅBERG, Per G.: Funktionalistiskt genombrott. En analys av den svenska funktionalismens program 1925-1931, Stockholm 1970.
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Grundlagen
zum modernen Wohnbau, Verkehr und Design leisteten. In funktionalistischen Ausstellungspavillons wurden Serienmöbel, Luxusmöbel, Keramik, edle und unedle Metalle, Beleuchtung, Glas, Tapeten, Gewächse, Textilien, Bücher und öffentliche Verkehrsmittel vorgeführt; weiter hinten auf dem Gelände waren, als wichtigster Teil der Ausstellung, funktionalistische Musterwohnungen und Musterhäuser errichtet. Diese Wohnungen waren in 15 »Bedarfstypen« unterschieden, vom single mit einem geringen Einkommen bis hin zum Sechs-Personen-Haushalt samt Dienstpersonal. Die Spannbreite der Wohnungsgröße reichte von 29 qm bis 111 qm, die kleinste Wohnung wies eine Schlafecke auf, die größte Platz für einen Flügel. Dazu kamen exemplarische Einfamilienhäuser und Villen, so dass, im Unterschied zum zeitgleichen Frankfurter Kongress, nicht nur die »Wohnung für das Existenzminimum« propagiert, sondern hochwertiger Wohnraum für jede Bevölkerungsschicht entworfen wurde. Die Idee war freilich dieselbe: jedem Menschen »seine Ration Wohnung« zuzuteilen. 4 Die gesamte Ausstellung inszenierte Leichtigkeit. Schlanke Gestalten, so stellten es sich die Planer auf Aquarellen und Gouachen vor, bewegen sich auf einem luftdurchwehten Platz, dahinter die klaren Linien der funktionalistischen Bauten; rechts Wasser und hohe Lichtmasten, in der Mitte ein fi ligraner Reklamemast – eine zierliche Eisenkonstruktion mit beleuchteten Reklametexten in moderner Typographie –, oben blauer Himmel, links das freischwebende Dach eines Musikpavillons. So sollte die moderne Gesellschaft aussehen. Die Ausstellung lässt sich also durchaus in die Geschichte der Avantgarde von Architektur und Kunst einreihen, als nördliches Pendant zur Stuttgarter Weißenhofsiedlung beispielsweise. Mit einer nur kunsthistorischen Interpretation griffe man allerdings zu kurz. Tatsächlich nämlich verstanden die Initiatoren ihre Ausstellung als ein großartiges Erziehungsprogramm mit einer durchaus antipluralistischen Stoßrichtung. Für sie visualisierte der gebaute Raum nicht nur die Moderne, er gestaltete vielmehr die Lebenswelt der Menschen auf eine spezifische Weise. Die Fassaden und Grundrisse der Gebäude, Pavillons und Musterwohnungen waren Sinnbild eines rationalisierten Lebens, in dem kein Ornament den Blick auf die »Wirklichkeit« verschleierte, und in dem die Bewegungen im Raum dem Ziel der größtmöglichen Effektivität und des geringsten Reibungsverlustes gehorchten. Dieselbe Bedeutung wurde den alltäglichen Gebrauchsgegenständen beigemessen. Die Designabteilungen priesen praktische, geschmackvolle Qualitätsgüter an, mit denen ebenfalls die Auswüchse der kapitalistischen Moderne bekämpft werden sollten, die schlechte Qualität, die Vergeudung von Ressourcen, die unübersichtliche Vielfalt. Zusätzlich wurde die Ausstellung in mehreren Katalogen und zahlreichen, reichhaltig illustrierten Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln gedoppelt. Die Gegenstände waren abgebildet, die Musterwohnungen wurden mit Grundrissen, Einrichtungslisten, den geschätzten Jahresmieten sowie 4. Vgl. INTERNATIONALE KONGRESSE FÜR NEUES BAUEN/STÄDTISCHES HOCHBAUAMT IN FRANKFURT A.M. (Hg.): Die Wohnung für das Existenzminimum. Auf Grund der Ergebnisse des II. Internationalen Kongresses für Neues Bauen, sowie der vom Städtischen Hochbauamt in Frankfurt a.M. veranstalteten Wander-Ausstellung, Frankfurt a.M. 1930, S. 8.
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den entsprechenden Einrichtungsfirmen präsentiert, Fotografien überhöhten in den Ausstellungsberichten die ästhetische Wirkung der inszenierten Moderne. Außerdem ging das Publikum selbst in die Inszenierung ein, es erschien – zumindest auf den Abbildungen – als lebendes Tableau sich selbst anordnender und bewegender Körper, das eine zukünftig verwirklichte Utopie bereits jetzt illustrierte und dadurch erst zu realisieren half. Diese Utopie bestand in der Idee, »dass die Produktion von Gebrauchsgegenständen dienen soll, nicht bloß der Schaffung von Reichtum oder einer erneuerten und entwickelten Technik, sondern vor allem der Bildung einer hochwertigen Gesellschaft. Die Gesellschaft ist insofern dem Menschen ähnlich, als dass sie ein Zusammenspiel auf bauender und zerstörender Kräfte, interesse- und idealbildender Kräfte auf der einen Seite, Trieben und Begehren auf der anderen Seite ist. Letztere müssen beherrscht werden und an Ersteren ausgerichtet werden. Je größer die Beherrschung – desto höher die geistige Reife und Kultur.«5 Die moderne Gesellschaft war ein komplexes Phänomen, dessen bedrohliches Potential kontrolliert werden musste; Kontrolle bedeutete aber zuerst Selbstbeherrschung. Deshalb wurde dem »Heim« eine große Bedeutung zugemessen. Es sollte »sozusagen als Gegengewicht gegen das aufreibende Erwerbs- und Vergnügungsleben der Gegenwart und den rücksichtslosen Kampf um das Dasein« einen Platz bieten, »wo die im tieferen Sinne guten und lebensbejahenden Kräfte gedeihen können.«6 Im Heim organisierten sich die Familien, die Familien waren Grundbaustein der Gesellschaft, sie dienten als Transformator zwischen Individuen und Gesellschaft. Nicht die avantgardistische, sondern diese reorganisierte Moderne war das, was die »Stockholm-Ausstellung« eigentlich präsentierte. In zahllosen anderen Quellentexten stößt man auf ähnliche Vorstellungen – auf den ersten Blick sogar seit der Frühen Neuzeit. Einige Fragmente. Thomas Morus beschreibt sein »Utopia« als einen baulich durchstrukturierten Raum: 54 Planstädte desselben Aussehens, kein Haus lässt eine Privatsphäre zu, die Kleidung ist funktional und uniform, unterscheidet aber verschiedene Sozialgruppen. Die Menschen sind produktiv, nicht müßig; Freizeit wird zur Bildung genutzt. »Utopia« erscheint als »rational durchkonstruiertes Gesellschaftsmodell«, das »auf strikte Funktionalität festgelegt« ist.7 Auch in Tommaso Campanellas »Sonnenstaat« ist der gebaute Raum Voraussetzung einer vernünftigen Sozialordnung. In beiden Utopien wird eine gegliederte Gemeinschaft produktiver Individuen entworfen, eine Solidargemeinschaft »neuer Menschen« als ein »holistisch gedachte[s] ideale[s] Gemeinwesen«.8 Ähnlich sieht es in anderen utopischen,9 aber auch verwirklichten Entwürfen aus. Ro5. STOCKHOLMSUTSTÄLLNINGEN 1930: Huvudkatalog, Stockholm 1930, S. 35 (Hervorh. im Orig.). 6. STOCKHOLMSUTSTÄLLNINGEN 1930: Hemmet. Konstindustrien, Stockholm 1930, S. 4. 7. SAAGE, Richard: Utopische Profile, 4 Bde., Münster 2001-2004, Bd. 1, S. 82. 8. Ebd., S. 10. 9. Vgl. HEINISCH, Klaus J. (Hg.): Der utopische Staat. Morus: Utopia, Campanella: Sonnenstaat, Bacon: Neu-Atlantis, Reinbek b. Hamburg 282005; SEIBT, Ferdinand:
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Grundlagen
bert Owen beispielsweise wollte kleine Gemeinschaften von 500 bis 2.000 Personen in viereckigen Wohnanlagen situieren; die Unterkünfte an den Seiten, die öffentlichen Gebäude in der Mitte. Auch er setzte auf funktionale, unprätentiöse Kleidung, auf die Nutzung der Freizeit zur geistigen Vervollkommnung, ebenso auf die Mechanisierung der Arbeit, vor allem jedoch auf die umsichtige, kollektive Ausbildung der Kinder. Die vernünftige Ordnung würde nicht von selbst entstehen, denn Menschen seien anfällig für Müßiggang, antisoziale Gedanken und allerlei Unwahrhaftiges. Sie mussten erzogen werden, um ihren Charakter zu bilden, erst dann rückte der gut regierte Staat in greifbare Nähe. Bei den Kindern konnte man am ehesten ansetzen, weil sie noch »vor nicht auf Tatsachen beruhenden Vorstellungen und noch mehr gegen alle den Tatsachen widersprechenden Handlungen« geschützt werden konnten. Von ihnen und von ländlichen Genossenschaften her wollte Owen eine standes-, partei- und glaubensübergreifende Gemeinschaft einsichtiger Menschen formen, als Kern der zukünftigen »höheren Gesellschaft«.10 Auch das war, wie die Utopien Morus’ und Campanellas, ein Gegenentwurf zur bestehenden Gesellschaft, aber einer, der ein dezidiertes Handlungsprogramm entwarf, um sich verwirklichen zu können.11 Wir finden ähnliche Überlegungen bei Victor Aimé Huber,12 Adriano Olivetti13 oder Walt Disney, dessen »Waltopia« die »Experimental Prototype Community of Tomorrow« realisieren sollte. Wieder war da der Gedanke: »We think the need is for starting from scratch on virgin land and building a special kind of community«, 11.000 Hektar, zwischen zwei Sümpfen gelegen. Diesmal war es eine vollklimatisierte, verkehrsgerechte Stadt, die nie erstarren, die sich immer an den neuesten Stand der Technik, der Erziehungsmethoden usw. anpassen sollte; auch sie konnte ohne die aktive Mitwirkung ihrer Bewohner nicht funktionieren (das dazugehörige »Disneyland« hätte nur einen Bruchteil der Fläche eingenommen).14 Ralph Bircher schließlich hatte den idealen Gegenentwurf zur westlichen Zivilisation in den nordindischen Bergen gefunden, die Hunsa, ein fröhliches, duldsames, radikal hygienisches und moralisch, sozial wie physisch kerngesundes Volk, das sich erbhygienisch durch Selbstzüchtung reingehalten hat.15 Utopica. Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit, München 2001 (urspr. 1972); SAAGE, Utopische Profile, Bd. 1. 10. OWEN, Robert: Eine neue Auffassung von der Gesellschaft. Ausgewählte Texte, Berlin 1989, S. 85-117, 265-310, 329-404 (Zitate S. 294, 373). 11. Für den Kontext und weitere Entwürfe: SAAGE, Utopische Profile, Bd. 3; vgl. auch HIRDMAN, Yvonne: Att lägga livet till rätta – studier i svensk folkhemspolitik, Stockholm 22000 (urspr. 1989), S. 25-61. 12. HUBER, Victor Aimé: V.A. Hubers ausgewählte Schriften über Socialreform und Genossenschaftswesen. In freier Bearbeitung herausgegeben von Dr. K[arl] Munding, Berlin 1894, S. 770-786, 807-820, 1069-1093. 13. OLIVETTI, Adriano: Society, State, Community, Mailand 1954. 14. Dieses Projekt hat Walt Disney 1966 im »Florida Film« vorgestellt (URL: [Zugriff: 10.10.2008]). 15. BIRCHER, Ralph: Hunsa. Das Volk, das keine Krankheit kennt, Bern, Stuttgart 4 1952 (urspr. 1942).
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Es ist kein Zufall, dass derartige Zukunftsentwürfe von Beginn an, und seit der Industrialisierung immer stärker, auf den gebauten Raum setzten. Über den Raum organisierten sich Gemeinschaften auf verschiedenen Ebenen, am Tor wurde geschieden, wer dazugehörte und wer nicht, über die gezielte Gestaltung des Raumes konnte Einfluss auf die Gestaltung der Gemeinschaft genommen werden, so wie umgekehrt ein verfallender Raum die Menschen verkommen ließ. Besonders in den Industriestädten des 19. Jahrhunderts kam der sich zersetzende Raum auf drastische Weise in den Blick. Eine Spezies, die sich später als Stadtsoziologie professionalisierte, begann ihre Expeditionen in die sich rasant ausweitenden »dunklen Kontinente« der Städte, um eine Geographie von Armut, Kriminalität, Unmoral, Krankheit und mangelnder Hygiene zu beschreiben. Wichtigstes Instrument dieser Bestandsaufnahme war die Kartierung, die neben der Anatomie der Stadt (Straßen, Plätze, Häuser) auch deren Physiologie erfassen sollte, die Verteilung von Sozialgruppen, sozialen Praktiken, biologischen Entwicklungen, medizinischen, hygienischen und anderen Charakteristika, soziale Bewegungslinien und Ansteckungsherde. So entstand Stadt um Stadt eine immer umfangreichere Schadenskartierung, eine präzise Aufnahme aller die Gemeinschaft zersetzenden Faktoren.16 Die Städte führten die Gefahr am eindrücklichsten und für jedermann unübersehbar vor Augen. Doch die daraus resultierenden Versuche, Gemeinschaft zu reintegrieren, beschränkten sich nicht auf die Sanierung heruntergekommener Stadtviertel. Vielmehr rückten ganz unterschiedliche Räume als soziale Interventionsfelder in den Blick, der Wohnbau und die Stadt,17 der Industriebetrieb,18 der Verkehr 19 oder die Region.20 Überall finden wir ähnliche Versuche (aber unterschiedliche konkrete Ausgestaltungen), durch die Strukturierung und Gestaltung sozialökologischer Umwelten Menschen zu verorten und zu verketten, sei es sozial in Familien, Nachbarschaften, Arbeitsbeziehungen oder aber räumlich durch die Anordnung in Mikro- und Makroeinheiten wie der Wohnung, Siedlung oder Region – samt einer Kontrolle der Zirkulationen, nämlich unumgänglicher Bewegungen im Raum, von der Küche bis zur Nation. In Gemeinschaften sollten »atomisierte« Indi16. Dazu L INDNER, Rolf: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt a.M., New York 2004; HENGARTNER, Thomas: Forschungsfeld Stadt. Zur Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischer Lebensformen, Berlin u.a. 1999; GASSER, Karin: Stadt und Delinquenz. Theoretische und Empirische Beiträge der Chicago School of Sociology 1920-1937, Bern 2002. 17. Dazu der Beitrag von David Kuchenbuch in diesem Band. 18. Dazu die Beiträge von Timo Luks und Adelheid von Saldern in diesem Band. 19. Dazu der Beitrag von Anette Schlimm in diesem Band. – Bei den Beiträgen von Luks, Schlimm und Kuchenbuch handelt es sich um erste Ergebnisse des DFGForschungsprojektes »Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne. Nordwesteuropa, 1920er bis 1950er Jahre«. Ab Frühjahr 2010 sollen dazu mehrere Monographien veröffentlicht werden. 20. Dazu der Beitrag von Ariane Leendertz in diesem Band.
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viduen organisch verschmolzen werden, das Habitat war die Voraussetzung, die Sozialbeziehungen neu zu ordnen. Es strukturierte nicht einfach die amorphe Masse. Vielmehr sollten die Menschen den rationalisierten Raum buchstäblich erfahren und dadurch zu Praktiken überzeugt werden, die gemeinschaftsstiftend waren.21 Auf die gleichen Bilder und Topoi stoßen wir, wenn wir beispielsweise Texte zur Geschmackserziehung und Wohnungseinrichtung,22 zur Rationalisierung des Körpers (Ernährungsfrage, Sport usw.),23 zur Bevölkerungsfrage,24 zur Erziehung,25 zum Konsum,26 zu Kollektivhäusern27 oder zur Rationalisierung des Haushaltes28 lesen. All diese Texte inszenieren eine großangelegte Suche nach optimalen Bedingungen, sei es eine balancierte Ernährung, 21. Dass diese Gestaltung der Sozialbeziehungen immer eine Ordnung der Geschlechterbeziehungen war, kann hier nur erwähnt werden, vgl. FRANK, Susanne: Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen 2003; sowie demnächst meine Monographie zu den schwedischen Sozialingenieuren Alva und Gunnar Myrdal. 22. Vgl. MANSKE, Beate: Wie wohnen. Von Lust und Qual der richtigen Wahl. Ästhetische Bildung in der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts, Ostfildern-Ruit 2004. 23. Vgl. BAXMANN, Inge: Der Körper der Nation, in: François, Etienne/Siegrist, Hannes/Vogel, Jakob (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 353-365; SARASIN, Philipp: Die Rationalisierung des Körpers. Über »Scientific Management« und »biologische Rationalisierung«, in: Ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 61-99. 24. Ausführlich: ETZEMÜLLER, Thomas: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007. 25. Beispielsweise MYRDAL, Alva: Stadsbarn. En bok om deras fostran i storbarnkammare, Stockholm 1935; DIES.: The Public Investment in Children, in: Social Work in the Current Scene. Selected Papers, 76th Annual Meeting [of the] National Conference of Social Work, Cleveland, Ohio, June 12-17, 1949, New York 1950, S. 70-85; KEY, Ellen: Das Jahrhundert des Kindes, Berlin 1902. 26. Vgl. ALÉX, Peder: Konsumera rätt – ett svenskt ideal. Behov, hushållning och konsumtion, Lund 2003. 27. Vgl. R ICHTER, Claire: Das Ökonomiat. Hauswirtschaftlicher Grossbetrieb als Selbstzweck, Berlin 1919; KOLLEKTIVHUS, o.O. [Stockholm], o.J. [ca. 1934]; NÄSSTRÖM, Gustaf: Svenska Slöjdföreningens utställning Hem i kollektivhus, o.O. [Stockholm], o.J. [1935]; C ALDENBY, Claes/WALLDÉN, Åsa: Kollektivhus. Sovjet och Sverige omkring 1930, Stockholm 1979; VESTBRO, Dick Urban: Kollektivhus från enkökshus till bogemenskap, Stockholm 1982. 28. Z.B. FREDERICK, Christine: Household Engineering. Scientific Management in the Home. A Correspondence Course on the Application of the Principles of Efficiency Engineering and Scientific Management to the Everyday Tasks of Housekeeping, Chicago 1919; HANSSON, Tilda (Hg.): Nutidsmat och hemhushållning. Heminredning – hemvård – barnavård, Stockholm 1937; GILBRETH, Lillian Moller: The Home-Maker and Her Job, New York, London 1938; BERGSTRÖM, Greta/BOALT, Carin/L INDEGREN, Sten: Kost och kök. 1. Stadsköket, in: HFI-meddelanden, 2, 1947, S. 59-116; ÅKERMAN, Brita U.A.:
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sei es ein effektives Bewegungsschema in den Küchen. Dazu werden Daten erhoben, in der Küche etwa: Zeit- und Energieverbrauch, Nutzungshäufigkeit, Ergiebigkeit von Verbrauchsmitteln, Platzbedarf bei verschiedenen Tätigkeiten, sinnvolle Höhen verschiedener Küchenmöbel usw. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fällt die Datenerhebung noch sehr grob aus, Mitte der 1940er Jahre gibt es bereits 100seitige Untersuchungen allein über das Geschirrspülen.29 Ehefrauen müssen lernen, die Hausarbeit als etwas Komplexes zu begreifen und deshalb ihren Alltag präzise zu planen, jeden Tag und jede Woche nach regelmäßigen Schemata zu gestalten, um sich nicht aufzureiben. In Deutschland muss man die anarchischen Essenszeiten aufgeben, in Frankreich, England und den USA halten sich alle Familienmitglieder und alle Familien an dieselbe Tageseinteilung.30 Selbst Säuglinge kann man zu schedule babies trainieren, die nicht zur Unzeit schreien, sondern sich schlafend in den Arbeitsplan der Frauen einpassen und auf die Minute passend zur Fütterung erwachen.31 Durch Rationalisierung schaff t man den Freiraum, sich selbst zu suchen. Zeit wird freigesetzt, die sich zur Selbstbildung nutzen lässt, zur Lektüre, zum Sport, für den Besuch von Bildungsveranstaltungen. Die Selbstbildung ist Ergebnis und Voraussetzung der Rationalisierung des Alltagslebens. Man muss lernen, nicht jedem spontanen Einfall zu folgen und sich ablenken zu lassen. Wer sich nicht im Griff hat, kann nicht systematisch handeln, nicht Ernährung und Haushaltskasse in Balance halten, nicht die eigene Vitalität und Aufmerksamkeit kontrollieren, nicht die Natur – etwa die normale Ermüdung – in einem balanced way in das eigene Leben integrieren. Sich selbst zu finden bedeutet zugleich, seine Aufgabe für die Gemeinschaft zu fi nden, sich einzugliedern. Das war mehr als die Taylorisierung des Lebens, mehr als bloß die Zerlegung und Rekombination alltäglicher Handlungen. Wenn die Texte in der Küche die Symbiose zwischen Frau und Technik, in der Familie die Kameradschaft der Ehepartner und Kinder, im Betrieb die Gemeinschaft der Arbeitnehmer, in den Städten die Nachbarschaften und im Raum ein balanciertes Gefüge von Siedlungen und Verkehrsflüssen entstehen lassen – strukturierter Raum, rationalisierte Praktiken, vergemeinschaftete Individuen – dann beschreiben sie eine Mesoebene, die eine ganz eigene, holistische gesellschaftspolitische Qualität besitzen sollte. Ich habe die Fragmente nur mit wenigen Strichen angedeutet. Es fällt sofort auf, wie heterogen sie sind. Ist es nicht absurd, Utopien und Küchenstudien zuDen okända vardagen. Om arbetet i hemmet, Stockholm 1983; DIES.: Kunskap för vår vardag. Utbildning och forskning för hemmen, Stockholm 1984. 29. BOALT, Carin U.A.: Diskning i hemmen, in: HFI-meddelanden 1, 1946, H. 1, S. 1-117. 30. MEYER, Erna: Der neue Haushalt. Ein Wegweiser zu wirtschaftlicher Haushaltsführung, Stuttgart 411931 (urspr. 1926), S. 31. 31. FREDERICK, Christine: The New Housekeeping. Effeciency Studies in Home Management, New York 1913, S. 89; vgl. auch BOALT, Carin/C ARLSSON, Gösta: Mor och barn från morgon till kväll. En studie av 80 barns miljö, in: HFI-meddelanden 3, 1948/49, S. 46-122.
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sammen zu denken? Wie ließe sich eine Gemeinsamkeit all dieser Fragmente belegen? Selbst wenn man die Suche nach dieser Gemeinsamkeit zunächst einmal auf das 20. Jahrhundert beschränkt, stößt man rasch auf Schwierigkeiten. Es gibt keine Institution, kein personales Netzwerk, kein Programm, keine Zeitschrift, die den Zusammenhang herstellen könnten. Wir können nicht einmal mit einem gesicherten Quellenbegriff aufwarten. Ein durchaus geläufiger Begriff bietet sich zwar an, der Begriff des social engineering.32 Sein Gebrauch ist allerdings vollständig unbestimmt. Die »Süddeutsche Zeitung« übersetzte ihn unlängst mit »zielgruppengerechter Ansprache«; laut »Wikipedia« bezeichnet er das kriminelle Ausspionieren sozialer Daten.33 William Tolman, auf den dieser Begriff zurückgehen soll, nutzte ihn, um eine ideale Beziehung zwischen Kapital und Arbeit zu entwerfen. Die Probleme von »life and labor« müssten wissenschaftlich angegangen werden, die Arbeiter sich selbst im Sinne der Unternehmen organisieren und erziehen. Damit sei dann der bei den Arbeitern ungeliebte Paternalismus durch eine Beziehung der »Gegenseitigkeit« abgelöst.34 Legt man Tolman zu Grunde und präzisiert social engineering provisorisch als »Sozialtechnologie«, so erblickt man sofort ein Bündel verwandter Begriffe: »Sozialtechnik« (1881), »Social Control« (1890), »Verwaltungstechnik« (1901), »Soziomechanik« (1905), »Human Efficieny« (1911), »Vitaltechnik« (1926), »Social Planning« (1932), »Political Science Engineering«, »Planned Society« (beide 1937), »Anthropological Engineering« (1942), »Psycho-Politik« (1947), »Ergonomics« (1949), »Kybernetische Pädagogik« (1958), »Soziale Kybernetik« (1965) oder »Soziotechnologische Systemgestaltung« (1973).35 Diese Spannbreite hilft kaum weiter, ebenso wenig wie Karl Popper, der häufig als Referenz dient. Der Sozialingenieur, so Popper, frage nicht nach »historical tendencies or the destiny of man«, er wolle die Welt gestalten. »[T]he social engineer believes that a scientific basis of politics would […] consist of the factual information necessary for the construction or alteration of social institutions, in accordance with our wishes and aims. Such a science would have to tell us what steps we must take if we wish, for instance, to avoid depressions, or else to produce depressions; or if we wish to make the distribution of wealth more even, or less even.«36 Entscheidend ist für Popper die Unterscheidung zwischen einem »piecemeal social engineering« und einem »Utopian social engineering«. Letzteres gilt Popper als gefährlich, weil es einen dogmatisch zu befolgenden Plan zur Erlangung eines ideologisch 32. Dazu auch der Beitrag von Carl Marklund in diesem Band. 33. Süddeutsche Zeitung vom 28.2.2008; WIKIPEDIA: Art. »Social Engineering«
(URL: [Zugriff: 10.11.2008]). 34. TOLMAN, William: Social Engineering. A Record of Things Done by American Industrialists Employing Upwards of One and One-half Million People, New York 1909. 35. Dies ist eine kleine Auswahl aus dem umfangreichen Begriffsfeld, das Roland Müller zusammengestellt hat (URL: [Zugriff: 10.10.2008]). 36. Beide Zitate in: POPPER, Karl R.: The Open Society and its Enemies, 2 Bde., London 1991 (urspr. 1945), Bd. 1, S. 22; vgl. auch ebd., S. 210f., Anm. 9.
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fi xierten Ziels entwirft und sich zu radikalisieren droht. Ersteres ist rational, weil es mit Hilfe von Planung reflektiert und schrittweise gesellschaftliche Missstände abstellen will, immer bereit, sich veränderten Gegebenheiten anzupassen.37 Genau diese dezidiert gemäßigte Vorstellung von social engineering können wir beispielsweise im Schweden der 1930er Jahre beobachten:38 Jede Form von Planung muss ein offener Prozess sein, der sich Veränderungen flexibel anpasst.39 Doch die wenigen Seiten Poppers machen immer noch nicht klar, wie das Phänomen präzise zu fassen sein könnte. 40 Forschungsarbeiten ganz unterschiedlicher Fächer greifen auf den Begriff zurück. Nur wenige sind begrifflich und inhaltlich weiterführend, 41 die meisten bieten klassische technokratie-, wissenschafts- bzw. politikhistorische Darstellungen. 42 37. Ebd., S. 157-168. 38. Dazu publiziere ich demnächst eine ausführliche Monographie; vgl. vorerst
ETZEMÜLLER, Thomas: Die Romantik des Reißbretts. Social engineering und demokratische Volksgemeinschaft in Schweden: Das Beispiel Alva und Gunnar Myrdal (19301960), in: Geschichte und Gesellschaft 32, 2006, S. 445-466. 39. So argumentieren ganz unterschiedliche Autoren: FREDERICK, Household Engineering, bes. S. 67-69; SCHWARZ, Rudolf: Das Unplanbare, in: Ders.: Wegweisung der Technik und andere Schriften zum Neuen Bauen, 1926-1961, Braunschweig, Wiesbaden 1979 (urspr. 1947), S. 154-175; MYRDAL, Gunnar: Asian Drama. An Inquiry into the Poverty of Nations, Harmondsworth 1968, S. 1884. 40. Ebensowenig hilfreich ist der Versuch, ahistorisch ein »vernünftiges« (proper) gegen ein »dunkles« (dark) social engineering abgrenzen zu wollen: PODGÓREKKI, Adam/ALEXANDER, Jon/SHIELDS, Rob (Hg.): Social Engineering, Ottawa 1996, bes. S. 26f. 41. Immer noch grundlegend: R APHAEL, Lutz: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 5-40; DERS.: Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918-1945), in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 327-346; vgl. aber auch HIRDMAN, Yvonne: »Social Planning Under Rational Control«. Social Engineering in Sweden in the 1930s and 1940s, in: Kettunen, Pauli/Eskola, Hanna (Hg.): Models, Modernity and the Myrdals, Helsinki 1997, S. 55-80; ALCHON, Guy: The Invisible Hand of Planning. Capitalism, Social Science, and the State in the 1920s, Princeton/NJ 1985; JORDAN, John M.: Machine-Age Ideology. Social Engineering and American Liberalism, 1911-1939, Chapel Hill u.a. 1994; L IPKIN, Zwia: Useless to the State. »Social Problems« and Social Engineering in Nationalist Nanjing, 1927-1937, Cambridge/ MA u.a. 2006. 42. Beispielsweise CHIANG, Yung-Chen: Social Engineering and the Social Sciences in China, 1919-1949, Cambridge u.a. 2001; DERINGIL, Selim: From Ottoman to Turk. Self-Image and Social Engineering in Turkey, in: Gladney, Dru C. (Hg.): Making Majorities. Constituting the Nation in Japan, Korea, China, Malaysia, Fiji, Turkey, and the United States, Stanford/CA 1998, S. 217-226; HARDTWIG, Wolfgang: Einleitung. Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, in: Ders. (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München
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Kein Gegenstand, ein unsicherer Quellenbegriff, kaum Vorbilder in der Literatur. Es bietet sich deshalb an, zunächst den Begriff synthetisch zu generieren, indem Quellenbefunde in einen systematischen Katalog überführt werden. 1. Unmittelbar fällt auf, dass wir es in allen Texten mit Akteuren zu tun haben, die sich als Experten zu etablieren suchten. Das konnten die professionals sein, die zuerst im England des 19. Jahrhunderts entstanden, als Reaktion auf die neuartige Dynamik moderner Gesellschaften. 43 Gesellschaftliche Prozesse entwickelten sich nicht mehr notwendigerweise historisch vernünftig, sie mussten gesteuert werden, um nicht zu desintegrieren. 44 Dazu bedurfte es Spezialisten, die ausgebildet waren, mit kühlem Kopf, auf strikt empirischer Basis, Prozesse und systemische Zusammenhänge zu erkennen, diese zu analysieren und dann rationale Lösungswege in die Zukunft hinein zu planen. Sie mussten die Welt als Problem beschreiben und Teil und System integriert denken können. Solche Experten – Ingenieure beispielsweise – durchliefen teilweise professionelle, zunehmend institutionalisierte Karrierewege; sie konnten sich jedoch auch selbst ermächtigen, etwa Architekten, Verkehrswissenschaftler oder Betriebssoziologen, die ihren Anspruch, Probleme zu definieren und zu lösen, in langen Aushandlungsprozessen untereinander bzw. mit den entsprechenden Institutionen durchzusetzen versuchten. Diese Experten besetzten zunehmend die zahllosen Funktionsstellen, an denen die 2003, S. 1-12, bes. S. 5f.; HARPER, Lawrence A.: The English Navigation Laws. A Seventeenth-Century Experiment in Social Engineering, New York 1964 (urspr. 1939); HEUVELINE, Patrick: Demographic Pressure, Economic Development, and Social Engineering. An Assessment of Fertility Declines in the Second Half of the Twentieth Century, in: Population Research and Policy Review 20, 2001, S. 365-396; LUNDGREN, Ulf P.: »Social Engineering«. Practical versus Disciplinary Knowledge in Swedish Post-War Educational Planning, in: Studies of Higher Education and Research 6, 1988, S. 1-23; MCCLYMER, John F.: War and Welfare. Social Engineering in America, 1890-1925, Westport/CN, London 1980; MAY, Glenn Anthony: Social Engineering in the Philippines. The Aims and Execution of American Educational Policy, 1900-1913, in: Philippine Studies 24, 1976, S. 135-183; REDMAN, Deborah A.: Karl Popper’s Theory of Science and Econometrics. The Rise and Decline of Social Engineering, in: Journal of Economic Issues 28, 1994, S. 67-99; WILSON, H.E.: Social Engineering in Singapore. Educational Policies and Social Change 1819-1972, Singapur 1978. 43. Vgl. dazu PERKIN, Harold: The Rise of Professional Society. England since 1880, London u.a. 1989; DERS.: The Third Revolution. Professional Elites in the Modern World, London u.a. 1996; STABILE, Donald: Prophets of Order. The Rise of the New Class, Technocracy and Socialism in America, Boston/MA 1984; ENGSTROM, Eric J./HESS, Volker/THOMS, Ulrike (Hg.): Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2005. 44. Zu diesem Umbruch DOERING-MANTEUFFEL, Anselm: Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91-119; vgl. auch STONE, Norman: Europe Transformed 1878-1919, Oxford 1999.
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Gesellschaft gestaltet und gesteuert wird, und sie gelangten zu immer größerem gesellschaftspolitischen Einfluss, weil sie nicht einfach Probleme lösten, sondern die Organisation der Gesellschaft zugleich deuteten. Für viele war zudem der Gedanke konstitutiv, dass auch Laien zu Experten werden konnten: dass sie sich zu Experten des Alltags transformieren sollten. Christine Frederick inszenierte in ihren Büchern dieses Überschreiten der Grenze. Sie hatte den Gesprächen ihres Mannes gelauscht, ließ sich dann von seinen Freunden in die Geheimnisse des scientific management einweihen, übertrug sie auf den Haushalt und legte anderen Hausfrauen nahe, sich ebenfalls selbst zu »Ingenieuren« des Haushaltes auszubilden. 45 Die Skala reichte also von hochprofessionellen Spezialisten bis zu Laienexperten; alle sollten durch die Internalisierung eines »rationalen« Umgangs mit ihrer Umwelt zum Auf bau einer »rationalen« Gesellschaft beitragen. 2. Deshalb auch die stete Betonung von Lernprozessen. Die Experten, die ich als Sozialingenieure bezeichnen will, verordneten nicht und sie wollten keine Erziehungsdiktaturen errichten. Weder demokratische noch totalitäre Staatsformen erschienen ihnen als ideal, weder das permanente Ringen um »faule« Kompromisse noch das »Führerprinzip«. Sie nutzten zwar deren Ressourcen – vor allem im »Dritten Reich« –, doch sollten die Menschen lernen, sich selbst in Form zu bringen: ihre Ernährung, ihre Körper, ihr Sozialverhalten. 46 Nur von unten, von den kleinsten Alltagspraktiken her konnte eine rationale, vernünftige Gesellschaft aufgebaut werden. Die Experten stellten das Wissen bereit, die Individuen verinnerlichten es, etwa durch die tägliche Hausarbeit oder in Diskussionszirkeln, in denen Gleichgesinnte sich gegenseitig schulten. 47 Zu Beginn sah das noch etwas plump aus, wenn ein Unternehmen die Verlängerung der Arbeitszeit in den Abend hinein von seinen Mitarbeiterinnen »demokratisch« beschließen ließ; die Verkäuferinnen argumentierten, dass sie den konkurrierenden Kaufhäusern nicht das Geschäft überlassen wollten. 48 Henry Ford setzte da schon auf höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, den Konsum und die Ausbildung Jugendlicher, um effektive, systemtreue Arbeiter zu bekommen. 49 Alva Myrdal, eine der wichtigsten schwedischen Sozialpolitikerinnen, propagierte die Erziehung der Kinder untereinander. Verhielt ein Kind sich nicht konform, wurde es von den Kameraden temporär ausgeschlossen: »Wenn [das Kind] nicht den Regeln des Spiels folgt, darf es nicht mitspielen. Das ist das Grundthema unseres gesamten sozialen Lebens, das sich das Kind selbst beibringt. […] Die soziale Erziehung, der die Kameraden einander aussetzen, ist die wirksamste aller [Erziehungsmethoden].«50 Denn welches Kind sollte gegen Regeln opponie45. FREDERICK, Household Engineering; DIES., The New Housekeeping. 46. Vgl. zu den »Technologien des Selbst« FOUCAULT, Michel: Technologien des
Selbst, Frankfurt a.M. 1993. 47. Diese Form der Selbsterziehung war v.a. eine schwedische Spezialität. 48. Dieses Beispiel bei TOLMAN, Social Engineering, S. 3. 49. Vgl. FORD, Henry: Das grosse Heute. Das grössere Morgen, Leipzig o.J. [1926]. 50. MYRDAL: Stadsbarn, S. 94, 96 (Hervorh. im Orig.).
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ren, die es selbst mit schuf? Am Ende steht der Computer, von dem man die eigenen Ernährungsgewohnheiten mit Schulnoten versehen lässt: »Computer, Computer auf dem Tisch, sage mir, wer der beste Mitbürger ist«.51 3. Wenn die Techniken des social engineering bei den Individuen ansetzten, so war doch die Population das Ziel der Interventionen, d.h. die Bevölkerung als eine biopolitisch glieder- und organisierbare Einheit.52 Grundsätzlich diente das »menschliche Maß« als Basis aller Planungen. Unendliche Datenserien wurden erhoben. Präzise wurden die materiellen und sozialen Bedürfnisse der Menschen in komplexe Tabellen überführt. In diesen Tabellen zeichnete sich ab, welches Verhalten und welche Bedürfnisse ganz offensichtlich »normal« waren. Ein »Normalmensch« entstand, aber kein Typus, sondern die Figur einer Spannbreite menschlichen Handelns, das immer in Korrelation zu diversen Kontexten gesetzt werden musste, also nie eine situationsunabhängige Norm darstellte. Es handelte sich vielmehr um eine Normalverteilungszone kontrolliert freier Zirkulation.53 Gleichzeitig waren beständig Risiken abzuschätzen: Mit welcher Wahrscheinlichkeit könnte eine dieser zirkulierenden Bewegungen künftig den Raum der Normalität verlassen und sich krisenhaft verschärfen, wo musste gezielt interveniert werden, um eine Eskalation zu verhindern? Indem die Menschen dazu gebracht wurden, sich selbst so zu konditionieren, dass sie sich »normal« verhielten, schufen sie selbst ganz zwanglos einen kontrollierten Spielraum und verteidigten dadurch die Grenze zwischen Normalität und Destruktion. Die Individuen hielten die Population in Balance. Doch zugleich verschoben die zahllosen Bewegungen beständig die Häufigkeitsverteilungen und veränderten damit die Normalität. Ganz im Sinne Poppers verstanden sich die Sozialingenieure als Realisten, die sich diesen sich verändernden Gegebenheiten anpassten. Deshalb konnten sie auch der Meinung sein, dass sie den Menschen nichts oktroyierten, was ihnen nicht ohnehin entsprach. Nur als ultima ratio wollten sie tiefe Zwangseingriffe in die Integrität nicht normalisierbarer Personen oder Personengruppen vornehmen, etwa in Skandinavien durch (Zwangs-) Sterilisierungen.54 4. Popper hatte allerdings unrecht, als er den Unterschied zwischen radika51. OLSSON, Ulf: Drömmen om den hälsosamma medborgaren. Folkuppfostran och hälsoupplysning i folkhemmet, Stockholm 1999, S. 132. 52. Zum Folgenden: FOUCAULT, Michel: Die Anormalen. Vorlesung am Collège de France (1974-1975), Frankfurt a.M. 2003; DERS.: Geschichte der Gouvernementalität, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2004; DERS.: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt a.M. 2001; L EMKE, Thomas: Biopolitik zur Einführung, Hamburg 2007; DERS.: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997; L INK, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen, Wiesbaden 1999; S OHN, Werner/MERTENS, Herbert (Hg.): Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Opladen, Wiesbaden 1999. 53. Vgl. dazu auch die anregende Studie von BERZ, Peter: 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München 2001. 54. Vgl. ETZEMÜLLER, Ein ewigwährender Untergang, S. 121-128.
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ler Utopie und »piecemeal social engineering« im Ideologiegehalt ausmachte. Auch das social engineering (das ich nun also wie einen Gegenstand zu behandeln beginne) war durch eine spezifische Weltanschauung geprägt, nämlich den Gegensatz von »Gesellschaft« und »Gemeinschaft«. Ferdinand Tönnies hatte diese Dichotomie pointiert: »Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist gemäß, daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll«.55 In zahllosen Texten triff t man auf diese Entgegensetzung, sei es in expliziten Formulierungen, sei es in metaphorischen Umschreibungen. Es handelte sich um eines der wirkmächtigsten Deutungsmuster der Moderne, konstitutiv für das social engineering. Die Industriegesellschaft schien die organische, integrierte, harmonische Gemeinschaft der Vormoderne aufzulösen und in eine atomisierte, mechanistische Gesellschaft zu verwandeln, die in ihre Einzelteile zu zerfallen drohte. Die Reintegration dieser Zerfallsprodukte in Form überschaubarer Gemeinschaften – Personenverbände, Siedlungen, Institutionen, die das rechte Maß hielten – wurde als das Heilmittel für die Verwerfungen der Moderne gehandelt. Aber diese Weltsicht war vermeintlich der Natur entnommen, nicht der Realität ideologisch übergestülpt. »Gemeinschaft« wurde wie eine Pflanze oder ein Lebewesen als Organismus begriffen;56 und wenn die Zoologie den Beweis erbrachte, dass Tiere in Gemeinschaften lebten, dies also der Natur gemäß war, so konnte »Gemeinschaft« als Norm auch für menschliche Verbände postuliert werden.57 Zwei Zitate müssen genügen, diese nicht zu unterschätzende Weltanschauung, die alles »künstlich« Organisierte verdammte und alles »Organische« verklärte, plastisch zu machen. Zum Ersten: »Alle diese Gepflogenheiten zeigen wiederum einen ausgesprochenen Hang zum Organisieren der Umwandlung des Organismus [sic], mag diese augenblicklicherweise, zeitweilig oder für die Dauer beabsichtigt sein. Zunächst ist die Durchgiftung meist eine kollektive Aufgabe, es tun sich Gruppen, Kreise, Zirkel, Mengen für sie zusammen, das Gift ›kreist‹, macht die Runde; sodann geschieht dies in zeremonieller Weise, nicht nach Belieben ›drauflos‹. […] Kurzum, die sozialorganisatorische Tendenz drängt sich auch da hervor und, was noch besonders bemerkenswert ist: sie spielt gern mit sozialorganismischen Analogien! […] Das Organisatori55. TÖNNIES, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887, S. 5. 56. Beispielsweise SCHÄFFLE, A[lbert Eberhard Friedrich]: Bau und Leben des Socialen Körpers, 2 Bde., Tübingen 21896 (urspr. 1875-1878) (Schäffle bestreitet, den sozialen Körper als Organismus bezeichnet zu haben – aber er vergleicht ihn permanent mit biologischen Organismen); K JELLÉN, Rudolf: Der Staat als Lebensform, Leipzig 1917; HELLPACH, Willy: Sozialorganismen. Eine Untersuchung zur Grundlegung wissenschaftlicher GEMEINSCHAFTSLEBENSKUNDE, Leipzig 1944. 57. HEMPELMANN, Friedrich: Frühformen der Gemeinschaft im Tierreich, in: Krueger, Felix (Hg.): Philosophie der Gemeinschaft. 7 Vorträge, gehalten auf der Tagung der Deutschen Philosophischen Gesellschaft vom 1.-4. Oktober 1928 in Leipzig, Berlin 1929, S. 120-138.
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sche macht sich anheischig, eine organische Verknüpfung der Teilnehmenden herbeizuführen. Noch in diesen subalternsten Lebensgewohnheiten lässt der noch so bescheidene Menschengeist nicht von der Zielsetzung seines Tuns, die das Organische organisiert und das Organisierte als Organisches auffasst. Es wird nicht getrunken, weil man Durst hat oder es wohlschmeckt (dies wären rein organische Motive), sondern man organisiert den ›Durst‹ zum und den ›Geschmack‹ am Trinken künstlich und betrachtet den so organisierten Trinkerkreis als etwas familiär, brüderschaftlich, organisch Verbundenes.«58 Zum Zweiten: »Durch die gesamte Geschichte des Städtebaues, des Bauens wie aller Kultur und Gestaltung zieht sich – mehr oder weniger latent – der Gegensatz vom Organischen und Anorganischen.«59 Der Begriff des Organischen umfasst: »Die Einheit des Seins und der Erscheinung, die Gliederung mit dem Ziel einer funktionellen Zu- und Unterordnung, sinnfälliger Bindung, Ein- und Anpassung, wie die Anpassung an sich und schlechthin […]. Und als Hort alles Lebens, als Garant seiner Dauer stellen wir die Familie an den Anfang all unseres Denkens und Planens. Indem wir sie zur Kindergartengemeinschaft in der Zelle, zur Schulgemeinschaft in der Nachbarschaft, zur Kultur- und Bildungsgemeinde im Stadtbezirk zusammenfassen, gliedern wir die Gesamtbevölkerung der Großstädte wieder nach den für sie wichtigsten Lebenskreisen.«60 Kurz: »Aus Masse wird Organismus!«61 Das Gegenbild wurde in unzähligen Texten durch Begriffe wie »Vermassung«, »Gestaltlosigkeit«, »Zersetzung«, »Krankheit«, »Verzweckung«, »Entseelung« oder »Entinnerlichung« sichtbar gemacht. Es war diese Biologisierung des gesellschaftspolitischen Denkens, das die oben erwähnten Eingriffe in menschliches Leben legitimierte. Denn wie die Ärzte einzelne Menschen vom Krebs heilten, indem sie krankes Gewebe entfernten, so war auch der »Volkskörper« von unkontrolliert wucherndem Material zu befreien.62 In Skandinavien führte das »nur« zur Zerstörung der Fortpflanzungsfähigkeit dieses »Materials«, in Deutschland zur massenhaften Vernichtung von »Gemeinschaftsschädlingen«. 5. Diese grundlegende Differenz auf der synchronen Ebene eröff nete ein spezifisches chronologisches Modell. Stets wurde die Gegenwart als Krise wahrgenommen, stets wurde prognostiziert, dass sie sich in die Zukunft hinein dramatisch verschärfen werde und sogar in den Untergang führen könne. Es war die diagnostische Technik der Statistik, mit der man komplexe Phänomene sichtbar machen und deren Entwicklungsrichtung errechnen konnte; das verlieh diesen Prognosen den Glanz der Wissenschaftlichkeit. Allerdings 58. HELLPACH, Sozialorganismen, S. 60. 59. REICHOW, Hans Bernhard: Organische Stadtbaukunst. Von der Großstadt zur
Stadtlandschaft, Braunschweig 1948, S. III. 60. Ebd., S. III, 106. 61. Ebd., S. 66. 62. PLANERT, Ute: Der dreifache Körper des Volkes: Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben, in: Geschichte und Gesellschaft 26, 2000, S. 539-576; BRÖCKLING, Ulrich U.A. (Hg.): Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004.
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wurde die Krise, anders als bei einem simplen Kulturpessimismus, immer als Krisis begriffen, als ein Punkt, an dem eine Entscheidung fällig und – noch – möglich war. Der Weg in die errechnete Zukunft war grundsätzlich offen, er konnte nach oben oder abwärts führen, je nachdem, wie man sich entschied.63 Das wiederum bedeutete, dass Nichthandeln für Experten keine Option war. Die eindeutige Richtung der zukünftigen Entwicklung (drohende Destruktion) erzwang eine Handlung. Daraus konnte die Pflicht zur Intervention abgeleitet werden. Die Experten erhoben nicht nur Daten, sondern waren auf Grund ihrer Prognosen geradezu gezwungen, Lösungswege zu entwerfen und sie den entscheidenden gesellschaftspolitischen Institutionen zu implementieren. Das wurde ihnen grundsätzlich erleichtert, denn die Politik brauchte Daten und Handlungskonzepte, um die extensiven sozialgestalterischen Visionen der 1930er Jahre (Sozialstaat, New Deal, Volksgemeinschaft usw.) umsetzen zu können. In Deutschland eröffnete die Symbiose von Politik und Wissenschaft den Experten nach 1933 Handlungsmöglichkeiten, die ihnen in demokratischen Regimes verwehrt blieben.64 Interessanterweise lässt sich, obwohl die Krise oft drastisch beschworen wurde, kein Beleg dafür finden, dass Sozialingenieure das Scheitern ihrer Mühen oder die Wahl des falschen Weges für möglich hielten. Selbst deutsche Experten begriffen den Mai 1945 nur als dramatische Verschärfung einer krisenhaften Situation und damit als Bestätigung, nun endlich handeln zu müssen. 6. Beglaubigt wurde der auf Prognosen beruhende Interventionismus durch einen dezidierten Habitus der Transparenz. Jede Prognose und Intervention musste auf einem soliden Fundament empirischer Daten ruhen.65 Die Ordnungspläne durften sich nicht durch Ideologie oder Metaphysik legitimieren, sondern mussten in »konkreten Ordnungen« wurzeln, wie es in Deutschland hieß. Dort waren die positiven Keime einer vernünftigen Ord63. Vgl. STEIL, Armin: Krisensemantik. Wissenssoziologische Untersuchungen zu einem Topos moderner Zeiterfahrung, Opladen 1993; GRUNWALD, Henning/PFISTER, Manfred (Hg.): Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien, München 2007; WITOSZEK, Nina/TRÄGÅRDH, Lars (Hg.): Culture and Crisis. The Case of Germany and Sweden, New York, Oxford 2004; GRAF, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krise und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008. 64. Zur gezielten Verwischung der Grenze zwischen Wissenschaft und Staat im »Dritten Reich« R APHAEL, Radikales Ordnungsdenken; DERS., Sozialexperten in Deutschland. 65. Hans Freyer hat hierfür – im Anschluss an Ernst Troeltsch, Georg Simmel, Max Weber u.a. – den Begriff der »Wirklichkeitswissenschaft« verwendet: FREYER, Hans: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig u.a. 1930. Vgl. als Musterbeispiel: SOROKIN, Pitirim A./BERGER, Clarence Q.: Time-Budgets of Human Behavior, Cambridge/MA 1939. Sorokin und Berger zeigen sich skeptisch gegenüber Planung und Prognose, sind jedoch der Meinung, das Sozialverhalten der Menschen auf die Minute genau kartieren zu können – und aus den zu langen Tabellen geronnenen Verhaltensmustern schließen sie dann empirisch valide auf den Verfall der Kultur (ähnlich: AN ENQUIRY INTO PEOPLE’S HOMES. A Report by Mass-Observation, London 1943).
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nung angelegt, aber durch dysfunktionale Strukturen überwuchert. Sie mussten freigelegt und gestärkt werden. Deshalb wurden nun auf der Mikroebene unablässig komplexe Datensätze erhoben, um die »konkreten Ordnungen« sichtbar zu machen und die sie stärkenden Einsatzpläne entwerfen und nachvollziehbar machen zu können. Auch die Methoden der Datenerhebung und mögliche Erhebungsfehler bzw. Datenlücken wurden akribisch ausgewiesen. An keiner Stelle sollten ideologische Doktrinen einsickern dürfen. In Gunnar Myrdals weit rezipierter Wertprämissenlehre hat diese Haltung einen exemplarischen Ausdruck gefunden. Man könne, so führte er aus, Daten nur mit Hilfe von Prämissen erheben. Diese Prämissen waren offenzulegen, durch ihre Kritik eröffnete sich die Möglichkeit alternativer Prämissen und Argumentationen, dadurch die Eliminierung von (unbewussten) Vorurteilen und bewussten politischen Verschleierungstaktiken, und damit waren rationale politische Handlungsanweisungen möglich.66 Das Problem war freilich, dass Sozialingenieure nie eine befriedigende Belegdichte erreichten. Das diente zwar als Ansporn, weitere Erhebungsrunden aufzulegen, doch immer wieder mussten vorerst vorläufige Annahmen über die Realität dienen. Das hinderte die Experten nicht, dezidierte Handlungsanweisungen zu geben; Gunnar Myrdal war sogar bereit, wegen des vollständigen Fehlens von Daten die Fehlerhaftigkeit seiner Argumentation einzuräumen, um dann zu schließen, dass seine Voraussagen eintreffen würden, wenn man seinen Prämissen nur folge.67 So wurden in der Figur des Experten die Sprache der Transparenz und die Sprache der Dezision gekoppelt: Das Ethos der Redlichkeit beglaubigte das Ethos der Tat, das, dank der Autoimmunisierung im Habitus der Transparenz, immer empirisch legitimiert war, selbst wenn es keine Daten gab. 7. Transparenz bedeutete aber nicht nur, Daten zu sammeln und auszuweisen. Sie wurden visualisiert, in Tabellen, Grafi ken, Kurven oder metaphorischen Bildern, in zahllosen Publikationen und Ausstellungen. Die Ordnung des Sozialen war immer eine Ordnung der Sichtbarkeit, und das social engineering ging immer mit einer großangelegten Bildpolitik einher. In Statistiken wurden komplexe Probleme überhaupt erst operationalisierbar. Auf einen Blick ließen Tabellen, Kurven und Infografi ken Entwicklungen erkennen und sogar für die Zukunft abschätzen. Fotografien von »asozialen« Menschen machten behauptete Problemlagen unmittelbar sinnlich erfahrbar; 66. Diese Lehre begründete das gesamte wissenschaftlich-politische Schaffen Gunnar Myrdals; vgl. MYRDAL, Gunnar: Den förändrade världsbilden inom nationalekonomin, in: Samhällskrisen och socialvetenskaperna. Två installationsföreläsningar, Stockholm 1935, S. 5-41; DERS.: Objectivity in Social Research, Latrobe/PA 1969. 67. MYRDAL, Gunnar: Population. A Problem for Democracy. Cambridge/MA 1940, S. 64-80, bes. S. 72f.; ähnlich CHRISTALLER, Walter: Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Darmstadt 1968 (urspr. 1933), der im Anhang das Fehlen eines kompletten Datensatzes ausweist, der für seine Argumentation eigentlich notwendig gewesen wäre (er charakterisiert Straßburg als »zentralen Ort«, kann in den umfangreichen Tabellen an Stelle der Belege aber nur »?« bieten).
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Hans Bernhard Reichow versah sein Buch über die organische Stadtbaukunst überbordend mit Abbildungen, die den Gegensatz von »organisch« und »anorganisch« vor Augen führten. Bildlich und sprachlich häufig genutzt wurde der Gegensatz von schwarz und weiß. Die alte Welt wurde als eng, verrußt, dunkel und »krank« beschrieben und mit Bildern illustriert, in denen die Farbe schwarz dominiert, die erhoff te Zukunft als weitläufig, sonnendurchflutet und »gesund«, die Abbildungen sind oft Strichzeichnungen, auf denen gerade, klare Linien und große weiße Flächen vorherrschen.68 Die Evidenz der Anschaulichkeit wurde durch lyrische Beschreibungen des Gegenstandes hervorgerufen,69 oder durch den Appell an touristische Alltagserfahrungen der Leser: »Wir denken hierbei etwa an einzelne Gebäude: die Kirche, das Rathaus, das Forum, die Schule; sie sind die äußeren Zeichen einer zentralistischen Ordnung von verschiedenartigen Gemeinschaftsgebilden. […] Je strenger und reiner der zentralistische Charakter solcher Gemeinschaftsgebäude äußerlich in Lage, Form und Größe zum Ausdruck kommt, um so größeres ästhetisches Wohlgefallen empfinden wir, da wir die Kongruenz von Zweck und Sinn mit der äußeren Form und Anordnung als logisch richtig und daher als schön anerkennen. Darum haben wir eine große Freude und geradezu eine Genugtuung, wenn wir das Bild einer mittelalterlichen Stadt betrachten […]. Kommen wir hingegen in eine moderne und junge Stadt, so vermissen wir bedauernd die klare Anordnung; eine solche Stadt erscheint uns häufig chaotisch, ohne Sinn und daher unschön. Existiert die zentralistische Ordnung der Gemeinschaften heute nicht mehr, ist an deren Stelle ein reiner Atomismus und eine zufällige Aneinanderfügung heterogener Elemente getreten?«70 Willy Hellpach inszenierte seine Beobachtungen in Fabriken als Gespräch zwischen Betriebsingenieur und lernendem Betriebssoziologen.71 In William Tolmans Buch evozieren die Arbeiter geradezu die Rolle von Models in einem Modekatalog. Sie werden auf eine ganz bestimmte Art für den Betrachter/Leser arrangiert: Abbildungen zeigen sie meist sitzend, selten in Bewegung; auch der Text lässt sie keine ungeordnete Bewegung oder unkontrollierte Handlung vornehmen. Sie provozieren kein Chaos, sondern posieren für abendliche Idyllen: »›Ain’t it nice,‹ said a little girl, who was cuddled down on a heap of gay sofa pillows, ›we sing every noon now. It’s such fun,‹ and 68. Das Titelbild des vorliegenden Bandes verdeutlicht diese Dichotomie; vgl. dazu ETZEMÜLLER, Thomas: Hjorthagen 1937. Eine Fotografie als Metapher auf die Moderne lesen, in: Budde, Gunilla/Freist, Dagmar/Reeken, Dietmar von (Hg.): Geschichts-Quellen. Brückenschläge zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik. Festschrift für Hilke Günther-Arndt, Berlin 2008, S. 45-55. Weitere Belege für dieses Bildprogramm finden sich in SCHUBERT, Dirk: Stadterneuerung in London und Hamburg. Eine Stadtbaugeschichte zwischen Modernisierung und Disziplinierung, Hamburg 1994. 69. Z.B. CROON, Helmuth/UTERMANN, Kurt: Zeche und Gemeinde. Untersuchungen über den Strukturwandel einer Zechengemeinde im nördlichen Ruhrgebiet, Tübingen 1958, S. 8. 70. CHRISTALLER, Die zentralen Orte, S. 21f. 71. HELLPACH, Willy/L ANG, Richard (Hg.): Gruppenfabrikation, Berlin 1922.
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even at her distance she joined the chorus, keeping time with her foot. ›It’s all lovely,‹ said her neighbour. ›I guess we girls who never had such things before know that.‹«72 Ordnung, die Abwesenheit von Problemen und negativer Dynamik sind bei Tolman so übermächtig, dass ihr Gegenteil im Text nicht einmal als Möglichkeit aufscheint.73 Tabellen, Kurvengrafi ken und Fotografien dienten der Propaganda, indem sie einen Schock über Gegenwart und erwartbare Zukunft auslösen (die abstürzende Kurve, das Bild des Geisteskranken) und auf suggestive Weise unabweisbaren Handlungsbedarf postulieren konnten.74 Und wenn Kurven das Ergebnis einer falschen Wegwahl vorhersagten, so verkörperten Pläne, Fließdiagramme, Grundrisse und Karten die anstehende, vernünftige Dezision. Sie verhießen, dass Experten die Dinge im Griff hatten. Last not least inszenierten die Experten sich selbst auf Fotografien und in Erfahrungsberichten als Instanzen der Wahrheit und feierten in Bildbänden und Erfolgsberichten ihre Arbeit.75 Gegen ihren eigenen Anspruch nutzten Sozialingenieure das suggestive Potential und die schwer hinterfragbare Evidenz visualisierender Techniken; sie taten das, was sie ihren Gegnern vorwarfen. Die vermeintlich präzisen Ziffern beispielsweise, die wissenschaftliche Genauigkeit symbolisierten, verschleierten Datenlücken, die soeben noch offengelegt worden waren. Gunnar Myrdals monumentales Werk über Asien hatte mit eklatanten statistischen Mängeln zu kämpfen. Mehrfach ging Myrdal darauf mit allgemein gehaltenen, aber immerhin deutlichen Formulierungen ein. Gleichzeitig enthält das Werk zahlreiche Tabellen, in denen die unterschiedlichsten wirtschaftlichen und sozialen Tatbestände – Kapitaldeckung, Einkommen, Alphabetisierungsrate, Zeitungskonsum, Kalorienversorgung usw. – auf die Nachkommastelle genau ausgewiesen werden; und diese Tabellen zog Myrdal dann zur Stützung seiner Argumentation heran.76 8. Zygmunt Bauman hat den Begriff der »ambivalenten Moderne« geprägt. Weil die Welt mit der Industrialisierung vieldeutig geworden sei, sei klassifiziert und geordnet worden, um ihr wieder eine Struktur zu geben und Mehrdeutigkeit zu beseitigen. Das sei die »typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens«, eine »Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte.«77 Der Staat wurde zum »Gärtner«: »Er entzog dem gegenwärtigen (wilden, unkultivierten) Zustand der Bevölkerung 72. TOLMAN, Social Engineering, S. 75f. 73. Deshalb kann man das Posieren auf den Photos m.E. nicht ausschließlich
mit der geringen Lichtempfindlichkeit der Negativplatten erklären. 74. Dazu, mit weiterer Literatur, am Beispiel des Bevölkerungsdiskurses: ETZEMÜLLER, Ein ewigwährender Untergang, S. 83-109. 75. Beispielsweise L ILIENTHAL, David: TVA: Democracy on the March, New York 1944. 76. Vgl. MYRDAL, Asian Drama. 77. BAUMAN, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005, S. 22.
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die Legitimation« und unterteilte »die Bevölkerung in nützliche Pflanzen, die sorgsam zu kräftigen und fortzupflanzen waren, und Unkraut – das entfernt oder samt Wurzeln herausgerissen werden mußte.«78 Der Holocaust sei der Extremfall dieser Weltsicht gewesen, doch »weder eine Anomalie noch eine Fehlfunktion […], sondern [er] demonstriert, wohin die rational-technisierten Tendenzen der Moderne führen können, wenn sie nicht kontrolliert und abgemildert werden, wenn der Pluralismus sozialer Kräfte aufgehoben ist und mithin das moderne Ideal einer bewusst geplanten und gesteuerten, konfl iktfreien, geordnet-harmonischen Gesellschaft nicht funktioniert.«79 Die Metaphorik des »Jätens« oder »Hegens« ist eingängig, trotzdem lief das social engineering nicht automatisch auf eine Radikalisierung der Biopolitik hinaus. Die wäre ohne social engineering kaum denkbar gewesen, ohne die immer wieder propagierte Grenze zwischen »kranken« und »gesunden« Teilen der Bevölkerung.80 Aber die Metapher ist schief, denn die Arbeit eines Gärtners ist mit der Vernichtung des Unkrauts nicht beendet. Er muss vielmehr mit Augenmaß pflegen und andauernde Gegenwehr der Natur tolerieren können. Ein Garten ist nie fertiggestellt. Deshalb hatten viele »Gärtner« in Europa ein anderes Verständnis von ihrer Arbeit als im »Dritten Reich«. In Schweden beispielsweise sahen sie eher Problempflanzen, die durch gute Pflege noch Zierpflanzen zu werden versprachen. Das social engineering in Schweden setzte dezidiert auf die Inklusion von Menschen, nur ein »Bodensatz« hartnäckiger Verweigerer musste eliminiert werden.81 Der Blick auf die deutsche Geschichte verstellt die Tatsache, dass normalisierende Sozialingenieure im 20. Jahrhundert tendenziell eher hegten als jäteten, dass es also um eine positiv verstandene Biopolitik ging, und dass sie nie den Endzustand eines für immer gepflegten Gartens erwarteten. Das macht sie nicht sympathischer, aber interessanter für eine Analyse von Machttechniken. Denn wer erfolgreich die Evidenz zwingender »Vernunft« erzeugen kann, dem stehen elaboriertere Techniken zur Verfügung, die Lebenspraxis von Menschen zu regulieren, ohne sie vernichten, unterdrücken oder auch nur disziplinieren zu müssen. Das social engineering war also tendenziell total, was seinen erfassenden und steuernden Anspruch betraf, nicht aber notwendig totalitär. 9. Social engineering war mehr als Planung, scientific management,82 Ord-
78. Ebd., S. 41f. 79. BAUMAN, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust,
Hamburg 1992, S. 129. 80. Vgl. R APHAEL, Radikales Ordnungsdenken; DERS.: Sozialexperten in Deutschland; NOLTE, Paul: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000. 81. Das gilt auch für andere Länder, und deshalb ist exakt parallel zur Erfolgsgeschichte des social engineering die Geschichte der amerikanisch-europäischen Sterilisierungspolitik zu beobachten. 82. MERKLE, Judith A.: Management and Ideology. The Legacy of the International Scientific Management Movement, Berkeley, Los Angeles, London 1980.
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nungssehnsucht,83 die Verwissenschaftlichung des Sozialen84 oder Technikglaube.85 All das sind gewichtige Elemente. Doch es ist sinnvoll, den Begriff für ein Ensemble von Elementen zu verwenden, die für sich genommen in ganz unterschiedlichen Kontexten auftauchen konnten, die aber in ihrer Kombination ein spezifisches Dispositiv bildeten: Die Kombination von Sozialtechnologien, einem Ordnungsmodell und einem dezidierten Gestaltungsimperativ, um die Welt als »Gemeinschaft« modellieren zu können. Das social engineering war nur eine Möglichkeit, mit der Moderne umzugehen, allerdings eine das 20. Jahrhundert entscheidend prägende. Es handelte sich um einen transnationalen, Disziplinen übergreifenden Versuch,86 mit künstlichen Mitteln eine verlorene natürliche Ordnung der Gesellschaft wieder zu erschaffen, indem man eine alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringende, vernünftige soziale Ordnung entwarf. Diese paradoxe Koppelung von Existenzangst und Optimismus unterschied das social engineering sowohl von lebensreformerischen, kulturpessimistischen, sozialistischen als auch pluralistischen Ordnungsvorstellungen.87 10. Es entstand, so die These, etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts, seine erfolgreichste Zeit war die Phase vom Ersten Weltkrieg bis etwa zum Beginn der 1960er Jahre. Mit Ende des Krieges verschärfte sich nämlich der Krisendiskurs, zugleich aber hatte der Krieg als Laboratorium gedient, spezifische Techniken des social engineering in großem Stile auszuprobieren.88 Und gerade weil die Moderne mit dem Nationalsozialismus für die Zeitgenossen so offensichtlich einmal mehr ihre destruktive Kraft bewiesen hatte, stellte das Jahr 1945 keine Zäsur dar. Die Suche nach organischen Gemeinschaften ging weiter, mit demselben Personal. Erst längere Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verloren diese Ordnungsvorstellungen zunehmend an Attraktivi-
83. ANTER, Andreas: Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen 2004. 84. R APHAEL, Lutz: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 165-193. 85. SEGAL, Howard P.: Technological Utopianism in American Culture, Chicago 1985; HÅRD, Mikael/JAMISON, Andrew (Hg.): The Intellectual Appropriation of Technology. Discourses on Modernity, 1900-1939, Cambridge/MA, London 1998; WILSON, Richard Guy/PILGRIM, Dianne H./TASHJIAN, Dickran (Hg.): The Machine Age in America 1918-1941, New York 2001 (urspr. 1986); WILLEKE, Stefan: Die Technokratiebewegung in Nordamerika und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Eine vergleichende Analyse, Frankfurt a.M. u.a. 1995. 86. Vgl. dazu SCHIVELBUSCH, Wolfgang: Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939, München 2005. 87. Vgl. HARDTWIG, Wolfgang (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, München 2007; MAKROPOULOS, Michael: Moderne und Kontingenz, München 1997. 88. Vgl. BRISTOW, Nancy K.: Making Men Moral. Social Engineering during the Great War, New York 1996.
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tät.89 Kritiker gab es schon vorher, doch erst seit den 60er Jahren gewannen jüngere Experten, die zunehmend andere Ideale verfolgten, an Einfluss. Die Angst vor Unordnung blieb, wurde aber reformuliert: In der Stadtsoziologie traten an die Stelle von »Organismus« und »Gemeinschaft« die Konzepte von »Emanzipation« und »Partizipation«, also ein Gesellschaftsbild, das auf Integration durch verantwortlich handelnde Individuuen setzte.90 Die Kybernetik hatte schon zuvor die Utopie einer durch Regelungstechniken in Homöostase gehaltenen Gesellschaft entworfen.91 In der Bevölkerungswissenschaft bedrohten »Krisen« nunmehr weniger die »Gemeinschaft« als vielmehr das »Raumschiff Erde«.92 Das Problem ist nun umrissen, aber noch nicht gelöst. Da bleibt zum einen die Begriffsfrage. Im Folgenden wird öfter das Wortungetüm »Ordnungsdenken und social engineering« im Singular zu lesen sein. Das ist eine Verlegenheitslösung. Der Begriff social engineering allein charakterisiert weder 89. Diese Überlegungen konvergieren mit unterschiedlichen Konzeptionen, die Moderne zu periodisieren. Sie begreifen den Zeitraum etwa der 1880er bis 1960er Jahre als »langes 20. Jahrhundert« mit einer Phase der Radikalisierung in der Zwischenkriegszeit; vgl. den Beitrag von Anselm Doering-Manteuffel in diesem Band sowie MAIER, Charles S.: Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Journal of History 105, 2000, S. 807831; HERBERT, Ulrich: Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5, 2007, S. 5-22; SZÖLLÖSI-JANZE, Margit: Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, S. 277-313. Vgl. aber die anregende Kritik Lutz Raphaels eines allzu simplen Periodisierungsmodells »der« Moderne als einer zu homogen gedachten Einheit: R APHAEL, Lutz: Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Schneider, Ute/Raphael, Lutz (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christoph Dipper, Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 73-91. 90. Vgl. BAHRDT, Hans Paul: Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Reinbek b. Hamburg 1961; DERS.: Humaner Städtebau. Überlegungen zur Wohnungspolitik und Stadtplanung für die nahe Zukunft, Hamburg 1968; NOTTRIDGE, Harold E.: The Sociology of Urban Living, London, Boston 1972; PICKVANCE, Christopher Geoffrey (Hg.): Urban Sociology. Critical Essays, London 1977. 91. Vgl. WIENER, Norbert: Mensch und Menschmaschine, Berlin 1958 (urspr. 1950), bes. S. 7-46; und zur kurzen Geschichte der Kybernetik HAGNER, Michael/HÖRL, Erich (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M. 2008 92. Vgl. die vollständig andere Krisendiktion in Analysen wie GLOBAL 2000. Der Bericht an den Präsidenten, Frankfurt a.M. 1980; MEADOWS, Dennis U.A.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. Vgl. auch METZLER, Gabriele: Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift 275, 2002, S. 57-103.
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eine Epoche noch die Techniken, die ich beschrieben habe. Der Begriff »Ordnungsdenken« ist ebenfalls unscharf – selbst Anarchisten zielen auf eine bestimmte Ordnung der Gesellschaft. Doch er präzisiert immerhin das, was am Begriff des social engineering wichtig ist: Das zentrale Element seiner Bestimmung liegt darin, dass in einem eng umgrenzten Zeitraum ein spezifisches Ordnungsmodell mit spezifischen Techniken der Moderne implementiert werden sollte. Für dieses Verhältnis hat sich freilich kein eingängigerer, präziserer Begriff angeboten. Da ist zum anderen die inhaltliche Abgrenzung. Wir stoßen in zahllosen Quellen auf dieselben Motive – aber handelt es sich um Dasselbe? Oder ist das nur eine verführerisch glänzende, diskursive Oberfläche, unter der sich gravierende Differenzen auftun? Morus und Campanella haben ihre Utopien in der Frühen Neuzeit gegen die bestehenden Gesellschaftssysteme geschrieben; Christine Frederick hat im 20. Jahrhundert ein Lehrbuch verfaßt, das sich im Kontext von Fordismus und Frauenbewegung verorten lässt. Die frühen britischen Expeditionen in die dunklen Zonen der Städte unterschieden sich erheblich von der amerikanischen Stadtsoziologie, besonders der Chicago School, und der Radikalisierungs- und Entradikalisierungsbewegung der deutschen Realsoziologie nach 1933 und nach 1945.93 Und Bereiche wie der Sport, Industrieunternehmen, die Verkehrswissenschaft, die Ernährungswissenschaft oder gar die mediale Diskussion über die angebliche »Bevölkerungskatastrophe« folgten Eigenlogiken, die nichts miteinander zu tun hatten. Muss man sie, im Sinne Niklas Luhmanns, als »Systeme« begreifen, die autopoietisch ihre eigenen Grenzen und ihre eigene »Wirklichkeit« errechneten?94 Und warum entstanden dann so deutliche Querbeziehungen über diese Grenzen hinweg? Außerdem unterscheidet sich die Sprache. Morus und Campanella beschrieben eine rigide geordnete (fi ktionale) Realität, nachdem sie hergestellt worden ist; Bircher hat eine organisch verwirklichte Utopie in der Realität wiedergefunden; Sozialingenieure arbeiteten mit technischen Mitteln an der künftigen Verwirklichung einer tatsächlich möglichen Gesellschaft.95 Bei Morus und Campanella ist die Arbeit der Experten bereits Vergangenheit, ohne dass wir wissen, wie sie vorgingen; bei Bircher ist keine Expertenrolle vorgesehen, sein Idyll ist nicht übertrag- oder künstlich herstellbar; Sozialingenieure 93. Z.B. EICKSTEDT, Egon Frhr. von (Hg.): Bevölkerungsbiologie der Großstadt. Der Stadt Breslau zur Siebenhundertjahrfeier ihres Wiederaufbaus nach dem Mongolensturm gewidmet, Stuttgart 1941; MACKENSEN, Rainer U.A. (Bearb.): Daseinsformen der Großstadt. Typische Formen sozialer Existenz in Stadtmitte, Vorstadt und Gürtel der industriellen Großstadt, Tübingen 1959. 94. Das legt SCHWENGER, Rudolf: Die soziale Frage im industriellen Betrieb, in: Görres-Gesellschaft (Hg.): Die soziale Frage und der Katholizismus, Paderborn 1931, S. 291-311, nahe. 95. Vgl. PEARSE, Innes/CROCKER, Lucy H.: The Peckham Experiment. A Study of the Living Structure of Society, London 1943; TYRWHITT, Jacqueline/SERT, J.L./ROGERS, E.N. (Hg.): The Heart of the City. Towards the Humanisation of Urban Life, London 1952.
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gewähren detaillierten Einblick in ihre Werkstatt, in den wissenschaftlichen Versuch, in die Zukunft zu reisen. Deshalb kann man zwar eine Konvergenz der Grundvorstellungen beobachten, die drei Seiten wären aber kaum miteinander ins Gespräch gekommen. Bei Morus, Campanella und Bircher fehlte die Verwissenschaftlichung der Problemstellung. Ähnlich verhält es sich mit der Eigenlogik dezisionistischen Denkens. Nimmt man Gunnar Myrdal und Hans Freyer als herausragende Vertreter zweier Traditionen, stellt man sofort Ähnlichkeiten fest: striktes Bekenntnis zur Empirie, Ablehnung aller »Metaphysik«, Gemeinschaft als Ziel, Krisenrhetorik sowie der Handlungsimperativ. Dann aber finden wir bei Myrdal, trotz seiner andauernden Verwendung der Vokabel »radikal«, ein Reformkontinuum, das faktisch auf Umbau, Justieren, Funktionieren und Organisation setzte, also auf eine gleichmäßig und mit Augenmaß gesteuerte Dynamik der Veränderung. Freyer dagegen vertrat die Rhetorik der revolutionären Tat, des Zerschlagens und Neuauf bauens sowie der immer erneut notwendigen radikalen Entscheidung. Das dürfte, neben dem politischen Kontext, für zwei grundlegend unterschiedlichen Konkretisierungen des gestalterischen Imperativs verantwortlich gewesen sein – und während bei Freyer schon während des Krieges Gemeinschaftssehnsucht und Dezisionismus auseinanderbrachen, er desillusioniert von der »Tat« zu den »haltenden Mächten« umschwenkte,96 fühlte Myrdal sich bis zu seinem Tode 1987 in seinem Modell durch jede lokale wie globale Krise nur bestätigt.97 Und so müssen auch bei anderen Klassikern der Geistesgeschichte sehr genau Schnittmengen und Varianten derselben Rationalität bestimmt werden, um die Reichweite des Ordnungsdenken und social engineering ausloten zu können.98 Als nächstes darf die Bedeutung von Professionen und Professionalisie96. Vgl. FREYER, Hans: Der Fortschritt und die haltenden Mächte (urspr. 1952), in: Ders., Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie, Weinheim 1987, S. 73-83. 97. Vgl. MYRDAL, Gunnar: Critical Essays on Economics, New York 1973. 98. In Andeutungen: SPENCER, Herbert: The Principles of Sociology, Osnabrück 1966 (urspr. 1876) (Spencer nutzt organizistische Metaphern offenbar auf der Suche nach einer Sprache, Gesellschaft zu beschreiben, erinnert zugleich aber sehr stark an die Denkmodelle der späteren Kybernetik); PLESSNER, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 21972 (urspr. 1924) (Plessner kritisiert ein entgrenztes Gemeinschaftsdenken und betont zugleich unterschiedliche Realisierungsmöglichkeiten von Gemeinschaft); SCHMITT, Carl: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Berlin 21993 (urspr. 1934) (Schmitt hat mit dem social engineering die Idee der »konkreten Ordnung« gemein, findet sie jedoch in einer »völkischen Lebenswirklichkeit«, nicht in empirischen Erhebungen); MANNHEIM, Karl: Freiheit und geplante Demokratie, Köln, Opladen 1970 (urspr. 1950) (Mannheim ähnelt 1950 mit seinem Plan, Gemeinschaft durch »geplante Demokratie« zu erreichen, sehr stark dem schwedischen Modell der 30er Jahre); POPPER, Open Society (das »piecemeal social engineering« konvergiert mit Schmitt und Freyer, nicht aber mit der bei ihnen angelegten Radikalisierung, sondern hier mit Gunnar Myrdals Reformkontinuum).
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rungsstrategien nicht unterschätzt werden. Krisenrhetorik und Selbstermächtigung zur Tat eigneten sich (ohne dass man rein instrumentelles Denken unterstellen muss) hervorragend zur Selbstlegitimierung als Experten und zur Selbstkonstituierung von Fächern. Architekten in Schweden, Großbritannien oder Deutschland haben sich zeitweise als Generalplaner ihrer Nationen etabliert, die grundsätzlich einen gemeinschaftsstrukturierenden Zugriff von der Mikro- bis zur Makroebene beanspruchten. Sie unterschieden sich zum einen durch die hinter der Planung stehenden Modelle – in Großbritannien oder Schweden demokratisch-dirigistisch, in Deutschland phasenweise totalitär, dann durch die Not des Wiederauf baus ermächtigt –, zum anderen durch die Formen der Realisierung: Schweden kam über einige Generalpläne für Städte nicht hinaus, im Osten Europas dagegen waren deutsche Architekten daran beteiligt, den Raum rassisch-baulich neu zu gliedern; nach dem Krieg überführten sie ihre gewonnenen Kenntnisse in den kleineren Maßstab der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Akteure, Professionen, Sprache, Intentionen, politische Hintergründe, verwirklichte Projekte und Widerständigkeiten (Sachzwänge, Eigensinn der Menschen99) sind also nicht deckungsgleich gewesen. Sie führten zu Differenzen zwischen Experten unterschiedlicher Professionen und Länder; Erfolge und besonders Fehlschläge führten, im Laufe der Zeit, zu Verschiebungen von Praktiken und Weltwahrnehmungen. Von den 1920er bis 60er Jahren geschah das eher im Rahmen kontinuierlicher Anpassungen an sich ändernde Rahmenbedingungen, die sich aus den die Handlungen reflektierenden Texten rekonstruieren lassen, 100 in den 60er Jahren dann als Bruch, als eine neue Generation die erprobten Techniken der älteren Lehrer übernahm, aber in einer neuen gesellschaftspolitischen Situation mit einem neuen Weltbild kombinierte. Die zentrale Phase des Ordnungsdenkens und social engineerings hatte mit dem Übergang von einer Disziplinierung individueller Körper zur Regulierung von Normalitätszonen begonnen. Je mehr aber die Menschen zunehmend elaboriertere, selbstregulierende Technologien verinnerlichten,101 desto weniger überzeugte ein Regime, das Kontingenz durch die Strukturierung des Sozialen einzig als »Gemeinschaft« einzuhegen suchte. Denn die modernen Konsumgesellschaften potenzierten nicht nur Vielfalt – sie schulten die Menschen zugleich, Vielfalt nicht mehr als destruktive Unübersichtlichkeit zu fürchten. »Normalität« war nicht mehr auf eine durch dunkle Kräfte belagerte Zone beschränkt, sondern fand ihren Ausdruck in einem pluralistischen, selbstregulierenden Spiel heterogener, aber nicht zentrifugaler Kräfte. 99. Legion sind die Klagen, dass die Menschen sich nicht in der Weise verhalten, die Experten unter großen Mühen als »vernünftig« ermittelt haben. 100. Ein Beispiel: DITTRICH, Erich: Raumordnung, Raumordnungspolitik und Gesellschaftspolitik, in: Institut für Raumforschung Bad Godesberg. Informationen 16, 1966, S. 417-450, der die moderne pluralistische Gesellschaft akzeptieren wollte, zugleich aber die Suche nach einem unter der bunten Vielfalt liegenden einheitlichen, gesellschaftspolitischen Leitbild nicht aufgab. 101. Am Beispiel Schwedens: OLSSON, Drömmen om den hälsosamma medborgaren.
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Schließlich: Wie sieht es mit den Rändern aus? Kann man bereits für das 19. Jahrhundert (oder gar die Frühe Neuzeit) und noch für die 1970er Jahre vom Ordnungsdenken und social engineering sprechen, ohne den Begriff zu entwerten?102 Und in welchen Regionen sollte man es verorten? Der Bau von Brasilia dürfte es in einer geradezu klinisch reinen Form repräsentieren – aber das lag definitiv am Ende unseres Zeitraumes. Wie sieht es mit romanischen Ländern wie Spanien, Italien oder Frankreich aus? Sind Olivetti und Le Corbusier Sozialingenieure in unserem Sinne gewesen, lässt sich das große Siedlungsprojekt im Mezzogiorno mit dem Tennesse Valley Project, den britischen Neighbourhood Communities, den amerikanischen Greenbelt Towns und den schwedischen Kollektivhäusern über einen Kamm scheren? Und was ist mit Atatürk, Mao und Stalin? Handelt es sich in all diesen Fällen möglicherweise um dieselben Techniken, aber unterschiedliche Ordnungsvorstellungen?103 Es dürfte sinnvoll sein, Ordnungsdenken und social engineering nicht als eine klar umrissene Entität zu verstehen und dann zu diskutieren, welche Akteure oder Entwürfe ihm vollständig oder ansatzweise oder noch nicht oder schon zugerechnet werden können. Es sollte vielmehr als eine vielschichtige Formation gedacht werden: weder reiner Diskurs (Foucault) noch Denkstil (Fleck),104 sondern mehrere Folien, die übereinandergelegt werden: 1) die Kontinuität utopischen Denkens von Morus bis Reichow, das sich über Rezeptionsprozesse tradierte;105 2) spezifische Techniken, die seit dem 18. Jahrhundert entwickelt und verfeinert wurden; 3) eine eigentümliche Weltsicht, die sich als grundlegende Denkstruktur über Brüche, Verschiebungen, nationale und professionelle Grenzen bis in die 1960er Jahre hinein als stabil erwies; 4) eine Reihe von Begriffen, Topoi und paradigmatischen Bildern, die die Wahrnehmung der Welt, die Handlungspläne und deren Präsentation formatierten; 5) personale Netzwerke, Rezeptionsstrukturen, Transferprozesse und gemeinsame Referenzpunkte, die Akteure und ihre Vorstellungen zu einer imaginären Einheit verschmolzen, so dass sie miteinander reden konnten, ohne aber genau zu wissen, warum; 6) Institutionen oder Orte, die Kohärenz über unterschiedliche Sozialgruppen und Sprecher hinweg schufen (z.B. Industriebetrieb, Brasilia); 7) typische Interventionsfelder, die den gestaltenden Zugriff vermeintlich vordringlich herausforderten; 8) die Symbiose von Experten und Staat; 9) der Blick von unten, von den Menschen, Praktiken und Alltagsgegen102. Dazu die Beiträge von Nadine Klopfer und Sabine Dworog/Silke Mende in diesem Band. 103. Das loten in diesem Band die Beiträge von Michael Hochgeschwender, Thomas Welskopp, Susanne Stein und Klaus Gestwa aus. Vgl. zur Türkei: DOGRAMACI, Burcu: Kulturtransfer und nationale Identität. Deutschsprachige Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei nach 1927, Berlin 2008. 104. Jedenfalls wenn man Fleck restriktiv interpretiert, d.h. Denkstile auf relativ kleine Denkkollektive bezieht. 105. Und sei es negativ: FREYER, Hans: Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart, Leipzig 1936 (Freyer erklärt die »Tat« zum Gegenbild der Utopie).
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ständen her; 10) der konsequent experimentelle und adjustierende Charakter des Denkens, Planens und Handelns. Legt man diese Folien übereinander, so ergeben sich Gewichtungen und Bündelungen. Wissensgesellschaft, Territorialität, Stadtsoziologie, wissenschaftliche Betriebsführung usw., also höchst unterschiedliche Bereiche, wurden durch Experten auf eine spezifische Weise verknüpft, entwickelten eine Eigendynamik und konstituierten, innerhalb einer zeitlich begrenzten Phase, Ordnungsdenken und social engineering als einen bestimmten Modus der Problematisierung der Moderne. Im 19. Jahrhundert war diese Verknüpfung aus technischen Gründen nur unvollkommen möglich gewesen, in den 1970er Jahren bot sie weltanschaulich keine überzeugenden Lösungsvorschläge mehr. Die Kontextualisierung der unterschiedlichen Akteure, Texte, Sprachspiele, Projekte, Gegenstände oder Techniken muss in dieser Perspektive nicht ignoriert werden; die Folien sind nicht deckungsgleich. Der Begriff des social engineering bringt nicht die Folien auf einen Nenner, sondern zielt auf ihren Überlappungsbereich. Er hilft, spezifische Mechanismen, Wertungen und Taktiken im Umgang mit der Moderne zu verstehen und zu beschreiben, er bringt auf den ersten Blick disparate Phänomene in Zusammenhang, und erlaubt damit eine andere Perspektive auf das 20. Jahrhundert, als es die tendenziell um die totalitären Gewaltverbrechen kreisenden Beschreibungen bieten. Plausibilität kann diese Perspektive nur durch konkrete, empirische Beschreibungen gewinnen, die diese Elemente so kombinieren, dass jeder Untersuchungsgegenstand in seiner Besonderheit ernst genommen wird – und die Überlappung trotzdem hinreichend groß bleibt, um den Gegenstand als Teil der übergreifenden Formation Ordnungsdenken und social engineering beschreiben zu können. Auf diese Weise kann man so weit auseinanderliegende Verfasser wie Thomas Morus, Carl Schmitt und Gunnar Myrdal oder den Werkbund, die Fordwerke und Brasilia »ins Gespräch« bringen, ohne sie in eins fallen zu lassen. Wenn man das social engineering charakterisieren will, so könnte man es als eine Verhaltenslehre des kühlen Kopfes bezeichnen,106 die unzählige Protagonisten immer erneut dazu antrieb, Ordnung (als Zielvorstellung), Ordnen (als Handlung) und konkrete Ordnung (als Grundlage wie Ergebnis des Handelns) auf eine »rationale« Weise miteinander zu verbinden – mit höchst ambivalenten Effekten. Die Ordnung der Gesellschaft sollte von unten nach oben erfolgen, um die Menschenmassen im (sozialen) Raum neu gliedern zu können. Doch es waren Experten, die in Ratgebern und Ausstellungen das »richtige« Leben inszenierten, die Funktion und Mission, Belehrung und Vergnügen, gebauten Raum und rationale Gesellschaft koppelten, die das Heim zum Transformator zwischen Individuum und Gesellschaft umwidmeten, die Individualisierung ermöglichten und einhegten, indem sie unüberschaubare Vielfalt auf (individuell kombinierbare) standardisierte Serien reduzierten, ohne über die Spannung zwischen Vorgabe und Freiheit, Gemeinschaft und Individu106. Das lehnt sich natürlich an einen anderen Versuch, der Moderne mit einer kühlen Haltung zu begegnen, an: LETHEN, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994.
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um, Experte und Laie, Mündigkeit und Übermächtigung zu reflektieren. Ein Detail soll diesen blinden Fleck verdeutlichen. Als Hans Bernhard Reichow die Sennestadt plante, hieß es 1968, da sei er nicht mit der »Willkür des Planers« aufgetreten, sondern habe die Landschaft, nämlich das Bullerbachtal, »die individuelle Form und Gliederung des Stadtganzen« bestimmen lassen. Am Ende staute er den Bullerbach auf, und so »gestaltete man planvoll aus den natürlichen Gegebenheiten und ihrer künstlichen Ergänzung eine ›Stadtinsel‹ zur Aufnahme der übergeordneten Gemeinschaftsbauten«.107 Hätten die Zeitgenossen da einen Widerspruch bemerken müssen? Nein, denn die Natur selbst hätte den See bilden können. Reichow schien ihr nur zu ihrem Recht zu verhelfen. Hier zeigt sich meines Erachtens die »Ambivalenz der Moderne« in ihrer ganzen Problematik: in der von den Protagonisten unreflektierten Spannbreite von Humanität – Schaffung besserer Lebensbedingungen für die Bevölkerung –, Normalisierung – indem die Lebensführung der Menschen reguliert wurde –, und Eliminierung – der Vernichtung des Lebens überhaupt. *
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Dieser Band soll durch empirische Studien die Konturen des Ordnungsdenken und social engineering ausloten und zugleich die Vielschichtigkeit dieses Phänomens aufzeigen. Er gliedert sich in vier Abschnitte, die Reichweite und Wirkungsmacht dieser Formation umreißen. Vorangestellt ist der Vorschlag von Anselm Doering-Manteuffel (Tübingen), das »lange« 20. Jahrhundert zu periodisieren, indem drei große konzeptionelle Entwürfe, die Moderne zu ordnen, unterschieden werden, nämlich »antihistoristisches«, »modernisierungstheoretisches« und »poststrukturalistisches« Denken. Besonders der Antihistorismus, aber auch die Modernisierungstheorie zeichneten sich durch einen dezidiert interventionistischen Impetus aus, und als ausdrückliche Gegenbilder zum Laissezfaire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts. In diesem Modell können die übrigen Beiträge des Bandes verortet werden, wobei entscheidend ist, dass die drei Ordnungskonzeptionen zwar in etwa als drei Phasen aufeinander folgten, sich jedoch jeweils über längere Zeiträume überlagerten. Mehrere der folgenden Beiträge zeigen, dass sich gerade in den Überlappungsphasen die Varianten und Spezifi ka konkreter Ordnungsentwürfe besonders genau bestimmen lassen. Die ersten Fallstudien befassen sich – überwiegend vergleichend – mit Nordwesteuropa, d.h. mit Deutschland, Großbritannien und Schweden. Vier 107. STADT SENNESTADT (Hg.): Sennestadt. Geschichte einer Landschaft, o.O. [Bielefeld] 1968, S. 231. Und jüngst: HANSSON, Sven Ove: A Note on Social Engineering and the Public Perception of Technology, in: Technology in Society 28, 2006, S. 389392: Man schreibe den Menschen nicht vor, was ihr Bestes sei – aber man müsse sie erziehen, es einzusehen (in diesem Fall die Bedeutung von Wissenschaft und Technik). In der Bevölkerungsfrage wurde argumentiert, dass die Menschen (in der »Dritten Welt«) das Recht hätten zu lernen, wie sie freiwillig ihre Familiengröße beschränken können (ADAMS, Max: Balancing Population and Resources. The Greatest Challenge of Social Engineering, in: Journal of Heredity 43, 1952, S. 173-180).
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verschiedene Themen- und Interventionsbereiche werden hier für den Zeitraum der 1920er bis 60er Jahre beleuchtet: Anette Schlimm (Oldenburg) analysiert die Etablierung des Problembereichs »Verkehr« als eines Versuchs, die Bewegung im Raum zu ordnen. Timo Luks (Oldenburg) untersucht deutsche und britische Bemühungen, die Opazität der Arbeits- und Sozialverhältnisse im Betrieb zu durchdringen und sie auf dem Wege der »Vergemeinschaftung« oder »Gruppierung« in eine »organische« Ordnung zu transformieren. David Kuchenbuch (Oldenburg) beschreibt den deutsch-schwedischen Diskurs um das »menschliche Maß« unter Architekten und Stadtplanern vor dem Hintergrund der Entwicklung wissenschaftlicher Methoden, Gemeinschaft durch die Gestaltung des Wohnraums zu stiften. Ariane Leendertz (München) schließlich widmet sich den Ordnungsvorstellungen und Konzepten der Raumplaner in Deutschland bis in die 1970er Jahre und zeigt dabei, wie mit dem Leitbegriff des »Ausgleichs« über die Planung des Raums die sozialen Beziehungen in der Gesellschaft harmonisiert werden sollten. Alle Fallbeispiele machen deutlich, wie sehr die Implementierung von Ordnungsvorstellungen vom Erfolg der Experten, sich als gesellschaftspolitisch gestaltende Kräfte zu institutionalisieren, abhing. Die darauf folgenden Studien nehmen die USA in den Blick. Hier lassen sich Unterschiede zum europäischen Ordnungsdenken und social engineering beobachten, aber auch transatlantische Gemeinsamkeiten. Während Michael Hochgeschwender (München) die Schwierigkeiten amerikanischer Sozialingenieure beschreibt, die eigenen Methoden im Akteurs- und Institutionengewirr im Amerika der ersten Jahrhunderthälfte dauerhaft zu implementieren, prüft Carl Marklund (Helsinki) im schwedisch-amerikanischen Vergleich Annahmen zur Wirkungsmacht des social engineering an der Begriffsverwendung seiner Verfechter. Die Beiträge kommen dabei zu recht unterschiedlichen Ergebnissen – hier wird deutlich, wie verschieden sich das Ordnungsdenken und social engineering darstellt, je nachdem welche Akteursgruppe beobachtet, welcher methodische Zugriff gewählt wird, ob man es von seiner politischen Bedeutung oder seiner diskursiven Resonanz her betrachtet. Nadine Klopfer (Berlin) beleuchtet dann mit ihrer Fallstudie zum »Clean Up«, zu Stadtvisionen und Stadtverschönerungspraktiken im New Orleans der Jahrhundertwende, die Frühzeit des amerikanischen social engineering und markiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den stark an lokale Identitäten geknüpften bürgerlichen Reformvorhaben dieser Zeit und dem Planungsdenken professioneller Experten im 20 Jahrhundert. Thomas Welskopp (Bielefeld) regt mit seinem Beitrag zur Prohibitionsgesetzgebung in den USA der 1920er Jahre dazu an, auch Gesetzgebung und Verfassung als Instrumente zu begreifen, die Sozialingenieure zu nutzen versuchten, um die Gesellschaft in ihrem Sinne zu gestalten. Der Abschnitt zum social engineering in den sozialistischen Systemen der Sowjetunion und Chinas lotet die geographischen und politischen Ränder des Ordnungsdenken und social engineering aus. Während Klaus Gestwa (Tübingen) sehr pointiert die Unterschiede zwischen einer Rhetorik der vorgefundenen »Ordnung« sowie einer radikalen Modernisierungsbejahung und emphatischen Beschwörung des »Auf baus« im social und soul engineering der 38
Et zemüller: Social engineering al s Verhaltenslehre des kühlen Kopfes
Sowjetunion herausstreicht, zeichnet Susanne Stein (Tübingen) ein ambivalenteres Bild von der chinesischen Stadtplanung der 1950er Jahre, die sich – nicht zuletzt aufgrund des Transfers architektonischer Planungstechniken von Europa nach China – in einem Spannungsfeld zwischen offizieller Parteirhetorik und der Anpassung importierter städtebaulicher Ordnungskonzepte an chinesische Verhältnisse befand. Die letzten beiden Aufsätze befassen sich erneut mit dem deutschen Fall und umreißen die thematischen, vor allem aber die zeitlichen Grenzen der untersuchten Formation gegenüber der jüngeren Zeitgeschichte: Adelheid von Saldern (Hannover) verdeutlicht in ihrer Studie zur »Harzburger Akademie« und deren Betriebsführungsmodellen die Übergänge zwischen den eher normalisierenden Machttechniken des social engineering und zunehmend elaborierteren Methoden der Konditionierung von Menschen, die sich seit den 1950er Jahren allmählich durchzusetzen begannen. Sie zeigt dabei, dass die Residuen des Gemeinschaftsdenkens durchaus in die Entwicklung neuer Managementkonzepte integriert werden konnten. Ähnlich verhält es sich mit einer Art Renaissance prägnanter Topoi des Ordnungsdiskurses in den 1970er Jahren, die allerdings bei neuen Akteuren und in völlig veränderten Krisendiagnosen und Lösungsvorschlägen auftauchen. Sabine Dworog (Gießen) und Silke Mende (Tübingen) weisen nach, welch gewichtige Rolle eine organizistische Metaphorik sowie Forderungen nach »Mäßigung« (vor allem im Umgang mit natürlichen Ressourcen) und mehr »Gemeinschaft« bei den frühen Grünen bzw. in den Auseinandersetzungen um den Ausbau des Frankfurter Flughafens spielten – nun aber unter den Vorzeichen der Kritik am undemokratischen und unökologischen Charakter der Expertenkultur und der entgrenzten Planungsvorhaben der 1960er Jahre. Dass bis in die 1980er Jahre hinein sogar die Topoi und Argumente des »Ordnungsdenkens« aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gehör fanden, unterstreicht die Komplexität und Langwierigkeit der Übergänge zwischen den Phasen, die Doering-Manteuffel herausarbeitet. Die meisten Beiträge gehen auf einen Workshop des DFG-Projektes »Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne. Nordwesteuropa, 1920er bis 1950er Jahre« im April 2008 zurück. Ich danke den Teilnehmern, die sich auf die konzeptionellen Vorstellungen der Organisatoren eingelassen und sie mit ihren Beiträgen profi liert haben. Die Vorträge und die Diskussion ergaben eine inhaltlich ungewöhnlich kohärente Tagung. Adelheid von Saldern, Thomas Welskopp und Dirk van Laak haben die Vorträge von David Kuchenbuch, Timo Luks und Anette Schlimm kommentiert. Diese Kommentare sind in deren Aufsätze eingegangen; von Saldern und Welskopp haben sich erfreulicherweise bereitgefunden, den Band durch eigene Beiträge zu bereichern; dasselbe gilt für Carl Marklund. Dank geht besonders an Lutz Raphael, der sich die Zeit genommen hat, Beiträge und Projektkonzeption zusammenfassend zu kommentieren. Dieser Kommentar war – wie immer – sehr pointiert, sehr kritisch und sehr hilfreich. Last not least wären Forschungsprojekt, Tagung und Sammelband ohne die großzügige Förderung durch die DFG nicht möglich gewesen. 39
Konturen von »Ordnung« in den Zeitschichten des 20. Jahrhunder ts Anselm Doering-Manteuffel Thomas Etzemüller hat in seinem geschichtstheoretischen Aufsatz »Ich sehe das, was Du nicht siehst« fast apodiktisch festgestellt, dass seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein spezifischer Ordnungsdiskurs auszumachen sei.1 Diese Aussage erscheint unmittelbar einleuchtend, zumal dann, wenn man die Betonung darauf legt, dieser spezifische Ordnungsdiskurs sei erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Damit ist zugleich ein historischer Ausgangspunkt benannt, an dem unsere Reflexion über Konturen von »Ordnung« im 20. Jahrhundert einsetzen kann. Sie wird von der Überlegung geleitet, ob oder inwieweit dieser Ordnungsdiskurs das ganze Jahrhundert durchzieht. Es geht um die Frage, was mit »Konturen von ›Ordnung‹« in verschiedenen Phasen zwischen 1880/90 und der Gegenwart gemeint sein könnte. Wissen wir, welche Semantik dem Begriff jeweils zugrunde liegt, wenn etwa 1924 oder 1941 oder 1956 oder 1972 oder 1985 von »Ordnung« gesprochen wurde? Sind wir in der Lage, verschiedene Semantiken angemessen zu erfassen? In einem ersten Schritt möchte ich drei Zeitschichten mit einem je unterschiedlichen Verständnis von »Ordnung« gegeneinander abgrenzen. Im zweiten Schritt gilt es dann, die spezifische Eigenart, Ähnlichkeiten und Unterschiede, in solchen Ordnungsvorstellungen näher zu beschreiben. Entscheidend ist der Sachverhalt, dass sich die Zeitschichten deutlich überlagern. Zäsuren im Ordnungsdiskurs des 20. Jahrhunderts sind als ideengeschichtliche Phänomene bestenfalls mittelbar an konkrete Daten der politischen Geschichte gekoppelt und mit dem Blick auf Einschnitte wie 1917/18, 1945 oder 1989/91 kaum zu erfassen. Veränderungen von Ideenwelten vollziehen sich langsam. Die Übergänge sind fließend. So schließt das Ordnungsdenken und social engineering 2 der 1920er bis 50er/60er Jahre, wie es Thomas Etzemül1. ETZEMÜLLER, Thomas: »Ich sehe das, was Du nicht siehst«. Wie entsteht historische Erkenntnis?, in: Eckel, Jan/Etzemüller, Thomas (Hg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 27-68, bes. S. 47-51. 2. Zu Kontext und Begriffsbestimmung, auch dem etwas sperrigen Gebrauch des Singulars, vgl. die Einleitung von Thomas Etzemüller in diesem Band.
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ler einleitend gekennzeichnet hat, Charakteristika sowohl der ersten als auch der zweiten Zeitschicht des Jahrhunderts in sich, ohne dass darin ein Widerspruch zu sehen ist. Vielmehr sollten wir die Überlappungen von Zeitschichten als Phasen des Suchens auffassen, in denen sich etwas verändert. Social engineering wäre dann als Antwort auf neue Herausforderungen aufzufassen, und es bleibt offen, ob diese Antwort »richtig« oder »falsch« ist. Wichtiger erscheinen die unzweideutigen Anzeichen kommender Umbrüche, wenn in einer Phase des Überlagerns zweier Zeitschichten, von denen die ältere zunehmend an Verbindlichkeit für gesellschaftliches und politökonomisches Handeln verliert, während die jüngere gerade erst ihre Gestaltungsprinzipien, ihre Begriffe herausbildet. Die scheinbare Widersprüchlichkeit bestimmter Entwicklungen lenkt den Blick auf solche Umbrüche. Hier hat die historische Analyse anzusetzen. Es gehört zu den Fiktionen einer dekadologisch denkenden Geschichtskultur, dass man klare Konturen eines Jahrzehnts ausmachen könne und dann ebenso klare, bloß andere Konturen im nächsten, wieder andere im dann folgenden Jahrzehnt und immer so fort. Solches Vorgehen mag viel Bedeutsames ans Licht bringen, aber was kann es erklären? Wo die Gewohnheiten der Menschen scheinbar unverändert sind, wo Wirtschaft, Handel und Gewerbe verfahren, wie sie schon vor einem oder zwei Jahrzehnten verfuhren, wo die Politik sich im gewohnten Gleis bewegt, mag dennoch vieles bereits im Wandel begriffen sein. Wandel erkennt, wer auf die Sprache, auf die Begriffe der Zeitgenossen, auf die Bildwelten in der Kunst und im Alltag sowie auf die unauff ällig neuen, anderen Ideen zur Erklärung von Wirklichkeit achtet. Sie zeigen seismographisch kommende Umbrüche an oder lassen sich aus der historischen Rückschau als Anzeichen eines in Gang befindlichen Umbruchs deuten. Reiht man jedoch die 1920er und die 30er Jahre als »Zwischenkriegszeit« aneinander, wie wir es auch mit den 50er und 60er Jahren als Zeit des »Nachkriegsbooms«, mit den 70er und 80er Jahren als »Krise« zu tun gewohnt sind, richtet sich die Frage vornehmlich auf die Eigenart des jeweiligen Jahrzehnts. Dann wird bald von dem »langen« oder »kurzen« Jahrzehnt X gesprochen, aber die zugrundeliegende geschichtliche Entwicklung, in die ein solches Jahrzehnt einbezogen war, verbleibt außerhalb der Reflexion. Geht man hingegen von der Multiperspektivität historischer Wahrnehmung und Analyse aus, helfen der dekadologische Blick durch die Jahrzehnte und die Konzentration auf die Abfolge von Ereignissen, Gegebenheiten, Wahrnehmungsformen nicht weiter, sondern es wird erforderlich, einen problemgeschichtlichen Ansatz zu wählen.3 Die Frage nach der »Ordnung der Moderne« und dem historischen Ort des social engineering in der Geschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet ein solches Problem. Das ist der Grund, warum in diesem Band nicht so sehr Gewissheiten ausgebreitet werden können, sondern Sachverhalte dargelegt, Zusammenhänge, Widersprüche und Gemeinsamkeiten angedeutet werden, die das Problem möglichst tiefenscharf ausleuchten und im Zuge der weiteren wissenschaftlichen Diskussion dazu 3. Vgl. hierzu die wegweisende Argumentation von OEXLE, Otto Gerhard (Hg.): Das Problem der Problemgeschichte 1880-1932, Göttingen 2001.
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beitragen, es auch zu klassifizieren. Die Konturen von »Ordnung« in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts sind folglich vor diesem Hintergrund zu skizzieren. Die erste Zeitschicht ist gekennzeichnet von der Erschöpfung des liberalen Paradigmas aus dem 19. Jahrhundert und des klassischen liberalen Fortschrittsverständnisses. 4 Sie ist gleichermaßen gekennzeichnet durch den allmählichen Übergang in ein eher statisches Verständnis von zukünftiger Ordnung. Hier treffen wir auf das ideengeschichtliche Phänomen des »Antihistorismus«.5 Es bildete den Subtext einer äußerlich zunächst vom liberalen Fortschritt geprägten Epoche. Aber dieses klassische Fortschrittsverständnis gehörte der zu Ende gehenden älteren Epoche an, der antihistoristische Subtext hingegen der beginnenden neuen. Beides überlagerte sich über mehrere Jahrzehnte. Gleichwohl, die zuerst anwachsende, dann wieder nachlassende Dominanz antihistoristischer Ordnungsentwürfe für die Gestaltung der Zukunft bildete das markante Kennzeichen dieser Zeitschicht.6 Ihre Dauer umfasst die Jahrzehnte von etwa 1880 über die Schwelle von 1914/18 bis in die 1940er Jahre. Vereinzelte Ausläufer waren noch um 1960 anzutreffen.7 Die zweite Zeitschicht bildet die Überwindung und intellektuelle Bekämpfung des Antihistorismus. Hier tritt uns ein anderer – wenn man so will: ein neuer – Begriff von Fortschritt entgegen, der »Ordnung« jetzt durch »geplanten Fortschritt« zu gestalten beansprucht. Diese zweite Zeitschicht ist gekennzeichnet von einem strukturalistischen Subtext in den zeitgenössischen Vorstellungen von sozialer Ordnung. Sie ist obendrein gekennzeichnet von der zunehmenden Verschmelzung sozialwissenschaftlicher Diagnosen aus den USA der 1930er und 40er Jahre, als die amerikanische Soziologie in starkem Maß von europäischen Emigranten beeinflusst wurde und diese, sofern sie nach Europa zurückkehrten, ihr neu gewonnenes, gewissermaßen atlantisches Verständnis von gesellschaftlicher Struktur, von Ordnung und Zukunft im Gewand der Modernisierungstheorie zur Geltung brachten.8 Die 4. Zur Dialektik von Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften und der Zerstörung des zeitgenössischen Fortschrittsglaubens vgl. PEUKERT, Detlev J. K.: Das Janusgesicht der Moderne, in: Deutsches Institut für Fernstudien (Hg.): Funkkolleg Jahrhundertwende 1880-1930. Die Entstehung der modernen Gesellschaft. Studienbegleitbrief 0, Weinheim, Basel 1988, S. 60-72, bes. S. 66, 70. 5. OEXLE, Otto Gerhard: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996. 6. Vgl. DOERING-MANTEUFFEL, Anselm: Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91-119. 7. Vgl. STEINER, George: Acts of Constant Questioning, in: The Times Literary Supplement, 27. Juni 2008, S. 8f., über das Buch von MORAT, Daniel: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920-1960, Göttingen 2007. 8. Vgl. FLEMING, Donald/BAILYN, Bernhard: The Intellectual Migration. Europe and America, 1930-1960, Cambridge 1969; RUTKOFF, Peter M./SCOTT, William B.: New School. A History of the New School for Social Research, New York 1986; KROHN,
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strukturalistisch und modernisierungstheoretisch grundierte Vorstellung von Ordnung und Fortschritt war rückgebunden an den amerikanischen New Deal und kam mit dem Marshall-Plan sowie der damit verkoppelten Westernisierung sozialistisch-demokratischer Ordnungskonzepte nach Westeuropa.9 Diese zweite Zeitschicht erstreckte sich von der Mitte der 30er bis in die mittleren 70er Jahre. Der Höhepunkt ihres spezifischen Verständnisses von Ordnung wurde nach 1960 erreicht. Aber auch hier betrug die Überlagerung mit der vom Antihistorismus geprägten Zeitschicht zwei, wenn nicht sogar drei Jahrzehnte – von den 30er bis zu den 50er Jahren. Hier sehe ich den Ort des von Thomas Etzemüller und seiner Arbeitsgruppe postulierten »Ordnungsdenkens« einer technokratischen Planung und des daran gekoppelten social engineering. In diesen Jahrzehnten der Überlagerung wurden, wie Etzemüller schreibt, »in der Figur des Experten die Sprache der Transparenz und die Sprache der Dezision gekoppelt«.10 Erst danach, seit den 60er Jahren, verbreitete sich der neue Fortschrittsbegriff in die Gesellschaft hinein. Der Aspekt der Planung und des Expertentums wurde relativiert, wo nicht überformt, von zunehmender Individualisierung in den westlichen Gesellschaften und der Lebensstilrevolution seit etwa 1970. Daran perlte die »Sprache der Dezision« schließlich wirkungslos ab.11 Das verweist auf die dritte Zeitschicht, innerhalb derer Strukturalismus und Modernisierungstheorie zurückgedrängt und marginalisiert wurden. Hier tritt uns anstelle von »Struktur« nun das »Netzwerk« als Ordnungsmodell entgegen.12 Aus der – mittels Modernisierungstheorie – konkret planbaren, in einen stabilen Rahmen eingefügten Moderne, welche die »Zukunft« fest im Claus-Dieter: Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt a.M., New York 1987; LOO, Hans van der/REIJEN, Willem van: Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992; L ANGENOHL, Andreas: Tradition und Gesellschaftskritik. Eine Rekonstruktion der Modernisierungstheorie, Frankfurt a.M., New York 2007; DOSSE, François: Geschichte des Strukturalismus, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1999; FRANK, Manfred: Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a.M. 1984. 9. FRASER, Steve/GERSTLE, Gary (Hg.): The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930-1980, Princeton/NJ 1989. 10. Thomas Etzemüller, in diesem Band S. 26. 11. Vgl. hierzu DOERING-MANTEUFFEL, Anselm: Ordnung jenseits der politischen Systeme. Planung im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, S. 398-406, sowie die übrigen Beiträge zum Thema »Planung« in diesem Heft 3 von »Geschichte und Gesellschaft«; die Gegenpositionen zum Antihistorismus in der westdeutschen Ideengeschichte behandeln: ALBRECHT, Clemens: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M., New York 1999; HACKE, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. 12. Vgl. statt weiterer Nachweise BECKERT, Jens: Soziologische Netzwerkanalyse, in: Kaesler, Dirk (Hg.): Aktuelle Theorien der Soziologie. Von Shmuel N. Eisenstadt bis zur Postmoderne, München 2005, S. 286-312; C ASTELLS, Manuel: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001; sowie DOERING-MANTEUFFEL, Anselm/R APHAEL, Lutz:
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Griff hatte, entstand innerhalb der netzwerklichen Beziehungen die »flüchtige Moderne«, von der mit Zygmunt Bauman gegenwärtig immer wieder die Rede ist.13 Deren Anfänge reichen zurück bis zur Wende von den 1950er zu den 60er Jahren, als die Theoriebildung der Poststrukturalisten allmählich einsetzte. Der Bedeutungsanstieg begann in den 80er Jahren.14 Den Höhepunkt erreichte sie zwischen 1995 und etwa 2005. Diese Phase ist gegenwärtig noch dominant oder war es bis gestern – das können wir als Zeitgenossen noch nicht erkennen.15 Sie ist oder war gekennzeichnet vom offenen, fluiden Subtext der Konturen von Ordnung, weshalb hier »Struktur« – und aus den vorhandenen Strukturen heraus geplante und gestaltete – »Zukunft« keine wichtige Rolle spielten. Der Fortschrittsbegriff verwandelte sich in die »Zielvereinbarung« zwischen Topmanagern und shareholders, zwischen Ministerien und öffentlichen Institutionen, zwischen Hochschulrektoren und Professorenschaft. Ein gigantischer Marktplatz entstand, hinter dessen Rummel und Raffsucht die »Ordnung« der Institutionen und Ordnungsvorstellungen in der Gesellschaft mehr und mehr verschwanden. Zielvereinbarungen haben mit Zukunft nicht viel zu tun, sondern mit größtmöglicher Nutzung der verfügbaren Ressourcen in der Gegenwart. Mit dem Begriff »Fortschritt« verschwand im Verlauf der 90er Jahre die Idee von Zukunft aus der öffentlichen Wahrnehmung. Nichts anderes galt als die Gegenwart, in der die Weltgesellschaft, getrieben vom Finanzmarkt-Kapitalismus, jauchzend und jammernd Achterbahn fuhr. 2008 war es mit dieser Gegenwart vorbei, und wenn sich die Rauchschwaden der finanzkapitalistischen Implosion verzogen haben, wird der Blick in eine neue, andere Zukunft gehen. Ob mit dieser »Zukunft« eine erneuerte Ordnungsidee von »Fortschritt« verbunden sein könnte, vermag heute noch niemand zu erkennen. Die Überlagerung dieser dritten mit der vorangegangenen zweiten Zeitschicht macht wiederum etwa zwei Jahrzehnte aus, von den 60er bis zu den 80er Jahren. Überlagerungen kommen nicht zuletzt dadurch zustande, dass Menschen, die als junge Erwachsene in einer bestimmten Zeit, intellektuell, politisch und habituell geprägt worden sind, an den Prägungen auch dann Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 80-84 (von der »Struktur« zum »Netzwerk«). 13. BAUMAN, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003. 14. LYOTARD, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz, Wien 1986 (urspr. 1979); DERS.: Die Moderne redigieren, Bern 1988; WELSCH, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1988. 15. Der Zusammenbruch des internationalen Finanzmarkts im Verlauf des Jahres 2008 hat augenscheinlich die Phase des »digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus« beendet, deren Geltung in der Epoche »nach dem Boom« eingesetzt hatte und seit 1980/90 dominierend geworden war. Inwieweit an die Stelle der auch ideologisch beschworenen »Flüchtigkeit« – der Beschleunigung, des permanenten Wandels, des Aufbrechens gewachsener Strukturen zum Nutzen allein des Investors und der Gewinnmaximierung der shareholder – eine neue Form von Festigkeit, Gemeinsinn und rahmengebender Staatsverantwortung treten wird, ist völlig offen; vgl. DOERINGMANTEUFFEL/R APHAEL, Nach dem Boom, S. 84-89.
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noch festhalten, wenn diese im Diskurs keine Bedeutung mehr haben. Überzeugte Kritiker des liberalen, im 19. Jahrhundert wurzelnden Fortschrittsdenkens, die im geistigen Klima der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ihre Prägungen erfuhren, blieben das auch über die Schwelle von 1945 hinaus.16 Kritische Wahrnehmungen von Moderne und Modernismus seit den 1920er Jahren korrespondierten mit dem Dadaismus, und dieser wiederum korrespondierte mit der kulturellen Strömung der Postmoderne nach 1980.17 Adepten der Modernisierungstheorie hielten und halten bis heute an ihren Auffassungen fest und sprechen mit Blick auf die poststrukturalistische Entwicklung in der jüngsten Vergangenheit von Niedergang, Krise, unvollendeter Entwicklung.18 Und es mag sein, dass Adepten der offenen, fluiden Vorannahme von Ordnung – die Ideologen des Wandels ohne Interesse an der Zukunft – auch dann noch an ihren Auffassungen festhalten, wenn die Ideologie der marktradikalen »Offenheit« und »Freiheit« als Kardinalprinzip von Ordnung schon tief in der Geschichte versunken ist. Halten wir einige charakteristische Elemente als Merkmale zum Verständnis der drei Zeitschichten in aller Kürze fest: (1) Für die Zeit von 1880/90 bis etwa 1950 beobachten wir eine verbreitete Negation des liberalen Fortschrittsbegriffs in fast allen europäischen Ländern, besonders ausgeprägt dort, wo sich einerseits Faschismus und Nationalsozialismus, andererseits Bolschewismus und Stalinismus ausbreiteten. Im deutschsprachigen Mitteleuropa wurden »Gesetz« und »ewige Ordnung« in einer Semantik beschworen, die ein ahistorisches Verständnis von Fortschritt in sich schließt. Hans Freyers Rede von den »haltenden Mächten« drückte (am Ende dieser Phase) das Bedürfnis aus, in einer Zeit verstärkten Wandels, 16. Vgl. KRUSE, Volker: Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer, Frankfurt a.M. 1994; MULLER, Jerry Z.: The Other God That Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton/NJ 1987. Mullers Titel nimmt Bezug auf die Kampfschrift eines Renegaten des Stalinismus: CROSSMAN, Richard (Hg.): The God That Failed, London 1950. In beiderlei Hinsicht, in der Enttäuschung über das Scheitern des kulturkritischen Konservatismus vor 1930 sowie der Enttäuschung, ja dem Hass nach der Erfahrung mit dem Stalinismus, die die Hinwendung zur liberalen Demokratie westlicher Ordnung nach sich zogen, beobachten wir ein intellektuelles Ringen um die Abkehr von Positionen, die für die jeweiligen Autoren als junge Erwachsene prägend geworden waren. Spiegelbildlich gab es bei anderen das Verharren in den einmal und für immer eingenommenen Positionen. 17. SHEPPARD, Richard: Modernism – Dada – Postmodernism, Evanston/Ill 2000; PEGRUM, Mark A.: Challenging Modernity. Dada between Modern and Postmodern, New York, Oxford 2000. 18. Vgl. z.B. HABERMAS, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig 1990; DERS.: Zeit der Übergänge, Frankfurt a.M. 2001; WEHLER, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1985-2008, hier Bd. 5: Von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zur Vereinigung 1949-1990.
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zumal wenn die Entwicklung in eine zu missbilligende Richtung verlief, Konturen einer verbindlichen Ordnung zu erkennen, die zwar nicht »ewig«, nicht außerhalb der Geschichte stehend, aber gleichwohl dauerhaft gültig sein sollte. Wo immer nach 1945/50 der Fortschritt im westlich-liberalen Verständnis zur Norm von Ordnung wurde, galt es, ihn mit den »haltenden Mächten« zu vermitteln.19 Ganz ähnlich, aber direkt konträr im Verständnis von Geschichte und Ordnung hatte im Inflationsjahr 1923 der liberale Theologe und Kulturprotestant Adolf von Harnack die Frage gestellt: »Was kostet der Fortschritt in der Geschichte?«20 (2) Beginnend um 1930, in Ausläufern gültig bis etwa 1980 lassen sich Ordnungsvorstellungen beobachten, die an Begriffe wie »Struktur« und, axiomatisch damit verbunden, »Modernisierung« gekoppelt sind. Diese Ordnungsvorstellungen wurden als Entwicklung gedacht, weshalb hier der »Fortschritt« einen prominenten, ideologisch unverzichtbaren Platz einnahm. Die »Modernisierung« bestehender »Strukturen« vollzog sich innerhalb eines verbindlichen politischen und sozialen Rahmens, konkret: sie war an die Existenz des Nationalstaats, der nationalen Gesellschaft und der nationalstaatlich verantwortlichen Regierung gebunden. Modernisierung im transnationalen Raum war damals wie heute als politisches Projekt nur schwer vorstellbar. Der Entwicklungsgedanke dominierte, und das hieß, dass die Zukunft als machbar, als gestaltbar betrachtet wurde. Soweit hier Entwicklung als »Fortschritt« postuliert wurde, schloss dieser allerdings den ideologischen Gehalt des liberalen Fortschrittsbegriffs aus dem 19. Jahrhundert auch weiterhin nicht unbedingt in sich. »Modernisierung« als Entwicklung und Fortschritt stand vielmehr in direktem Zusammenhang mit der planerischen Energie von Sozialexperten, die auf Ordnungsmodelle jenseits der politischen Systeme fi xiert waren. Sie prägten eine Epoche im 20. Jahrhundert, welche die Staaten und Gesellschaften von den USA über Europa bis in die Sowjetunion erfasste. Es war die Epoche der »entfernten Verwandtschaft« von New Deal und Faschismus. Es war die Epoche der technischen Gigantomanie seitens der Tennessy Valley Authority und der Hydroprojekte des Stalinismus, sodann der Modernisierung als 19. FREYER, Hans: Der Fortschritt und die haltenden Mächte, in: Ders.: Herrschaft, Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie, Weinheim 1987 (urspr. 1952), S. 73-83. Die Kontinuitätslinie von Wilhelm Heinrich Riehl zu Hans Freyer, wenn es um kritische, abwehrende Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen von Industrialisierung, Urbanisierung und Moderne (»Fortschritt«) ging, betont MULLER, The Other God That Failed, S. 146, 316-360; die Kraft dieser Kontinuitätslinie bis ins Zentrum geschichtswissenschaftlicher Urteilsbildung in der BRD während der 1950er und 60er Jahre akzentuiert ETZEMÜLLER, Thomas: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 60-65 und passim. 20. HARNACK, Adolf von: »Was kostet der Fortschritt in der Geschichte?«, Elmau, 22. März 1923, zit.n. DOERING-MANTEUFFEL, Anselm: Der Kulturbürger und die Demokratie, in: Nowak, Kurt u.a. (Hg.): Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft, Göttingen 2003, S. 237-255, hier S. 248 sowie Anm. 46.
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Optimierung von Gesellschaft im Sinne der Eugenik (die über die Euthanasie bis zum Genozid reichen konnte, aber nicht musste) und schließlich der konkurrierenden Weltraumprojekte in der Zeit des Ost-West-Konfl ikts. Es war die Epoche, um die es in diesem Buch geht, als Ordnungsdenken und social engineering sich systemübergreifend zur Vision einer »Ordnung der Moderne« verdichtet hatten. Sie plante den Fortschritt, ohne einen Gedanken an den einzelnen Menschen, das Individuum, zu verschwenden. Das Individuum verschwand in der Gesellschaft, und die Gesellschaft war geformt durch den festen Rahmen des nationalen Staats. (3) Dieser Rahmen verlor zwischen 1970/80 und der Gegenwart an Verbindlichkeit. Das feste politische und soziale Bezugssystem wurde virtuell. Wo sich nationale Kompetenzen auf die Ebene der Europäischen Gemeinschaft verschoben, wo Sicherheit und Militärtechnik international, Wirtschaftsproduktion und Konzernbildung transnational und schließlich Kommunikation und Finanztransfer digital und global organisiert wurden, ließen sich Konturen von Ordnung immer schwerer erkennen. Als im Verlauf dieser Entwicklung 1989/90 der Ostblock zusammensank, wurden die weitgehend fertig ausgebildeten Kräfte der Globalisierung freigesetzt. Sie entfalteten eine Dynamik der Veränderung, welche die scheinbar noch im Gestern, im festen Rahmen einer staatlich gebundenen Modernisierung verharrenden Gesellschaften der europäisch-atlantischen Industrieländer erst jetzt voll erfasste. Doch vorhanden waren diese neuen Konturen von Ordnung schon längst.21 Ihre Kennzeichen waren die Negation von »Struktur« als Verkörperung des Festen und Starren, des weiteren Bewegung und Beschleunigung in einem Ausmaß, dass Beschleunigung selbst zur Norm von Ordnung wurde. Es handelte sich hier um Rastlosigkeit in der Gegenwart, die aus der Eigendynamik des digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus hervorging. Es ging um Vorteil, Gewinn, Mehrwert im Hier und Heute. Das Zeitfenster namens »Zukunft« erfasste zum Schluss gerade noch ein Vierteljahr, innerhalb dessen Gewinn und Verlust zu berechnen waren. Die Norm der gegenwartsbezogenen Ordnung zerstörte Gemeinschaftsleben, Existenzhoffnungen und den Gedanken an die vor den Menschen liegende Zeit. »Es ist die Zeitdimension des neuen Kapitalismus, mehr als die High-Tech-Daten oder der globale Markt, die das Gefühlsleben der Menschen außerhalb des Arbeitsplatzes am meisten berührt«, urteilte der amerikanische Soziologe Richard Sennett.22 Betrachten wir nun im zweiten Schritt die drei Zeitschichten noch etwas näher im Hinblick auf ihre historischen Bezüge. (1) Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen sich die Ideale liberaler bürgerlicher Ordnung in den europäischen Gesellschaften zu erschöpfen.23 21. Vgl. DOERING-MANTEUFFEL/R APHAEL, Nach dem Boom. 22. SENNETT, Richard: Der flexible Mensch, Berlin 2006 (urspr. 1998), S. 29. 23. LEONHARD, Jörn: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen
Deutungsmusters, München 2001.
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Die englische Wahlrechtsreform in den 1860er Jahren oder das Ende der Utopie von der »klassenlosen Bürgergesellschaft« im Deutschen Bund, ebenfalls in den 1860er Jahren,24 zeigten an, dass sich ein Wahrnehmungswandel vollzog, dessen materiellen Kern die Industrialisierung und die Entstehung des Proletariats bildeten. Die Industrialisierung wiederum war mit technischen und technisch-wissenschaftlichen Veränderungen, Erfindungen, Neuerungen verbunden, die Zug um Zug die Spielräume des homo faber und die Gestaltungsmöglichkeiten des homo oeconomicus erweiterten. Materieller Wandel und, damit verbunden, infrastruktureller Wandel in Form von Urbanisierung, Ausweitung städtischer Industrieareale, Arbeitsmigration vom Land in die Stadt, von Ost nach West, vollzogen sich mit atemverschlagender Geschwindigkeit. Die Zeitgenossen rieben sich die Augen und erkannten von Jahr zu Jahr aufs neue die Welt nicht mehr wieder, in der sie lebten.25 Daraus entstand in Mitteleuropa der so genannte Kulturpessimismus, der die Entwicklung der Moderne zwar durchaus mit vollzog, aber das, was da geschah, mit Ekel und Abscheu kommentierte.26 Künstlerische Avantgarde, Lebensreformbewegungen, völkisch-rassischer Utopismus waren nicht sämtlich reaktionär. Sie wollten nicht zurück in eine soeben vergangene Zeit. Sie waren vielmehr je unterschiedliche – avantgardistische bis utopistische – Antworten auf den Strukturwandel in der Gegenwart seit 1880/90. Parallel dazu hatte sich der Liberalismus als sozialkulturelles Ordnungsmodell des Bürgertums im mittleren 19. Jahrhundert (1830-1870/80) so ausdifferenziert, dass seine negativen Seiten immer stärker hervorstachen. Die Eigenart der liberalen Ideologie bestand in der Annahme einer kontinuierlichen Entwicklung, welche die »Neue Zeit« seit der Aufklärung im eigentlichen Sinne charakterisiere.27 Das Ideologem »kontinuierliche Entwicklung in der Neuen Zeit« schloss Rationalität, den Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt und die Idee des Fortschritts in sich.28 Im 19. Jahrhundert lernten die bürgerlichen Liberalen Europas den Fortschritt zu sehen als ein stetiges Voranschreiten zum Höheren und Besseren, zu mehr Wissen, mehr Reflexion, mehr Kompetenz mit dem Zweck der Weltbemächtigung. Der Fortschritt voll24. Vgl. STEINMETZ, Willibald: Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume, England 1780-1867, Stuttgart 1993; GALL, Lothar: Liberalismus und bürgerliche Gesellschaft. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 220, 1975, S. 324-356. 25. HOBSBAWM, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; MAZOWER, Mark: Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000; vgl. MAI, Gunther: Europa 1918-1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart u.a. 2001. 26. Vgl. SCHORSKE, Carl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle, Frankfurt a.M. 1982; STERN, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern u.a. 1963. 27. Vgl. LEONHARD, Liberalismus; KOCKA, Jürgen (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988. 28. KOSELLECK, Reinhart: »Neuzeit«. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 300-348.
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zog sich kontinuierlich, überschaubar, unaufhaltsam. Es war ein Fortschritt mit humanem Maß, zum Nutzen der Menschheit. Das humane Projekt des Liberalismus und dessen Fortschrittsverständnis, das wir auch beim jungen Marx antreffen, war optimistisch.29 Das Fortschrittsdenken war an eine Auffassung von Verlauf und Entwicklung gebunden, die nicht nur die moderne Geschichtswissenschaft entstehen ließ, sondern vor allem den Glauben an die Geschichtlichkeit der Welt und des Lebens mit sich brachte. Dem aufklärerisch-liberalen Fortschrittsdenken war der Glaube axiomatisch eingeschrieben, »daß alles, was ist, geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist«.30 Dies ist das ideengeschichtliche Phänomen des Historismus. Mit der Überzeugung, dass alles und jedes geschichtlich vermittelt ist, negierte der Historismus, einerseits, die übergeschichtliche, übermenschliche Geltung des Göttlichen, des Numinosen. Es negierte die Nicht-Zeitlichkeit des Heiligen. Andererseits aber förderte dieser Historismus als ein Teilelement des Liberalismus den kulturellen Trend, das je Eigene, Einzelne in der Vergangenheit aufzuspüren, zusammenzutragen und aufzuschreiben. Er legitimierte den Faktenpositivismus in den Humanwissenschaften, der jedes Detail ausfindig machte, ohne sagen zu können, warum er das tat und wozu es gut sein sollte. Und zum Dritten förderte der Historismus als Spielart des Liberalismus die Konzentration auf das Individuum, auf den einzelnen Menschen, den einzelnen Staat, die einzelne Nation, die dann jeweils – mit einem Diktum Leopold von Rankes – »unmittelbar zu Gott« gesehen wurden.31 Wenn Friedrich Nietzsche die Beliebigkeit in der Sammelleidenschaft der Wissenschaften lächerlich machte und zugleich verkündete, »Gott ist tot«, dann benannte er die beiden aus seiner Sicht katastrophalen Auswirkungen von Historismus und, unmittelbar damit verbunden, bürgerlichem Liberalismus. »Gott ist tot« hieß ja nicht, dass es keinen Gott mehr gebe, ganz im Gegenteil! Es besagte vielmehr, dass die herrschende Ideologie der »Neuen Zeit«, des kontinuierlichen Verlaufs als Fortschritt, des geschichtlich Vermitteltseins von allem und jedem letztendlich das Göttliche zerstöre, weil sie den Menschen den existentiell unverzichtbaren Bezug auf das Überzeitliche, Unbegreifliche unmöglich mache.32 29. KOSELLECK, Reinhart: Art. »Fortschritt«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 2004, Bd. 2, S. 351-423; NOLTE, Ernst: Marxismus und industrielle Revolution, Stuttgart 1983. 30. OEXLE, Otto Gerhard: Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: Ders.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, S. 17-40, hier S. 33. 31. Vgl. ebd., S. 29f. 32. Das ging tendenziell gegen Theologen wie Adolf von Harnack, der damals mit der Darstellung des »historischen Jesus« rang; vgl. OEXLE, Otto Gerhard: »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in: Ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, S. 41-72, bes. S. 55f.; NOWAK,
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Mit Nietzsche begann die ideengeschichtliche Strömung des sogenannten Antihistorismus. Sie verstärkte sich und nahm Fahrt auf, als sich Nietzsches Kritik an der alles relativierenden Weltsicht mit den aktuellen Eindrücken der Zeitgenossen verzahnte. Das setzte zwischen 1890 und 1900 ein. In diesem Jahrzehnt erreichte die Hochindustrialisierung den Zenit. Sie konfrontierte die Zeitgenossen, insbesondere die Schicht des gebildeten Stadtbürgertums, mit permanentem Wandel in immer schnellerem Tempo und mit Auswirkungen, die sie nicht mochten. Industrieareale entstanden am Rande der Städte; eine neue Schicht, das Industrieproletariat, breitete sich aus, und die Wohnquartiere des Proletariats wuchsen unübersehbar an; der Straßenbau und die Einrichtung von Trambahnlinien förderten Mobilität, erzeugten aber zugleich den Eindruck von Rastlosigkeit und Unruhe.33 Alles zusammengenommen bedeutete dies, dass die Welt, aus der die Zeitgenossen stammten, von Tag zu Tag immer weiter abgeräumt wurde. Die neue Welt, die ihnen völlig fremd war, bestand aus »grauer Städte Mauern«,34 aus fremden, bedrohlich wirkenden Menschen, als welche das Proletariat wahrgenommen wurde, aus Tempo, Lärm und Unrast. Ein Gefühl der Entankerung machte sich breit und das Bedürfnis, aus dem rasenden Zug der Zeit auszusteigen.35 Daraus ging die Suche nach Verbindlichkeit hervor, nach Ankerplätzen im Hier und Jetzt, kurz: die Suche nach Ordnung. Der Antihistorismus war vor 1914 fertig ausgebildet, und mit ihm auch das Spektrum der Argumente gegen den Liberalismus, den liberalen Optimismus, den optimistischen Glauben an einen Fortschritt mit humanem Maß. Der Weltkrieg bestätigte die Feindschaft gegenüber dem liberalen und dem historistischen Weltbild, weil hier ein »Fortschritt« körperlich erfahrbar wurde, dessen Grauen alles bis dahin Vorstellbare überstieg. Dennoch war all das Fortschritt: technisch-industrieller Fortschritt in der Waffenproduktion, Fortschritt in der Organisation einer Volkswirtschaft, Fortschritt in der Logistik, Fortschritt in Medizin, Chemie und Physik. Im deutschsprachigen Mitteleuropa floss diese kulturgeschichtliche »Enttäuschung des Krieges«36 vom liberalen Ordnungssystem der bürgerlichen Welt dann noch mit der politischen Kurt: Theologie, Philologie und Geschichte. Adolf von Harnack als Kirchenhistoriker, in: Ders./Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker, Göttingen 2001, S. 189-237. 33. Vgl. zur deutschen Entwicklung als biographische Fallstudie LENGER, Friedrich: Werner Sombart 1863-1941, Eine Biographie, München 1994; sowie KERBS, Diethart/REULECKE, Jürgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 18801933, Wuppertal 1998. 34. MOGGE, Winfried: Wandervogel, Freideutsche Jugend und Bünde. Zum Jugendbild der bürgerlichen Jugendbewegung, in: Koebner, Thomas u.a. (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Mythos Jugend, Frankfurt a.M. 1985, S. 174-198. 35. ROSA, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005. 36. FREUD, Sigmund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Essay I: Die Enttäuschung des Krieges, in: Ders.: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Frankfurt a.M. 1974 (urspr. 1915); S. 33-48.
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Feindschaft gegen die Siegermächte und den Versailler Frieden zusammen, weil diese die Zukunft einer liberalen Welt postulierten und zu repräsentieren vorgaben. Deshalb zweigt hier der Antihistorismus im deutschsprachigen Mitteleuropa vom Antihistorismus als ideengeschichtlicher Erscheinung in ganz Europa ab. Doch als Subtext in den Vorstellungen von Ordnung innerhalb der europäischen Nationalkulturen blieb der Antihistorismus in den 1920er Jahren virulent,37 und daraus erklärt sich auch die beträchtliche Resonanz in ganz Europa, einschließlich Englands, auf die politisch-gesellschaftlichen Ausprägungen von Antihistorismus im italienischen Faschismus, in der völkischen Bewegung Österreichs und Deutschlands, im eugenischen Rassismus und im Sozialdarwinismus.38 Was dann kam, in den 1920er Jahren, wird seit Hermann Heimpel als »antihistoristische Revolution« bezeichnet.39 Diese »Revolution« räumte das liberale Weltbild und das liberale Fortschrittsverständnis ab, und zwar auf Dauer. In Deutschland verschwand nicht nur das Wort »liberal« aus allen Parteinamen der Weimarer Republik, sondern es begann eine Abwehr gegen den liberalen Gedanken der Entwicklung, des historischen Prozesses, zu grassieren. Diese Abwehr erfasste politische Lager und sozialkulturelle Milieus von rechts bis links. 40 Die Abkehr vom historistischen Weltbild revolutionierte auch die Wissenschaften – insbesondere Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft, ebenso die Kulturwissenschaft, aber auch die Physik. Hier akzentuierte das Phänomen der »Deutschen Physik« die feindliche Abgrenzung zur »liberalistischen« internationalen Physik, die im wissenschaftlichen Weltbild der aufklärerisch-liberalen Tradition verwurzelt blieb und obendrein als »jüdisch« denunziert wurde. 41 37. Das Phänomen ist im europäischen Zusammenhang noch nicht systematisch erforscht worden; vgl. aber WOHL, Robert: The Generation of 1914, London 1980. 38. GRIFFIN, Roger: Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, Houndmills 2007. 39. HEIMPEL, Hermann: Geschichte und Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 5, 1957, S. 1-17; NOWAK, Kurt: Die »antihistoristische Revolution«. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Renz, Horst/Graf, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, S. 133-171. 40. DOERING-MANTEUFFEL, Anselm: Suchbewegungen in der Moderne. Religion im politischen Feld der Weimarer Republik, in: Graf, Friedrich Wilhelm/Große Kracht, Klaus (Hg.): Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2007, S. 175-202. 41. Vgl. NÖRR, Knut Wolfgang u.a. (Hg.): Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994; LEPSIUS, Oliver: Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994; METZLER, Gabriele: Internationale Wissenschaft und nationale Kultur. Deutsche Physiker in der internationalen Community 19001960, Göttingen 2000.
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Diese Entwicklung soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Vielmehr möchte ich mit ein paar Stichworten die Kennzeichen des Antihistorismus verallgemeinernd akzentuieren, um vor allem auch die Dauerhaftigkeit des Weltbilds über die Schwelle von 1945 hinaus sichtbar zu machen. Wer antihistoristisch dachte, setzte sich in die Lage, zentrale Kategorien des bürgerlich-liberalen Ordnungssystems auf der Ebene von Zivilrecht, Staatsrecht und Völkerrecht zu negieren. Die bedeutendste Einzelpersönlichkeit war hier Carl Schmitt, aber der Trend selbst hatte eine Gefolgschaft, die nach Tausenden zählte. 42 Kategorien bürgerlich-liberaler Ordnung waren »Staat« und »Nation« respektive »Nationalstaat«. In der Negation des liberalen Weltbilds und gleichzeitiger Zurückweisung der »liberalistischen« Friedensordnung von Versailles ließ sich der aktuelle, in der Geschichte der »Neuen Zeit« verankerte Begriff »Nation« ersetzen durch einen anderen Begriff, ja eine andere Kategorie, die über das Geschichtliche hinauswies und »ewig« war – nämlich »Volk«. »Volk« als Gegenbegriff zu »Nation« war überzeitlich, ebenso wie der Gegenbegriff zu »Staat« – nämlich »Raum«. Mit »Volk und Raum« hatten Juristen und andere Intellektuelle in Deutschland und Österreich nach 1919 Instrumente an der Hand, um die im Versailler Vertrag, Art. 80 (Verbot der Vereinigung mit Österreich), festgelegten Begrenzungen des deutschen Staats und der deutschen Nation einfach zu überspielen. Die Kriterien des »liberalistischen« Ordnungsdenkens galten für sie nicht. Wenn sie dagegen verstießen, brauchten sie das gar nicht als Rechtsbruch zu empfinden. Sie konnten sich vielmehr suggerieren, an einer neuen Ordnung zu bauen, weil die alte ihre Gültigkeit verloren hatte. »Neue Ordnung«, »ewige Ordnung«, das »Gesetz der Ahnen« und anderes mehr: Wenn man das Schriftgut aus der Zwischenkriegszeit durchmustert, stößt man andauernd auf solche Ausdrücke und die damit verbundenen Vorstellungen. Das war nicht nationalsozialistisch. Die Nationalsozialisten hatten das nicht erfunden, sondern sie waren Mitläufer und Nutznießer eines älteren, breiten kulturellen Trends, den sie dann mit ihren spezifischen Ideologemen – Rasse, Kampf, Vernichtung – verbanden. Wie wir sahen, hatte schon um 1900 die Abscheu vor Beschleunigung und Wandel zugenommen und sich nach der Erfahrung des Krieges seit 1920 revolutionär verstärkt. Es begann eine Suche nach dem, was Hans Freyer nach dem Kriege »haltende Mächte« genannt hat, und an dieser Suche beteiligte sich eine große Zahl, wenn nicht die Mehrzahl von Intellektuellen in Wissenschaft und Kulturbetrieb der deutschsprachigen Länder. Die Einfachheit des antihistoristischen Weltbilds und seine suggestive Kraft der Abgrenzung gegen die »Feinde des Deutschtums« sicherten ihm Anhängerschaft bis in die 1960er Jahre hinein. 43 An zwei Beispielen soll zum Abschluss dieses ersten Punkts die Nutzung 42. Zu Schmitt vgl. MÜLLER, Jan-Werner: A Dangerous Mind. Carl Schmitt in PostWar European Thought, New Haven, London 2003. 43. Hier liegt, nicht zuletzt, die Bedeutung der Studie von HERBERT, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, Bonn 1996.
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des antihistoristischen Weltbilds durch Hitler und den Nationalsozialismus illustriert werden. Das erste Beispiel bringt eine Vorstellung von Geschichte auf den Punkt, in der der historische Prozess, die Kategorie Entwicklung, keine Bedeutung mehr hat. Zur Eröff nung des Landtagswahlkampfs in Lippe am 4. Januar 1933 musste die NSDAP gegen den Verlust von Stimmen in den vorangegangenen Wahlen argumentieren, zumal die Presse der bürgerlichen Parteien von Wahlmüdigkeit und vom Rückgang der NS-Bewegung schrieb. »Auch die Drohung mit der Wahlmüdigkeit kann uns nicht schrecken«, sagte Hitler in Detmold. »Es ist letzten Endes gleichgültig, wie viele Prozent des deutschen Volkes Geschichte machen. Wesentlich ist nur, dass die Letzten, die in Deutschland Geschichte machen, wir sind!« 44 Das zweite Beispiel betriff t die Kategorie »Fortschritt«, die Hitler keineswegs negierte. Er betrachtete den Fortschritt allerdings im binären Bezug des Sozialdarwinismus als Bestandteil von Kampf, als Sieg im Kampf. Anders ausgedrückt, ging es bei Hitler um Fortschritt durch Zerstörung. 1928 sagte er in einer Rede, Fortschritt sei nur möglich durch Niederwerfung »alles Morschen, alles Schwächlichen, alles Kranken«. 45 Das konnte materiell und ideell aufgefasst und sowohl auf kranke, behinderte Menschen als auch auf Gesellschaftsordnungen, etwa des westlichen, demokratischen, »liberalistischen« Typs, bezogen werden. Aber die Aussage war unmissverständlich: Wenn alles Gestrige (= »Morsche«), Kranke, Schwache beseitigt ist, dann ist der Fortschritt erreicht – dann ist der Fortschritt zum Zustand geworden. Beides zusammen, das Stillstellen der geschichtlichen Entwicklung in einer »ewigen«, »tausendjährigen« Ordnung und das Verständnis von Fortschritt als letztgültigem Kampf und Zerstörung, lässt »Ordnung durch Terror« zu einer denkbaren Praxis werden. 46 Es bleibt festzuhalten und muss noch einmal betont werden, dass sowohl die Ablehnung des liberalen Fortschrittsgedankens als auch die antihistoristische Negation der Kategorie Entwicklung einen Grundzug des europäischen Ordnungsdenkens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bildeten. In Deutschland und Österreich galt das besonders markant, aber Faschismus und Nationalsozialismus waren weder die Erfinder noch die Protagonisten, sondern bloß die Nutznießer. Die Konturen von Ordnung in der ersten Zeitschicht des 20. Jahrhunderts ergaben sich aus dem Nachlassen und dem Verbindlichkeitsverlust des bürgerlichen Liberalismus der vorindustriellen Epoche einerseits und der Abwehr gegen die Vorstellung kontinuierlicher geschichtlicher Entwicklung durch permanenten Wandel und dauernde Beschleunigung andererseits, zumal beide im Ersten Weltkrieg vollständig delegitimiert worden waren. 44. DOMARUS, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, 2 Bde., München 1965, Bd. I/1, S. 176. 45. HITLER, Adolf: Reden, Schriften, Anordnungen, 6 Bde., München 1992-2003, Bd. II/2, S. 757. Vgl. KROLL, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und poltisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn u.a. 21999, S. 56-64. 46. BABEROWSKI, Jörg/DOERING-MANTEUFFEL, Anselm: Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn 2006.
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(2) Die zweite Zeitschicht des 20. Jahrhunderts erstreckte sich von 1930 bis 1975/80. Sie setzte mit dem Umbruch der Nachkriegsordnung in der Weltwirtschaftskrise 1929/30 ein. Damals scheiterten die internationale politischrechtliche Ordnung von 1919 und die Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit. Beide waren nach einem Verständnis konzipiert, das – gemäß der Vision des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson – eine dem Prinzip der Selbstbestimmung der Völker und den Grundsätzen liberaler Politik verpflichtete Staatenwelt hervorbringen sollte. 47 Das Völkerrecht folgte den Grundsätzen der Rechtsförmigkeit und Gleichberechtigung in den Staatenbeziehungen. Wirtschaft und Finanzen waren international nach dem kapitalistischen Prinzip der Marktwirtschaft organisiert. 48 Die industrielle Produktion befand sich überwiegend auf dem technischen Stand der Zeit vor 1918, aber der Fordismus als neues Ordnungsprinzip hatte begonnen sich auszubreiten. Fordismus hieß: Gleichförmige Fließbandproduktion von Massenware mit Arbeitskräften eines geringen Ausbildungsgrades. Hohe Bezahlung, um das extrem stark beanspruchte Arbeitstier Mensch am Fließband zu halten. Fordismus hieß obendrein, Massenware in den anonymen Käufermarkt hinein zu produzieren, und das bedeutete, die Gesellschaft hin zum Modell der Konsumgesellschaft zu öffnen. 49 Das alles hatte in den 1920er Jahren eingesetzt, breitete sich in den 30er Jahren in den USA aus, während es in Europa nur in ersten Ansätzen zur Geltung kam und vom Krieg stillgestellt wurde. Der Durchbruch in Westeuropa erfolgte dann um 1960.50 Mit dem Begriff »Fordismus« verbinden sich Bestimmungsmerkmale der Konturen von Ordnung innerhalb dieser zweiten Zeitschicht des 20. Jahrhunderts. Sie lassen sich zum einen mit dem Begriffspaar »Fortschritt und 47. KNOCK, Thomas J.: To End All Wars. Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order, Princeton/NJ 1992; BOEMEKE, Manfred F. u.a. (Hg.): The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Washington/DC, Cambridge 1998; STEINER, Zara: The Lights that Failed. European International History 1919-1933, Oxford 2005. 48. Zur Rekonstruktion in den wichtigen kontinentaleuropäischen Ländern, die am Krieg teilgenommen und nicht vom Zerfall der östlichen Kaiserreiche erfasst worden waren, vgl. das nach wie vor gültige Werk von MAIER, Charles S.: Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton/NJ 1988. 49. STIFTUNG BAUHAUS DESSAU/RWTH A ACHEN (Hg.): Zukunft aus Amerika. Fordismus in der Zwischenkriegszeit, Dessau, Aachen 1995; JACOBS, Meg: Pocketbook Politics. Economic Citizenship in Twentieth-Century America, Princeton/NJ, Oxford 2005; DE GRAZIA, Victoria: Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe, Cambridge/MA, London 2005. 50. KÖNIG, Wolfgang: Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000; SCHULZE, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992; vgl. DEUTSCHMANN, Christoph: Anglo-amerikanischer Consumerism und die Diskussion über Lebensstile in Deutschland, in: Berghahn, Volker R./Vitols, Sigurt (Hg.): Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, Frankfurt a.M., New York 2006, S. 154-165.
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Planung« bezeichnen und zum andern mit »Struktur und Modernisierung«. Kennzeichnend war die Vorstellung kontinuierlicher Entwicklung innerhalb eines festen, verbindlichen Rahmens, der durch den nationalen Staat, seine Gesellschaft und sein Industriesystem umschrieben wurde. Betrachten wir zunächst den ersten Aspekt, Fortschritt und Planung. Im Begriff »Fortschritt« seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise waren und blieben die Kennzeichen aus dem europäischen bürgerlich-liberalen 19. Jahrhundert ausgeblendet. Fortschritt brauchte nicht als Ausdruck von Geschichtlichkeit betrachtet zu werden. Fortschritt galt nicht als ideelles Muster, dem ein humanes Maß und eine optimistische Weltsicht eingeschrieben waren. Angesichts der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und des Fehlschlags einer liberalen Nachkriegsordnung war der Fortschritt jetzt zu einer technischen Möglichkeit geworden. In der Wirtschaftskrise seit 1930 wurde aus der technischen Möglichkeit eine wirtschaftliche Notwendigkeit, die in hohem Maß wissenschaftlich-technische Dynamik im Sinne dieses Fortschritts erzeugte. Entscheidend war die Verkopplung mit »Planung« als dem Zentralbegriff rationalen Expertentums, denn Planung wurde zum Axiom aller politischen und wissenschaftlichen Bürokratien, sobald sie sich der Modernisierung als Grundprinzip von Fortschritt verschrieben, ganz ungeachtet deren liberaler, nicht- oder antiliberaler Ausrichtung.51 Deshalb befanden sich Fordismus und Fortschrittsdenken nicht im Widerspruch zur antihistoristischen Idee von »ewiger Ordnung« und deren nationalsozialistischer oder stalinistischer Umsetzung in den Gewaltexzessen des Zweiten Weltkriegs.52 Ebensowenig war ein fordistisch grundiertes Fortschrittsdenken an eine bestimmte politische Ordnung gebunden. Es konnte in einem parlamentarisch-demokratischen und sozialkulturell liberalen Umfeld genauso vorherrschen wie im faschistischen, nationalsozialistischen oder stalinistischen Umfeld. Das axiomatische Verständnis von Fortschritt und Planung begründete die »entfernte Verwandtschaft«53 von Industriesystemen nach 1930 und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für etwa zwei Jahrzehnte zum Konstitutivum in den Gesellschaften der »freien Welt«. Fixieren wir diese Aspekte: Das Verständnis von Fortschritt innerhalb der zweiten Zeitschicht benannte eine Norm für das technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Handeln im Industriesystem. Die Norm war unabhängig von der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Verfasstheit. Fortschritt wirkte als technokratisches Projekt und trug das bürokratische 51. Vgl. PERKIN, Harold: The Rise of Professional Society. England since 1880, London, New York 1989, bes. die Kapitel 4-6; R APHAEL, Lutz: Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918-1945), in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 327-346; GESTWA, Klaus: Technik als Kultur der Zukunft. Der Kult um die »Stalinschen Großbauten des Kommunismus«, in: Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, S. 37-73. 52. BABEROWSKI/DOERING-MANTEUFFEL, Ordnung durch Terror. 53. SCHIVELBUSCH, Wolfgang: Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939, München 2005.
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Mantra »Planung« in sich. Er wurde darüber zur Bestimmung des Experten, der die Entwicklung einer Gesellschaft, eines politischen Gemeinwesens beeinflusste, wenn nicht steuerte. Die Wissenschaft von der Steuerung sozialtechnischer Prozesse, die Kybernetik, bildete den Inhalt jener Hülle mit dem Etikett »Fortschritt«, und der so verstandene Fortschritt konstituierte Ordnung.54 Nun zum zweiten Aspekt, Struktur und Modernisierung. Die skizzierte Ordnung wurde zeitgenössisch begriffen als komplexes soziales System, das beherrschbar und steuerbar war, sofern und solange es als struktureller Zusammenhang, als »Struktur«, begriffen wurde und nicht als Konfiguration individueller Gruppen, Milieus oder Interessen. Eine gesellschaftliche Ordnung als Struktur zu betrachten, war, wie schon angedeutet, an die Voraussetzung gebunden, dass ein Rahmen gegeben war, innerhalb dessen der strukturelle Zusammenhang wirksam werden konnte. Diesen Rahmen boten entweder ein Staat oder ein Staatenbündnis, aber auch eine Wirtschaftskonföderation. In den 1930er und 40er Jahren existierte ein solcher Rahmen in Gestalt der USA55 oder, wie kurzfristig auch immer, der nationalsozialistischen europäischen Großraumordnung Westeuropas. Ansatzweise galt das auch für die Sowjetunion. In den 1950er Jahren bildeten die Folgeprodukte dieser Konfiguration den prägenden, strukturbildenden Rahmen der Nachkriegszeit. Das waren zum einen die USA im westlichen Bündnis des Nordatlantikpakts und des Internationalen Währungsfonds (NATO und IMF). Zum andern war es die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als Resultat sowohl des Marshall-Plans als auch der französisch-belgischen und deutschen Ansätze zur Begründung eines westeuropäischen Wirtschaftsgroßraums während des Zweiten Weltkriegs. Zum Dritten dienten der Warschauer Pakt und der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) als Rahmenordnung sowjetischen Typs für Fortschritt, Planung und Modernisierung.56 Der Zusammenhang zwischen Ordnung und Struktur, zwischen Ordnungsvorstellungen und Strukturalismus verweist auf das normative Element, 54. BERTAUX, Pierre: Denkmaschinen, Kybernetik und Planung, in: Jungk, Robert u.a. (Hg.): Der Griff nach der Zukunft. Planen und Freiheit, München 1964, S. 70-84; GRAHAM, Loren R./SAYRE, Kenneth M./SCHÄFER, Hans: Kybernetik, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, 6 Bde., Freiburg i.Br. u.a. 1969, Bd. 3, Sp. 1266-1300; NÜTZENADEL, Alexander: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005, S. 197-214. 55. BRINKLEY, Alan: The New Deal and the Idea of the State, in: Fraser/Gerstle (Hg.), The Rise and Fall of the New Deal Order, S. 85-121. 56. MILWARD, Alan S.: The Reconstruction of Western Europe 1945-1951, London 1984; HOGAN, Michael J.: The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1945-1952, Cambridge 1987; GILLINGHAM, John: Coal, Steel, and the Rebirth of Europe 1945-1955. The Germans and French from Ruhr Conflict to Economic Community, Cambridge 1991; JAMES, Harold: Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Fall und Aufstieg 1914-2001, München 2004, Kap. 8 über den Sozialismus in Osteuropa.
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das die zweite Zeitschicht charakterisierte. Wenn Fortschritt nicht mehr als Entwicklung mit humanem Maß gedacht wurde, aber doch wieder – gegen das antihistoristische Konstrukt von Gesetz und ewiger Ordnung – als ein Prozess infolge menschlichen, an eine konkrete Zeit gebundenen Handelns, dann war er offen für unterschiedliche, auch entgegengesetzte weltanschauliche Begründungen. Deswegen gehört die Kategorie Modernisierung in diesen Zusammenhang. Sie bildete spätestens dann das normative Element dieser Zeitschicht, seit sie als maßgebliche Sozialtheorie das Handeln der Experten legitimierte. In den vom Antihistorismus geprägten Jahrzehnten hatten sich Expertenkultur und Handlungsmuster aus den ideologischen Annahmen einer zu schaffenden Ordnung legitimiert – als rassereine Siedlergesellschaft im Osten, als homogene Nationalität im Vielvölkerreich Sowjetunion, als eugenisch optimierte Bevölkerung in Schweden oder anderswo. Damals hatten Experten mit einem Selbstverständnis gearbeitet, welches Gestaltung und Entwicklung dahin verstand, ein ideologisch konstruiertes Ziel als Endziel zu erreichen. Jetzt, in der strukturalistischen Phase, war die Zukunft wieder offen für das gestalterische Tun der Experten, und das Ziel, dem sie zustrebten, bedeutete nicht gleichzeitig das Ende des zu gestaltenden Prozesses, sondern einen optimalen Zustand, der, wenn er einmal erreicht sein würde, neue Perspektiven auf weitere Optimierung eröffnen mochte. Gleichzeitig aber – und hier sehe ich den ideengeschichtlichen Ort der Modernisierungstheorie – war das gestalterische Tun kompatibel mit unterschiedlichen, ja feindlichen weltanschaulichen Orientierungen. Die Modernisierungstheorie entsprach der ideologischen Rivalität im OstWest-Konflikt, weil sie einerseits nach der Überwindung des Antihistorismus am Ende des Zweiten Weltkriegs jetzt erneut Prozesshaftigkeit als potentiell unendliche Geschichte zu denken erlaubte und damit die Zukunft als permanent gestaltbar, auch umgestaltbar erscheinen ließ – als offenen Prozess, nicht als »ewigen« Endzustand. Andererseits war die Modernisierungstheorie offen für weltanschauliche Positionen aus dem jeweils gegnerischen Lager.57 In den freien Gesellschaften des westlichen Lagers kam das naturgemäß stärker zur Geltung als in den verriegelten Gesellschaften des sowjetischen Blocks. Im Kampf um »Frieden« und »Freiheit« wirkte gleichwohl von 1948 bis 1990 eine Rivalität als treibende Kraft, eine Rivalität um den angemessenen Weg in die sozialkulturell, machtpolitisch und technisch-wissenschaftlich fortschrittliche Moderne,58 um Überlegenheit in der Modernisierung.59 57. Z APF, Wolfgang (Hg.): Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt a.M. 1990, Frankfurt a.M., New York 1991, insbesondere Plenum 5 und Plenum 7. 58. DOERING-MANTEUFFEL, Anselm: Im Kampf um »Frieden« und »Freiheit«. Über den Zusammenhang von Ideologie und Sozialkultur im Ost-West-Konflikt, in: Hockerts, Hans Günter (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-WestKonflikts, München 2004, S. 29-47. 59. Vgl. als Fallstudie WERTH, Karsten: Ersatzkrieg im Weltraum. Das US-Raumfahrtprogramm in der Öffentlichkeit der 1960er Jahre, Frankfurt a.M., New York 2006
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Mithin waren in der Entwicklung der zweiten Zeitschicht die Zukunft wieder offen und der Fortschritt potentiell unendlich. Die damit verknüpfte Vorstellung von Prozesshaftigkeit bedurfte des festen, verbindlichen Rahmens, um »Ordnung« denkbar sein zu lassen. Deshalb sehe ich die Bestimmungsmerkmale von Ordnung in dieser Zeitschicht – Fortschritt und Planung, Struktur und Steuerung und, alles in allem, »Modernisierung« – an die Geltung des festen Rahmens gebunden, den nach dem Zweiten Weltkrieg das Blocksystem im Ost-West-Konfl ikt geboten hat, bevor im Zuge der Entspannungspolitik blockübergreifend die »Zusammenarbeit« in Europa den Vorrang erhielt und in der »Strategic Defense Initiative« sich das Modernisierungspotential der USA als uneinholbar überlegen erwies.60 Bezieht man diese Diagnose auf das Thema unseres Bandes, auf Ordnungsdenken und social engineering in bestimmten Phasen des 20. Jahrhunderts, fällt Licht nicht zuletzt auf die Übergänge zwischen dem Rekurs auf stabile Ordnungen (»Rahmen«) einerseits und auf Modernisierung und Modernisierungstheorie andererseits (»Fortschritt« und »offene Zukunft«). Denn vielfach versuchten Experten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Kontingenz freizusetzen, das Geschehen aber zugleich steuernd im Griff zu behalten. Sie propagierten dies als Notwendigkeit vor dem Hintergrund des Rationalitätsdiskurses im späten 19. Jahrhundert. Deshalb wollten sie ihre Ordnungsziele graduell an die sich permanent wandelnde Gesellschaft anpassen, indem sie in bestimmten gesellschaftlichen Teilbereichen den Wandel bewusst dynamisierten, während sie ihn in anderen Teilbereichen völlig ignorierten. Man darf das als den Versuch deuten, zwischen »Fortschritt« und »Struktur« zu vermitteln.61 Viele Erscheinungsformen des mit dem social engineering verkoppelten Ordnungsdenkens sind hier anzusiedeln. So gesehen, ließen sie sich verstehen als Handlungs- und Deutungsmuster einer kontrollierten, aber nicht zum Stillstand gebrachten Veränderungsdynamik, die der Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung dienen sollte, anstatt durch Gewaltexzesse »neue« und »ewige« Ordnung herstellen zu wollen. Sofern man Modernisierung verstehen kann als geplanten und gesteuerten Fortschritt zur Optimierung und Adjustierung vorhandener Strukturen, bindet man diese Diagnose an die Dauer der von Zygmunt Bauman so genannten »schweren Moderne«. Man bindet sie an die Industriestruktur mit montanindustriellem Schwerpunkt, an die gesellschaftliche Dominanz der Arbeiterkultur des »Malochers« in der maschinell-manuellen Fertigung sowie an die Geltung des Fordismus als Produktionsregime.62 Das endete im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren.
60. LOTH, Wilfried: Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung, München 1998; GADDIS, John Lewis: We Now Know. Rethinking Cold War History, Oxford 1997. 61. Vgl. VOGT, Peter: Pragmatismus und Faschismus. Kreativität und Kontingenz in der Moderne, Weilerswist 2002. 62. BAUMAN, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003, S. 67ff., 70, 136ff. und passim.
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(3) Die dritte Zeitschicht des 20. Jahrhunderts deutete sich in den 1960er Jahren an und wurde seit Mitte der 1970er allmählich als etwas anderes, neues, als »Krise« wahrgenommen. Um 1980 war sichtbar geworden, dass der feste politische und soziale Rahmen für Expertenkultur, Wirtschaft und Regierung seine Bindekraft verlor. Sozialökonomische Strukturen und die Verbindlichkeit strukturalistischer Theorie erodierten. Im Gegenzug begann die Konjunktur des Poststrukturalismus. Schon seit den 60er Jahren entwickelte sich die Theorie der Poststrukturalisten aus der frühen Einsicht, dass Strukturoptimierung durch geplanten Fortschritt kein Ordnungskonzept auf Dauer sein würde.63 Bald nach 1970 brachen die materiellen Grundlagen für die Haltbarkeit des fordistischen Produktionsregimes nacheinander weg. 1971 kündigte die Regierung der Vereinigten Staaten das System von Bretton Woods aus dem Jahr 1944 mit den festen Wechselkursen des Dollar. 1973 folgte die erste Verteuerung des Erdöls, die in sich eine Reaktion nicht nur auf das Ende von Bretton Woods war, sondern ebenso auf den israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieg von 1967, den künftige Historiker wohl als eines der wichtigsten Ereignisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als ein Ereignis mit strukturwandelnder Wirkung, einschätzen dürften. 1975 begann die Arbeitslosigkeit infolge von Produktions- und Absatzkrisen bei Kohle und Stahl, im Schiffsbau und in der Textilindustrie deutlich anzusteigen. Es waren die Branchen des fordistischen Produktionstyps. Im Verlauf der 80er Jahre kamen dann Politikmodelle zum Durchbruch, die die seit 1947/48 beschworenen Konturen von Ordnung aus der zweiten Zeitschicht beiseite schoben. Das geschah durch den ideologischen Widerruf bis dahin gültiger Ordnungsvorstellungen und durch wirtschaftspolitische Maßnahmen. Am bekanntesten wurde der Wechsel des politischen Stils in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, als 1979 Margaret Thatcher und 1980 Ronald Reagan die Regierung übernahmen. Beide standen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Denkschulen nahe, die schon seit der frühen Nachkriegszeit jede wirtschaftstheoretische Stärkung staatlicher Kompetenz, des staatlichen Rahmens und der sozial- wie auch der politökonomischen Strukturen im Kontext des fordistischen Produktionsregimes und keynesianisch inspirierter Globalsteuerung furios bekämpften.64 Beide zogen alsbald breite Zustimmung aus Wirtschafts- und Finanzkreisen und breite Ablehnung aus der intellektuellen Öffentlichkeit und den Sozialwissenschaften auf sich. Insbesondere Margaret Thatchers Rhetorik schürte Abneigung bis zum Hass, auch wenn die Politik der britischen Regierung weit weniger Wandel bewirkte, als die Premierministerin beschwor. Die Abneigung insbesondere aus den Sozialwissenschaften bündelte sich in der Wiedergabe von Äußerungen, die infolge von Verkürzung als Kriegserklärung an die soziale Ordnung und die Ordnungskonzeption des Strukturalismus verstanden werden mussten. Bekannt ist das Diktum Zygmunt Baumans, des marxistischen Sozio63. Statt weiterer Nachweise vgl. DOERING-MANTEUFFEL/R APHAEL, Nach dem Boom, S. 72-76. 64. Ebd., S. 15-56.
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logen mit biographischem Hintergrund aus dem Polen der Nachkriegszeit, der ohne Quellennachweis die »unrühmliche Floskel« Margaret Thatchers zitiert: »There is no such thing as society.« Das war, sagt Bauman, »zugleich eine scharfsichtige Beobachtung zum Wandel des Kapitalismus, war Absichtserklärung und selbsterfüllende Prophezeiung: Auf diesen Schlachtruf folgte der Abbau schützender normativer Netzwerke, wodurch sich die Umsetzung dieser Programmatik beschleunigte. No society – keine Gesellschaft, das bedeutet das Ende der Utopie und der Dystopie zugleich.«65 Was Bauman hier angreift, erschließt sich ohne Kenntnis des argumentativen Kontextes scheinbar spontan: Thatcher argumentierte gegen den Sozialstaat, und sie schien die Sozialbindung von Eigentum zu widerrufen, indem sie für die Freisetzung des individuellen Gewinnstrebens auf Kosten der anderen, der Gesellschaft, plädierte. Aber die Premierministerin hatte gar nicht dem schieren Egoismus des Einzelnen, der Gier und dem Gewinnstreben der Profiteure im neuen Finanzmarkt-Kapitalismus das Wort geredet, sondern an einen Gedanken des christlich-demokratischen, ursprünglich im Katholizismus verankerten Subsidiaritätsprinzips erinnert, das zeitgleich der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl als »Hilfe zur Selbsthilfe« bezeichnete. Thatcher appellierte an die primäre soziale Verantwortung der Familie, die sie als Keimzelle der Nation auffasste. In einem Interview mit »Women’s Own Magazine« führte sie 1987 aus: »I think we’ve been through a period where too many people have been given to understand that if they have a problem, it’s the government’s job to cope with it. ›I have a problem, I’ll get a grant.‹ ›I’m homeless, the government must house me.‹ They’re casting their problem on society. And, you know, there is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look for themselves first. It’s our duty to look after ourselves and then, also to look after our neighbour. People have got the entitlements too much in mind, without the obligations. There is no such thing as entitlement, unless someone has first met an obligation.«66 Doch neben den Politikmodellen kamen in den 1980er Jahren auch die technischen Konzepte zum Durchbruch, die eine Delegitimation des strukturalistischen Denkstils materiell stützten. Die Negation von Strukturen und die Abkehr vom Denken in Strukturen respektive strukturellen Bindungen erfolgte durch die Digitalisierung der Kommunikation, Information und Produktion. Wo der Mikrochip als neuer Grundstoff der Industrieproduktion die alten, schweren Grundstoffe wie Kohle, Öl, Eisenerz und anderes ablöste, kam auch die »schwere Moderne« an ihr Ende. Der Wandel im industriellen Bereich brachte 1989 die sozialistischen Volkswirtschaften zum Einsturz, weil sie es seit 1973/75 nicht geschaff t hatten, auf den beginnenden Strukturbruch angemessen zu reagieren. Nachdem im Wandel des Industriesystems der ma65. BAUMAN, Flüchtige Moderne, S. 79. 66. Women’s Own Magazine, 31.10.1987. Ich danke Dominik Geppert (Berlin) für
den Hinweis auf diese Quelle. Vgl. auch GEPPERT, Dominik: Maggie Thatchers Roßkur – Ein Rezept für Deutschland?, Berlin 2003; DOERING-MANTEUFFEL/R APHAEL, Nach dem Boom, S. 47-52.
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terielle Sinn des bisherigen festen Rahmens langsam in Vergessenheit geriet, verschwand der politische Sinn mit dem Zerfall des Ostblocks fast über Nacht. Zur selben Zeit und stimuliert durch die politischen Ereignisse seit 1989/90 wurde die Struktur westlicher Industriegesellschaften durch die technische Entwicklung und die alsbald damit verkoppelte neue Wirtschaftsideologie lockerer. Die Rhetorik der neuen Ideologie kreiste um Begriffe wie Freiheit oder Freizügigkeit. Parallel zum Verschwinden des festen Rahmens der politischen Blöcke verstärkte sich im Innern von Gesellschaft und Wirtschaft international die seit den 80er Jahren in Gang befindliche Entriegelung vormals fester Strukturen. Dazu gehörte die Entriegelung des internationalen Finanzsystems. Dazu gehörte ebenso die Entriegelung von Lebensformen und Lebensstilen, die in der Zeit der »schweren Moderne« seit dem Ersten Weltkrieg oder den 30er Jahren geprägt worden waren. Von Mittelengland und Wales über Nordfrankreich, Lothringen, Saarland, Luxemburg, Belgien bis ins Ruhrgebiet verschwand nicht nur die Montanindustrie als das materielle Symbol der »schweren Moderne«, sondern mit ihr auch die Industriekultur des Montanzeitalters.67 Familienzusammenhang, Vereinsleben und kollegiale Bindungen veränderten sich infolge von Arbeitslosigkeit des Familienvaters, neuer Ausbildungschancen der Kinder – sofern sie denn die Chance erhielten, die ihnen in der Hochphase des sozialplanerischen Strukturdenkens in Aussicht gestellt worden war.68 Der Arbeitsplatz des Sohnes oder der Tochter musste nicht mehr statisch gebunden sein an das Industriewerk oder das Kontor, in deren Nähe die Menschen wohnten. Dieses eine Beispiel mag den beschleunigten Prozess von Individualisierung zeigen, der – nachdem die »neuen sozialen Bewegungen« schon längst einen kulturellen Wandel in der Wohlstandsgesellschaft angezeigt hatten – die Menschen in ihre »Freiheit« geradezu hineinstieß.69 Auf die Negation von »Struktur«, die sich ab 1980 abzeichnete, reagierten Intellektuelle mit Kaskaden von Theorien: Risikogesellschaft, reflexive Moderne, flüchtige Moderne. Wichtig sind der eingangs erwähnte Begriff und das Theoriegerüst der »Netzwerkgesellschaft«. Es wurde durch Manuel Castells in der Auseinandersetzung mit der technischen Entwicklung des Internet zu einem soziologischen Modell zusammengefügt.70 Die Gesellschaft wurde als Netzwerk gesehen und nicht mehr als festgefügte Struktur. 67. Zum Verschwinden der Industriekultur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem »Abschied vom Malocher« siehe DOERING-MANTEUFFEL, Anselm: Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55, 2007, S. 559-581. 68. »There is no such thing as entitlement«, würde Thatcher hier kommentiert haben. 69. Vgl. SENNETT, Richard: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin, 2007; DERS., Der flexible Mensch; vgl. auch RUCHT, Dieter: Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich, Frankfurt a.M. 1994; DOERING-MANTEUFFEL/R APHAEL, Nach dem Boom, S. 45-56, 84-89. 70. Vgl. DOERING-MANTEUFFEL/R APHAEL, Nach dem Boom, S. 80-84.
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Die Ursachen waren vielfältig. Im Zuge des wirtschaftlichen Wandels und der politischen Rhetorik von Freiheit und Selbstverantwortung wuchsen die Spielräume für jeden kreativen Menschen. Zugleich wurden die sozialen Grundlagen gesellschaftlicher Solidarität unterspült. Staatliche Sicherungssysteme wurden abgebaut, und die Verantwortung für die Gesellschaftspolitik, die der Staat gerade erst im Zuge von Planung und Modernisierung an sich gezogen hatte, wurde privatisiert. Darin liegt denn auch das politische Problem. Es ging nicht so sehr darum, Leistungspflichten der öffentlichen Hand und Leistungsansprüche der Menschen zu verringern, weil sie nicht mehr finanzierbar waren; diese Notwendigkeit war gesellschaftlich bald unumstritten. Es ging vielmehr um den Widerruf einer Verpflichtung, die sich die Politik selbst auferlegt hatte, und die jetzt, gestützt durch wirtschaftsideologische Meinungstrends, dem Gewinninteresse des Investors geopfert wurde.71 Das politische Problem war folglich nicht zuletzt ein ethisches, denn die Leistungspflicht des Staats aus dem Geist der Sozialplanung und Modernisierung war oftmals in der Politik der 60er Jahre mit dem Gedanken der Sozialbindung des Eigentums verwoben. Diese Sozialbindung wurde nun seitens der Politik widerrufen, und im gleichen Atemzug wurde die materielle Substanz solcher Maßnahmen privatem Gewinnstreben zugänglich gemacht. Die moralische Belastung solcher Politik trieb sozialwissenschaftliche Beobachter auf die Suche nach einem »dritten Weg«.72 Einige Bemerkungen zum Schluss: Für unsere Überlegungen über die Konturen von Ordnung im 20. Jahrhundert scheint mir durchgängig die Frage nach »Fortschritt« und »Zukunft« besonders wichtig zu sein. Vergleichbar der Zeit um 1900 waren die Jahrzehnte von 1990 bis 2008 von einem Geschehen geprägt, das sich immer weiter beschleunigte und viele Menschen dahin brachte, aus dem rasenden Zug der Zeit aussteigen zu wollen. Verweigerung gegenüber dem technischen oder institutionellen Wandel war eine Reaktion, Flucht in übergeschichtliche Sinnwelten eine andere, die – damals wie heute – von der Esoterik bis zum Fundamentalismus reichen. Neu hinzu kommt der Abmarsch in die virtuelle Welt, dessen sozialpsychologische Auswirkungen in der Breite der Gesellschaft noch gar nicht genauer zu erkennen sind. Bei alledem fällt auf, dass in Zeiten des beschleunigten Wandels niemand von »Fortschritt« sprechen will. Der Wandel vollzieht sich vielmehr so rasant, dass die Semantiken des Fortschrittsbegriffs – die klassisch liberale des kontinuierlichen Fortschritts mit humanem Maß und die strukturalistische, wonach geplanter Fortschritt Modernisierung ermögliche – keine Bedeutung mehr haben. Der Fortschritt ist nicht abgeschaff t, sondern wird schlicht nicht mehr beachtet. Kehrt man zur Theoriegeschichte des Liberalismus und Historismus zurück, wird man Anhaltspunkte für die These finden, dass Fortschritt und Entwicklung innerhalb der dritten Zeitschicht des 20. 71. Vgl. DIXON, Keith: Die Evangelisten des Marktes. Die britischen Intellektuellen und der Thatcherismus, Konstanz 2000. 72. Vgl. GIDDENS, Anthony: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a.M. 1999; DERS. (Hg.): The Global Third Way Debate, Cambridge 2001; sowie insgesamt DOERING-MANTEUFFEL/R APHAEL, Nach dem Boom, S. 76-79 und passim.
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Jahrhunderts wiederum zeitweise nicht zusammengesehen wurden. Über den Fortschritt brauchte man offenbar solange nicht nachzudenken, wie die Entwicklung so schnell verlief, dass dahinter keine Zukunft zu erkennen war. Wo immer im hastigen Voranschreiten nicht nach »Fortschritt« gefragt wird, fehlt eine rational begründete Idee von Zukunft. Dann wird die »Ordnung« offen für konkurrierende Sinnwelten, die sich der intellektuellen Debatte entziehen.
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»Harmonie zu schaffen, ist Sinn und Zweck« D er Ver kehr sdiskur s und die r äumliche Ordnun g des S oz ialen 1 Anette Schlimm
I. Die Debatte : Verkehrsteilung Schiene und Straße Im Jahr 1954 erscheint das 16. Heft der »Forschungsergebnisse des verkehrswissenschaftlichen Instituts an der Technischen Hochschule Stuttgart«. Im Vorwort betont Carl Pirath, Professor für Eisenbahn- und Verkehrswesen in Stuttgart, Direktor des verkehrswissenschaftlichen Instituts, Herausgeber der Forschungshefte und Autor dieser Ausgabe, die Relevanz der aktuellen Untersuchung. Unter dem Titel »Die Verkehrsteilung Schiene und Straße in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung« seien Möglichkeiten untersucht worden, eine neue, nichtsdestotrotz »organische« Verkehrsteilung zwischen Nebenbahnen und Straßenverkehrsmitteln herzustellen, um in ländlichen Gebieten die Verkehrsbedienung sicherzustellen. Denn gerade hier, wo ein relativ geringer Verkehrsbedarf herrsche, dürfe der Verkehr sich nicht zurückziehen. Die »ausreichende Verkehrsbedienung« der ländlich geprägten Gebiete sei vielmehr »für den Auf bau einer gesunden Raumordnung eines Landes von entscheidender Bedeutung« und dürfe daher nicht vernachlässigt werden.2 1. Für Kommentare und Kritik danke ich den Kollegen des Oldenburger Projekts »Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne. Nordwesteuropa, 1920er bis 1950er Jahre« und Eva Külkens, vor allem aber Dirk van Laak, der mit seinen sehr hilfreichen, kritischen Hinweisen viel dazu beigetragen hat, meine Perspektive zu überprüfen und die Argumentation zu präzisieren. 2. PIRATH, Carl: Vorwort, in: Ders.: Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, Berlin u.a. 1954 (o.S.).
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Die Untersuchung, die auf dieses Vorwort folgt, ist ausführlich und mit statistischen Daten ebenso gespickt wie mit geometrischen Modellen. Sie zieht verschiedene Regionen der jungen Bundesrepublik zum Vergleich heran und endet schließlich mit der Detailuntersuchung einer nicht-bundeseigenen Nebenbahn, der Härtsfeldbahn zwischen Aalen und Dillingen in Baden-Württemberg.3 Am Beispiel dieser Bahn zeigt Pirath, dass die Nebenbahnen wie kein anderes Verkehrsmittel dazu in der Lage seien, ländliche Gebiete zu erschließen. Der »befruchtend[e] Einfluß der Bahn« könne kaum geleugnet werden; die wirtschaftliche Struktur der Region sei nur mit der Bahn aufrechtzuerhalten; vor allem die »in ihrem Einzugsgebiet wohnenden Menschen« seien in besonderem Maße vom Vorhandensein der Bahn abhängig. 4 Forderungen, den Bahnbetrieb einzustellen, seien haltlos. Sie könnten aus wissenschaftlicher Sicht keineswegs unterstützt werden. Vielmehr müsse zu einer neuen Verkehrsteilung gefunden werden, Straßen- und Bahnverkehr müssten zusammenarbeiten, um die Verkehrsbedienung der ländlichen Gebiete auf Dauer sicherzustellen.5 Die Veröffentlichung dieser Forschungsergebnisse bleibt nicht unbeachtet. Im Jahr 1956 liefern sich Wolfgang Bäseler, Honorarprofessor für Eisenbahnbau an der TH München und selbst langjähriger Direktor einer Nebenbahnlinie, und Piraths Schüler und Nachfolger, Walther Lambert, einen Schlagabtausch über Aussagekraft und methodische Berechtigung der Untersuchung in der Zeitschrift »Internationales Archiv für Verkehrswesen«.6 Schließlich spricht Bäseler Pirath gar die Berechtigung ab, als Vertreter einer professionalisierten Verkehrswissenschaft in der Politikberatung tätig zu werden.7 Pi3. Die Härtsfeldbahn war eine der vielen Nebenbahnen, deren wirtschaftliche Existenz zu Beginn der Bundesrepublik gefährdet war. Nur mit Hilfe des Landes Baden-Württemberg konnte der Betrieb bis 1972 aufrecht erhalten werden; vgl. R ÄNTZSCH, Andreas M.: Härtsfeldbahn. Ein entwicklungsgeschichtlicher Überblick, Aalen 21989, bes. S. 10; SEIDEL, Kurt: Die Härtsfeld-Bahn Aalen – Neresheim – Dillingen. Eine schwäbische Schmalspurbahn und ihre wechselvolle Geschichte von 1901 bis 1972, Mainz 1979. 4. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 45. 5. Ebd., S. 55. 6. BÄSELER, Wolfgang: Leben landwirtschaftliche Gebiete von den Nebenbahnen?, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen 8, 1956, S. 245-250; L AMBERT, Walther: Leben landwirtschaftliche Gebiete von den Nebenbahnen? Erwiderung, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen 8, 1956, S. 407-410; BÄSELER, Wolfgang: Schlußwort, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen 8, 1956, S. 410-414. Das »Internationale Archiv für Verkehrswesen« war die Verbandszeitschrift der »Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft« (DVWG). Die DVWG ist nicht nur ein Verband der akademischen Verkehrswissenschaft, sondern auch und vor allem ein Verein, der der Professionalisierung von Verkehrspraktikern und ihrem Austausch dient. 7. Das Kapitel über die Härtsfeldbahn basierte auf einem (nicht veröffentlichten) Gutachten Piraths für das baden-württembergische Verkehrsministerium. So
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raths Untersuchung, so Bäseler, sei methodisch unsauber, zudem auf alten, längst nicht mehr zeitgemäßen Ansichten und Theorien basiert und damit kaum als Anleitung zum politischen Handeln geeignet. Die Verkehrspolitik dürfe sich keinesfalls »auf so haltlose Grundlagen stützen«, das Gutachten des Stuttgarter Verkehrswissenschaftlers müsse aus dem politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen werden. Diese Auswahl von Texten bietet einen Einstieg in die im vorliegenden Sammelband verhandelte Problematik. Denn hier lässt sich verdeutlichen, wie »Verkehr« problematisiert, als ordnungsbedürftig wahrgenommen, mit der »Ordnung der Gesellschaft« verknüpft und als Ort politischer Intervention markiert wurde. An dieser Debatte lassen sich gleichsam en miniature 8 grundlegende Koordinaten von Ordnungsdenken und social engineering im Verkehrsraum aufzeigen und konkretisieren:9 »Verkehr« als Verdichtung von Ordnungsdenken und social engineering zeigt sich in dem hier gewählten Beispiel eng verknüpft mit der Auseinandersetzung um Glaubwürdigkeiten und den Status des Experten, der zu- und aberkannt werden konnte (Kap. II.). Zudem wird rekonstruiert, wie die Problematisierung von Verkehr einen neuen Gegenstand, eben den »Verkehr«, entstehen ließ, der erst die Möglichkeit der Wissenserzeugung wie der Intervention bot (Kap. III.). Schließlich geht es darum, wie Verkehr im Zusammenhang mit Region, Volkswirtschaft und Nationalstaat in den Blick genommen, wie Verkehr als räumliche Ordnung entworfen wurde (Kap. IV.).
II. Kr istallisationspunkte der »Verkehrsw issenschaf t« Zunächst einmal ist es wichtig, die Voraussetzungen und Ausgangspunkte für die Debatte um das 1954er Heft der »Forschungsergebnisse« zu klären. Warum wurden die Nebenbahnen überhaupt zum Gegenstand von Auseinandersetzungen? Die Anhaltspunkte, die der Pirath’sche Text selbst bietet, sind schnell zusammengefasst. Die Nebenbahnen erwirtschafteten keinen Profit mehr, im Gegenteil: Sie fuhren Verluste ein, die zum Teil durch öffentliche Mittel ausgeglichen werden mussten. Auch aus diesem Grund wurde der Ruf nach der Schließung der Nebenlinien und der Verlagerung des Verkehrs auf die Straße laut. Allerdings wurde der Straßenverkehr, dem diese Maßnahme zugute kommen sollte, nicht unabhängig von den wirtschaftlichen Verlusten lange dieses Gutachten nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werde, so Bäseler, sei eine offene Kritik nicht möglich (BÄSELER, Leben Landwirtschaftliche Gebiete von den Nebenbahnen?, S. 250). 8. Bei der Rekonstruktion treten notwendigerweise die transnationalen und zeitübergreifenden Aspekte der Formation etwas in den Hintergrund. Sie werden punktuell in die Argumentation einbezogen und später in meiner Dissertation systematisch untersucht. 9. Zu Kontext und Begriffsbestimmung, auch dem etwas sperrigen Gebrauch des Singulars, vgl. die Einleitung von Thomas Etzemüller in diesem Band.
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gesehen. Sie seien vielmehr die Folge des sich ausweitenden Straßenverkehrs. Der »Einbruch des Kraftwagens in die Verkehrsbedienung der Eisenbahn«10 habe nicht die Verkehrsverhältnisse verbessert, sondern in erster Linie die ›gewachsenen Verhältnisse‹11 durcheinandergebracht. Es sei das größte Verkehrsproblem, »diese Störung zu beseitigen und einen neuen Gleichgewichtszustand herzustellen.«12 Bei dieser Beschreibung der aktuellen Verkehrslage handelt es sich um einen Topos, der zwischen den 1920er und den 60er Jahren sehr einflussreich war. Neue Verkehrsmittel seien auf der Bildfläche erschienen und begännen nun, den etablierten Verkehrsmittel, insbesondere der Eisenbahn, Konkurrenz zu machen. Bereits das erste Heft der »Forschungsergebnisse« nahm diese Gegenwartsbeschreibung als Ausgangspunkt: »Während noch vor wenigen Jahren von einer statischen Lage gesprochen werden konnte, die charakterisiert wurde, [sic!] durch die festgefügten und fast standardisierten Verkehrsleistungen der Eisenbahnen, Wasserstraßen und Nachrichtenmittel, haben sich vor allem im letzten Jahrzehnt bedeutende Fortschritte durch die Schaff ung neuer Verkehrsmittel eingestellt, die eine Dynamik in das Verkehrswesen gebracht haben, wie sie bisher seit dem Aufkommen und der Entwicklung der Eisenbahnen nicht mehr zu verzeichnen war.«13 Die Vorstellung, dass das Verkehrswesen durch technische Entwicklungen dynamisiert wird, wird stets gekoppelt mit der Wahrnehmung von Unordnung und Kontrollverlust.14 Die Bewegung, die ins Verkehrswesen kommt, wird zum Ordnungsimperativ. Statt der unkontrollierten Dynamik fordern 10. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 47. 11. Vgl. L AMBERT, Leben Landwirtschaftliche Gebiete von den Nebenbahnen?, S. 410. 12. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 2. Die Debatte über die Nebenbahnen, die ebenso wie die Bundesbahn auch zunehmend in die roten Zahlen gerieten, ist nur ein Teil der verkehrspolitischen Diskussionen, die die Mitte der 1950er Jahre prägte, wenn auch mit relativ geringem öffentlichem Interesse; vgl. bes. KLENKE, Dietmar: Bundesdeutsche Verkehrspolitik und Motorisierung. Konfliktträchtige Weichenstellungen in den Jahren des Wiederaufstiegs, Stuttgart 1993, bes. S. 163-318; DERS.: »Freier Stau für freie Bürger«. Die Geschichte der bundesdeutschen Verkehrspolitik 1949-1994, Darmstadt 1995, S. 18-35. Als Detailstudie über Bayern, gleichwohl aber mit größerer Bedeutung für die Verkehrsgeschichte: GALL, Alexander: »Gute Straßen bis ins kleinste Dorf!«. Verkehrspolitik in Bayern zwischen Wiederaufbau und Ölkrise, Frankfurt a.M., New York 2005. 13. PIRATH, Carl: Die Luftfahrt und die Verkehrsprobleme der Gegenwart, in: Ders. (Hg.): Forschungsergebnisse des Verkehrswissenschaftlichen Instituts für Luftfahrt an der Technischen Hochschule Stuttgart 1, Stuttgart 1929, S. 5-19, hier S. 5 (Hervorh. im Orig.). 14. Vgl. PIRATH, Carl: Die Spezialisierung der Verkehrsarbeit und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, in: Verkehrstechnische Woche. Zeitschrift für das gesamte Verkehrswesen 21, 1927, S. 451-453.
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die Verkehrsfachleute eine Entscheidung zur Ordnung – die Verkehrskrise wird also als »Krisis«,15 als Wendepunkt und Ausgangspunkt für Steuerungsmaßnahmen verstanden. Diese Krisenwahrnehmung steht als diskursive Regelmäßigkeit am Ausgangspunkt der Verkehrsdebatten. Dabei ist zu beobachten, wie sie immer wieder, bis in die 1960er Jahre hinein, aktualisiert und auf die eigene, unmittelbare Gegenwart bezogen wird.16 Dabei erhält sie ihre besondere Brisanz, indem die wachsende Zahl von (Spezial-)Verkehrsmitteln auf der einen Seite mit einer wirtschaftlichen Mangelsituation auf der anderen Seite kontrastiert wird. Die neuen Verkehrsmittel, insbesondere die Straßenverkehrsmittel, kosteten Geld, das nicht vorhanden sei, klagten die Beobachter, und so gefährde die Verkehrslage die wirtschaftliche (und gesellschaftliche) Stabilität. Während insbesondere in den 1920er und Jahren die gesamte Volkswirtschaft als bedürftig und schonenswert beschrieben und entsprechend von den Verkehrsmitteln gefordert wurde, möglichst billig zu arbeiten, wurden nach Gründung der Bundesrepublik vornehmlich einzelne Regionen als besonders notleidend dargestellt. Dafür ist die hier beschriebene Debatte ein gutes Beispiel. Die Beteiligten betonten, es gehe ihnen darum, wie in den »Notstands- und Randgebieten« eine möglichst gute Verkehrsbedienung sichergestellt werden könne.17 Die Verkehrs-Unordnung wird zum Problem gemacht, indem sie mit der Gesellschaft, ihrer Not und Bedrohung in Verbindung gebracht wird. Dadurch erscheint der Verkehr nicht nur problematisch, sondern gefährdend – die Verkehrs-Unordnung muss geordnet werden. Wer aber steht hinter dieser Krisenbeobachtung? Wer formuliert sie und bringt sich selbst als Problemlöser ins Gespräch? Eine klar umgrenzbare Gruppe ist nicht zu identifizieren. Auch dies lässt sich an der Debatte um die »Verkehrsteilung Schiene und Straße in landwirtschaftlichen Gebieten« verdeutlichen. Auf den ersten Blick scheinen die Rollen klar verteilt zu sein. Carl Pirath und Walther Lambert waren als Inhaber des renommierten Lehrstuhls 15. Ausführlicher: SCHLIMM, Anette: Handeln im Angesicht der Krise. Zukunftswissen und Expertise deutscher Verkehrswissenschaftler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Hartmann, Heinrich/Vogel, Jakob (Hg.): Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt a.M. 2009 (i.E.). 16. Vgl. für Großbritannien: Royal Commission on Transport: The Co-ordination and Development of Transport: Final Report, London 1931; für die 1960er Jahre: LEHNER, Friedrich: Geordneter Verkehr – Voraussetzung für ein gedeihliches Leben in den großstädtischen Agglomerationen, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen 14, 1962, S. 265-273. 17. BÄSELER, Leben landwirtschaftliche Gebiete von den Nebenbahnen?, S. 250. Bei Pirath heißt es, das Ziel bestehe darin, »die wirtschaftsschwachen Gebiete regional und kostenmäßig so günstig wie möglich zu bedienen« (PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 56 [Hervorh. im Orig.]). Ab den ausgehenden 50er Jahren wird die »Verkehrskrise« zunehmend als »Verkehrsnot« nur noch auf den städtischen Verkehr bezogen, als Straßenraum-Verteilungskrise; vgl. LEIBBRAND, Kurt: Das Verkehrswesen als Glied der Landes-, Regional- und Stadtplanung, Köln, Berlin 1957.
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für Eisenbahn- und Verkehrswesen an der TH Stuttgart, als Direktoren des dortigen verkehrswissenschaftlichen Instituts, nicht zuletzt auch als Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesverkehrsministerium eindeutig wissenschaftliche Experten. Sie erscheinen als Teil der Akteurskonstellation, die in den Blick gerät, wenn es um die gegenseitige Überlagerung von Wissenschaft und Politik oder die sich ausweitenden Interventionsmöglichkeiten von ›Sozialexperten‹ geht.18 Genau wie diese bemühten sich Pirath und Lambert um die Verwissenschaftlichung des Verkehrs, um die Gründung, die Stabilisierung und den Ausbau der »Verkehrswissenschaft«. Sie entwickelten Methoden, um Möglichkeiten und Probleme des Verkehrs messen zu können und benutzten ihre Kenntnisse und ihre spezifische Sichtweise, um die Politik – sei es auf kommunaler, auf föderaler oder auf Bundesebene – zu beraten, wodurch sie zu einer vernünftigen, objektiven, verwissenschaftlichten Politik beitragen wollten. Bäseler hingegen entstammte einer anderen Gruppe, die auf den ersten Blick diesen akademischen Experten gegenüberstand und mit anderen Plausibilisierungsmechanismen die eigene Deutungsmacht über den Verkehr für sich beanspruchte: der Gruppe der Praktiker. Als Bundesbahndirektor und langjähriger Leiter einer Nebenbahn, als Befürworter von Straßen- und kombiniertem Verkehr scheint er eindeutig mit viel praktischer Erfahrung ausgestattet, ohne dabei jedoch die objektive, übergreifende Sichtweise der Verkehrswissenschaftler übernehmen zu können. Ganz so einfach wie auf den ersten Blick ist allerdings die Aushandlung der Sprecherpositionen nicht gelagert. Zum einen ist es keineswegs so, dass Pirath und Lambert lediglich Theoretiker gewesen wären – im Gegenteil. Beide hatten jahrelang in der Eisenbahnverwaltung gearbeitet.19 Beide betonten immer wieder ihre praktische Erfahrung, und Pirath machte sie sogar zur Voraussetzung der theoretischen Erkenntnis in der Verkehrswissenschaft: »Es gehört ein eigenes Erleben in den Verkehrsbetrieben und ihren Beziehungen zur Allgemeinwirtschaft dazu, um die vielfach verschlungenen Fäden zwischen Wirtschaft und Verkehr zu erkennen und ihren Sinn zu deuten und zu erklären.«20 Auch Bäseler war nicht einfach nur Praktiker. Neben seiner Tätigkeit in Eisenbahnverwaltungen war er Honorarprofessor an der Technischen Hochschule in München im Bereich der Eisenbahntechnik und Autor für eine der führenden Fachzeitschriften der Verkehrswissenschaft, eben für 18. Vgl. dazu ausführlicher und mit weiterer Literatur die Einleitung von Thomas Etzemüller in diesem Band. 19. Pirath war bis zu seiner Berufung 1926 Regierungsbauraut bei der Deutschen Reichsbahn; Lambert leitete jahrelang die Reichsbahndirektion in Aachen; vgl. HASCHER, Michael/HEIMERL, Gerhard: Von der wissenschaftlichen Durchleuchtung des Eisenbahnbetriebs zur Institutionalisierung der Verkehrswissenschaft – Carl Pirath, in: Becker, Norbert/Quarthal, Franz (Hg.): Die Universität Stuttgart nach 1945. Geschichte, Entwicklung, Persönlichkeiten, Ostfildern 2004, S. 164-168; HASCHER, Michael/HEIMERL, Gerhard: Eisenbahner, Rektor, Berater der Verkehrspolitik – Walther Lambert, in: Becker/Quarthal, Die Universität Stuttgart nach 1945, S. 169-172. 20. PIRATH, Carl: Die Grundlagen der Verkehrswirtschaft, Berlin 1934, S. 234 (Hervorh. im Orig.).
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das »Internationale Archiv für Verkehrswesen«, in dem sich auch die hier analysierte Debatte abspielte. Die Versuche, den Verkehr zu verwissenschaftlichen, müssen in engem Zusammenhang mit der Professionalisierung von Verkehrspraktikern gesehen werden. Die beiden Prozesse begannen nicht nur etwa zum gleichen Zeitpunkt, rund um den Ersten Weltkrieg; sie können zudem nicht klar voneinander getrennt werden. Während die Praktiker sich um Verwissenschaftlichung bemühten, betonte die akademische Verkehrswissenschaft stets die Notwendigkeit, mit der Praxis zu kooperieren und für die Praxis tätig zu sein. Alle am Verkehr Beteiligten, so Pirath, müssten vereinigt sein »in einem Dom der Gemeinschaftsarbeit, der alle für den Verkehr tätigen Menschen in dem einen Ziel zusammenführt, der Allgemeinheit in Staat, Wirtschaft und Kultur die Erleichterungen zu geben, die für ein harmonisches Zusammenleben notwendig sind.«21 Auch die organisatorischen Einheiten überschnitten sich zum Teil: Die Institute an Universitäten hatten Fördervereine und Kuratorien, die mit Vertretern der Praxis besetzt waren; die Lehrstuhlinhaber waren größtenteils Mitglieder in den gelehrten Gesellschaften der Praktiker, die wiederum als Lehrbeauftragte oder Honorarprofessoren an den Hochschulen tätig waren.22 Trotz dieser vielfachen Überschneidungen verliefen diese Prozesse keineswegs konfliktfrei. Insbesondere die Frage, wer dazu berufen sei, in konkreten Fällen über Gutachten und Beratungen auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen, führte immer wieder zu Auseinandersetzungen. Dies lässt sich beispielsweise an den verbandsinternen Debatten innerhalb der »Deutschen Gesellschaft für Verkehrswissenschaft« (DVWG) ablesen, die Ende der 1950er Jahre über deren Aufgaben und Zuständigkeiten geführt wurden. Die Vertreter der akademischen Verkehrswissenschaft, vor allem vertreten durch Anton Felix Napp-Zinn, setzten sich dafür ein, dass die DVWG nicht selbst Forschungsaufträge übernehmen oder verteilen dürfe und sich auch in Sachen Politikberatung in Zurückhaltung üben solle.23 Die universitären Verkehrswissenschaftler bemühten sich, diese Expertenrollen für sich zu reklamieren, die Praktiker versuchten das gleiche. Die Grabenkämpfe um die Frage, wer objektives Wissen bereitstellen könne, werden auch in der Verkehrsteilungs-Debatte sichtbar. Denn die Kritik Bäselers an Piraths Untersuchung ist in erster Linie eine methodische: Pirath habe keine Verkehrszählung durchgeführt, so dass er gar keine Daten über das wirkliche Verkehrsaufkommen auf der Straße zur Verfügung gehabt habe. Demgegen21. PIRATH, Carl: Die menschlichen und wirtschaftlichen Probleme im Verkehrswesen Deutschlands, 1947 (Universitätsarchiv Stuttgart, Best. 89/5b, S. 8 [Hervorh. im Orig.]). 22. Pirath war Vorsitzender der DVWG, während beispielsweise am Fortbildungskurs »Spedition« des Kölner Instituts Syndikus Dr. Heider, Obersteuerinspektor Breuer und diverse Firmenvertreter beteiligt waren. 23. Vgl. HEIMERL, Gerhard/HASCHER, Michael: Die DVWG vom Wiederaufbau bis zur Wiedervereinigung (1949-1989), in: 100 Jahre DVWG 1908-2008, o.O. 2008, S. 2429, bes. S. 25f.
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über antwortet wiederum Lambert mit Kritik an Bäselers methodischem Instrumentarium: Die Zählung, die Bäseler durchgeführt habe, sei nicht valide und habe zu viele Unsicherheiten produziert.24 Eine Trennung zwischen Praktikern und Theoretikern, zwischen Experten und Interessenten, zwischen verwissenschaftlichten und erfahrungsgeleiteten Zugängen zum sozialen Problemfeld Verkehr scheint also kaum über objektive Faktoren möglich zu sein – auch über dieses kleine Beispiel aus den 1950er Jahren hinaus. Vielmehr wurden Plausibilitätsvorsprünge und Wahrheitseffekte immer wieder neu ausgehandelt, so dass eine Bestimmung, wer Verkehrsexperte war und wer nicht, kaum außerdiskursiv geleistet werden kann. Bliebe man auf der Ebene der Institutionalisierung und Professionalisierung, müsste für den Verkehrsbereich vielleicht sogar von einem Scheitern gesprochen werden. Für die Analyse von Ordnungsdenken und social engineering im Verkehrsraum ergibt sich hingegen, dass auf den Grenzbereich zwischen Wissenschaftlern und Praktikern stärkeres Augenmerk gerichtet werden muss. Hier entwickelten sich spezifische Perspektiven, wissenschaftliche Zugriffe und vorgeschlagene Interventionen, die wiederum die Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Praxis verschwimmen ließen.
III. Verkehr insgesamt Einer der Kritikpunkte, die Wolfgang Bäseler an der Pirath’schen Studie äußerte, kam einem diskursiven Vernichtungsschlag gleich. Bäseler warf Pirath vor, nur aus der Position der Bahn zu argumentieren, ohne Zahlen über den Straßenverkehr auch nur zu nennen: »Eine seit Generationen genährte, in Deutschland besonders verbreitete Lehrmeinung sieht alles von der Eisenbahn aus«.25 Die Lage des Straßenverkehrs müsse jedoch untersucht werden, »[d]enn jedes allgemeine Urteil verlangt Einschätzung von Maß und Größe der Teile.«26 Die Erforschung des Straßenverkehrs mittels geeigneter Untersuchungsmethoden (in diesem Falle über eine Verkehrszählung) verändere den Blick auf die Gesamtsituation so sehr, »dass die Angaben der Schrift zwar nicht jeden Wert verlieren, aber zur Beurteilung des Ganzen völlig ungeeignet erscheinen.«27 Diesen Vorwurf kann Walther Lambert nicht auf seinem 24. Die verkehrswissenschaftlichen Methoden brauchten lange, um stabilisiert zu werden. So veröffentlichte beispielsweise Walter Linden von der Industrie- und Handelskammer in Essen in der Zeitschrift für Verkehrswissenschaft die Ergebnisse seiner eigenen »Verkehrszählung«: Drei Jahre lang sei er bei Wind und Wetter zu verschiedenen Tageszeiten mit seinem Mercedes-Benz auf der Autobahn unterwegs gewesen und habe vom Steuer aus die anderen Fahrzeuge gezählt. Offenbar war dies eine Methode, die in den 1950er Jahren keineswegs den Vorwurf des Dilettantismus auf sich zog; vgl. L INDEN, Walter: Geschwindigkeit von Personenkraftwagen auf der Autobahn, in: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 29, 1958, S. 44-52. 25. BÄSELER, Leben landwirtschaftliche Gebiete von den Nebenbahnen?, S. 249. 26. Ebd., S. 248 (Hervorh. von mir). 27. Ebd. (Hervorh. von mir).
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Vorgänger sitzen lassen. Es sei »schlechthin unverständlich«, wenn nicht gar »absurd«, wie Bäseler zu dieser Auffassung kommen könne. Piraths Schrift könne weder als einseitig noch als autofeindlich bezeichnet werden. Schließlich laute bereits der Titel »Die Verkehrsteilung Schiene-Straße…«, und genau darum gehe es in der Schrift: um die Verbesserung der Verkehrsbedienung durch Nebenbahnen und Kraftwagen, ohne beider Wirtschaftlichkeit zu gefährden.28 Dieser Schlagabtausch ist recht instruktiv für die Strukturierung des Verkehrsdiskurses. Denn der Vorwurf, nicht das Ganze, sondern nur Teile in den Blick zu nehmen, kommt dem Versuch gleich, den Gegner ins »Unwahre« zu setzen.29 Nur wer den Verkehr insgesamt, übergreifend und ganzheitlich, in den Blick zu nehmen gewillt und befähigt ist, kann innerhalb des Verkehrsdiskurses das Wort erheben. Denn es handelt sich beim Thema »Verkehr« eben nicht um Eisenbahnen, nicht um Schiffsbau oder Straßenverkehrszeichen. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Verkehrs, so betonte Ernst Esch 1921 im Zuge der Gründung des »Instituts für Verkehrswissenschaft« in Köln, dürften nicht isoliert betrachtet werden, »sondern der Verkehr ist in allen seinen Erscheinungsformen als zusammenhängendes Ganzes zu betrachten«.30 Erst durch diese Forderung entstand, was in der Folgezeit »Verkehr« genannt wurde. Diese begriffliche Neufassung31 lässt sich auch für Großbritannien nachweisen, auch hier galt es, analytische Grundlagenarbeit zu leisten: »Traffic is the Science dealing with the utilisation of means for purposive change in location of material and immaterial things. Transport is the Art or process for achieving this result.«32 28. L AMBERT, Leben landwirtschaftliche Gebiete von den Nebenbahnen?, S. 409 (Hervorh. im Orig.). 29. FOUCAULT, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1991, bes. S. 24f. 30. E SCH, Ernst: Das Institut für Verkehrslehre Köln, in: Der Verkehr, Nr. 1, 6.10.1921, S. 1f., hier S. 1 (Hervorh. von mir). Vgl. auch HENNIG, Richard/SÜSSEROTT, Wilh[elm]: Zur Einführung, in: Weltverkehr und Weltwirtschaft 1, 1911, S. 1f., hier S. 1 : »Unterliegen sie [die verschiedenen Verkehrsmittel] doch sämtlich den gleichen wirtschaftlichen Gesetzen und Axiomen, und das volle Verständnis ihrer kulturellen und nationalökonomischen Bedeutung ist daher kaum möglich, solange sie sich nahezu hermetisch gegeneinander abschließen!« 31. Der Begriff »Verkehr« mag vorher existiert haben – als Fachbezeichnung oder auch als politischer Bereich existierte er aber nicht. So wurden sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien erst nach dem Ersten Weltkrieg Verkehrsministerien eingerichtet; die Gründungen der wissenschaftlichen Einrichtungen datieren ebenfalls schwerpunktmäßig auf die Zeit nach dem Krieg. 32. GORDON, H.H.: Traffic as a Science – A General Survey, in: Journal of the Institute of Transport 2, 1920, S. 19-28, hier S. 20. Ähnlich funktional und abstrakt formulierte es auch NAPP-Z INN, Anton Felix: Grundbegriffe des Verkehrs, in: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 18, 1943, S. 201-233, hier S. 204: »Verkehr (im verkehrswissenschaftlichen Sinn) ist die räumliche Übertragung von Personen, Gütern und Nachrichten.«
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Der »Verkehr« wurde zum abstrakten Ding. Die laienhafte Anschauung, die alltägliche Definition von Verkehr über Sichtbarkeit, reichte nicht mehr aus, um den wissenschaftlichen Gegenstand »Verkehr« zu fassen. Wollte man Verkehrswissenschaft betreiben, musste man sich vom Alltagsbegriff absetzen: »Da der Verkehr in seiner wahren Gestalt den meisten Laien weniger bekannt ist, als sie im allgemeinen selber glauben, erscheint es zweckmäßig, zunächst eine Reihe von Tatsachen kurz zu skizzieren, damit der Leser von Anfang an die richtige Grundanschauung erhält und nicht in den vielen, leider so weit verbreiteten Irrtümern befangen bleibt.«33 So wurde der Verkehr zu einem neuen Gegenstand, um den herum sich die Verkehrsdebatten organisierten.34 Erst dadurch konnte sich eine Gruppe von Fachleuten – bei allen inneren Differenzen und Heterogenitäten – in Abgrenzung von den »Laien« und ihrem »Alltagsverständnis« etablieren und die Deutungsmacht über den neuen Gegenstand Verkehr für sich reklamieren. Es bedurfte der Fähigkeit zum Überblick, um sich im »großen, weitverzweigten, aber in seinen einzelnen Gängen und Wirkungen ständig sich kreuzenden und wieder zusammenfindenden Verkehrswese[n]«35 zurechtzufinden. Eng damit verbunden war ein objektivierender Effekt. Die Forderung, der Verkehr müsse als übergreifendes Ganzes begriffen werden, diskreditierte gleichzeitig partikulare Sichtweisen. Wer für ein Verkehrsmittel Partei ergriff, hatte offenbar keinen Überblick über den Verkehr insgesamt. Genau das warf Bäseler auch Pirath vor, und damit großen Teilen der deutschen Verkehrswissenschaft.36 Doch auch Pirath hatte Partikularinteressen ausgemacht, die er seinerseits angriff und denen er die Diskursmächtigkeit abzusprechen bemüht war. »[I]n Straßenverkehrskreisen«, so hieß es, werde »vielfach verlangt«, die Nebenbahnen aufzugeben und den Verkehr auf die Straße überzuleiten.37
33. BLUM, Otto: Die Entwicklung des Verkehrs, Bd. 1. Die Vergangenheit und ihre Lehren, Berlin 1941, S. 1 (Hervorh. von mir). 34. Der »Verkehr« kann so im Rheinberger’schen Sinn als »epistemisches Ding« analysiert werden; vgl. RHEINBERGER, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001. 35. E SCH, Das Institut für Verkehrslehre Köln, S. 1. 36. »Die Kritik trifft nicht eine Person, sondern eine in Deutschland weitverbreitete Lehrmeinung« (BÄSELER, Schlußwort, S. 414). Der Rezensent »and.« in der Zeitschrift »Verkehr und Technik« war gegenteiliger Ansicht und lobte explizit die Objektivität und Sachlichkeit der Untersuchung Piraths: »So ist diese Arbeit von vornherein frei davon, im Interesse irgendeiner bestimmten Verkehrsträgergruppe auf die Gestaltung der Verkehrsprobleme Einfluß nehmen zu wollen, wie sie überhaupt von der ersten bis zur letzten Zeile volle Objektivität beachtet und ihre Grundlage allein in intensiver und präziser Forschungsarbeit hat« (Der Verkehrswert der Nebenbahnen, in: Verkehr und Technik 7, 1954, S. 219-221, hier S. 219 [Hervorh. im Orig.]). 37. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 39.
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Dies könne jedoch aus volkswirtschaftlicher38 Perspektive keinesfalls unterstützt werden. Alle Verkehrsfachleute wandten sich gegen solche »Interessenten«-Blickweisen. Stets ging es darum, gegenüber partikularen Interessen einen objektiven Standpunkt mit Überblick über das Ganze einzunehmen. Diese Überparteilichkeit, die sich aus der übergreifenden Behandlung des Verkehrs ergab, wurde vor allem von den Verkehrsperiodika immer wieder betont: »We approach the subject from no sectional point of view, and ever endeavour to maintain the balance between all of the varied interests, quite irrespective of personalities. To us, efficient transportation is the lifeblood of the nation«.39 Hier wird bereits eine nächste Implikation der übergreifenden Beobachtung des Verkehrs angedeutet. Wenn effizienter Verkehr »the lifeblood of the nation« ist, dann muss es eine einheitliche politische Behandlung des Verkehrs geben. 40 In Großbritannien konnte gar die Einführung eines Verkehrsministeriums mit dieser Sichtweise untermauert werden: Der Begriff »transportation« sei neu und müsse als Zeichen eines neuen Bewusstseins und eines neuen Bedürfnisses nach einer umfassenden Verkehrspolitik gewertet werden. 41 Die wichtige Funktion, die dem Verkehr für die staatliche Stabilität und das Wohlergehen des politischen Gemeinwesens zugesprochen wurde, implizierte die umfassende Behandlung des Verkehrs von Seiten der Politik. »[E]in einheitlicher Wille«, so betont Wilhelm Kleinmann 1937, müsse »das Ganze leiten«, müsse »die verschiedenen Verkehrsmittel nach der
38. Nicht etwa aus betriebswirtschaftlicher! Auch hier findet sich die Gegenüberstellung von Makro- und Mikroperspektive. Wer volkswirtschaftlich argumentiert, hat mehr Überblick und kann entsprechend eher im Interesse des Ganzen, des Übergeordneten, für das Allgemeinwohl sprechen. Beinahe synonym zur Allgemeinwohlorientierung wurde die nationale Perspektive ausdrücklich als einzig rationale Art bezeichnet, den Verkehr zu erforschen; vgl. Transport as a Science. The Need for Specialised Study, in: The Railway Gazette 31, 1919, S. 86f. 39. Retrospect, in: Modern Transport 3, 1920, H. 53, S. 1. Ähnlich: HENNIG/SÜSSEROTT, Zur Einführung. Während »Modern Transport« den übergreifenden Charakter der Zeitschrift mit einem Logo ins Bild setzte, das verschiedene Verkehrsmittel in ihrem Zusammenspiel zeigte, bemühte sich das »Internationale Archiv für Verkehrswesen« um die möglichst lückenlose Aufzählung: Bis Anfang der 1960er Jahre lautete der Untertitel der Zeitschrift »Eisenbahn, Kraftverkehr, Schiffahrt, Luftverkehr, Draht und Funk, Fremdenverkehr«. 40. Andererseits kann auch die politische Notwendigkeit des Verkehrs als Argument für eine einheitliche wissenschaftliche Behandlung verwendet werden; vgl. E SCH, Ernst: Verkehrswissenschaft als besonderer Zweig der Wirtschaftswissenschaften, in: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 2, 1924, H. 3/4, S. 3-20, bes. S. 13. 41. So wird zumindest der erste Verkehrsminister Großbritanniens, Sir Eric Geddes, zitiert: Ministry of Ways and Communications Bill. Second Reading Debate in House of Commons. The Orders in Council Clause Withdrawn, in: The Railway Gazette 30, 1919, S. 537-545, hier S. 537.
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Eigenart ihrer Leistungen und allein nach den Gesichtspunkten der Gemeinwirtschaft einsetzen«. 42 Diese Zusammenarbeit der Verkehrsmittel, die nur möglich erschien, wenn der Verkehr als Ganzes, die Verkehrsmittel als seine Teile erkannt würden, wurde auch aus anderen Gründen gefordert und zum Ziel der Verkehrswissenschaft wie der Verkehrspolitik gemacht. Die Kooperation im Verkehr werde nicht nur für die Gesellschaft und Wirtschaft positive Auswirkungen haben, sondern auch für die Verkehrsunternehmen selbst: »No branch of traffic is self-contained; all are interdependent. The greater the prosperity of the docks, the greater the traffic on the railways, the greater the necessity for detailed distribution by the road. […] Our own primary duty as traffic men should be to utilise the particular agency, with which we are concerned, with the utmost efficiency for the purpose for which it is efficient, and then coordinate our efforts and co-operate with other transport agencies to realise not merely individual but collective maximum efficiency for the industry as a whole.« 43 Die Effizienz jedes einzelnen Verkehrsmittels zeige sich dann, wenn die Koordinierung der Verkehrsmittel eine Kooperation zwischen ihnen ermögliche – dann werde der Verkehr insgesamt gut funktionieren, und für jedes Verkehrsmittel bleibe ausreichend Spielraum, um wirtschaftlich zu arbeiten. Mit Hilfe verschiedener verkehrswissenschaftlicher Methoden wie der Selbstkostenrechnung oder der mathematischen Modellierung verschiedener Wegemodelle sollten Lücken im Netz der derzeitigen Verkehrsbedienung aufgezeigt werden, um neue Betätigungsfelder für alle Verkehrsmittel zu erschließen. 44 Diese unterschiedlichen Konnotationen des ganzheitlichen Verkehrsverständnisses, also die Betonung des abstrakten, neuen Gegenstandes, der Überparteilichkeit, der politischen wie der wirtschaftlichen Notwendigkeit, bildeten in unterschiedlichen Gewichtungen den Hintergrund für die Debatten rund um Verkehrseinheit und Verkehrsteilung, um co-operation und co-ordination45 in Deutschland wie Großbritannien gleichermaßen über den langen Zeitraum zwischen den 1920er und späten 1950er Jahren. Vor allem aber bildete dieses übergreifende Verständnis von Verkehr die Voraussetzung dafür, diesen als Interventionsort zu markieren, den es im Inneren zu ordnen galt, um nach außen die Ordnung der Gesellschaft zu stabilisieren – was es im Folgenden auszuführen gilt.
42. KLEINMANN, [Wilhelm]: Aufgabe und Ziel der deutschen Verkehrspolitik heute und in der Zukunft, in: Verkehrstechnische Woche 31, 1937, S. 345-350, hier S. 345. Ähnlich argumentierend BRANDT, Leo: Verkehrspolitische Grundsätze im Ausgleich von Schiene und Straße, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen 3, 1951, S. 385-387. 43. GORDON, Traffic as a Science, S. 27. 44. Vgl. beispielsweise KREBS, Theodor: Neue Wege der deutschen Verkehrswirtschaft (I. Teil), in: Die Reichsautobahn 9, 1933, S. 18f. 45. Diese Begriffe stehen für bestimmte Debatten und müssen deutlich differenziert werden – dies wird im Rahmen meiner Dissertation geschehen.
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IV. Räumliche Ordnungen Unstimmigkeiten zwischen Bäseler und Pirath bestanden auch in der Frage, welcher Bezugsrahmen für die Betrachtung der Nebenbahnen adäquat sei. Das heißt: Die Nebenbahnen sind ein Teil eines Ganzen, aber was ist das Ganze? Pirath ordnete die Nebenbahn dem nationalen Bahnnetz zu: »Die Nebenbahnen haben […] eine große Fernwirkung, die die Abhängigkeit der von ihnen bedienten Landschaft von der übrigen Volkswirtschaft dokumentiert und andererseits zeigt, daß die Nebenbahnen in erster Linie als Glied des gesamten Verkehrssystems der Eisenbahnen, dagegen nicht als Einzelerscheinung der Landschaft anzusehen sind.« 46 Bäseler hingegen führte einen anderen Raumbezug ins Feld: »Die Nebenbahn gehört eben nicht zum großen Bahnnetz, sondern zur Landschaft; nur die Monopolzeit der Schiene konnte die Vorstellung erzeugen, die Nebenbahn sei ein verlängerter Arm des großen Schienennetzes. Sie gehört in die Nähe der Straße«. 47 Dies sind nicht nur graduelle, sondern entscheidende Unterschiede für die Verbindung der Nebenbahnen mit sozialer Ordnung in diesem konkreten Fall. Im Kontext von Ordnungsdenken und social engineering wird »Verkehr« immer als räumliche Erscheinung verhandelt und kann nur innerhalb einer räumlichen Ordnung einen Stellenwert erhalten. Die unterschiedlichen Bezugsräume, die Bäseler und Pirath in den Texten über die Nebenbahnen als dominante betonten, sind allerdings keine klaren Alternativen. Beide Bezugsräume, ob Nation oder Region, sind weit verbreitete und häufig kombinierte Deutungsmuster zur Kontextualisierung von Verkehrserscheinungen. Wird der Verkehrsraum der Nation als dominanter Bezugsrahmen verwendet, impliziert das eine Unterscheidung zwischen verkehrsstarken und verkehrsschwachen Regionen. Diese Leitunterscheidung ist bei Pirath in der vorliegenden Untersuchung vorherrschend; das ist die Gegenüberstellung, die nicht verschärft, sondern vermittelt werden soll. Während die »industriellen Gebiete« eine »besondere Anziehungskraft« auf den Verkehr ausübten, seien »die landwirtschaftlichen Gebiete mit ihrem geringen Verkehrsbedarf die Stiefkinder der Verkehrsbedienung«. 48 Ziel der Politik müsse es sein, industrielle und landwirtschaftliche Gebiete als »volkswirtschaftliche Einheit«49 zu behandeln. Dafür müsse man eine »verkehrswirtschaftliche Einheit« zwischen ihnen her- und vor allem sicherstellen, dass die landwirtschaftlichen Gebiete ausreichend häufig und zu den gleichen Tarifen Verkehrsanbindungen bekämen.50 Diese Gegenüberstellung von Ballungsräumen und ländlichen Gebieten ist bekannt und wurde in modernitätskritischen und antiurbanistischen Dis46. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 22 (Hervorh. im Orig.). 47. BÄSELER, Schlußwort, S. 414. 48. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 1. 49. Ebd., S. 2 (Hervorh. im Orig.). 50. Ebd. (Hervorh. im Orig.).
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kursen viel bemüht,51 doch hier ging es – wie im übrigen Verkehrsdiskurs auch – nicht darum, ein vermeintlich ›ursprüngliches‹ Landleben in vormoderner Idylle zu erhalten, sondern landwirtschaftliche und industrielle Gebiete miteinander zu verketten. Dies sollte über die Verkehrsbedienung geschehen. Nur dann sei es möglich, die ländliche Bevölkerung zu erhalten und die ländlichen Gebiete wirtschaftlich zu entwickeln, Gewerbe und Kleinindustrie anzusiedeln. Eine solche Dezentralisierung der Industrie beinhaltete vor allem die kontrollierte Modernisierung der ländlichen Gebiete, nicht eine Wiederherstellung vormoderner Strukturen. Fortschritt und Modernisierung im Verkehrssektor wurden nicht abgelehnt, sondern in ein statisch-räumliches Gesellschaftsideal eingepasst bzw. in seinen Dienst gestellt. Es ging also nicht darum, die landwirtschaftlichen Gebiete an die industriellen anzugleichen. Jedoch sollte die Verkehrsbedienung für alle Gebiete ermöglicht werden, um allzu große Nachteile gegenüber den Schwerpunkten des Verkehrs abzuwenden. Genau dies geschehe – so nicht nur Piraths Auffassung – am besten durch die Nebenbahnen. Diese dienten der Raumerschließung für die verkehrsschwachen Gebiete, sorgten für eine »gesunde Raumordnung« und vermittelten »Beziehungen zwischen ihrem engeren Bedienungsbereich und den übrigen Gebieten der Volkswirtschaft«.52 Durch ein Netz aus Haupt- und Nebenlinien, wie es Pirath ins Bild setzte (Abb. 1), wurde die räumliche Ordnung ebenso betont wie die Hierarchisierung verschiedener Räume. Die Nebenbahnen hätten zwar nicht die Verkehrsbedeutung der Hauptlinien, doch seien sie mindestens ebenso notwendig, was auch über verschiedene organische Metaphern verdeutlicht wurde, beispielsweise in der Analogie von Raum und Körper, von Verkehr und Blut: »Wie kleine Adern greifen sie [die Nebenbahnen] von den Hauptbahnen ausgehend in die Landschaft und geben ihr einen Rückhalt zur Stärkung ihrer wirtschaftlichen Beziehungen zu entfernten Gebieten.«53 Diese sprachliche In-Eins-Setzung von Verkehr und körperlichen Zirkulationsvorgängen unterstrich den Anspruch, über den Verkehr die »Gesundung« der gesellschaftlichen Ordnung voranzutreiben. Diese sollte über eine möglichst starke Verzweigung und gleichmäßige Fließprozesse erreicht werden – eine Maßgabe, die sich aus sprachlichen Bildern ebenso ergeben konnte wie aus den wissenschaftlichen Visualisierungen. Die räumliche Ordnung der Verkehrslinien wurde diskursiv verknüpft mit der räumlichen Ordnung der Bevölkerung. Diese Verknüpfung war nicht nur im Nationalsozialismus prominent.54 Auch in der Untersuchung Piraths wurde
51. Vgl. grundlegend REULECKE, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985, S. 139ff. 52. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 19 (Hervorh. im Orig.); vgl. auch BLUM, Otto: Die Kleinbahn im neuen Deutschland, in: Verkehrstechnische Woche 13, 1919, S. 369-374; sowie den Beitrag von Ariane Leendertz in diesem Band. 53. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 26 (Hervorh. von mir). 54. Vgl. dazu besonders den Vortrag von Paul Berkenkopf, der die Frage der
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Abbildung 1: Hauptlinien und Nebenbahnen, als Gefl echt ins Bild gesetzt. Deutlich werden die unterschiedlich eingefärbten näheren und ferneren Einzugsgebiete der jeweiligen Bahnhöfe in Kreisform um die Eisenbahnlinien, die eine (fast) lückenlose Versorgung der Fläche über geometrische Konstruktionen suggerieren.
immer wieder auf die räumliche und soziale Gliederung der Bevölkerung abgehoben, deren »Bodenverbundenheit erhalten bleiben sollte«.55 Angesichts der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung Deutschlands sei es jedoch nicht möglich, alle Einwohner der ländlichen Bevölkerung in der Landwirtschaft zu beschäftigen.56 Es müsse bewerkstelligt werden, mit Unterstüt»Zusammenballungen« der Bevölkerung nicht nur in volkswirtschaftlicher und verkehrswirtschaftlicher, sondern auch in »volks-« und »grenzpolitischer« Hinsicht diskutiert: BERKENKOPF, Paul: Die Auflockerung der Industriestandorte und der Anteil der Verkehrspolitik, Münster 1935, S. 18. 55. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 28. 56. Diese Unmöglichkeit ist durch unterschiedliche Faktoren bedingt. Pirath
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zung der Nebenbahnen »alle Möglichkeiten einer intensiven Raumnutzung durch Landwirtschaft und Gewerbe« auszuschöpfen.57 Die Verknüpfung von räumlichen und demographischen Daten in Grafiken ermöglichte es, die soziale (oder berufsständische) Gliederung der Bevölkerung von der Nebenbahn abhängig zu machen. Dabei wurde zugleich der »befruchtend[e] Einfluß der Bahn auf die Wirtschaft ihres Verkehrsgebietes«58 mit einer ausgeglichenen Gliederung der Bevölkerung nach Berufsgruppen konstitutiv verbunden (Abb. 2). Die Berufsgliederung, die über die Betriebseröffnung der Bahn bis Ende der 1940er Jahre weitestgehend stabil blieb, ermöglichte es, in der Nebenbahn einen stabilisierenden Faktor zu identifizieren: »Diese starke Abhängigkeit der gewachsenen wirtschaftlichen Struktur […] von dem Vorhandensein und der Arbeit der Härtsfeldbahn beleuchtet in besonderem Maße die Bedeutung der Bahn für die Lebensmöglichkeiten der in ihrem Einzugsgebiet wohnenden Menschen.«59 Durch die Ordnung des Verkehrs wurde also nicht versucht, eine ursprüngliche Bevölkerungsstruktur wieder herzustellen, gar im Sinne einer antimodernistischen Stoßrichtung die Industrialisierung rückgängig zu machen. Vielmehr sollte die vermeintlich gewachsenen Strukturen unter neuen Bedingungen erhalten und gestützt werden.
Abbildung 2: Die soziale Ordnung der Bevölkerung, stabilisiert durch die Nebenbahn
Während Pirath gerade durch die Nebenbahnen eine »gesunde Raumordnung« über die Fläche Deutschlands verwirklicht sah, beklagte Bäseler in seiner Erwiderung mit einem anderen räumlichen Fokus den genau entgegengesetzten Effekt: »Es darf auch eins nicht verkannt werden. Die Bahn benennt für Württemberg besonders das »in diesem Gebiet vorherrschende Realerbteilungsrecht« (PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung S. 28). Neue Brisanz habe die soziale Gliederung der Bevölkerung besonders »durch den starken Zustrom von Flüchtlingen gewonnen« (ebd., S. 17). 57. Ebd., S. 46. 58. Ebd., S. 45. 59. Ebd.
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hat in den 50 Jahren ihres Bestehens das bewirkt, was sie überall, sei es zum Segen, sei es zum – siedlungspolitisch gesehen – Nachteil, getan hat: sie hat die Siedlungen gestärkt, die unmittelbar an der Bahn lagen, vor allem durch Anschlußgleise.«60 Dieser Entwicklung entgegenzuwirken sei eine Aufgabe des Straßenverkehrs. Wenn man ihn zulasse, statt ihn durch gesetzliche und tarifliche Regelungen zu behindern, dann könne der Straßenverkehr »auf seinem natürlichen Gebiete, dem Flächenverkehr«, wirksam werden.61 Diese Gegenüberstellung von Fläche und Linie, von Dezentralisierung und Zusammenballung ist ein einflussreicher Diskursmechanismus in der Verkehrswissenschaft. Häufig wurden diese Wirkungen der Verkehrsmittel, insbesondere von »Schiene« und »Straße«,62 im Zusammenhang mit negativ konnotierten Modernisierungsfolgen diskutiert. Wenn nämlich der Eisenbahn ein »zusammenballender« Charakter aufgrund ihres »Linienverkehrs« vorgeworfen wurde, war das oftmals der Ausgangspunkt, um aufzuzeigen, dass dies nichts mit der Technik, sondern vielmehr mit der Wirtschaft oder gar mit der Politik zu tun habe.63 Zwar habe das Zeitalter der Dampfkraft viele negative Auswirkungen auf die Gesellschaft gehabt: »Hierdurch nämlich ist die ungeheure Vermehrung der Bevölkerung der sogenannten Kulturstaaten, die Großindustrie, die Zusammenballung der großen Massen in den Städten und Industriebezirken mit all den schädlichen Folgen bewirkt worden, desgleichen der Niedergang der Landwirtschaft und des Bauerntums mit den vielleicht noch schlimmeren Folgen, und der Exportkapitalismus und Exportindustrialismus, der bestimmten Ländern zunächst ungeheure Reichtümer gebracht hat, nunmehr aber die Volkskraft und die militärische Stärke schwer bedroht.«64 Dies sei aber nicht ursächlich auf die Eisenbahn als technische Einrichtung, sondern vielmehr auf eine falsche Verkehrspolitik zurückzuführen. Falsch bedeutet in diesem Zusammenhang meist: Es sei überhaupt nichts oder doch zumindest zu wenig unternommen worden. Untätigkeit oder eine liberale Einstellung hätten zur Zusammenballung geführt, nicht aber die Verkehrsmittel als solche.65 Über den Vergleich mit anderen Ländern und 60. BÄSELER, Leben landwirtschaftliche Gebiete von den Nebenbahnen?, S. 250. 61. Ebd., S. 248. 62. Das Schlagwort »Schiene und Straße« kann als Signum der Verkehrsdebat-
ten insbesondere nach 1945 bezeichnet werden. Ziel war – wie in früheren Debatten über die Verkehrseinheit – die Überwindung des Konflikts durch Vermittlung der Gegensätze; vgl. beispielsweise den anonymen Einführungstext im zweiten Jahrbuch »Schiene und Straße« (Dortmund 1952), S. 27: »Es [das Jahrbuch] soll der Förderung der Diskussion des Problems Schiene und Straße dienen, es soll beitragen zur Entspannung der nach verschiedenen Richtungen auseinandergehenden Meinungen« (Hervorh. von mir). 63. BLUM, Otto: Die Bedeutung des Verkehrs für Raumordnung, Landesplanung und Städtebau, in: Großdeutscher Verkehr 35, 1941, S. 508-515. 64. Ebd., S. 511. 65. »But in transportation, as in many other departments of life, laissez faire has long ceased to be practicable, and indeed it was never applied by Parliament to the railways even in the earliest days« (Rail, Road, and the Public, in: The Rail-
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Verkehrstraditionen sollte deutlich werden, wie die gleichen Verkehrsmittel unterschiedliche Folgen zeitigten, dass also die Verkehrsmittel nicht durch ihre »Natur« dezentralisierend oder zusammenballend wirkten, sondern durch ihre Verwendung ihre jeweilige Ausprägung fanden.66 Wo die Verkehrsmittel vor allem nach privatwirtschaftlichen Erwägungen gebaut worden seien, habe keine vernünftige Netzgestaltung stattgefunden, sondern nur die Entwicklung rentabler Linien, die entsprechend »zusammenballend« gewirkt hätten.67 Hier seien die Knotenpunkte auf Kosten der Fläche entwickelt worden.68 Nur dort, wo auf die Gesamtnetzgestaltung geachtet worden sei, wo ein dichtes Verkehrsnetz die Erschließung der Fläche ermöglicht habe, habe das Verkehrssystem insgesamt dezentralisierend gewirkt. Liberalismus gleich Unordnung, Antiliberalismus gleich Ordnung – so könnte es auf eine kurze Formel gebracht werden. Insgesamt blickten die Verkehrsexperten – von einigen gemäßigten Vertretern abgesehen – verachtend auf den Liberalismus, trauten Marktmechanismen wenig positive Effekte zu. Zwar wurden immer wieder Aspekte von Konkurrenz und Wettbewerb als nützlich hervorgehoben, gleichzeitig wollte man diese »dynamisierenden Effekte« nur innerhalb enger, durch den Staat festzulegender Grenzen zulassen: »Ein freier Wettbewerb ist im Verkehrswesen nicht möglich, abgesehen von Teilgebieten, die wie der Güternahverkehr, noch relativ günstige Voraussetzungen dafür bieten. Es kommt daher nur ein irgendwie vom Staate geregelter Wettbewerb zwischen den einzelnen Verkehrsträgern und innerhalb dieser selbst in Frage. Der Staat muß mit planenden und ordnenden Maßnahmen in den Verkehr eingreifen, um Angebot und Nachfrage auf einer den Gesamt-
ways. Six Special Articles Together with Two Leading Articles Reprinted from The Times, May, 12, 13, 14, 16, 17, and 18, 1932, London 1932, S. 30f., hier S. 31). Vgl. für Deutschland u.a. LEIBBRAND, Kurt: Das Verkehrswesen als Glied der Landes-, Regional- und Stadtplanung, Köln, Berlin 1957, S. 8: »Aber das freie Spiel kann nicht unbeschränkt weiter regieren. Gewisse ordnende und regelnde Maßnahmen sind unerläßlich«. Pirath mahnte vor allem, die wirtschaftsschwachen Gebiete dürften nicht »zum Opfer eines freien Wettbewerbs im Verkehr« werden: Pirath, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 56. 66. Vgl. BLUM, Die Entwicklung des Verkehrs, S. 232. Hier ist vor allem »Nordamerika« Chiffre für eine falsche Verkehrspolitik. Auch Großbritannien fungiert häufig als Negativfolie; vgl. BOEHLER, E.: Die englische Eisenbahnpolitik der letzten vierzig Jahre (1882-1922), in: Archiv für Eisenbahnwesen 45, 1922, S. 1-52, 264-291, 586-607, 878-901, 1048-1084. 67. Dies betonte Blum auch bei den Diskussionen um die Planung und den Bau der Reichsautobahnen. Trassieren dürfe nicht bedeuten, die Linienführung der Autobahnen festzulegen. Vielmehr müsse das Netz geplant werden. Nur so könne einer regionalen Zersplitterung Deutschlands entgegengewirkt werden (BLUM, Otto: Lehren aus der Eisenbahngeschichte für die Trassierung der Reichsautobahnen, in: Verkehrstechnische Woche 27, 1933, S. 737-739, hier S. 737). 68. BLUM, Die Entwicklung des Verkehrs, S. 232f.
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Interessen möglichst gerecht werdenden Grundlage zum Ausgleich zu bringen.«69 Dies galt neben der Bau- auch für die Tarif- und Preispolitik. Wo die Verkehrsbedienung der weniger rentablen Gebiete zum gleichen Preis ausgeführt werde wie die Bedienung der Ballungszentren, könne eine »gesunde Raumordnung« mit Hilfe der Verkehrsmittel erreicht werden. Das Schlagwort in diesem Zusammenhang ist die »gemeinwirtschaftliche Verkehrsbedienung«.70 Damit verfochten vor allem die Bahn-Befürworter in der Diskussion um die Verkehrsteilung die Notwendigkeit staatlicher Steuerung und die sozialen Pflichten des Verkehrssektors. Mit Hilfe der Argumentation über die Gemeinwirtschaftlichkeit war es auch möglich, das Reden von der vermeintlichen Flächenwirkung des Kraftwagens auszuhebeln. Zwar habe der Kraftwagen die »Möglichkeit« für die Verkehrsbedienung in der Fläche, doch dies dürfe nicht mit den »tatsächlichen Leistungen« verwechselt werden.71 Denn da der Kraftwagen privatwirtschaftlich betrieben werde, die Eisenbahn hingegen gemeinwirtschaftlich, sei der Straßenverkehr nicht zur Dezentralisierung geeignet – so zumindest die Haltung Piraths und anderer Bahnbefürworter: »Eine allgemeine Auflassung der Nebenbahnen kann ernstlich nicht in Frage kommen, solange die gemeinwirtschaftliche Verkehrsbedienung einer privatwirtschaftlichen Verkehrsbedienung auf der Straße gegenübersteht.«72 Die Schlussfolgerung daraus schien klar: Die verschiedenen Verkehrsmittel müssten einheitlich behandelt, also den gleichen Pflichten und Freiheiten unterworfen werden. Diese Argumentationsstruktur ist auf beiden Seiten des Nebenbahnen-Streits zu finden. Während Pirath die »prinzipiell[e] Forderung« vertrat, dass die Schienen- wie die Straßenverkehrsmittel »der Beförderungs- und Betriebspflicht mit dem Prinzip gleicher Transportpreise für wirtschaftsschwache und wirtschaftsstarke Gebiete unterworfen werden« müssten, fokussierte Bäseler wiederum auf die Region und forderte, den Nebenbahnen in ihrer Tarifgestaltung freie Hand zu lassen, ebenso wie den LKW.73 69. BERKENKOPF, Paul: Der Verkehr in der Marktwirtschaft, in: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 25, 1954, S. 73-89, hier S. 88. 70. »[W]ir [wollen] einstweilen davon ausgehen, daß die gemeinwirtschaftliche Verkehrsbedienung den Verzicht auf eigenwirtschaftliche Gewinnmaximierung und ein Sich-Geltend-Machen wirtschaftspolitischer Zielsetzungen bei der Leistungs- und Preiserstellung im Verkehrswesen zum Inhalt hat« (NAPP-Z INN, Anton Felix: Gemeinwirtschaftliche Verkehrsbedienung. Entwicklung und Problematik eines verkehrspolitischen Grundsatzes, in: Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 25, 1954, S. 90-109, hier S. 92). Neben Betriebs-, Beförderungs- und Tarifpflicht werden auch die Entfernungs- und die Wertstaffel sowie Sozial- und Sondertarife üblicherweise darunter subsumiert. Vgl. auch THIEMEYER, Theo: Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip. Grundlegung einer Theorie gemeinnütziger Unternehmen, Berlin 1970. 71. BLUM, Die Entwicklung des Verkehrs, S. 234. 72. PIRATH, Die Verkehrsteilung Schiene-Strasse in landwirtschaftlichen Gebieten und ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 55 (Hervorh. im Orig.). 73. Ebd.; BÄSELER, Schlußwort, S. 413f. Vgl. auch DERS., Leben landwirtschaftli-
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V. Fazit Auch die Gemeinwirtschaftlichkeitsdebatte war also durch den räumlichen Bezug bestimmt. Sie ergab in dieser Ausprägung nur Sinn in einem raumbezogenen Verkehrsdiskurs, der über den Topos des Ausgleichs eine zusätzliche Komponente erhielt. Es ging um die Angleichung von Bedingungen, um die Koordinierung von Gegensätzen, um möglichst viele Vorteile, gleichzeitig aber keine Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Die Vermittlung der Verwerfungen geschah nicht in erster Linie um der Schwachen oder gar um der Vielfalt willen, sondern im Interesse einer übergeordneten Einheit, die erst durch die Vermittlung selbst entstand. Die Stützung der Gemeinschaft war die Zielvorgabe von Ordnungsdenken und social engineering. Wie diese Gemeinschaft jedoch beschaffen sei oder sein müsse, welche Ausmaße und Charakteristika sie erhielt, war keineswegs unumstritten, wie an den Auseinandersetzungen um die Nebenbahnen gezeigt werden konnte. Je nach dem, ob die Nation oder die Region als übergeordneter Rahmen fungierte, mussten andere Verwerfungen ausgeglichen werden, galt es, andere Maßnahmen zu ergreifen, um ein neues Gleichgewicht herzustellen. Die Differenzen und Widersprüchlichkeiten auf der Oberfläche dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihnen eine gemeinsame Struktur zugrunde lag – ob es sich um die Aushandlung von Expertenpositionen, um die Bezugsräume von Verkehr oder um die konkrete Ausgestaltung von Maßnahmen zur Verkehrsbefriedung handelte. Gemeinsam war den Ansätzen der Verkehrsexperten, über den Verkehr eine neue räumliche Ordnung herzustellen zu wollen. Diese räumliche Ordnung sollte in begrenztem Umfang ein Fließen ermöglichen, sollte Spielraum für Dynamik lassen, diese aber gleichzeitig klar begrenzen. Der Verkehr wurde im Rahmen von Ordnungsdenken und social engineering als Mittel entworfen, einen neuen stabilen Gleichgewichtszustand herzustellen, indem in begrenztem und vor allem kontrolliertem Maße Mobilität zugelassen wurde. Dieses begrenzte und kontrollierte Fließen sollte einem höheren Zweck dienen, nämlich der Herstellung und Stabilisierung einer übergeordneten Einheit. So stellt sich Ordnungsdenken und social engineering im Verkehrsraum vor allem als der Versuch dar, eine räumliche Stabilität unter dynamischen Voraussetzungen herzustellen. Und dieses Potential wurde – allen Differenzen zum Trotz – stets vorausgesetzt. Unter optimalen, herstellbaren Bedingungen könnte der Verkehr eine gute Ordnung schaffen; dies müsse gar als seine grundlegende Funktion begriffen werden: »Hier eine zweckmäßige Harmonie zu schaffen, ist Sinn und Zweck der Verkehrswirtschaft.« 74
che Gebiete von den Nebenbahnen?, S. 249, wo es heißt: »Die Gegend ist also geschädigt, nicht durch die Straße, sondern durch die Übertragung eines artwidrigen Tarifs [gemeint ist der gemeinwirtschaftliche mit seinen Sonderumlagen] auf sie.« 74. PIRATH, Die Grundlagen der Verkehrswirtschaft, S. 3.
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Die »psychognostische Schwier igkeit der Beobachtung« Indus t r iebe t r iebliches Ordnun gsdenken und soc ial engineer ing in D eut schl and und Großbr it annien in der er s ten Hälf te des z wanz igs ten Jahr hunder t s 1 Timo Luks »Wir stehen hier wieder einmal an einer Stelle, wo uns jeder tatsächliche Einblick in die seelische Stellung des heutigen Fabrikarbeiters zu seinen beruflichen Erlebnissen abgeht.« (Willy Hellpach, 1922)
Zunächst ein Beispiel, an dem sich die Ausgangssituation industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings2 vergegenwärtigen lässt: Es geht um einen Besuch Willy Hellpachs im Daimler-Werk in Stuttgart/ Untertürkheim. Hellpach besichtigte Daimler auf Einladung Eugen Rosenstock-Huessys, zu dieser Zeit Redakteur der »Daimler Werkzeitung«, um den sozialpsychologischen Folgen und Wirkungsgrenzen von Betriebsreformen im Allgemeinen und der Gruppenfabrikation im Besonderen auf die Spur zu kommen.3 An dieser Stelle interessiert vor allem Hellpachs Kontrastierung 1. Mein Aufsatz verdankt viel den steten, kritischen und produktiven Diskussionen im Oldenburger Projekt »Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne. Nordwesteuropa, 1920er bis 1950er Jahre«. Nicht zuletzt hat Thomas Welskopp mit seinem Kommentar einer früheren Vortragsfassung dafür gesorgt, dass zentrale Argumente klarer formuliert und das Ganze schärfer konturiert werden konnten. 2. Zu Kontext und Begriffsbestimmung, auch dem etwas sperrigen Gebrauch des Singulars, vgl. die Einleitung von Thomas Etzemüller in diesem Band. 3. Vgl. NÜBEL, Otto: Paul Riebensahm, Eugen Rosenstock-Huessy und die DaimlerMotoren-Gesellschaft 1919-1920, in: Daimler Werkzeitung, Moers o.J. (ND 1991), S.
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zweier Perspektiven, denn sie gibt Auskunft darüber, wie Ordnungsdenker und Sozialingenieure mit der Opazität individueller und lokaler Arbeits- und Sozialverhältnisse umgingen; schließlich war Hellpach im Gegensatz zu den Arbeitern im Betrieb gezwungen, von außen auf den Betrieb zu blicken – und das wurde ihm schmerzlich bewusst. Der »sinnliche Anblick natürlichen, zusammenhängenden, ›dynamischen‹ Werdens, das sich hier in der Gruppe […] seit langem zum ersten Male wieder innerhalb der Atmosphäre der Großfabrikation seinem Auge und seiner Seele darbot«, 4 habe ihn enthusiastisch gestimmt, so Hellpach. Das dürfe freilich nicht mit dem Eindruck der Gruppe auf die Arbeiter verwechselt werden: »Der Enthusiasmus des Besuchers beweist natürlich nichts für irgendeine psychologische Wirkung der Gruppenfabrikation im beteiligten Arbeiter, Vorarbeiter und Meister, noch für die Art solcher Wirkung. Festzustellen war: in den Mienen, der Haltung, dem Gehaben aller Werkbeteiligten war nichts Enthusiastisches sichtbar. In der Fabrikationsgruppe […] sahen die Leute genau so indifferent aus, wie es für den Fabrikarbeiter überhaupt charakteristisch ist. Denn dies ist sein mimisches Stigma: Indifferenz. […] Also die Arbeiter in der ›Gruppe‹ ließen physiognomisch keinen Enthusiasmus merken, und auch in andern Äußerungen ist er nicht zutage getreten. […] Kurzum, eigentlich war nichts hervorgetreten, was erkennen ließe, daß die Arbeiter von einer grundsätzlichen Umstellung des Fertigungsprozesses auch nur etwas gemerkt haben, geschweige denn darauf reagiert hätten.«5 Womit Hellpach als sozialpsychologischer Evaluator industriebetrieblicher Verhältnisse zu kämpfen hatte, war der Umstand, dass der Gesichtsausdruck des Fabrikarbeiters »nichtssagend«, dass es unendlich schwierig sei, »aus dem Gehaben des Arbeiters bei der Arbeit überhaupt ein Bild von den seelischen Zuständen und Regungen zu gewinnen, welche im Arbeiter durch seine Arbeit geschaffen werden.«6 Gerade darum musste es ihm aber gehen. Er musste die »psychognostische Schwierigkeit der Beobachtung«7 überwinden; er musste Mittel und Wege finden, um zu sehen, was in den Betrieben vor sich ging. Die Ausgangssituation industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings ist damit bereits hinreichend beschrieben: Die Verfügbarkeit von Wissen über Gestalt und Wirkungen industriebetrieblicher Arbeits- und Sozialverhältnisse war Voraussetzung für ordnende Interventionen. Diese wiederum waren notwendig, weil der Industriebetrieb als XIII-XXXV; R ABUS, Wolfgang: Gruppenfabrikation und Werkstattausiedlung. Aspekte in der betrieblichen Realität 1919/20, in: Mitteilungsblätter der Eugen RosenstockHuessy-Gesellschaft e.V. 1999, S. 55-66; STAHLMANN, Michael: Die erste Revolution in der Autoindustrie. Management und Arbeitspolitik von 1900-1940, Frankfurt a.M., New York 1993, S. 117-143. 4. HELLPACH, Willy: Sozialpsychologische Analyse des betriebstechnischen Tatbestandes der »Gruppenfabrikation«, in Ders./Lang, Richard: Gruppenfabrikation, Berlin 1922, S. 5-186, hier S. 66. 5. Diese Zitate ebd., S. 66-69. 6. Ebd., S. 70. 7. Ebd., S. 71.
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Brennpunkt und Katalysator jener Auseinandersetzungen und Verwerfungen identifiziert wurde, die mit dem inzwischen eindrucksvoll etablierten Industriekapitalismus verbunden waren. Man wusste um die Gefahren, die vom Industriebetrieb für die Gesellschaftsordnung ausgehen konnten, in den konkreten Zugriffen erwies der Betrieb sich jedoch immer wieder als Zone der Unbestimmtheit. Als industriebetriebliches Ordnungsdenken und social engineering werden im Folgenden all jene Praktiken und Diskurse verstanden, die die Opazität individueller und lokaler Arbeits- und Sozialverhältnisse zu durchdringen suchen, um nicht nur Wissen über den Industriebetrieb zu produzieren, sondern ihn zugleich in eine ›harmonische‹, ›organische‹ und ›gemeinschaftliche‹ Ordnung zu verwandeln trachten; die den Betrieb als soziales Interventionsfeld etablieren, das es zu ordnen gilt, um die Gesellschaft zu ordnen. Industriebetriebliches Ordnungsdenken und social engineering steht im Zentrum dessen, was Thomas Welskopp als »Zeitalter des Industrialismus« bezeichnet und für Deutschland zwischen den 1890er und 1960er Jahren verortet hat: »In keiner Periode war der Körperschaftscharakter des Unternehmens ausgeprägter; Unternehmen erfüllten wichtige Funktionen im Leben der Städte; sie prägten komplette Regionen und spielten nicht zuletzt eine zentrale Rolle als institutionelle Kristallisationskerne von nahezu öffentlichrechtlichem Rang.«8 Mit der im vorliegenden Aufsatz zwecks Analyse industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings vorgeschlagenen Begriffsbildung des ›sozialökologischen Industrialismus‹ wird ein Modus der Problematisierung des Industriebetriebs gefasst, der einerseits die Orte industrieller Produktion ins Zentrum gesellschaftlicher Ordnung rückt (Industrialismus) und andererseits durch eine Verschmelzung sozialer und physikalischer Räume bzw. ›Umwelten‹ (Sozialökologie) gekennzeichnet ist. Ordnungsdenken und social engineering lässt sich mithin als Problematisierungsmodus im Sinne Michel Foucaults fassen. Dieser Begriff bezeichnet eine »Gesamtheit der diskursiven oder nicht-diskursiven Praktiken«, die »etwas in das Spiel des Wahren und des Falschen eintreten [lässt] und […] als Objekt für das Denken (sei es in der Form der moralischen Reflexion, der wissenschaftlichen Erkenntnis, der politischen Analyse usw.)« konstituiert.9 In den Blick gerät ein Dispositiv, das an der Hervorbringung des Industriebetriebs als geordnetem und ordnendem Sozialgefüge arbeitet.10 8. WELSKOPP, Thomas: Das Unternehmen als Körperschaft. Entwicklungslinien der institutionellen Bindung von Kapital und Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Ellerbrock, Karl-Peter/Wischermann, Clemens (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 192215, hier S. 207; vgl. auch L IPARTITO, Kenneth: The Utopian Corporation, in: Ders./ Sicilia, David B. (Hg.): Constructing Corporate America. History, Politics, Culture, Oxford 2004, S. 94-119. 9. F OUCAULT, Michel: Die Sorge um die Wahrheit (Gespräch mit François Ewald), in: Ders.: Dits et Ecrits, 4 Bde., Frankfurt a.M. 2005, Bd. 4, S. 823-836, hier S. 826. 10. Zum Dispositivbegriff vgl. DELEUZE, Gilles: Was ist ein Dispositiv?, in: Ders.:
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Im Folgenden werden britische und deutsche Entwicklungen aufeinander bezogen. Damit ist allerdings nicht so sehr ein systematischer und symmetrischer Vergleich zweier nationaler Problematisierungsmodi von Industriearbeit intendiert; vielmehr soll aufgezeigt werden, wie Ordnungsdenken und social engineering sich als transnationale Formation mittels der Verknüpfung verschiedener Topoi, Metaphern und Diskurse realisiert. Es gilt mithin, Anschluss- und Kreuzungspunkte aufzuzeigen, die britische und deutsche Phänomene in einen übergreifenden Zusammenhang rücken. Hinsichtlich der Frage der Wirkmächtigkeit bzw. ›praktischen Umsetzung‹ industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings wird eine Gegenüberstellung von Diskurs und Realisierung zu vermeiden gesucht, indem die (diskursiven) Praktiken von Unternehmensleitungen, Personalabteilungen, Produktionsingenieuren, Gewerkschaftsfunktionären, Betriebsräten, Sozialpolitikern und Betriebssoziologen aufeinander bezogen werden. Sie alle waren an der Artikulation und Realisierung industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings beteiligt. Ihre Tätigkeiten unterschieden sich allerdings massiv voneinander: Die einen planten und bauten neue Werkshallen, setzten die Produktionsorganisation technisch und baulich um, die anderen reflektierten den Betrieb als Sozialraum oder versuchten politisch zu gestalten. Alle zusammen trugen jedoch, gerade durch die unzähligen Überschneidungen und Bezüge, dazu bei, den Betrieb als soziales Interventionsfeld zu etablieren. Industriebetriebliches Ordnungsdenken und social engineering lässt sich aus dieser Perspektive zunächst als Versuch interpretieren, die Produktionsorganisation in Relation zur (betrieblichen) Sozial-Ordnung zu setzen. Beide ließen sich zum Beispiel aufeinander beziehen, indem die Prinzipien fl ießender Ordnung mit denjenigen der Gruppierung oder Vergemeinschaftung verbunden wurden. Ordnungsdenken und social engineering zeigte sich als Versuch, Ort, Stellung und Funktion des Menschen in der Maschinengruppe zu bestimmen und zu ändern. Derartige Zugriffe auf die betriebs-soziale Ordnung kamen nicht ohne eine räumliche Dimension aus. Im Raum war die Sichtbarkeit von Ordnung gewährleistet oder herzustellen – wo man Wirkungen im Innern der Arbeiter nicht sehen konnte, war das umso bedeutsamer. Schließlich ging es um die »Eroberung« des Betriebs durch Experten aller Art, die den Betrieb nicht »neutral« beschrieben, sondern Wege der Gestaltbarkeit und einen Platz für sich und ihr Wirken suchten.
Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt a.M. 2005, S. 322-331; sowie BÜHRMANN, Andrea D./SCHNEIDER, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008.
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Luks: Industr iebetr iebliches Ordnungsdenken und social engineering
Produktionsorganisation und (betr iebliche) Sozial-Ordnung Arbeitsverhältnisse und Produktionsorganisation lassen sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg und bis in die 60er Jahre hinein mit Schlagworten wie Fordismus oder mass and flow production beschreiben und begrenzen. Das gilt auch und vor allem für die folgend immer wieder exemplarisch herangezogene Automobilindustrie, deren Geschichte in groben Zügen durch zwei Revolutionen strukturiert wird: die Etablierung fordistischer Massenproduktion einerseits; deren schleichende Erosion und die Etablierung flexibler, schlanker Produktion andererseits.11 Als soziales, ökonomisches, technisches und organisatorisches Ordnungsmodell bewies der Fordismus eine außerordentliche Beharrungskraft.12 Das Modell war zudem adaptierbar. Bereits zeitgenössisch setzte eine vielfältige Kontextualisierung ein, um auf diesem Weg eine An- und Einpassung einzelner Elemente an alternative Vorstellungen und Realitäten betriebs-sozialer Ordnung zu erreichen.13 Die britische und deutsche Fordismusrezeption wurde sowohl auf betrieblicher Ebene als auch in weiter entfernten publizistischen Debatten durch eine soziale Problematisierung des Industriebetriebs14 strukturiert, die an die Stelle einer bis dato im Vordergrund stehenden Disziplinierung individueller Körper trat. Immer wieder kam es zu einer Umcodierung einzelner Elemente jener Formation, die als Fordismus galt. So betonten zum Beispiel britische Unternehmer und die mit der Gestaltung industrieller Arbeitsverhältnisse beschäftigten Sozial11. Als Überblick: ALTSHULER, Alan U.A.: The Future of the Automobile. The Report of MIT’s International Automobile Program, London u.a. 1984; BARDOU, Jean-Pierre U.A.: The Automobile Revolution. The Impact of an Industry, Chapel Hill/NC 1982; FOREMAN-PECK, James/BOWDEN, Sue/MCK INLAY, Alan: The British Motor Industry in the Twentieth Century, Manchester, New York 1995; L AUX, James M.: The European Automobile Industry, New York 1992; WOMACK, James P./JONES, Daniel T./ROOS, Daniel: Die zweite Revolution in der Autoindustrie, Frankfurt a.M., New York 1991. 12. Vgl. SHIOMI, Haruhito/WADA, Kazuo (Hg.): Fordism transformed. Comparative Perspectives on the Development of Production Methods in the Automobile Industry, Oxford u.a. 1995; TOLLIDAY, Steven/ZEITLIN, Jonathan (Hg.): Between Fordism and Flexibility. The Automobile Industry and its Workers, Oxford, New York 1992. 13. Vgl. LEWCHUK, Wayne A.: American Technology and the British Vehicle Industry, Cambridge u.a. 1987; TOLLIDAY, Steven: Ford and »Fordism« in Britain. Enterprise Management and the Conrol of Labour, 1937-1987, in: Ders./Zeitlin, Jonathan (Hg.): The Power to Manage? Employers and Industrial Relations in Comparative-historical Perspective, London 1991, S. 81-114; DERS.: Transplanting the American Model? US Automobile Companies and the Transfer of Technology and Management to Britain, France, and Germany, 1928-1962, in: Herrigel, Gary/Zeitlin, Jonathan (Hg.): Americanization and its Limits. Reworking US Technology and Management in Postwar Europe and Japan, Oxford 2000, S. 76-119. 14. Zum Aufstieg des Sozialen vgl. grundlegend FOUCAULT, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975-76, Frankfurt a.M. 1999.
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politiker und Sozialwissenschaftler, dass direkte Kontrolle bei Ford vielleicht verfing, man selbst jedoch angesichts längst industrialisierter, politisch organisierter, durch individualistische und demokratische »Instinkte« geprägter, britischer Arbeiter auf Kooperation und Freiwilligkeit setzen und die sozialen Beziehungen im Betrieb »persönlicher«, »harmonischer« und »nachbarschaftlicher« gestalten müsse.15 Industriearbeit und Industriebetrieb wurden zu einem sozialen Problem und Interventionsfeld. Managementkonzepte hoben seit Anfang des 20. Jahrhunderts in immer stärkerem Maß hervor, dass eine Fabrikordnung im umfassenden Sinn nur dann zu erreichen sei, wenn die politische und ökonomische Umgebung (die den Betrieb umgebende Gesellschaft) ihrerseits gestaltet würde. Entsprechend lässt sich der Versuch einer steten Erweiterung der Zuständigkeiten, einer kontinuierlichen Eroberung neuer Bereiche beobachten, die es zu bearbeiten galt: von technischen und organisatorischen Fragen über einen mehr oder weniger sozialpsychologischen Blick auf den Betrieb bis hin zu einem expansiven politökonomischen Kontextualismus.16 Management- und betriebliche Führungsmodelle zielten bis weit in die 60er Jahre hinein auf die Entwicklung umfassender betrieblicher Gesamtordnungskonzepte,17 und nicht zuletzt trugen betriebs- und industriesoziologische Arbeiten in erheblichem Umfang zur sozialen Codierung betrieblicher Fragen und Etablierung eines Beziehungssystems zwischen Industriebetrieb und Gesellschaft bei. Diese Soziologisierung betrieblicher »Probleme«, das heißt die Relationierung sozialer, ökonomischer, technischer und organisatorischer Fragen ist ein wesentliches Kennzeichen industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings. Auch wenn mit Blick auf innerbetriebliche Verwissenschaftlichungsprozesse in der Personalpolitik sowie die Etablierung entsprechender Expertenfelder erst für einen deutlich späteren Zeitraum von der Ablösung des technischen Denkstils der Rationalisierungsexperten durch einen Modus sozialer Problematisierung des Industriebetriebs gesprochen werden kann,18 so liegen dessen Ausformulierung und Bereitstellung erkennbar in den 20er Jahren. Ungeachtet verschiedener Schwerpunkte setzten die Zugriffe auf den Industriebetrieb inner- und außerbetriebliche Probleme in ein je spezifisches Verhältnis und etablierten damit eine sozial-räumliche Perspektive. Indust15. Vgl. FITZGERALD, Robert: British Labour Management and Industrial Welfare 1846-1939, London u.a. 1988, bes. S. 4-19; LEWCHUK, American Technology and the British Vehicle Industry, S. 89-111. Zu ähnlichen Versuchen bei Opel vgl. KUGLER, Anita: Arbeitsorganisation und Produktionstechnologie der Adam Opel Werke von 1900-1929, Berlin 1985. 16. Vgl. KOCKA, Jürgen: Industrielles Management. Konzeptionen und Modelle in Deutschland vor 1914, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56, 1969, S. 332-372; MAIER, Charles S.: The Factory as Society. Ideologies of Industrial Management in the Twentieth Century, in: Bullen, Roger J. (Hg.): Ideas into Politics. Aspects of European History, 1880-1950, London u.a. 1984, S. 147-163. 17. Vgl. den Beitrag von Adelheid von Saldern in diesem Band. 18. Vgl. ROSENBERGER, Ruth: Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland, München 2008.
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riebetriebliches Ordnungsdenken und social engineering situierte den Betrieb in seiner sozial-räumlich gedachten Umwelt, fasste ihn zugleich jedoch auch als sozial-räumliche Umwelt. Genau diese Dopplung ist gemeint, wenn von sozialökologischem Industrialismus die Rede ist.19 Der Betrieb wurde zunächst als Sozialgebilde eigener Art beschrieben; thematisiert wurden seine soziale »Eigenart«, »Eigenständigkeit«, »Konkretheit« und »Individualität«. »At the risk of repetition«, so Eleanor Kelly für das Institute of Welfare Workers, »it must be emphasized that every factory has its own peculiar character. Just as individuals, though living under similar conditions and with similar histories, differ to an extraordinary degree, so factories, though alike to all outward appearance, will be found to have totally distinct ›souls‹.«20 Das gelte es anzuerkennen und zum Ausgangspunkt ordnender Interventionen zu machen. Das erforderte nicht zuletzt eine entschiedene Verteidigung des Betriebs; schließlich, so der Betriebssoziologe Rudolf Schwenger, stünden »die letzten hundert Jahre […] unter dem Zeichen des Kampfes gegen jede seinsmäßig begründete, natürliche Ordnung, gegen den Anspruch einer von zufälliger Willkür der Einzelnen unabhängigen objektiven Institution, die vor den Individuen besteht und sich gegen den Einzelwillen durchzusetzen vermag. Neuerdings und insbesondere in den Nachkriegsjahren ist die betriebliche Ordnung in ihrer Eigenständigkeit ebenfalls in Frage gestellt worden.«21 Die diagnostizierte Infragestellung und Gefährdung konkreter Betriebsordnung gerann unmittelbar zu einer Frage sozialer Ordnung. Der Betrieb wurde zum Ort gesellschaftlicher Reintegration stilisiert. In den Blick gerieten einerseits die von außen in den Betrieb drängenden Gefahren, andererseits die Wirkungen des Betriebs nach außen. Industriebetriebliches Ordnungsdenken und social engineering war Bestandteil einer umfassenden und vielfältigen Grenzziehungsarbeit.22 Es ist durch eine besondere Aufmerksam19. Diese Perspektive lässt sich auch und gerade im Kleinen detailliert rekonstruieren. Dabei zeigen sich die engen Zusammenhänge baulicher Gegebenheiten mit allgemeinen Vorstellungen gesellschaftlicher Ordnung und dem Bestreben, Sozialverhalten, Bewegungsabläufe, Zeitordnung, Körperlichkeit usw. zu »kanalisieren«. Für eine exemplarische Analyse vgl. LUKS, Timo: Die Massengesellschaft auf dem Weg in die Kantine. Fabrikmahlzeit, Selbstbedienung und »Ordnungsdenken« bei der Daimler-Benz AG 1948-53, in: Historische Anthropologie 17, 2009, H. 1, S. 38-55. 20. KELLY, Eleanor T.: Welfare Work in Industry, London 1925, S. 20f. 21. SCHWENGER, Rudolf: Soziale Frage im Betrieb, in: Görres-Gesellschaft (Hg.): Die soziale Frage und der Katholizismus. Festschrift zum 40jährigen Jubiläum der Enzyklika »Rerum novarum«, Paderborn, S. 291-311, hier S. 291. 22. Zu diesem im Kontext der Wissenschaftsforschung geprägten Begriff vgl. GIERYN, Thomas F.: Boundary-Work and the Demarcation on Science from Non-Science. Strains and Interests in Professional Ideologies of Scientists, in: American Sociological Review 48, 1983, S. 781-795. Auch in jüngeren konzeptionellen Überlegungen zur Industrie- und Unternehmensgeschichte wird das zunehmend thematisiert; vgl. L IPARTITO, Kenneth: Culture and the Practice of Business History, in: Business and Economic History 24, 1995, H. 2, S. 1-41; MARCHAND, Roland: Where lie the Boundaries of the Corporation? Explorations in »Corporate Responsibility« in the 1930s,
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keit für die Schnittstellen zwischen Betrieb und Gesellschaft, für die Grenzen und das Überqueren dieser Grenzen gekennzeichnet. Was dem »betrieblichen Leben« nach wie vor die »entscheidenden Probleme« stelle, so Helmut Schelsky noch in den 50er Jahren, seien »Kräfte, Spannungen, Strukturwandlungen und soziale Zielsetzungen der außerbetrieblichen Gesamtgesellschaft, die in den Betrieb hineinwirken und dort ihre grundsätzlichen Lösungen erwarten.«23 Schelsky resümierte hier gewissermaßen, was die soziologischen und sozialpolitischen Zugriffe auf den Industriebetrieb seit den 20er Jahren in Deutschland und Großbritannien gleichermaßen kennzeichnete: die Konzentration auf das problematische Verhältnis von Industriebetrieb und Gesellschaft. Die Ordnung des einen galt in diesem Diskurs als Überlebensfrage der Ordnung der anderen und umgekehrt: »Ebenso wie der Betrieb für das Gesellschaftsgefüge in einem Akt zerstörendes und neuauf bauendes Gefüge sein mag, so kann die Gesellschaft durch Regeln und Normen für ihn Hemmung, Begrenzung und Förderung sein. […] Dort wo Gesellschaft autonomes, ihr Leben durch Normen und Regeln umfassendes und ordnendes Gebilde ist, steht auch der Betrieb unter diesem Normensystem und seinen geltenden Werten. […] Dort aber, wo die Gesellschaft individualistisch verflüchtigt, ihre Autonomie der Autonomie der Individuen geopfert ist, da kann der Betrieb […] geradezu das Kristallisationszentrum einer echten gesellschaftlichen, von der Wirtschaft her bestimmten Gliederung werden.«24 Derartige Bestimmungen werteten das Praxisfeld betrieblicher Sozialpolitik bzw. sozialer Betriebspolitik 25 unmittelbar auf, schienen hier doch in: Business and Economic History 26, 1997, H. 1, S. 80-100; WELSKOPP, Thomas: Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 118-142. 23. SCHELSKY, Helmut: Aufgaben und Grenzen der Betriebssoziologie, in: Böhrs, Hermann/Schelsky, Helmut: Die Aufgaben der Betriebssoziologie und der Arbeitswissenschaften, Stuttgart, Düsseldorf 1954, S. 7-40, hier S. 28. 24. BRIEFS, Goetz: Art. »Betriebssoziologie«, in: Vierkandt, Alfred (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 31-53, hier S. 34. 25. Vgl. FIEDLER, Martin: Betriebliche Sozialpolitik in der Zwischenkriegszeit. Wege der Interpretation und Probleme der Forschung im deutsch-französischen Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 350-375; FITZGERALD, British Labour Management and Industrial Welfare 1846-1939; KLEINSCHMIDT, Christian: Betriebliche Sozialpolitik als »Soziale Betriebspolitik«. Reaktionen der Eisen- und Stahlindustrie auf den Weimarer Interventionsstaat, in: Plumpe, Werner (Hg.): Unternehmen zwischen Markt und Macht. Aspekte deutscher Unternehmens- und Industriegeschichte im 20. Jahrhundert, Essen 1992, S. 29-41; MELLING, Joseph: Employers Industrial Welfare and the Struggle for Workplace Control in British Industry 1880-1920, in: Gospel, Howard F./Litter, Craig R. (Hg.): Managerial Strategies and Industrial Relations. An Historical and Comparative Study, Aldershot 1983, S. 5581; SCHULZ, Günther: Betriebliche Sozialpolitik in Deutschland seit 1850, in: Pohl, Hans (Hg.): Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1991, S. 137-176; WELSKOPP, Thomas: Betriebliche Sozialpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Eine Diskussion neuerer
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gleichzeitig Fragen betrieblicher und sozialer Ordnung verhandelt werden zu können und zu müssen: »I think we may define Welfare work as the provision of an environment which will enable everyone to be and to do his best. […] [Our] conception of this, and the organisation we adopt in order to secure it, will be on the wrong lines if we attempt to isolate it from the well-being of the community as a whole. Rather, in all our efforts to promote it we should recognise the fact that we cannot separate a man’s life as a citizen from his life as a worker. If you would have a permanently efficient worker you must have a good citizen, adequately paid, and well-developed in body and in mind, with a healthy outlook on the world, with keen and worthy ambition, and a true conception of his responsibilities to his fellow workers, to the firm for which he works, and to the community. Whatever tends to create or to develop these qualities is in the true sense Welfare work.«26 Betriebliche Sozialpolitik habe sich mit der »Zerfaserung« und »Zersetzung« der sozialen Beziehungen im Betrieb auseinanderzusetzen, um zu verhindern, dass daraus ein »zerstörender Prozeß« werde27; sie habe an der »wachsende[n] Verunselbständigung des Arbeitsverhältnisses«, an der »Entpersönlichung des Verhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Betrieb bzw. Betriebsleitung«, an den schwindenden »seelischen Bindungen des Arbeitsnehmers zu seiner Arbeit und seinem Betriebe« anzusetzen, denn darin sei »der Keim zu einer sozialen Anarchie und zu einer seelischen Leere bei der weitaus überwiegenden Mehrheit der Arbeitnehmerschaft gelegt, die jede organische Ordnung des Wirtschaftsvolkes unmöglich« mache.28 Wo betriebliche Probleme jederzeit in eine umfassende »soziale Anarchie« zu kippen drohten, musste man handeln. Dabei fielen sozialpolitische und sozialwissenschaftliche Zugriffe oft ineinander. Die Aufgabe, die Carl Jantke der »Industriebetriebsforschung« zuwies, könnte als Motto über dieser Dimension industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings stehen: »So wenig die Wissenschaft von der sozialen Wirklichkeit durch ihre Ergebnisse selber soziale Ordnung stiftet, so sehr vermag sie doch dem Menschen beim Versuch der Selbstfindung inmitten sich ständig wandelnder Daseinsordnungen eine Stütze zu bieten, indem sie die Strukturen und Beziehungen aufdeckt, die durch Arbeit und Gesittung im Umgang mit den Mitmenschen lebendig und sinnvoll werden.«29
Forschungen und Konzepte und eine Branchenanalyse der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1870er bis zu den 1930er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 34, 1994, S. 333-374. 26. B. Seebohm Rowntree, zit.n. BRIGGS, Asa: Social Thought and Social Action. A Study of the Work of Seebohm Rowntree 1871-1954, London u.a. 1961, S. 128f. 27. Vgl. LECHTAPE, Heinrich: Die menschliche Arbeit als Objekt der wissenschaftlichen Sozialpolitik, Jena 1929, S. 26. 28. THALHEIM, Karl C.: Grundfragen der betrieblichen Sozialpolitik, in: Archiv für angewandte Soziologie 5, 1932, S. 121-132, hier S. 126. 29. JANTKE, Carl: Industriebetriebsforschung als soziologische Aufgabe, in: Soziale Welt 2, 1950/51, S. 14-23, hier S. 16.
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Der Mensch in der Maschinengruppe 1928 berichtete Charles Engelbach den Kollegen Automobilingenieuren über die von ihm durchgeführte Reorganisation des Produktionsprozesses bei Austin. Er betonte die Bedeutung der Einrichtung von Fabrikationsgruppen, die als produktives Ganzes konzipiert seien. »The central idea on which the re-organisation was pivoted was to group the various shops into more or less complete factories of their own […]. The principle of grouping […] was adopted, and this governed the entire re-arrangement of the works.«30 Das Prinzip der Gruppierung wurde zeitgenössisch mit demjenigen fließender Produktion verbunden. Diese Prinzipien verkörperten je für sich eine bestimmte Ordnungsidee und symbolisierten in ihrer Verkettung die betriebs-soziale Ordnung insgesamt: »Bänder befördern das Arbeitsstück von einer Maschine zur andern und stellen eine feste Verbindung her, die sich durchaus nach der Fertigung richtet: die Maschinengruppe. Das bedeutet vorerst eine Auflösung der alten Werkstätten, wie wir sie bisher gekannt haben. Die trennenden Mauern […] werden niedergerissen und fallen. […] Zunächst scheint sich durch diese Umstellung, die im wahrsten Sinne des Wortes eine Umstellung der Maschine ist, nur der Stand der Maschine verändert zu haben. In Wirklichkeit aber hat sich die Stellung der Maschine in der Fertigung verändert – und damit das Verhältnis von Maschine und Mensch. Durch den Schritt von der Maschine zur Maschinengruppe, durch das veränderte Verhältnis von Mensch und Maschine ordnet sich vor allen Dingen das Miteinanderarbeiten von menschlicher und mechanischer Kraft neu. […] Durch die Fließarbeit wird die menschliche Arbeitskraft in die Maschinengruppe eingesetzt. […] Dieses Abhängigkeitsverhältnis von Muskel und Gehirn, von menschlicher Arbeitskraft, von der Maschinengruppe, schließlich von der Größe eines Zahnrades oder von seinem Antrieb bedeutet nichts anderes als eine Trennung, eine Halbierung der menschlichen Arbeitskraft, wenn man will, des Menschen. […] Die Einordnung der Muskeln in die Maschinengruppe als Teil dieser Gruppe, genau so wirkend wie ein Arbeitsglied aus toter Materie, steuert zur Erzwingung von Höchstleistungen.«31 Mit Fließband und Maschinengruppe rückte die Frage nach der Stellung des Menschen im Verhältnis zur Maschine in den Mittelpunkt. Die Herstellung harmonischer ›Nachbarschaft‹ stellte sich als eine der entscheidenden Aufgaben dar. Es galt, jener Entwicklung entgegenzutreten, die den Menschen »wider seine Eigenschaft als organisches Lebewesen zum Maschinenteil« degradiert habe.32 Auf den Menschen als Maßstab und Bezugspunkt 33 konnte 30. ENGELBACH, Charles R.F.: Some Notes on Reorganising a Works to Increase Production, in: Proceedings of the Institution of Automobile Engineers 22, 1928, S. 496-544, hier S. 499-502. 31. ALT, Friedrich: Maschine und Maschinengruppe. Ein durch Fließarbeit verändertes Verhältnis, in: Metallarbeiter-Zeitung 44, 1926, S. 65, 71. 32. Vgl. SCHMITZ, Christian: Die Nachbarschaft von Mensch und Maschine, in: Betriebsräte-Zeitschrift 7, 1926, S. 158-160. 33. Vgl. den Aufsatz von David Kuchenbuch in diesem Band.
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man sich allerorten einigen. Und so verwundert es nicht, dass jemand wie Karl Arnhold, seines Zeichens Herold der »nationalsozialistischen Betriebsführung«, Diagnosen und Aufgaben formulierte, wie es nicht zuletzt auch gewerkschaftsnahe Autoren in den 20er Jahren getan hatten. Arnhold erhob das Verhältnis von Mensch und Sachwelt zum »Kernpunkt der gesamten industriellen Arbeit« und forderte, »zwischen Mensch und Werkzeug, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Mensch und betrieblicher Organisation ein natürliches und vernünftiges Verhältnis zu schaffen.«34 Der Rekurs auf den Menschen, so Ruth Rosenberger, bot sich in hervorragender Weise an, um verschiedene Zugriffe auf den Industriebetrieb miteinander zu verbinden. Er stellte eine wichtige Brücke für betriebsbezogenes, vergemeinschaftendes Denken auch über politische Brüche hinweg dar.35 Das Problem der (An-)Ordnung36 von Mensch und Maschine, das Problem ihrer »Nachbarschaft« führt zum Kern der Versuche, die Ordnung des Sozialen über den Industriebetrieb zu gestalten. Hier erlangten »Gruppe« und »Gemeinschaft« als sozial-räumliche Ordnung(en) Bedeutung. Es ging um Praktiken der Gruppierung und Vergemeinschaftung als konkrete Formen des Ordnens. »Fabrikationsgruppen« standen für ein »geordnetes Werden«37 und der betrieblichen Personalarbeit galt die »Gruppe« als »unit of operation in a firm«.38 Der Topos der Gruppe verband sich mit demjenigen der Gemeinschaft im Sinne eines Modells sozialer Ordnung, das im Angesicht einer fragmentierten, ambivalenten, modernen Gesellschaft die Reintegration und neuerliche Harmonisierung sozialer Beziehungen versprach. »Gruppenarbeit ist Gemeinschaftsarbeit!«, hieß es im »Opel-Geist« 1931.39 Die Versuche, den Industriebetrieb als Gemeinschaft zu realisieren, verweisen erneut 34. ARNHOLD, Karl: Der Deutsche Betrieb. Aufgaben und Ziele Nationalsozialistischer Betriebsführung, Leipzig 1939, S. 8. 35. Vgl. ROSENBERGER, Experten für Humankapital, S. 91-264. 36. LÖW, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, S. 166: »Der Begriff der Anordnung, insbesondere in der von mir gewählten Schreibweise ›(An)Ordnung‹, verweist auf zwei Aspekte gleichzeitig: erstens die Ordnung, die durch Räume geschaffen wird, und zweitens den Prozeß des Anordnens, die Handlungsdimension.« 37. HELLPACH, Sozialpsychologische Analyse des betriebstechnischen Tatbestandes der »Gruppenfabrikation«, hier S. 65f. 38. LOCKE, H.W.: Fundamentals of Personnel Management, London 1943, S. 3. 39. Was ist Gruppenarbeit?, in: Opel-Geist 2, 1931, H. 8, S. 5. Zur »Gemeinschaft« im hier relevanten Kontext vgl. KOTT, Sandrine: Gemeinschaft oder Solidarität? Unterschiedliche Modelle der französischen und deutschen Sozialpolitik am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 311-330; KRELL, Gertraude: Vergemeinschaftende Personalpolitik. Normative Personallehren, Werksgemeinschaft, NS-Betriebsgemeinschaft, betriebliche Partnerschaft, Japan, Unternehmenskultur, München, Mering 1995; MÜCKENBERGER, Ulrich/SUPIOT, Alain: Ordre public social und Gemeinschaft: Zwei Kulturen des Arbeitsrechts, in: Wagner, Peter/Didry, Claude/Zimmermann, Bénédicte (Hg.): Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive, Frankfurt a.M., New York 2000, S. 100-127.
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auf Praktiken der Grenzziehung zwischen betrieblicher und außerbetrieblicher Sphäre. Immer wieder wurde die ›Schädlichkeit‹ überbetrieblicher Regelungen sowie kollektiver, organisierter und institutionalisierter Interessenvertretung gegenüber vergemeinschaftenden Tendenzen und Bestrebungen im Betrieb betont und zum Beispiel vor einer »Überfremdung der Betriebsgemeinschaftsformen durch Tarifvertrag und Gewerkschaft« gewarnt. 40 Im nationalsozialistischen »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit«, dem Arbeits-Ordnungsgesetz vom 20. Januar 1934 fanden die verschiedenen Gemeinschaftsideologeme und die ebenso vielfältigen wie verstreuten Praktiken eine rechtliche Kodifizierung. 41 Kern und Grundlage des Gesetzes war die Idee der Betriebsgemeinschaft, die samt ihren Organisationen an die Stelle der bisherigen Träger der sozial- und arbeitspolitischen Verfassung treten sollte. Das Arbeitsordnungsgesetz ist der prägnante rechtliche Ausdruck eines Bestrebens, die Betriebsgemeinschaft als »konkrete Ordnung« zu realisieren. 42 Der britische community-Begriff war anders konnotiert. Trotzdem präsentierte die britische Betriebssoziologin, Management- und Organisationstheoretikerin Joan Woodward ihren deutschen Kollegen in der Zeitschrift »Soziale Welt« Anfang der 50er Jahre ein Bild industriebetrieblicher Sozialforschung in Großbritannien, das auf jene »Gemeinschaften« abhob, die »aus dem Streben nach einem gemeinsamen Ziel entstehen«. Das »grundlegende Problem« derartiger Gemeinschaften seien die Herstellung und der Fortbestand »harmonischer und schöpferischer menschlicher Beziehungen […], die auf die wirksamste Ausführung einer gemeinsamen Arbeit gerichtet sind«. 43 Ironischerweise war es Helmut Schelsky, der 1954 »übertriebenen« Forderungen nach »Gruppenbildung« im Betrieb entgegentrat. »Wahrscheinlich«, so raunte der soziologische Skeptiker, »werden wir hinter der Romantik der Gruppenbildung sehr bald wieder den Wert und die Bedürfnisse der einzelnen Person auf allen Ebenen des betrieblichen Geschehens entdecken müs-
40. WINSCHUH, Josef: Die psychologischen Grundlagen der Werksarbeitsgemeinschaft, in: Potthoff, Heinz (Hg.): Die sozialen Probleme des Betriebes, Berlin 1925, S. 254-279, hier S. 261f. 41. Vgl. FRESE, Matthias: Betriebspolitik im Dritten Reich. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der Westdeutschen Großindustrie 1933 bis 1939, Paderborn 1991, bes. S. 93-250; MASON, Timothy W.: Zur Entstehung des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934: Ein Versuch über das Verhältnis »archaischer« und »moderner« Momente in der neuesten deutschen Geschichte, in: Mommsen, Hans/Petzina, Dietmar/Weisbrod, Bernd (Hg.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 322-351; SPOHN, Wolfgang: Betriebsgemeinschaft und Volksgemeinschaft. Die rechtliche und institutionelle Regelung der Arbeitsbeziehungen im NS-Staat, Berlin 1987, bes. S. 9-43. 42. Vgl. als zeitgenössischen, problematisierenden Überblick REUSS, Wilhelm/ SIEBERT, Wolfgang: Die konkrete Ordnung des Betriebes, Berlin u.a. 31943. 43. WOODWARD, Joan: Soziale Forschung in der Industrie Großbritanniens, in: Soziale Welt 2, 1950/51, S. 24-36, hier S. 24.
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sen.« 44 Freilich, das war nicht wirklich ein Argument gegen die Bedeutung von Gruppe und Gemeinschaft als sozialer Ordnung. Vielmehr kritisierte Schelsky an der für ihn in dieser Hinsicht exemplarischen amerikanischen Betriebssoziologie den engen Zuschnitt; sehe sie doch vor lauter formellen und informellen Beziehungen im Betrieb die Gesellschaft nicht mehr und könne den deutschen Verhältnissen daher gar nicht gerecht werden. Die von Schelsky behauptete Differenz zwischen der amerikanischen und deutschen Betriebssoziologie erweist sich mithin eher als andere Akzentuierung in der Beantwortung der Frage, wo (nicht: ob) »Gemeinschaft« sich realisiert: »In der deutschen Industrie sind die außerbetrieblichen Gruppenbildungen und tradierten Verhaltenssicherheiten, sei es der Stammeszugehörigkeit, der lokalen, politischen, beruflichen, konfessionellen oder verwandtschaftlichen Zusammengehörigkeiten und Gebilde, viel wirksamer als in dem Völker- und Abstammungsgemisch der amerikanischen Arbeiterschaft. […] So spielen bei uns die rein persönlichen Kontakt- und Gemeinschaftsbeziehungen im Betrieb keineswegs die bedeutsame Rolle der einzigen Sozialbindung, auf die sich die soziale Verhaltenssicherheit auf baut, sondern es gibt auf Grund der stärkeren außerbetrieblichen Bindungssicherheiten eine viel mehr versachlichte […] Einstellung zur Arbeit im Werk.« 45 In den Diskussionen um »Gruppe« und »Gemeinschaft« als sozial-räumliche Ordnungsmodelle finden sich immer wieder Verweise auf den »organischen« Charakter industriebetrieblicher Sozialordnung. Immer wieder zeigt sich die Wirkmächtigkeit einer Semantik des Organischen im Kontext industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und social engineerings. »Properly conceived«, so schrieb H.W. Locke 1943, »the firm is not a mechanical unit but an organic whole in which the parts are functionally grouped and related to one another.« 46 Betriebliche Sozialpolitik zielte explizit auf eine »organische Neuordnung der sozialen Verhältnisse«. 47 Im Sinne »praktischer Werkspolitik«, so Josef Winschuh, sei es notwendig, »sich sowohl den Betrieb als auch die Belegschaft als einen ganz lebendigen, von bestimmten Voraussetzungen und Gestaltungsbedingungen abhängigen, auf äußere Einflüsse und innere Strömungen stets irgendwie reagierenden Organismus vorzustellen. Diese plastische, gleichsam biologische Anschauungsweise, welche die Organismen des Betriebes und der Belegschaft zu einem Dualismus verbindet und stets mit der gegenseitigen Bedingtheit von Belegschaftsverfassung und Betriebswohlfahrt rechnet, ist die zur Grundlage einer praktischen Werkspolitik allein geeignete Anschauungsform.« 48 Die organischen Metaphoriken sowie deren Kopplung an Praktiken ordnender Gruppierung und Vergemeinschaftung lenken die Aufmerksamkeit
44. 45. 46. 47. 48.
SCHELSKY, Aufgaben und Grenzen der Betriebssoziologie, S. 23. Ebd., S. 21. LOCKE, Fundamentals of Personnel Management, S. 8. THALHEIM, Grundfragen der betrieblichen Sozialpolitik, S. 126. WINSCHUH, Josef: Praktische Werkspolitik. Darstellung einer planmäßigen Arbeitspolitik im modernen Industriebetriebe, Berlin 1923, S. 17.
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auf die Ordnungspotentiale der Maschinenmetapher. 49 Die Maschine verwies auf das Verhältnis von »organischer« und »mechanischer« Ordnung. Mit der Maschinenmetapher und ihrer Anwendung auf den Industriebetrieb50 rückte eine Ordnung in den Blick, in der sich einzelne Menschen und Maschinen als Teile zum Ganzen der Maschinen-Ordnung verketteten. Wo der Industriebetrieb zu einer einzigen großen Maschine zu werden drohte, wimmelte es nun auch von Maschinen-Menschen.51 »Die Maschinen«, so schrieb ein anonymer Beobachter 1927 in der »Metallarbeiter-Zeitung«, »werden zu Arbeitern und die Arbeiter werden zu Maschinen. Eine Vielheit von Armen, Beinen: Masse Mensch!«52 Während in den Diskussionen um die Nachbarschaft von Mensch und Maschine Probleme sozial-räumlicher (An-)Ordnung im Mittelpunkt standen, ging es nun darum, der drohenden Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine, dem drohenden Verschwinden des Menschen in der Maschinen-Ordnung und damit dem drohenden Sieg der mechanischen über die organische Ordnung entgegenzutreten. Das hieß zunächst, den Menschen in der betrieblichen Maschinen-Ordnung sichtbar zu machen, denn unmittelbar »augenfällig«53 waren in der industriebetrieblichen Ordnung die Maschinen: »Wenn man über die Entwicklung der Massenproduktion berichtet, ist man notwendiger Weise gezwungen, die Maschine in den Vordergrund der Betrachtung zu stellen […]. Dieses zwangsläufige ›In-den-Vordergrund-schieben‹ eines toten Gegenstandes ist jedoch nicht so aufzufassen, daß man die menschliche Leistung und damit den Menschen schlechthin 49. Vgl. BARUZZI, Arno: Mensch und Maschine. Das Denken sub specie machinae, München 1973; BLUMENBERG, Hans: Organische und mechanische Hintergrundmetaphorik, in: Ders.: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a.M. 1998, S. 91-110; MEYER, Ahlrich: Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 13, 1969, S. 128-199; REMMELE, Bernd: Die Entstehung des Maschinenparadigmas. Technologischer Hintergrund und kategoriale Voraussetzungen, Opladen 2003. Zu Aktualisierungen, aber auch Abgrenzungen der Bezüge auf organische Ordnungen und Maschinenmetaphern im Denken der 70er Jahre vgl. den Beitrag von Sabine Dworog und Silke Mende in diesem Band. 50. Vgl. BIGGS, Lindy: The Rational Factory. Architecture, Technology, and Work in America’s Age of Mass Production, Baltimore 1996; NOBLE, David F.: Forces of Production. A Social History of Industrial Automation, New York, Oxford 1986, bes. S. 79-105; SHENHAV, Yehouda A.: Manufacturing Rationality. The Engineering Foundations of the Managerial Revolution, Oxford u.a. 1999. 51. Vgl. KUMMER, Fritz: Die Maschinenmenschen. Als Verkehrspolizisten, Rechenmeister und Warenverkäufer, in: Metallarbeiter-Zeitung 47, 1929, S. 155; DERS.: Maschinenmenschen für Arbeiter? Maschinen können Waren erzeugen, aber nicht kaufen, in: Metallarbeiter-Zeitung 47, 1929, S. 163; sowie BRAMMÉ, Arno u.a.: MaschinenMenschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse einer sozialen Beziehung, Reinbek 1983. 52. Im Banne der Maschine, in: Metallarbeiter-Zeitung 45, 1927, S. 86. 53. Augenfällig – in der Weise, die Roland Barthes mit Blick auf die Photographie als punctum bezeichnet, als dasjenige, das »durchbricht«, »wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor[schießt], um mich zu durchbohren« (BARTHES, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989, S. 35f.).
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in den Hintergrund rücken möchte.«54 Im »Reiche der Giganten« bedurfte es wiederholter Fingerzeige auf den entschwindenden Menschen. Der »gewaltige Produktionsapparat« sei »ohne die in ihm arbeitenden Menschen ein totes unnützes Gebilde«. Erst der Mensch lasse »diesen Koloß zu sinnvollem Leben erwachen.«55
Das layout betr iebs-sozialer Ordnung Industriebetriebliches Ordnungsdenken und social engineering ist ohne die Idee betriebs-sozialer als räumlicher Ordnung kaum zu denken. Ordnung war Ordnung im Raum: Verortung, Platzierung, Verkettung. Man darf es also durchaus wörtlich nehmen, das heißt die räumlich-plastischen Konnotationen zur Geltung bringen, wenn Betriebs- und Produktionsingenieure vom layout der Produktion sprachen, denn es handelte sich in der Tat um ein Auslegen betriebs-sozialer Ordnung im Raum. Dabei ging es zunächst darum, Ordnung sichtbar zu machen. Wie bedeutsam Praktiken der Sichtbarmachung waren, zeigt sich nicht nur in den Bemühungen, den Menschen wieder in den Vordergrund, vielleicht besser: wieder ins Blickfeld zu rücken und seine Bedeutung gegenüber den ›augenfälligen‹ Maschinen zu betonen. Zu diesem Zweck kamen Repräsentations- und Visualisierungstechniken – Graphiken, schematische Abbildungen, Pläne und Modelle – zum Einsatz, die wesentlich dazu beitrugen, dass Ordnungsdenken und social engineering zu einer relativ kohärenten sozialen und diskursiven Formation wurde. Sie gaben der räumlichen Dimension sozialer Ordnung unmittelbar Gestalt. Größere »Übersichtlichkeit« war ein nicht zu unterschätzendes Argument in den zeitgenössischen Diskussionen verschiedener Formen der Produktionsorganisation. Wenn es zum Beispiel durch eine »engere Umgrenzung des Arbeitsgebietes innerhalb einer Gruppe« gelänge, den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, »dasselbe zu überblicken und geistig zu verarbeiten«, dann bestünde durchaus Hoff nung, einen Verlust der »geistigen Fühlungnahme« und ein Herabsinken zur »stumpfen Maschine« zu verhindern.56 Die immense Bedeutung der Anschaulichkeit, des unmittelbaren Sehens betriebs-sozialer Ordnung für Ordnungsdenken und social engineering wird im Bemühen von Betriebssoziologen und Produktionsingenieuren deutlich, Ordnung zu beschreiben, zu schematisieren, abzubilden und in Modellen zu präsentieren. Darin schwang die Überzeugung mit, dass Ordnung (so sie denn »wirkliche« Ordnung war) zwar sichtbar sei, nicht jeder sie aber unmittelbar sehen könne.57 Willy Hellpachs »dichte Beschreibung« dessen, was 54. Massenproduktion. Einiges über ihre historische Entwicklung, Teil 4, in: Opel-Post 3, 1951, H. 10/11, S. 21. 55. JURISCHKA, Ernst: Im Reiche der Giganten, in: Opel-Post 7, 1955, H. 3, S. 11 (Hervorh. von mir); vgl. auch ROWNTREE, B. Seebohm: The Aims and Principles of Welfare Work, in: Welfare Work 1, 1920, S. 5. 56. L ANG, Richard: Gruppenfabrikation, in: Daimler Werkzeitung 1, 1919, S. 4f. 57. Vgl. auch die Ausführungen von Anette Schlimm in diesem Band zur Heraus-
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er bei Daimler sah, gestaltet sich auch sprachlich dementsprechend: »[Bei der Werksbesichtigung] konzentriert sich der Eindruck durchaus auf den Eintritt und geht aus von der gigantischen Raumqualität und Maschinen- nebst Menschenzahl, dazu von dem brausenden Lärm der Arbeit. In diesen Dingen sammelt sich dem Laien sein Begriff der modernen Fabrik. Wendet er sich nun aber den einzelnen Arbeitsplätzen zu, so überfällt ihn bald, neben dem Staunen über den Grad der maschinellen Leistungsautonomie, eine grenzenlose Verwirrung, geradezu das Gefühl einer Fertigungsanarchie. […] [D]er anfängliche Eindruck der räumlichen Großartigkeit, der imposanten Vielheit und des akustisch Überwältigenden ermattet, und an seine Stelle tritt die Ratlosigkeit gegenüber einem chaotischen Getriebe, dessen Ziel und Sinn geglaubt sein will, ohne begriffen, ohne erschaut werden zu können. […] Danach nun war der Gang durch eine Abteilung, die Herr Lang als Fabrikationsgruppe eingerichtet hatte, für mich die gewinnendste Überraschung, die ich in einer Fabrik jemals erlebt habe. […] Raum, Maschinen- und Menschenzahl, Getöse nicht weniger eindrucksvoll als stets; aber statt des Chaos ein Kosmos der Fertigung! […] Auch wenn ich ein ahnungsloser Neuling gewesen wäre, hätte ich keiner Silbe einer Erklärung bedurft. […] [W]enige Augenblicke hätten genügt, um Anfang und Anschluß des hier sich abspielenden Fertigungsprozesses finden zu lassen. Und kein Abirren wäre möglich. […] [B]esichtige ich dann nicht eine einzelne Gruppe […], sondern sämtliche […], so würde ich dann ein Wirkliches Ganzes […] vor meinen Augen Schritt für Schritt ›werden‹ sehen, […] anschaulich und begreiflich, dank dem organischen Prinzip der Fertigungsordnung, welche diese höchst differenzierte Fabrikation in Gruppen integriert.«58
Abbildung 3: Drei Ordnungen sichtbar gemacht – Willy Hellpach (1922)
bildung und Sichtbarmachung des »Verkehrs« als einer eigenlogischen Meso-Ebene in den Debatten der Verkehrswissenschaft. 58. HELLPACH, Sozialpsychologische Analyse des betriebstechnischen Tatbestandes der »Gruppenfabrikation«, S. 64-66.
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Hellpach schilderte seine Eindrücke, bemüht darum, dem Leser zu einer eigenen Anschauung der Produktionsordnung zu verhelfen. Er unterstützte seine sprachlichen Veranschaulichungen mit dem Versuch schematischer ›Abbildung‹ verschiedener Produktionsordnungen (Abb. 3) und deren Kommentierung: Erstens sei da die Werkstatt, in der das Erzeugnis linear von Hand zu Hand, von einem Fertigungsstadium zum nächsten gehe. »Schon für den unbeteiligten Zuschauer ist das ›Bild‹ solcher Werkstatt vielfarbig, höchst organisch«.59 Zweitens sei da der Fabriksaal, in dem »Arbeiter neben Arbeiter« stehe. Verbindung und »Ergänzung« bestehe hier nur zwischen Fabriksaal und Fabriksaal. Drittens sei da schließlich die Gruppenfabrikation, bei der man das Erzeugnis wachsen und »wandern« sehe, es auf seinem »Werdegang« begleiten könne.60
Abbildung 4: Frank Woollards »blow of the eye« (1954)
Sichtbarkeitseffekte dienten auch der Effizienzsteigerung der Produktion selbst. Frank Woollard, der langjährige Produktionsingenieur von Austin, schrieb 1954, dass die Verantwortung, zum Beispiel bei der Einführung neuer Produkte, zunächst bei demjenigen liege, der das Projekt als Ganzes visualisieren könne.61 Die Vorteile der neuen flow line production herausstellend, betonte er die gesteigerte Sichtbarkeit von Problemen: »Owing to the essential simplicity of the system there is a high visibility on material shortages, on the balance of manpower, on the balance of plant and on the suitability, or otherwise, of the fi xtures, jigs, tools and gauges.«62 Nicht zuletzt böten Modelle alle benötigten Informationen auf einen Schlag und riefen im Wortsinn »a blow 59. Ebd., S. 23. 60. Ebd., S. 65. 61. Vgl. WOOLLARD, Frank G.: The Principles of Mass and Flow Production, London
1954, S. 57. 62. Ebd., S. 50-52.
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of the eye«63 hervor (Abb. 4). Die Komplexität industrieller Produktion ließ sich auf einige wenige, klare Prinzipien reduzieren, aus deren Anwendung sich alles andere ergebe. Die postulierte Klarheit und Übersichtlichkeit in der Produktion ließen sich ohne weiteres abbilden (Abb. 5). Mehr noch: In schematischen Abbildungen ließen sich Unklarheiten und Unübersichtlichkeiten beheben und die Prinzipien der Produktion in Reinform sichtbar machen, selbst wenn man etwa eine Formulierung wie straight-line flow mit Blick auf die konkrete Produktion nicht zu wörtlich nehmen dürfe: »The shape of the factory may not permit long machine lines or assembly tracks, and it may be necessary for them to go round corners, to double back, on themselves in U formation or to go up and down or across the shop several times«64 (Abb. 6).
Abbildung 5: Geradeaus und im Kreis herum – Frank Woollards »fließende Ordnung« (1954)
Das layout der Produktion im Raum – nicht nur im schematisierten, im modellierten, im stilisierten Raum – realisierte sich auch in einer anders gearteten Aufmerksamkeit für die Produktionsgebäude. Paradigmatisch vorexerziert wurde das bei Ford. Das Werk »Highland Park« (1910) wurde ausgehend von den geplanten Produktionsabläufen entworfen und realisiert. Architektonische und räumliche Gestaltung wurden der Idee der flow production untergeordnet; sie sollten dem »natürlichen Produktionsgang« folgen und ein durch die Produktionserfordernisse strukturiertes, organisches Ganzes materiell-architektonisch verkörpern. Diese Entwicklung ging einher mit der Ingenieursutopie der Fabrik als einer einzigen perfekten Maschine.65 Ordnung wurde zu einer konkreten sozial-räumlichen Verkettung. Der Betrieb wurde zu einer umfassend konzipierten »Umwelt«: »Jeder, der in den Betrieb als Mitarbeiter eintritt, kommt also in eine Umwelt ganz besonderer Art; in Verhältnisse, die nur durch das geordnete Zusammenstehen Aller verwirk63. Ebd., S. 102f. 64. Ebd., S. 77. 65. Vgl. BIGGS, The Rational Factory, bes. S. 95-160.
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licht gedacht werden können.«66 Die Problematisierung des Raums als Ordnungsfaktor führte zu einer Bearbeitung der industriebetrieblichen Umwelt oder, um präziser zu sein: des Industriebetriebs als Umwelt. Die Frage, wie sich soziale Beziehungen im Betrieb gestalteten, wie man gestaltend auf sie einwirken, wie man sie ordnen konnte, ließ sich über die Idee sozial-räumlicher Umwelt in Angriff nehmen. Erinnert sei an Seebohm Rowntrees Bestimmung von welfare work als »provision of an environment which will enable everyone to be and to do his best« und der Fabrik als »material environment of the men«.67 Zugleich ermöglichte die environmentalistische Perspektive auf den Einzelnen in seiner Umwelt. »Jeder Betriebsangehörige muß sich anpassen an die soziale Umgebung, an das Milieu des Betriebes, an die sozialen Richtmaße, an die sozialen Standards des Betriebes.«68
Abbildung 6: Straight line production – »not too literally« (Frank Woollard, 1954)
Exper ten bestürmen den Betr ieb Um den Industriebetrieb angesichts einer bedrohlich in ihn hineinwirkenden Gesellschaft zu ordnen und zu stabilisieren, um dadurch wiederum Probleme der Gesellschaftsordnung in den Griff zu bekommen, musste man wissen, was sich auf der Ebene individueller und lokaler Arbeitsvollzüge abspielte. Die Transformation des Produktionssystems im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde zum Ausgangspunkt einer neuen Diskursivierung industriebetrieblicher Arbeitsverhältnisse. Dem Betrieb und allen an ihm 66. FISCHER, Ludwig: Der Betrieb als geistige Gemeinschaft, in: Potthoff, Heinz (Hg.): Die sozialen Probleme des Betriebes, Berlin 1925, S. 300-309, hier S. 302. 67. B. Seebohm Rowntree, zit.n. BRIGGS, Social Thought and Social Action, S. 128-133; vgl. auch MEAKIN, Budgett: Model Factories and Villages. Ideal Conditions of Labour and Housing, London 1905, S. 67-118. 68. LECHTAPE, Heinrich: Soziale Probleme im industriellen Betrieb, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 8, 1929, S. 293-301, hier S. 297.
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Beteiligten wurde mehr und mehr eine reflexive Haltung abverlangt. »Abspaltungen, die aus diesen Problemen der Selbstreferenz resultierten, waren die Aufgaben einer betrieblichen Qualifi kations-, Sozial- und Personalentwicklungspolitik, der Technologie- und Forschungspolitik und der Organisationspolitik. In allen betrieblichen Politikdimensionen wurde ›soziologisches‹ Wissen relevant, da die systematische und dynamische Veränderung der arbeitsbedingten Interaktionsprozesse stets auf Verhaltensdispositionen stieß, die in der Lage waren, die Impulse zunichte zu machen.«69 Ansatzpunkte und Notwendigkeiten einer Verwissenschaftlichung industriebetrieblicher Arbeits- und Sozialbeziehungen boten sich in unterschiedlicher Weise. Ein identifizierbares und kohärentes Betätigungsfeld für Humanexperten existierte noch nicht, und innerbetriebliche Verwissenschaftlichungsprozesse vollzogen sich nahezu ausschließlich über technisch orientierte Rationalisierungsexperten.70 Wohl aber begann die Industrie- und Betriebssoziologie einen neuen Modus der Problematisierung industriebetrieblicher Arbeits- und Sozialverhältnisse zu entwickeln, dessen Ausformulierung Impulse aus Praktikerkreisen im Umfeld der Gewerkschaften, den sozialpolitischen Abteilungen industrieller Großunternehmen sowie der betrieblichen Personalarbeit bezog.71 Gleichzeitig brachte die Problematisierung des Industriebetriebs als Maschine den Typus des industrial engineers sowie eine Ausweitung und Neudefi nition seines Aufgaben- und Tätigkeitsfelds (vom engineering of material zum engineering of men, von der Produktionszur Sozialtechnik) hervor.72 Das Ordnungsmodell der Maschine sowie die Rolle des Ingenieurs wurden soziologisch, psychologisch und physiologisch umcodiert. Im Zuge dieser Entwicklung wurde »eine Umkehr von der rein technischen Auffassung des Betriebes zu einer Anerkennung der physiologischen und psychologischen Probleme, die darin verflochten sind«, gefordert, um die »Alleinherrschaft des Technikers im Betriebe […] durch die Heranziehung des Physiologen, des Psychologen und des Gewerbearztes« zu brechen.73 Da der Betrieb »ein mit geistigen Kräften begabtes Lebewesen, und 69. SCHUSTER, Helmuth: Industrie und Sozialwissenschaften. Eine Praxisgeschichte der Arbeits- und Industrieforschung, Opladen 1987, S. 273. 70. Vgl. ROSENBERGER, Experten für Humankapital. 71. Vgl. HINRICHS, Peter: Um die Seele des Arbeiters. Arbeitspsychologie, Industrie- und Betriebssoziologie in Deutschland, Köln 1981; MILLER, S.M.: The Rise of Industrial Sociology, in: Sociology and Social Research 36, 1951, S. 90-96; RUMMLER, Hans-Michael: Die Entstehungsgeschichte der Betriebssoziologie in Deutschland. Eine wissenschaftshistorische Studie, Frankfurt a.M. u.a. 1984; SCHUSTER, Industrie und Sozialwissenschaften; WALTER-BUSCH, Emil: Faktor Mensch. Formen angewandter Sozialforschung der Wirtschaft in Europa und den USA 1890-1950, Konstanz 2006. 72. Vgl. BIGGS, The Rational Factory, bes. S. 36-75, 137-160; aber auch MAIER, Charles S.: Between Taylorism and Technocracy. European Ideologies and the Vision of Industrial Productivity in the 1920s, in: Journal of Contemporary History 5, 1970, H. 2, S. 27-61. 73. DÜNNEBACKE, Adolf: Rationalisierungspraxis in der Großindustrie, in: Betriebsräte-Zeitschrift 7, 1926, S. 507.
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alle in den Betrieb irgendwie Verflochtenen […] mehr oder weniger lebenswichtige Organe dieses Lebewesens« seien, sollte man eben auch »keinen ›Doktor Eisenbart‹ daran herum’doktern‹ lassen.« 74 Wenn hier am Ende der Verweis auf betriebliche Experten steht, so soll nicht suggeriert werden, dass Ordnungsdenken und social engineering in Verwissenschaftlichungsprozessen und Expertenkulturen aufgeht. Die hier verfolgte Perspektive hebt eher darauf ab, Ordnungsdenken und social engineering als Effekt eines heterogenen Ensembles von Akteuren, Praktiken und Diskursen zu beschreiben. Es geht um die Herausarbeitung und Analyse punktueller Konvergenzen, temporärer und lokaler Allianzen, um die Herausarbeitung und Analyse von Resonanzen, Überlagerungen und Verdichtungen einer Vielzahl von ideengeschichtlichen Kontexten, Metaphern, Topoi, Diskursfragmenten und Diskursen. Es geht um die Identifizierung eines umfassenden Problematisierungsmodus des Industriebetriebs in der Moderne, der am besten als sozialökologischer Industrialismus beschrieben werden kann.75
74. FISCHER, Ludwig: Der Betrieb als geistige Gemeinschaft, in: Potthoff, Heinz (Hg.): Die sozialen Probleme des Betriebes, Berlin 1925, S. 300-309, hier S. 309. 75. Ausführlich werde ich diesen Problematisierungsmodus industriebetrieblicher Arbeits- und Sozialverhältnisse in meiner Dissertation zur Ordnung des Industrieraums in Deutschland und Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysieren.
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Eine Moderne nach »menschlichem Maß« Ordnungsdenken und soc ial engineer ing in Architek tur und St adt pl anun g – D eut schl and und S chweden, 1920 er bis 1950 er Jahre David Kuchenbuch 1953 bringt der Verkehrswissenschaftler Kurt Leibbrand in einem Aufsatz in der Zeitschrift »Die Neue Stadt« nahezu neidvoll seinen Respekt vor der Arbeitsweise von Architekten im Wohnungsbau zum Ausdruck. Diesen falle es leicht, »Maßstäbe zu definieren«, denn man kenne die Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten künftiger Bewohner. Anders gehe es den Verkehrsplanern, die »selbst den richtigen Maßstab zu wählen« hätten. Leibbrand kritisiert die »maßlosen«, d.h. flächenraubenden, langfristig unökonomischen Verkehrslösungen im deutschen Wiederauf bau. Er fordert, den »Nur-Ingenieuren« müssten volkswirtschaftlich geschulte Experten zu Seite treten. Er sieht die »innerbetrieblichen Transportbedingungen« als Vorbild und illustriert seinen Text mit dem Plan eines Stockholmer Platzes als Beispiel gelungener Verkehrsführung.1 An diesem kurzen Text lassen sich mehrere wichtige Aspekte von Ordnungsdenken und social engineering ausmachen.2 Da ist erstens die interdiskursive Bezugnahme von Experten verschiedener Disziplinen aufeinander. Hier lobt ein Verkehrswissenschafter in einer überwiegend von Architekten gelesenen Zeitschrift die Wirtschaftlichkeit geordneter Fließvorgänge im Fabrikationsprozess. Zweitens ist der Text Produkt einer transnationalen Vernetzung. Das Beispiel des Stockholmer Stureplan symbolisiert die internationale 1. LEIBBRAND, Karl [d.i. Kurt]: Der Maßstab der Verkehrsplanung, in: Die Neue Stadt 7, 1953, S. 258-263, hier S. 258f. 2. Zur Definition und historischen Kontextualisierung von Ordnungsdenken und social engineering, auch dem etwas sperrigen Gebrauch des Singulars, sei auf die Einleitung Thomas Etzemüllers verwiesen. Für ihren pointierten Kommentar zur Vortragsfassung dieses Textes möchte ich Adelheid von Saldern herzlich danken. – Alle Übersetzungen aus dem Schwedischen stammen von mir.
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Übertragbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse. Drittens wird ein Imperativ zur Verwissenschaftlichung formuliert. Leibbrand lobt die empirische Erfassung von Bedürfnissen für die Festlegung von Wohnungsbaunormen. Vor allem aber: Ziel ist eine Leistungssteigerung, die der Gesellschaft als Ganzer zu Gute kommen soll. Das lenkt den Blick auf die Interdependenz von Größenverhältnissen in der Verkehrsplanung: »Jeder Verkehrsweg«, so Leibbrand, »leistet soviel wie sein engster Schnitt«.3 Leibbrand parallelisiert die Aufgabe der Verkehrswissenschaften mit der Festlegung gesellschaftsdienlicher, am Menschen orientierter Maßstäbe in Wohnungsbau und Stadtplanung. Um solche Maßstäbe, deren Anwendung sich manchem Architekten dieser Zeit als nahezu »unmögliche Rechenaufgabe« darstellte, 4 geht es im Folgenden. Analysiert wird insbesondere die Rede vom menschlichen Maßstab.5 Die Verbreitung dieser Formulierung im Architekturdiskurs verweist, so die These, auf transnationale Deutungsmuster und Handlungsdispositionen, die als Ordnungsdenken und social engineering beschrieben werden können. Im Vordergrund stehen hier deshalb nicht Architektur und Städtebau im Sinne der materiell überlieferten, begeh- und beschreibbaren Produkte von Entwurfsprozess und Bauvorgang. Vielmehr steht die Rede vom menschlichen Maßstab als diskursives Ereignis im Mittelpunkt. Sie wird anhand von Texten, und zwar Texten zweier repräsentativer Äußerungskonstellationen nachgezeichnet. Es sind dies für Deutschland das Umfeld des Architekten Konstanty Gutschow, der so genannten »Gutschisten« um sein Hamburger Büro, sowie sein »erweiterter Mitarbeiterkreis«, dem ein großer Teil der deutschen Planerelite der 1940er und 50er Jahre angehörte.6 Für den schwedischen Fall stehen Protagonisten, die sich um den Architekten und Stadtplaner Uno Åhrén gruppierten. Diese Gruppen werden als Repräsentanten vergleichbarer, jedoch regional differenter Expertenkulturen betrachtet. Der schwedisch-deutsche Vergleich soll zeigen, dass sich ähnliche Varianten von Ordnungsdenken und social engineering im 20. Jahrhundert in zeitweise sehr unterschiedlichen politischen Kontexten nachweisen lassen.7 Zunächst soll die Beschäftigung mit Maßstäben im Kontext der Verwis3. LEIBBRAND, Der Maßstab der Verkehrsplanung, S. 261. 4. GUTSCHOW, Konstanty: Volkswohnung – Familienwohnung, in: Gesundes Woh-
nen – Gesundes Volk. Festschrift, herausgegeben zum 50jährigen Bestehen des »Hamburger Wohnungs-Anzeigers«, Hamburg 1939, S. 21-22, hier S. 21. 5. Zur Rezeptionsgeschichte des protagoräischen Homo-mensura-Satzes vgl. NEUMAIER, Otto (Hg.): Ist der Mensch das Maß aller Dinge? Beiträge zur Aktualität des Protagoras, Möhnsee 2004. 6. Hinzu kommen Äußerungen von Protagonisten wie Johannes Göderitz, Roland Rainer, Josef Umlauf und Alfons Leitl, die mit dieser Akteursgruppe in loser Verbindung standen, etwa durch Briefwechsel oder Einladungen zu Vorträgen. 7. Ausführlicher dazu demnächst meine Dissertation: »Die Ordnung des Wohnraums. Ordnungdenken und social engineering in Architektur und Stadtplanung, Deutschland und Schweden 1920er bis 1950er Jahre« (Arbeitstitel). Zu Ordnungsimperativen in der Architektur der Moderne allgemein: STÖBE, Sylvia: Chaos und Ordnung in der modernen Architektur, Potsdam 1999; MAKROPOULOS, Michael: Modernität
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senschaftlichung der Wohnarchitektur in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verortet werden. In einem zweiten Schritt werden Ursachen und Implikationen der ab Mitte der 1930er Jahre zunehmend Resonanz erzeugenden Forderung nach einer »Humanisierung« der Architektur beleuchtet. Diese Forderung implizierte in Schweden und Deutschland nicht etwa eine Zurückweisung verwissenschaftlichter Planungspraktiken, sondern mündete in der Erhebung von Maßen und in Gestaltungsanweisungen. Nur wurden diese Maßstäbe, wie Abschnitt drei zeigen soll, nun als »menschliche« apostrophiert und an vermeintlich empirisch beobachteten sozialen Gruppenbildungsprozessen orientiert. Viertens wird dargestellt, dass solche Skalierungspraktiken transnational verhandelt wurden. Zuletzt werden die Ergebnisse auf ihre Relevanz für die Charakterisierung von Ordnungsdenken und social engineering in der Moderne hin betrachtet.
1. Minimalmaße In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurden in Schweden und Deutschland vermehrt Normen, Standards und Richtwerte für den Wohnungsbau aufgestellt. Diese »Taylorisierung der Entwurfsarbeit« wurde unter Architekten kontrovers diskutiert, da sie den autonomen Künstler bedrohte und zur Enträtselung des Berufs beitrug.8 Sie führte aber auch eine Art gemeinsame Sprache ein und ermöglichte damit einen Prozess der transnationalen Institutionalisierungen und Transfers.9 Architekten hoff ten, nach dem Vorbild der betrieblichen Rationalisierung mittels der Organisation des Wohnbereichs die »Gesamtarbeitsleistung [des] Volkes« 10 und die energetische »Kraftbilanz« der Gesellschaft insgesamt optimieren zu können.11 Sie unternahmen darum Anstrengungen, ihr Wissen um soziale Problemlagen und wissenschaftliche und Kontingenz, München 1997, bes. S. 83-97; vgl. auch BAUMAN, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 48, 54. 8. Vgl. WECKHERLIN, Gernot: B.au E.ntwurfs L.ehre. Zur Systematisierung des architektonischen Wissens, in: Prigge, Walter (Hg.): Ernst Neufert. Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert, Dessau, Frankfurt a.M. 1999, S. 57-87, hier S. 83ff. Zur Taylorismusbegeisterung von Architekten vgl. GUILLÉN, Mauro F.: The Taylorized Beauty of the Mechanical. Scientific Management and the Rise of Modernist Architecture, Princeton 2006. 9. Vgl. vor allem ALBERS, Gerd: Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa. Begegnungen, Einflüsse, Verflechtungen, Braunschweig, Wiesbaden 1997. Wichtiges Beispiel sind die Internationalen Kongresse für neues Bauen (CIAM); vgl. KOHLRAUSCH, Martin: Die CIAM und die Internationalisierung der Architektur. Das Beispiel Polen, in: Themenportal Europäische Geschichte 2007 (URL: [Zugriff: 27.10.2008]). 10. Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen e.V.: Die Küche der Klein- und Mittelwohnung, Berlin 1928, S. 11. 11. WAGNER, Martin: Städtebau als Wirtschaftsbau und Lebensbau, in: Das neue Frankfurt 6, 1932, S. 350-366, hier S. 365.
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Lösungsmethoden zu erweitern und vergleichbar zu machen. Dies resultierte zum Beispiel in Verfahren der graphischen Vermittlung planungsrelevanten Datenmaterials, in der Vereinheitlichung der genutzten Begriffe oder auch in Versuchen, die »Brauchbarkeit eines Grundrisses bereits vor der Ausführung« zu messen.12 Gutschows Buchprojekt »Bauzahlen« etwa sollte »Zahlen und Maße, die Tabellen und Formeln des Bauwesens« sammeln, um »einen Schritt zur Rationalisierung der Architektenarbeit« zu machen, 13 aber auch »Leerlauf und Arbeitsverschwendung« seitens der Nutzer zu verringern.14 Åhrén und andere schwedische Architekten trieben vor allem im Vorfeld der Kunstgewerbe- und Architekturausstellung Stockholmsutställningen, die häufig als Durchbruch der architektonischen, aber auch der wohlfahrtspolitischen Modernisierung des Landes betrachtet wird, die empirische Erfassung der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung voran.15 Architekten der 1920er Jahre suchten also intensiv nach einem »Maßstab für die Bemessung des Minimal-Raumes«,16 um die Produktionskosten der »Wohnung für das Existenzminimum« zu verringern und ihre Effizienz zu erhöhen. Zur Steigerung der »Ökonomie des Lebens« (Michel Foucault) wurden Wirtschaftlichkeit, Gesunderhaltung und Leistungssteigerung im Wohnbereich wissenschaftlich verhandelt und in funktional differenzierten, bewegungsökonomisch optimierten Wohnungsgrundrissen umgesetzt. Deren Maße gründeten auf der »utopischen Antizipation eines in einer durchindustria12. KLEIN, Alexander: Versuch eines graphischen Verfahrens zur Bewertung von Kleinwohnungsgrundrissen, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau 11, 1926, S. 296-298, hier S. 296. Zu Verwissenschaftlichungsprozessen in der schwedischen Architektur: WALLÉN, Göran: The Scientification of Architecture, in: Böhme, Gernot/Stehr, Nico (Hg.): The Knowledge Society: The Growing Impact of Scientific Knowledge on Social Relations, Dordrecht u.a. 1986, S. 161-182; SANDSTRÖM, Ulf: Arkitektur och social ingenjörskonst. Studier i svensk arkitektur- och bostadsforskning, Linköping 1989. Åhrén gehörte zu den Pionieren der Verwissenschaftlichung des Bauwesens in Schweden; vgl. RUDBERG, Eva: Uno Åhrén. En föregångsman inom 1900-talets arkitektur och samhällsplanering, Stockholm 1981. 13. Erhellend ist der Briefwechsel zwischen dem Verleger Julius Hoffmann und Gutschow zum Buchprojekt: »Ich konnte mir weder unter ›Grundmaße‹ noch gar unter ›entwickelte Maße‹ etwas vorstellen. Geht es mit ›natürliche Maße‹ oder ›abgeleitete Maße‹ oder ›Maße aus der Natur‹ oder ›Maße aus dem Gebrauchszweck‹ oder ›Gebrauchsmaße‹?« Hoffmann an Gutschow, 29.10.1932 (Staatsarchiv Hamburg, 6212/11 Bauarchiv Konstanty Gutschow, AV 4/2). Das Gleiten der Gutschow’schen »Maßbezeichnungen« zwischen Natur und Gebrauch wäre eine längere Analyse wert. 14. GUTSCHOW, Konstanty: Bauzahlen. Leitgedanke, 1933 (Staatsarchiv Hamburg, 621-2/11 Bauarchiv Konstanty Gutschow, AV 4/3). 15. Vgl. zur Stockholmsutställningen KÜSTER-SCHNEIDER, Christiane: Schaufenster Zukunft. Die Stockholmausstellung 1930 als literarisches und gesellschaftliches Ereignis, Freiburg 2002; RUDBERG, Eva: The Stockholm Exhibition 1930. Modernism’s Breakthrough in Swedish Architecture, Stockholm 1999. 16. NEISSER, Max: Hygienische Betrachtungen über die Wohnraumgrösse in kleinsten Wohnungen, in: Das neue Frankfurt 3, 1929, S. 218-221, hier S. 219.
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lisierten Welt massenhaft auftretenden Menschen, dessen Individualität sich erst auf der Grundlage standardisierter Befriedigungspotentiale für Grundbedürfnisse entfalten [konnte]«.17 Deutsche wie schwedische Architekten verordneten ausgehend von »biologischen«, oft physiologisch und anthropometrisch definierten Minima eine »Ration Wohnung«;18 eine Ration, die bereits zeitgenössisch als zu knapp bemessene »Wohndiät« kritisiert wurde.19 (Abb. 7, 8)
2. Humanisierungen Ab Mitte der 1930er Jahre riefen Architekten zunehmend zur Humanisierung der als lebensfern, mechanisch oder abstrakt empfundenen Minimalmaße im Wohnungsbau auf. Zudem wurde die einseitige Ausbildung von Architekten zu Experten ohne Wissen über »menschliche Faktoren« kritisiert und eine Vermittlung zwischen technischem Wissen und »humanistischen Idealen« propagiert.20 Während ein schwedischer Planer noch 1930 gegen die Repräsentationsarchitektur polemisierte, Stadtplanung sei eigentlich ein »rein mathematisches Problem«,21 mehrten sich bald Forderungen, den Funktionalismus an die soziale Wirklichkeit rückzubinden, nicht bei der »rechnerischen Bedarfsermittlung, bei der materiellen Funktion« stehenzubleiben, die sich »in Mark und Pfennig, in Metern und Zentimetern ausdrücken läßt. Die Leistung muß weitergehen, dem ganzen Menschen gerecht werden, auch dem Gefühl, auch dem richtig eingeordneten Schönheitssinn.« Eine »organische Gesamtschau« des Bedarfs, der Wirtschaftlichkeit und der »sozialen Ordnung des Volkes« müsse angestrebt werden.22
17. MÜLLER, Michael/DRÖGE, Franz: Avantgarde und die Politisierung der Kunst, in: Prigge, Walter (Hg.): Bauhaus, Brasilia, Auschwitz, Hiroshima: Weltkulturerbe des 20. Jahrhunderts. Modernität und Barbarei, Berlin 2003, S. 71-78, hier S. 76. 18. MAY, Ernst: Die Wohnung für das Existenzminimum, in: Hirdina, Heinz (Hg.): Neues Bauen Neues Gestalten. Das Neue Frankfurt/die neue stadt. Eine Zeitschrift zwischen 1926 und 1933, Berlin 1984 (urspr. 1929), S. 222-225, hier S. 223. 19. Vgl. KUHN, Gerd: Standard- oder Individualwohnung? Zur Wohndiät und Choreografie des Wohnalltags in den zwanziger Jahren, in: Arch+ 158, 2001, S. 66-71, hier S. 70. Zum auch ästhetisch auf »Diät« gesetzten Neuen Bauen vgl. COLOMINA, Beatriz: Krankheit als Metapher in der modernen Architektur, in: Daidalos 64, 1997, S. 60-71. 20. REINIUS, Leif: Uppfostran till människa, in: Byggmästaren 24, 1945, S. 1-2. 21. SUNDBÄRG, Gunnar: Något om moderna principier för planering av bostadsområden, in: Katalog över bostadsavdelningen. Stockholmsutställningen 1930, Stockholm 1930, S. 35-41, hier S. 37. 22. LEITL, Alfons: Von der Architektur zum Bauen, Berlin 1936, S. 47. Leitl präsentiert übrigens als gelungene Beispiele ein Foto der »guten städtebaulichen Ordnung« des Stockholmer Wohngebiets »Kvarnholmen« und eine Skizze Gutschows für eine Reihenhaussiedlung.
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Abbildungen 7 und 8: Abmessungen des menschlichen Körpers für die »Rationalisierung der Architektenarbeit«
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Derartige Mahnungen erhöhten die Aufmerksamkeit für die Wohnumgebung, das »Milieu« oder »Habitat«, die Raumdimension des Sozialen also und damit den Städtebau. Der Fokus vieler Planer verlagerte sich von der Effizienzsteigerung bei der Versorgung mit Wohnraum auf die soziale Ordnung, auf den »ganzen Menschen« – also den Menschen in seiner sozialen Umwelt. Architekten adaptierten zunehmend soziologische Beschreibungsmuster und Krisendiagnosen, sie problematisierten den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft als Frage der Raumorganisation. Allerorten wurde der »unmenschliche« oder auch »unorganische« »Schematismus« des Funktionalismus bemängelt und die Entwicklung einer Art sozialökologischen Kompetenz seitens der Planer eingefordert.23 In Schweden wurde vor allem die »Ödnis« der Zeilenbebauung kritisiert, einer Bebauungsform, die bis dahin im Wohnungsbau für die sogenannte »kinderreiche, materiell minderbemittelte« Bevölkerung als vermeintlich besonders hygienische Bauweise häufig zur Anwendung gekommen war.24 Architekten propagierten nun eine Rückkehr zur »Raumbildung«, also zu Hofsituationen und Variantenreichtum in der Anordnung von Baukörpern. Dafür argumentierten sie mit einer bezeichnenden Engführung von Baumasse und Menschenmasse: Die aus den Erfordernissen des Wohnungsgrundrisses abgeleitete Zeilenbauweise mit ihrem sich seriell ins Endlose verlängernden Raumcharakter25 sei nämlich »atomisiert und zersplittert, jedes Gebäude existiert ohne Rücksicht oder Zusammenwirken mit dem Nachbarn für sich.«26 Solchen Behauptungen lag ein Auf lösungsszenario zu Grunde, das deutsche wie schwedische Stimmen als gleichermaßen architektonischen wie sozialen Maßstabsverlust beschrieben: Die »Anonymität« und »gefährliche Skala« der modernen Stadt, 27 die »großstädtische Massen23. Vgl. etwa die Ausführungen Gregor Paulssons, der als Schritt zur Berücksichtigung des »menschlichen Faktors« das Studium der »Wissenschaft vom Verhältnis zwischen dem Lebewesen und seiner Umgebung, genannt Ökologie« empfahl: PAULSSON, Gregor: Byggnaden och människan, in: Byggmästaren 20, 1941, S. 31-42, hier S. 42. 24. Anfang der 1940er Jahre leitete diese Kritik verbunden mit dem kriegsbedingten Baustoffmangel in Schweden auch eine Rückwendung zu traditionellen Baumethoden und Stilformen ein, zum international beachteten »Neorealismus«, der als Parallele des deutschen Heimatstils betrachtet worden ist; vgl. FRAMPTON, Kenneth: Stockholm 1930. Asplund and the Legacy of funkis, in: Caldenby, Claes/Hultin, Olof (Hg.): Asplund, Stockholm 1985, S. 35-39. 25. Vgl. PETEREK, Michael: Wohnung. Siedlung. Stadt. Paradigmen der Moderne 1910-1950, Berlin 2000. 26. AHRBOM, Nils: Diskussion om bostadsmiljön, in: Byggmästaren 27, 1948, S. 70-80, hier S. 74. Bemerkenswert ist die zeitgenössische Kritik, hier werde eine Grenze zwischen »dem Menschlichen und dem Allzumenschlichen« überschritten: JOHANSSON, Gotthard: Mälardrottningen byter kläder, in: Byggmästaren 27, 1948, S. 387-407, hier S. 407. 27. MYRDAL, Alva: Gransämjan återupplevas, in: Vi 15, 1943, S. 29-30, hier S. 29.
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anhäufung«, 28 aber auch die unüberschaubare Baumasse der »maßstabslos gewordene[n] Stadt« führe zur Zersetzung wichtiger sozialer Gemeinschaften. 29 Dieser entmenschlichenden »Vermassung« gelte es entgegenzuwirken, schrieb Åhrén 1942. Und zwar durch Veränderung des »äußeren Milieus«. Die Sozialpsychologie etwa lehre, dass die Eingrenzung von Wohnbereichen wieder eine »Ganzheit höherer Ordnung« entstehen lassen werde. Insbesondere die »elementarste Gruppe, die Familie« könne so unterstützt werden.30 Die »wichtigste Aufgabe des Städtebauers«, so mahnte auch Gregor Paulsson 1941, sei es, »jegliche Massenbildungen durch und innerhalb von Siedlungen zu vermeiden und stattdessen Gruppenbildungen zu fördern.« 31 (Abb. 9).
Abbildung 9: Uno Åhrén illustriert die Intensität der Gruppenbildung im umgrenzten Wohnbereich (Fig. 1) und in der Großstadt (Fig. 2): Hier wird ein sozialer Tatbestand graphisch als Raumproblem interpretiert.
Schwedische und deutsche Architekten diagnostizierten also eine soziale »Krisis der Stadt«, wie es der Bremer Planer Wilhelm Wortmann 1941 formulierte, bzw. eine »Vertrauenskrise der Großstadt«, wie es im Stockholmer Generalplan von 1952 hieß.32 Zur Überwindung dieser Krise wurden Maßstabsanpassungen eingefordert. Schwedische Planer waren sich darüber einig, dass, wo 28. GÖDERITZ, Johannes/R AINER, Roland/HOFFMANN, Hubert: Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957, S. 22. 29. REICHERT-FACILIDES, Otto Ernst: Nachbarschaften machen keine Stadt, in: Baukunst und Werkform 9, 1956, S. 522f., hier S. 522. 30. ÅHRÉN, Uno: Demokratisk kulturkritik, in: Dagens Nyheter, 27.3.1943; DERS.: Människorna och städerna, in: Byggmästaren 21, 1942, S. 265-267, hier S. 266. 31. PAULSSON, Byggnaden och människan, S. 42. 32. WORTMANN, Wilhelm: Der Gedanke der Stadtlandschaft, in: Raumforschung und Raumordnung 5, 1941, S. 15-17, hier S. 16; Stockholms stads stadsplanekontor: Generalplan för Stockholm 1952. A general plan for Stockholm 1952, Stockholm 1952, S. 113.
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der Mensch zur »bloßen Nummer in großen, unorganischen Zusammenhängen« degradiert werde, »die menschliche Skala verloren gegangen ist, […] die sozialen Relationen nicht mehr konkret und lebendig sind, sondern abstrakt und gleichgültig«.33 Gutschows Mitarbeiterkreis widmete eine ganze Arbeitsbesprechung dem Thema »Mensch als Maß aller Dinge«.34 Die Berücksichtigung der menschlichen Skala wurde durchaus als (Teil-) Revision des Neuen Bauens gekennzeichnet – zumal im Kontext der nationalsozialistischen Kunstpolitik.35 Allerdings lehnten die Planer in Deutschland und Schweden nicht die Verwissenschaftlichungstendenz, die Erhebung und Anwendung von Maßen als solche ab. Vielmehr untermauerten sie durch die Bezugnahme auf den menschlichen Maßstab die Geltung ihrer Expertise für die Herstellung einer geordneten, einer sozial »heilen Moderne«.36 Die Sozialbeziehungen selbst wurden Gegenstand der rationalen Raumgestaltung – und diese Erweiterung der Zugriffsrechte wurde als Humanisierung der eigenen Praxis beschrieben. In Deutschland wurde dieses Vorhaben nach 1933 bei weitgehender Beibehaltung bereits etablierter Wohnungsgrundrisse und Siedlungsstrukturen rassenpolitisch unterfüttert und an den Volksgemeinschaftsgedanken angepasst.37 Zudem waren Anschlüsse an die agrarromantische Siedlungsprogrammatik des Nationalsozialismus sowie an die NS-Expansionsideologie 33. ÅHRÉN, Demokratisk kulturkritik. 34. Vgl. Nachrichten für unsere Kameraden im Felde 26, 1944 (Staatsarchiv
Hamburg, 322-3 Architekt Gutschow, A 36 b). 35. Zur Politisierung der Architekturlager in Deutschland vor und nach 1933 immer noch empfehlenswert: MILLER L ANE, Barbara: Architektur und Politik in Deutschland 1918-1945, Braunschweig, Wiesbaden 1986 (urspr. 1968). Die Rede vom menschlichen Maßstab kann überdies als Annäherung zwischen Lagern der Architekten der 1920er Jahre betrachtet werden. So kritisierte auch Walter Gropius 1956 eine bloß technische Architektur und forderte, Orte zu schaffen, die – dem »menschliche[n] Maßstab« und dem »Lebenszyklus der Familie angepasst« – »Zugehörigkeit« ermöglichten: GROPIUS, Walter: Totale Architektur, in: Probst, Hartmut/Schädlich, Christian (Hg.): Walter Gropius. Ausgewählte Schriften, Berlin 1988 (urspr. 1956), S. 182-186, hier S. 187. Vgl. außerdem SERT, José Luis: The Human Scale in City Planning, in: Zucker, Paul (Hg.): New Architecture and City Planning. A Symposium, New York 1944, S. 392-412. 36. SALDERN, Adelheid von: »Statt Kathedralen die Wohnmaschine«. Paradoxien der Rationalisierung im Kontext der Moderne, in: Bajohr, Frank u.a. (Hg.): Zivilisation und Barbarei. Das widersprüchliche Potential der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 168-192, hier S. 177. Gerd de Bruyn interpretiert die Humanisierungsforderung als Selbstkritik der Moderne: BRUYN, Gerd de: Fisch und Frosch oder die Selbstkritik der Moderne, Basel u.a. 2001, hier S. 62-67. 37. Zur Kontinuität der deutschen Stadtplanungskonzepte der 1920er bis 1960er Jahre vgl. DURTH, Werner: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 19001970, Braunschweig, Wiesbaden 1986; DERS./GUTSCHOW, Niels: Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940-1950, 2 Bde., Braunschweig, Wiesbaden 1988.
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möglich, insbesondere bei Planungen für den sogenannten »deutschen Osten«.38 Schwedische Wohnreformer dagegen begriffen die Humanisierung der Wohnumgebung als Kurskorrektur und Erweiterung des Funktionalismus, der seit Beginn der 1930er Jahre stark mit der politischen Metapher der Sozialdemokratie, dem »Volksheim«, verknüpft war.39 In politisch höchst unterschiedlichen Kontexten wurde also in den 1930er bis 1950er Jahren eine Interdependenz von »menschlichen und baulichen Maßstäben« postuliert. 40 Architekten und Stadtplaner in Schweden und Deutschland sahen sich berufen, »eine bauliche Ordnung inmitten des allgemeinen Maßverlustes« zu schaffen. 41 Als Maßnahme gegen die sozialen »Fehlanpassungen« der großstädtischen Existenz sollte eine Art Zwischenraum entstehen, ein, so Uno Åhrén 1945, »Halt gebendes Zwischenglied zwischen Individuum und Gesellschaft«. 42 Überall wurden sozialräumliche Mesoebenen eingezogen: Wohngruppen, Nachbarschaften, Wohn-Gemeinschaften. Ein überschaubarer, ein nachbarschaftlich-familiärer und damit auch stark geschlechtlich differenzierter Wohnalltag 43 wurde zum erklärten Planungsziel. Zur Steigerung der Überschaubarkeit und »Sinnfälligkeit« von Wohngebieten wurden Größenbegrenzungen propagiert. 44 Mittels Gliederung und Grenzziehung sollten die Orientierung der Bewohner verbessert und damit ihre Sicherheitsbedürfnisse befriedigt, vor allem aber das wechselseitige Verwiesensein der Menschen aufeinander sichtbar gemacht und die Begegnungsfrequenz der Nachbarn erhöht werden. Architekten diskutierten die gestalterische Überhöhung der Wohn-Gemeinschaft, etwa durch architektonisch hervorgehobene Gemeinschaftsbauten. Bei der Ausarbeitung des 38. Vgl. MÜNK, Dieter: Die Organisation des Raumes im Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung ideologisch fundierter Leitbilder in Architektur, Städtebau und Raumplanung des Dritten Reiches, Bonn 1993; GUTSCHOW, Niels: Ordnungswahn. Architekten planen im »eingedeutschten Osten« 1939-1945, Basel u.a. 2001. 39. Vgl. THÖRN, Kerstin: En god bostad för det riktiga livet. Den moderna bostadens ideologiska förutsättningar, in: I framtidens tjänst. Ur folkhemmets idéhistoria, Stockholm 1986, S. 196-213; SAARIKANGAS, Kirsi: The Politics of Modern Home. Organization of the Everyday in Swedish and Finnish Housing Design from the 1930s to the 1950s, in: Kettunen, Paul/Eskola, Hanna (Hg.): Models, Modernity and the Myrdals, Helsinki 1997, S. 80-108. Zum Begriff »Volksheim«: HENZE, Valeska: Das schwedische Volksheim. Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodells, Florenz 1993. 40. BOEHM, Herbert: Die Gestalt der Städte des neuen Ostens, in: Raumforschung und Raumordnung 5, 1941, S. 221-224, hier S. 224. 41. LEITL, Von der Achitektur zum Bauen, S. 11. 42. ÅHRÉN, Uno: Ett planmässigt samhällsbyggande. Särtryck ur slutbetänkande avgivet av bostadssociala utredningen del 1, Stockholm 1981 (urspr. 1945), S. 28f. 43. Auf diesen Aspekt kann hier leider nicht ausführlich eingegangen werden. Aufschlussreich: FRANK, Susanne: Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen 2003. 44. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit im Ordnungsdiskurs sei auch auf den Beitrag von Timo Luks in diesem Band verwiesen.
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Siedlungsgrundrisses galt es, die Bewegungsradien der Familie im Tages- und Wochenverlauf, aber auch familiale Reproduktions- und Alterungsprozesse zu berücksichtigen. Und nicht zuletzt sollte die Verteilung der Wohnungstypen, der jeweilige Schlüssel der »Bevölkerungsmischung« ein repräsentatives sample der nationalen Gemeinschaft im Kleinen abbilden. Dies, so der Gedanke, werde zur Begegnung der sozialen Schichten und damit zur Erlebbarkeit der Sozialstruktur des »Volks« beitragen. Endziel dieser skalierenden Interventionen war die Förderung von Gemeinschaft mittels Verstetigung und Wiederherstellung sozialer Bindungen. Deutsche Architekten propagierten dafür ab Ende der 1930er Jahre die »Ortsgruppe als Siedlungszelle«, also die Verschaltung des Wohnbereichs mit der Parteistruktur der NSDAP. 45 Damit wurde die parteipolitische Durchdringung mit der Steigerung der »Volksgemeinschaft aus Nachbarschaften« verknüpft. 46 Schwedische Planer befürworteten – beeinflusst von der amerikanischen und englischen Enwicklungen – die grannskapsenhet (Nachbarschaftseinheit) zur Entwicklung eines »demokratischen Menschentyps«. 47 In Schweden wurde diese in Anschluss an die amerikanische urban ecology als Schritt zur Förderung natürlicher »Primärgruppen« empfohlen, in Deutschland war von »realistisch konkreten, natürlich biologischen Ordnungen« die Rede, die gestärkt werden sollten. 48 Ein Vorhaben, das auch in anderen Disziplinen auf Zustimmung stieß. So zeigte sich der Bevölkerungswissenschaftler Friedrich Burgdörfer 1944 von Überlegungen Gutschows begeistert: »Es wirkte auf mich wie eine Offenbarung, daß sich aus Ihren Untersuchungen […] die menschlichen Maße Fuß, Elle usw. immer wieder als die natürlichen Ausmaße geradezu aufdrängten. Der Mensch ist auch hier das Maß aller Dinge! [D]er Mensch oder hier richtiger, die kleinste Zelle der menschlichen Gesellschaft, die Familie, soll für die Gestaltung der Wohngröße und die Deckung des Wohnungsbedarfes das Richtmaß abgeben.« 49 Auch in Schweden sollte die »Lebenskraft« der Familie als »Urzelle« der Gesellschaft und »kleinste Gruppenbildung« gesteigert werden.50 Das sozial geordnete Wohn45. Vgl. DIEFENDORF, Jeffrey M.: Konstanty Gutschow and the Reconstruction of Hamburg, in: Central European History 18, 1985, S. 143-169; PAHL-WEBER, Elke: Die Ortsgruppe als Siedlungszelle, in: Bose, Michael u.a. (Hg.): »…Ein neues Hamburg entsteht…«. Planen und Bauen von 1933-1945, Hamburg 1986, S. 46-55. 46. LEHMANN, Ernst: Volksgemeinschaft aus Nachbarschaften. Eine Volkskunde des deutschen Nachbarschaftswesens, Berlin u.a. 1944. 47. SEGERSTEDT, Torgny T:son: Formal och real demokrati, in: Ders. u.a.: Inför framtidens demokrati, Stockholm 1944, S. 9-36, hier S. 15. 48. BÜLOW, Friedrich: Wilhelm Heinrich Riehl. Die Wissenschaft vom Volk und seiner Arbeit, in: Raumforschung und Raumordnung 2, 1938, S. 1-5, hier S. 3. 49. Referat im Rahmen der 4. Arbeitsbesprechung des Arbeitsstabes Wiederaufbauplanung in Wriezen am 14./15. Oktober in Wriezen. Dr. Burgdörfer. Bevölkerungspolitik und Wohnungsbau (Staatsarchiv Hamburg, 621-2/11 Bauarchiv Konstanty Gutschow, 14/1). 50. CURMAN, Jöran/Z IMDAL, Helge: Gruppsamhällen, in: Segerstedt u.a., Inför framtidens demokrati, S. 123-142, hier S. 129.
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milieu sollte die Integration, damit aber auch die Produktivität und »Qualität« der Bevölkerung insgesamt erhöhen. Humanisierende, d.h. raumbegrenzende, zuordnende, gliedernde Praktiken im Kleinen zielten auf das »Volksganze« ab.
3. Vermessung der sozialen Wirklichkeit Der Verlust des Maßes war nur vordergründig ein kulturpessimistischer Topos.51 Zwar nahmen Architekten und Stadtplaner ab Mitte der 1930er Jahre häufig auf die mittelalterliche Stadt als Signum eines verlorengegangenen »organischen« Wohnzusammenhangs Bezug.52 Dem stand aber ein ausgeprägter Gestaltungsoptimismus gegenüber. Architekten interpretierten die soziale »Krise« als Krisis, als eine Schwellensituation, die zum Handeln zwang.53 Die (Wieder-)Herstellung von Gemeinschaften, darin waren die Planer sich einig, musste auf empirischem Material gründen. »Sozialökologische« Bestandsaufnahmen und architektonische Konstruktion wurden dabei enggeführt: Bedrohte oder im Keim vorhandene Gemeinschaftsformen sollten sichtbar gemacht und baulich gestärkt werden. So appellierte der schwedische Wohnungspolitiker Yngve Larsson noch 1955 in aufschlussreicher Vermengung von Sollen und Sein, »die natürliche Sehnsucht nach einer menschlichen Skala« gleichermaßen »zu beachten und zu entwickeln«.54 Schwedische Architekten verstanden es als ihre Aufgabe, der »Situation ihre inhärente Logik abzuhorchen«.55 Und Gutschow rief 1944 dazu auf, dem »lebendigen Leben abgelauschte, natürlich-menschliche Gesetzmässigkeiten« planerisch umzusetzen.56 Architekten erarbeiteten deshalb »Ordnungsgrundsätze«, 51. In diesem Sinne: SEDLMAYR, Hans: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Berlin 1956. 52. Während in Schweden die Rezeption von Lewis Mumfords »The Culture of Cities« eine Aufwertung des Mittelalters einleitete, koppelte sich diese im nationalsozialistischen Deutschland an ein völkisches Mittelalterideal, das eng mit einer vermeintlichen »deutschen Kulturleistung« verzahnt war und als Legitimation der durch Stadt- und Raumplaner begrüßten und vorangetriebenen Kolonisierung des »deutschen Ostens« diente. 53. Rüdiger Graf sieht den Krisendiskurs (der Weimarer Zeit) nicht als Ausdruck pessimistischer Haltungen, sondern als »dichotomisch strukturierte Zukunftsaneignung« innerhalb eines »gestaltungsoptimistische[n] Grundkonsens[es]«: GRAF, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik, München 2008, S. 324, 344. 54. L ARSSON, Yngve: Grannskapsenheter och Centra, in: Årsta Centrum, Stockholm 1955, S. 22-23, hier S. 23. 55. Vgl. C ALDENBY, Claes: Avlyssna situationens inneboende logik. Bostadsfrågan och göteborgstiden 1943-1953, in: Rudberg, Eva u.a. (Hg.): Tage William-Olsson. Stridbar planerare och visionär arkitekt, Stockholm 2004, S. 179-260. 56. GUTSCHOW, Konstanty: Skizze Generalbebauungsplan 1944, Manuskript Plassenburg, in: Durth/Gutschow, Träume in Trümmern, Bd. 2, S. 690-694, hier S. 693.
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»Mindestgrößen« und »Maßstäbe« für die Planung dezidiert unter Berücksichtigung der Wirklichkeit. Sie leiteten »[s]owohl aus den Bedürfnissen der einzelnen Siedlungseinheiten wie aus den Gesetzmäßigkeiten ihrer Zuordnung […] Grenzen, Mindestwerte und typische Werte für die Größe und Zusammensetzung der Städte« ab. Vorgaben wurden »aus den praktischen Bedürfnissen des Wohnens, am umfassendsten aber aus dem Ordnungsprinzip der Gemeinschaft schlechthin« gewonnen.57 Dafür erstellten die Planer sozial- und bevölkerungsstatistische Studien, sie erprobten soziologische Erhebungsverfahren wie Interviews und Sozialkartographie, ermittelten Einzugsbereiche von Gemeinschafts- und Versorgungseinrichtungen wie Jugend-, Freizeit- und Gesundheitszentren ausgehend von Bedarfsanalysen. Dabei wurden »wirklichkeitswissenschaftlich« erfasste soziale Kategorien – Familie, Wohngruppe, Nachbarschaft – als Raumeinheiten operationalisiert, als zähl-, mess- und kombinierbare »Wohnzellen« oder »Nachbarschaftseinheiten«. Viele dieser Methoden waren vom zugrunde gelegten Ziel vermehrter Gruppenbildungen stark normativ vorstrukturiert.58 Besonders deutlich lässt sich das an der Bedeutung zeigen, die der Berücksichtigung der Bewegungsradien und Erlebnishorizonte von Familien für die Festlegung der Größe von Wohngebieten beigemessen wurde. Sie verkörperten nämlich – etwa für den Architekten Otto Danneskiold-Samsøe 1943 – »natürliche Grenzen […] organischer Einheiten«.59 Für Gutschow war das Erlebnis, »umhegt« zu sein, Ergebnis »angemessener« Raumbegrenzungen.60 »Blickmäßige Abschlüsse«, so auch eine Empfehlung der »Deutschen Akademie für Städtebau, Reichsund Landesplanung«, könnten zur Gemeinschaft erziehen.61 Die räumlichvisuelle Proportionierung der Wohnumgebung sollte also Integrationsprozesse in Gang setzen: »Wenn wir uns die Entstehung neuer Sozialgruppen […] wünschen, müssen die Grenzen der Wohngruppen leicht für das Auge zu fassen sein«, hieß es im Stockholmer Generalplan.62 Deshalb wurden Grenzziehungsindikatoren ermittelt, die die optimale Dimensionierung der Siedlungszelle oder Nachbarschaft für die Gemeinschaftsbildung anzeigten. Ein solcher war zum Beispiel die Fußläufigkeit als ein an die Alltagswelt der 57. UMLAUF, Josef: Zur Stadtplanung in den deutschen Ostgebieten, in: Raumforschung und Raumordnung 5, 1941, S. 100-122, hier S. 100f., 108. 58. Dazu aufschlussreich: DEHAENE, Michiel: Surveying and Comprehensive Planning. The »Co-ordination of Knowlegde« in the Wartime Plans of Patrick Abercrombie and Max Lock, in: Whyte, Ian Boyd (Hg.): Man-Made Future: Planning, Education and Design in Mid-Twentieth-Century Britain, London, New York 2007, S. 38-58. 59. DANNESKIOLD-SAMSØE, Otto: County of London Plan 1943, in: Byggmästaren 23, 1944, S. 154-160, hier S. 155. 60. GUTSCHOW, Konstanty: Schriftsatz D44: »Die Ortsgruppe als Siedlungszelle«, S. 2 (Staatsarchiv Hamburg, 322-3 Architekt Gutschow, C 3 c). 61. Deutsche Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung: Vorläufige Richtlinien für die Planung und Erschließung von Wohn- und Siedlungsgebieten, Wien, Leipzig 1942, S. 32. 62. Stockholms stads stadsplanekontor, Generalplan för Stockholm 1952, S. 130.
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Familie gekoppeltes Zeit- und Abstandsmaß. Die »Fußweg-Viertelstunde«, so Josef Umlauf 1941, stelle eine »wichtige Maßeinheit im Städtebau für die Kennzeichnung engerer Zusammengehörigkeitsbereiche« dar. Sie gebe der »Überschaubarkeit und Faßlichkeit in allen menschlichen Dingen ganz allgemein und daher auch in der politischen Menschenführung das Maß«.63 Noch Ende der 1950er Jahre interpretierte Gutschow sie als Voraussetzung der »Erlebbarkeit« von »spürbare[n] Nachbarschaftsstufe[n]«.64 (Abb. 10). Gemeinschaft, so Göran Sidenbladh 1948, sei an die durchschnittlichen Gehdistanzen der »Jüngsten und Ältesten«, aber auch an die »Welt der Hausfrauen« gekoppelt. Die »architektonische Einheit« müsse überdies als solche erkennbar sein und an die »soziale Einheit Familie« geknüpft werden: »Akzeptieren wir, dass der Familienhaushalt die normalste und wichtigste Sozialgruppe ist, dann müssen wir auch die Familienwohnung und nicht den Einzelraum als architektonisches Modul akzeptieren […]. Wenn menschliche Bedürfnisse die wichtigste Voraussetzung der Planung sein sollen, muß das Milieu eine menschliche Skala haben.«65 Die Familie, so auch Roland Rainer 1947, müsse als »grundlegende Maßeinheit« architektonisch überhöht werden. »Wenn die Wohnhäuser einer modernen Stadt aber als kleine […] Einfamilienhäuser die kleinste Zelle des gesellschaftlichen Organismus baulich verkörpern, wird damit sofort wieder die eine kleinste Einheit als notwendige Grundlage für den städtebaulichen Maßstab geschaffen«. Das ermögliche es, dass die Bewohner sich »als Glieder einer überschaubaren Wohngemeinschaft zusammengehörig fühlen«.66 Architekten in Schweden und Deutschland verstanden die Suche nach dem menschlichen Maßstab also als Untersuchung soziobiologischer Bedingungen der Gemeinschaftsbildung. Es galt, unter Anwendung moderner technisch-wissenschaftlicher Verfahren Gemeinschaften zu Tage zu fördern, räumlich zu strukturieren und gestalterisch zu überhöhen. Die »Sinnfälligkeit« der Gemeinschaft ließ sich durch räumliche Begrenzungen, aber auch mittels architektonischer Blicklenkungen steigern. Raum- und Gemeinschaftsgefühle sollten vermittels Zuordnung von Baukörpern, visueller Grenzziehungen (etwa durch Grünzüge, Einbeziehung landschaftsmorphologischer Barrieren, Straßenführung), durch Höhenstaffelung und optische Determinanten vorgezeichnet werden (Abb. 11, 12). Zur Fundierung dieser Verfahren wurden vermeintlich gegebene soziale Größen als quantifizierbare Faktoren des Gruppenzusammenhalts identifiziert: menschliche Maßstäbe wie Gangabstände, der Erlebnishorizont der Kinder, die »soziale Einheit Familie«.
63. UMLAUF, Zur Stadtplanung in den deutschen Ostgebieten, S. 108f. 64. GUTSCHOW, Konstanty: Städtebaulicher Grundstoff. Wohnen, in: Deutsche
Bauzeitschrift 6, 1958, S. 22/642. 65. SIDENBLADH, Göran: »Grannskapsplanering«. Dess innehåll och form, in: Plan 2, 1948, S. 112-116, hier S. 115f. 66. R AINER, Roland: Die Behausungsfrage, Wien 1947, S. 108, 111f.
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Abbildung 10: Gutschow stellt dem Kapitel »Wohnen« in seinem Buchprojekt zum »Städtebaulichen Grundstoff« der 1950er Jahre diese Abbildung voran, die, wie durch eine Lupe betrachtet, jeweilige »Nachbarschaftsstufen« nach Integrationswirkung staffelt. Die Abbildung mutet fast wie eine planerische Umsetzung der in der vorangegangenen Illustration Åhréns veranschaulichten Gruppenbildung an.
4. Migration der Maße Das menschliche Maß bezeichnete nicht nur eine in Schweden und Deutschland vergleichbare Ordnungsaufgabe. Der Begriff vermittelte auch Rezeptionsvorgänge und Transfers zwischen den Ländern. Immer wieder erstellten Planer Datensammlungen, die grenzüberschreitend genutzt wurden. So las man in Schweden beispielsweise die Richtwertesammlung »Die Neue Stadt« des NS-Ideologen und Stadtplaners Gottfried Feder und empfahl das Buch als Antwort auf die Suche nach einem »schwedischen Mumford«.67 Im Zuge
67. HÖK, Bertil: En svensk »Mumford«, in: Byggmästaren 22, 1943, S. 34-35; ein Lob Feders findet sich auch in CURMAN, Jöran: Industrins arbetarebostäder, Uppsala 1944, S. 130.
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Abbildungen 11 und 12: Aus Gutschows »Städtebaulichem Grundstoff« oben die Erläuterung der Anordnung von Baukörpern zur Steigerung »nachbarlicher Beziehungen«. Unten eine Darstellung aus dem schwedischen »Byggmästaren« von 1949. Beide Abbildungen suggerieren eine Interdependenz von Gebäudegruppierung und jeweiligem Vergesellschaftungstypus. In der schwedischen Abbildung wird dieser sogar jeweils als »Isolationismus«, »Kollektivismus« und »Gemeinschaft« identifiziert.
der Vorarbeiten für den Stockholmer Generalplan reiste Danneskiold-Samsøe 1944 nach England, berichtete über die dortige Planungsgesetzgebung und die Arbeit Patrick Abercrombies und diskutierte die Übertragbarkeit englischer Normen auf schwedische Verhältnisse.68 Gutschow versuchte in den 1950er Jahren, aus seinen im Wiederauf baustab Albert Speers erarbeiteten »städtebaulichen Richtwerten« ein Planungshandbuch zu entwickeln. Zur Datenerhebung knüpfte er ein internationales Korrespondentennetz – auch nach Schweden.69 Fast zeitgleich, das nur nebenbei, lobte der Amerikaner
68. Vgl. DANNESKIOLD-SAMSØE, Otto: Nutida engelsk samhällsplanering, Stockholm
1945. 69. Vgl. GUTSCHOW, Konstanty: Korrespondenz A-D ab 1953 (Staatsarchiv Ham-
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George E. Kidder-Smith in seinem Überblickswerk »Sweden builds« die Größenordnungen in der schwedischen Planung als »menschliche«.70 Die transnationale, Systemgrenzen überschreitende Bedeutung der menschlichen Maße scheint oberflächlich betrachtet paradox. Schwedische Planer übersahen, dass die Nachbarschaftseinheit, die sie unter anderem als Bollwerk gegen antidemokratische Vereinnahmungen der Masse verstanden, ausgesprochene Parallelen zu Konzepten sozialräumlicher Gliederung im nationalsozialistischen Deutschland aufwies. Diese wurden dort aber bis 1945 gerade als Mittel politischer Durchdringung propagiert. Die jeweilige Gegenwartsdiagnose allerdings war vergleichbar: Ob nun der Faschismus als drohende Folge oder der Nationalsozialismus als Schritt zur Überwindung der großstädtischen Dissoziierung begriffen wurde – es galt, die (Bau-)Masse unter Bezugname auf den menschlichen Maßstab zu ordnen. Im Westernisierungs- und Liberalisierungsprozess der 1950er Jahre veränderte sich der Begründungshorizont der deutschen Architekten. Nicht mehr die Förderung einer rassisch definierten Volksgemeinschaft, sondern die planerische Designierung gemeinschaftlich-demokratischen Verhaltens stand nun im Zentrum ihres Interesses. Mit großer Begeisterung wurde die Menschlichkeit und Maßstäblichkeit des Wohnungs- und Städtebaus in den skandinavischen Ländern wahrgenommen. Nirgends, so hieß es in einem Reisebericht, werde »so sehr auf die Proportionen des Menschen hin geplant wie hier.«71 Planung nach nordeuropäischem Vorbild erschien Manchem sogar als »Maßstab für den Grad der Demokratie eines Landes«.72 Allerdings war in Schweden bereits Ende der 1950er Jahre die Hoff nung auf eine Gruppenbildung mittels Wohnraumgestaltung als utopisch diskreditiert. So wurde die Annahme, die von Johannes Göderitz schon im »Dritten Reich« konzipierte, in den 1950er Jahren kanonische »gegliederte und aufgelockerte Stadt« könne Gemeinschaft stiften, in Schweden als Spekulation abgetan.73 Die Migration der menschlichen Maße verlor ab 1960 an Bedeutung. Planer diskutierten nun städtebauliche Schlagwörter wie »Urbanität durch Dichte«. Ein an makroökonomischer Datenanalyse und kybernetischen Verfahren orientiertes Planungsverständnis setzte sich durch, dessen zentrale
burg, 621-2/11 Bauarchiv Konstanty Gutschow, AS 52-2). Gutschow reiste 1951 nach Schweden. 70. K IDDER-SMITH, George Everard: Sweden builds, New York 1957 (urspr. 1950), S. 18. 71. NEDDEN, Beate zur: Ein Blick zum Nachbarn, in: Die Neue Stadt 7, 1953, S. 218-221, hier S. 221. 72. HOFFMANN, Hubert: Neustädte in Europa, in: Form 9, 1960, S. 23-26, hier S. 26. Zum deutschen Blick nach Norden in den 1950er Jahren vgl. K ÄHLER, Gert: Reisen bildet. Der Blick nach Außen, in: Flagge, Ingeborg (Hg.): Geschichte des Wohnens, Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart 1999, S. 949-1036. 73. Göran Sidenbladh kritisierte das im Zuge der Berliner »Interbau«-Ausstellung 1957 entstandene Buch »Die Stadt von Morgen« sogar als »Stadt von Gestern«: SIDENBLADH, Göran: Die Stadt von Gestern, in: Plan 14, 1960, S. 34f.
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Metapher weniger die Einhegung als vielmehr die Entgrenzung war.74 Zudem stellten die Forderung nach Nutzerbeteiligung – das advocacy planning – sowie später die »postmodernen« Reästhetisierungskonzepte neue Herausforderungen dar. Die Kritik am fehlenden menschlichen Maßstab kehrte erst in den 1970er Jahren zurück, nun allerdings als Zurückweisung des schrankenlosen Planungs- und Technikglaubens und der Expertenmacht der vorangegangenen Jahrzehnte.75
5. Eine gemäßigte Moderne Zwischen Mitte der 1930er und Ende der 1950er Jahre wurde in Schweden und Deutschland, also über politische Zäsuren und Systemgrenzen hinweg, ein räumlicher Maßstabsverlust als soziales Problem identifiziert. Die Berücksichtigung menschlicher Maße sollte entsprechend die »beglückte Einordnung« der Wohnbevölkerung,76 ihre Gesunderhaltung und ihren »Willen zum Kind«, die Steigerung ihrer Arbeitsleistung und ihre Erziehung zu gesellschafts- oder besser gemeinschaftsdienlichem Verhalten gewährleisten. Mit der »Humanisierung« war im Planerdiskurs also keineswegs eine Mäßigung, eine disziplinäre Selbstbeschränkung gemeint. Die Aufgabe bezog sich nun vielmehr auf den »ganzen Menschen«. Sie wurde aber weiterhin den Legitimationsstrategien wissenschaftlicher Evidenz- und Objektivitätsstiftung unterworfen – was durchaus unerwünschte Effekte zeitigte: So mündete die Schwierigkeit, die Gemeinschaft hervorrufende Wirkung bestimmter Raumdimensionierungen und -typen wissenschaftlich zu ermitteln, oft in subjektiv-künstlerischen Interpretationen, die mit der Selbstwahrnehmung als Systematiker und Sozialtechniker kollidierten.77 Dem Ruf nach einer Einhegung der Modernisierungserscheinungen stand die Legitimität just der von der wissenschaftlich-technischen Moderne bereitgestellten »objektiven« Arbeitsweisen gegenüber. Wo paradoxerweise quantifizierende Techniken gegen die beklagte Herabwürdigung des Menschen zur »bloßen Nummer« 74. Vgl. A SENDORF, Christoph: Entgrenzung als Leitvorstellung – Stationen einer Debatte der sechziger Jahre, in: Zinsmeister, Annett (Hg.): Constructing Utopia. Konstruktionen künstlicher Welten, Zürich 2005, S. 119-133. 75. Vgl. beispielsweise SCHUMACHER, E.F.: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik »Small is Beautiful«, Reinbek b. Hamburg 1977. Siehe auch den Beitrag von Sabine Dworog und Silke Mende in diesem Band. 76. GUTSCHOW, Konstanty: 10 Jahre Architekt 1935-1945 (Staatsarchiv Hamburg, 621-2/11 Bauarchiv Konstanty Gutschow, A X 4). 77. Gutschow empfand darüber ein Gefühl innerer Zerrissenheit: »Die Problematik dieser Arbeit am Grundstoff [Gutschows Systematisierungsprojekt] besteht gerade darin, dass diese Arbeit nicht ›der eine Gutschow‹ macht, sondern ebenso der andere. […] So kommt es auch, dass ich manchmal ein Grauen vor dem Grundstoff habe, dem Analysieren und Registrieren, durch das man Zusammenhänge und Fluidum totmacht.« (Gutschow an Max Guther, 3.7.1957 [Staatsarchiv Hamburg, 6212/11 Bauarchiv Konstanty Gutschow, C 106]).
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Kuchenbuch: Ordnungsdenken und social engineering in der Architektur
eingesetzt werden sollten, da wirkte die Metaphorik der menschlichen Maße innerdisziplinär und nach Außen hin stabilisierend. Sie war eine Art humanes Siegel, ein Ausweis der Beauftragung durch den Menschen und einer gewissermaßen universell gültigen Eichung architektonischer Praktiken an dessen Wesen.78 Mit dem menschlichen Maß geraten also verschiedene Ebenen von Ordnungsdenken und social engineering in den Blick. Der Ausdruck ist ein Art master metaphor der Konvergenz von »humanen« Motiven, empirischer Erfassung, ordnender Intervention ins Soziale und architektonischer Praxis. Die Kollektivsymbolik des Eingrenzens und Maßhaltens drückte in ihrer semantischen Nähe zu Begriffen wie »Harmonie« und »Gleichgewicht« länderübergreifend die Hoff nung aus, Gemeinschaft dauerhaft festigen zu können. Für die Planung wurden aber auch konkrete Messtechniken entwickelt, Techniken des engineering, wenn man so will. Der menschliche Maßstab war keine Floskel. Vielmehr kennzeichnet der Ausdruck sehr genau die Beziehung zwischen Ordnungsdenken und Ordnungspraktiken. Er meint die planerische Verwirklichung einer »eigentlich« menschlichen Lebensweise, die Übersetzung sozialer Tatsachen in objektivierbare Gestaltungsprämissen, in Standards und Größenverhältnisse. Ordnungsdenken und social engineering muss als sinnstiftende Reaktion auf den Modernisierungsprozess, damit aber auch als ihn dynamisierende Praxis zur Bändigung der »Maßlosigkeit des Optativen« in der Moderne historisiert werden.79 Vor diesem Hintergrund ist das menschliche Maß als ausgesprochen wirkmächtiges Benennungsmodell von Wirklichkeit zu betrachten.80 Das Adjektiv »menschlich« rekurrierte auf jene »konkreten« oder »vorgefundenen Ordnungen« – Familie, Volk, Gemeinschaft, Nachbarschaft –, die die Zielvorstellungen der Akteure prägten, aber auch ihre wissenschaftlichen 78. Für den Hinweis danke ich Antje Wischmann (Berlin). 79. Z IRFAS, Jörg: Kontingentes Maß und maßlose Kontingenz. Lebenskunst im
Zeitalter der Ungewissheit, in: Schuhmacher-Chilla, Doris/Wirxel, Julia (Hg.): Maß oder Maßlosigkeit. Kunst und Kultur in der Gegenwart, Oberhausen 2007, S. 149169, hier S. 152. Zur Einschätzung der Moderne als Möglichkeitsexplosion zuletzt R APHAEL, Lutz: Ordnungsmuster der »Hochmoderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: Schneider, Ute/Raphael, Lutz (Hg.): Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a.M. 2008, S. 73-91, bes. S. 86. 80. Die Rede vom Maßstab kann übrigens auch als Problematisierung der durch Beschleunigung ins Fließen geratenen »Abstände« begriffen werden. Gerade die Stadtplanung exemplifiziert das moderne Kontinuum von Ver- und Enträumlichungsprozessen, das Nebeneinander von infrastruktureller »Raumüberwindung« und kleinräumlicher Vergemeinschaftung; vgl. SALDERN, Adelheid von: Raum und Zeitbezüge. Ein Kommentar, in: Doering-Manteuffel, Anselm (Hg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 197-208, hier S. 204. Zur Diskussion des Verhältnisses von Nähe und Distanz in den historischen Avantgarden: A SENDORF, Christoph: Entgrenzung und Allgegenwart. Die Moderne und das Problem der Distanz, München 2005, bes. S. 74-78.
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Erkenntnisinstrumente vorstrukturierten.81 Am menschlichen Maßstab bildet sich der Wille zur Schaff ung einer an die moderne Dynamik angepassten, aber die ideelle Grundstruktur der alten Ordnung wahrenden Gemeinschaft ab. Diese Absicht, aber eben auch die Methoden ihrer Realisierung waren, wie das eingangs angeführte Beispiel aus der Verkehrswissenschaft zeigen sollte, innerhalb einer nationale und institutionelle Grenzen überschreitenden Deutungs- und Funktionselite kommunizierbar.82
81. Vgl. R APHAEL, Lutz: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 5-40, bes. S. 12ff. 82. Nachzuweisen sind Humanisierungs- und Ordnungsimperative auch bei den Protagonisten des deutschen Ordoliberalimus, die ihren »Wirtschaftshumanismus« als Rückkehr zu einer »natürliche[n] dem Menschen gemäße[n] Ordnung« propagierten (HOTZE, Andrea: Menschenbild und Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft: A. Rüstow, W. Röpke, A. Müller-Armack und ihre Konzeption einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nach dem »Maße des Menschen«, Hamburg 2008, S. 18).
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Ordnung, Ausgleich, Harmonie Koordinaten r aumpl aner ischen Denkens in D eut schl and, 1920 bis 1970 Ariane Leendertz Dieser Aufsatz befasst sich mit Kernelementen des Denkens und Wahrnehmens, mit Leitbegriffen, Problemdeutungen und Lösungsvorschlägen, die prägend für die deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert waren. Im Vordergrund stehen damit eine diskursive Ebene sowie Aspekte des Denkstils. Die raumplanerischen Akteure und Netzwerke, ihre institutionelle Basis und ihre konkreten Handlungsmöglichkeiten müssen an dieser Stelle weitgehend ausgeklammert bleiben, genau so wie der gesellschaftliche und politische Kontext, in dem die Raumplaner sich bewegten, in dem sie dachten, handelten und argumentierten.1 Die Auseinandersetzung mit der »modernen« Gesellschaft, ihren Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensweisen, bildete seit ihren Anfängen in den 1920er Jahren das Leitmotiv der deutschen Raumplanung. Die Antworten auf die Herausforderungen gesellschaftlicher Modernisierung entwickelten sich über viele Jahrzehnte in einem recht stabilen gedanklichen Koordinatensystem aus Topoi und Metaphern, Wahrnehmungsweisen und Erfahrungen, Grundüberzeugungen und Ordnungsvorstellungen. Forderungen nach Harmonie und Ordnung richteten sich gegen ungelenktes Wachstum und ein chaotisches Durcheinander von Wohnhäusern, Industrie, Verkehr und Natur, aber auch gegen eine als fragmentiert wahrgenommene pluralistische und individualistische Gesellschaft. Vorstellungen über ganz bestimmte Gesellschaftsordnungen korrelierten mit dem Ruf nach Ausgleich und setzten gesellschaftliche Stabilität gegen die Dynamik sozialer Veränderungsprozesse. Unordnung, Revolution und soziale Konflikte, krisenhafte Entwicklungen sollten so verhindert und »Ordnung« aufrechterhalten werden. Räumliche Ungleichgewichte und Unausgewogenheit galten vielfach als Gefahr für die Existenz des Staates und Folge des Versagens einer liberalen Wirtschafts1. In dieser weiteren Perspektive L EENDERTZ, Ariane: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008.
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ordnung. Gleichzeitig erschien es vielen Raumplanern möglich, mit Hilfe rationaler, vorausschauender Planung sogar neue Ordnungen herzustellen. Denn die Raumplanung operierte mit einem interdisziplinären wissenschaftlichen Apparat, mit dem sie sich in der Lage sah, alle notwendigen Faktoren im Raum zu erfassen und in ihren Wechselwirkungen zu verstehen, so dass man schließlich an der richtigen Stelle intervenieren und die Entwicklung gezielt beeinflussen zu können meinte.
Verdichtete Moderne Die frühe Raumplanung, damals »Landesplanung« genannt, konstituierte sich in den städtischen und industriellen Wachstumsgebieten des Deutschen Reiches: in Räumen verdichteter Moderne, in denen die Rasanz von wirtschaftlicher Entwicklung, Urbanisierung und Bevölkerungszunahme nicht nur einen tiefgreifenden Wandel der innerstädtischen Strukturen und Lebensverhältnisse nach sich gezogen, sondern auch die Beziehungen zwischen Städten, Gemeinden und Umland grundlegend verändert hatte.2 Die historische Wendemarke verortete Philipp Rappaport, stellvertretender Direktor der ersten deutschen Raumplanungsinstitution, des 1920 gegründeten »Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk«, um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Seitdem habe der traditionelle Städtebau den Entwicklungen nicht mehr folgen können, und die Übereinstimmung von Wirtschaftsform und städtebaulicher Form sei verlorengegangen; außerordentliche Ansammlungen von Menschen und Arbeitsstätten hätten sich nicht allein in den Großstädten konzentriert, sondern außerdem über weite Gebiete Deutschlands verteilt. »Nun beginnt eines das andere zu stören. Stadtgarten stößt an Zeche, Wohnhaus an Fabrik; jede ordnende Hand fehlt. Mit zwingender Klarheit sieht auch der Laie, daß hier nur eine weit vorausschauende, die Entwicklung der Wirtschaft und des Städtebaus klar berücksichtigende Maßnahme ordnend helfen kann. Es muß Plan in die Entwicklung nach Maßgabe der wirtschaftlichen Entwicklung kommen: der Wirtschaftsplan.«3 In dieser Diagnose aus dem Jahr 1926 kamen zahlreiche Topoi und Perspektiven zum Ausdruck, die für die Anfänge der deutschen Raumplanung bezeichnend waren und sie in den folgenden Jahrzehnten prägen sollten. Die wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts galt als Ursache für die Situation der Gegenwart; die Gegenwart war gekennzeichnet durch einen Verlust an Form, die einzelnen Elemente im Raum hatten begonnen, einander zu »stören«, und es fehlte an »Ordnung« 2. Vgl. REULECKE, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985; Z IMMERMANN, Clemens: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt a.M. 1996; HOHENBERG, Paul M./LEES, Lynn H.: The Making of Urban Europe 1000-1994, Cambridge, London 21996. 3. R APPAPORT, Philipp A.: Grundlagen und Ziele städtebaulicher Wirtschaftspläne, in: Wirtschaftliche Nachrichten für Rhein und Ruhr 7, 1926, S. 611-616, hier S. 611f.; vgl. auch DERS.: Städtebau und Landesplanung in ihrem Zusammenhang mit Wirtschaft und Kultur, in: Zeitschrift für Bauwesen 79, 1929, S. 235-246, hier S. 235.
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und »Übereinstimmung«. Nur noch vorausschauende Maßnahmen versprachen jetzt Hilfe: Es ging nicht ohne einen »Plan«. Die negativen Begleiterscheinungen der industriellen Hochmoderne sollten mit neuen Instrumenten beseitigt werden, so der Tenor etwa bei Rappaport und seinem Vorgesetzten Robert Schmidt. Schmidt forderte, einen »den modernen Lebensbedingungen angepaßten Großstadtorganismus« zu schaffen, der den Bedürfnissen der Bevölkerung auch in der Zukunft gerecht werden könne. 4 Diesen Bedürfnissen entsprach für ihn zuerst eine Trennung der Flächen für Wohn- und Industriegebiete, Erholungsstätten und Grünanlagen sowie für Straßen- und Schienenwege, und diese Aufteilung war in einem übergreifenden »General-Siedelungsplan« bereits im voraus festzulegen. Erst der »generelle Plan« konnte verhindern, dass in Zukunft immer wieder neue »Mißstände« – hierzu zählten etwa die »menschenunwürdigen« Mietskasernen, fehlende Erholungsmöglichkeiten und Verkehrsprobleme – und Folgekosten für deren Beseitigung entstünden.5 Wirtschaft und Staat nahmen Schmidt und Rappaport gleichermaßen in die Pflicht. Beide hatten das Wohl der Bevölkerung zu berücksichtigen und sollten nicht gegeneinander, sondern in einer echten »Interessengemeinschaft« zusammenarbeiten.6 Da jeder heute in irgendeiner Form vom Wohle der Wirtschaft abhängig sei, forderte Rappaport sogar, der Wirtschaft »möglichst hemmungslose Entwicklungswege zu schaffen«, und sah in sogenannten Wirtschaftsplänen ein vielversprechendes Instrument.7 Genau wie der Generalsiedlungsplan ermöglichte der Wirtschaftsplan ein effizientes Wirtschaften mit dem vorhandenen Raum und half, Kosten zu vermeiden sowie das Gemeinwohl zu fördern, indem er nicht mehr nur einzelne Aspekte in den Blick nahm, sondern das große Ganze, das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren wie Wohnen, Industrie, Landwirtschaft, Verkehr, Ver- und Entsorgung, Erholung und Natur im Raum. Staat und Verwaltung hatten sich den neuen, modernen Zeiten anzupassen, mussten das »Zeitalter der Froschperspektive« hinter sich lassen und dem »Zeitalter der Luftschiffahrt und der Vogelperspektive« gerecht werden.8 4. SCHMIDT, Robert: Denkschrift betreffend Grundsätze zur Aufstellung eines General-Siedelungsplanes für den Regierungsbezirk Düsseldorf (rechtsrheinisch), Essen 1912, Vorwort (o.S.), 5. 5. Ebd., S. 22; vgl. SCHMIDT, Robert: Landesplanung, in: Städtebau 21, 1926, S. 127-131, bes. S. 128. 6. Vgl. SCHMIDT, Denkschrift betreffend Grundsätze zur Aufstellung eines General-Siedelungsplanes für den Regierungsbezirk Düsseldorf (rechtsrheinisch), S. 6. 7. R APPAPORT, Grundlagen und Ziele städtebaulicher Wirtschaftspläne, S. 616; vgl. SCHMIDT, Landesplanung, S. 127. 8. SCHMIDT, Denkschrift betreffend Grundsätze zur Aufstellung eines GeneralSiedelungsplanes für den Regierungsbezirk Düsseldorf (rechtsrheinisch), S. 92; vgl. PETZ, Ursula von: Robert Schmidt und die Grünfl ächen-Politik im Ruhrgebiet (19001930), in: Kastorff-Viehmann, Renate (Hg.): Die grüne Stadt. Siedlungen, Parks, Wälder, Grünfl ächen 1860-1960 im Ruhrgebiet, Essen 1998, S. 25-39. Zum neuen Zeit- und Zukunftshorizont in den Konzepten des Planes und der Planung: METZLER, Gabriele/L AAK, Dirk van: Die Konkretion der Utopie. Historische Quellen der
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Ihre größte Herausforderung sah die Landesplanung der 1920er Jahre darin, sich zunächst einen Überblick über »das große Ganze« zu verschaffen und die Faktoren und Elemente im Raum in ihren Verflechtungen, Wechselwirkungen und Gesetzmäßigkeiten zu begreifen. Wenn die bestehenden Verhältnisse und Einzelprojekte erfasst waren, wollte man daran gehen, einen großräumigen Wirtschafts- beziehungsweise Generalsiedlungsplan aufzustellen.9 Dieser Plan sollte dann, so formulierte es Philipp Rappaport, als eine »Unterlage« fungieren, in der das Einzelne von vornherein »einen Teil des Ganzen« bilde.10 Mit dem Bestreben, nicht lediglich Teilausschnitte zu betrachten, war nicht nur bei Philipp Rappaport das Gefühl verbunden, dass gewisse Zusammenhänge verlorengegangen waren. Zeigte sich bei ihm und bei Robert Schmidt einerseits ein deutliches Bekenntnis zur modernen Industriegesellschaft, so speiste sich ihr Ruf nach planerischer Intervention gleichzeitig aus einer kritischen Gegenwartsdiagnose, die über die räumlichen Lebensbedingungen hinaus den Zustand der Gesellschaft betraf. Mit der Gegenwartskritik gingen alternative Vorstellungen darüber einher, wie es besser sein könnte oder sollte. Dies und die Überzeugung, dass man die Entwicklung tatsächlich beeinflussen konnte, bildeten die Grundlage für korrigierende Eingriffe.
Planungsutopien der 1920er Jahre, in: Heinemann, Isabel/Wagner, Patrick (Hg.): Wissenschaft, Planung, Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 23-43; R APHAEL, Lutz: Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918-1945), in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 327-346, bes. S. 331-334; HÖLSCHER, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999, S. 129-216; SCOTT, James C.: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven, London 1998, S. 4, 89f. 9. Vgl. HECKER, Hermann: Die Landesplanung, eine Frage einheitlicher Planungsmethodik, in: Schlesisches Heim 9, 1928, o.S. (Sonderdruck); DERS.: Zur Geschichte der Landesplanung. Über sozialen Wohnungsbau, Städtebau und Bauberatung zur Landesplanung. Berufsgeschichtliche Erinnerungen eines alten Landesplaners, Hamburg 1959; PRAGER, Stephan: Vorarbeiten für die Aufstellung eines Generalsiedlungsplanes für den Mitteldeutschen Industriebezirk, in: Zeitschrift für Bauwesen 75, 1925, S. 31-47; ENGELI, Christian: Landesplanung in Berlin-Brandenburg. Eine Untersuchung zur Geschichte des Landesplanungsverbandes Brandenburg-Mitte 19291936, Stuttgart 1986; HOFMANN, Wolfgang: Mitteldeutschland in der Geschichte der deutschen Raumplanung, Dessau 1992. 10. R APPAPORT, Philipp A.: Notwendigkeit und Grenzen der Landesplanung, in: Zeitschrift für Kommunalwirtschaft 17, 1927, S. 291-300, hier S. 300.
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Harmonie Raumplanerische Plädoyers für eine effiziente Verwaltung und gegen unzweckmäßige Leerläufe in der deutschen Volkswirtschaft waren zumeist mit der Wahrnehmung von chaotischen und unübersichtlichen Zuständen verbunden, die sowohl in wirtschaftlicher wie auch in gesellschaftlicher Hinsicht destruktive Wirkungen nach sich zogen. Von einem »wechselseitigen Stören und Zerstören«, »unlösbaren Verfi lzen der Städte«, »Unwirtschaftlichkeiten und Stockungen aller Art« sprach beispielsweise Robert Schmidt.11 Die »Mißstände« in den Großstädten äußerten sich nicht nur in Form gravierender Verkehrsprobleme und fehlender Erholungsmöglichkeiten – das System der Mietskasernen barg für ihn die Gefahr von Proletarisierung und Staatsfeindlichkeit. Die Raumplanung der 20er Jahre stellte zumeist die Wirtschafts-, Verkehrs- und Grünflächenplanung in den Vordergrund. Über den Einfluss der räumlichen Planung auf das Zusammenleben der Gesellschaft war man sich stets bewusst, hob diesen Zusammenhang allerdings nur selten explizit hervor. Der Städtebauer Gustav Langen dagegen, der mit seinen vergleichsweise radikalen Ansichten damals nur eine Minderheitenposition innerhalb der Profession vertrat,12 propagierte die Landesplanung als ein Mittel umfassender gesellschaftlicher Erneuerung. »Die Landesplanung stellt unserer Zeit die größten schöpferischen Aufgaben. Denn sie wird in erster Linie dazu berufen sein, unsere einseitig entwickelte Zivilisation wieder ins Gleichgewicht zu bringen und Stadt und Land, Dorf und Kleinstadt wieder in die Gesamtentwicklung eines harmonischen Wirtschafts- und Kulturlebens einzufügen.«13 Langens Gegenwartskritik, in der sich die traditionellen Topoi von Großstadtfeindschaft und konservativer Zivilisationsskepsis widerspiegelten,14 war ebenso umfassend wie die dargebotene Lösung: Nur ein »geordnetes Planungswesen« könne der bisherigen fatalen Entwicklung begegnen, und nur der Schöpfer eines um Jahrzehnte vorausgedachten Planes in eine bessere Zukunft weisen, am Auf bau einer kommenden Zeit helfen und »die große Synthese nach all der Zersplitterung« schaffen.15 Wie seine Kollegen Schmidt und Rappaport betrachtete Langen die Verhältnisse der Gegenwart als Folge »planloser« Entwicklungen, und auch für Philipp Rappaport sollte es ein Ziel 11. SCHMIDT, Landesplanung, S. 130. 12. Vgl. HOFFACKER, Heinz Wilhelm: Entstehung der Raumplanung, konservative
Gesellschaftsreform und das Ruhrgebiet 1918-1933, Essen 1989, S. 225-226. 13. L ANGEN, Gustav: Landesplanung, in: Ritter, H. (Hg.): Wohnung, Wirtschaft, Gestaltung, Berlin, Leipzig, Wien 1928, S. 303-305, hier S. 305. 14. Siehe BERGMANN, Klaus: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970; Z IMMERMANN, Clemens/REULECKE, Jürgen (Hg.): Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900, Basel u.a. 1999; SCHUBERT, Dirk: Großstadtfeindschaft und Stadtplanung. Neue Anmerkungen zu einer alten Diskussion, in: Die alte Stadt 13, 1986, S. 22-41. 15. L ANGEN, Gustav: Planungswesen, in: Ritter, H. (Hg.): Wohnung, Wirtschaft, Gestaltung, Berlin, Leipzig, Wien 1928, S. 223-231, hier S. 224, 228.
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der Landesplanung sein, »Gegensätze« zu beseitigen und eine »gegenseitige Gesundung« herbeizuführen.16 Doch insgesamt war die Landesplanung für Rappaport zuerst »prohibitiver Natur«: »Ihr Zweck ist häufig, das Falsche zu verhindern und dem Richtigen künftig die Wege offen zu halten.«17 Natürlich setzte dies eine klare Scheidung zwischen dem Falschen und dem Richtigen voraus – »falsch« war etwa ein Neben- und Durcheinander von Wohnungen und Industrie, »richtig« dagegen eine funktionale Flächenaufteilung. Die Idee der Landesplanung, wie sie die Mehrheit der Planer in den Weimarer Jahren verfocht, richtete sich gegen kurzsichtiges Handeln und forderte, die zukünftige Entwicklung stets mit zu bedenken. Die Möglichkeiten der Zukunft sollten nicht buchstäblich verbaut, sondern offen gehalten werden. In dieser Perspektive ging es noch nicht darum, die Zukunft auf eine bestimmte Weise zu gestalten, sondern zu verhindern, dass sich die Gegenwart in die Zukunft hineinmultiplizierte und keinen Platz mehr für andere Möglichkeiten, für eine bessere Gegenwart ließ. Gustav Langen hingegen wollte mit Hilfe der Planung die Gegenwart überwinden und nach den »Zerstörungen des technischen Zeitalters« mittels der Landesplanung ein neues Zeitalter, eine »Harmonie zwischen Natur und Kultur«, einleiten.18 In der Forderung nach »Harmonie« lag der Berührungspunkt mit seinen Kollegen: In nahezu allen Entwürfen der Landesplanung schwang in den 20er Jahren eine Sehnsucht nach Harmonie mit, die im Zeitgeist seit der Jahrhundertwende in vielen Bereichen zum Ausdruck kam.19 Harmonie wurde gesellschaftlicher und politischer Fragmentierung gegenübergestellt, ein harmonisches, geordnetes Wachstum dem wilden und unkontrollierten Wuchern der Städte und Vorstädte, ein harmonischer Ausgleich zwischen Stadt und Land einer einseitigen Entwicklung zur städtischen Ballung. Man wünschte sich wie beispielsweise Robert Schmidt eine harmonische Gemeinschaftsarbeit und kein Gegeneinander widerstreitender Interessen; die einflussreiche Heimatschutzbewegung forderte die Harmonie von Landschaft und Bauformen oder die Harmonie von Mensch und Natur. »Die Landesplanung«, schrieb der Merseburger Landesplaner Martin Pfannschmidt 1929, »erstrebt eine harmonische Einheit von Landschaftsformen, Wirtschafts- und Siedlungsformen, welchen letzterdings auch die Verwaltungsformen angepaßt werden, um zu einer vollendeten Harmonie aller Ausdrucksformen des menschlichen Daseins zu gelangen.«20 Harmonie war ein ganzheitliches Programm das im Gegensatz zu Chaos, Unordnung, Planlosigkeit und Zersplitterung stand.
16. R APPAPORT, Grundlagen und Ziele städtebaulicher Wirtschaftspläne, S. 616. 17. R APPAPORT, Notwendigkeit und Grenzen der Landesplanung, S. 293. 18. L ANGEN, Gustav: Siedlung als Welt- und Menschheitsaufgabe, in: Ritter (Hg.), Wohnung, Wirtschaft, Gestaltung, S. 273-290, hier S. 279 19. Vgl. NOLTE, Paul: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 159-162. 20. PFANNSCHMIDT, Martin: Landeskunde und Landesplanung, in: Die Baupolitik 3, 1929 (Beilage zu Städtebau 24, 1929), S. 51-55, hier S. 53.
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Kr ise Die Weltwirtschaftskrise markierte einen tiefgreifenden Einschnitt für die deutsche Raumplanung. Das Feindbild des »liberalistischen Zeitalters« konsolidierte sich, raumplanerische Perspektiven und Forderungen weiteten sich auf die ländlichen Regionen und das gesamte Reichsgebiet aus, und die Krisenerfahrung setzte sich im kollektiven Gedächtnis jener Planergeneration der zwischen 1895 und 1910 Geborenen fest, welche die Raumplanung bis in die 1960er Jahre hinein maßgeblich prägen sollte. In der wirtschaftlichen Krise präsentierte sich die Landesplanung als Mittel, diese Krise zu entschärfen, indem sie die volkswirtschaftlichen Kosten verringerte und für eine rationellere Aufteilung und Nutzung des Raumes sorgte.21 Zugleich diente die Krise als nachdrückliche Bestätigung, dass die bisherige Entwicklung in die falsche Richtung gelaufen war und dringend einer Korrektur bedurfte. Martin Pfannschmidt und Philipp Rappaport interpretierten Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit so wie zahllose Zeitgenossen als Ausdruck struktureller »Fehlentwicklungen« seit dem 19. Jahrhundert.22 Die Krise erschien als das Resultat einer falschen Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur und die Raumplanung als ein Mittel, diese Strukturen zu korrigieren: nämlich durch die Umsiedlung einer größeren Zahl von Menschen auf das Land und ihre Beschäftigung in der Agrarwirtschaft. Dadurch sollte eine Umstellung der Wirtschafts- und Erwerbsstruktur erreicht werden und eine neue, »krisenfeste« Siedlungsweise aus agrarisch-industriellen Mischgebieten entstehen.23 Die Raumplanung erweckte Anfang der 1930er Jahre auch außerhalb des kleinen Kreises von Architekten und Verwaltungsexperten Interesse. Die Leipziger Soziologen um Hans Freyer und Gunther Ipsen entdeckten die räumliche Planung als wirksames Instrument gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Gestaltung sowie politischer Herrschaft.24 Die Raumplanung 21. Vgl. R APPAPORT, Philipp A.: Die Notwendigkeit der Umsiedlung, in: Die Umschau 37, 1933, S. 1-4, hier S. 3f. 22. Vgl. etwa PFANNSCHMIDT, Martin: 24 Punkte zur Siedlungsfrage, in: Siedlung und Wirtschaft 13, 1931-32, S. 447-450; R APPAPORT, Philipp A.: Erwerbslosensiedlungen auf Grund der Reichsnotverordnung und ihre praktische Durchführung für Rheinland und Westfalen, in: Westfälisches Wohnungsblatt 22, 1932, S. 6-9. 23. Vgl. R APPAPORT, Philipp A.: Deutschlands Siedlungsentwicklung in wirtschaftlicher und menschlicher Sicht, in: Zeitschrift für Selbstverwaltung 15, 1932, S. 7379; DERS.: Die Zukunft der deutschen Großstadt und das Land, in: Die Umschau 37, 1933, S. 81-83; PFANNSCHMIDT, Martin: Die wirtschaftspolitische und baupolitische Bedeutung der Nebenerwerbssiedlung, in: Die Wohnung 6, 1931, S. 219-222; DERS.: Die Umstellung im Siedlungswesen, in: Deutsche Bauzeitung 66, 1932, S. 278-279; I SENBERG, Gerhard: Die arbeitsmarktpolitischen Voraussetzungen für die kleinbäuerlichen und kleingärtnerischen Siedlungen, in: Muesmann, Adolf (Hg.): Die Umstellung im Siedlungswesen. Vorbereitung, Durchführung und Ertragsberechnung der neuen vorstädtischen Kleinsiedlungen und Kleinbauernstellen, Stuttgart 1932, S. 120-124. 24. Vgl. SCHMERLER, Wolfgang: Die Landesplanung in Deutschland, in: Zeitschrift
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konnte die Verwerfungen der »industriellen Gesellschaft« nicht nur korrigieren, sondern am Auf bau einer neuen Ordnung von Volk, Wirtschaft und Siedlung mitwirken. Diese neue Ordnung lag außerhalb der industriellen Gesellschaft der Gegenwart, und die Raumplanung markierte hier den entscheidenden Wendepunkt: den »Umschlag des alten industriellen Siedlungswesens und damit des industriellen Gesellschaftsauf baus in etwas Neues«, den »Beginn einer neuen sozialen Ordnung«.25 Die Diagnose der Gegenwart als Krise rechtfertigte die Forderung nach einer neuen Ordnung, »Ordnung« war der erstrebenswerte Zustand, der ebenso wie der Ausdruck »Harmonie« im Gegensatz zum »Chaos« stand, in das die bisherige Entwicklung die Gesellschaft geführt hatte. In der NS-Zeit avancierte das »liberalistische Zeitalter« zum ersten Feindbild der führenden Raumplaner. Allein die »Raumordnung«, wie es jetzt anstelle des alten Begriffs der Landesplanung hieß, vermochte eine »Überwindung des 19. Jahrhunderts« zu erreichen.26 Die »liberalistische Wirtschaft« hatte sich mit der Krise der Jahre 1929/30 als untauglich erwiesen, einen neuen konjunkturellen Aufschwung zu bewirken und wieder ein »Gleichgewicht« der wirtschaftlichen Kräfte zu erreichen.27 Die historischen Fehlentwicklungen, die dem »freien Spiel der Kräfte« und »Laissez faire« angelastet wurden, offenbarten sich in den Augen vieler Raumplaner besonders im Gegensatz zwischen dicht besiedelten Ballungsgebieten und dünn besiedelten ländlichen Räumen, in denen viele der sogenannten Notstandsgebiete lagen.28 Die Landflucht sollte nun bekämpft und das Bauerntum gestärkt werden, indem man die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen verbesserte. Zu den projektierten Maßnahmen zählten etwa die Melioration der Böden, Verkehrserschließung, günstige Transporttarife, eine staatliche Regulierung der Agrarwirtschaft, eine Stärkung des Handwerks und der
für Kommunalwirtschaft 22, 1932, Sp. 885-984. Zur Leipziger Soziologie: MULLER, Jerry Z.: The Other God That Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton/NJ 1987; ÜNER, Elfriede: Soziologie als »geistige Bewegung«. Hans Freyers System der Soziologie und die »Leipziger Schule«, Weinheim 1992; KRUSE, Volker: Historisch-soziologische Zeitdiagnostik der zwanziger Jahre, in: Nörr, Knut Wolfgang u.a. (Hg.): Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, Stuttgart 1994, S. 375-401; NOLTE, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, bes. S. 145-149. 25. SCHMERLER, Die Landesplanung in Deutschland, Sp. 971. 26. WEIGMANN, Hans: Politische Raumordnung. Gedanken zur Neugestaltung des deutschen Lebensraumes, Hamburg 1935, S. 8. 27. I SENBERG, Gerhard/FISCHER, Wilhelm: Gedanken zur Lenkung des Arbeitseinsatzes, in: Raumforschung und Raumordnung 1, 1936, S. 111-114, hier S. 112. 28. Vgl. LEHMANN, Hanns/GLATZEL, Frank (Bearb.): Forschungsarbeit im Dienst an Volk und Staat. Ein Jahr erfolgreiche Gemeinschaftsarbeit. Bericht über die zweite Wintertagung der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung in Berlin-Dahlem, 9./10. Dezember 1937, in: Raumforschung und Raumordnung 2, 1938, S. 19-31, hier S. 25.
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Auf bau von Verarbeitungs- und Veredelungsbetrieben für land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse.29 Die Frontstellung gegenüber dem »liberalistischen Zeitalter« blieb auch in der Bundesrepublik bestehen. Wie bereits in den 1930er Jahren kritisierte die überwiegende Mehrheit der deutschen Raumplaner vehement die »Gegensätze« und das »Ungleichgewicht« zwischen Stadt und Land, das sich vor allem im Phänomen der »Ballung« manifestierte.30 Überkommene Denkschemata der Großstadtfeindlichkeit und die Kritik an der modernen Industriegesellschaft blieben aktuell. Die Ballung wurde mit der unheilvollen »Vermassung« der Gesellschaft sowie mit sozialen Spannungen und politischer Radikalisierung assoziiert. In den 50er Jahren jedoch sprach man von den »Fehlentwicklungen der freien Marktwirtschaft«, die räumliche und soziale Gegensätze verursacht hätten. Die Existenz von Ballungs- und Notstandsgebieten diente dem einstigen stellvertretenden Vorsitzenden der nationalsozialistischen »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung«, Friedrich Bülow, als Beweis, dass das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte nicht funktioniert und der »Marktautomatismus« raumwirtschaftlich ungünstige Folgen sowie eine »regionale Aufspaltung« nach sich gezogen habe.31 Die »ungehemmte Freiheit der klassischen, alten, liberalen Marktwirtschaft«, meinte auch der Direktor des »Instituts für Raumforschung« in Bad Godesberg, Erich Dittrich, habe zu regionalen Misshelligkeiten geführt und die »absolute Freiheit keine Harmonie der Interessen, keine natürlich räumliche Ordnung« geschaffen.32
29. MEYER, Konrad: Ein Beitrag zur Frage der Notstandsgebiete, in: Raumforschung und Raumordnung 1, 1937, S. 200f. 30. INSTITUT FÜR R AUMFORSCHUNG : Zur Frage regionaler Wirtschaftspolitik. Denkschrift. Als Manuskript vervielfältigt, Bad Godesberg März 1954; DITTRICH, Erich: Die Ordnung der Wirtschaft im Raum. Anmerkungen zu einer Denkschrift des Instituts für Raumforschung »Zur Frage regionaler Wirtschaftspolitik«, in: Raumforschung und Raumordnung 11, 1953, S. 133-137; DIE R AUMORDNUNG IN DER BUNDESREPUBLIK. Gutachten des Sachverständigenausschusses für Raumordnung, Stuttgart 1961; OLSEN, Karl-Heinrich: Die raumordnungspolitischen Mittel, in: Raumforschung und Raumordnung 22, 1964, S. 230-234. 31. BÜLOW, Friedrich: Soziale Marktwirtschaft und Raumordnung, in: Raumforschung. 25 Jahre Raumforschung in Deutschland, S. 309-322, hier S. 318-320. 32. DITTRICH, Erich: Marktwirtschaft und Raumordnung, in: Raumforschung und Raumordnung 11, 1953, S. 1-9, hier S. 6.
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Ordnung In den 1950er Jahren galt es als Aufgabe des Staates, »Ordnung« zu schaffen und zu erhalten.33 Dies schloß die räumliche Ordnung ein. War hier erst einmal »Ordnung« entstanden, so die weitere Argumentation der Raumplaner, blieb sie trotzdem ständig bedroht – und stellte damit zugleich die Existenz des Staates in Frage, der die Vernachlässigung seiner Ordnungsaufgabe schließlich mit seinem »Niedergang« bezahlen müsse.34 Das Schüren von Ängsten und der Auf bau von Bedrohungsszenarien waren schon in den Anfangsjahren der Raumplanung dazu eingesetzt worden, planerischen Forderungen Gehör zu verschaffen.35 In den 1950er und 60er Jahren wurde die Krisengefahr gezielt instrumentalisiert, als es darum ging, die Raumordnung auf Bundesebene zu etablieren und zu einem zentralen Instrument staatlicher Politik zu machen.36 Gleichzeitig erschien die Bedrohung vielfach real, gehörten existentielle Not, prekäre Wirtschaftslagen, politische Instabilität, Revolution und Krieg doch zum Erfahrungsschatz der meisten aktiven Raumplaner der frühen Bundesrepublik. Die schwerwiegenden Folgen der Weltwirtschaftskrise, die eben nicht nur ökonomischer Natur gewesen waren, sondern ebenfalls zum Ende der demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung der Weimarer Republik beigetragen hatten, hatten schon Anfang der 1930er Jahre den Ruf nach »ausgewogenen«, »gleichmäßigeren« und »krisensicheren« räumlichen Strukturen nach sich gezogen. »Ungleichgewichte«, »Ungleichheit«, ein Gefälle und fehlende »Balancen« im Raum bargen nun in der Bundesrepublik die Gefahr des »Umkippens«, sozialer Unruhen oder
33. BRÜNING, Kurt: Landesplanung, Raumforschung und praktische Geographie, besonders in Niedersachsen, in: Hannover und Niedersachsen. Beiträge zur Landesund Wirtschaftskunde. Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestehens der Geographischen Gesellschaft zu Hannover, Hannover 1953, S. 311-349, hier S. 325. 34. DITTRICH, Erich: Der Ordnungsgedanke der Landschaft und die Wirklichkeit. Ein Festvortrag, in: Leitgedanken zur Raumforschung und Raumordnung. Eine Auswahl der Arbeiten von Erich Dittrich anläßlich seines 65. Geburtstages, Wien 1969 (urspr. 1959), S. 136-154, hier S. 142. 35. Vgl. Robert Schmidts Verweis auf die »Mißstände« in den Großstädten als mögliche Ursache für Proletarisierung und Staatsfeindlichkeit: S CHMIDT, Denkschrift betreffend Grundsätze zur Aufstellung eines General-Siedelungsplanes für den Regierungsbezirk Düsseldorf (rechtsrheinisch). 36. Vgl. UMLAUF, Josef: Die praktische und theoretische Entwicklung der Landesplanung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Demokratische Stadt- und Landesplanung. Vorträge und Aussprache auf der Jahresversammlung der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung vom 30. Sept. bis 2. Okt. 1955 in Kassel, Tübingen 1956, S. 32-51, hier S. 51; BOUSTEDT, Olaf: Großstadt und Ballung. Probleme, Methoden, Ergebnisse und Aufgaben der Agglomerationsforschung, in: Raumforschung. 25 Jahre Raumforschung in Deutschland, Bremen 1960, S. 249-266, hier S. 249.
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gar einer »Explosion« der Gesellschaftsordnung.37 Dieser Gefahr musste der Staat mit einer stabilen Ordnung begegnen. Der Ruf nach Ordnung hatte sich in den 1920er Jahren zumeist auf die Forderung nach einem geordneten Wachstum beschränkt. Anfang der 30er Jahre drückte der neue Begriff »Raumordnung«, der sich in einem rechtskonservativen, völkischen Milieu verbreitete, ein anderes Selbstverständnis aus.38 Urheber des Begriffs war der oben erwähnte Gustav Langen, der darunter sowohl die Gestaltung des Raumes im Sinne eines aktiven Prozesses als auch den Zustand der räumlichen Ordnung verstand.39 In der Bezeichnung Raumordnung bündelte sich die Kritik an der bisherigen Theorie und Praxis der Landesplanung. »Raumordnung« verkörperte das Neue, das sich vom Bisherigen absetzte, und die Bezeichnung transportierte den Anspruch, über einen Zugriff auf den gesamten Raum des Deutschen Reiches eine neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung herzustellen. Eine »neue Raumordnung«, befand der Leiter der 1934 gegründeten »Reichsstelle für Raumordnung bei der Neubildung deutschen Bauerntums«, Carl Lörcher, sei nötig, um dem deutschen Volk das Fortbestehen als »Bluts- und Schicksalsgemeinschaft« zu sichern und dessen Raum »als Lebensgrundlage und ewige Erneuerungsquelle seines Volkstums und seines Blutes« zu erhalten. 40 Der Zugriff des NS-Staates sollte ein Zugriff auf das Ganze sein und die Raumordnung nun, so schwebte es dem Rostocker Wirtschaftswissenschaftler Hans Weigmann vor, als Teil einer staatlichen »Raumpolitik« betrieben werden und sich ganz dem Auf bau der Volksgemeinschaft verpflichten. 41 Das Volk sollte planmäßig über seinen gesamten Lebensraum verteilt, die »verhängnisvollen Ballungen« aufgelockert werden, und die 37. Siehe bes. ERNST, Werner: Raumordnung um des Menschen willen, in: Gesundheit, Technik, Natur. Raumordnung um des Menschen willen, Hiltrup 1962, S. 13-33, hier S. 27-32; DERS., Stadtplanung, Raumordnung und der Bund, in: Stadtplanung, Landesplanung, Raumordnung. Vorträge und Berichte, Köln, Opladen 1962 (urspr. 1961), S. 113-133, hier S. 129; DITTRICH, Erich: Die räumliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und ihre Entwicklung, in: Bundesminister für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung (Hg.): Raum und Ordnung. Probleme der Raumordnung in der Bundesrepublik Deutschland, Bad Godesberg 1963, S. 12-20, hier S. 12-15; DERS.: Strukturwandlungen in der räumlichen Ordnung als Ausgangspunkt der Raumordnungspolitik, in: Bundesbaublatt 11, 1962, S. 493-503, hier S. 495-497. 38. Siehe SCHMERLER, Die Landesplanung in Deutschland, Sp. 970; MAHRAUN, Arthur: Der große Plan. Der Weg aus dem Chaos von Staat und Wirtschaft, Berlin 1932, S. 30. 39. L ANGEN, Planungswesen, S. 224; DERS., Stadtplanung, S. 314; vgl. HOFFACKER, Entstehung der Raumplanung, konservative Gesellschaftsreform und das Ruhrgebiet 1918-1933, S. 13; I STEL, Wolfgang: 75 Jahre »Raumordnung«. Zu Genealogie und Inhaltswandel eines modernen Begriffs. Als Manuskript vervielfältigt, München 2000. 40. LÖRCHER, Carl Ch.: Raumordnung im Dienste der Neubildung deutschen Bauerntums, in: Siedlung und Wirtschaft 17, 1934, S. 143-146, hier S. 143. 41. WEIGMANN, Politische Raumordnung, S. 8.
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»Siedlungskörper« sollten nach Möglichkeit den »Gemeinschaftszellen« entsprechen, aus denen sich die Volksgemeinschaft zusammensetzte; der Gesamtraum sollte sich in landwirtschaftlich und industriell »ausgewogene« und möglichst selbständige Teilräume gliedern. Hierfür waren dann – die Übereinstimmung mit den Ausführungen Rappaports und Pfannschmidts der Vorjahre ist offensichtlich – Industrieverlagerungen, Neusiedlung und Umsiedlung notwendig, »einschneidende Maßnahmen«, die einer »durchgehenden Organisation« bedurften. 42 Der Raumplanung der NS-Zeit ging es nicht mehr nur darum, der zukünftigen Entwicklung möglichst viele Wege offen zu halten und lediglich die gröbsten Missstände oder Störungen zu beseitigen, sondern eine andere Ordnung und eine bestimmte Zukunft zu realisieren. Die Möglichkeit einer wirklichen Neuordnung bot sich vielen Planern aber erst nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Euphorisch wandten sie sich dem »neuen Osten« zu, wo sie anders als in den Gebieten des »Altreiches« weniger »Hemmungen«, »Hindernisse« und »Bindungen« sahen, kaum erhaltenswerte Verwaltungsund Infrastrukturen, Rechts- und Eigentumsverhältnisse, oder Rücksicht auf die Befindlichkeiten der einheimischen Bevölkerung nehmen zu müssen glaubten. 43 »Planmäßig« und »nach einheitlichen Gesichtspunkten« sollte die Neuordnung vonstatten gehen, 44 und aus den neuen Siedlungsgebieten sollte deutscher Lebensraum werden, mit deutscher Bevölkerung, deutschen Siedlungen und deutscher Landschaft. 45 Die »eingegliederten Ostgebiete« waren
42. Ebd., S. 27-29. 43. Vgl. MATZERATH, Horst: Siedlungs- und Raumplanung für das »Großdeutsche
Reich«, in: Schmals, Klaus M. (Hg.): Vor 50 Jahren… auch die Raumplanung hat eine Geschichte, Dortmund 1997, S. 55-72, bes. S. 69f.; GUTSCHOW, Niels: Eindeutschung, Verdeutschung, Rückdeutschung – Deutsche Architekten 1939-45 im Dienste von Ethnokraten in Polen, in: Schmals (Hg.), Vor 50 Jahren…, S. 33-42, bes. S. 34; R APHAEL, Lutz: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 5-40, bes. S. 27. 44. UMLAUF, Josef: Zur Stadtplanung in den neuen deutschen Ostgebieten, in: Raumforschung und Raumordnung 5, 1941, S. 100-122, hier S. 101. 45. GRÖNING, Gerd/WOLSCHKE-BULMAHN, Joachim: Die Liebe zur Landschaft. Teil III: Der Drang nach Osten. Zur Entwicklung der Landespflege im Nationalsozialismus und während des Zweiten Weltkriegs in den »eingegliederten Ostgebieten«, München 1987; ALY, Götz/HEIM, Susanne: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991; RÖSSLER, Mechtild: »Wissenschaft und Lebensraum«. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplinengeschichte der Geographie, Berlin, Hamburg 1990; E SCH, Michael G.: »Gesunde Verhältnisse«. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939-1950, Marburg 1998; HARTENSTEIN, Michael A.: Neue Dorfl andschaften. Nationalsozialistische Siedlungsplanung in den »eingegliederten Ostgebieten« 1939 bis 1944, Berlin 1998; GUTSCHOW, Niels: Ordnungswahn. Architekten planen im »eingedeutschten Osten« 1939-1945, Gütersloh 2001.
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dazu ausersehen, ein Musterbeispiel völkischer Raumgestaltung zu werden. 46 Und die Planung sollte hier nicht allein sämtliche Elemente im Raum erfassen, sondern nun wurde auch die Zeit zum Gegenstand der Gestaltung, und zwar nicht allein der zeitliche Zustand – die Gegenwart, die Zukunft –, sondern der Verlauf der Zeit, das Tempo des historischen Prozesses selbst: Es ging darum, die Entwicklung zu beschleunigen, die Zeit sozusagen vorzuspulen und lästige Zwischenstadien zu überspringen. 47 Unabhängig von historischen Prozessen und unabhängig von Axiomen des Fortschritts oder der Entwicklung musste und konnte der Mensch, der Planer, eine Ordnung herstellen. 48 Die Vorstellung von einer Ordnung, die es mit Hilfe des Staates zu verwirklichen und zu erhalten galt, blieb bis in die 1960er Jahre ein zentrales Element im raumplanerischen Gedankengebäude. »Unordnung« bedeutete Gefahr für Staat und Gesellschaft, und Unordnung, Chaos oder gar Zersplitterung diagnostizierten einflussreiche Raumplaner ab Mitte der 50er Jahre vor allem da, wo gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamiken am Werke waren. Die Wandlungsprozesse innerhalb der Wirtschaftswunder- und Konsumgesellschaft der 50er und 60er Jahre umfassten auch jene Trends der Individualisierung und Pluralisierung, welche die konservativen Kritiker in der Zwischenkriegszeit von einer fragmentierten Gesellschaft hatten sprechen lassen, in der sich die traditionellen Bindungen wie etwa die der Familie oder der dörflich-kleinstädtischen Gemeinschaft allmählich auflösten. 49 Die »Atomzertrümmerung« galt manchem Raumplaner als Sinnbild der vermeintlichen Auflösung und Vereinzelung in der Gesellschaft, der man mit der Raumplanung ein »verbindendes Denken« gegenüberstellen musste.50 Auch im Begriff des gesellschaftlichen »Leitbildes«, an dem sich die bundesrepublikanische Raumordnungspolitik auszurichten habe,51 schien folgende Überzeugung durch, die das Selbstverständnis vieler deutscher Raumplaner prägte: Es musste übergeordnete Kategorien, ideelle Klammern und Werte geben, unter deren Dach sich die Gesellschaft zusammenhalten ließ 46. Vgl. MEYER, Konrad: Planung und Gestaltung der neuen Reichsgebiete, in: Deutscher Wissenschaftlicher Dienst 1, 1940, Nr. 27, S. 3. 47. Unmissverständlich: MEYER, Konrad: Neues Landvolk, in: Ders. (Hg.): Landvolk im Werden. Materialien zum ländlichen Aufbau in den neuen Ostgebieten und zur Gestaltung des dörflichen Lebens, Berlin 21942, S. 15-55, bes. S. 19. 48. Vgl. BÜLOW, Friedrich: Zur Problematik des Raumbegriffs, in: Archiv für Wirtschaftsplanung 1, 1941, S. 137-149, bes. S. 148f. 49. Vgl. WILDT, Michael: Konsum und Modernisierung in den fünfziger Jahren, in: Bajohr, Frank/Johe, Werner/Lohalm, Uwe (Hg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 322-345; NOLTE, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 305-310. 50. UMLAUF, Die praktische und theoretische Entwicklung der Landesplanung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 50. 51. Exemplarisch: DITTRICH, Erich: Zum Begriff des »Leitbildes« in der Diskussion über die Raumordnung, in: Informationen des Instituts für Raumforschung 8, 1958, S. 1-13; DERS., Das Leitbild in der Raumordnung, in: Informationen des Instituts für Raumforschung 8, 1958, S. 53-75.
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und an denen das politisch-administrative Handeln sich auszurichten hatte. Denken und Handeln, Idee und Wirklichkeit sollten in einem Zusammenhang stehen, Widersprüche und Gegenläufigkeiten zwischen dem ideellen Fundament der Gesellschaft und der sozialen Wirklichkeit sowie innerhalb des Gesamtgefüges der sozialen und räumlichen Strukturen sollten aufgelöst und möglichst alle Bereiche in Übereinstimmung gebracht werden. Zum wichtigsten Argument für eine nationale Raumordnungspolitik avancierte in den 1960er Jahren die Feststellung, die gegenwärtige räumliche Ordnung entspreche nicht den »verfassungsrechtlichen Wertvorstellungen«. Verzichte der Staat auf einen ordnenden Eingriff, könne das dazu führen, »daß die Grundwerte der Verfassung ausgehöhlt und zu Leerformeln werden«.52 Vom Zustand der räumlichen Ordnung hing die Glaubwürdigkeit der westdeutschen Gesellschaftsordnung ab. Der Staat musste durch eine aktive, gestaltende Politik die Legitimität dieser Ordnung unter Beweis stellen und den Grundwerten der Verfassung Geltung verschaffen.53 Das Bekenntnis zur Verfassung änderte vorerst wenig an den raumplanerischen Ordnungsvorstellungen, die wie in den 1950er Jahren von defensiven und konservativen Positionen geprägt blieben. Doch die »Massengesellschaft« war jetzt zumindest akzeptiert, es ging nicht wie in den radikalen Entwürfen der 1930er Jahre um Alternativen außerhalb der Gesellschaft, sondern darum, in der Dynamik wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels Pole von Ordnung und Stabilität zu erhalten oder herzustellen, Werte wie die Familie oder das Eigenheim als Orte, an denen der Mensch verwurzelt blieb.54 Diese Haltung spiegelten etwa die Grundsätze des Bundesraumordnungsgesetzes von 1965 wider, die auf ein räumliches Gleichgewicht abzielten und dem ballungskritischen Leitbild der Dezentralisation verpflichtet waren. Im Zentrum raumplanerischen Ordnungsdenkens stand auch in den 1960er Jahren der übergreifende Gedanke des »Ausgleichs«. Nur eine ausgeglichene räumliche Ordnung garantierte Stabilität und minderte die Gefahren für Staat und Gesellschaft. Das erste Mittel, mit dem man diese Ordnung erreichen konnte, war die Planung.
52. ERSTER BERICHT DER BUNDESREGIERUNG ÜBER DIE R AUMORDNUNG. Vorgelegt vom Bundesminister für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung, Bundestags-Drucksache IV/1492, Bonn 1963, S. 35. 53. ERNST, Werner: Aufgaben und Möglichkeiten der Planung in Raumordnung und Städtebau. Festvortrag anläßlich der Jubiläumsmitgliederversammlung der Landesplanungsgemeinschaft Westfalen in Münster am 3. Juli 1961. Als Manuskript vervielfältigt, Münster 1961; DERS., Stadtplanung, Raumordnung und der Bund; DERS., Raumordnung um des Menschen willen. 54. Siehe bes. LÜCKE, Paul: Raumordnung als praktische Gesellschaftspolitik. Als Manuskript vervielfältigt, o.O., o.J. [1965]; ERNST, Werner: Raumordnung und Gesellschaftspolitik, in: Die Mitarbeit 1966, S. 17-29; DERS.: Soziale Aspekte der Raumordnung, in: Sozialer Fortschritt 15, 1966, S. 110-113.
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Planung Sprachen die Raumplaner von Planung oder vielmehr von Plänen, dann beinhaltete dies immer die Vorstellung von einer Karte, von einer graphischen Repräsentation: Im raumplanerischen Konzept der Planung waren die zeitliche und die graphische Komponente eng miteinander verwoben.55 Planung stand für ein vorausschauendes Handeln und ein systematisches Vorgehen bei der Gestaltung der Zukunft und umfasste alles, was mit dem Aufstellen des Planes zusammenhing. Vernünftig planen konnte nur, wer einen Überblick über die räumlichen Verhältnisse besaß. Allen Planungen gingen in der Regel lange Bestandsaufnahmen und Vorbereitungen voraus. Die Landesplanungsverbände der 1920er Jahre gingen zuerst daran, systematisch zu erfassen, wie die Flächen ihres Gebietes überhaupt genutzt wurden und wie sich die Flächennutzung in den vorangegangenen Jahrzehnten verändert hatte.56 Nur so ließen sich die »Entwicklungsmöglichkeiten« eines Gebietes zumindest näherungsweise extrapolieren und der Rahmen für die erwünschte zukünftige Entwicklung abstecken.57 Zu einem der wichtigsten Hilfsmittel der Raumplanung wurde rasch die Statistik, die ebenso wie die Vogelperspektive des kartographisch fi xierten Luftbildes eine Erfassung der räumlichen und sozialen Wirklichkeit versprach und soziale wie ökonomische Zusammenhänge aufzudecken und vermeintlich abzubilden vermochte.58 Die Statistik stand für den Mitarbeiter der 1935 gegründeten »Reichsstelle für Raumordnung«, Gerhard Isenberg, im Zentrum raumplanerischer Methoden und ermöglichte erst die »systematische Erfassung« und »umfassende Kenntnis« der räumlichen Strukturen, die ihm für intervenierende Maßnahmen unabdingbar schien.59 Je größer das 55. Etwa SCHMERLER, Die Landesplanung in Deutschland, Sp. 954. 56. Vgl. bes. HECKER, Die Landesplanung, eine Frage einheitlicher Planungsme-
thodik; PRAGER, Vorarbeiten für die Aufstellung eines Generalsiedlungsplanes für den Mitteldeutschen Industriebezirk; LEY, Norbert: Landesplanung in den Rheinlanden zwischen den beiden Weltkriegen, in: Raumordnung und Landesplanung im 20. Jahrhundert. Forschungsberichte des Ausschusses »Historische Raumforschung« der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover 1971, S. 71-85. 57. Vgl. R APPAPORT, Städtebau und Landesplanung in ihrem Zusammenhang mit Wirtschaft und Kultur, bes. S. 241-243. 58. INGOLD, Felix Philipp: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 19091927. Mit einem Exkurs über die Flugidee in der modernen Malerei und Architektur, Basel, Stuttgart 1978; SIEGFRIED, Detlev: Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers 1914 bis 1934, Bonn 2001; A SENDORF, Christoph: Super Constellation – Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien, New York 1997; WIENOLD, Hanns: Blicke der Macht. Sozialstatistik und empirische Sozialforschung als Staatsaktion, in: Guha, Anton Andreas/Papcke, Sven (Hg.): Entfesselte Forschung. Die Folgen einer Wissenschaft ohne Ethik, Frankfurt a.M. 1988, S. 67-86. 59. I SENBERG, Gerhard: Die regionale Statistik im Dienste der Raumordnung, Verwaltung und Wirtschaft, in: Burgdörfer, Friedrich (Hg.): Die Statistik in Deutschland
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Wissen über die Gesellschaft und ihre Lebensweisen, über den Raum und seine Strukturen, desto tiefer, umfassender und wirksamer konnte sich die Intervention und Manipulation des modernen Staates gestalten.60 Doch die Statistik bildete keineswegs eine objektivierte Tatsachenwelt ab, sondern zerlegte die Wirklichkeit a priori auf eine jeweils spezifische Weise, indem sie die Einheiten klassifizierte und die Kategorien abgrenzte, die gemessen und gezählt werden sollten.61 Stellten Wissen und Daten eine unverzichtbare Grundlage für konkrete Planungen dar, so erfolgte schließlich auch keine Planung ohne ein bestimmtes Ziel. Dies äußerte sich einmal in der Minimalforderung, dass die Entwicklung so nicht weiterlaufen könne, und am deutlichsten, sobald eine bestimmte Ordnung als das Ziel der Planungen angestrebt wurde. Darüber hinaus jedoch lag der Reiz der Raumplanung in ihrem Nutzen für die öffentliche Verwaltung, den Anfang der 1940er Jahre die »Reichsstelle für Raumordnung« herauszustellen suchte. Die Kernaufgabe der Raumordnung bestand für den Leiter der dortigen Verwaltungsabteilung, Ernst Jarmer, darin, dass sie die vielen verschiedenen Verwaltungsaktivitäten und Fachplanungen der einzelnen Ressorts »nach übergeordneten Gesichtspunkten« koordinieren und aufeinander abstimmen könne, da nur sie die »umfassende Raumkenntnis« besaß.62 Raumordnung und Landesplanung galten Jarmer wie seinem Kollegen Isenberg als »Instrument der politischen Gesamtführung« und besaßen das Potential, zu einem Vorbild »moderner« Verwaltungstechnik zu werden.63 An diese Überlegungen knüpfte Isenberg in den 1950er Jahren an und argumentierte, mit der Raumplanung stehe eine »neue Methode des Regie-
nach ihrem heutigen Stand. Ehrengabe für Friedrich Zahn, 2 Bde., Berlin 1940, Bd. 1, S. 517-525, hier S. 517. 60. Vgl. BONSS, Wolfgang: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a.M. 1982, S. 70f.; SCOTT, Seeing Like a State, S. 183; TOOZE, Adam J.: Statistics and the German State, 1900-1945. The Making of Modern Economic Knowledge, Cambridge 2001, S. 21f.; ALY, Götz/ ROTH, Karl Heinz: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 22000. 61. Vgl. WIENOLD, Blicke der Macht, S. 75; PINWINKLER, Alexander: Amtliche Statistik, Bevölkerung und staatliche Politik in Westeuropa, ca. 1850-1950, in: Collin, Peter/Horstmann, Thomas (Hg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden 2004, S. 195-215, bes. S. 196-197, 205; GROHMANN, Heinz: Zur gesellschaftlichen Funktion der amtlichen Statistik und deren aktuellen Herausforderungen, in: Statistik in bewegter Zeit. Ehrengabe zum 65. Geburtstag von Egon Hölder, Stuttgart 1992, S. 3-31, bes. S. 6f. 62. JARMER, Ernst: Verwaltung und Raumordnung, in: Raumforschung und Raumordnung 4, 1940, S. 436-439, hier S. 437f. 63. Vgl. JARMER, Ernst: Die Neuordnung der Lebensgrundlagen des Landvolkes als raumordnerische Verwaltungsaufgabe, in: Deutsche Verwaltung 19, 1942, S. 101103, hier S. 103.
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rens«- zur Verfügung.64 Als Kernbestandteil raumplanerischer Arbeitsmethoden benannte Isenberg 1954 bereits jene Elemente, die Ende der 1960er Jahre im Zentrum der umfassenden Planungskonzeptionen des Bundeskanzleramtes stehen sollten: systematische Erfassung, Beurteilung der »Tatbestände« und Tendenzen der weiteren Entwicklung, ressortübergreifende Zusammenarbeit vieler Fachrichtungen, Aufstellung einer Gesamtkonzeption.65 Vieles von dem, was die Raumplanung bis dahin im Kleinen umzusetzen versucht und im Großen konzipiert hatte, wurde in der Bundesrepublik der 1960er und frühen 1970er Jahre zum Allgemeingut politischen Handelns. Die Raumplanung erschien in den 1960er Jahren als geeignetes Instrument, wirtschaftliche und soziale Gefälle innerhalb des Bundesgebiets zu verringern und »gleichwertige Lebensbedingungen« herzustellen, indem sie durch eine gezielt gesteuerte Expansion von öffentlichen Einrichtungen und Infrastrukturen für eine Verteilung des neugewonnenen Wohlstands sorgte. Nachdem die Raumplanung in den 1950er Jahren vielfach mit erheblichem Widerstand in Politik und Presse zu kämpfen gehabt hatte, begann mit den 1960er Jahren ein Aufstieg, dessen erste Etappe das Bundesraumordnungsgesetz von 1965 und dessen Höhepunkt ab 1969 die Arbeiten am Bundesraumordnungsprogramm markierten. Deutlich spiegelte sich hierin der erhöhte Stellenwert wider, der politischer Planung und wissenschaftlicher Politikberatung in den 1960er Jahren zukam.66 Von der zunehmenden Bereitschaft der Politik, wissenschaftliche Experten zu Rate zu ziehen, in den politischen Prozess einzubinden und politische Entscheidungen wissenschaftlich zu legitimieren, profitierte die Raumplanung immens. Lange schon hatte sie an der Schnittstelle von Verwaltung, Wissenschaft und Politik operiert, und die zentrale Rolle der Wissenschaft für die räumliche Planung hatte sich bereits in den 1920er Jahren abgezeichnet.67 Die Gründung der interdisziplinären »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung« 1935 hatte auf ein syste64. Gerhard Isenberg: Aufgaben der Landesplanung. Nur für den Dienstgebrauch, o.D. [1954], S. 5 (Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, BR 1087/22). 65. Ebd., S. 3; zum Planungsverbund der Bundesregierung: SÜSS, Winfried: »Wer aber denkt für das Ganze?« Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt, in: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2003, S. 349-377. 66. FISCH, Stefan/RUDLOFF, Wilfried (Hg.): Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004; METZLER, Gabriele: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn u.a. 2005; NÜTZENADEL, Alexander: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005. 67. PFANNSCHMIDT, Martin: Geographische und volkswirtschaftliche Grundlagen von Landeskunde und Landesplanung, in: Mitteilungen des Sächsisch-Thüringischen Vereins für Erdkunde zu Halle an der Saale 52, 1928, S. 103-114; DERS., Landeskunde und Landesplanung.
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matisches Ineinandergreifen von Wissenschaft und Planung abgezielt.68 Als es nach dem Zweiten Weltkrieg um die Entlastung und Rehabilitation der Raumforschung ging, suchten ihre Vertreter jeglichen Einfluß auf praktische Planungen, vor allem auf den im achten Nürnberger Nachfolgeprozess verhandelten »Generalplan Ost«, von sich zu weisen und behaupteten, stets »unpolitische« wissenschaftliche Arbeit geleistet zu haben.69 Gleichwohl hatte sich das Selbstverständnis verfestigt, der Staatsführung gezielt Material für ihre Entscheidungen an die Hand zu geben und der Politik mit wissenschaftlicher Expertise zur Seite zu stehen. Denn dadurch bot sich selbstredend gleichzeitig die Möglichkeit, raumplanerische Problemstellungen überhaupt erst in die Politik hineinzutragen, um darauf hin einen Beitrag zur Lösung dieser Probleme präsentieren zu können.70 Beginnend in den 1920er Jahren, eröff neten die Raumplaner dem Staat immer wieder neue Möglichkeiten der Intervention und boten Landesplanung und Raumordnung als Instrumente effizienter, rationaler Verwaltung, »modernen« Regierens oder politischer Herrschaft an. Ein zentrales Motiv war dabei über viele Jahrzehnte das Motiv des Ausgleichs.
Ausgleich Das Ausgleichpostulat gehörte in der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre zum Kernbestand raumplanerischen Selbstverständnisses und bildete den Fluchtpunkt raumordnungspolitischer Forderungen, die sich im Schlagwort der »gleichwertigen Lebensbedingungen« bündelten.71 Das Leitmotiv blieben 68. Vgl. RÖSSLER, »Wissenschaft und Lebensraum«; VENHOFF, Michael: Die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) und die reichsdeutsche Raumplanung seit ihrer Entstehung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945, Hannover 2000; LEENDERTZ, Ariane: Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, in: Haar, Ingo/ Fahlbusch, Michael (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften, München 2008, S. 520-527. 69. Vgl. HEIL, Peter: Zum Selbstbild von Raumplanern zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik, in: Dietz, Burkhard/Gabel, Helmut/Tieden, Ulrich (Hg.): Griff nach dem Westen. Die »Westforschung« der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), Münster 2003, S. 91-105; RÖSSLER, Mechtild: Konrad Meyer und der »Generalplan Ost« in der Beurteilung der Nürnberger Prozesse, in: Dies./Schleiermacher, Sabine (Hg.): Der »Generalplan Ost«. Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs und Vernichtungspolitik, Berlin 1993, S. 356-367. 70. Zu den Mechanismen im wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis von Wissenschaft und Politik: WEINGART, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Medien und Wirtschaft in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001, bes. S. 129-148. 71. Ausführlicher zu dessen Wurzeln: LEENDERTZ, Ariane: Der Gedanke des Ausgleichs und die Ursprünge des Leitbildes der »gleichwertigen Lebensbedingungen«, in: Mäding, Heinrich/Strubelt, Wendelin (Hg.): Das lange Erbe des Dritten Reiches.
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wie bereits in den 1920er und 1930er Jahren die Gegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen wirtschaftlich stabilen Regionen und Notstandsgebieten, soziale und ökonomische Gefälle. Der Ruf nach einem Ausgleich hatte sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in einer konkreten strukturpolitischen Forderung verdichtet. Ansatzpunkt waren die Notstands- und Grenzgebiete, in denen es, wie oben bereits erwähnt, die wirtschaftlichen und räumlichen »Fehlentwicklungen« der Vergangenheit zu korrigieren und zugleich das »deutsche Bauerntum« zu festigen galt. Darüber hinaus aber leitete namentlich Konrad Meyer aus der Idee der Volksgemeinschaft die Pflicht ab, einen »gerechten Ausgleich« zwischen den einzelnen Teilräumen des Reiches herzustellen,72 und forderte die »Schaff ung gleicher Lebensbedingungen«.73 Er illustrierte dies am Beispiel abgelegener Gemeinden mit schlechter Verkehrsanbindung, die dort sowohl die Versorgung als auch die wirtschaftliche Erschließung erschwerte sowie die Transportkosten in die Höhe trieb. Schlechte Böden, veraltete Landwirtschaftstechnik, agrarwirtschaftliche Monostrukturen ohne angeschlossenes Gewerbe oder weiterverarbeitende Industrie ließen Einkommen und Erträge auf niedrigstem Niveau verharren, was die Landflucht nur weiter beförderte. Für den »Volkshaushalt« lagen hier in Meyers Augen noch immense »volkswirtschaftliche Werte« brach.74 Diese Gemeinden sollten jetzt »aufgerüstet« werden, zuerst durch den »längst fälligen« Anschluß an das Verkehrsnetz. Nach Meyers Worten handelte es sich bei allem aber weniger um ein ökonomisches Problem, sondern um eine Frage »sozialer Gerechtigkeit«. Ziel sollte die »Angleichung an die Lebens- und Leistungsbedingungen der übrigen Volksgemeinschaft« sein.75 Es ging also nicht allein darum, der ländlichen Bevölkerung mit Hilfe strukturpolitischer Maßnahmen zu besseren Lebensbedingungen zu verhelfen, sondern sie musste zugleich einen höheren Beitrag zum Wohl und Nutzen der Volksgemeinschaft leisten. Der räumliche Ausgleich diente der wirtschaftlichen Leistungssteigerung und ist zum einen vor dem Hintergrund der Autarkie- und Rüstungspolitik des NS-Staates zu sehen. Zum anderen bleibt vor allem mit Blick auf das Fortwirken des Ausgleichspostulats in der Bundesrepublik zu bedenken, dass die von Meyer ins Feld geführte »soziale Gerechtigkeit« auf den »gemeinschaftsfähigen« Teil der Bevölkerung beschränkt blieb, auf jenen »wertvollen« Teil, der die richtigen »rassischen« Voraussetzungen mitbrachte und sich politisch einzupassen bereit war. Trotzdem offenAktuelle Studien zur Geschichte von Raumforschung und Raumplanung, Hannover 2009 (i.E.). 72. MEYER, Konrad: Volk, Staat und Raum, in: Raumforschung und Raumordnung 1, 1936, S. 429-438, hier S. 435. 73. MEYER, Konrad: Verkehrslage und Landwirtschaft. Ein Beitrag zur deutschen Raumproblematik, in: Ders. (Hg.): Volk und Lebensraum. Forschungen im Dienste von Raumforschung und Landesplanung, Heidelberg, Berlin, Magdeburg 1938, S. 243-259, hier S. 249. 74. Ebd., S. 257-259. 75. Ebd., S. 259.
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barten sich in Meyers Forderung nach »gleichen Lebensbedingungen« und einem »gerechten Ausgleich« Elemente raumplanerischen Denkens, die auf tieferliegende Kontinuitäten verweisen. Denn erstens kamen darin, wie auch im von Meyer mobilisierten Konzept der Volksgemeinschaft, das erwähnte Harmoniedenken und die Sehnsucht nach einer Gesellschaftsordnung zum Ausdruck, welche die politischen Fragmentierungen und sozialen Gegensätze der »liberalistischen« Klassengesellschaft mindestens entschärfen sollte. Wenn auch in weniger ausgeprägter Form als in der Zwischenkriegszeit blieb dieser Wunsch in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre weiterhin aktuell, wie es dann etwa die Argumentation der Raumplaner mit »Prinzipien« der sozialen Marktwirtschaft und des sozialen Rechtsstaates zeigte. Zweitens knüpfte Meyer mit dem Ziel, die »Leistungsbedingungen« der Volkswirtschaft zu verbessern, an die vielfältigen Rationalisierungsbestrebungen der 20er Jahre an, die sich bereits in Robert Schmidts und Philipp Rappaports Überlegungen über die Landesplanung niedergeschlagen hatten. Die späten 40er und frühen 50er Jahre standen für die Raumplanung unter den Zeichen des wirtschaftlichen Wiederauf baus und der Eingliederung von rund zwölf Millionen Flüchtlingen in den neuen westdeutschen Staat. Das von Erich Dittrich geleitete »Institut für Raumforschung« in Bad Godesberg setzte sich für einen umfassenden »Bevölkerungsausgleich« zwischen den einzelnen Bundesländern ein. Die Bevölkerung sollte »optimal« über das Bundesgebiet verteilt werden, denn nur so meinte man das durch Gebietsverluste und Flüchtlingsmassen entstandene »Mißverhältnis zwischen Bevölkerung und Tragfähigkeit« einigermaßen beheben und einem signifi kanten Abfall des Lebensstandards gegensteuern zu können.76 Der Bevölkerungsausgleich stellte indes nur einen Teil eines »allgemeinen räumlichen Ausgleichs« dar, der in jenen Jahren endgültig zum raumordnungspolitischen Imperativ avancierte. Begründet wurde dieser anfangs mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft und von Beginn der 1960er Jahre an mit dem Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes, die, so argumentierten namhafte Raumplaner, einen sozialen und damit den räumlichen Ausgleich insbesondere zwischen den Ballungs- und anderen Gebieten zwingend einforderten.77 Als passenden Hebel mobilisierte die Profession Artikel 72 des Grundgesetzes, demzufolge
76. Vgl. I SENBERG, Gerhard: Tragfähigkeit und Wirtschaftsstruktur, Bremen 1953, S. 2; GRUNDGEDANKEN ZU EINEM BEVÖLKERUNGSAUSGLEICH IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND. Denkschrift des Instituts für Raumforschung Bonn. Als Manuskript vervielfältigt, Juni 1950; DITTRICH, Erich: Die Flüchtlingsfrage als Problem des Bevölkerungsausgleiches, in: Das deutsche Flüchtlingsproblem (Sonderheft der Zeitschrift für Raumforschung), Bielefeld 1950, S. 26-29. 77. Siehe bes. INSTITUT FÜR R AUMFORSCHUNG, Zur Frage regionaler Wirtschaftspolitik; DIE R AUMORDNUNG IN DER BUNDESREPUBLIK; DITTRICH, Erich: Ballung – Gestaltung oder Zwang, in: Leitgedanken zur Raumforschung und Raumordnung. Eine Auswahl der Arbeiten von Erich Dittrich anläßlich seines 65. Geburtstages, Wien 1969 (urspr. 1956), S. 84-93.
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der Staat auf eine »Einheitlichkeit der Lebensbedingungen« im Bundesgebiet hinwirken musste.78 Die angeblichen sozialen und wirtschaftlichen »Kosten« der Ballung galten vielfach als bedenklich oder gar gefährlich und waren deshalb zu begrenzen, ebenso wie die Abwanderung aus ländlichen Räumen oder dem »Zonenrandgebiet«, da dort sonst weitere »soziale Erosion« drohte. Diese Gebiete musste der Staat gezielt fördern und »im Sinne der Forderungen des sozialen Rechtsstaates« ein »Gleichmaß« in der Betreuung des einzelnen Staatsbürgers herstellen. Wirtschaftliches Wachstum war nur akzeptabel, wenn es dem Leitgedanken des sozialen Ausgleichs »auf der Basis eines angemessenen Standards und der Sicherheit« folgte. Entsprechend musste die Raumordnungspolitik auf eine »gesunde« wirtschaftliche Mischung achten und eine gleichmäßige Streuung der Industrie anstreben, indem man etwa die Verlegung von Betrieben in weniger entwickelte Räume unterstützte. Eigenheime waren zu fördern, da sie einen angemessenen Standard verbürgten und soziale Sicherheit boten. Insgesamt sollte die Raumordnung eine räumliche Dezentralisation unterstützen: eine aufgelockerte und gegliederte Siedlungsweise mit überschaubaren Einheiten, Grüngürteln, mehr kleineren und mittleren als großen Städten sowie »gleichmäßig« verteilter Bevölkerung und Industrie.79 Nur eine derart ausgeglichene räumliche Ordnung konnte für die Stabilität der Gesellschaftsordnung bürgen. Bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre hinein blieben die raumplanerischen Zielsetzungen von überwiegend defensiven und konservativen Positionen geprägt. Erst allmählich reifte die Erkenntnis, dass sich die Raumordnungspolitik sozialen und ökonomischen Wandlungsprozessen nicht entgegenstellen konnte, sondern sie zumindest akzeptieren, wenn nicht gar fördern musste, um weiterhin Wachstum zu ermöglichen und damit die Basis für anhaltenden gesellschaftlichen Wohlstand zu legen. Unter diesen Prämissen wurde die Raumplanung zu einem wichtigen Steuerungsinstrument sozialliberaler Reformvorhaben und »moderner«, rationaler und vorausschauender Politik.80 Übergeordnetes Ziel blieb es, räumliche Gefälle zu bekämpfen und »gleichwertige Lebensbedingungen« im Bundesgebiet zu schaffen, so dass allen Teilen der Bevölkerung die Chance auf Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand gewährt und ein möglichst hoher Lebensstandard ermöglicht werden konnte. Die alten raumplanerischen Ressentiments gegenüber der Ballung, die Skepsis gegenüber der pluralistischen Massen- und Großstadtgesellschaft sowie die Angst vor dem Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung traten aber 78. Siehe bes. DIE R AUMORDNUNG IN DER BUNDESREPUBLIK; DITTRICH, Erich: Die gesellschaftlichen Grundlagen der Raumordnung, in: Blätter für Genossenschaftswesen 108, 1962, S. 100-104; DERS.: »Notstandsgebiete« in der Bundesrepublik, in: Wirtschaftsdienst 42, 1962, S. 431-436; I SENBERG, Gerhard: Finanzausgleich und Raumordnung, in: Raumforschung. 25 Jahre Raumforschung in Deutschland, Bremen 1960, S. 475-487; ERNST, Raumordnung und Gesellschaftspolitik. 79. Vgl. DIE R AUMORDNUNG IN DER BUNDESREPUBLIK, S. 57-62. 80. Zu diesen Wandlungsprozessen: LEENDERTZ, Ordnung schaffen, S. 336-389.
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im Verlauf der 70er Jahre allmählich in den Hintergrund. Begriffe und Topoi wie Ordnung und Unordnung, Gleichgewicht oder Harmonie, Bedrohungsund Krisenszenarien verloren an Überzeugungskraft und verflüchtigten sich mehr und mehr, als sich mit dem ökonomischen Strukturwandel, stagnierendem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum sowie tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen auch bedeutend veränderte Problemstellungen und Handlungsmöglichkeiten für die Raumplanung ergaben. Die 70er Jahre markierten damit das Ende einer Epoche raumplanerischen Denkens.
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»Clean Up« St adt pl anun g und St adt v is ionen in New Or leans, 1880 er-1920 er Jahre Nadine Klopfer »Down in New Orleans: Die Stadt, das Wasser, die Lethargie«, titelte die »Süddeutsche Zeitung« am 2.9.2005, wenige Tage, nachdem Hurricane Katrina die Stadt am Mississippi verwüstet hatte. Irgendwo dort im tiefsten Süden war eine Stadt versunken; wörtlich, aber auch metaphorisch, gelähmt im Angesicht der Katastrophe. Während in dieser Schlagzeile mitschwingende Konnotationen von einem untätigen Big Easy des Südens vielleicht kritisch zu betrachten sind, so ist doch die Diagnose der Lethargie in einem Punkt nicht von der Hand zu weisen. In unzähligen Artikeln, Kommentaren, Berichten und Untersuchungen ist seither die staatliche Reaktion auf Katrina als ungenügend, im besten Falle chaotisch und zögerlich beschrieben worden, und zwar für alle Regierungsebenen. Vor allem der Regierung Bush ist mangelnder bzw. verspäteter Einsatz sowie Desinteresse an der ehemaligen Queen City of the South vorgeworfen worfen. Die Historikerin Liz Cohen analysierte in einem Vortrag über »City Rebuilding from Urban Renewal to Katrina«1 das fehlende staatliche Eingreifen als Folge der in den USA sich seit den 1970er Jahren durchsetzenden neo-liberalen Auffassungen. Die 1970er Jahre werden in dieser Perspektive auch als Ende des sogenannten New Deal Order perzipiert, der von den 1930er bis 1970er Jahren die politische Kultur der USA prägte und – was Stadtplanung angeht – seinen Höhepunkt in den urban renewal-Programmen der späten 1950er und 1960er Jahre fand. Während es auf der Hand liegt, für diese Zeit social engineering durch Experten und Technokraten festzustellen, so könnte man die Situation nach Katrina überspitzt als social engineering by neglect bezeichnen. Gleichzeitig nahmen viele Beobachter bereits kurz nach dem Hurrikan drohende Anzeichen einer kompletten Neuordnung der Stadt durch private Initiativen wahr, die das De1. Tagung »Upon the Hills? Cities and the Anti-Urban Impetus in American History« der Historiker in der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, Wittenberg, 8.-10.2.2008.
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saster zum Anlass nehmen könnten, nicht nur das Gesicht der Stadt, sondern auch ihre gesellschaftliche Struktur unwiederbringlich zu verändern. Lawrence Powell, Historiker an der Tulane University, malte diesen Teufel schon einige Tage nach Katrina an die Wand, als er die Entstehung eines »disneyland for adults«, einer »ersatz city« prophezeite, die »whiter […] and less diverse« sein werde.2 Katrina mag eine Ausnahmesituation sein, die aber dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, vorhandene Tendenzen an die Oberfläche spült. Die staatliche Zurückhaltung, der zögerliche Rekurs auf Experten ebenso wie privates Engagement haben in den USA nicht nur im Umgang mit Städten eine lange Tradition. Nicht umsonst wird die Ära nach dem Bürgerkrieg bis etwa in die 1890er Jahre auch als Zeitalter des Laissez faire bezeichnet. Im Folgenden möchte ich vor die 1920er Jahre zurückgehen, in die Zeit zwischen Laissez faire und New Deal Order, in die sogenannte Progressive Era. In dieser Phase zwischen ca. 1890 und dem Ersten Weltkrieg handelten auf lokaler Ebene städtische Eliten, sogenannte Experten und staatliche Akteure in einem komplexen Prozess die Deutungshoheit über den Stadtraum aus und damit die Macht, nicht nur die Form der Stadt, sondern auch ihre soziale Ordnung zu bestimmen. Am Beispiel von Stadtplanungen und Stadtvisionen in New Orleans möchte ich so die Vorgeschichte des Ordnungsdenkens nachzeichnen. Es gilt aufzuzeigen, wie versucht wurde, über die physische Gestaltung des Stadtraums eine »innere Ordnung« herzustellen. Nicht die großen Theoretiker des social engineering sollen dabei im Vordergrund stehen, sondern die konkrete, alltägliche Praxis. Zentrale Diskurse und Praktiken des social engineering, so meine These, waren schon um die Jahrhundertwende in den USA in bestimmten gesellschaftlichen Schichten wirkmächtig, und das nicht nur unter Experten: Ja, sie erscheinen geradezu als Bedingungsgeflecht, in dem der Stadtplanungsexperte erst entstehen konnte. Es scheint, als würden diese Diskurse und Praktiken in den 1920er Jahren lediglich gebündelt, in einem kohärenten, umfassenden Plan miteinander verbunden und mit größerem Nachdruck durch immer selbstbewusstere Experten propagiert, die sich in der Umsetzung ihrer Pläne auf einen zunehmend interventionistischen Staat stützen konnten. Dabei stellten die Diskurse und Praktiken, die das social engineering vorwegnahmen, jedoch nur einen, wenn auch bedeutenden, Strang im Umgang mit städtischem Raum dar. Gerade in Auseinandersetzung mit Alternativvorstellungen aber wurde die Deutungshoheit der social engineers, wie sie dann ab den 1920er Jahren bemerkbar ist, in einem komplexen Prozess ausgehandelt.3 2. Lawrence Powell, zit.n. D YSON, Michael Eric: Come Hell or High Water: Hurricane Katrina and the Color of Disaster, New York 2005, S. xi. 3. Der Schwerpunkt soll im Folgenden auf den Diskursen und Praktiken dieses social engineering avant la lettre liegen. Vorliegender Artikel ist Teil eines umfangreicheren Forschungsprojekts zum Stadtraum von New Orleans, in dem die Gegenbewegungen, etwa die historic preservation movement, die sich an anderen Leitbildern von »Stadt« und »Gemeinschaft« orientierten, ausführlicher thematisiert werden. Ich möchte an dieser Stelle dem Deutschen Historischen Institut Washington danken,
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Nicht umsonst hat Robert Wiebe bereits 1967 sein mittlerweile zum Klassiker der Progressivismus-Forschung avanciertes Buch The Search for Order, 1877-1920 genannt. 4 Auch heute noch ist es Forschungskonsens, dass der Kern der progressivistischen Reformen der Jahrhundertwende die Diagnose einer Krise der industriellen Gesellschaft war. Städtische Mittelschichten versuchten, den »Negativfolgen« der Moderne mit den Mitteln der Moderne (Wissenschaft, Technik) zu begegnen – nicht aus einem anti-modernen Impuls heraus, sondern als Korrektiv innerhalb des Systems. Dabei war dennoch eine vormalige Ordnung Leitbild, denn die Progressivisten sahen ur-amerikanische Werte wie Demokratie, Chancengleichheit und Freiheit durch den Laissez faire-Kapitalismus und rugged individualism gefährdet. Getragen von oft religiös inspiriertem Reformeifer suchten sie die Rechte des people vor den private interests im Sinne einer sozialen Gerechtigkeit zu schützen. Ein Normalisierungsimpuls entlang von White Anglo Saxon Protestant-Mittelklassenwerten, in der Forschung als social control progressivism bezeichnet, ging damit Hand in Hand. Diese beiden Seiten einer Medaille lassen sich meines Erachtens als social engineering im Sinne der Einleitung dieses Bandes greifen, und zwar nicht nur aufgrund der in der Krisendiagnose gründenden Suche nach einer zwischen idealisierter Vergangenheit und moderner Zukunft angesiedelten Gemeinschaft, sondern auch aufgrund des unerschütterlichen Machbarkeits- und Fortschrittsoptimismus sowie des quasi-religiösen Glaubens an die Macht von Wissenschaft und Technik.5 An Allerheiligen 1903 titelte die Tageszeitung New Orleans Daily Picayune: »Patriotic Doctors to Form a Civic Auxiliary.«6 Was wie ein Sondereindas mir durch die finanzielle Unterstützung meines Dissertationsprojektes einen Forschungsaufenthalt in New Orleans erlaubt hat; dieser Aufsatz hat darüberhinaus nicht nur vom Workshop zum »Ordnungsdenken und social engineering in Nordwesteuropa als Reaktion auf die Moderne. Nordwesteuropa, 1920er bis 1950er Jahre« profitiert, sondern auch von den anregenden Diskussionen im Kreis des Forschungskolloquiums zur modernen Stadtgeschichte des Center for Metropolitan Studies, TU Berlin, unter der Leitung von Dorothee Brantz. 4. WIEBE, Robert H.: The Search for Order, 1877-1920, London 1967. 5. Übersichtswerke zur Progressive Era sind: FLANAGAN, Maureen A.: America Reformed: Progressives and Progressivisms, 1890s-1920s, New York 2007; MOHL, Raymond A.: The New City: Urban America in the Industrial Age, 1860-1920, Arlington Heights 1985; MCGERR, Michael: A Fierce Discontent: The Rise and Fall of the Progressive Movement in America, 1870-1930, New York 2003; CHAMBERS II, John W.: The Tyranny of Change: America in the Progressive Era, 1890-1920, New Brunswick 22000 (mit ausführlicher Bibliographie); DINER, Steven J.: A Very Different Age: Americans of the Progressive Era, New York 1998; ein Blick auf den Transfer zwischen Europa und Amerika: RODGERS, Daniel T.: Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age, Cambridge 1998. Mit Fokus auf der nationalen Ebene und der politischen Geschichte: COOPER JR., John Milton: Pivotal Decades: The United States, 1900-1920, New York 1990. Ein weiterer Klassiker zum Thema ist neben WIEBE, The Search for Order, HOFSTADTER, Richard: The Age of Reform: From Bryan to F.D.R., New York 151989. 6. Patriotic Doctors to Form a Civic Auxiliary, in: Daily Picayune, 1.11.1903.
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satzkommando für Krisengebiete klingt, war schlicht eine Organisation von Medizinern, die der Progressive Union – einer reformerischen Bürgerbewegung – in der »Cause of a Cleaner City«7, dem Kampf um eine saubere Stadt, beistehen sollte. Explizites Ziel der Ärzte war es, zum einen die unwissende Bevölkerung aufzuklären, und zum anderen gegen die Untätigkeit der Politiker vorzugehen. »Neglect« warfen sie der Stadtverwaltung vor, und ein Arzt erzählte auf der Gründungsversammlung, wie der Commissioner of Public Works vor dem letzten Mardi Gras angesichts einer hoffnungslos verdreckten Stadt und bevorstehenden Massen von Besuchern lediglich festgestellt hatte »that Providence would save the city, and rain would come«8. Unter Beifall der versammelten Ärzte forderte der Mediziner: »We must teach the people that such things are not to be endured, and that if a man cannot fill the administrative chair he should be thrown out. […] if Moulin [the Commissioner of Public Works] trusted to Providence to clean the streets, Moulin should look to Providence for his salary.«9 Diese kurze Geschichte steht paradigmatisch für Akteure, Diskurse und Praktiken, durch die und in denen um 1900 der Stadtraum von New Orleans verhandelt wurde: Eine aus den Mittelschichten bestehende Reformbewegung rang um die Sauberkeit der Stadt, unterstützt von auf diesem Gebiet selbsterklärten Experten, in diesem Fall Medizinern. Aufklärungsarbeit bei einer unwissenden Bevölkerung stand ebenso auf dem Programm wie die Forderung nach staatlicher Intervention und Aktion. Wenn Providence auch ad acta gelegt wurde, so ist ein gewisser religiöser, kreuzzugsartiger Unterton – The Cause – nicht zu überhören. Das Säubern der Stadt war ein patriotischer Akt – wobei die Verbindung mit dem Begriff des Cause Erinnerungen an die Lost Cause der Konföderation im Bürgerkrieg wachruft. Eine zweite »Sache« durfte nicht verloren werden; New Orleans musste sauber werden. Um 1900 war New Orleans eine Hafen- und Handelsstadt, die noch vom Ruhm ihres Erfolges während der legendären Ära der Mississippi-Dampfer zehrte. New Orleans’ goldenes Zeitalter, das war die Zeit vor dem Bürgerkrieg, als die Stadt noch die unangefochtene Queen City of the South war. Mit dem neuen Süden der Nachkriegsära konnte New Orleans nur schwer mithalten. Paradigmatisch für den New South, diesem seit den frühen 1880er Jahren von südstaatlichen urban boosters propagiertem Idealbild eines neuen, industriellen, kapitalistischen und fortschrittlichen Südens,10 der mittels Fabrikschornstein und Eisenbahn der Moderne optimistisch entgegendampfte, standen ganz andere Städte: Atlanta oder Nashville etwa.11 Auch wenn New Orleans nach wie vor die größte Stadt des Südens blieb, so wiesen diese 7. Ebd. 8. Ebd. 9. Ebd. 10. Henry Grady, Verleger der Atlanta Constitution, prägte den Begriff in den
1880er Jahren. Zur Entstehung des New South Creed: AYERS, Edward L.: The Promise of the New South: Life After Reconstruction, New York 1993, S. 20f. 11. AYERS, The Promise of the New South, S. 59-60. Auch andere ältere Städte hatten Anpassungsschwierigkeiten, etwa Charleston oder Mobile; vgl. DOYLE, Don H.:
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jüngeren, wenn auch deutlich kleineren Städte ein rasanteres Bevölkerungswachstum auf.12 Auch im nationalen Vergleich hinkte New Orleans hinterher: Zwischen 1880 und 1930 sank die Metropole des Südens in der Rangliste der größten amerikanischen Städte von Platz 10 auf Platz 16 ab. Dennoch verdoppelte sich ihre Einwohnerzahl im selben Zeitraum von 216.090 Einwohnern auf 458.762.13 In diesem Zeitraum entwickelte sich New Orleans – nach einer ersten Schockphase nach dem Bürgerkrieg – ebenfalls zu einem Eisenbahnknotenpunkt, der ihre Stellung wenn nicht als Industrie-, so doch als Handelsstadt festigte.14 Ein ambivalentes Bild ergibt sich daraus, das sich im Umgang der Bürger von New Orleans mit ihrer Stadt niederschlug. Zum einen wurde die Stadt von den üblichen Problemen, die mit Industrialisierung und Städtewachstum einhergingen, nicht verschont: Gerade in den USA trafen diese modernen Entwicklungen die Städte mit Wucht, da die quasi nicht-existenten Stadtverwaltungen den neuen Herausforderungen kaum gewachsen waren. Trotz der relativen Stagnation, so hat Joy Jackson in einer detaillierten Studie zum New Orleans der 1880er und 1890er Jahre gezeigt, konnte sich die Stadt diesen Umbrüchen nicht entziehen. Auch in New Orleans mussten Infrastrukturen gewährleistet bzw. erneuert werden. Straßen wollten gepflastert, Abwasser und Müll entsorgt, Frischwasserzufuhr gesichert und Transportsysteme entwickelt werden.15 Gleichzeitig aber machte sich in den führenden Schichten der Stadt – vor allem innerhalb der business community – das latente Gefühl breit, im nationalen Vergleich hinterherzuhinken. Im Glanz der Antebellum-Ära konnte man sich nicht mehr sonnen, und das Image der Stadt als Handelsmetropole des Plantagen-Südens musste modernisiert werden, um in der Geschäftswelt Anschluss zu behalten. Die progressivistische, reformerische Koalition bestand daher primär aus business men, die eine Allianz mit gegen Korruption und machine politics agierenden Reformpolitikern sowie anderen professionals eingingen, denen die Modernisierung der Stadt persönlich am Herzen lag. Sauberkeit wurde dabei als eine Grundvoraussetzung wahrgenommen, conventions und Touristen anzuziehen, Investoren zu Firmengründen zu bewegen und wohlhabende, potentiell steuerzahlende Zuziehende zum Bleiben zu verlocken. Das Stadtbild zu verändern war folglich ein Mittel, gerade des Dilemmas aus wachstumsbedingten Infrastrukturproblemen und gleichzeitigem Ruf nach mehr Wachstum Herr zu werden. New Men, New Cities, New South: Atlanta, Nashville, Charleston, Mobile, 1860-1910, Chapel Hill 1990. 12. Vgl. die Zensus-Tabelle bei DOYLE, New Men, New Cities, New South, S. 15. 13. Vgl. die Daten des U.S. Census Bureau für 1880 (URL: [Zugriff: 18.8.2008]) und für 1930 (URL: [Zugriff: 18.8.2008]). 14. Vgl. GARVEY, Joan B./WIDMER, Mary Lou: Beautiful Crescent: A History of New Orleans, New Orleans 112002, S. 165; LEWIS, Peirce F.: New Orleans: The Making of an Urban Landscape, Santa Fe 2003, S. 55f. 15. JACKSON, Joy J.: New Orleans in the Gilded Age: Politics and Urban Progress, 1880-1896, Baton Rouge 1969.
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Das Engagement der Ärzte von 1903 blieb daher keine Ausnahme. In den Diskussionen um den Stadtraum von New Orleans gibt es im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert keine Frage, die die Gemüter so bewegte, wie die der Sauberkeit der Stadt. In einer Stadt, die zum großen Teil unter dem Meeresspiegel lag, deren Straßen von periodisch wiederkehrenden, sintflutartigen Regenfällen angesichts tropischer Temperaturen in modrige Schlammbäder verwandelt wurden, schienen mindestens ebenso regelmäßig wiederkehrende Clean Up Campaigns geradezu eine Notwendigkeit. Nichts weniger als die Gesundheit der Einwohner stand dabei auf dem Spiel. Gerade Epidemien, vor allem das Gelbfieber, lösten wahre Kreuzzüge gegen umfassend definierten »Dreck« aus. Auch menschliches Verhalten wurde als Fehlverhalten defi niert und angeprangert. Müll nicht mehr auf die Straßen zu leeren, die Vorgärten und vor allem Hinterhöfe rein zu halten, all das sollte ebenso zu einer sauberen Stadt beitragen wie umfassende Kanalisationssysteme und Straßenpflasterungsprogramme. Sämtliche Kampagnen ähnelten einander in Ablaufmuster und Rhetorik, von der Diagnose des katastrophalen Zustands der Stadt hin zum Aktionismus, begleitet von legitimatorischen Strategien – etwa den Hinweisen auf die Vernünftigkeit des Vorhabens und einer guten Dosis religiöser Metaphorik – sowie von Fortschrittsoptimismus. Der Erfolg der 1903 umgesetzten Putz-Kampagne war wohl beschränkt, denn im Sommer 1905 löste eine Gelbfieber-Epidemie erneut Clean up-Rufe aus, und aus dem Reinigungstag von 1903 wurde nun eine Reinigungswoche, zu der 800 Männer von der Stadtverwaltung eingestellt wurden und hunderte von volunteer forces ihren Dienst antraten. Systematisch wurden die Putzarbeiten kategorisiert und typologisiert und jeder Tag einem anderen Säuberungsvorgang vorbehalten: ein Tag für die Vorgärten, ein Tag für die Hinterhöfe, ein Tag für die Straße usw.16 Neuauflagen dieser Kampagnen gab es vor allem 1914 und 1915, in der sich auch Frauengruppen wie die Civic League aktiv zeigten und Vorgartenwettbewerbe ausschrieben.17 Initiativen »von unten« gingen so Hand in Hand mit Verordnungen der Stadtverwaltung. Neben der Vebesserung der Gesundheitslage in der Stadt stand zudem ihre Schönheit auf dem Programm. Dementsprechend unterstützten nicht nur Mediziner die Bürgerbewegungen, sondern auch Architekten. In Fachzeitschriften tauschten sie sich mit Architekten anderer Städte und urbanen Reformern des ganzen Landes aus. Auch sie verknüpften ganz klar die Diagnose eines Problems mit der optimistisch artikulierten Möglichkeit des Verbesserns durch Sauberkeit; diese sollte letztlich zur Schönheit führen. Horace McFarland, Präsident der American Civic Association, verkündete in einem Artikel in der Zeitschrift Architectural Art and Its Allies der Louisiana Architectural Association unter der Überschrift »The Civic Problem«: »Cities and towns all over the country are doing better, are cleaning up; are making their streets, and houses, and parks and public places more sightly and sometimes actually beautiful.« 18 Die in diesen Jahren die gesamten USA erfassende Welle des 16. Clean Up Day Will Last the Whole Week, in: Daily Picayune, 10.8.1905. 17. Cleaning Up and Beautifying the City, in: Times-Picayune, 14.1.1915. 18. The Civic Problem, in: Architectural Art and Its Allies 2, 1906, H. 2, S. 6.
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City Beautiful Movement, so scheint es, basierte – anders als ihr später durch die Anhänger des Internationalen Stils und des funktionalen Wohnungsbaus vorgeworfen – auf dem Funktionalen und Nützlichen.19 Sowohl Schönheit als auch Gesundheit wurden als Verbesserung wahrgenommen; die Wege dorthin, wie etwa Müllentsorgung, Straßenpflasterung, Kanalisation, aber auch Parkentwürfe, Bebauungsregulierung und der Kampf gegen billboards, die Reklameschilder im öffentlichen Raum, oder gegen überirdisch verlaufende Stromleitungen wurden daher unter dem breit gefassten Schlagwort des civic improvement subsumiert. Dieser Begriff verdeutlicht nur zu gut die hinter diesen Kampagnen liegende, selten explizit artikulierte Perzeption der gegenwärtigen Situation der Stadt als verbesserungsbedürftig.20 Betrachtet man diese unterschiedlichen Initiativen in der Zusammenschau, so lassen sich bei allen Maßnahmen neben einem wiederkehrenden Ablaufmuster auch eine ähnliche Sprache, ähnliche Bilder und Visionen der verbesserten, also ›guten Stadt‹ herausfi ltern. Man kann so versuchen, dem normativen Inhalt der vagen Begriffe von ›Schönheit‹ und ›Verbesserung‹ über die Beseitigung von Müll hinaus nachzuspüren. Leitend scheint um 1900 in New Orleans das Bild des reibungslosen und effizienten Fließens. Viele Projekte resultierten aus dem Wunsch, Hindernisse in der Zirkulation von Personen, Fahrzeugen, Gütern oder Luft zu beseitigen. Selbst die Konzeption des öffentlichen Parks als Ruheraum jenseits von Verkehr und Hektik gründete letztlich im Ideal des Fließens, und zwar der Luftzirkulation. Die typische biologistische Metapher von der »Lunge der Stadt« deutet auf die Wahrnehmung der Parks als »Zirkulationsgeneratoren« im städtischen Gewebe hin. Dank dieser Eigenschaft waren open spaces wiederum essentiell für die Gesundheit der Stadtbevölkerung.21 Eindeutiger noch galt die Hoheit des Fließens für die Gestaltung der Straßen, die als Bewegungsräume verstanden wurden. Straßenpflaster war demzufolge höchste Priorität. Auch die Bürgersteige sollten frei für den Fußgängerverkehr bleiben, vor allem im belebten business district. Dies erhoff te man sich von neuen Bauregulierungen. Ein Leitartikel in der Zeitschrift Architectural Art konstatierte 1911: »One of the vices of medieval New Orleans was the projection of steps, show windows, fruit stands and other things upon the sidewalk.«22 Ein charakteristisches Merkmal der Architektur von New Orleans, die von Säulen gestützten, der Häuserflucht vorgelagerten gusseisernen Balkone, sollten dementsprechend nach den Plänen der Association of Commerce (vormals Progressive Union) abgerissen werden – zumindest auf der Haupteinkaufsstraße Canal Street. Sie 19. In einem Artikel etwa fordern Francis W. Crosby und Paul Revere Henkel einen praktischen Plan – »the foundation of which should be utility« –, aus dem dann eine City Beautiful resultieren solle: New Orleans – The City Beautiful, in: Architectural Art and Its Allies 2, 1907, H. 7, S. 10. 20. Ebd. 21. Our Parks, in: Architectural Art and Its Allies 2, 1906, H. 4, S. 9. Dieser Topos findet sich bereits in den 1880er Jahren, vgl. Public Squares, in: Times-Democrat, 18.11.1888. 22. Editorial, in: Architectural Art and Its Allies 6, 1911, H. 10, S. 8.
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standen nicht nur den Einkaufenden im Weg, sondern viele Hauseigentümer nutzten zudem die Balkone, um daran Reklametafeln anzubringen und so ihr Einkommen aufzubessern (Abb. 13).23 Billboards aber waren den selbsterklärten Verschönerern der Stadt ein sprichwörtlicher Dorn im Auge, da sie Zirkulation gleich auf mehreren Ebenen behinderten: Sie störten nicht nur den Verkehr, sondern auch die Luftbewegung, den Lichteinfall und die visuelle Uniformität der Häuserfassade, also das reibungslose Entlanggleiten des Blicks.24 Nur ohne die Balkone und Reklametafeln könne die Canal Street einer »main thoroughfare of an aggressive, progressive, attractive and beautiful city« würdig werden.25 Wie konkret das gemeint war, geht aus dem Entwurf eines building codes für Canal Street hervor: »That no signs of any nature be permitted on the curbs or sidewalks except such signs which are in neat metal frames and are on movable and substantial metal stands; and, provided further, that the outside measurements from edge to edge of frame do not exceed seven feet in height and four feet in width; further provided that such signs shall be permitted only if placed immediately against the property line; and that no more than two signs be permitted in front of any building.«26
Abbildung 13: New Orleans, St. Charles Avenue, 400 block, 26.2.1906 (Foto: John N. Teunisson)
23. Report of Committee on Canal Street Beautifying, May 8, 1914 (University of New Orleans, Special Collections, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, MS66-16, Clasp Volume Dec. 16, 1913-Jan. 11, 1915). 24. Ebd. 25. Ebd. 26. Ebd.
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Eine gewisse Monotonie entsprach dabei durchaus dem ästhetischen Ideal. Charles Mulford Robinson, Journalist, Professor für Civic Design an der University of Illinois und einer der großen Vordenker des civic improvement und der Stadtplanung in den USA, kommentierte in diesem Sinn einen building code aus Paris: »The result on the newer thoroughfares is undoubtedly monotonous, but the eye travels down the long vista of street without distraction of its enjoyment.«27 Zur Standardisierung und Verschönerung der Straße gehörte auch, das unüberschaubare Wirrwarr an oberiridisch verlegten Leitungen zu beseitigen. Unter dem Titel »The Removal of Overhead Wires« widmete sich 1907 in der Fachzeitschrift der Architekten ein Artikel dem leidigen Problem des »tangle of telegraph, telephone, electric light and trolley feed wires« und forderte, »modern inventions« auszunutzen um solchen »modern difficulties« zu begegnen.28 Selbst diese oft auch ästhetisierten Ikonen der Moderne, die Daten und Strom transportierten, Inbegriff der networked city, wurden als Störfaktoren im Stadtbild perzipiert, ließen sich aber – so die Hoffnung – mit den fortschrittlichen Techniken der Moderne selbst eliminieren. Das Ideal der Reibungslosigkeit verlangte folglich nach einer Einheit und Uniformität der Gestaltung, und damit auch nach einer bestimmten Form von Ordnung.29 Immer wieder wurden die Topoi des Fließens und der uniformen Ordnung explizit als »modern« bezeichnet, ihr Gegenteil etwa als »medieval« abqualifiziert. Entgegen dem Ruf der Stadt wollten ihre Eliten signalisieren, dass die vor dem Bürgerkrieg sogenannte Queen City of the South am New South, dem kapitalistischen, modernen, industriellen Süden der Nachkriegszeit, teilhatte. Bewegung und Fortschreiten offenbaren sich hier als genuin moderne Topoi, die sich in der physischen Gestaltung materialisieren ließen. Man könnte argumentieren, dass mit der Dominanz dieser Diskurse hier schon – zumindest in stadtplanerischer, formal-ästhetischer Hinsicht – eine Art New Deal Order avant la lettre begann. Gerade die Wahrnehmung der Reklametafeln im städtischen Raum stehen dafür paradigmatisch. Nicht umsonst gründeten die Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown 1967 in Philadelphia eine nur halb ironisch gemeinte Society to Preserve Our Billboards, mit der sie wie in ihrem Manifest von 1972, »Learning from Las Vegas«, gegen den Ordnungsdiskurs der Stadtplaner und die glatten Oberflächen ihrer Traumstädte polemisierten und für die Akzeptanz der disparaten, gewachsenen, aber funktionierenden bestehen27. Building Regulations, in: Architectural Art and Its Allies 6, 1911, H. 11,
S. 7. 28. The Removal of Overhead Wires, in: Architectural Art and Its Allies 2, 1907, H. 11, S. 1. 29. Vgl. auch die Bemühungen einer Gruppe von Unternehmern aus der Prachtstraße St. Charles Avenue, die forderte, die Straße zu verschönern, indem »all sheds, unsightly signs and obstructions« von der Straße entfernt und ein »uniform system of lighting standards« installiert werden sollte. Meeting of the City Beautifying Committee, November 29, 1913 (University of New Orleans, Special Collections, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, MS66-9, Scrapbook Jan. 13, 1913-Jan. 9, 1914).
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den Ordnung des öffentlichen Raums argumentierten. Damit versetzten sie dem master narrative moderner Stadtplanung von der stetigen Verbesserung der Stadt auf Basis einer in die Zukunft projizierten, zu erreichenden Idealvorstellung einen zentralen Stoß.30 Auch im New Orleans des frühen 20. Jahrhunderts wurden jedoch bereits einige Stimmen laut, die einer anderen Vision der Stadt anhingen, die nicht durch das Ideal der reibungslos fließenden Ordnung der Moderne bestimmt wurde. Gerade an den Plänen der Association of Commerce, die Balkone der Geschäftsstraße Canal Street oder der Prachtstraße St. Charles Avenue abreißen zu lassen, entzündeten sich heftige Kontroversen. Eine Koalition von Künstlern, Architekten und in den Women’s Clubs engagierten Frauen versuchten, die Verteidiger der neuen Ordnung mit deren eigenen Argumenten zu schlagen. Auf die von städtischen Abgeordneten geäußerte Befürchtung, Autos könnten in die Balkone tragenden Säulen rasen, antwortete eine Protestlerin: »Not if the automobiles don’t go on the sidewalks […]. And if by any chance they do, it would be far better to have them run into a post than into a pedestrian. I should say they were a safety device.«31 Die koloniale Architektur wurde so zum funktionalen Element in der modernen Ordnung des Fließens stilisiert, um sie vor dem Abriss zu wahren. Hinter dieser Rhetorik steckte aber eine ganz andere Motivation der Balkonbefürworter: die Angst, New Orleans würde durch das Vernichten der traditionellen Architektur ihr Gesicht verlieren. Gerade die gusseisernen Balkone, so das Argument, seien das, was die Stadt einmalig machte. Warum sollte New Orleans aussehen wie jede beliebige amerikanische Stadt?32 Für diese denselben Schichten entstammenden Protestler ging es letztlich damit nicht nur um eine andere Ästhetik, sondern um andere Ideale, die diese Ästhetik repräsentierte. Nicht die mitsamt dem restlichen New South in die Zukunft gleitende moderne Stadt lag ihnen am Herzen, sondern die identitätsstiftende, New Orleans von anderen Städten des Südens abgrenzende, koloniale Vergangenheit.33 30. Vgl. dazu STIERLI, Martino: Die Stadt ins Bild gerückt: Der Alameda Report als Beispiel visueller Stadtanalyse bei Venturi und Scott Brown; in: Lampugnani, Vittorio Magnago/Noell, Matthias (Hg.): Stadtformen: Die Architektur der Stadt zwischen Imagination und Konstruktion, Zürich 2005, S. 283-299, hier S. 283-287. 31. Vgl. exemplarisch: Balcony Landmarks Revered By Women, in: New Orleans Item, 1.10.1916. 32. Etwa: A Question of Architecture, in: Architectural Art and Its Allies 8, 1912, H. 4, S. 20. 33. Zur weiteren, mit diesem Streit beginnenden Geschichte der Denkmalpfl ege in New Orleans, die sich primär auf die Bewahrung des French Quarter konzentrierte und ihren Zusammenhang zum aufkommenden Tourismus, vgl. STANONIS, Anthony J.: Creating the Big Easy: New Orleans and the Emergence of Modern Tourism, 19181945, Athens 2006, S. 141-169. Zur Koalition der Bewahrer: R AFFRAY, Jeannette: Origins of the Vieux Carré Commission, 1920-1941, in: Louisiana History 40, 1999, S. 283-304. Ein Überblick: CHRISTOVICH, Mary Lou: A New Custom in New Orleans: Preserving the Past, in: Kemp, John (Hg.): New Orleans: An Illustrated History, Woodland Hills 1981, S. 193-208; eine Einordnung in die Geschichte der Denkmalpflege
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Man könnte fragen, wo in dieser Debatte der soziale Aspekt des social engineering zum Tragen kommt. Das in diesen Aushandlungsprozessen greifbare Ordnungsdenken scheint an der Oberfläche der Stadt stehenzubleiben, ohne auf ihre Gesellschaft auszugreifen. Die meisten Äußerungen der Zeitgenossen zum Thema »Stadtverbesserung« bewegen sich auf einer scheinbar formalen Ebene. Das liegt aber wohl weniger daran, dass gesellschaftliche Prozesse getrennt von den Entwicklungen des Stadtraums gedacht wurden, als dass den Manipulationen der Oberfläche der Stadt eine gesellschaftliche Stoßrichtung in einer solch selbstverständlichen Weise inhärent war, dass sie nicht artikuliert werden musste. Fast könnte man sagen, dass die Verärgerung über ein Wirrwarr von Stromleitungen lediglich das verbildlichte Unwohlsein angesichts einer komplexen, unübersichtlich gewordenen Gesellschaft darstellte, deren unterschiedliche Stränge gut sichtbar, aber unüberschaubar durch die Straßen liefen. Die Unregelmäßigkeit des Stadtraums, der Müll, der Schlamm, die Reklame und vor allem die Tatsache, dass sich viele Einwohner New Orleans’ daran störten, waren äußerer Ausdruck eines um 1900 verbreiteten Unbehagens angesichts der vielfachen Bruchlinien, die die Gesellschaft der Stadt durchzogen. Auf verschiedenen Ebenen lässt sich das genauer festmachen. Erstens geht es in den diversen Manifestationen des civic improvement immer um die Gemeinschaft der Städter. Während civic mit »städtisch« übersetzt werden kann, schwingt immer auch die Konnotation von »städtischer Gemeinschaft« mit. Das City Beautifying Committee der Association of Commerce beispielsweise änderte seinen Namen 1913 in Civic Improvement Committee, mit der Begründung, dem alten Namen mangele es an Würde.34 Civic, das war also mehr als nur urban oder city. Genauer betrachtet wandte sich die Betonung von civic ebenso wie die von public – ganz wie in der Progressivismus-Forschung für diese Ära ausgemacht – gegen einen als übersteigert wahrgenommenen Individualismus und setzte auf den verbindenden Bürgersinn. Auf dem engen Raum der Städte wurden gesellschaftliche Interdependenzen deutlicher und es schien einfach nicht mehr möglich, den rugged individualism der frontier-Zeit auszuleben. Mayor Martin Behrman rief 1905 angesichts der Gelbfieberepidemie alle Einwohner energisch dazu auf, in den Clean upKampagnen zusammenzustehen: »When all the people of a community of the size and magnitude of ours will lay aside their differences, personal, religious and political, to band themselves together for the common good, there can be no doubt of the genuineness of the civic pride of this community.«35 Abweichungen waren nicht willkommen; der gesellschaftlichen Desintegration, die als Merkmal des Gilded Age und seines Laissez faire-Individualismus wahrgein den USA: HOSMER JR., Charles B.: Preservation Comes of Age: From Williamsburg to the National Trust, 1926-1949, Charlottesville 1981, S. 290-295. 34. Meeting of the City Beautifying Committee, March 6, 1913 (University of New Orleans, Special Collections, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, MS66-9, Scrapbook Jan. 13, 1913-Jan. 9, 1914). 35. Mayor’s Special Message for the Trade Edition, in: Daily Picayune, 1.9.1905.
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nommen wurde, sollte Einhalt geboten werden. Amerikanischer Individualismus sollte wieder in seiner ursprünglichen, positiven Form praktiziert werden, im Jefferson’schen Sinn als notwendiger Bestandteil einer tugendhaften, demokratischen Gemeinschaft. Jeder sollte seinen Beitrag leisten und bei sich selbst anfangen, um die Stadt von innen her, von ihren kleinsten Einheiten her, zu erneuern. Durch das individuelle Säubern des eigenen backyard wurde der Einzelne gewissermaßen in ein höheres gemeinschaftliches Ziel eingebunden. Sein privater Wohnraum war dabei das Basismodul der besseren Stadt, was sich auch in den Metaphern von der Stadt als »municipal house«36 und dem Clean Up als »housecleaning«37 äußerte. Individuelles Engagement sollte sogar über die Stadt hinauswirken: Es gebe »work for every man, woman and child, great or small, humble or prominent, who feels the willingness to do something to make our America a better and more beautiful place to live in.«38 »Besser« hatte dabei einen stark moralischen Beigeschmack. Die 1904 von Anwohnern und Hauseigentümern gegründete St. Charles Avenue Improvement Association gab sich in ihrer Satzung das Ziel, die Straße »in orderly condition« zu halten, und begründete dies mit wirtschaftliche Motiven – Touristen sollten angelockt werden –, aber auch mit dem moralischen Effekt, den eine ordentliche Umgebung auf Kinder und arme Leute haben würde.39 Diese sollten durch eine schöne öffentliche Straße zu »home neatness« und der »construction of a high-class home angehalten werden, 40 das heißt, nicht nur sollte eine schöne Stadt aus den individuellen Bemühungen des Einzelnen um ein schönes Zuhause entstehen, sondern andersherum sollte die schöne Stadt den Ärmeren ein leuchtendes Vorbild sein. Wenn auch das individuelle home gewissermaßen die Keimzelle der städtischen Ordnung darstellte, so waren hier doch ganz spezifische homes gemeint: Musterhomes waren die der middle oder upper classes. Mit der moralischen Stoßrichtung des improvement und dem blühenden model home erweisen sich jedoch – und das wäre die zweite Ebene gesellschaftspolitischer Bedeutung – das common good, der better place, die orderly condition und deren formale Materialisierung als von gesellschaftlich gedachten, normativen Leitbildern bestimmt, die von den Trägern der Reformkampagnen geprägt waren. Bei aller Rhetorik des individuellen Engagements erschienen Arme eher als Objekte des Clean Up denn als Akteure. Die Topoi und Bilder des Clean Up wurden zum Teil explizit auf Menschengruppen übertragen. Im Rahmen der Anti-Moskito-Kampagne von 1905 etwa fragte eine Delegation von Bewohnern des 8th und 9th ward bei dem Koordinator der freiwilligen Reinigungskräfte an, was sie bloß tun 36. Conference of Citizens Plans General Cleaning, in: Daily Picayune, 4.8.1905. 37. New Orleans, the Beautiful, in: Architectural Art and Its Allies 7, 1912, H. 8, S. 5. 38. The Civic Problem, in: Architectural Art and Its Allies 2, 1906, H. 2, S. 6. 39. St. Charles Avenue Sets a Patriotic Example, in: Daily Picayune, 24.5.1904. 40. New Orleans, the Beautiful, in: Architectural Art and Its Allies 7, 1912, H. 8, S. 6.
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sollten angesichts von einigen Italienern, die aus vom Fieber stärker betroffenen Distrikten geflohen waren und sich nun in den Bezirken der Delegation niedergelassen hatten. Die Zeitungen berichteten über diese Anfrage. Gleich den auf der Straße verstreuten Abfällen waren die Italiener vor den Haustüren der Anfragenden verteilt, und gleich unliebsamer Objekte sollten sie dorthin zurückgeschaff t werden, wo sie hergekommen waren. 41 Die Abneigung gegen eine seit den 1890er Jahren massive Immigration aus Italien, vor allem aus Sizilien, fand hier einen dezidierten, wenn auch vergleichsweise subtilen Ausdruck. Die anti-italienische Stimmung in der Stadt hatte ihren Höhepunkt bereits einige Jahre zuvor erreicht, als 1891 elf Italiener gelyncht worden waren. Zwischen den 1870er und 1890er Jahren war die Zahl der Italiener in New Orleans auf ca. 30.000 gestiegen, was etwa 11 Prozent der Einwohner ausmachte; die meisten Einwanderer stammten aus Süditalien. 42 Aus diesem Grund wurde das French Quarter zwischen 1875 und dem Zweiten Weltkrieg teilweise auch Italian Quarter, Little Italy oder gar Little Palermo genannt. 43 Dass die Daily Picayune nun angesichts des Italiener-feindlichen Ansinnens der Delegation zudem betonte, bei dieser handele es sich um »gentlemen«, die »the good citizens of that district« repräsentierten, 44 teilte die Bürger explizit in good and bad, und verdeutlicht, welche Wertordnungen mit einer scheinbar objektiven und oberflächlichen Aktion wie der Schmutzbekämpfung verbunden waren. Es handelte sich hier um einen handfesten konfessionellen bzw. ethnic und class bias der reformerischen Mittel- und Oberschichten, der nicht nur durch aufklärerische Sprache und das Bewusstsein, die Vernunft auf der eigenen Seite zu haben, legitimiert wurde, sondern auch durch religiöse Metaphorik, etwa die der »crusade«, 45 des »vice«, 46 der »civic sins«47 und des »awakening«, 48 die den Reformern den Status von modernen Aufklärern und Heilsbringern zugleich zuschrieb: »We may then become pure missionaries, and go openly to the unenlighted.«49 Dabei ging es um Reibungslosigkeit, nicht nur im Verkehr und der ästhetischen Betrachtung von Fassaden, sondern auch im gesellschaftlichen Zusammenleben. Konkrete Vorbilder lieferten europäische Nationen: »Among a good many things that the Germans are, they are the cleanest people on earth. Let anybody go to their smiling white capital, then dare to challenge this statement. […] It is a city without slums, a 41. Magnificent Work by Clean-Up Clubs, in: Daily Picayune, 30.7.1905. 42. R IMANELLI, Marco/POSTMAN, Sheryl L.: Introduction: A Centennial Retrospec-
tive on the 1891 New Orleans Lynchings, in: Dies. (Hg.): The 1891 New Orlenans Lynchings and U.S.-Italian Relations: A Look Back, New York 1992, S. 1. 43. LEMMON, Alfred U.A. (Hg.): Charting Louisiana: Five Hundred Years of Maps, New Orleans 2003, S. 306. 44. Magnificent Work by Clean-Up Clubs, in: Daily Picayune, 30.7.1905. 45. City Officials Willing to Help, in: Daily Picayune, 27.7.1905. 46. Editorial, in: Architectural Art and Its Allies 6, 1911, H. 10, S. 8. 47. The Civic Problem, in: Architectural Art and Its Allies 2, 1906, H. 2, S. 6. 48. Ebd. 49. Ebd.
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city without gutters, a city without smoke, a city without beggars, a city without offensiveness in any outward form. […] Berlin might well be taken by the world as a model of all that a modern city should be.«50 Offensiveness, Anstößigkeit, sei es in Form von Rauch oder Bettlern, oder eben im Gegenteil von smiling and white, war genau das, was vermieden werden sollte, das Gegenteil von harmonischer Kohärenz – die damit auch mit klassen- (und rassen-)spezifischer Bedeutung aufgeladen wurde und ihre vorgebliche ästhetische Unschuld verlor. Die sichtbare Präsenz von Armut war für viele Einwohner New Orleans’ offenbar Zeichen einer auseinanderbrechenden Gesellschaftsordnung, die dringend gekittet werden musste. Ganz pragmatische Dinge wie building codes wurden ebenfalls explizit mit den Armen in Verbindung gebracht. So ironisierte die Architekturfachzeitschrift nach dem Scheitern einer building ordinance im Stadtrat: »Now we learn that this is to be abandoned because poor people who like to smoke their pipes on the steps of an evening could not as conveniently see the passing throng if the steps are behind the building line.«51 Arme Leute werden hier als Störfaktoren in der geschäftigen, fließenden Ordnung der modernen Industriestadt repräsentiert, als Beobachter, abgeschlagen am Rande.52 Dass es neben diesen ethnic und class biases in einer Jim Crow-Stadt des Südens auch rassistische Stoßrichtungen gab, steht außer Frage. Die Ursulines Avenue’s Improvement Commission etwa beschäftigte sich nicht nur mit renitenten Italienern oder dem Pflanzen von 375 Bäumen, sondern auch mit einer Horde von »young negroes«, die sich jeden Abend an einer Straßenecke von Ursuline Avenue versammelte und als Störfaktor perzipiert wurde.53 50. Cleanest City in the World, in: Architectural Art and Its Allies 2, 1907, H.
8, S. 1. 51. Editorial, in: Architectural Art and Its Allies 6, 1911, H. 10, S. 8. 52. Vgl. auch die Verbannung von Zeitungsverkäufern aus dem Kernbereich der
Einkaufsstraße Canal Street in der von der Association of Commerce dem City Council empfohlenen building ordinance, Report of Committee on Canal Street Beautifying, May 8, 1914 (University of New Orleans, Special Collections, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, MS66-16, Clasp Volume Dec. 16, 1913-Jan. 11, 1915). 53. Ursulines Avenue’s Efficient System, in: Daily Picayune, 10.5.1894. Bemerkenswert ist, dass in den öffentlichen Debatten um die Clean Up Campains der Faktor »Rasse« kaum eine Rolle spielt, zumindest nicht explizit. Dabei hat DOYLE, New Men, New Cities, New South, S. 284, gezeigt, dass die Hygienereformen häufig Segregation nach sich zogen, da viele Weiße glaubten, sie könnten sich durch Distanzierung von den Schwarzen gesund halten. Möglicherweise war es in New Orleans so selbstverständlich, dass die Schwarzen ganz unten in der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelt waren, dass es nicht genannt werden musste; oder aber die ständig evozierten »Armen« sind als Codewort für »Black« zu verstehen. Andererseits könnte der Fokus in New Orleans in diesen Jahren auch durch die italienische Immigration auf diese kapriziert gewesen sein; zudem unterscheidet sich das Rassensystem in Louisiana grundlegend von dem der anderen Südstaaten, da hier statt einer schwarzweiß Dichotomie im 19. Jahrhundert ein Dreikastensystem herrschte. Viele schwarze
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Was im Stadraum engineered werden sollte, war folglich eine kohärente, integrierte Gesellschaft der industriellen, kapitalistischen Moderne,54 effizient, ohne Ecken und Kanten, wirtschaftsstark, tourismusfähig, harmonisch anzusehen und harmonisch in ihrer Zusammensetzung, und das nach den Leitbildern der weißen, anglo-protestantischen Mittel- und Oberschichten, im Rückbezug auf eine prä-industrielle Zeit, in der die amerikanischen Werte des Individualismus und der community, vereint im republicanism, noch nicht auseinandergedriftet waren. Fast mutet es an wie eine frühe Vision von suburbia, die ihren Höhepunkt wohl nicht zufällig in der Hochphase des sog. New Deal Order in den 1960er Jahren hatte, als das ideale New Orleans als City Beautiful 1909 wie folgt beschrieben wurde: »with beautiful homes embowered in flowers and vines, traversed by wide parklike avenues, and umbrageous country lanes, whose verdure and riot of color will make us the garden of the South.«55 Der Topos des geordneten Fließens der modernen Großstadt wurde hier in eine Vision der Vergangenheit, des ländlichen Amerika, geblendet, ja geradezu untrennbar von diesem gedacht; als hätte der better place, die beautiful city der Zukunft ihren Ort genau am Schnittpunkt der Vision einer ländlich-idyllischen Gemeinschaft der frühen Republik und der Geschwindigkeit der Moderne.56 Von der Perzeption einer inkohärenten modernen Gesellschaft über das Bedürfnis, diese neu und besser zu ordnen, sowie den dafür Pate stehenden Modellen früherer Ordnung bis hin zu den modernen, wissenschaftlichen und technischen Mitteln,57 ja sogar bis zu den Topoi und Bildern für die neue Harmonie der städtischen Gemeinschaft: Ordnungsdenken und social engineering lassen sich in den USA schon für die Jahrhundertwende festmachen. Einwohner New Orleans’ waren relativ gut situiert; vgl. MÖLLERS, Nina: Kreolische Identität. Eine amerikanische »Rassengeschichte« zwischen Schwarz und Weiß. Die Free People of Color in New Orleans, Bielefeld 2008. Gleichzeitig findet sich in New Orleans eine andere Siedlungsstruktur als in anderen Südstaatenstädten, da Weiße und Schwarze weniger segregiert wohnten: LEWIS, New Orleans, S. 50-51. 54. Zur spezifisch ökonomischen Motivation hinter den Improvement-Programmen vgl. etwa Building Regulations, in: Architectural Art and Its Allies 6, 1911, H. 11, S. 7f. 55. A City Beautiful, in: Daily Picayune, 22.2.1909. 56. MACHOR, James L.: Pastoral Cities: Urban Ideals and the Symbolic Landscape of America, Madison 1987, spricht für das Ideal der Verschmelzung von Stadt und Land von pastoral city. Meines Erachtens kommt dabei jedoch die Obsession mit Fließen, mit Verkehr, mit Bewegung als Kern der modernen Stadt und ihrer formalen Gestaltung zu wenig zum Ausdruck, zumal das »ländliche« Ideal der vormodernen Gemeinschaft oft auch bei Veränderungen im Stadtbild leitend war, die gerade keine »ländlichen Formen«, etwa Bäume oder Parks, in die Stadt einführten, sondern mittels höchst moderner Vorstellungen wie besserer Zirkulation und Reibungslosigkeit der Abläufe die Gemeinschaft der Individuen zu stärken suchten. 57. Vgl. BROWNELL, Blaine A.: The Commercial-Civic Elite and City Planning in Atlanta, Memphis, and New Orleans in the 1920s, in: Journal of Southern History 41, 1975, S. 339-368, bes. S. 363.
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Allerdings waren hier nicht Experten oder staatliche Technokraten am Werk, im Gegenteil: Bezüglich der Stadtplanung selbst gab es schlicht noch keine Experten, da sie als Disziplin ja gerade erst in diesen Jahren entstand. Andere professionals, Mediziner und Architekten vor allem, versuchten sich – gleichsam nebenberuflich – hier zu positionieren und den öffentlichen Raum als neues Feld exklusiv für Experten zu definieren. Dies geschah jedoch nicht in einem Vakuum: Sämtliche Diskurse und Praktiken der »Ordnung des Stadtraums« existierten bereits, perpetuiert von in ihnen agierenden volunteers, engagierten, meist den Mittelschichten zuzurechnenden Bürgern, ob sie nun business men, Anwälte oder Architekten waren. Der »Experte« für die Ordnung des Stadtraums, der professionelle Stadtplaner, konnte erst auf diesem Nährboden entstehen. Das ganze mündete dann in den 1920er Jahren in eine enge Verklammerung der bis dahin alleinstehenden Initiativen. Diese Verklammerung nahm die Form eines Comprehensive City and Zoning Plan an. Es scheint, als löste in New Orleans zwischen 1915 und 1925 der plan das improvement ab, womit nicht nur die unterschiedlichen Bereiche verknüpft wurden, sondern auch verstärkt eine Regulierung der Zukunft ins Auge gefasst wurde – vielleicht aus der leidigen Erfahrung heraus, jedes Jahr aufs Neue bei Null anzufangen und neue Kampagnen starten zu müssen.58 Bereits 1916 hatte die Asssociation of Commerce damit begonnen, Lobbyarbeit für City Planning zu leisten und hatte sich dabei ein Zitat des New Yorker Lokalpolitikers George McAneny auf die Fahnen geschrieben: »A proper City Plan has a powerful influence of good upon the mental and moral development of the people. It is the firm base for the building of a healthy and happy community.«59 City planning erscheint hier explizit als social planning. Es dauerte noch zehn Jahre, bis sich diese Meinung in New Orleans durchsetzen konnte. In einem Meisterwerk des social engineering bündelte 1927 der Comprehensive City and Zoning Plan sämtliche vorhandenen Versuche, die Stadt zu ordnen, in einem einzigen, umfassenden Plan. »City Planning«, so die Association of Commerce, »is recognized scientific accomplishment, calling for the experience and judgment of the experts […] and is so flexible in its operation that the most extreme disorder can be readily cured and the evils corrected.«60 Es scheint, als wären alle Ordnungspraktiken und -diskurse jetzt in einem einzigen, umfassenden, kohärenten und damit selbst höchst modernen Mittel zusammengelaufen. »Orderly living and public peace and convenience cannot exist without governmental power to control and direct the acts of individuals.
58. Zu den Comprehensive Zoning Plans im amerikanischen Süden der 1920er Jahre vgl. SILVER, Christopher: Urban Planning in the New South, in: Journal of Planning Literature 2, 1987, S. 371-83. 59. Report Committee on City Planning, Oct 26, 1916 (University of New Orleans, Special Collections, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, MS66-17, Bound Volume Jan. 14, 1916-Dec. 29, 1916). 60. Ebd.
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[…] Complete individualism is anarchy.«61 Mit der entschiedenen Bekenntnis zu einer Umsetzung der angestrebten Ordnung »von oben« her, also mittels staatlicher Autorität, war man dann 1935 endgültig in den 1930er Jahren angekommen. Vielleicht ist es genau diese Kontrolle, ihre humanitäre Seite, die in New Orleans lange Jahre nach Ende des New Deal Order heute – nach Katrina – so schmerzlich vermisst wird.
61. C ITY PLANNING AND ZONING COMMISSION (Hg.): Handbook to Comprehensive Zoning Law for New Orleans, Louisiana, New Orleans 1935, S. 1f.
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The Noblest Philosophy and Its Most Eff icient Use : Zur Geschichte des social engineering in den USA, 1910-1965 Michael Hochgeschwender Die gesellschaftlichen Ursachen für das Aufkommen und die über Jahrzehnte wachsende Akzeptanz des social engineering 1 in den Vereinigten Staaten reichen weit in das sogenannte Gilded Age (1870er bis 1890er Jahre) zurück.2 Gerade diese Epoche eines stürmischen Modernisierungsprozesses, der neben einer rasch voranschreitenden Hochindustrialisierung sämtliche soziale und kulturelle Verwerfungen beschleunigter Urbanisierung nach sich zog, war weltanschaulich durch einen dogmatisch anmutenden Glauben an die unbegrenzte Gültigkeit des liberal-utilitaristischen Laissez faire-Prinzips durchdrungen. Von den Stadtverwaltungen bis hin zu den »bärtigen Präsidenten« jener Zeit glaubte eine Mehrheit der Amerikaner, die Aufgabe des Staates beschränke sich darauf, die innere und äußere Sicherheit aufrechtzuerhalten. Ansonsten bestand Politik im wesentlichen aus Parteipolitik, und dies meinte auf sämtlichen Ebenen nichts anderes, als einträgliche Posten im Rahmen einer ausgeprägten Günstlingswirtschaft meistbietend an den Mann zu 1. Unter social engineering verstehe ich in der Folge nicht jede Form intentionaler Planung oder bewusster Staatsintervention, sondern nur solche spezifischen Formen des Planungs- und Interventionsdenkens, die sich – ausgehend von einer besonderen Wertschätzung naturwissenschaftlicher Argumentationsgänge – auf den Glauben an eine privilegierte epistemische Position des soziologisch oder technisch ausgerichteten Wissenschaftlers und Experten berufen. Vgl. zur Geschichte der Planungsidee in den USA insgesamt SCHAFFER, Daniel (Hg.): Two Centuries of American Planning, Baltimore 1988; FISHMAN, Robert (Hg.): The American Planning Tradition: Culture and Policy, Washington 2000. – Für Hinweise und Diskussionen danke ich Ariane Leendertz und Nadine Klopfer, beide München. 2. Siehe etwa SANDERS, Elisabeth: Roots of Reform: Farmers, Workers, and the American State, 1877-1917, Chicago 1999, oder C AMPBELL, Ballard C.: The Growth of American Government: Governance from the Cleveland Era to the Present, Bloomington 1995.
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bringen.3 Für geraume Zeit vermochte es die wirtschaftliche Dynamik dieses Systems, die ihm innewohnenden Dysfunktionalitäten zu überdecken. Amerikanische Arbeiter verdienten im Schnitt bis zu dreimal mehr als ihre europäischen Zeitgenossen und verfügten darüber hinaus theoretisch über soziale Aufstiegschancen, die ihnen eine gesellschaftliche Ordnung zu bieten vermochte, die – ihrem eigenen Selbstverständnis nach – weder feudal noch im strengen Sinne auf Klassenbasis errichtet war. Und wenn alles scheiterte, konnte der amerikanische Traum von der unbeschränkten ökonomischen Selbstverwirklichung des auf eigenen Beinen stehenden, traditionslosen Individuums in den freien Prärien des Westens ganz im Sinne der kleinagrarischen yeomen-Utopie Thomas Jeffersons verwirklicht werden. 4 Freilich lagen allein schon in dieser weltanschaulichen Grundlage der spezifisch US-amerikanischen Variante des utilitaristischen Laissez faire eine Fülle von Aporien und ideologischen Fallstricken verborgen, die besonders im Falle verschlechterter wirtschaftlicher Rahmendaten zum Vorschein kommen mussten. Zum einen war das Ideal Jeffersons antiurban, da es bürgerliche Tugendkonzepte an freien Landbesitz knüpfte, Städte und Industrialisierung hingegen als Wurzeln von Pauperismus, Amoral, bindungslosem Individualismus und damit als Brutstätte monarchischer oder ochlokratischer Tyrannei verdammte. Der egalitäre Republikanismus Jeffersons und Jacksons war wie der lockeanische Liberalismus der Gegenseite ein den Bedingungen der Hochindustrialisierung nicht angepasstes Konglomerat von Ideen. Zum anderen verknüpfte das Laissez faire-Denken des ausgehenden 19. Jahrhunderts gänzlich inkohärente kommunitaristische, evangelikal-christliche und
3. Vgl. dazu z.B. CHERNY, Robert W.: American Politics in the Gilded Age, 18681900, Wheeling 1997; EDWARDS, Rebecca: New Spirits: Americans in the Gilded Age, 1865-1905, New York 2006; nach wie vor aktuell: PAINTER, Nell Irvin: Standing at Armageddon: The United States, 1877-1919, New York 1988; sowie DOENECKE, Justus D.: The Presidencies of James Garfield and Chester A. Arthur, Lawrence 1981. 4. Zur Wirkmächtigkeit des Denkens von Thomas Jefferson und Andrew Jackson siehe MCNICHOL STOCK, Catherine: Rural Radicals: From Bacon’s Rebellion to the Oklahoma City Bombing, London 1997; HOFSTADTER, Richard: Anti-Intellectualism in American Life, New York 1963; und bes. DERS.: The Age of Reform: From Bryan to F.D.R. New York 1955, S. 23-59; ADAIR, Douglass G.: The Intellectual Origins of Jeffersonian Democracy: Republicanism, the Class Struggle, and the Virtuous Farmer, Lanham 2000; WILTSE, Charles M.: The Jeffersonian Tradition in American History, New York 1960. Die nachhaltige Bedeutung des Mythos vom unbegrenzten Sozialaufstieg in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeigte sich gerade in der Populärkultur, z.B. in den ungemein erfolgreichen dime novels aus der Feder Horatio Algers, Jr.; vgl. dazu TEBBEL, John W.: From Rags to Riches: Horatio Alger, Jr. and the American Dream, New York 1963; SCHARNHORST, Gary: The Lost Life of Horatio Alger, Jr., Bloomington 1985, und NACKENOFF, Carol: The Fictional Republic: Horatio Alger and the American Political Discourse, New York 1994. Zum populärkulturellen Umfeld der Zeit vgl. A SHBY, LeRoy: With Amusement for All: A History of American Popular Culture since 1830, Lexington 2006, S. 73-175.
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individualistische Vorstellungen miteinander.5 Aber diese weltanschaulichen Bruchlinien wären für sich genommen nur auf der intellektuellen Ebene ein Problem gewesen. In der Praxis hatte sich das Sysem bislang bewährt. Dies änderte sich indes mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die seit den 1870er Jahren die USA mit einiger Regelmäßigkeit heimsuchten. Von 1873 bis 1877, in der Mitte der 1880er Jahre und vor allem zwischen 1893 und 1897 kam es zu Wirtschaftskrisen verheerenden Ausmaßes.6 Da zu Beginn der 1890er Jahre zugleich die bis dahin fließende Grenze im Westen, die frontier, geschlossen wurde, verlor der Mythos vom grenzenlosen gesellschaftlichen Aufstieg in den USA rasch an Verbindlichkeit und Gefolgschaft, ohne gleichwohl je ganz verloren zu gehen.7 Nicht nur schien vielen die nationale Identität der USA bedroht, die Gesellschaft als Ganzes zeigte, so zumindest eine in bürgerlichviktorianischen Kreisen weit verbreitete Perzeption, offenkundige Anzeichen von Auflösung und Verfall. Da musste man gar nicht in den notorisch rückständigen Süden des lost cause blicken, wo die weiße Mehrheit mit exzessiver Brutalität in ritualisierten lynchings ihre Dominanz im Rahmen eines auf Rasse gegründeten semikolonialen Gesellschaftssystems zelebrierte.8 Selbst im Norden und Mittelwesten, den bisherigen Bollwerken amerikanischer Zivilisation, griffen Unruhen um sich, die in erster Linie lokal, also im städtischen Bereich, spürbar waren. Dies ist gewiss der wichtigste Grund dafür, dass gerade die Städte zum Ausgangspunkt der progressivistischen Reformanstrengungen wurden. Zwar wissen wir inzwischen, dass amerikanische Stadtverwaltungen im Rahmen des Laissez faire bei weitem besser waren als ihr Ruf. Auch hat sich herumgesprochen, dass die urbanen Parteimaschinen der Demokraten und Republikaner, die den Zeitgenossen als Inbegriff von Korruption und Ineffizienz galten, gleichfalls ihre positiven Seiten hatten, vor allem wenn es um die politisch-kulturelle Integration von Migranten ging; aber selbst Jon C. Teaford, der große Revisionist unter den amerikanischen Stadthistorikern, hat einräumen müssen, dass sich die Effi zienz der vorprogressivistischen Stadtregierungen auf die Viertel der Reichen beschränkte. Mehr als ein verstärkter Einsatz von Polizeigewalt fiel den städtischen Oberen 5. Vgl. dazu ausführlicher HOCHGESCHWENDER, Michael: Amerikanische Religion: Evangelikalismus, Pfingstlertum, Fundamentalismus, Frankfurt a.M. 2007, S. 61116. 6. Siehe dazu u.a. SAUTTER, Udo: Three Cheers for the Unemployed: Government and Unemployment before the New Deal, Cambridge 1991. 7. Vgl. allg. WAECHTER, Matthias: Die Erfindung des amerikanischen Westens: Die Geschichte der frontier-Debatte, Freiburg i.Br. 1996; zu den soziokulturellen Schattenseiten und Kosten des Grenzmythos sowie seinen gewalttätigen Implikationen SLOTKIN, Richard: Gunfighter Nation: The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America, Norman 1998. 8. Zwischen 1880 und 1920 kamen im amerikanischen Süden, wo schätzungsweise 90 Prozent sämtlicher lynchings stattfanden, rund 3200 Menschen, ganz überwiegend schwarze Männer, ums Leben, siehe dazu die kulturgeschichtlich sehr dichte Analyse bei HALE, Grace Elizabeth: Making Whiteness: The Culture of Segregation in the South, 1890-1940, New York 1999, bes. S. 43-84, 199-280.
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angesichts der gravierenden Probleme häufig nicht ein.9 Und gravierend waren die Probleme allemal: In vielen Großstädten war eine Mehrheit der Bewohner nicht in den USA geboren; Italiener, Griechen, Juden aus Osteuropa, sie alle galten als rassisch oder zumindest zivilisatorisch minderwertig und schwer integrierbar. Fast erschienen sie schlimmer als die Massen irischer Unterklassenangehöriger, die im Gefolge der großen Hungersnot der 1840er Jahreeingewandert waren.10 Hinzu traten wegen der oftmals unmenschlichen Arbeitsbedingungen und der anhaltenden Wirtschaftskrise rhythmisch ausbrechende Streiks, die immer wieder in massive Gewaltanwendung auf beiden Seiten umschlugen. Allein zwischen 1880 und 1900 kam es zu beinahe 23.000 Streiks, die Hunderte von Todesopfern kosteten. Das aber war noch gar nichts im Vergleich zu den Tausenden von Toten, die alljährlich aufgrund fehlender Maßnahmen zum Arbeitsschutz gezählt wurden. Jene, die verkrüppelt wurden und durch das nicht vorhandene soziale Netz fielen, waren in diesen Zahlen überhaupt nicht berücksichtigt. Auch sie überschritten den Wert von 10.000 Opfern jährlich.11 Demonstrationen und Attentate, bis hin zur Ermordung zweier Präsidenten (James Garfield 1881 und William McKinley 1901) erschütterten zusätzlich die etablierten (Selbst-)Gewissheiten der viktorianischen Mittelkasse12 und erweckten den Eindruck, die Nation sei in ihren Grundfesten erschüttert. Die Reaktion auf die perzipierte Unsicherheit, die zugleich mit einer faktischen weltanschaulichen Delegitimation der überkommenen sozialen Eliten einherging, fiel entlang der Klassenlinien, aber auch entlang kultureller Dispositionen wie beispielsweise Religion oder Ethnizität ausgesprochen differenziert aus: Angehörige der weißen, protestantischen unteren Mittelklasse und der ländlichen, außerbürgerlichen Schichten neigten dazu, sich klassischer Reaktionsmodi zu bedienen, mit deren Hilfe sie schon früher Transformationskrisen der Moderne bewältigt hatten. Diese Kleinhandwerker, die ihre Unabhängigkeit durch die Industrialisierung ebenso bedroht sahen wie die mit ihnen verbündeten Kleinrancher und Farmer, sahen das Problem vorrangig als sozial- und individualmoralisch an. Dies teilten sie mit weiten Kreisen der traditionalen urbanen Mittelklassen, den kleineren Fabrikanten, Bankern, 9. TEAFORD, Jon C.: The Unheralded Triumph: City Government in America, 18701900, Baltimore 1984, S. 268-80; MOHL, Raymond A.: The New City: Urban America in the Industrial Age, 1860-1920, Wheeling 1985. 10. Vgl. zur Migration DANIELS, Roger: Coming to America: A History of Immigration and Ethnicity in American Life, New York 2002, S. 185-285; zu den nativistischxenophoben Gegenbewegungen vgl. BENNETT, David H.: The Party of Fear: The American far Right from Nativism to the Militia Movement, New York 1995. 11. BRUCHEY, Stuart: Enterprise: The Dynamic Economy of a Free People, Cambridge 1990, S. 419; WHITECLAY CHAMBERS II, John: The Tyranny of Change: America in the Progressive Era, 1890-1920, New Brunswick 2001, S. 1-24. 12. Vgl. dazu STEVENSON, Louis L.: The Victorian Homefront: American Thought and Culture, 1860-1880, Ithaca 2001; SUTHERLAND, Daniel E.: The Expansion of Everyday Life, 1860-1876, Fayetteville 2000; SCHLERETH, Thomas J.: Victorian America: Transformations in Everyday Life, 1876-1915, New York 1992.
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aber auch dem Bildungsbürgertum. Allerdings zogen die unterschiedlichen Gruppen voneinander abweichende Schlussfolgerungen aus der gegebenen Situation. Zwar beharrten beide gesellschaftlichen Lager darauf, insbesondere den Migranten die Werte der viktorianischen Mittelklassen, also Selbstkontrolle, Fleiß, Arbeitsdisziplin, Temperenz oder Abstinenz, Pünktlichkeit, Achtung vor Autoritäten etc., beizubringen, aber die dabei gewählten Mittel unterschieden sich teilweise erheblich. Bis weit in die urbanen Mittelklassen hinein kam es zu nativistischen, antisemitischen, antikommunistischen und antikatholischen Reaktionen. Es war beileibe kein Zufall, dass der zweite KuKlux-Klan, die wohl bekannteste und mit vier bis acht Millionen Mitgliedern 1924 größte hochkonservative Organisation zur Verteidigung viktorianischer Werthaltungen, seine Hochburgen weniger im Süden als in den Klein- und Mittelstädten des Mittelwestens, aber durchaus auch in Großstädten des Nordens, Mittelwestens und Westens hatte.13 Hier versuchte man, mit oder ohne Gewalt die Herrschaft der weißen angelsächsischen Protestanten und ihrer Weltanschauung gegenüber den Immigranten und der sich radikalisierenden Arbeiterschaft zu verteidigen. Parallel dazu entwickelte sich gerade in diesen Kreisen eine neue evangelikale Erweckungsbewegung, die ab 1915 mit den fundamentalistischen Impulsen aus den akademischen Eliten Princetons, Harvards und Yales unter antideutschen und selektiv modernen Vorzeichen verschmolz.14 Ähnliche Ziele verfolgten die Populisten, deren Klientel sich immer wieder mit der des Klan und sogar jener der Evangelikalen und Fundamentalisten überschnitt.15 Selbst die frühen urbanen Reformer, die ebenfalls aus den alten Mittelklassen stammten, etwa die mugwumps der 1880er Jahre, teilten noch die grundsätzlich moralische Analyse der gesellschaftlichen Situation in den USA. Unter etwas anderen Gesichtspunkten galt dies auch für Katholiken, gleichgültig ob sie sich bereits in der Mittelklasse etabliert hatten oder nicht. Allerdings standen sie nicht selten dem hitzigen assimilatorischen Denken16 der anderen reformorientierten Bewegungen ebenso fern wie deren grundsätzlicher Verachtung von Armut und ihrer einseitigen Ausrichtung auf spezifisch calvinistisch-bürgerliche Werte. Katholiken reagierten entsprechend zwar gleichfalls mit einer moralischen Analyse, die aber in ihren Wert13. JACKSON, Kenneth T.: The Ku Klux Klan in the City, 1915-1930, Chicago 1992. 14. HOCHGESCHWENDER, Amerikanische Religion, 117-65. 15. Vgl. zum Populismus HOFSTADTER, The Age of Reform, S. 60-93; PRIESTER, Ka-
rin: Populismus: Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt a.M. 2007, S. 78-122. Der Populismusbegriff von Priester ist nicht immer ganz trennscharf, wenn sie z.B. John Dewey und seine League for Independent Political Action dem Populismus zurechnet. Beides scheint mir eher in den hier behandelten Kontext des social engineering zu gehören, der sich, wie noch zu zeigen ist, in vielfältiger Hinsicht vom Populismus abgrenzte. Eine ausgesprochen positive, fast schon revisionistische Darstellung des Populismus bietet SCHIMMER, Ralf: Populismus und Sozialwissenschaften im Amerika der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1997. 16. Vgl. dazu GORDON, Milton M.: Assimilation in American Life: The Role of Race, Religion, and National Origins, New York 1964; PICKUS, Noah: True Faith and Allegiance: Immigration and American Civic Nationalism, Princeton 2005.
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haltungen einem konservativeren, anticalvinistischen und antibürgerlichen Impuls verhaftet blieb.17 Wegen ihres moralisch-normativen Ansatzes rangen sich weder Nativisten noch Populisten, mugwumps, Evangelikale oder Katholiken je zu einem umfassenden soziokulturellen Reformanspruch durch. Ihnen ging es immer nur um graduelle Amelioration, sofern sie überhaupt über ein Konzept von Gesellschaft verfügten und nicht rein in der Kategorie individuellen Versagens dachten. Die Reflektierteren unter ihnen aber lehnten holistische, gesamtgesellschaftliche Reformen aus epistemischen und anthropologischen Gründen ab. Gerade viele Katholiken, aber auch sozialreformerische Konservative folgten darin den Vorgaben des britischen Gründungsvaters des modernen Konservativismus, Edmund Burke, der stets bestritten hatte, dass Menschen die erforderlichen Kenntnisse für eine gesellschaftliche Totalreform hätten. Überdies, so das religiös-anthropologische Argument, seien sie, selbst wenn sie das Erkenntnisvermögen hätten, wegen der durch die Erbsünde geschwächten Vermögen der Vernunft keinesfalls in der Lage, die gewonnenen Erkenntnisse anzuwenden. Daher verbiete sich jeder Glaube an nichtgradualistische, umfassende Lösungen von selbst. Diesem anthropologischen Skeptizismus huldigten vor allem religiöse Reformer, während andere sich mit der epistemischen Variante begnügten. Darin nun unterschieden sie sich heftig und radikal von der progressivistischen Bewegung, aus deren Schoß schließlich die Idee des social engineering sachlich und personell hervorging. Man wird heute nicht mehr so simpel wie einst Richard Hofstadter die Progressivisten mit den Angehörigen der neuen Mittelklassen, den sogenannten professionals, den Technikern, Ingenieuren, Managern etc., gleichsetzen können.18 Dazu war diese transatlantisch vernetzte sozialliberal-bürgerliche Reformbewegung19 viel zu mannigfaltig und in sich widersprüchlich.20 Gerade viele frühe Progressivisten der 1890er Jahre entstammten denselben sozialen Kreisen der traditionell bürgerlich-viktorianischen Mittelklassen wie die moralischen Reformer der vorhergehenden Zeit. Sie wollten inhaltlich weithin kaum etwas anderes, strebten aber nach einem systematischen, kohärenten Ansatz. Ihr Ziel blieb es indes, die Arbeiter und Migranten durch bessere Ausbildung und Erziehung, durch verbesserte Hygiene, durch normativ aufgeladene spielerische und sportliche Betätigung (vor allem Baseball, das als Metapher eines kommunitären, aber
17. BROWN, Dorothy M./MCKEOWN, Elizabeth: The Poor belong to Us: Catholic Charities and American Welfare, Cambridge 1997; MOLONEY, Deirdre M.: American Catholic Lay Groups and Transatlantic Social Reform in the Progressive Era, Chapel Hill 2002. 18. HOFSTADTER, The Age of Reform, S. 131-173. 19. KLOPPENBERG, James T.: Uncertain Victory: Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870-1920, New York 1986. 20. Zum Progressivismus vgl. neben CHAMBERS, The Tyranny of Change, v.a. FLANAGAN, Maureen A.: America Reformed: Progressives and Progressivisms, New York 2006.
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zugleich individualistischen, fairen Kapitalismus galt)21, aber auch durch rigorose Sozialkontrolle zur Selbsthilfe innerhalb des gegebenen Systems anzuleiten. Im Grunde blieben diese meist urbanen, auf der lokalen Ebene angesiedelten Projekte ameliorativ; ein gesamtgesellschaftliches Reformanliegen war mit ihnen (noch) nicht verbunden. Genau diese Selbstbeschränkung aber reichte einer anderen gesellschaftlichen Trägerschicht des Progressivismus nicht mehr aus. Hier kommen nun tatsächlich die neuen professionellen Mittelklassen Hofstadters ins Spiel. Sie hatten ein ganz anderes kulturelles Verständnis ihrer Mission als die traditionellen Eliten. In ihren Augen griff es zu kurz, das bürgerlich-kapitalistische Effizienzideal ausschließlich auf Projekte in einem überschaubaren urbanen Rahmen und mit begrenzter Zielsetzung anzuwenden. Ihrem ganzen Anspruch nach fühlten sie sich zu Höherem berufen. Allein schon ihre Ausbildung war dazu angetan, andere Vorstellungen von gesamtgesellschaftlicher Reform zu beflügeln, als sie bis in die 1890er Jahre hinein akzeptabel gewesen waren. Während die etablierten bürgerlichen Reformer in der Regel klassische Studiengänge (Philosophie, Theologie, Philologie, mit einem hohen Anteil an Latein und Griechisch usw.) an den Eliteuniversitäten Neuenglands mit ihren klassizistischen Curricula hinter sich gebracht hatten, hatte sich das Studium der Ingenieure, Mathematiker, Naturwissenschaftler und Soziologen, die jetzt nach vorne drängten, nicht mehr an den Idealen der Vergangenheit orientiert, sondern – so zumindest sahen sie es – an den Anforderungen von Gegenwart und Zukunft und damit zugleich an höchsten, rigorosen Standards naturwissenschaftlicher Präzision, Exaktheit, Objektivität und universaler, weil rationaler Nachvollziehbarkeit. Studiert hatten sie entweder an neuen, erst nach dem Bürgerkrieg entstandenen Hochschulen und Ausbildungseinrichtungen mit Studiengängen für Ingenieure und Techniker oder aber im Rahmen curricularer Strukturreformen an den alten Universitäten.22 Was dementsprechend der alten Mittelklasse als moralische oder kulturelle Verlusterfahrung erschien, im wahrsten Wortsinn als »Untergang des Abendlandes« (ein Buch, das von den frühen Sozialingenieuren heftig kritisiert wurde)23, hatte in den Augen der neuen professionals eher den Charme des Neuanfangs und wurde als Chance gesehen, den Ballast der Tradition ein für allemal hinter sich zu lassen. Angesichts dieser geänderten Ausbildungswege und Studiengänge fühlte man sich in der Lage, gleichermaßen den partikularistischen Charakter von egoistischen special interests in Großfinanz, Großindustrie und Arbeiterschaft zu erkennen und damit zu überwinden wie selbst universal gültige, auf szientistischer und technokratischer Basis gefundene, gesamtgesellschaftlich relevante Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Gesellschaften waren gemäß dem Credo dieser reformorientierten Angehörigen der neuen Mittelklassen nichts anderes als 21. GORN, Eliott J./GOLDSTEIN, Warren: A Brief History of American Sports, New York 1993, S. 169-176. 22. Vgl. dazu allg. K ARABEL, Jerome: The Chosen: The Hidden History of Admission and Exclusion at Harvard, Yale, and Princeton, Boston 2005. 23. Siehe etwa die Kritik von Charles Beard an Oswald Spengler in BEARD, Charles A./BEARD, Mary: The Rise of American Civilization, New York 1933, S. 837.
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Organismen, die nach erkennbaren und universal gültigen Strukturgesetzen funktionierten. Wenn man also in der Lage war, einen animalischen Organismus oder anorganische Elemente und ihre Entwicklung hinreichend zu erklären und zu determinieren, dann war dies mit Gesellschaften gleichfalls möglich. Auf eventuelle kulturelle oder sozioökonomische Unterschiede musste dabei ausdrücklich keine Rücksicht genommen werden, da sie im rationalen Kalkül bestenfalls als partikularistisches und irrationales special interest zur Kenntnis genommen werden konnten. Demgegenüber sprachen wissenschaftlich-technische Beweise auf einer universalen, naturgesetzlichen Grundlage, deren apriorischer und dogmatischer Charakter nie korrekt dargelegt wurde, schlicht aufgrund ihrer immanenten Evidenz für sich. Begünstigt wurde diese Hegemonie der szientistischen Methode durch die über die Schulen Thorstein Veblens, William Graham Sumners und Lester Frank Wards erfolgte und von Walter Lippmann, Herbert Croly und Edward Bellamy popularisierte Rezeption des positivistischen Materialismus und Sensualismus der frühen Soziologie von Auguste Comte, welche sich im Grunde mit der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Methodik deckte, wie sie etwa auch dem Darwinismus und Sozialdarwinismus zugrunde lag, die allesamt in den USA nachgerade begeistert aufgenommen worden waren.24 Ihnen allen lag, ungeachtet der Kritiken David Humes und Immanuel Kants am Kausalitätsprinzip, ein recht simples Ursache-Wirkungs-Schema zugrunde, das als selbstverständliche Voraussetzung jedweden (natur-)wissenschaftlichen, ja rationalen Denkens überhaupt angesehen wurde.25 Weder Erkenntniskritik noch ausgefeilte Methodendiskussionen zählten zu den besonderen Stärken der Sozialingenieure der ersten Generation. In einer Phase, in der sich die neuen technischen Ingenieurswissenschaften und die Soziologie gerade erst im akademischen Feld etablierten und voller Stolz auf die pragmatischen Erfolge ihrer noch recht jungen Wissenschaften blickten, war mehr vermutlich nicht zu erwarten. Die Euphorie der ersten social engineers wurde seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert noch von einem weiteren Umstand beflügelt: der Entwicklung des kapitalistischen Systems, das sich zumindest phasenweise ganz in den von Karl Marx prognostizierten Bahnen bewegte. Insbesondere die seit den 1870er Jahren zunehmend zu beobachtenden Monopolisierungstendenzen in der US-amerikanischen Großindustrie, die von den führenden Vertretern des Finanzkapitals, allen voran John Pierrepoint Morgan und seinem Haus, 26 24. Vgl. z.B. STACK, David: The First Darwinian Left: Socialism and Darwinianism, 1859-1914, Cheltenham 2003; R YAN, Frank X.: Darwin’s Impact: Social Evolution in America, 1880-1920, Bristol 2001; v.a. aber HAWKINS, Mike: Social Darwinism in European and American Thought, 1860-1945: Nature as Model and Nature as Threat, Cambridge 1997. 25. Zu dieser Gesamtthematik vgl. JORDAN, John M.: Machine-Age Ideology: Social Engineering and American Liberalism, 1911-1939, Chapel Hill 1994, S. 1-15. 26. CHERNOW, Ron: The House of Morgan: An American Banking Dynasty and the Rise of Modern Finance, New York 1990; DERS.: Titan: The Life of John D. Rockefeller, Sr., New York 1999.
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noch entscheidend gefördert wurden, fielen hierbei ins Auge. In kaum einem anderen Land der Erde verteilten derart wenige Industrie- und Finanzmagnaten praktisch die gesamte Produktion und weite Teile des Vertriebs dank eines ausgefeilten Systems von Oligopolen, Monopolen und horizontalen wie vertikalen trusts ebenso unter sich auf wie die politische Macht im Senat.27 Das Rationale dieses durchaus intendierten Prozesses war klar. Der mitunter mörderische Konkurrenzkampf sollte im Interesse der Profitmaximierung kontrolliert und reguliert werden. Dies aber konnten hochkapitalisierte Monopole am effizientesten leisten.28 Wie in anderen soziokulturellen Bereichen reagierten die alten Mittelklassen, auch und gerade wenn sie in der progressivistischen Bewegung aktiv wurden, mit der üblichen Verlustrhetorik. Ganz den Bahnen des klassischen Laissez faire-Liberalismus verhaftet wiesen ihre Vertreter darauf hin, dass eine kapitalistische Ökonomie ohne scharfe Konkurrenz und eine ausgedehnte mittelständische Struktur auf Dauer nicht überlebensfähig sein könnte. Schon aus diesem Grunde forderten Progressivisten aus dem Umfeld der alten Mittelklassen politische Eingriffe in die laufende Entwicklung, um die freie Konkurrenz und damit den Marktkapitalismus als solchen zu retten. Trust-busting wurde alsbald ihr Losungswort, das von einigen Politikern, darunter Theodore Roosevelt, William H. Taft und Woodrow Wilson, begierig aufgenommen wurde.29 In der Logik der neuen Mittelklassen nahm das Argument freilich eine andere Wendung. Zwar traten auch sie für Regulation ein, aber gerade nicht mit dem Ziel, die Monopole zu zerschlagen, sondern ihr Denken nahm ganz im Gegenteil bei der sozioökonomischen Realität der Großunternehmen ihren Ausgang. Für sie zeigte gerade der pragmatische Erfolg der Oligopole und Monopole, dass eine Wirtschaft ohne Konkurrenz effizienter produzieren und damit langfristig gesellschaftlich nützlicher sein konnte, als es die traditionelle Marktaffi nität des überkommenen Liberalismus suggerierte. Dies hing zum einen mit der gesellschaftlichen Stellung der neuen Mittelklassen und den daraus resultierenden unmittelbar materiellen Interessen dieser Gruppe zusammen, da sie nicht zuletzt Angehörige der im Kontext der megacorporations angesiedelten neuen Managerkaste umfasste.30 Zum anderen begriff man die Möglichkeiten, die sich aus der gerade entstehenden wirtschaftlichen Organisationsform ergaben, insbesondere den Zwang zur rationalen Planung und Kontrolle. Auf diese Weise konnte staatliche Intervention nahtlos aus genau jenem Zusammenhang abgeleitet werden, der sich weltanschaulich bislang am heftigsten gegen jede Form des Planungs- und Interventionsstaates gewandt hatte. So entstand paradoxerweise aus dem konservativen Experiment der Morgans, Rockefellers und Carnegies ein fast schon revolutionärer Schub für das liberale social engineering des frühen 20. Jahrhunderts. Überdies ist es kein Zufall, 27. CHAMBERS, The Tyranny of Change, S. 53-79. 28. ZUNZ, Olivier: Making America Corporate, 1870-1920, Chicago 1990. 29. PAULSON, Ross Evans: Liberty, Equality, and Justice: Civil Rights, Women’s
Rights, and the Regulation of Business, 1865-1932, Durham 1997, S. 129-140. 30. Vgl. immer noch BURNHAM, James: The Managerial Revolution, Bloomington 1960.
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dass ausgerechnet Frederick W. Taylor trotz seiner unbestreitbar pathologischen Persönlichkeitszüge zu einer Art Säulenheiligen der frühen Sozialingenieure mutieren konnte.31 Gemeinsam mit Thorstein Veblen nahm Taylor, weit mehr als Henry Ford, dessen Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität eher pragmatischer Natur waren, die Stellung des Übervaters der social engineers ein. Der Dritte im Bunde war der bekannte Erfinder Thomas Alva Edison, dessen ganzes Leben die Überlegenheit des modernen Ingenieurs über das traditionelle Bürgertum zu bestätigen schien.32 Mit dem Begriff des Säulenheiligen rückt überdies ein Aspekt in den Blick, der in der bisherigen Forschung nur beiläufig, wenn überhaupt, beachtet worden ist. In einer paradoxen Dialektik im Vergleich zu den eigenen säkularistischen Intentionen nahm das social engineering der ersten Generation in den USA strukturell fast sektenartige Züge an. Es existierte eine Reihe von gläubig verehrten Anführern, die sich zum Teil gegenseitig verketzerten und exkommunizierten, und man befleißigte sich einer apokalyptischen Rettungsrhetorik, mit der die gegenwärtige Situation als abgrundtief verdorben und annähernd aussichtslos dargestellt wurde und umgekehrt die mit dem social engineering verknüpften Erlösungssehnsüchte in den hellsten Farben beschrieben wurden. Es gab im wahrsten Sinne des Wortes kein Heil außerhalb der bedingungslosen Akzeptanz der Erlösungslehre von Rationalität, Effizienz und der »Sache selbst«. Nur der Ingenieur und der Soziologe waren moralisch integer, wissend und modern genug, um einer im Morast der special interests versinkenden Gesellschaft die notwendige Erneuerung zu bringen. Demgegenüber stand alles Alte, standen Traditionen, Glaubenssysteme, Metaphysik und traditionelle Politik im Rufe hoff nungsloser Rückständigkeit und Irrationalität, da sie bloß spekulierten, statt sich den »Fakten« zu stellen. Dieses semireligiöse oder religionsadäquate Strukturelement der social engineering-Bewegung war indes nichts für die Moderne Ungewöhnliches. Ganz im Gegenteil könnte man behaupten, es gehörte geradezu zu den kennzeichnenden Charakteristika der Hochmoderne. Für die Psychoanalyse 31. SARASIN, Philipp: Die Rationalisierung des Körpers: Über »Scientific Management« und »biologische Rationalisierung«, in: Ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, S. 61-99. Gleichwohl wurde die seit den frühen 1920er Jahren erkennbare allmähliche Bürokratisierung der megacorporations, die in wachsendem Maße unter der eigenen hypertrophen Überfinanzierung und der Langsamkeit ihrer Planung litten, von den Sozialingenieuren erst berücksichtigt, als es zu spät war und die Monopole und Oligopole unter ihrer eigenen Last zusammenbrachen; vgl. KOLKO, Gabriel: The Triumph of Conservatism: A Reinterpretation of American History, 1900-1916, New York 1963. 32. JORDAN, Machine-Age Ideology, S. 20-23, der zudem darauf verweist, wie sehr dieses Bild des rationalen, ernsten, fast missionarisch agierenden und überlegen planenden, immer erfolgreichen Ingenieurs die Populärkultur jener Zeit beherrschte. Insbesondere der junge Film nahm sich dieses Themas an, aber auch eine Fülle von dime novels. Interessanterweise hat der Soziologe nie einen nur annähernd vergleichbaren populärkulturellen Status erlangt. Er blieb, wenn er überhaupt auftrat, lediglich Beiwerk.
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etwa hat Eli Zaretsky gezeigt, wie sehr sie in ihrer Frühzeit calvinistischen Erweckungsbewegungen ähnelte.33 Vergleichbares könnte man gleichfalls zur frühen Kulturanthropologie und zum Marxismus sagen, die allesamt mit ihrer Rationalitätssemantik die zugrundeliegenden, nach eigenen Doktrinen irrationalen und mythischen Strukturen nur zu übertünchen vermochten. Sie alle propagierten so etwas wie eine Religion des rationalen Fortschritts, die allerdings bei genauerem Hinsehen mehr religiöse als rationale Züge aufwies.34 Insbesondere auf der Ebene der Sexualität und der Geschlechterkonstruktionen übernahmen der Progressivismus und mit ihm das social engineering, hierin ebenfalls der Psychoanalyse Freuds vergleichbar, vieles vom viktorianischen Erbe, dem sie ansonsten kritisch gegenüberstanden. Infolge der Fixiertheit auf die bürgerlich-industriellen Werthaltungen, wie sie sich in der viktorianischen Epoche herausgebildet hatten, allen voran auf Selbstkontrolle und Selbstzucht, die als für den Produktionsprozess unabdingbar angesehen wurden,35 hielten die Sozialingenieure strikt an der viktorianischen Sexualmoral und den damit verknüpften gender-Mustern fest. Man kann sogar sagen, dass die Kontrolle der Sexualmoral zu den bevorzugten Einsatzgebieten der ersten Generation dieser Aktivisten zählte.36 Was sich freilich änderte, war die Semantik. Die Sozialingenieure verzichteten auf eine religiöse oder anthropologisch-spekulative Begründung ihrer moralischen Regulierungspolitik und benutzten statt dessen die technokratischere, pragmatische Sprache der modernen Sozialhygiene. An dem Inhalt der Sache änderte sich jedoch nichts. Konkurrierende, gleichfalls als modern konnotierte Ideen wie beispielsweise die freie Liebe37 innerhalb der frühen marxistischen Bewegung wurden entweder ignoriert oder verteufelt. Der Verzicht auf eheliche Treue, Monogamie und traditionelle Familie, auf sexuelle Abstinenz Unverheirateter und auf unbedingte Selbstkontrolle etwa mit Blick auf Masturbation erschien den Sozialingenieuren nicht als modern, sondern als radikal antimodern und als Ursache einer unabsehbaren Fülle gesellschaftlicher Übel. Tugend und Rationalität waren für sie eins. Ähnliches traf auch auf die emanzipatorische Frauenbewegung zu, deren politische Ideale man zwar akzeptierte, ohne aber 33. Z ARETSKY, Eli: Freuds Jahrhundert: Die Geschichte der Psychoanalyse, Darmstadt 2006. 34. Dies deutet darauf hin, dass die von DOERING-MANTEUFFEL, Anselm: Mensch, Maschine, Zeit: Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91119, analysierte Dichotomie von rationalen und irrationalen Strömungen im Nachgang des Ersten Weltkriegs etwas Richtiges wahrnimmt, aber möglicherweise die Grenzziehungen zu scharf ansetzt. 35. Das frühe social engineering dachte konsequent von der Produktion und nicht so sehr vom Konsum her, was andere Werthaltungen erfordert hätte. 36. HUNT, Alan: Governing Morals: A Social History of Moral Regulation, New York 1999, S. 110-139. 37. Vgl. dazu SPURLOCK, John C.: Free Love: Marriage and Middle-Class Radicalism in America, 1825-1861, New York 1991.
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zugleich ein verändertes Rollenbild für Männer und Frauen in Kauf zu nehmen.38 Hinter diesem oft unbewussten Weitertragen überlieferten Gedankenguts steckte paradoxerweise Angst, und zwar auf individueller Ebene wie auf kollektiver. Die erwähnten neurotischen Zwangshandlungen Taylors sind ein deutlicher Beleg für Ängste im individuellen Bereich, die nur über ausgeprägte Kontrollmechanismen verdrängt werden konnten. Bei allem Optimismus, der für das frühe social engineering so kennzeichnend war, darf keinesfalls übersehen werden, dass viele der Sozialingenieure die gelegentlich katastrophische Weltsicht der alten Mittelklassen mit Blick auf die Gefahren der gesellschaftlichen Entwicklungen teilten. Man fürchtete die mangelnde Integration der zuwandernden Migrantenmassen, man hatte Angst vor dem Fremden und um die eigene kollektive Identität, man hatte zudem Angst vor sozialem Umsturz, Anarchie und Kommunismus. Nichtstun, Laissez faire, so die feste Überzeugung der Sozialingenieure, würde schnurstracks in den Untergang führen. Daher war es die Pflicht der wenigen Wissenden, ihre Kenntnisse und ihren Sachverstand einzusetzen, um eine als chaotisch perzipierte Gesellschaft mit Ordnung und Struktur zu versehen. Diese Ansicht teilten sie vorbehaltlos mit allen anderen Progressivisten,39 obwohl sie deren in ihren Augen rückwärtsgewandten Lösungsstrategien nicht zu akzeptieren vermochten. Allerdings blieben die Alternativen oft genug eher vage und erschöpften sich in der bis zur Floskelhaftigkeit wiederholten Feststellung, das Zeitalter der Maschine bedürfe einer rational geplanten Politik auf einer präzisen, weil rigoros empirischen Grundlage ohne weitere Metareflexion. 40 Die daraus resultierende kollektive Identität der um die Chancen der Zukunft wissenden und damit gestaltungsfähigen Experten trug nachhaltig mythische Züge und schuf zumindest für einen mehrere Dekaden währenden Zeitraum ein Gefühl der Sicherheit. 41 Am ehesten praxisrelevant wurden die Ideen der progressivistischen Sozialingenieure vor dem Ersten Weltkrieg im Staat Wisconsin, wo die politisch führende, aus der Republikanischen Partei stammende Familie LaFollette gemeinsam mit Akademikern der University of Wisconsin at Madison die sogenannte Wisconsin-Idee begründete, eine Mischung aus christlichem Sozialismus, liberaler Sozialplanung und konventioneller Erwachsenenbildung mit starker Betonung der Nationalökonomie. Federführend waren hier der von deutschen Kathedersozialisten ausgebildete Nationalökonom Richard T. Ely und John R. Commons, gleichfalls ein Nationalökonom, die gemeinsam
38. Vgl. insgesamt BRISTOW, Nancy K.: Making Men Moral: Social Engineering during the Great War, New York 1996, bes. S. 1-17. 39. Fast schon programmatisch WIEBE, Robert H.: The Search for Order, 18771920, New York 1996. 40. Charakteristisch: BEARD, Charles A./BEARD, William: The American Leviathan: The Republic in the Machine Age, New York 1930, S. 3-19. 41. Zum Verhältnis von Mythos und Identität vgl. ANGEHRN, Emil: Die Überwindung des Chaos: Zur Philosophie des Mythos Frankfurt a.M. 1996.
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mit den LaFollettes in einer Art Politik der kurzen Wege42 dafür sorgten, dass Wisconsin eine ganze Reihe sozialpolitischer Reformen durchführte, die dazu dienen sollten, durch Staatsintervention zu einer stabilen Ordnung zu kommen. Ganz im Sinne des social engineering entfaltete sich ab den 1890er Jahren in Wisconsin eine auf rationale Planung aufgebaute, wissenschaftliche, von Experten betriebene Politik, die sich radikal vom etablierten Parteiensystem mit seinen Parteimaschinen abhob. Allerdings stand hier, und das machte Wisconsin so einmalig, eine nominell sozialistische, zugleich aber ausgesprochen konservativ-christliche Ordnungspolitik im Mittelpunkt, nicht aber eine säkular-szientistische Form gesellschaftlicher Planung und Intervention. Den technokratischen social engineers im engeren Sinne war es demgegenüber nicht um eine bloße Restauration der bürgerlichen Gesellschaft oder ein konservativ-christliches beziehungsweise christlich-sozialistisches (im Sinne von staatsinterventionistisch) Menschenbild zu tun, sondern um eine totale Erneuerung der gesamten Gesellschaft aus dem Geist der im progressivistischen Verständnis liberal-aufgeklärten Ordnungskapazitäten der industriellen Moderne heraus. Dieses Gedankengut teilten die Wisconsin-Reformer indes nur ansatzweise. Gleichzeitig stellte der lineare und totale Erkenntnisanspruch, der dem Welt- und Ordnungsverständnis der liberalen Sozialingenieure zugrunde lag, ein Abgrenzungsmerkmal gegenüber rivalisierenden Konzepten von Moderne dar, wie sie etwa von den werterelativistischen Kulturanthropologen, den perspektivistischen Anhängern Nietzsches oder den Psychoanalytikern verfochten wurden. Der Empirismus der Sozialingenieure war in dieser Hinsicht am ehesten mit dem Erkenntnisanspruch der orthodoxen Marxisten vergleichbar, denen sie sich partiell verbunden fühlten. Mangels praktischer Alternativen blieb der ersten Generation der Sozialingenieure erst einmal wenig anderes als die Theorie, der man sich vornehmlich in kleinen Zirkeln an Universitäten hingab. Neben Taylor waren es vor allem der spätere republikanische Präsident Herbert Hoover sowie Morris L. Cooke und Charles Steinmetz, die sich in esoterischen Debatten über die Planbarkeit industrieller Produktionsprozesse ausließen, dabei aber bereits gesamtgesellschaftliche Konsequenzen im Auge behielten. Vor 1920 hatte man aber praktisch noch keine Rückendeckung bei außeruniversitären Intellektuellen und in Zeitschriften; dies blieb auf das Berufsbild des Ingenieurs im Allgemeinen oder des Soziologen (zumindest ab 1910) beschränkt. 43 Den Durchbruch brachte, wie in so vielen Bereichen, der Erste Weltkrieg. Aber selbst während des Kriegs gelang es den Sozialingenieuren trotz der progressivistischen Grundstimmung der Zeit nicht, sich an wirklich einflussreichen Stellen, wie etwa dem War Industries Board (WIB) oder dem Committee on Public Information (CPI), dem sogenannten Creel Committee, zu positionieren. Ersteres blieb eher pragmatisch ausgerichtet, indem es sich bemühte, vermittels einer geplanten Umstellung von Friedens- auf Kriegswirtschaft die 42. Die Universität lag an derselben Straße in Madison wie das Kapitol und der Sitz des Gouverneurs. 43. JORDAN, Machine-Age Ideology, S. 33-67.
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Produktivität der gesamten US-amerikanischen Ökonomie zu sichern. Dies gab zwar indirekt dem Planungsgedanken insgesamt Auftrieb, war aber nicht vom Geist der social engineers gekennzeichnet. 44 Erst 1918 gelang es dem Bankier Bernhard Baruch, der später zu einem der Berater Franklin D. Roosevelts werden sollte, das WIB von einer lockeren Koordinationsbehörde in ein effizient geführtes Planungsinstrument umzuwandeln. Aber ausgerechnet Baruch war aus weltanschaulichen Gründen ein entschiedener Gegner jedes social engineering, da er unbedingt am Primat der freien Marktwirtschaft festhielt. 45 Besser sah es beim CPI aus, wo aber letztlich nicht Sozialingenieure, sondern Psychologen, Marketingexperten, Journalisten, Künstler und Propagandafachleute den Ton angaben, die wohl die Idee des progressivistischen Interventionsstaates teilten, aber keinen gesamtgesellschaftlichen Reformanspruch hatten. 46 Anders war es mit zwei anderen Kriegsbehörden bestellt. In der Food Administration sorgte der überzeugte konservative Progressivist und Geschäftsmann Herbert H. Hoover mit tayloristischen Maßnahmen für eine trotz des Krieges relativ reibungslose Versorgung von Truppen und Zivilbevölkerung. Aber auch Hoover wollte »nur« eine effiziente Versorgungsbürokratie auf bauen, jedoch in keiner Weise die US-amerikanische Gesellschaft umfassend reformieren. Unter den zeitgenössischen social engineers war er zweifellos derjenige, der das kapitalistische Modell am intensivsten verteidigte. Zu viel Staat war ihm ebenso ein Greuel wie eine ineffiziente Verwaltung, also gar kein Staat. Grundsätzlich lehnte er indes jede »metaphysische«, das heißt nicht auf empirische Fakten gegründete Politik ab. Politik, so sein Credo, musste rational, emotionslos und technisch, ganz nach dem Vorbild der Naturwissenschaften, exekutiert werden, nur dann nutzte sie den Menschen. Auch als Präsident der USA sollte er an diesem Kurs trotz der aufkommenden Weltwirtschaftskrise dogmatisch festhalten. Wieder propagierte er eine Mischung aus »wealth of discussion« und »clarity of thought«. 47 Weitergehende Konzepte, wie zum Beispiel die Ideen von Charles Steinmetz, der bereits 1916, also im Vorfeld des amerikanischen Kriegseinsatzes dafür eingetreten war, die individualistische liberale Demokratie durch den auf massenhafte Überschussproduktion gestützten kollektivistischen Korporationsstaat zu ersetzen, hatten überhaupt keine Chance auf Gehör in den politischen Zirkeln Washingtons. Mittelfristig aber wirkten Steinmetz’ Gedanken weiter, da er korrekt vorhersagte, dass unter den Bedingungen der Überschussproduktion Firmen weniger um Ressourcen als um Absatzmärkte konkurrieren würden, 44. DUFF, Robert D.: The War Industries Board: Business-Government Relations during World War I, Baltimore 1973; vgl. ferner PAULSON, Liberty, Equality, and Justice, S. 165-77. 45. Vgl. BRINKLEY, Alan: The End of Reform: New Deal Liberalism in Recession and War, New York 1996, S. 243-245. 46. VAUGHN, Stephen L.: Holding Fast the Inner Lines: Democracy, Nationalism, and the Committee on Public Information, Chapel Hill 1980. 47. KENNEDY, David: Freedom from Fear: The American People in Depression and War, 1929-1945, New York 1999, S. 70-103; JORDAN, Machine-Age Ideology, S. 113127.
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was notwendig zu erheblicher Arbeitslosigkeit führen werde, die wiederum nur durch rationale staatliche Lenkung von Produktion und Konsum zu beherrschen sei. 48 Aus diesen Gründen blieb der Spielraum der Sozialingenieure, nicht zuletzt weil der Krieg bereits nach knapp einem Jahr für die Vereinigten Staaten schon wieder beendet war, auf eine Institution begrenzt, in der man eher spätviktorianische als genuin technokratische Experten erwartet hätte: der Commission on Training Camp Activities (CTCA). Tatsächlich waren die Einflussmöglichkeiten der social engineers hier gleichfalls beschränkt, da es sich bei der CTCA um eine Art Koalition aus Angehörigen der alten, viktorianischen Mittelklasse, der protestantischen Denominationen, insbesondere der YMCA, der katholischen Kirche, allen voran die Knights of Columbus, sowie des liberalen Judentums mit den Technokraten der social engineering-Bewegung handelte. Diesen Organisationen und Gruppen wurde von der Regierungskommission das Handeln vor Ort, also in den Garnisonen, übertragen, wobei man in Washington wenig Interesse an einheitlichen gesellschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen der Beteiligten hatte – sehr zum Ärger sowohl der social engineers als auch beispielsweise der katholischen Kolumbusritter. Ihnen allen war gleichwohl das Bestreben gemeinsam, die zum Militärdienst eingezogenen Soldaten derart zu erziehen, dass sie zu moralischen Mitgliedern der amerikanischen Gesellschaft werden konnten, wenn sie aus dem Krieg zurückkehrten. Vor allem Immigranten standen im Fokus dieser Behörde. Das aber bedeutete, dass man die traditionelle Moralreform mit der technokratischen Sozialhygiene verband, was für beide Seiten unerträglich war. So verwundert es kaum, dass bereits 1917 die ersten Konflikte zwischen den Sozialhygienikern und den katholischen Kolumbusrittern ausbrachen. Für die Katholiken war eine rein auf rationaler Furcht vor Geschlechtskrankheiten aufgebaute moralische Erziehung ohne Rekurs auf ein christliches, genauer katholisches Menschenbild schlicht nicht akzeptabel, während die Sozialhygieniker ihrerseits den metaphysischen »Ballast« der Katholiken als unerträglich empfanden. So sehr man ähnliche Ziele hinsichtlich dessen vertrat, was ein moralischer Mann war, nämlich ein Ausbund an »jungfräulicher«, wohl aber männlicher Virilität und Tapferkeit, verbunden mit absolutem Anstand im Umgang mit dem rein passiv perzipierten weiblichen Geschlecht, 49 so deutlich unterschied man sich in der zugrundeliegenden Anthropologie und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Zielen. Während die Katholiken, aber auch viele Protestanten, Viktorianer und Juden die alte Ordnung wiederherstellen oder bewahren wollten, ging es den social engineers um eine gänzlich neue, rein rational aufgebaute gesellschaftliche Ordnung. Allerdings blieben ihnen kaum vorzeigbare Erfolge. Ganz im Gegenteil neigten gerade Soldaten aus Migrantenfamilien je länger der Krieg dauerte, desto mehr dazu, sich von der paternalistischen Kampagne der Sozialingenieure abzuwenden. Gelegentlich stießen deren Aktivitäten sogar auf die offene Ab-
48. JORDAN, Machine-Age Ideology, S. 57. 49. BRISTOW, Making Men Moral, S. 20-35.
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lehnung der Betroffenen, weswegen die CTCA 1919 sang- und klanglos eingestellt wurde.50 Obwohl der Erste Weltkrieg angesichts dieser faktisch äußerst begrenzten Rolle der Sozialingenieure hätte ernüchternd wirken können, trug er im Effekt eher dazu bei, eine kurze Nachkriegsblüte des theoretischen social engineering zu befördern. Zum einen hatte die Kürze des US-amerikanischen Engagements im großen Krieg darüber hinweggetäuscht, wie wenig die social engineers realistisch betrachtet zum Erfolg der alliierten Truppen beigetragen hatten. Zum anderen verschärften die Ereignisse der unmittelbaren Nachkriegszeit erst einmal unter liberalen Intellektuellen und Akademikern das Gefühl, eine umfassende gesellschaftliche Reformbewegung sei unumgänglich, ja dringend nötig. Infolge der bolschewistischen Revolution in Russland und dem daraus entstehenden kurzfristigen weltweiten revolutionären Sog, den man sogar in den USA zu verspüren meinte – obwohl die neu gegründete Kommunistische Partei der USA (CPUSA) zu den großen Misserfolgen des amerikanischen Parteiensystems zählte51 –, griff in den Mittelklassen das Gefühl der Revolutionsangst um sich. Die US-Regierung, allen voran der ehrgeizige, nach der Präsidentschaft strebende Justizminister Palmer und sein Adlatus J. Edgar Hoover, der spätere langjährige Direktor des FBI, trugen noch künstlich dazu bei, diese Stimmung inmitten einer Nachkriegsrezession zu verschärfen.52 In ihrer Gesamtheit führten diese Wurzeln – revolutionäre Hoffnungen, Revolutionsangst, Rezession, Hypernationalismus und eine gewisse Ernüchterung nach dem propagandistischen Aufwand der Jahre seit 1915 – zu einem wachsenden Reformdruck in der amerikanischen Gesellschaft, den die Progressivisten sofort aufnahmen. Eine besondere Funktion in den Reihen der Sozialingenieure kam dabei in den ersten Nachkriegsjahren der 1918/1919 neu gegründeten New Yorker New School of Social Research zu.53 Hier sammelten sich liberale, aber auch vom Sozialismus beeinflusste Intellektuelle aus dem Umfeld der progressivistischen Zeitschrift New Republic, die allesamt eine Totalreform des amerikanischen Bildungswesens anstrebten. In ihren Reihen befand sich eine erhebliche Anzahl von Juden, die von den traditionellen Eliteuniversitäten oft genug ausgegrenzt worden waren und die daher aus eigener Anschauung um die Schattenseiten eines strikt hierarchischen, vom Ideal des angelsächsischprotestantischen Gentleman beherrschten Systems wussten. Sie versuchten nun, die Ideale rigoroser, vorurteilsloser und wertfreier Wissenschaft mit einer dem Egalitätsideal der Amerikanischen Revolution kompatiblen flachen universitären Hierarchie in den Bereich der Erwachsenenbildung zu übertragen. Dabei stand den Reformern nicht allein eine Hochschule neuen Typs vor 50. Ebd., S. 189-91. 51. DIGGINS, John Patrick: The Rise and Fall of the American Left, New York 1992,
S. 106-148. 52. POWERS, Richard Gid: Not Without Honor: The History of American Anticommunism, New Haven 1998, S. 17-42. 53. Vgl. RUTKOFF, Peter M./SCOTT, William D.: New School: A History of the New School of Social Research, New York 1986.
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Augen. Sie wollten mehr, nämlich eine von der New School ausgehende umfassende Reform der amerikanischen Gesellschaft, allerdings ohne Revolution. Deshalb sah das frühe Curriculum der New School eine ungemein hohe Anzahl soziologischer und anderer gesellschaftswissenschaftlicher Lehrveranstaltungen vor.54 Mit Thorstein Veblen und Charles Beard waren prominente Verfechter des social engineering in die Entwicklung der Hochschule eingebunden. Allerdings stand der wissenschaftlich hoch angesehene Lehrkörper der New School selbst in der reformistischen Phase bis 1923 nicht einhellig auf Seiten der Sozialingenieure, da hier unter anderen auch die beiden wichtigsten Vorkämpfer des werterelativistischen und erkenntnistheoretisch perspektivistisch ausgerichteten cultural pluralism, Horace Kallen und Randolph Bourne, präsent waren. Auch die Boas-Schule der gleichfalls werterelativistischen Kulturanthropologie brachte sich in das neuartige Curriculum ein. Weit davon entfernt, eine Kaderschmiede des social engineering zu sein, repräsentierte die frühe New School eher einen repräsentativen Querschnitt durch die Vielfalt des progressivistischen Interventionismus. Spätestens 1923 hatte sich dann selbst dieser heterogene Reformimpuls totgelaufen. Gesamtgesellschaftlich war es nach Jahrzehnten progressivistischer Reformpolitik zu einem massiven Stimmungsumschwung gekommen, der sich am besten in dem Wahlkampfslogan Warren G. Hardings aus dem Jahr 1920 niederschlug: back to normalcy. Die Rezession der unmittelbaren Nachkriegszeit war überwunden, der Zustrom an neuen Migranten schwächte sich ab, insgesamt machte sich eine konservativere Stimmung breit. Der Progressivismus geriet angesichts des Fehlens echter sozialer und vor allem ökonomischer Erfolge in die Defensive, zumal sich annähernd gleichzeitig das ursprünglich so bedeutsame Problem der Oligopole und Monopole von selbst zu lösen begann.55 Das bedeutet nicht notwendig eine fraglose Rückkehr zu den altliberalen Dogmen des Laissez faire aus dem 19. Jahrhundert, da die generelle Frage nach makroökonomischen Steuerungselementen beispielsweise durchaus relevant blieb,56 aber die amerikanischen conservatives mit ihrer tief verwurzelten Skepsis gegenüber allen Eingriffen des Staates setzten sich erst einmal entscheidend durch und waren zudem gerade in wirtschaftlicher Hinsicht ausgesprochen erfolgreich. Die USA erlebten zwischen 1920 und 1929 ein rasantes Wirtschaftswachstum, das bald alle Schichten des Volkes mit der signifi kanten Ausnahme der Südstaaten ergriff. Parallel dazu sah man in reformorientierten Kreisen die Entwicklung in der UdSSR weitaus nüchterner als kurz nach der bolschewistischen Revolution. Der Kommunismus leninis54. Ebd., S. 26: 50 Prozent der Lehrveranstaltungen zwischen 1918 und 1923 beschäftigten sich mit Soziologie und Politologie, 33 Prozent mit Geschichte und Anthropologie, weitere 15 Prozent mit Psychologie und Sozialarbeit. Selbst die Gespräche außerhalb der Lehrzeiten drehten sich, glaubt man den Erinnerungen der Beteiligten, fast nur noch um Sozialreform. 55. Vgl. u.a. HAWLEY, Ellis W.: The Great War and the Search for a Modern Order: A History of the American People and Their Institutions, 1917-1933, New York 1992; CHAMBERS, The Tyranny of Change, S. 233-300. 56. HAWLEY, The Great War and the Search for a Modern Order, S. 66-82.
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tischer Prägung war offenkundig kein echter Rivale für ein funktionierendes liberaldemokratisches System, was den vom Bolschewismus ausgehenden Reformdruck erst einmal erheblich abflauen ließ. Modernität konnte wieder durch den Gleichklang von Liberalismus, Demokratie und Marktkapitalismus definiert werden. Von diesen gesellschaftlichen Prozessen blieben das social engineering und besonders die New School nicht unberührt. Ab 1923 wandte man sich dort verstärkt den weniger anwendungsorientierten Geisteswissenschaften und vor allem der Kunst (Malerei, Musik, Architektur) zu. Bestenfalls im stadtplanerischen Bereich, Teilen der Geschichtswissenschaft (Beard) und der an den Rand gedrängten Soziologie blieben Sozialingenieure tonangebend, während der neue Präsident der New School, Alvin Johnson, eine ambivalente Position einnahm. Persönlich stand er dem social engineering nah, gleichzeitig aber war ihm das allgemeine progressivistische Erbe seiner Hochschule, nämlich die Verbindung hoher akademischer Standards mit flachen Hierarchien wichtiger als eine voreilige Festlegung auf das social engineering. Insbesondere betraf diese Ambivalenz das sozialwissenschaftliche Standard- und Grundlagenwerk, das ab 1927 von der New School of Social Research ausging, die Encyclopedia of Social Sciences. Dieses mehrbändige, voluminöse Mammutunternehmen sollte noch in den 1960er Jahren für die Sozialingenieure der Great Society Lyndon B. Johnsons das zentrale sozialwissenschaftliche Referenzwerk darstellen.57 Dennoch handelte es sich gerade nicht um ein Werk aus einem Guss. Neben emphatischen Sozialingenieuren wie Beard, Morris Cohen und anderen wirkten definitive Skeptiker, darunter Franz Boas, Horace Kallen, Randolph Bourne oder insbesondere Harold Laski, mit. Sie alle teilten mit den Sozialingenieuren in aller Regel das Ideal höherer Effizienz durch höhere Rationalität, so gerade Randolph Bourne, und die generelle Kritik an der Korruption und Ineffizienz gegenwärtiger amerikanischer Parteipolitik, vorrangig der Parteimaschinen, etwa Tammany Hall in New York. Es war dann primär Harold Laski, der dem social engineering grundsätzlich vorwarf, mit demokratischen Institutionen und Verhaltenscodices nicht vereinbar zu sein. Politische Entscheidungen müssten gewählten Volksvertretern und nicht Wissenschaftlern und selbsternannten Experten überlassen bleiben, selbst wenn dies zu Reibungsverlusten führen könnte. Anders als die Sozialingenieure forderte Laski eine präzisere Methodenreflexion und befand, angesichts des Prozesscharakters von Demokratie und Wissenschaften gleichermaßen sei die Epistemologie des social engineering zu schlicht und zu unflexibel. Überdies sei der Glaube an die unbedingte Aussagekraft des für sich stehenden Faktums nur eine Legende.58 Laskis Fundamentalkritik wurde dann in den 1930er Jahren in erster Linie von dem neuen Stern am amerikanischen Soziologenhimmel, Robert Lynd, aufgegriffen, dessen Argumentation eine durchaus verwandte, vorwiegend demokratietheoretische Stoßrichtung aufwies.59 57. RUTKOFF/SCOTT, New School, S. 65-83. 58. Ebd., S. 77. 59. JORDAN, Machine-Age Ideology, S. 274f.
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Obwohl die Encyclopedia gerade nicht zu einem ausschließlich dem social engineering gewidmeten Werk wurde, hatten sie und die New School gleichwohl einen gehörigen Anteil bei der weiteren Verdichtung des seit den 1910er Jahren bestehenden akademischen und publizistischen Netzwerkes der Sozialingenieure. Hatte man sich zuvor auf eher esoterische Zeitschriften und Organisationen gestützt, wie zum Beispiel System (seit 1913) oder die Society to Promote the Science of Management beziehungsweise die Efficiency Society (beide seit 1912 und sowohl in den USA als auch in Großbritannien tätig), so brachte die Mitarbeit an der New School und der Enzyklopädie erweiterte Handlungsmöglichkeiten. In den 1920er Jahren nahmen sich die Zeitschrift New Republic, eines der bekanntesten Magazine der New Yorker Intellektuellenszene, und vor allem die Rockefeller Foundation der Ideale des social engineering an. Vorrangig war dabei immer das Interesse der Rockefeller Foundation, die im Gegensatz zur skeptischeren Carnegie Foundation, aber gemeinsam mit der etwas weniger einflussreichen Russell Sage Foundation bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aber in den 1920er und 1930er Jahren dem progressiv-liberalen Gedankengut des rationalen Planens und staatlicher Intervention selbst dann verhaftet blieb, wenn das gesellschaftliche Klima eher zum conservatism neigte. Dies war ganz entscheidend, weil gerade die Rockefeller Foundation für die Organisation und Struktur des amerikanischen Bildungs- und Forschungsapparates auf nationaler Ebene unverzichtbar war. Sie organisierte den brain drain, das heißt den mit erheblichem finanziellen Aufwand betriebenen Abzug international renommierter Wissenschaftler in die USA bereits lange vor dem durch die nationalsozialistische Verfolgungspolitik initiierten Exilantenstrom jüdischer Wissenschaftler; sie bestimmte, welche Forschungsprojekte als erfolgversprechend eingestuft und dementsprechend gefördert wurden; sie finanzierte Konferenzen, Zeitschriften etc.; und sie verfügte gerade in den progressivistischen Apparaten der Demokraten und Republikaner über erheblichen politischen Einfluss. In dem Moment um 1920, als sich die Rockefeller Foundation für das social engineering entschied, hatten die Sozialingenieure, ungeachtet aller negativen gesellschaftlichen Begleiterscheinungen, den Durchbruch geschaff t. In den 1920er Jahren entstand so, abseits der politischen Entscheidungsträger, ein Netzwerk von Sozialingenieuren, die dann während der Weltwirtschaftskrise unter den Präsidenten Hoover und Roosevelt ihre Stunde für gekommen hielten. Publizistisch wurde dieses Netzwerk neben der New Republic in erster Linie von Walter Lippmann, dem neben H.L. Mencken wohl bekanntesten progressivistischen Journalisten überhaupt, aber auch von dem Philosophen John Dewey, dem Stadtplaner Lewis Mumford und dem positivistischen Publizisten Herbert Croly, gleichfalls einem Relikt aus den Glanzzeiten des Progressivismus, flankiert.60 Darüber hinaus fanden die Sozialingenieure jetzt einen Massenverlag, der ihre Werke einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machte, die Macmillan Press in New York, die vor allem die programmatischen Schriften des Historikers Charles Beard veröffentlichte. Unterstützt von der Rockefeller-Stiftung verschob sich der Schwerpunkt 60. Ebd., S. 65-90.
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des social engineering von der New School an eine Reihe anderer Universitäten. Allein Wesley C. Mitchell, der unter Hoover und Roosevelt als Präsidentenberater fungierte und damit zweifellos zu den einflussreichsten Sozialingenieuren der 1930er Jahre zählte, war noch in New York präsent. Andere wichtige Vertreter waren an der von Rockefeller maßgeblich fi nanzierten University of Chicago zum Zuge gekommen, so etwa der schlechthin führende Theoretiker Charles E. Merriam und sein Kollege William F. Ogden, beides Soziologen. An der University of North Carolina at Chapel Hill fand sich dann der einzige bekennende Sozialingenieur der rückständigen Südstaaten, Howard Odum.61 Gemeinsam mit den Direktoren der Rockefeller Foundation Beardsley Ruml, Raymond Fosdick und Edmond E. Day sowie mit Alvin Johnson von der New School führten sie von 1925 bis 1931 alljährlich an der Dartmouth Universität in Hanover, New Hampshire, die »Hanover-Konferenzen« durch, die dem Meinungs- und Informationsaustausch der Gruppe ebenso dienten, wie die breit angelegten, gleichfalls von Rockefeller finanzierten soziologischen Grundlagenuntersuchungen der Recent Social Trends, die Hoover zu Beginn der 1930er Jahre anregte.62 Sie alle verfolgten beharrlich das gemeinsame Ziel einer professionellen, empirisch gesättigten, theoriearmen und überparteilichen Politikberatung. Parallel dazu gelang es der Rockefeller Foundation, das Gedankengut des social engineering in Industrie- und vor allem Managerkreisen heimisch zu machen, so dass um 1930 keinerlei Unterschied mehr zwischen dem professionalisierten social engineering und einer generellen Akzeptanz des kapitalistischen Wirtschaftssystems mehr bestand. Die Sozialtechnologie war nicht unbedingt konservativ geworden, aber ihre progressivistischen Züge hatten sich wieder mehr ihren liberal-utilitaristischen Wurzeln zugewandt, ohne dass dies besonders betont worden wäre. Wenn man diese Zirkel genauer betrachtet, so fällt einerseits die komplette Dominanz von Männern auf. Einzig Mary van Kleeck, eine Schülerin Taylors, war in den Kreisen der Sozialingenieure als Frau präsent. Dies hing nicht allein mit der generellen Situation von Frauen in der amerikanischen Wissenschaft zusammen. In der Kulturanthropologie etwa hatten sich Frauen schon frühzeitig eine führende Position erarbeitet, man denke nur an Ruth Benedict oder Margaret Mead. Auch im Umfeld der freudianischen Psychoanalyse hatten, entgegen der persönlichen Erwartungen Freuds, Frauen rasch an Bedeutung gewonnen. Nicht so im akademischen Feld des social engineering. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte dies mit den unbewusst mitgeschleppten viktorianischen gender-Mustern in den Kreisen der Sozialingenieure zu tun. Aufgrund des hartnäckigen Festhaltens am Ideal des aktiven, rationalen und entscheidungsfrohen Mannes gegenüber der passiven, irrational-emotionalen und entscheidungsunwilligen Frau wirkte das Umfeld der Sozialingenieure auf selbstbewusste New Women 63 der 1920er und 1930er Jahre keineswegs so anziehend wie andere Wissenschaften mit gleichem Modernisierungsan61. Ebd., S. 142-154. 62. Ebd., S. 155-184. 63. Vgl. dazu WOLOCH, Nancy: Women and the American Experience, New York
1994, S. 269-307.
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spruch. Andererseits, und das ist deutlich weniger überraschend, handelte es sich um eine primär nordstaatlich geprägte Bewegung. Mit der Ausnahme Odums im oberen Süden der USA, der sich bevorzugt den sozialen und rassischen Problemen der Südstaaten zuwandte, damit aber alleine da stand, waren sämtliche Sozialingenieure entweder im neuenglischen oder mittelatlantischen Norden oder aber im industriellen Mittelwesten, dem Großraum Chicago-Detroit entlang der großen Seen, angesiedelt. Dies war insofern kein Zufall, als das social engineering sich methodisch von den Prozessen der Hochindustrialisierung ableitete und zugleich inhaltlich darauf bedacht war, die aus eben dieser Hochindustrialisierung entstehenden Probleme mit technokratischen Mitteln zu lösen. Für einen Bewohner der ländlichen Gebiete im Süden oder Mittelwesten war das Angebot der Sozialingenieure weder verständlich noch praktisch relevant. Dank des von der Rockefeller Foundation ausgehenden personalen und fachlichen Netzwerks befanden sich die Sozialingenieure zu Beginn der Weltwirtschaftskrise in einer nachgerade glänzenden Position.64 Angesichts des 1930/31 einsetzenden kompletten Zusammenbruchs des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems konnten sie zumindest darauf verweisen, dass sie angesichts der mangelnden Effizienz der gegebenen (Un-) Ordnung solches schon immer prognostiziert hatten. Nun sei ohne Frage die Zeit gekommen, die Gesellschaft der USA und ihre Wirtschaft nach rational einsichtigen Prinzipien umfassend neu zu ordnen. Dies erschien um so nötiger, als selbst in den USA allenthalben radikale und revolutionäre Ideen um sich griffen. Bis weit in Kreise der Sozialingenieure hinein gehörte der Blick auf das faschistische Italien, das so viel besser mit der Krise zurecht kam als die kapitalistischen USA, zum akademischen Standard, so etwa auch bei dem Journalisten und Sozialingenieur Georges Soule, der aber die politischen und kulturellen Aspekte des Faschismus ausblenden wollte.65 Gerade der Faschismus vor der Wende von 1938 schien eine moderne Alternative zum überholten Liberalismus der USA zu bieten. In diesem Zusammenhang gewannen auch die korporatistischen Ideen von Charles Steinmetz aus dem Ersten Weltkrieg wieder mehr Akzeptanz. Überdies war mit Hoover ein ausgewiesener und überzeugter Sozialingenieur Präsident der Vereinigten Staaten. Und in der Tat war Hoover nicht der Nichtstuer, als der er im Wahlkampf von 1932 von Roosevelt denunziert wurde. Allerdings glaubte der republikanische Präsident im Unterschied zu vielen anderen Sozialingenieuren gerade nicht daran, dass Staatsintervention als solche zu mehr Effizienz führen werde. Er dachte genau umgekehrt und wollte deswegen die Selbstheilungskräfte einer auf
64. Zur Großen Depression und dem New Deal vgl. u.a. KENNEDY, Freedom from Fear; NASH, Gerald D.: The Crucial Era: The Great Depression and World War II, 19291945, New York 1992; BADGER, Anthony: The New Deal: The Depression Years, 19331940, Chicago 2002; LEUCHTENBURG, William E.: Franklin D. Roosevelt and the New Deal, New York 1963. 65. Vgl. SCHIVELBUSCH, Wolfgang: Entfernte Verwandtschaft: Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal, 1933-1939, München 2005, S. 33.
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rationaler Argumentation auf bauenden Gesellschaft stimulieren.66 Sozialtechnologie von unten anstelle des progressivistischen Interventionismus von oben also. Mit der von ihm ins Leben gerufenen Reconstruction Finance Corporation (RFC) wollte Hoover genau dies bewirken.67 Dass er daran scheiterte, lag weniger an der eventuell zu geringen finanziellen Ausstattung dieses Instituts, sondern wohl in erster Linie an Hoovers ausgerechnet durch seinen technokratischen Denkstil befördertes Unvermögen, die psychologisch-emotionalen Aspekte der Krise auch nur ansatzweise ernst zu nehmen. Anders als sein stets Optimismus ausstrahlender Nachfolger wirkte er persönlich geradezu wie die Personifi kation des Krisenbewusstseins. Zwar drängten insbesondere Stuart Chase und Georges Soule von der New Republic und dann besonders Charles Beard68 und John Dewey beharrlich auf ein szientistischbehavioristisches Krisenmanagement oder, wie Dewey zu sagen pflegte, eine »logische Demokratie«69, aber Hoover blieb zu sehr Politiker, um sämtliche Entscheidungen in die Hand einiger weniger Wissenschaftler zu legen, deren empirischen Grundlagen er zudem nicht vollständig vertrauen konnte. Dies war im Grunde bereits das entscheidende Menetekel für den gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsanspruch der Sozialingenieure. Wenn selbst einer der ihren in Zeiten der verheerenden Wirtschaftskrise den Primat der demokratischen Politik zu wahren verstand, wie und wann sollten sie dann jemals in dem Maße zum Zuge kommen, das sie für erforderlich hielten? Was Hoover statt dessen anregte, war ein Rückgriff auf den Progressivismus und Korporatismus aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, so etwa im SwopePlan von 1931, der eine ausgedehnte Antikartellgesetzgebung und eine enge Kooperation von Arbeitern und Unternehmern in einer Art Kammersystem vorsah. Die Industrieproduktion sollte durch korporative Planungselemente von unten her rationalisiert werden, aber ein gesamtgesellschaftlicher technokratischer Anspruch wurde damit ausdrücklich vermieden.70 Und tatsächlich änderte sich in der Phase des New Deal nichts an dieser Situation. Gewiss, Franklin D. Roosevelts interventionistische Politik bot den Sozialingenieuren in Friedenszeiten, aber insbesondere im Zweiten Weltkrieg bis dahin ungeahnte Möglichkeiten. Mit Rexford G. Tugwell etwa befand sich ein glühender Verfechter des social engineering im engeren Beraterkreis Roosevelts,71 aber zu keinem Zeitpunkt gewannen die Sozialtechnokraten einen beherrschenden Einfluss auf Roosevelts Politik, die durchweg 66. Vgl. FAUSOLD, Martin C.: The Presidency of Herbert C. Hoover, Lawrence 1975. 67. Vgl. OLSON, James St.: Herbert Hoover and the Reconstruction Finance Cor-
poration, 1931-33, Ames 1975. 68. BEARD, The American Leviathan, und, allerdings deutlich später, DERS.: Public Policy and the General Welfare, New York 1941. 69. JORDAN, Machine-Age Ideology, 225. 70. Vgl. BRINKLEY, Alan: The End of Reform: New Deal Liberalism in Recession and War, New York 1996, S. 37-40. Mit Adolf Berle und Gardiner C. Means griffen dann Personen aus dem Umfeld Roosevelts nach 1933 auf diese korporatistischen Ideen zurück. 71. JORDAN, Machine-Age Ideology, S. 247-51.
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ein von politischen Interessen gesteuertes chaos of experimentation blieb, wie Richard Hofstadter es einmal nannte.72 Dies bedeutete indes nicht, dass es in der Roosevelt-Administration überhaupt keine Zusammenarbeit mit den social engineers gegeben hätte. Dafür war der New Deal dann doch zu staatsinterventionistisch und insofern der legitime Erbe des Progressivismus. Allerdings blieben sämtliche Aktivitäten der Sozialingenieure, darunter Archibald McLeish und der unverwüstliche Georges Soule, bis Kriegsbeginn vornehmlich in Abteilungen konzentriert, in denen es darum ging, die Vollbeschäftigung durch moderne Wirtschaftsplanung herzustellen. Dadurch waren sie durchweg in ein von ihnen nicht sonderlich geliebtes, da politisch dominiertes Umfeld eingebettet. Roosevelts Regierungspraxis zeichnete sich durch ein hohes Maß an Opportunismus und ein daraus resultierendes Wuchern sich überschneidender und konkurrierender bürokratischer Kompetenzen, also durch ein ausgesprochen polykratisches Herrschaftsmodell aus, das in erster Linie dazu diente, seine eigene Herrschaft zu sichern.73 Auf diese Weise spielte er über zwölf Jahre Sozialtechnokraten wie Tugwell gegen Anhänger der freien Marktwirtschaft ebenso aus wie konservative Südstaatendemokraten, katholische irische Gewerkschafter und radikale Intellektuelle aus dem urbanen Norden. Genau diese komplexe Vielfalt, dieses Spielen mit divergierenden und regelrecht kontradiktorischen Optionen zeichnete Roosevelt in hohem Maße aus und war die Grundlage für den bis 1980 anhaltenden Erfolg des von ihm grundgelegten New Deal Order, der weniger eine kohärente Ordnung als eine höchst sensible und fragile Koalition mannigfaltiger Interessen darstellte.74 Spätestens mit der zweiten Phase des New Deal ab circa 1937/38 wurde dann die keynesianische Idee der Stimulation ökonomischen Wachstums durch staatliche Investitionshilfen in Produktion und Konsum zentral. Das aber bedeutete im Kern nichts anderes als den Abschied von der emphatischen Variante des social engineering. Regulation lief nun weniger über rationale, technokratische Planung als über die Stimulation der Selbstorganisationskräfte des kapitalistischen Marktes. Es waren vorrangig Mordechai Ezekiel und Alvin Hansen, die dieser Denkschule innerhalb des New Deal establishments zum Durchbruch verhalfen, während sich die Sozialingenieure an den Rand geschoben sahen.75 Selbst dort, wo sie, wie in der Tennessee Valley Authority (TVA) und dann besonders im Krieg im War Planning Board (WPB), der Defense Plant Cor-
72. Zit. n. BRINKLEY, Alan: The End of Reform: New Deal Liberalism in Recession and War, New York 1995, S. 5. 73. Ebd., S. 227-64. Vgl. ferner HOFSTADTER, Richard: The American Political Tradition and the Men Who Made It, New York 1976, S. 409-456, der Roosevelt als patrizischen Opportunisten charakterisiert. Zur interventionistischen Praxis vgl. C AMPBELL, The Growth of American Government, S. 83-134. 74. HOCHGESCHWENDER, Michael: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998, S. 68-85; FRASER, Steve/GERSTLE, Gary (Hg.): The Rise and Fall of the New Deal Order, 1930-1980, Princeton 1989. 75. Vgl. BRINKLEY, The End of Reform, S. 231.
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poration (DPC) und dem National Resources Planning Board (NRPB),76 noch über Einfluss verfügten, sahen sie sich stets von Opponenten eingerahmt. So gelang es nicht einmal der recht effizient organisierten DPC, mehr als nur marginalen Einfluss auf die Gesamtplanung der Investitionspolitik in Kriegszeiten zu bekommen, da immer noch weit über 50 Prozent aller kriegsrelevanten Investitionen über die private Hand liefen und Aufträge mehrheitlich an etablierte Monopole beziehungsweise Oligopole vergeben wurden.77 Am Ende bereitete die Kooperation der Keynesianer und der Marktwirtschaftler im Baruch-Hancock-Bericht von 1945 dem Anliegen der technokratischen Sozialingenieure progressivistischer Tradition endgültig eine Niederlage, die durch den Nachkriegsoptimismus mitsamt wirtschaftlichem Boom noch intensiviert wurde. Mit dem New Deal war im Grunde die entscheidende Weiche gestellt. Was danach in den 1950er und 1960er Jahren noch als technokratisches Planungsdenken auftauchte, mochte zwar im Rahmen der Great Society in Einzelprojekten, insbesondere im Bereich der Städteplanung, noch einmal recht erfolgreich sein, aber mit den ursprünglichen emphatischen Zielen der traditionellen Sozialingenieure der progressivistischen Ära hatte es wenig genug zu tun. Vor allem fehlte in den späten 1950er und den frühen 1960er Jahren jenes grundlegende gesellschaftliche Krisenbewusstsein, das noch während des New Deal das Movens der social engineers ausgemacht hatte. Nun war man viel eher der Überzeugung, dass das System grundsätzlich funktionierte, weswegen es weniger einer umfassenden Reform als vielmehr kleiner, gradueller, sorgsam gesetzter gesellschaftlicher Reformen in offenkundigen Krisenbereichen, wie etwa der schwarzen Familie, bedurfte. Das aber war gerade kein social engineering.78 Daran änderte auch die breite Rezeption Gunnar Myrdals in den USA nichts mehr.79 Zwar sorgten die strukturalistische Wende in der Soziologie und deren hegemonialer Anspruch gegenüber benachbarten Wissenschaften in Verbindung mit neuen Technologien zur breiteren Erfassung quantitativer Daten, allen voran dem Computer, für einen neuerlichen Schub des Planungsdenkens, aber die alten Probleme aus dem New Deal blieben. An der letztendlichen Priorität des Politischen und damit der viel geschmähten special interests änderte sich gerade unter Johnson gar nichts. Das social engineering wurde in das politische und das bürokratische Verwaltungssystem der USA wie auf ein Prokrustesbett geschnallt. Dies führte unter anderem zu einer häufig wenig durchdachten Mittelvergabe. Die Great Society der 1960er 76. Zum NRPB vgl. bes. CLAWSON, Marion: New Deal Planning: The National Resources Planning Board, Baltimore 1981. 77. Vgl. BRINKLEY, The End of Reform, S. 240-245. 78. Für eine Diskussion des Zusammenhangs von Great Society und social engineering danke ich Clemens Häusler, Cambridge. 79. Vgl. neben C AMPBELL, The Growth of American Government, S. 155-200, auch LEUCHTENBURG, William E.: In the Shadow of FDR: From Harry Truman to Ronald Reagan, Ithaca 1988; STEIGERWALD, David: The Sixties and the End of Modern America, New York 1995; und zur Rezeption Myrdals: JACKSON, Walter A.: Gunnar Myrdal and America’s Conscience: Social Engineering and Racial Liberalism, 1938-1987, Chapel Hill 1990.
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Jahre lebte von der Überschussproduktion einer keynesianisch stimulierten kapitalistischen Marktgesellschaft, die es der Bundesadministration und den reformwilligen Einzelstaaten und Kommunen erlaubte, Gelder nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen. Infolge des Vietnamkriegs, dann aber auch mit der Stagflation der 1970er Jahre standen diese Gelder nicht mehr so reichlich zur Verfügung, wie man sie in Anbetracht der eigentlich nicht vorhandenen Planung gebraucht hätte. Hier zeigte sich dann, dass Planungsrhetorik und Planung nicht identisch waren. Was allenfalls blieb, war ein an der Planungsidee ausgerichtetes Verständnis von Modernität, vor allem die These, regulierte und harmonische Sozialbeziehungen könnten ausschließlich über ökonomische, auf Wachstum ausgerichtete Planung, freilich immer im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft, hergestellt werden.80 Aber selbst in den Bereichen, in denen die Sozialingenieure relativ ungehindert tätig werden konnten, in der stadtplanerischen Rassenintegration und der Familienpolitik, stellte sich alsbald Desillusionierung ein. Bereits vor der Rezession der 1970er Jahre erhoben sich kritische Stimmen aus den eigenen Reihen. 1973 erschienen beispielsweise einige soziologische Metastudien, die nach dem Erfolg der eigenen Reformprojekte fragten und dabei zu dem Schluss kamen, dass sie nicht nur nichts halfen, sondern sogar schadeten.81 Die Betroffenen nahmen den Paternalismus der Sozialingenieure nicht an. Die Datenbasis, die den Projekten zugrunde gelegen hatte, reichte in keinem Fall aus, die umfassenden Anliegen empirisch zu begründen. Eine theoretische Grundlagenreflexion war gleichfalls meist ausgeblieben. Dies war der Schwanengesang für das US-amerikanische social engineering. Der Rest war Frustration. Wie konnte es nach den euphorischen Anfängen so weit kommen? Das social engineering hatte es, und dies zählt zweifellos zu seinen bleibenden Verdiensten, immerhin vermocht, das Gesicht des amerikanischen Liberalismus nachhaltig zu verändern. Angesichts des mehrfachen Versagens des utilitaristischen Laissez faire in den Weltwirtschaftskrisen der 1890er und 1930er Jahren hatte es dazu beigetragen, eine genuin amerikanische Variante des Sozialliberalismus zu formen, die gesellschaftliche Ordnung durch staatliche Intervention und Planung herzustellen gedachte. Social engineering war demzufolge in den USA, selbst dort, wo es in den 1920er und 1930er Jahren gelegentlich einen Blick auf faschistische Vorbilder warf, immer »links«, es war progressivistisch, liberal im amerikanischen Sinn des Begriffs. Ein konservatives social engineering konnte es in den USA nicht geben. Angesichts der weltanschaulichen Grundlagen des amerikanischen conservatism wäre es ein Widerspruch in sich selbst gewesen. Einzig der überwiegend katholische Paläokonservativismus hätte mit der katholischen Soziallehre Anknüpfungspunkte für staatsinterventionistische Maßnahmen geboten, aber er blieb aufgrund seiner erkenntnistheoretischen Selbstbeschränkung, seiner epistemi80. Fast paradigmatisch: ARONOWITZ, Stanley: The Politics of Identity: Class, Culture, Social Movements, New York 1992, S. 253. 81. Vgl. dazu MINDICK, Burton: Social Engineering in Family Matters, New York 1986, S. 6-12.
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schen Demut wenn man so will, stets gradualistisch und amelioristisch und lehnte eine von oben her gedachte, rein rational prinzipiierte technokratische Totalumgestaltung der Gesellschaft strikt ab. Allein, das social engineering war immer nur ein, und meist ein nicht besonders prominenter, Bestandteil einer heterogenen liberalen Koalition, in der letztlich die Keynesianer wenigstens bis in die 1980er Jahre hinein als Sieger hervorgingen. Diese faktische Niederlage der technokratischen Sozialingenieure war gleichwohl nicht nur Ergebnis kontingenter politischer Prozesse. Sie war strukturell bedingt, denn das social engineering scheiterte in den USA an seinen eigenen Widersprüchen. Zum einen hing dies mit einem begründungs- wie geltungstheoretisch im Kern schwachen Glauben an den privilegierten Erkenntnisstatus des Experten zusammen, der durch den angeblich unverstellten Blick auf die »Sache selbst« unmittelbar zu evidenten Problemlösungen gelangt. Dies beinhaltete fraglos eine epistemische Überforderung des erkennenden Einzelnen, worauf schon Laski und Lynd hingewiesen hatten. Es beinhaltete aber auch eine theoretisch komplett unreflektierte epistemische Überforderung des Einzeldings, das eben nie ohne eine bereits apriori geleistete Denktätigkeit als »Sache selbst« vor das Bewusstsein tritt.82 Dieses fundamentale Begründungsdefizit wurde lange durch eine um so hartnäckigere Selbstermächtigungsrhetorik überspielt, welche die Erkenntnisfähigkeit des Experten durchgängig behauptete, sie indes nie zu beweisen vermochte. Gleichzeitig verwiesen dieses Begründungsdefizit des social engineering und seine daraus resultierenden übersteigerten Geltungsansprüche auf einen für das amerikanische kulturelle Umfeld noch gravierenderen Mangel:83 die fehlende Kompatibilität mit der Demokratie. Sozialingenieure neigten dazu, dieses Problem entweder semantisch zu negieren, indem sie auf die pure Identität von Rationalität und Demokratie verwiesen, wie es zum Beispiel Charles Beard gerne tat. Oder sie lehnten die Demokratie rundweg ab und erklärten, man müsse dieses veraltete, aus vorindustriellen Zeiten stammende Relikt durch zeitgemäßere wissenschaftliche Formen des Herrschens ersetzen. Diese Haltung herrschte etwa im Umfeld der Zeitschrift System vor. Mehrheitlich aber machten sich die Sozialingenieure über dieses Problem überhaupt keine Gedanken, was ihrem Anspruch auf umfassende rationale Erkenntnis und eine daraus abgeleitete Überlegenheit gegenüber dem Rest der Gesellschaft eigentlich widersprach und ihnen eine offene Flanke einbrachte, die sie zu keinem Zeitpunkt zu schließen vermochten. In letzter Konsequenz erlaubte es der Erkenntnisanspruch der Sozialingenieure tatsächlich nicht, sich auf pluralistische Diskussionen einzulassen. Wo es nur eine, empirisch unmittelbar erkennbare und unverrückbare Wahrheit gab, konnte kein legitimer Interessenpluralismus existieren. Das aber entzog der Demokratie ihre Grundlagen. Dieser aus einer typisch modernen Tendenz zur wissenschaftlichen Komplexitätsreduk82. Vgl. dazu SCHMITT, Arbogast: Die Moderne und Platon, Darmstadt 2003. 83. Aus konservativer, burkeanischer Perspektive oder im Rückgriff auf Hayek
könnte man dieser Kritik noch hinzufügen, dass die Sozialingenieure bis zu einem gewissen Grade dem Aufklärungsmythos von der Wünschbarkeit und Machbarkeit des »Neuen Menschen« anheimgefallen sind.
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tion kommende Gedankengang war aber unter den soziokulturellen Bedingungen der USA mit ihrer starken massenemanzipatorischen, egalitären und partizipatorischen Tradition schlicht nicht denkbar. Genau dies führte dann dazu, dass das social engineering in den USA durchweg der politischen Kontrolle unterworfen blieb, indem es strikt in ein politisch dominiertes administratives Korsett eingespannt wurde. Damit aber konnten die Amerikaner den Beweis antreten, dass social engineering nicht notwendig in den Totalitarismus führt, wie gelegentlich behauptet wurde.84 Es war dann freilich auch kein social engineering mehr.
84. Vgl. dazu PODGÓRECKI, Adam/ALEXANDER, Jon/SHIELDS, Rob (Hg.): Social Engineering, Ottawa 1996.
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Introduc tion : »Übergr if fsgeschichte« and Social Engineer ing Today, the phrase »social engineering« is most commonly associated with »the darker side« of modernity. It is usually linked to the massive increase of public control and state regulation which took place during the first half of the 20th century, directed at private life. In short, it is closely linked to »social rationalization« and modern Ordnungsdenken itself. While social engineering is generally connected with the increased reliance upon »science« in governance and social reform, the concept is particularly often used when talking about the horrors brought about by colonialism and totalitarianism. Indeed, during the 20th century totalitarian states developed some of the most efficient forms of Ordnungspraxis yet devised. However, these »ordering practices« did not always rely upon totalitarian ideologies – ideologies which were sometimes presented as »scientific truth« in themselves – for their authority and legitimacy. Also, democratic governmental practices were increasingly infused with logics derived from science and »rationality« during this time. Indeed, the detailed and often intrusive regulation of everyday life in welfare states has also drawn upon the legitimacy of science. As a result, social engineering has established a highly persistant link between technology and totalitarianism in contemporary English, a link so strong that technology in politics has become a byword for totalitarianism in politics, indicating the primacy of »rationality« over other concerns. Because of this link between technology and totalitarianism, social engineering has also become a highly negative concept in contemporary political debate. As such, it may be used to criticize a multitude of different policy proposals. Indeed, very different modes of governance have been taken to exemplify social engineering, ranging from social democratic reform in 199
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Sweden during the interwar era to neo-liberal ditto in Singapore during the post-war years, just to mention two very divergent examples. Regardless of whether social engineering is connected with dictatorship or democracy, it has typically been understood as a specific practice and/or theory different from other, supposedly less »technical« forms of control and governance which are assumed to have preceded it as well as succeeded it.1 Indeed, the increasing prevalence of Ordnungsdenken during the first half of the 20th century has often been illustrated with reference to the most ambitious, large-scale, and often failed, social and political »experiments.« The varying fortunes and failures of these experiments are best studied on the practical and institutional level, where the historian may try to give voice to those concerns which were ignored or suppressed by the »experts« in charge of the experiments. But when taking an explicit interest in how Ordnungsdenken translated into Ordnungspraxis it also becomes important to study how this transition took place in order to distinguish it historically from other forms of governance. This is particularly important, since the descriptive notion that humans living together do represent a specific »social order« and the prescriptive idea that this »society« should ideally be »orderly« is neither new, nor particularly modern.2 The wide applicability of the concept of social engineering has made it a byword for a form of governance which goes beyond individual political ideologies at the same time as it moves against politics altogether. These two aspects of social engineering are interrelated: The »antipolitical« strain in social engineering can be seen as an expression of a kind of modernist superideology which unites many otherwise different ideologies, a »transideological« vision of a polity without politics, a society without conflict, a Utopia without ideology. In short, a daydream (or a nightmare) of a place where social problems are identified and solved by clean, rational, and technical means rather than by messy negotiation, emotional deliberation, or recourse to ultimate ends.3 1. Social engineers operating in formally democratic states are often taken to have attempted to move issues out of the contested field of politics and into the allegedly more neutral space of technology, thereby cordoning these issues off from public debate and making them the concern of »scientific expertise« only, thereby coming rather close to contemporary understandings of »technocrats.« 2. Ordnungsdenken must not be reduced to totalitarianism or »the darker side of modernity.« Ordnungsdenken, generally speaking, has been prevalent in Western political social thought long before the emergence of either modernity or social engineering. It is therefore important to take note of the way in which this latter concept has been connected to the »negative« side of modernity as represented by totalitarianism, racism, and colonialism. This connection can be problematized and questioned, exactly since Ordnungsdenken represents a wider phenomenon which has hardly lost its relevance in the contemporary »New Economy,« even though contemporary political and social language rarely reflect its persistence today. 3. While one of the aims of democracy is to turn ends – political deliberation – into a means in itself, »technocracy« sometimes associated with social engineering is said to do it the other way around in its attempt to turn means – scientific
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As such, social engineering has also been seen as an expression of a largely metaphorical understanding of society and/or the state as a gigantic »machine,« operating along lines of social »laws« as strict as any natural law. Laws, which one can learn how to master and – perhaps paradoxically – be mastered by. Laws, which can effectively reduce individuals into the mere cogs and wheels of the »social machinery.« 4 Many students have taken this metaphorical quality of social engineering quite literally, assuming that this manner of speaking does not only reflect the enormous popularity of science and technology at the close of the 19th century as part of a strategy of professionalization on the part of new groups of experts – psychologists, statisticians, sociologists, and others – who joined the ranks of clergymen, economists, lawyers, and politicians who had previously dominated the public discourse on »the social.« Also, social engineering has been connected with a more general modernistic worldview, characterized above all by material mechanicism and »technocracy.« Indeed, both science and technology did affect human life in fundamental ways during the rise of modernity. Both science and technology did contribute massively to the expansion of political imagination and state responsibility under modernity. For this reason, it might seem both relevant and convenient to use the concept of social engineering as a category of historiography under which various 20th century historical practices and theories may be sorted, from public housing to political propaganda, from polling techniques to popular education. This body of historiography has been mostly concerned with a critical analysis of the various »violations« – Übergriffe – which have been committed in the name of rationality and executed with the means of science during the 20th century, and justly so.5 problem-solving – into an end in its own right, indeed conjuring up the risk of a technocratic Dystopia. 4. JORDAN, John M.: Machine-Age Ideology. Social Engineering and American Liberalism, 1911-1939, Chapel Hill, London 1994; WANG, Jessica: Ethics and Social Responsibility in Science, in: Rothenberg, Marc (Hg.): The History of Science in the United States. An Encyclopedia, New York, London 2001. 5. Rather than being a counter-perspective to be criticized, what I have here chosen to call Übergriffsgeschichte. Übergriffsgeschichte is a fully legitimate and relevant approach, the insights of which deserve to be illustrated and contextualized by conceptual history. This is particularly so since it has primarily been developed by philosophers and social theorists, with notable contributions by Michel Foucault as well as thinkers working in the tradition of the Frankfurt School. Even if »historians« have not played a central role in the formulation of this body of research, the perspective of Übergriffsgeschichte has become influential in much historiography on social engineering, and for good reasons. In Sweden, for example, the impression left by the so-called steriliseringsdebatten, »the Sterilization Debate,« in 1997 is still dominant, in particular with regard to the socio-cultural motivations behind the undeniable violations perpetrated in the name of social rationality and societal efficiency. In Germany, Detlev Peukert and Jürgen Link have analyzed how various
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However, the concept of social engineering also enjoys a very rich, nuanced, and complex history in itself, the contradictions of which throw some sticks into the wheels of this neat historiography. This chapter is based on the assumption that there is an important distinction to be made between the practices and theories which are now considered to have been social engineering and those practices and theories which were once called social engineering. The way in which social engineering was »spoken« of in the past – as an idea and as a rhetoric – has a great deal to tell us about the history of social engineering as a historical phenomenon. Behind this argument lurches a suspicion that the logics by which these violations – these Übergriffe – were made acceptable and eventually convinced people hinge to a great deal upon the various conceptualizations – Begriffe – through which Ordnungsdenken translated into Ordnungspraxis, and not only through perceptions of historical necessity and social normalcy. Necessity and normalcy are constructed entities, maintained and transmitted through language use, and therefore it should be relevant to turn to historical language use itself when expressing an interest in how these constructions and transmissions took place. In short, this chapter argues that our present Übergriff sgeschichte of social engineering can benefit from being complemented by a Begriff sgeschichte – a conceptual history of social engineering. While history of the undeniable violations and intrusions – Übergriffe – legitimized by general »scientific« notions of efficiency, normalcy, and »performativity« – to say nothing of the »scientific« claims of truth as held by Liberalism, Marxism, or Social Darwinism – is as acute as ever, it is nevertheless important to remain vigilant towards the role of political and social language and the Begriffe used in the legitimization of these violations. However, social engineering might perhaps not »deserve« a conceptual violations have been legitimized and normalized with reference not only to political ideology but also and importantly by technical and scientific considerations. Both the German and the Swedish discussion have relied upon Jürgen Habermas‹ notion of technology and science as a kind of »ideology« in its own right. Since American advocacy for social engineering hardly gained a comparable influence upon domestic American social policy in the same way as happened in Germany and Sweden, the main theme in American Übergriffsgeschichte has rather concentrated upon the »anti-political« tendency in this advocacy. In the USA, the Übergriffsgeschichte-theme is instead largely reserved for the violations which took place in conjunction with the Cold War. See for example HABERMAS, Jürgen: Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frankfurt a.M. 1968; FOUCAULT, Michel: Governmentality, in: Burchell, Graham/ Gordon, Colin/MILLER, Peter (Hg.): The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Chicago 1991; DERS.: Naissance de la biopolitique. Cours au Collège de France (19781979), Paris 2004; DERS.: Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris 1975; BAUMAN, Zygmunt: Modernity and the Holocaust, Ithaca/NY 1989; L INK, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen, Wiesbaden 1999; PEUKERT, Detlev (Hg.): Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989; JORDAN, Machine-Age Ideology; WANG, Ethics and Social Responsibility in Science.
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history of its own, as social engineering is not necessarily to be considered a Grundbegriff or a »basic concept« in its own right, if we are to follow Reinhart Koselleck’s terminology.6 It will nevertheless be argued here that the concept of social engineering can very well be used as a kind of prism for looking at how other, and possibly more basic and more central, pairs of concepts and counterconcepts (Gegenbegriffe) – such as state and people, democracy and efficiency, nation and class, capital and labour – were made to relate to one another during the crisis and tensions set about by rising modernity. It will also be argued that such a conceptual history benefits from being used in comparison – despite the difficulties of conceptual analysis across languages – for the reason that comparison allows one to see and problematize things which would otherwise appear natural and fully in order. In this case, Sweden and the USA will provide the contrasting cases.
Institutional Economics, Scientif ic Management and Social Gospel The earliest usage of the concept which I have been able to ascertain this far can be found in an article by American economist Thorstein Veblen from 1891.7 In this text, Veblen suggested that »constructive social engineering« could pave a kind of middle way between »status« – bureaucracy – and »contract« – competition – and thus solve some of the tensions which Veblen considered to have beset American capitalism and American society at this time. Without Veblen further elaborating the concept, his idea was that industry and society – as systems of social organization – are best seen as buildings, made by humans over time and constructed out of cultural »materials« – materials, which a society may or may not have, or »afford« as Veblen put it. A year later, in 1892, Veblen was recruited by German-educated sociologist Albion W. Small for the new social science institution at University of Chicago. Small would have a strong influence upon his generation of American social theorists, not the least his belief that social science had a »telic value« for the increase of »human happiness,« not only to explain »social genesis,« i.e., the roots of human interaction. In demanding a philosophy which could operate »midway« between social fact-gathering on the one hand and what he called 6. When applying the perspective of conceptual history there is also the problem of »textual silence.« Too close attention to the explicit concept, to the »word« itself, so to speak, may lead to a myopia which obscures the width of the »semantic field« of this concept. Expressed differently, it is beyond doubt that for example social engineering has been spoken of and continues to be spoken of without the speaker making explicit use of this particular phrase, to this peculiar coupling of words. Nevertheless, exactly such a focus upon the phrase is in fact indispensable for the initial mapping of the semantic field of a particular concept, which may then be extended in time. 7. VEBLEN, Thorstein B.: Some Neglected Points in the Theory of Socialism, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 2, 1891, S. 57-74.
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»social art, practical civics, the art of social control, or whatever we may call the program of action which our philosophy sanctions« on the other, Small presaged the later debates in American academia on whether social science should be »descriptive« or »prescriptive,« a distinction which we will have reason to return to.8 Soon, the concept of social engineering was to crop up here and there outside academia as well. In 1899, for example, William H. Tolman – industrial consultant and former associate of William Pankhurst, a prominent representative of the so-called social settlement movement – fi lled the concept with a more concrete content, as he began using it to promote the idea that industrialists should take the same care for their workers – their human capital – as they did for their machines – their real capital – and consequentially hire experts on industrial relations – »social engineers,« like Tolman himself – to aid them in industrial betterment.9 The social engineer would help the workers and thus reduce dissatisfaction, the risk of working-class organization, and thereby the possibility of unwanted governmental intrusion. At the same time, the social engineer would help increase productivity and loyalty among the workforce. In contrast to the sentimental arguments philanthropists who mainly used moral arguments, Tolman described his social engineering as profitable, rather than charitable. A few years later, around 1900, members of the so-called Social Gospel movement began demanding that American clergymen educate themselves in modern social sciences in order to be of better help to frustrated members of their congregations, alienated by rapid modernization and lost in the maelstrom of modernity as they were often thought to be. By means of social science, God’s place in modern America world be made more relevant and thus more secure.10
Pragmatism and Legal Realism Another instance of social engineering rhetoric is found among American philosophers of pragmatism. John Dewey began speaking during the First World War of education in terms of social engineering, arguing that social 8. SMALL, Albion W.: The State and Semi-Public Corporations, in: The American Journal of Sociology 1, 1896, S. 398-410. 9. See The Oxford English Dictionary, Oxford 21989, S. 250, 252. For a detailed account of Tolman’s continued usage of this concept, see ÖSTLUND, David: Det sociala kriget och kapitalets ansvar. Social ingenjörskonst mellan affärsintresse och samhällsreform i USA och Sverige 1899-1914, Stockholm 2003. 10. ADAMS, Henry C.: Higher Education and the People. Paper presented at a joint meeting between the Michigan Political Science Association and the Michigan Farmers’ Institute, see »Notes and Abstracts«, in: The American Journal of Sociology, 8, 1902, S. 281-288. See also HENDERSON, C.R.: The Scope of Social technology, in: The American Journal of Sociology 6, 1901, S. 465-486; DERS.: Applied Sociology (Or Social Technology), in: The American Journal of Sociology 18, 1912, S. 215-221.
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progress needed progressive people, the education of whom could not be left to whim and tradition, but should be carefully crafted in accordance with psychological and sociological knowledge of human behavior. If Americans wanted to secure the gains of American civilization this far, Dewey assured, they had to learn how to act towards collective goals. Progress, Dewey stated in 1916, does not come for free.11 In a similar vein, legal philosopher Roscoe Pound turned against the legal formalism – or »mechanical jurisprudence,« as he deridingly called it – arguing that law should be – and indeed largely was – a neutral automaton producing objective results. This interpretation only served the interests of corrupt »party machines« of the big cities and »robber barons« of industry, and did little to help the small farmers of the countryside or the destitute immigrants in the slum. Instead, Pound claimed, law must be understood as a tool for social change and by necessity a reflection of its time. As an alternative to legal formalism, he proposed a »sociological jurisprudence« which would later influence the legal realists who played such an important role in the rise and fall of Franklin D. Roosevelt’s New Deal two decades later.12 Taking a step back and looking at what is going on here there seem to be three things uniting these usages of the concept. First, there is an emphasis upon the need for a balancing of private interests in American society towards better attainment of public interest, however defined. Secondly, there is the conviction that progress is not automatically brought about by competition and natural selection on the free market. Thirdly, we find the notion that liberals and Social Darwinists in their view of present social and political conditions as somehow »natural« were not only unhistorical, but that they missed the role of conscious human agency in relation to nature and culture for social change. After all, there might have been a rather good reason for the social engineers to have desisted from labelling themselves »social machinists« – an expression which was readily available to them in contemporary language had they wanted to use it. So why were these beliefs expressed through the idea of an »art« or an »engineering« of the social? Why this emphasis upon the »engineer« and »engineering?« Well, a glance at the dictionary might be helpful here. The Oxford English Dictionary reveals that in English, engineering may refer to
11. DEWEY, John: Progress, in: International Journal of Ethics 26, 1916, S. 311-
322. 12. Among Roscoe Pound’s voluminous production, especially the following works make use of social engineering rhetoric: POUND, Roscoe: Mechanical Jurisprudence, in: Columbia Law Review 8, 1908, S. 605-623; DERS : The Place of the University in Training for Citizenship, in: Brumm, John Lewis (Hg.): Educational Problems in College and University. Addresses Delivered at the Educational Conference Held at the University of Michigan, October 14-16, 1920, Ann Arbor 1921; DERS : An Introduction to the Philosophy of Law, New Haven 1959 (urspr. 1922); DERS.: Criminal Justice in the American City – A Summary, Cleveland 1922.
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both the operation and maintenance of machines as well as the invention and construction of machines, and figuratively the manipulation of something.13 The perception that there was a need for manipulation of the social – a need for »social reconstruction« – came partly from the Progressive movement which since the 1890s had argued that American civilization – a frontier civilization, as it were – would need to »adjust« to the new conditions when there was not much more free land which could work as a vent for social conflict coming to a boil in the great cities on the Eastern Seaboard. Perhaps, it was speculated, the era of American exceptionalism was coming to an end, and the many social problems which Americans for a long time had thought of as European started to appear troublesome at home. The rural South, the growing ghettos of the big cities, and the rising fear that Americanization of immigrants did not any longer take place automatically, made the Progressive observers of American culture increasingly aware of a lack of community and a deficit in what they called »social adjustment,« largely caused by what William F. Ogburn would in the 1920s theorize as a »cultural lag« of culture failing to keep up the pace with technological change.14
Social Integration and Social Planning Despite the seriousness of these shortcomings perceived by American social scientists in their native America, the USA continued to shine as a beacon of hope to many people around the world. Not the least so in Sweden, where the political establishment finally began to wonder why so many Swedes were emigrating to the USA.15 The so-called Emigrationsutredningen (»The Emigration Investigation,« 1907-1913) emerged as a virtual national assessment of Sweden and everything Swedish in order to answer this question and – if possible – recommend a remedy. Statistician Gustaf Sundbärg and his team found part of the explanation in that contemporary Swedes – just as the conservatives had long suspected – lacked national spirit as they had lost touch of the historical mission of the nation.16 The other part of the explanation was more tangible: Class prejudice and jealousy, as well as poverty and lack of thrift and hope for the future prevented people from »the pursuit of happiness« at home. Sweden was conceived of as a periphery that needed widescale political democratization and social reform in order to catch up with the USA, if it was not to fade
13. See The Oxford English Dictionary, S. 250, 252. 14. OGBURN, William F.: Social Change with Respect to Culture and Original Na-
ture, New York 1922. 15. In relative numbers, Ireland supplied more emigrants in relation to its population to the USA during the period 1821-1930, followed by Norway (2), Great Britain (3), and Sweden (4). In absolute numbers, circa 1,2 million persons left Sweden for the USA in the period 1851-1930. 16. SUNDBÄRG, Gustaf: Det svenska folklynnet. Aforismer, Stockholm 91911.
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away into complete obscurity in the Northern expanses of Europe or simply be swallowed up by Russia.17 A similar outlook was shared by business as well as philanthropy, members of which began looking to the USA for inspiration around 1900, too. Among the innovations from the other side of the Atlantic which appealed to Swedish businessmen and social reformers alike we find the concept of social engineering, apparently in its Tolmanite form. Especially the work of often female experts in industrial relations – self-entitled social engineers – was reported in Sweden, and in particular their work towards Americanization of immigrant workers in the industrial towns of the North won praise. If immigrants could be Americanized – i.e., modernized – in the USA, could not workers just as well be modernized at home by the same methods?18 Only two decades later – around 1930 – the situation had changed considerably. Largely thanks to the exploits of its export industry, wealth was growing and spreading in Sweden. Perhaps somewhat exaggeratedly, there was talk of Sveriges andra stormaktstid (»Sweden’s Second Great Power Era«). Incidentally, this was the title of a book published in 1928 in which young industrialist Gerhard De Geer explained that export of patented Swedish innovations would conquer the world and bring prosperity to the door-step to what only ten years ago had still been known as det befästa fattighuset (»The Fortified Poor-House«).19 It was in conjunction with this newly-won status that the functionalist architects behind the Stockholm Exhibition in 1930 could programmatically declare their motto to be acceptera, i.e., »Accept the given reality – only thus may we have a view to control it, to master it in order to change it and create culture which is a flexible tool for life.« Otherwise, they implicitly warned, Sweden would again be relegated from the centre, i.e., from what they called »A-Europe,« the Europe of tractors and electricity, great cities, efficient industries, and new media entertainment to the periphery, or what they called »B-Europe,« the Europe of horse and carriage, traditions, and superstition, as exemplified by the Balkans and Eastern Europe.20 That this eerie prospect was an indeed viable development unless something was done was later made clear by the book Kris i befolkningsfrågan (»Crisis in the Population Question«), in which social scientists, politicians, and public intellectuals Alva and Gunnar Myrdal stole the thunder from the 17. Ebd. 18. BJÖRCK, Henrik: Den sociale ingenjören på intressekontoret. En studie i
svensk välfärdshistoria, in: Lychnos 2002, S. 103-137; DERS.: Teknisk idéhistoria Göteborg 1995, Kap. »Ett perspektiv på social ingenjörskonst«; ÖSTLUND, Det sociala kriget och kapitalets ansvar. 19. DE GEER, Gerhard: Sveriges andra stormaktstid, Stockholm 1928; HÖGLUND, Zeth U.A.: Det befästa fattighuset: Antimilitaristisk och socialistisk handbok, Stockholm 1913. 20. The concept of »A-Europe« and »B-Europe« is derived from D ELAISI, Francis: Les deux Europes, Paris 1929; see A SPLUND, Gunnar U.A.: Acceptera, Stockholm 1931, S. 15-21.
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conservatives by showing – in a cool, detached, and supposedly scientific tone – how the decline of the Swedish population was not the result of the lack of traditional family values, but rather due to poverty and lack of social security. What was needed was not a return to traditional conservative morality, but a modern »economical technology« and a »new rational social policy« – marked by the »romanticism of the engineer« – which would go directly to the causes of social problems.21 In other words, the Myrdals propagated a kind of »social prophylaxis« in opposition to the largely palliative social policy which they claimed dominated the philanthropy of the past.22 In a similar, but more popular vein, muckraker journalist Ludvig »Lubbe« Nordström went around the countryside in 1936 by car, armed with a camera recording rural misery for a series of radio-reportages called Lort-Sverige (something like »Filth-« or »Dirt-Sweden«), which fanned a storm of national indignation.23 In just two decades, Swedes had thus gone from identifying themselves as living in being a poor periphery – perhaps rich in history and honour, but poor in terms of money and power – to a reidentification with modern industry and membership in »A-Europe,« expecting themselves to excel in cleanliness, social justice, and rationality. Many were thus greatly shocked when remnants of »B-Europe« could still be unearthed, making up an internal periphery which continued to imperil the status of centrality and thus making centrality necessary to keep fighting for, and not to be taken for granted.24 This view of Sweden as a modern rational nation was rather soon exported abroad.25 Under the pressures of the Great Depression, Americans began increasingly to look at other countries for inspiration on how to deal not only with erratic capitalist economy, but also with the practical task of »social reconstruction« of American society. In particular, the discussion was concerned with how to adjust individualistic and competitive American »folkways« to the »technicways« of the future and its demands for cooperative spirit and collectivism, and to what measure so-called »stateways« could be called in to serve this purpose.26 In their search for a less unpredictable social 21. MYRDAL, Alva/MYRDAL, Gunnar: Kris i befolkningsfrågan, Stockholm 1934; MYRDAL,
Gunnar: Socialpolitikens dilemma I, in: Spektrum 2, 1932, H. 2, S. 1-13; DERS.: Socialpolitikens dilemma II, in: Spektrum 2, H. 3, 1932, S. 13-31. 22. Here, it may be enough to take note of the fact that Alva Myrdal and Gunnar Myrdal had only seldom made use of the social engineering terminology before the 1940s, preferring to speak of a »prophylactic [as opposed to a palliative] social policy« or »sociopolitical ideology« for example, i.e., underlining the fundamentally political character of their social science; see MYRDAL, Socialpolitikens dilemma I; DERS., Socialpolitikens dilemma II. 23. NORDSTRÖM, Ludvig: Lort-Sverige, Stockholm 1938. 24. A SPLUND U.A., Acceptera. 25. MYRDAL, Alva: Folk och familj, Stockholm 1944; DIES.: Nation and Family. The Swedish Experiment in Democratic Family and Population Policy, New York 1941; The Annals of the American Academy of Political and Social Science 197, 1938, H. 1. 26. PRESIDENT ’S RESEARCH COMMITTEE ON SOCIAL TRENDS : Recent Social Trends in the Unit-
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and economical system surprisingly many Americans – including Dewey, for example – were taken in by the achievements of the Soviet communists and the Italian fascists.27 However, they shunned the choice between totalitarian dictatorship and laissez faire collapse, arguing that it should somehow be possible to combine efficiency with democracy. To that end, propagandists closely associated with Roosevelt’s New Deal began looking to the Nordic countries, including Sweden, for inspiration.28 In Sweden – in stark contrast to the USA – capitalism was »controlled« and social security had been made a state responsibility, the Americans were told by journalist Marquis Childs in his book Sweden. The Middle Way (1936).29 Echoing contemporary Swedish self-understandings, Childs told his American readers how Sweden had transcended its poor past through agreement and cooperation between capital and labor under brokerage of the state, resulting in a middle way between capitalism and socialism, a stable balance between democracy and efficiency, and, yes, even a compromise between tradition and modernity. This »middle way« as Childs called it (we may here be reminded of Veblen’s original usage of social engineering to depict a path between bureaucracy and competition) contrasted to how American business opposed and feared Roosevelt’s New Deal, and – importantly – to what the Swedish labor market had looked like just two decennia earlier, with the highest level of strikes in the whole of Europe and the threat of revolution in fresh memory. However, there was little mention of social engineering in Childs‹ account. Instead, he propagated a more general notion of a particular Nordic or Swedish way of compromise and rationality as a means of a politics by which to navigate democratically among the rocks and skerries of the complex archipelago of modernity. In Sweden, there was little talk of any social engineering at all. Rather, one spoke in terms of the need for more planning – planering, planmässighet – in prevention of social ills (see below). Of course, Childs was not blind to the vast differences in culture and community between homogenous and predominantly rural little Sweden and the gigantic, bustling melting-pot of industrial America. Yet, if there was something to be envied and possibly learnt from Sweden, Childs held, it would be the art of »cooperation.« However, the problem was that cooperation demands some kind of »community« in order to carry some hope of success, and community was exactly what American public intellectuals found wanting in Depression-Era America. The question emerged once again and now more ed States, Report of the President’s Research Committee on Social Trends 1 und 2, New York 1933. 27. SCHIVELBUSCH, Wolfgang: Three New Deals. Reflections on Roosevelt’s America, Mussolini’s Italy, and Hitler’s Germany, 1933-1939, New York 2006; RODGERS, Daniel T.: Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge 1998. 28. DICKINSON, John: Hold Fast the Middle Way, Boston 1935; MARKLUND, Carl: The Social Laboratory, the Middle Way, and the Swedish Model. Three Frames for the Image of Sweden, in: Scandinavian Journal of History (under review). 29. CHILDS, Marquis W.: Sweden. The Middle Way, New Haven 1936.
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acute than before: Could community somehow be actively created and, if so, how and by whom? Would »planning« be the way forward, as sometimes held by Roosevelt and supported by some – but not all – of his advisors? And, if so, what would be the role of emergent social sciences in such a national »social reconstruction« if it ever came to pass?
Social Ac tiv ism and Scientif ic Objec tiv ism These questions which at first had been discussed with some academic sense of detachment during the 1920s sailed up to gain priority in the public debate as the Great Depression in 1929 hurled millions of Americans into poverty and held them in deep uncertainty throughout much of the 1930s.30 It is in relation to this concern we find a virtual surge in the usage of the social engineering terminology among American social scientists. Roughly three different positions seem to have crystallized within American academia regarding the dilemma between subjectivism and objectivism, between prescription and description, or more generally, between science and politics.31 First, there was the highly influential group which may here be exemplified by Ogburn – who we have already met above – and who were mainly centered in Chicago. These sociologists championed the view that social science should be statistical and non-partisan. These sociologists engaged in what we for our present purposes may call a kind of »soft objectivism.« Ogburn, for one, chaired President Herbert Hoover’s »Committee on the Study of Recent Social Trends,« but emphasized that the Committee only served an advisory role.32 Despite their negative attitude towards political activism on the part of social scientists, many of the Chicago School participated actively in the city politics of Chicago.33 While they in practice engaged in social experiments in Chicago – which some of them, following Small, called their »social laboratory« – they had little need for social engineering or any equivalent thereof in order to guide them in their relation to a more national public purpose they did not actively embrace anyway. The other more or less unitary group of American sociologists in the 1930s 30. For the »culture of crisis« which emerged in the USA during these difficult years, and to which the new language of social engineering must be connected, please see PELLS, Richard: Radical Visions and American Dreams. Culture and Social Thought in the Depression Years, Urbana 1973. 31. MARKLUND, Carl: Bridging Politics and Science, Ph.D.-thesis, European University Institute Florence 2008 (unpublished). See URL: cadmus.eui.eu/dspace/bitsteam /1814/9907/1/2008_Marklund1-17.pdf 32. PRESIDENT ’S RESEARCH COMMITTEE ON SOCIAL TRENDS : Recent Social Trends in the United States, New York 1933. 33. See for example BULMER, Martin: The Chicago School of Sociology, Institutionalization, Diversity and the Rise of Sociological Research, Chicago 1984; VENKATESH, Sudhir: Chicago’s Pragmatic Planners, American Sociology and the Myth of Community, in: Social Science History 25, 2001, S. 275-317.
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could be called »hard objectivists.« Mostly based in New York and the MidWest, these sociologists moved up from originally rather marginal positions to take a central position in American social science during the Second World War. They most closely resemble the historiographical stereotype of a social engineer. Claiming that scientific method should be modeled upon the physical sciences and that, by inference, the social world could only be explained in quantitative terms, the typical hard objectivist also came close to the stereotype of a positivist. Most of them emphasized the role of material factors in determining the outcome of social processes, often inspired by behaviorism.34 If these hard objectivists typically did not express the view of the entire social world of human interrelations as organized according to mechanical laws of cause and effect, they surely decided to study only those aspects of social life which they felt in fact operated as such. Naturally, they proposed that most of social life could be quantified: One among them, George A. Lundberg, even managed to calculate how people voted in accordance with their social, cultural, and economical environment.35 From that perspective, elections would indeed appear to be rather superfluous, and one can easily see how the standard criticism of social engineering for being anti-democratic and elitist could fit many members of this group. In one important aspect, however, they departed from the historiographical stereotype of the social engineer: When expressing admiration for Saint-Simon and Auguste Comte, these quantifiers primarily referred to the mathematical prowess and quantitative methodology of these pioneers of European 19th century social science, rather than to their social activism. Also, they did not talk much of social engineering, presumably as they felt science should not meddle with politics, and a social engineer would from that perspective be an oxymoron (even though Lundberg would later in the 1940s begin to make positive use of the term). Perhaps the concept was made less attractive to them as it had by the 1930s become a favorite term among a loose and rather diverse yet third group of social scientists who exactly felt the opposite to what the hard objectivists preached. To these sociologists – some were also psychologists, statisticians, public relations experts, etcetera – social science, as a social practice dealing with social interrelations, can never be anything else than social and thus political. Methodologically often allied with the hard objectivists, they nevertheless rejected the ontological notion of absolute objectivity in science. Moreover, they protested against the naturalism of the hard objectivists. The realm of the social was indeed social, and had to be understood as such, directly, that 34. BANNISTER, Richard C.: Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity, 1880-1940, Chapel Hill, London 1987; DERS.: Principle, Politics, Profession. American Sociologists and Fascism, 1930-1950, in: Turner, Stephen P./Käsler, Dirk (Hg.): Sociology Responds to Fascism, New York 1992, S. 172-213. 35. LUNDBERG, George A.: The Demographic and Economic Basis of Political Radicalism and Conservatism, in: The American Journal of Sociology 32, 1927, S. 719732.
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is, and neither through any biological or material analogy, nor through any organic or mechanical kind of metaphor.36 So why did these social scientists make so frequent use of the concept of social engineering? Arguably, the figure of the engineer was just one among many other analogies and metaphors in use when social scientists attempted to describe a new kind of scientifically informed professional or practitioner who would run as an intermediary between »pure social science« on the one hand, and the rumble-tumble of society and politics of the other. Beside the engineer, the clergyman, the lawyer, and the physician were equally popular in describing the intended role of this imagined professional cadre.37 That is not to say these sociologists thought social engineers should manage everything in the same manner as outlined by the technocrats under Howard Scott and his Technocracy, Inc.38 No, they should rather inform the public and the politicians of sociological perspectives upon current social problems – indeed problematize issues of public concern, as it were – and try to bring out rational communication instead of letting public debate succumb to particularisms and prejudice. An ironic twist – which may possibly also serve to illustrate how little power certain users of language may exercise over their own creation – lies in the fact that while the figure of the social engineer probably floated upon notions of scientific objectivity and practical realism of the technical engineer and the scientific manager as well as to distance these reform-oriented social scientists from preceding generations of social gospelers and other, allegedly sentimental moralists, the first dictionary-type entry for the social engineer I have managed to fi nd this far is in H. L. Mencken’s The American Language (1936) where exactly the latter meaning is the one marketed as we find »a socioreligious e[ngineer]« to be »(an uplifter), [and] a social-e[ngineer] (the same),« a meaning fished out of The Engineering News-Record in the early 1920s. »Next to engineer,« Mencken noted, »expert seems to be the favorite talisman of Americans eager to augment their estate and dignity in this world.«39 It might perhaps seem somewhat contradictory or at least unnecessary 36. ELLWOOD, Charles A./JENSEN, Howard E.: Contribution to »Questions for Sociology: An Informal Round Table Symposium«, in: Social Forces 13, 1934, S. 187f.; BERNARD, L.L.: Contribution to »Questions for Sociology. An Informal Round Table Symposium«, in: Social Forces 13, 1934, S. 165-170. 37. Their metaphorical usage of the social engineer seems thus to have been a functional rather than formal one, i.e., delineating what someone/something does, rather than what something/someone is. Arguably, metaphor can often lead to uncontrolled allegory, and sometimes this is indeed the intended rhetorical function of metaphor. But if we want to remain sensitive to the way in which a particular metaphor was used, we have also to map what other metaphors or figures are simultaneously used to outline similar thoughts. 38. AKIN, William E.: Technocracy and the American Dream. The Technocrat Movement, 1900-1941, Berkeley, Los Angeles 1977. 39. MENCKEN, H.L.: The American Language: An Inquiry into the Development of English in the United States, London 41936 (urspr. 1921), S. 291.
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for these sociologists to have maintained the distinction between »pure« and »applied« social science which was so central to their adversaries, 40 the objectivists, since they considered both natural and social science as being fundamentally social practices, and thus anyway constructive in relation to society. Resisting the »scholastic fallacy« of imputing more logic to an act or an actor than there might have been, it seems as if this somewhat illogical combination may have been a concession to the fact that sociology was a rather young discipline, which had only recently gained academic standing and professional status within the American university system, the result of an uneasy, if efficient, coalition between reform and philanthropic interests on the one hand, and notions of scientific objectivity on the other. These sociologists nevertheless argued that social science should »bravely« embrace its creative potential instead of making false pretense to absolute objectivity and value-neutrality and withdrawing from the responsibility that knowledge entails. Furthermore, the social engineers – I will call them so for short in the following, as they were the only social scientists at this time who made positive use of the terminology of social engineering, while they did not claim to be able to fill the role of a social engineer themselves, at least not just yet – strongly emphasized the scientific need for empirical experiment – which they found curiously wanting among the hard objectivists, despite their naturalism – as well as the consensual human needs, such as for example food, shelter, and basic security, which they thought possible to study as social facts, while they clearly denied the possibility of determining social values scientifically. 41 In fact, these supporters of social engineering often criticized the view of human society as mechanically determined and destined to automatic progress through biological evolution. 42 The hard objectivists lost much of the ground they had won during the Second World War. This was partly because they did not make a strong stand against Germany and Japan with the motivation of »scientific objectivity.« Partly this loss followed from their lack of expertise in international as well as administrative problems which the US government needed to solve, such as how to administer millions of troops and their families and how to conduct psychological warfare against culturally different enemies. Such expertise could be better provided by anthropologists and behaviourists. Furthermore, 40. This distinction had been originally drawn in the American context by Lester F. Ward; see WARD, Lester F.: Pure Sociology. A Treatise on the Origin and Spontaneous Development of Society, New York 1970 (urspr. 1903); DERS.: Dynamic Sociology, or Applied Social Science as Based Upon Statical Sociology and the Less Complex Sciences, New York 1911 (urspr. 1883). 41. FAIRCHILD, Henry Pratt: Contribution to »Questions for Sociology. An Informal Round Table Symposium«, in: Social Forces 13, 1934, S. 179-181. 42. Perhaps these supporters of social engineering may have felt particularly attracted to the figure of the social engineer, as their main enemy was exactly the naturalistic hard objectivists, who they could then challenge on their own metaphorical ground, and at the same time benefit from the high status accredited to engineers in everyday language at this time.
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the Second World War made Social Darwinism and laissez faire liberalism politically suspect in the Western democracies. As these bodies of thought – the main enemies of the supporters of social engineering – faded away into obscurity, so did the social engineering rhetoric as well. 43 This is not to say, however, that various practices which can ex post be described as social engineering disappeared from the scene. Rather, the beginning of the Cold War represented a climax for the belief in scientifically guided social change in the interest of creating democracy and liberal market economies, most notably perhaps the Marshall Plan. However, these measures did not need the rhetoric of social engineering for attaining public acceptance. The critical issue which this rhetoric had originally sought to bridge, namely the gap between science and politics, had already been narrowed down by perceived necessity and practical experience, derived from the years of conflict. By the 1950s, science had become a natural component of politics and vice versa. This linkage between science and politics, which had previously been so cautiously circumscribed, became seen as a most desirable and natural state of affairs in »post-war reconstruction« debates which followed upon the end of the Second World War. However, while science and politics thus integrated, the desirability of »planning« – which had become established as a necessity during the war – came under increasing criticism, most notably so in the 1944 debate between Friedrich von Hayek and Karl Popper.
An Amer ican Dilemma and The Amer ican Creed That same year, 1944, saw the publication of Gunnar Myrdal’s An American Dilemma. In 1938, this Swedish social scientist had been commissioned by the Carnegie foundation to conduct an ambitious study of the so-called »Negroproblem« in the USA. Myrdal found that American racial prejudice was unlikely to wither away unless special measures were taken, concluding that a social engineering approach would be possible when social scientists learnt how to make their own value premises explicit and thereby reach a certain bounded objectivity. This rare feat, which Ogburn in his presidential address to the American Sociological Society in 1929 had hoped American social scientists would learn, Myrdal now considered himself able to do.44 This method would of course only make sense in a social context where there was a reasonable chance of some kind of »community« in outlook on social matters. In any other environment it would be of little consequence if a certain social scientist managed to be objective, however remarkable that might be in itself. For this very reason, Gunnar Myrdal spent a great deal of effort in An 43. BANNISTER, Principle, Politics, Profession. 44. MYRDAL, Gunnar: An American Dilemma. The Negro Problem and Modern De-
mocracy, New Brunswick/NY 1996 (urspr. 1944); OGBURN, William F.: The Folkways of a Scientific Sociology, in: Papers and Proceedings of the Nineteenth Annual Meeting of the American Sociological Society 24, 1930, S. 1-11.
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American Dilemma looking for what he called »the American Creed,« a set of beliefs which he considered to unite Americans across class, race, and gender distinctions. Myrdal’s understanding of the American Creed can perhaps best be summarized as an interest in »fair play« among punters with equal chances, perhaps not so far from the metaphor implied by President Franklin D. Roosevelt’s New Deal. In any case, Myrdal’s conception of the American Creed stood in sharp contrast with the Jim Crow system of the South as well as everyday discrimination in the North. 45 American reviewers of An American Dilemma – both those supportive of social engineering and those opposed to it among the objectivist camp, both admirers and critics – sometimes wondered why Myrdal had chosen the liberal values of the city intellectual, ahead of, say, those of the Southern aristocratic planter, which, some American critics would argue, could be just as relevant for the problem under consideration, given that most African-Americans still lived in the South and suffered the most injustices there. 46 Gunnar Myrdal’s recommendation to use social engineering – first to break these »vicious circles« of prejudice, racism, and subordination which kept black Americans out of mainstream American society, and then for initiating what Myrdal called »virtuous circles« of equality, liberation, and prosperity – found its origin in almost two decades of ambulating academic activity across the Atlantic, both in Sweden and in the USA. Both Gunnar Myrdal and his wife Alva Myrdal had since the late 1920s maintained a close connection with the USA in general and with American social science in particular. When the Myrdals returned to Sweden in 1931 after having visited the USA on a Rockefeller scholarship, both Alva Myrdal and Gunnar Myrdal officially joined Sveriges Socialdemokratiska Arbetareparti (SAP, »Social Democratic Workers‹ Party of Sweden«). In the SAP, the scientific gaze of the Myrdals found an institutional base from where they would contribute to the »governing« idea of a healthy, rational, and sound People’s Home, a folkhem. 47 However, at least Gunnar Myrdal had been a rather conservative young man until recently, expressing rather standard conservative as well as traditional scientific views in private as well as public context over the years from the end of the Great War, harbouring at the same time a strong conviction about the leading role of the intelligensen, »the educated elite« and the »objective« 45. MYRDAL, An American Dilemma. 46. K ISER, Clyde V.: Review: An American Dilemma, in: The Milbank Memorial
Fund Quarterly 23, 1945, S. 414; ODUM, Howard W.: Review: Problem and Methodology in An American Dilemma, in: Social Forces 23, 1944, S. 94-98. 47. The active role of the SAP is under constant debate, and often assailed by those who stress the mundane and pragmatic character of the step-by-step social reformism in Sweden during the 1930s and 1940s, who emphasize the lack of practical penetration of the Myrdalian proposals, most notably so by ROTHSTEIN, Bo: Managing the Welfare State. Lessons from Gustav Möller, in: Scandinavian Political Studies N.F. 8, 1985, S. 151-167. See also THERBORN, Göran: The Coming of Swedish Social Democracy, in: Collotti, Enzo (Hg.): L’internazionale operaia e socialista tra le due guerre, Milano 1985, S. 527-593.
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function of the scientist at the same time. 48 Nonetheless, Gunnar Myrdal had initially no problems in fitting in with both the academic elite at Stockholm School of Economics as well as the political leadership of the SAP. The former reflected a broader consensus among governing and professional elites of varying political persuasion about the necessity for Swedish society to »effectivize,« »modernize,« and »rationalize« itself. Conservatives, liberals, and social democrats – many of the latter being veterans of the labor movement and self-made autodidacts – could surprisingly often come to terms with one and another, uniting around this overarching imperative to make Sweden modern. 49 Beyond his more mundane contributions to actual public policy and finance, Gunnar Myrdal also became a prominent figure of the school of economic thought which has become known as the Stockholm School of Economics.50 His main contribution was an in-depth critique of the spurious value neutrality and scientific objectivity of the non-interventionist liberalism which up to date had dominated Swedish economics and still held a prominent place through its proponents Eli Heckscher and Gustav Cassel, the latter Myrdal’s Doktorvater. In his Vetenskap och politik i nationalekonomien (1930) – published in German in 1932 as Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung – Gunnar Myrdal sought to show how purportedly objective neoclassical macroeconomics were permeated by the values of liberalism and laissez faire. Idealtypes, such as the Denkfigur of »harmony of interests,« could be found everywhere in neoclassical economics, hiding beneath the supposedly neutral and objective language of science.51 The remedy would be for the economist or social scientist to make his or her own »valuational premises« explicit, Myrdal held, at least if he or she strove to produce socially and politically relevant findings and yet remain socially and politically objective. Nonetheless, as Gunnar Myrdal himself would remark some six decades later, his conclusions were haunted by the 48. See for example VINTERHED, Kerstin: Kärlek i tjugonde seklet. En biografi över Alva och Gunnar Myrdal, Stockholm 2003; HIRDMAN, Yvonne: Det tänkande hjärtat. Boken om Alva Myrdal, Stockholm 2006. 49. Very possibly, Gunnar Myrdal played his most important role in formalizing and intellectualizing already existing ideas and practices when he became economic advisor to the Swedish government and worked as one of Minister of Finance Ernst Wigforss aides in drafting the proto-Keynesian economic policy of the so-called krisuppgörelsen, »the Crisis Agreement,« of 1933. 50. However, this theoretical grouping should not be confused with the institution of the same name, although most members of this school of thought were employed and taught there. See JONUNG, Lars (Hg.): The Stockholm School of Economics Revisited, Stockholm 1992. 51. See discussion in MYRDAL, Gunnar: Kring den praktiska nationalekonomiens problematik, in: Ekonomisk Tidskrift 33 1931, S. 41-81; DERS : Vetenskap och politik i nationalekonomien, Stockholm 1930; DERS : Das politische Element in das nationalökonomische Doktrinbildung, Berlin 1932.
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belief that it would be possible to establish some kind of objective economic theory, which in effect came close to the original problem of the neo-classics which he had set out to destroy.52 In the Riksdag, the Swedish Parliament, Gunnar Myrdal served on several Royal Commissions and Parliamentary Committees where he mainly drew attention to the housing situation. The housing situation in Sweden in general and in Stockholm in particular was considered deplorable in comparison to other European countries and catastrophic if compared with Great Britain or Germany.53 Nevertheless, the housing issue had not been politicized to any higher degree, but there was a tangible consensus on the sorry state of the accommodations of the Swedish working class and large swathes of the Swedish middle class as well, both to the left and to the right. Myrdal would deploy this situation as his ticket for a new political offensive for better housing. He identified it as a dilemma of social policy that the causes of various social problems could be readily established but not acted upon, since they were firmly anchored in the fields of economic and social institutions which were largely off-limits to the state. Housing was such an area, where contractors and realtors dominated the market and provided expensive and bad housing few could afford and even less live well in. In 1932, in an oft-cited phrase, Myrdal motivated the new social policy he proposed in the following way: »An education of the public to get used to new and more rational forms of housing is an expensive and adventurous speculation, which cannot be considered under the present circumstances. And the public naturally adjust its taste and its needs to the kind of housing, which is offered. A public building of housing would in contradistinction be able to take risks and calculate in the long view; it could opt for rational solutions and direct its attention to gradually adjusting the humans to live practically, to educate them to have a – from their own point of view – correctly adjusted demand for housing. In fact, the consumption has to be guided in the interest of the consumers. Humans must be adjusted to brush their teeth and to eat tomatoes, before they will begin to appreciate this kind of consumption and the same goes for rationally arranged housing.«54 In short, Gunnar Myrdal saw the housing problem as just one among many social problems which could be approached in the same way. Such a »prophylactic social policy« would add to the idea of an »economical technology« which he had already developed as a guiding principle for »this new sociopolitical ideology.« This ideology, Gunnar Myrdal argued, »carries within itself strongly radical and to a certain extent revolutionary possibilities. It is intellectualistic and rationally cold, while the old, which still reigns, was [sic!] severely sentimental. It has considerably less respect for the rationality of 52. MYRDAL, Gunnar: Historien om An American Dilemma, Uddevalla 1987, S. 39. 53. This was of course even more alarming given the fact that both Great Brit-
ain and Germany had been hit harder by the Great Depression than had Sweden, and had just passed through the ordeal of »total war.« 54. MYRDAL, Gunnar: Kosta sociala reformer pengar?, in: Arkitektur och samhälle 1, Stockholm 1932, S. 33-44, hier S. 43.
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the given. It is to a high degree liberated from the liberalist idea-blockers. On the other hand it is too technically oriented to lose itself to purely general and ethereal ideal constructions. Since it is ›matter-of-fact.‹ Its romanticism is that of the engineer.«55 However, Gunnar Myrdal also acknowledged the potentially violating side of this »socio-technical approach,« and that this in fact served as the basis for the ideologization of the perspective in question: »The socio-technical approach is generalizing and typologizing and thus a trifle inhuman […] When you begin laborating with mathematical means and series of indexes, you lose so many concerns. In this way a new ideology of social policy grows out of the technical orientation of the discussion of social policy. It is radical in the respect that it completely calmly takes very profound reforms of the social ›system‹ as granted, which is then not any longer respected as the fundament of ›the reforms,‹ since the reforms to a great extent are directed toward changes in precisely this fundament.«56 It was exactly this willingness to change this fundament, this belief that rapid social change which was evidently underway anyway and could be harnessed for desired political goals which motivated the Myrdals to speak of social engineering. In this regard, they apparently drew upon American precedents. Alva Myrdal, for example, seems to have made use of the term for the first time in the late 1930s and early 1940s when she drafted Nation and Family (1945), which was written in 1939 and first published in Swedish as Folk och familj (1944), and incidentally made use of the identical formulation coined by Veblen half a century ago as she spoke of a »constructive social engineering.«57 However, there was a distinct difference between American social engineering as we have seen above and its Myrdalian epigon which is evident when Alva Myrdal concluded that the concept of »constructive social engineering« – so vague in Veblen’s initial conception – had been fi lled with concrete content and put to the practical test in Sweden, yielding good results, particularly within the field of population policy and family planning. Contemporary American social scientists, by contrast, typically thought social engineering possible only in the far future, and only under the condition that a successful middle way between objectivity and subjectivity had been worked out. For Alva Myrdal, social engineering pretty much boiled down to what her husband was preparing for his American contractors, namely an explicit presentation of the values underlying the research and recommendations delivered.
55. MYRDAL, Socialpolitikens dilemma II, S. 25. 56. Ebd., S. 28. 57. MYRDAL, Folk och familj; DIES., Nation and Family.
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Conclusion : »Begr if fsgeschichte« and social engineer ing In sum, the Myrdals, who have become the archetypical social engineers in Swedish historiography of the welfare state, seem to have made use of the concept primarily when writing for Anglo-American audiences, audiences which can be considered to have been familiar with the term from before as it had been enjoying a wider circulation since the 1920s. We may stop here for a moment to pause and wonder: Why do we not find the concept more prevalent in Swedish records from this time, especially if some of the leading proponents of social engineering consider it to be in place? There are two problems to posing this question here. First, conceptual history is not very well equipped to deal with »textual silence,« despite the »semantic field« as a mapping tool. The second problem also pertains to the methodology of conceptual history as outlined by Reinhart Koselleck: We need relevant institutional and social histories of politics and science to supplement the findings of our conceptual histories and to make sense of our efforts. In this case, luckily enough, there is a good supply of both to suggest that while American social science was at an early stage of institutionalization and professionalization within the university system, and thus had a strong need for developing instruments for formulating its own role, Swedish social science had traditionally been relied upon for policy advice by the government and been drafted to supply the rank and fi le of the bureaucracy in a rather uncomplicated manner. Besides, sociology was only established as a separate discipline in Sweden in 1947.58 As there were good chances to rise to the pinnacles of academia in the USA without ever being asked to provide policy advice, the activists within social science had to develop languages which could break these barriers. In Sweden, by contrast, even the most staunch defenders of scientific objectivity were regularly active not only as members of parliament and government experts, but also as bureaucrats, apparently without suffering from much of the schizophrenia which foreshadowed American academics attempting to do the same. The sheer difference in size between the intellectual elites may have played a role here, Swedish social scientists may simply have had to learn how to multitask. It is also interesting to note how American social engineering rhetoric explicitly denies absolute objectivity, yet implicitly flirts with the possibility thereof, while the Myrdals solve the Gordian knot with a single blow from their double-handed sword of explicit value premises, which, by the way, is also intended to solve the tension between facts and values and between ends and means.59 58. L ARSSON, Anna: Det moderna samhällets vetenskap. Om etableringen av sociologi i Sverige 1930-1955, Umeå 2001; WISSELGREN, Per: Samhällets kartläggare. Lorénska stiftelsen, den sociala frågan och samhällsvetenskapens formering 18301920, Stockholm, Stehag 2000. 59. MYRDAL, Vetenskap och politik i nationalekonomien.
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Possibly, the rhetorical tool of social engineering entered the game at different points in the political debate: For the American supporters of social engineering, it seems to largely have been question of showing how social science could be made politically active, without squandering science. For the Swedish practitioners of social engineering, it seems to rather have been used for determining – or expanding! – the field of the politically possible by circumventing political divisions already in place. From this perspective, it is perhaps indicative of the itinerary of this concept that its first separate entry into a Swedish dictionary is to be found at the end of the 1990s, i.e., at a time when we are primarily concerned with social engineering as a historiographical concept for interpreting the darker side of modernity as seen from our perspective of hindsight, rather than as a historical concept devised in order to deal with the darker side of modernity as seen from their horizon of expectation.60 Such is sometimes the history of concepts. A close reading of social engineering as a concept in operation, looking at the effects it has had, has allowed voluntarism and constructivism to step out of the texts and helped me to historicize them better. This might possibly mean that the causes of intrusion and invasion into private lives which undoubtedly resulted from political translations of these ideas cannot merely be sought in the purported mechanicism of these social theories, but must be more historicized. I for my part believe we are no more immune against social theorizing which – if successfully politicized and/or implemented – could prove just as intrusive now as it did before. Instead, I would like to suggest that we might perhaps look at interwar social engineering as a rhetoric towards a kind of »intrapolitics.« By proposing the term »intrapolitics,« I would like to emphasize that the main practical purpose of these rhetorical operations seems to have been to change our perception of ourselves in society so that we may conceive of our role in it differently, i.e., to cast ourselves as more prominent protagonists in the ongoing social drama and to create new ways of thinking beyond the present limits of the political field, indeed, as an instrument or as an infrastructure for the communication between opposed camps and for the subsequent negotiation of the politically possible. For that reason, one should perhaps not stare oneself blind at what the general rhetoric of technology might have meant but concentrate on what this specific technology of rhetoric was used for. This may perhaps seem a moot point today, at least to the extent historians of today have jumped the social sciences bandwagon and converted to constructivism. In the context of the crisis-ridden and conflict-laden 1930s, however, social engineering is better understood as a kind of strategic method by which to overcome conceptual deadlock and to bypass political stalemate by metaphorical transportation of meaning from different spheres of society, allowing not only for increased political action, but more importantly for a rationalized form of social communication in-between – rather than above 60. Entry »Social ingenjörskonst«, in: Nationalencyklopedin, DVD-Ausgabe (Nationalencyclopedin multimedia 2000 Plus, Stockholm 2000).
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(as indicated by the notion of supra-politics), against (anti-politics), or beyond (meta-politics) – the constituent sectors or functions in which social interaction tends to unfold, whether we call them science, art, economy, politics, religion, or law. If we anachronistically would like to suggest another professional description of the social engineers than the one they themselves adopted, it would possibly be »social diplomats,« mediating between the opposing yet interdependent interests making use of the diplomatic protocol provided by bourgeoning social science, rather than any »social machinists« manipulating the numb matter provided by mass society. These first steps towards a conceptual history of social engineering has shown numerous different possibilities in the political and social language by which Ordnungsdenken translated into Ordnungspraxis and vice versa. With the help of a comparative approach, in this case by looking at American and Swedish usages of this concept and related terms in the semantic field, this chapter has argued that social engineering rhetoric must not be confused with or reduced to either mechanicism or technocracy. Instead, social engineering rhetoric sought to find ways in which to politicize previously ›underpoliticized‹ issues and at the same time dissolve political deadlock in areas which had been ›overpoliticized‹ before. As such, it seems as if social engineers aspired less to the mechanical ordering of society and the absolute perfecting of its inhabitants than to a kind of »social diplomacy« by which to calm and channel the most rampant conflicts among the many different values and interests which all deserve recognition in a »democratic« and »modern« society, yet threaten to tear it apart.
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Die US-Ver fassung als Exper imentierbaukasten sozialer Gesetzgebung. D er Fall der P rohibit ion, 1920 -1933 Thomas Welskopp Social engineering wird landläufig – so fast durchgehend in diesem Band – als ein Bündel konkreter politischer Maßnahmen definiert oder zumindest als detailliertes Programm, das einen solchen Maßnahmenkatalog umreißt. Innerhalb dieses Rahmens sind benannte oder selbstermächtigte Experten für die verwaltungstechnische Exekutive verantwortlich. Social engineering kann gesetzliche Grundlagen haben, ist normalerweise aber weniger Gesetz als vielmehr politisch-administrative Praxis. Im Fall des nationalen Alkoholverbots in den USA, der National Prohibition, die zwischen 1920 und 1933 durch einen Zusatzartikel, das 18th Amendment, in der amerikanischen Verfassung verankert war, stellte sich die Sachlage anders dar. Hier sollte mithilfe des Verfassungsrechts social engineering in Gang gesetzt werden. Die Verfassung selbst wurde gewissermaßen zum Impulsgeber, zum Hauptakteur einer sozialen Reform per Verhaltensgebot und Strafandrohung. Der Grund dafür war auf der einen Seite der Glaube der Prohibitionsbefürworter an die uneingeschränkte moralische Autorität der Verfassung, die sich zudem dem tagespolitischen Zugriff entzog. Auf der anderen Seite stand ihr verfassungspolitischer Vorstoß im Zeichen einer Resignation gegenüber alternativen, positiv ansetzenden, auf einer weit niedrigeren Ebene angesiedelten Formen praktischer Reform. Wie sich bald zeigte, hatte man damit die Verfassung nicht »aktiviert«, sondern instrumentalisiert, worunter ihre moralische Autorität empfi ndlich litt. Auch rächte sich der Verzicht auf detaillierte Umsetzungsprogramme und das entsprechende Expertenpersonal. Das Verhaltensgebot unter Strafandrohung verkam zu einem wirkungslos verhallenden Appell, der trotzdem umso verheerendere Kollateralschäden nach sich zog. Herbert C. Hoover, der damalige Secretary of Commerce und designierte Nachfolger von Calvin Coolidge, hielt im Herbst 1928 nur eine Handvoll Wahlkampfreden. Doch in der Adresse, in der er auf der Republican Convention des 223
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Jahres seine Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten akzeptierte, fiel die Formulierung, die seither als eine verhängnisvolle »klassische« Charakterisierung der Prohibition Publizität errungen hat: »Unser Land hat freiwillig ein großes soziales und ökonomisches Experiment auf sich genommen, das nobel in seinen Motiven und weitreichend in seinen Zielsetzungen ist. Es muss konstruktiv ausgearbeitet werden.«1 Hoover, der diplomierte Ingenieur mit Abschluss von der Stanford University, machte die Formel vom »noblen Experiment« bekannt; erfunden hatte er sie nicht. Die Experimentierrhetorik hatte sich seit Beginn der 1920er Jahre durch eine Reihe von Rechtfertigungen und Kritiken der Prohibition gezogen.2 Sie zeugte davon, dass sich die Bewegung zugunsten des 18th Amendment bei weitem nicht auf ländliche und evangelikale protestantische Kreise mit ihren fanatischen religiösen Moralvorstellungen beschränkte. Der Verfassungszusatz war nicht zuletzt ein spätes Produkt des Progressivism.3 Er folgte aus der weitgehegten Vorstellung dieser Reformer aus der vorstädtischen Mittelklasse, dass die Gesellschaft über die aktive Steuerung durch technokratische Experten gestaltbar sei. Wie die religiösen Vorreiter eines nationalen Alkoholverbots auch, wollte man dies durch moralische Umerziehung erreichen. Nur bedeutete das nicht, wie bei jenen, reuige Abkehr von der Sünde, sondern Heilung gesellschaftlicher Gebrechen und Neukonditionierung des »Volkskörpers«. Die Stoßrichtung konnte dabei durchaus konvergieren: Während die militanten Kirchen auf die reinigende Kraft von »Höllenfeuer und Schwefel« ( fire and brimstone) setzten, mochten die Reformobjekte die von den Progressivists verordneten Remeduren zuweilen ebenfalls eher als Bestrafung empfi nden. 4 Indem sich die Progressivists die Prohibition zu eigen machten, setzten sie auf ihr lang gehegtes Prinzip, die Gesellschaft durch Gesetzgebung zu verändern.5 Das stand hinter der Rede vom »Experiment«. Das Gesetz war demnach nicht die rechtliche Absicherung eines erreichten gesellschaftspolitischen IstZustandes, die Sanktionierung gesellschaftlicher Veränderung, wenn auch durchaus mit Steuerungsabsicht, sondern ein Instrument, mit dem man, wie mit dem Zirkel auf einem Reißbrett, auf die Gesellschaft einwirken wollte, um einen sozialen Soll-Zustand herbeizudekretieren. In diesem Rechtsdenken verbarg sich nicht nur ein utopisches Element juristischer Sozialtechno1. PUBLIC PAPERS OF THE PRESIDENTS OF THE UNITED STATES : Herbert Hoover, 1929, Washington/DC 1974, S. 511; LENDER, Mark E./MARTIN, James K.: Drinking in America. A History, New York, London 1982, S. 133. – Alle Übersetzungen englischsprachiger Zitate hier und im Folgenden von mir. 2. So z.B.: STAYTON, W.H.: Our Experiment in National Prohibition. What Progress Has It Made, in: Walnut, T. Henry (Hg.): Prohibition and Its Enforcement, Philadelphia 1923, S. 26-38. 3. MCGERR, Michael: A Fierce Discontent. The Rise and Fall of the Progressive Movement in America 1870-1920, New York u.a. 2003, S. 81ff. 4. MORONE, James A.: Hellfire Nation. The Politics of Sin in American History, New Haven, London 2003, S. 321. 5. KYVIG, David E.: Repealing National Prohibition, Kent/OH, London 22000, S. 8f.
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logie. Vielmehr teilte es mit den religiösen Eiferern eine erstaunlich weitgehende antiindividualistische Orientierung. Was bei jenen als unbarmherzige soziale Kontrolle durch Nachbarn und Kirchengemeinde gerechtfertigt war, erhielt hier als institutioneller Zwang, ausgeübt durch staatliche Agenturen im »besseren Interesse« der Betroffenen, einen wissenschaftlichen Mantel umgehängt.6 Die »Souveränität des Individuums« drohte dabei auf der Strecke zu bleiben: »Wir glauben«, hatte eine Social Gospel-Organisation 1914 erklärt, »dass das Zeitalter des reinen Individualismus vorbei und das Zeitalter der sozialen Verantwortlichkeit angebrochen ist.«7 Melville C. Kelly, ein Ex-Mitglied des Repräsentantenhauses, der sein Mandat an einen Kandidaten »der Alkoholinteressen« verloren hatte, erklärte 1914: »Der ganze Trend der Gesetzgebung zeigt [nun schon] seit vielen Jahren, wie zunehmend groß die Notwendigkeit für Regierungshandeln in Bereichen ist, die vormals ausschließlich Angelegenheit individuellen Verhaltens waren. Es sorgt für öffentliche Schulen, bestraft die Verfälschung von Nahrungsmitteln, reguliert die Arbeitszeit für Frauen, schaff t Kinderarbeit ab, eliminiert ansteckende Krankheiten, sichert hygienische Bedingungen, kümmert sich um Menschenhandel [white slavery], [und] stellt Beschränkungen jeder Art für das Individuum auf, um das öffentliche Wohl voranzubringen – all diese Dinge legen beredt Zeugnis ab für die Regierungsaktivitäten, die heute fast universell anerkannt und gelobt werden.«8 Solche Sätze zeigten zugleich: Progressive Reforms kannten nicht nur gestaltende Ausgabenprogramme, sondern hatten ihre repressive Seite. Die Unduldsamkeit des wohlmeinenden Erziehers mit den unfolgsamen Zöglingen schlug sich in einer erstaunlich weitgehenden Ausgrenzung, Entmündigung und Entrechtung der Zielgruppen nieder. Auch dafür ist das 18th Amendment ein aussagekräftiges Exempel.9 Das Alkoholverbot war also ein »Experiment« mit der Gesellschaft. In den späten Jahren der Prohibition bildete eine Karikatur das amerikanische Volk als verhärmtes menschliches Versuchskaninchen mit panisch aufgerissenen Augen ab, das auf einem Operationstisch festgeschnallt kauerte und dem ein weiß vermummter Doktor mit Operationsmaske, Spiegelbrille und Gummihandschuhen eine überdimensionale Spritze verpasste. Diese trug, unter einem Totenkopfsymbol mit gekreuzten Knochen, die Aufschrift: »Prohibition«. Eine altjungfräulich gekleidete und streng bebrillte Krankenschwester mit verkniffenem Gesicht hielt eine Tropfschale bereit und verkörperte die Woman’s Christian Temperance Union (WCTU). Neben ihr blickte 6. WILLRICH, Michael: City of Courts. Socializing Justice in Progressive Era Chicago, Cambridge 2003. 7. Zit. n. MCGERR, A Fierce Discontent, S. 224, 246 (»Sovereignty of the Individual«). 8. KELLY, Melville C.: Prohibition and Progress, in: Kerr, K. Austin (Hg.): The Politics of Moral Behavior. Prohibition and Drug Abuse, Reading/MA u.a. 1973, S. 103108, hier S. 104. 9. TIMBERLAKE, James H.: Prohibition and the Progressive Movement, 1900-1920, Cambridge 1963, S. 60ff., 174ff.
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ein sanguinisch lächelnder Herbert Hoover im Mantel und mit gezogenem Fedora-Hut in der Hand auf das geknebelte Opfer herab. Der Untertitel legte ihm die Worte in den Mund: »Yes, it’s a noble experiment.« Das war eine gelungene Allegorie auf einen progressiven Reformeifer »gone sour« und auf einen »amerikanischen Patienten«, der diese toxische Überdosis moralischer Zwangsbeglückung nur reichlich mitgenommen überlebte. Die amerikanische Verfassung spielte in dieser abenteuerlichen Versuchsanordnung die Rolle der Spritze. Und darin lag die eigentliche Ironie dieses Bildes: Von der Geschichte der Vereinigten Staaten und ihrer ehrwürdigen Constitution her war es ein erstaunlich weiter Weg für die Verfassung von einem sakrosankten Gründungsdokument, das, durch das Trauma des Bürgerkriegs noch einmal deutlich verstärkt, die Einheit der Nation symbolisierte, zu einem potentiell tödlichen, in jedem Fall aber invasiven Instrument.10 Für die meisten Amerikaner bedeutete die Verabschiedung des Prohibitionsartikels einen präzedenzlosen Eingriff des Bundesstaates in private Gewohnheiten. Sie machten im Großteil der Fälle in Gestalt der Prohibition überhaupt erstmals persönliche Bekanntschaft mit einem Bundesgesetz. Das verkappte Strafgesetz in der Verfassung schuf ein durch den Bundesstaat zu verfolgendes Verbrechen, das seinesgleichen suchte. Bis auf Entführungen über die Grenzen der Einzelstaaten hinweg, die unter dem Mann Act als »weiße Sklaverei« von Bundesorganen wie dem Federal Bureau of Investigation (FBI) verfolgt werden konnten – die Bezeichnung spielte auf die Hysterie über den vermeintlichen Mädchenhandel an, den obskure Immigrantenkreise, bevorzugt Juden, angeblich in großem Stil betrieben –, hatte sich der Bund bei der Strafverfolgung auffallend zurückgehalten. Selbst Mord wurde erst nach weiteren Jahrzehnten auch zu einem bundesstaatlich geahndeten Delikt. Noch das Attentat auf John F. Kennedy wurde vor Kreisgerichten in Dallas verhandelt. Anders die Prohibition: »Für viele Bürger brachte die Prohibition die erste fühlbare Präsenz des Bundes in ihrem täglichen Leben. Für viele Amerikaner der Mittelklasse war sie sicherlich eher spürbar als die Zudringlichkeiten der persönlichen Einkommensteuern. Die Einzelstaaten waren es, die [bislang] die Gesetze gegen Mord, Diebstahl und Ehebruch zur Geltung brachten – warum sollte die Bundesregierung sich, von allen Vergehen, ausgerechnet um das Trinken der Leute kümmern?« 11 Das zeigt, welche Ausnahmestellung der 18. Zusatz in der amerikanischen Verfassungsgeschichte einnahm. Seit ihrem Inkrafttreten ist die U.S. Constitution bis heute (2004) insgesamt erst siebenundzwanzig Mal ergänzt worden.12 Die ersten zehn Amendments, alle 1791 ratifiziert, bildeten den be10. HAMM, Richard F.: Shaping the Eighteenth Amendment. Temperance Reform, Legal Culture, and the Polity, 1880-1920, Chapel Hill/NC, London 1995. 11. MURDOCK, Catherine G.: Domesticating Drink. Women, Men, and Alcohol in America, 1870-1940, Baltimore, London 1998, S. 112; CLARK, Norman H.: Deliver Us from Evil. An Interpretation of American Prohibition, New York 1976, S. 134; WITTE, John F.: The Politics and Development of the Income Tax, Madison 1985, S. 110. 12. KYVIG, David E.: Explicit and Authentic Acts. Amending the U.S. Constitution, 1776-1995, Lawrence/KS 1996.
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rühmten Grundrechtskatalog, die Bill of Rights, die die »unveräußerlichen« (unalienable) Rechte des Einzelnen gegenüber Regierung und Justiz begründeten. Mit der Ausnahme zweier technischer Zusätze dauerte es dann mehr als siebzig Jahre, bis die Amendments der Bürgerkriegsära eine zweite Phase der Verfassungsreform einleiteten. Das 13th Amendment schaff te 1865 die Sklaverei ab, das 14th verlieh die vollen Staatsbürgerrechte an alle Amerikaner unabhängig von Rasse und Hautfarbe (1868), und der fünfzehnte Verfassungszusatz verwarf Wahlrechtsbeschränkungen auf ebendieser Basis von Rasse und Hautfarbe (1870) – mittelfristig allerdings nur auf dem Papier, wie sich zeigen sollte. Diese drei Ergänzungen der Constitution etablierten die umfassenden Bürgerrechte für die schwarze Bevölkerung und sollten sie schützen. Danach trat eine neuerliche lange Pause ein, bis 1913, 43 Jahre später, der erste »progressive« Zusatzartikel, Nr. 16, die Bundesregierung ermächtigte, eine Einkommensteuer zu erheben. Im gleichen Jahr gab man der Regelung Verfassungsrang, die Angehörigen des US-Senats nicht mehr durch die einzelstaatlichen Legislativen, sondern in allgemeinen Wahlen auf jeweils sechs Jahre vom Volk direkt zu bestimmen (Nr. 17).13 Das 18th Amendment verfügte dann die nationale Prohibition. Der 19. Zusatzartikel führte 1920 das Frauenwahlrecht ein, der zwanzigste regelte die Amtsdauer des Präsidenten und der Mitglieder des U.S.-Congress (1933), und das 21st Amendment hob am 5. Dezember 1933 den Prohibitionsartikel wieder auf. Die Prohibition hatte also gleich zweimal Verfassungsgeschichte geschrieben, einmal, indem ein staatliches Alkoholverbot überhaupt Verfassungsrang erhielt, und das zweite Mal als einzige Verfassungsergänzung, die in der amerikanischen Geschichte bis heute jemals zurückgenommen worden ist. Das 21st Amendment spielte dabei die einzigartige Rolle als erster und alleiniger Zusatz zur amerikanischen Verfassung, der nur zu dem einzigen Zweck beschlossen wurde, ein anderes Amendment für ungültig (repealed) zu erklären.14 Die Verfassungspraxis in den USA hatte nicht nur einen betont ausgewählten, behutsamen und sparsamen Umgang mit dem Instrument der Ergänzung nahegelegt. Die beschlossenen Zusätze handelten überdies fast ausschließlich von der Ausweitung individueller Rechte, dem Schutz einzelstaatlicher Souveränität gegenüber dem Bund oder der Begrenzung bundesstaatlicher Befugnisse. Selbst die Einführung der Einkommensteuer war hier hauptsächlich eine Sache der Abgrenzung zwischen bundes- und einzelstaatlicher Zuständigkeit gewesen. Das Prinzip, das der Ausgestaltung der U.S. Constitution unterlag, war der dauerhafte Schutz von Minderheitenrechten gegen das Diktat struktureller Mehrheiten oder die Tyrannei populistisch mobilisierter Gelegenheitsmajoritäten. Die Verfassung sollte über den 13. SAUTTER, Udo: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart 1980, S. 548-555. 14. HAMM, Richard F.: Short Euphorias Followed by Long Hangovers. Unintended Consequences of the Eighteenth and Twenty-first Amendments, in: Kyvig, David E. (Hg.): Unintended Consequences of Constitutional Amendments, Athens/GA, London 2000, S. 164-199. 2
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tagespolitischen Fragen stehen und einen überzeitlichen Grundkonsens in der amerikanischen Gesellschaft verkörpern. So wie man in der politischen Philosophie zwischen der Würde des Amtes und den höchst kritikwürdigen Personen unterschied, die es ausfüllten, zog sich im Recht die Linie zwischen dem Gesetz als dem überparteilichen, »ewigen« Grundgerüst der Regierung und eigentlichen Herrscher, und den Behörden, die Detailfragen regelten, Politik machten und durchaus veränderliche Statuten erließen: »Die Oberhoheit [supremacy] der Verfassung und des Gesetzes ist das Anliegen jedes wirklichen Amerikaners.«15 Der Chicagoer Reformbürgermeister und Prohibitionsskeptiker William E. Dever sah das wie folgt: »Unsere Verfassung ist das Grundgesetz der Nation, und seine Bestimmungen sind hauptsächlich, wie es auch sein sollte, der Ausdruck von allgemeinen Prinzipien, die in Übereinstimmung stehen mit dem fast einhelligen Respekt und der vollen Unterstützung eines intelligenten und moralischen Volkes. Kontroverse Fragen haben keinen Platz in einem solchen Instrument. Sie sollten von Einrichtungen der gesetzgebenden Autoritäten behandelt werden mit dem Ziel, dass das Gesetz zu allen Zeiten […] dem öffentlichen Willen Ausdruck gibt.«16 Das 18th Amendment errang den zweifelhaften Ruf eines präzedenzlosen Ausreißers. Es verstieß gegen so gut wie alle der hier zitierten Maximen. Als einziger bisheriger und seitheriger Verfassungszusatz beschnitt er individuelle Rechte. Das galt nicht nur für die wirtschaftlichen Aktivitäten der Alkoholindustrie. Er griff indirekt auch in tief verwurzelte kulturelle und moralische Gewohnheiten breiterer gesellschaftlicher Kreise ein, als es die Prohibitionsbefürworter vorhergesehen hatten und wahrhaben wollten. Über die Veränderungen in der Kriminaljustiz, die die Durchführung des Alkoholverbots zur Folge haben sollte, bedrohte er Garantien individueller Grundrechte, wie sie in den Zusatzartikeln der Bill of Rights ausdrücklich festgeschrieben worden waren. Er schuf mit seinem Ausführungsgesetz, dem National Prohibition Act (Volstead Act) unterschiedliche Qualitäten von Privateigentum, die extrem ungleich gesichert waren. Er veränderte die Balance zwischen dem Bund und den Einzelstaaten mit dem Ergebnis, dass sich der Zentralstaat historisch beispiellose Autoritäten auf Kosten staatlicher und lokaler Selbstbestimmungsrechte aneignete. Und es handelte sich von vornherein um ein äußerst kontroverses Gesetz, das in der Tat eher dem politischen Dressurakt einer mobilisierten Gelegenheitsmehrheit gegenüber einer unterlegenen Minderheit entsprach als einem breit mehrheitsfähigen, ausgehandelten gesellschaftlichen Konsens.17 15. SPEECH ON L AW ENFORCEMENT AND PROHIBITION. Remarks of Hon. Morris Sheppard of Texas, in the Senate of the United States, Friday, January 7, 1927, in: Congressional Record, Bd. 68, Teil 2, 69th Congress, 2nd Session, 7.-26. Januar 1927, S. 1201-1203, hier S. 1202. 16. DEVER, William E.: Get at the Facts, in: Atlantic Monthly 1926, S. 518-524, hier S. 520. 17. MURCHISON, Kenneth M.: National Prohibition and Federal Criminal Law Doctrines. A Forgotten Link in the Evolution of American Legal Thought, Ph.D.-thesis, Harvard University 1988.
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Mit dem Prohibitionsartikel hatten die Befürworter eines nationalen Alkoholverbots im Grunde ein Polizeigesetz in die amerikanische Verfassung geschrieben. Darin sah Nicholas Murray Butler, Präsident der Columbia University in New York, ein bedrohliches »neues Prinzip in der Constitution«: »Bis zur Annahme [des Prohibitionsamendments] hatte die Verfassung einen Rahmen für die Regierung, eine Aufzählung von Befugnissen und Beschränkungen, einen Modus für ihre Ergänzung und einen Grundrechtskatalog umfasst. Jetzt wurde das erste Mal in dieses Grundgesetz ein Gesetzgebungsakt eingeführt, der die Form einer drastischen und unilateralen Ausübung von Polizeigewalt trägt.«18 Ähnlich hieß es in einer Broschüre der Association Against the Prohibition Amendment (AAPA) 1926: »Ein Hauptgrund für die [schiere] Existenz der Verfassung ist, die Macht der Mehrheit zu begrenzen, die Minderheit zu unterdrücken. Deshalb sollten keine Verweigerung von Freiheit und kein Gesetz oder keine Polizeiverordnung in ihr enthalten sein, denn die Mehrheit sollte immer die Macht haben, mehr Freiheit zu erringen und frei Gesetze für das öffentliche Wohl zu beschließen, vorausgesetzt, solche Gesetzgebung kollidiert nicht mit den Bürgerrechten, die als unveräußerlich definiert sind, in der Unabhängigkeitserklärung. Das 18th Amendment ist eine Zwangsjacke [strait-jacket], die die Grundregel verletzt, dass ein Verfassungsartikel nur Prinzipien bestimmen soll und der Regierung überlässt, sich um die Ausführung zu kümmern.«19 Solche Gesichtspunkte hatten den persönlich abstinenten und eigentlich prohibitionsfreundlichen Präsidenten Woodrow Wilson bewogen, 1917 zunächst gegen das vorgeschlagene 18th Amendment selbst und dann 1919 gegen die Ausführungsbestimmungen des Volstead Act sein Veto einzulegen.20 Er hatte angemahnt, dass »[wir] in allen Belangen, die die persönlichen Gewohnheiten und Sitten eines großen Teils unseres Volkes berühren […], sicher sein müssen, dass die etablierten Verfahren der Rechtspflege gewahrt bleiben«.21 Deutlicher noch hatte der frühere Präsident und jetzige Vorsitzende Richter des Supreme Court William H. Taft seine Skepsis gegen Inhalt und Form des Prohibition Amendment und seine Befürchtungen, was dessen Folgen anbetraf, zum Ausdruck gebracht: »[W]arum war [ich] persönlich gegen das nationale Prohibition Amendment? Weil ich dachte, die Prohibition würde nicht im ganzen Land durchgesetzt werden können, in Ortschaften, in denen die Gemeinde es nicht befürwortete. Ich dachte, es sei richtigerweise eine Angelegenheit der Einzelstaaten und keine Bundesangelegenheit. Ich fürchtete, es würde die Macht der Zentralregierung steigern, die [ohnehin] schon zu 18. Zit. n. BEMAN, Lamar T.: Selected Articles on Prohibition. Modification of the Volstead Law, New York 1924, S. 219f. 19. A PAMPHLET FROM THE A SSOCIATION AGAINST THE PROHIBITION AMENDMENT, in: Musto, David F. (Hg.): Drugs in America. A Documentary History, New York, London 2002, S. 142146, hier S. 144f. 20. SCHMÖLDERS, Günter: Die Prohibition in den Vereinigten Staaten. Triebkräfte und Auswirkungen des amerikanischen Alkoholverbots, Leipzig 1930, S. 108f. 21. Zit. n. BEHR, Edward: Prohibition. Thirteen Years that Changed America, New York 1996, S. 78.
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sehr angeschwollen ist. Die Gefahr eines möglichen Missbrauchs der Armee neuer Beamter, die in der Politik benötigt werden würde, wäre groß. Der Zugriff Washingtons auf die persönlichen Gewohnheiten in Staaten, die gegen das Gesetz sind, könnte die Einheit zwischen den Staaten belasten. Die Streitfrage strenger oder laxer Durchführung, die in jeder Wahl [erneut] aufkäme, würde die besonnene öffentliche Urteilsfähigkeit von anderen großen und neuralgischen nationalen Themen ablenken, auf die sich die Aufmerksamkeit des Volkes konzentrieren sollte.«22 Taft sollte in allen Punkten seines Orakels Recht behalten. Aber Taft war es auch, der sich wie viele besorgte Verfassungsrechtler und moderate Befürworter eines Alkoholverbots die Argumentation der Hardliner in der Anti-Saloon League insoweit zu eigen machten, dass ihre Loyalität zu einem einmal beschlossenen Gesetz außer Frage stand.23 Eine solche Position stützte sich auf das verfassungskonforme Zustandekommen des Verfassungszusatzes, eine strikt legalistische Haltung gegenüber einer solchen auf demokratischem Wege erreichten Verfassungsänderung und, das ging in einem deutlichen Maße über die geltenden verfassungsrechtlichen Doktrin hinaus, eine progressive Sympathie für sozial gestaltende, moralische Gesetzgebung, selbst wenn sie dadurch in die Rechte des Einzelnen eingriff: »Wir sind seit langem über die Auffassung der Laissez faire-Klasse politischer Ökonomen hinausgekommen, die dachten, dass Gesetzgebung nur auf die Aufrechterhaltung einer guten Ordnung und die Rechtspflege zwischen Individuen beschränkt sein sollte, und dass Anstrengungen in Bezug auf persönliche Moral freiwilligen Assoziationen jener Individuen, Kirchen, der öffentlichen Meinung und dem gesunden Volksempfinden […] vorbehalten bleiben sollten. Während solche Philosophen vielleicht auf viele vergebliche Versuche hinweisen könnten, durch die magischen Worte ›Be it enacted‹ die Welt zu verbessern, könnten viele andere Beispiele angeführt werden, die beweisen, dass in geeigneten Feldern positive gesetzliche Beschränkung mit vernünftigen Strafen eine Menge erreichen kann. In der Tat hat die Prohibition in vielen Staaten, in denen die Mehrheit sie unterstützt, fraglos viel Gutes bewirkt.«24 Stereotyp wiesen die Verfechter der Prohibition auf die verfassungsgemäße Inthronisation des 18th Amendment hin. Der Verfassungszusatz hatte in beiden Häusern des US-Kongresses bequeme Zweidrittelmehrheiten unter den anwesenden Abgeordneten auf sich vereinigen können. Souverän hatten sich beide Kammern über Wilsons Veto hinweggesetzt und auch seinen Einspruch gegen den Volstead Act mit einer größeren als der erforderlichen Zweidrittelmehrheit (supermajority) abgeschmettert. In einer Rekordzeit von dreizehn Monaten hatten die 36 Einzelstaaten, die das verfassungsrechtlich vorgesehene Quorum einer Dreiviertelmehrheit unter allen Staaten der Union bildeten, den Ergänzungsartikel ratifiziert, zwar durchweg, wie Prohi22. TAFT, William H.: Is Prohibition a Blow at Personal Liberty?, in: Ladies’ Home Journal 1919, H. 5, S. 31, 78; hier S. 78. 23. FISHER, Irving: A Leading Economist Argues for Prohibition, in: Musto (Hg.), Drugs in America, S. 130-141, bes. S. 135f. 24. TAFT, Is Prohibition a Blow at Personal Liberty?, S. 78.
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bitionsgegner einwandten, durch ihre legislativen Kammern und nicht durch speziell einberufene Staatskonvente oder Volksabstimmungen, aber auch dieser Weg war, wie der Supreme Court feststellte, durch Article V der U.S. Constitution zweifelsfrei gedeckt.25 Die Prohibitionsbefürworter wurden auch nicht müde darauf hinzuweisen, dass das 18th Amendment mit 46 von 48 Einzelstaaten (mit der Ausnahme von Connecticut und Rhode Island) eine der höchsten Ratifikationsquoten in der amerikanischen Verfassungsgeschichte erzielt hatte.26 Das war das eine Argument, das das Alkoholverbot durchaus als eine nationale Konsensentscheidung verkaufen sollte. Das andere Argument berief sich auf die lange Erfolgsgeschichte der amerikanischen Temperenzbewegung.27 Die Anti-Saloon League reklamierte 1919, dass bereits in zweiunddreißig Einzelstaaten Prohibitionsstatuten bestünden; weitere zwölf Staaten hätten Local Option-Regelungen erlassen. Damit, zog sie Bilanz, lebten schon vor dem nationalen Alkoholverbot 63 Millionen Amerikaner oder drei Fünftel der Bevölkerung in »trockengelegten« Gebieten.28 Mabel Walker Willebrandt, die stellvertretende US-Bundesstaatsanwältin, konnte mit noch beindruckenderen Zahlen aufwarten: »Vor dem Amendment hatten 33 Staaten Prohibitionsgesetze, und von allen 2543 Kreisen [counties] in den Vereinigten Staaten hatten sich nur 305 noch nicht nach dem Prinzip der lokalen Option für trocken erklärt.«29 Aber wenn das nationale Alkoholverbot wirklich dem überwältigenden Mehrheitswillen der amerikanischen Staatsbürger entsprochen hätte und in der Tat nichts weiter als der logische Endpunkt einer langen, unaufhaltsamen Bewegung in Richtung Abstinenz, der Schlussstein eines sorgfältig konstruierten Bauwerks aus einzelstaatlichen Prohibitionen und lokalen Verbotsverordnungen gewesen wäre, hätte man das Wagnis, den schwierigen und hürdenreichen Weg einer Verfassungsänderung zu beschreiten, nicht eingehen müssen. Und selbst dann hätte man das eigentliche Alkoholverbot nicht konkret in die Verfassung schreiben müssen, sondern hätte in einem entsprechend formulierten Zusatzartikel gemäß Article I, Section 8 der Verfassung den Kongress ermächtigen können, den Alkoholverkehr und die Alkoholwirt-
25. KYVIG, Explicit and Authentic Acts, S. 235ff.; HAMM, Shaping the Eighteenth Amendment, S. 219ff. 26. Ernest H. Cherrington und Charles Scanlon, zit.n. BEMAN, Selected Articles on Prohibition, S. 107f.; CHERRINGTON, Ernest H.: World-Wide Progress toward Prohibition Legislation, in: Walnut (Hg.), Prohibition and Its Enforcement, S. 208-222. 27. CHERRINGTON, Ernest H.: The Evolution of Prohibition in the United States of America. A Chronological History of the Liquor Problem and the Temperance Reform in the United States, Montclair/NJ 1969 (urspr. 1920). 28. SCHMÖLDERS, Die Prohibition in den Vereinigten Staaten, S. 102. 29. WILLEBRANDT, Mabel Walker: How to Ensure the Permanency of Prohibition, in: Tilton, Elizabeth (Hg.): Save America. Allegiance to the Constitution. Observance of Law, Boston/MA 1923, S. 25-26, hier S. 25.
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schaft, wenn er das als erforderlich erachtete, bundesstaatlich zu regulieren beziehungsweise zu verbieten.30 Sowohl gegen die Konsens- als auch gegen die evolutionäre Perspektive sprach nicht zuletzt die große Dringlichkeit, mit der die Anti-Saloon League nach den Kongresswahlen von 1916 darauf hinarbeitete, die Prohibition, koste es, was es wolle, in die Verfassung zu schreiben. Die Wahlen hatten deutliche »trockene« Mehrheiten in beiden Häusern erbracht. Aber man arbeitete gegen die Zeit. Mit jedem Tag sahen die Prohibitionsbefürworter neue Einwanderermassen in den Häfen an Land gehen. Sie strömten in die industriellen Metropolen des Landes und stärkten damit die Hochburgen der Alkoholwirtschaft. Dahinter steckte zudem nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine politische Gefahr: Der Zustrom an Immigranten und vom Land in die Stadt abwandernden Südstaatlern und Mittelwestlern kippte in absehbarer Zeit die demografische Balance zwischen Land und Stadt zugunsten der urbanen Zentren. Die Volkszählung (U.S. Census) von 1920 sollte ergeben, dass erstmals mehr Amerikaner in Städten mit über 2000 Einwohnern lebten als in agrarischen Gebieten. Damit standen jedoch ein grundsätzlicher Neuzuschnitt der Wahlbezirke und eine Neuverteilung der Mandatszuordnungen (reapportionment) an, die bisher den Landbewohnern ein unverhältnismäßig großes politisches Gewicht auf Kosten der Städter eingeräumt hatten. Es sollte sich herausstellen, dass es gelang, ein wirkliches Neuzeichnen der politischen Landkarte Amerikas bis 1930 zu verschleppen. Aber das war schwer vorauszusehen, und so setzte sich die Anti-Saloon League für ihre Initiative zur Ergänzung der Verfassung eine Frist bis 1920.31 Alle Konsenspropaganda konnte kaum verhehlen, dass den Verfechtern nicht nur vollkommen bewusst war, wie kontrovers ihre Gesetzesinitiative sein und welche Opposition sie bei den Gegnern der Prohibition hervorrufen würde. Vielmehr leitete sich ihre Strategie, auf eine Verfassungsänderung hinzuwirken, geradezu aus dieser Opposition her. Sie war ein wohlberechneter kriegerischer Akt. Die Chronisten der Prohibitionsbewegung konnten noch so viele Quadratmeilen vorweisen, die vor dem Inkrafttreten des nationalen Verbots bereits unter irgendeiner Form eines »trockenen« Regimes gestanden hätten. Das änderte nichts an der Tatsache, dass diese territorialen Eroberungen großenteils aus Wüstenterrain, Gebirgslandschaften oder Kornfeldern bestanden. Die 305 von Willebrandt noch konzedierten Widerstands30. Nicholas Murray Butler, in: BEMAN, Selected Articles on Prohibition, S. 220,
247. 31. PEGRAM, Thomas R.: Battling Demon Rum. The Struggle for a Dry America, 1800-1933, Chicago 1998, S. 138f.; E AGLES, Charles W.: Democracy Delayed. Congressional Reapportionment and Urban-Rural Conflict in the 1920s, Athens/GA, London 1990. Bereits bei den Midterm-Wahlen des Jahres 1922 waren erste Folgen einer Neuzuteilung der Wahlbezirke im House of Representatives spürbar, und die Aufrechterhaltung einer »trockenen« Mehrheit, die bis 1932 glückte, war mit größeren Anstrengungen seitens der Anti-Saloon League verbunden: KERR, K. Austin: Organized for Prohibition. A New History of the Anti-Saloon League, New Haven/CT 1985, S. 252f.
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gebiete umfassten aber die städtischen Metropolen der Nation und die Bevölkerungszentren des Landes. Ernest H. Cherrington schrieb, dass sich die Hälfte aller Bürger, die in Lizengebieten lebten (in denen Alkohol zugelassen war), auf lediglich vier Einzelstaaten verteilte. Ein Viertel aller Amerikaner in Lizenzterritorien wohnte in nur sechs Großstädten, und mehr als die Hälfte aller amerikanischen Saloons ballte sich in 14 städtischen Großräumen.32 Aber hier lebten eben die zwei Fünftel der amerikanischen Bevölkerung, die ihre Heimatstaaten bislang davon abgehalten hatten, sich der Prohibitionsbewegung anzuschließen. Das Hinwirken auf die Verfassungsänderung folgte aus einer politisch günstigen Mehrheitssituation, die dem tatsächlichen Verhältnis zwischen Prohibitionsbefürwortern aus Überzeugung, »trockenen« Wählern, die »persönlich feucht« lebten, und überzeugten »Nassen« nicht entsprach. Obwohl als Sprecher der Alkoholinteressen sicher nicht unparteiisch, brachte der Anwalt Percy Andreae diesen Zusammenhang 1915 höchst treffend zum Ausdruck: Die Prohibitionisten »wissen, dass 80 Prozent derjenigen, die, teils durch Zwang, teils aus innerer Zustimmung, trocken wählen, ohne weiteres gewillt sind, das Recht der verbleibenden 20 Prozent, sich einen Drink zu verschaffen, einzuschränken, aber dass sie absolut nicht gewillt sind, dieses Recht für sich selbst zu opfern«.33 Der Satiriker Will Rogers gewann diesem Kreuzzug mit einem zum Schwert umgeschmiedeten Verfassungsartikel eine ebenso humorige wie entlarvende Seite ab: »Warum machen wir bei der Prohibition nicht halbe-halbe? Lasst doch die Prohibitionisten mit dem Trinken aufhören.«34 Auf die Existenz einer stärkeren gesellschaftlichen Opposition, als sie zurzeit politisch mobilisierungsfähig schien, waren die Verfechter der Verfassungsänderung also durchaus gefasst. Gerade das stand hinter der Motivation, den Gang nach Washington zu wagen, nämlich den Bund zu veranlassen, nicht nur den Alkoholverkehr von »nassen« in »trockene« Staaten endlich effektiv zu unterbinden, um die einzelstaatlichen Prohibitionen zu voller Wirksamkeit zu bringen, sondern um den Staaten ohne Prohibition das totale Alkoholverbot aufzuerlegen. Der Schutz der »trockenen« Staaten vor der Überflutung durch ihre »feuchten Nachbarn« stand zwar in der Losung der Prohibitionisten obenan: »Genauso wie es unmöglich gewesen war, dörfliche, Kreis- und städtische Prohibition ohne Staatsprohibition voll durchzusetzen, war offensichtlich geworden, dass die Durchführung der staatlichen Prohibition niemals auf Dauer erfolgreich sein würde, solange die nationale Prohibition nicht durchgebracht war.«35 Doch dahinter stand klar ein Feldzug zur Eroberung »nasser« Staaten, eine Instrumentalisierung der höchsten 32. CHERRINGTON, The Evolution of Prohibition in the United States of America,
S. 320. 33. ANDREAE, Percy: Prohibition Will Not Stop People from Drinking, in: Nishi, Dennis (Hg.): Prohibition, San Diego u.a. 2004 (urspr. 1915), S. 31-37, hier S. 33. 34. Zit. n. MORONE, Hellfire Nation, S. 281 (»Why not settle this Prohibition fiftyfifty? Let the Prohibitionists quit drinking.«). 35. CHERRINGTON, The Evolution of Prohibition in the United States of America, S. 321 (Hervorh. von mir).
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Verfassungsautorität, um gegen die politischen Mehrheitsverhältnisse vor Ort diesen »feuchten« Einzelstaaten die Prohibition von Washington aus überzustülpen: »Folgerichtig war es nur natürlich, dass die Prohibitionsmehrheiten in den Prohibitionsstaaten und die Fast-Prohibitionsstaaten sich mit den Prohibitionsminderheiten in den Lizenzstaaten verbündeten, um gegenseitigen Schutz für die Prohibitionsgesetzgebung zu gewährleisten, in Übereinstimmung mit dem Wunsch der Mehrheit in der größeren Einheit.«36 »Gegenseitiger Schutz« und die »Mehrheit in der größeren Einheit« konnten nicht als verfassungsrechtlich relevante Begriffe gelten. Sie wirkten wie Nebelkerzen, die den polarisierenden, repressiven und imperialistischen Zug des Verfassungsvorstoßes semantisch tarnen sollten. Der ungarische Emigrant und bekannte Publizist Fabian Franklin enthüllte diesen Verschleierungsversuch 1923 als abstoßenden »Trick«: »[E]s ist müßig über die Frage zu streiten, ob oder ob nicht eine Mehrheit der gesamten Bevölkerung der Vereinigten Staaten für oder gegen den achtzehnten Verfassungszusatz war. Gleich, ob eine Mehrheit es unterstützte oder nicht, als das Amendment in Einklang mit dem Verfahren, das die Verfassung selber vorschreibt, angenommen wurde, fand es als geltendes Element Eingang in dieses Instrument; auf der anderen Seite stellt dieses Amendment, gleich ob eine Mehrheit es begrüßte oder nicht, eine Misshandlung der obersten Prinzipien rationaler Gesetzgebung dar. Die einzige Frage bleibt, ob diese Schmach von einer Mehrheit an einer Minderheit begangen wurde, oder ob sie die Missetat einer Minderheit gegen eine Mehrheit war. Die Vorstellung, dass 51.000.000 Menschen ein Recht haben, den [übrigen] 49.000.000 irgendwelche Maßregelungen zu diktieren, wie es ihnen einfällt, ist ebenso widersinnig wie die Idee, dass 49.000.000 Leute das Recht haben, den 51.000.000 das Gleiche anzutun. Und wenn solcher Einspruch gegen ein gewöhnliches Gesetz statthaft ist, das die Prohibition einer Nation von hundert Millionen Menschen oktroyiert, von denen die Hälfte gegen sie ist – einer Nation zusammengesetzt aus Staaten und Städten, die die unterschiedlichsten Individualitäten verkörpern, die unterschiedlichsten Geschmäcker und die unterschiedlichsten Lebensweisen – wie viel gewichtiger spricht dies gegen ein Gesetz, dessen Widerruf sogar eine entscheidende Mehrheit ohnmächtig ist zu erreichen! Der genaue Zweck des achtzehnten Verfassungszusatzes war, alle praktischen Überlegungen, die Prohibition jemals wieder loszuwerden, zunichte zu machen.«37 Man wird sich über die Brisanz eines solchen Vorgehens vielleicht nur klar, wenn man sich verdeutlicht, dass die Amerikaner über eine Angelegenheit mit ähnlichem Spaltungspotential – die Sklaverei – sechzig Jahre zuvor einen Bürgerkrieg ausgefochten hatten – ein bis heute nicht überwundenes nationales Trauma. Die Stärke und Widerspenstigkeit einer angenommenen Gegnerschaft erklärte denn auch überhaupt erst das aggressive Vorgehen in der Frage eines Constitutional Amendment. In den Worten Mabel Walker Wil36. Ebd. 37. FRANKLIN, Fabian: What’s Wrong With the Eighteenth Amendment, in: Walnut
(Hg.), Prohibition and Its Enforcement, S. 48-51, hier S. 49f.
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lebrandts scheint der Charakter der Gesetzesinitiative als repressiver Machtspruch, der durch eine Momentaufnahme politischer Mehrheitsverhältnisse zustande gekommen war, unverblümt auf: »Entweder haben die Mehrheit der Bürger dieser Nation und mehr als drei Viertel der Bundesstaaten das Recht und die tatsächliche Macht, das Alkoholübel mit dem nationalen Verbot des Verkaufs von Rauschmitteln auszurotten, oder sie haben sie nicht.«38 Gerade weil die gesellschaftliche Zustimmung zu einem allgemeinen Alkoholverbot nicht sicher war, wollten Anti-Saloon League und WCTU die günstige Gelegenheit nutzen, die Prohibition in der Verfassung zu verankern. In machiavellistischem Kalkül setzten sie darauf, die rechtliche Ausnahmestellung und besondere Autorität der Constitution dafür zu auszunutzen, ein Maßnahmegesetz in diesem Kodex zu verankern, das Bund und Einzelstaaten zu einer Durchsetzungspolitik verpflichtete. Zugleich entzog man dieses Maßnahmegesetz dem politischen Zugriff durch den Kongress und – so war jedenfalls beabsichtigt – jeder materiellen Kritik. Willebrandt etwa bekannte in ihrer Bilanz der Lage 1929 ungeschminkt, sie wolle »die Weisheit, die Prohibition als nationale Politik angenommen zu haben«, gar nicht erörtern: »Solch ein Argument ist nicht zeitgemäß. Die essentielle Tatsache steht fest, dass das achtzehnte Amendment in die Verfassung der Vereinigten Staaten eingebettet ist.«39 Die Aufnahme des Prohibitionsartikels würde die politische Gelegenheitsmehrheit auf unabsehbare Zeit festschreiben, weil deren neuerliche Änderung einen unwahrscheinlichen fundamentalen politischen Wandel voraussetzte und historisch unausgekundschaftetes Terrain war. 40 William N. Gemmill, Richter am städtischen Gerichtshof in Chicago, sagte 1923: »Das achtzehnte Amendment wird ebenso wenig zurückgenommen werden wie die Zehn Gebote.« 41 Die Anspielungen auf die Zehn Gebote, auf das Gesetz, das man »in Stein meißeln« wollte, und auf Moses’ Gesetzestafeln durchtränkte die Rhetorik der Prohibitionisten sowohl von säkularer als auch von kirchlicher Seite. Sie fanden große Resonanz bei der religiösen Rechten. Dahinter standen Vorstellungen, die der amerikanischen Verfassungstradition äußerst fremd waren. Als »moralisches Gebot« (moral commandment), für den einzelnen hatten die Verfassungsväter das Dokument nicht konzipiert. Für sie standen im Gegenteil die »unveräußerlichen Rechte« des Individuums im Zentrum allen Denkens. Die evangelikalen Prohibitionisten träumten sich mit dem Prohibitionsartikel dagegen »eine große Amerikanische Erlösung« herbei. 42 Wenn schon nicht Gott, dann würde die höchste irdische Autorität auf Erden in Gestalt der 38. WILLEBRANDT, Mabel Walker: The Inside of Prohibition, Indianapolis 1929,
S. 19. 39. Ebd., S. 22 (Hervorh. im Orig.); FRANKFURTER, Felix: A National Policy for Enforcement of Prohibition, in: Walnut (Hg.): Prohibition and Its Enforcement, S. 193196. 40. WILLEBRANDT, How to Ensure the Permanency of Prohibition, S. 25ff. 41. Zit. n. BEMAN, Selected Articles on Prohibition, S. 292 (»The Eighteenth Amendment will no more be repealed than the Ten Commandments«). 42. MORONE, Hellfire Nation, S. 321.
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Verfassung die Menschen gebieterisch dazu anhalten, sich in das Alkoholverbot zu fügen. Selbst Mabel Walker Willebrandt fand solchen Gesetzesglauben naiv: »Diejenigen, die den organisierten Alkoholhandel bekämpft haben, bevor das 18th Amendment ratifiziert wurde, täuschten sich in dem Glauben, ihre Aufgabe sei vollbracht, als es [tatsächlich] verabschiedet wurde. Das Gesetz verbot die Herstellung und den Verkauf von Alkohol zu Trinkzwecken überall in den Vereinigten Staaten; folglich hatte sich der Alkoholhandel erledigt.«43 Sie hielt ihn nicht nur für naiv, sondern für politisch fatal, denn der Trugschluss, allein die Autorität der Verfassung auf dem Papier würde überzeugte Gegner zur Gesetzesloyalität veranlassen, habe gerade die von der Wirklichkeit eingeholten kirchlichen Kreise dazu verleitet, kompromisslos auf das Erzwingen seiner Geltung und dabei ausschließlich auf die Bundesregierung zu setzen: »[A]lle verließen sich nach der Ratifi kation auf die sogenannte ›allmächtige Bundesregierung‹. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren der ›Big Boy‹, der die Aufgabe hatte, den Alkoholhandel [im Alleingang] zur Strecke zu bringen.«44 Das Gesetz als Gebot und der Bundesstaat als Rachegott – W.H. Stayton von der Association Against the Prohibition Amendment hatte bereits 1923 auf die Verkehrung amerikanischer Verfassungsgrundsätze aufmerksam gemacht, die aus einem solchen Gesetzes- und Regierungsverständnis folgte: »Diese Konstitution, gestiftet durch die Bürger der Einzelstaaten, schuf für ihre Zwecke das Werk einer Regierungsmaschine, die sie in Washington ansiedelten. Aber diese Bundesmaschine sollte Diener, nicht Herr der Bürger sein. Sie war ausersehen, Anweisungen zu empfangen und zu befolgen und nicht zu ihren Herren zu sagen: ›Du sollst nicht!‹ Heute regiert unser früherer Diener – herrscht er arrogant – in unserem Hause.«45 Fremd musste schließlich auch der Schachzug erscheinen, den Anspruch der Verfassung auf überzeitliche Geltung, der ja gerade durch das Institut der Amendments lebendig gehalten werden sollte, zum Selbstzweck zu erheben. Damit würdigte man den Ausnahmeschutz der Verfassung vor Augenblicksentscheidungen zum Gegenstand einer politischen List herab, die ein höchst weltliches Gesetz durch Anwendung einer unangemessenen und unverhältnismäßigen Rechtsdoktrin unantastbar zu machen versuchte. Eher könne ein Kolibri, mit dem Washington Monument an seinem Schwanze befestigt, zum Mars fliegen, hatte der texanische Senator Morris Sheppard, Ko-Autor des 18. Verfassungszusatzes, erklärt, als dass die Prohibition wieder fallen würde. 46 Für die Prohibitionisten stand nicht die Verfassung im Vordergrund ihrer strategischen Überlegungen und auch nicht, ob die Formulierung des Zusatzartikels den Zielen und dem Geist der Constitution überhaupt entsprach. Für sie war die konstitutionelle Autorität Einsatz in einem taktischen Spiel. Priorität besaß, dass sie ihre durchaus von vornherein repressiv konzipierte Ver43. WILLEBRANDT, The Inside of Prohibition, S. 17 (Hervorh. im Orig.). 44. Ebd., S. 17f. 45. STAYTON, W.H.: Some of the Evils of Volsteadism, in: Beman, Selected Arti-
cles, S. 186-198, hier S. 187 (Hervorh. im Orig.). 46. ROSE, Kenneth D.: American Women and the Repeal of Prohibition, New York, London 1996, S. 129.
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botspolitik mit den Ressourcen des Bundesstaates aufmunitionieren wollten, indem sie diese mithilfe der Sonderstellung und der Sonderrechte der Verfassung landesweit oktroyieren und sodann auf Dauer immunisieren ließen. Sie spekulierten auf die Legitimationseffekte für ein Maßnahmegesetz, die der gewohnte Respekt vor dem unanfechtbaren Status und das komplizierte Verfahren der Verfassungsänderung diktieren und garantieren sollten. Liberale Kritiker wie Fabian Franklin, dem jegliche radikale Politik zuwider war, erkannten in einem solchen Vorgehen geradezu eine Perversion der American Constitution: Man könne sich darüber streiten, ob die Einschränkung der individuellen Freiheit durch den Prohibitionsartikel zu rechtfertigen sei oder nicht. »Dass es eine Verweigerung persönlicher Freiheit ist, ist unstrittig; und der Punkt, mit dem wir uns im Moment beschäftigen, ist, dass eine Freiheitsbeschränkung hinter den mächtigen Wällen der Verfassung zu verschanzen das genaue Gegenteil von dem darstellt, wozu unsere Verfassung […] geschaffen worden ist. Die Verfassung entzieht der Kontrolle der Mehrheit gewisse Dinge auf Zeit – entzieht sie der Zuständigkeit normaler Gesetzgebung – zu dem Zweck, die Freiheit zu schützen. Das 18th Amendment bemächtigt sich des Mechanismus, der für diesen Zweck gedacht ist, und pervertiert ihn zu seinem diametral entgegengesetzten Ende, die Einschränkung von Freiheit zu schützen. Alle Geschichte lehrt uns, dass sowohl die Tyrannei der Mehrheit als auch Oligarchien und Monarchien die Freiheit bedrohen; dementsprechend sagt die Verfassung: Keine einfache Mehrheit, kein gewöhnliches Gesetzgebungsverfahren, soll die Macht haben, dem Volk die Freiheit zu nehmen, die sie ihm garantiert. Aber der 18. Zusatzartikel sagt: Keine einfache Mehrheit, kein gewöhnliches Gesetzgebungsverfahren, soll die Autorität besitzen, dem Volk die Freiheit zurückzugeben, die ihm hierdurch entzogen wird. Deshalb, ganz abgesehen von den fragwürdigen Vorteilen der Prohibition für sich, ist das 18th Amendment eine konstitutionelle Monstrosität.« 47
47. FRANKLIN, Fabian: The Eighteenth Amendment Perverts the Constitution, in: Nishi (Hg.): Prohibition, S. 59-63, hier S. 62.
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Grenzfälle?
Social und soul engineering unter Stalin und Chruschtschow, 1928-1964 Klaus Gestwa
1. Die Sowjetmoderne auf der Überholspur: Rückständigkeitskomplex und Überlegenheitsgefühl Am Projekt der Moderne hatte der Sowjetkommunismus nichts Grundsätzliches auszusetzen, denn er hielt sich für seine eigentliche Vollendung, für das irdische Paradies, das am Ende der Geschichte die gesamte Menschheit an den Früchten der industriellen Zivilisation teilhaben lassen würde. Dementsprechend litten die Moskauer Parteiführer nicht unter der Moderne; sie litten vor allem an der vom Russischen Kaiserreich geerbten Rückständigkeit, die es unbedingt zu überwinden galt. »Entweder der Tod oder die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder einholen und überholen«,1 so brachte Stalin diesen als bedrückend empfundenen Fortschrittszwang 1931 mit rhetorischer Vehemenz zum Ausdruck. In einem Artikel, der am 7. November 1929 in der Parteizeitung Pravda erschien, hatte er zuvor schon vollmundig verkündet: »Wir gehen mit Volldampf den Weg der Industrialisierung zum Sozialismus, unsere uralte russische Rückständigkeit hinter uns lassend. Wir werden zu einem Land des Metalls, einem Land der Automobilisierung, einem Land der Traktorisierung. Und wenn wir die UdSSR aufs Automobil und den Bauern auf den Traktor gesetzt haben – mögen dann die ehrenwerten Kapitalisten im Westen, die sich mit ihrer ›Zivilisation‹ brüsten, uns einzuholen versuchen.«2 Was zahlreiche Eliten in der westlichen Welt damals pessimistisch als Krise, Verfall und Endzeit deuteten, verstanden die sowjetischen Machthaber und die ihnen ergebenen Sozialtechnokraten optimistisch als Revolution, Auf bruch und Anbruch einer neuen Epoche. Sie empfanden den Aufstieg der Industriemoderne, den atemlosen Wandel und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Umbrüche nicht als Verunsicherung und Bedrohung, sondern als historische Chance, ihrer Weltanschauung radikal den Weg in die 1. STALIN, Josif W.: Werke, 15 Bde., Berlin 1951-1955, Bd. 13., S. 36. 2. Ebd., Bd. 12, S. 119.
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Grenzfälle?
Wirklichkeit zu bahnen und sich aus dem Klammergriff der Geschichte zu befreien. Dank ihrer unerschütterlichen Hingabe an die marxistische Heilsund Erlösungslehre, die in den Rang einer allverstehenden Wissenschaft erhoben wurde, befanden sich die Hohepriester des Sozialismus im Besitz einer neuen politischen Religion, um die in fundamentalem Wandel begriffene Zeit deuten zu können. Sie bemühten sich deshalb keineswegs um die Vermittlung von Neu und Alt. Statt dem Gewohnten und Überlieferten einen Platz in der neuen Welt zu sichern, ging es ihnen darum, die Welt grundsätzlich neu einzurichten. Der revolutionäre Bolschewismus und der sich nach 1928 formierende Stalinismus verstanden sich als asketisch-heroische und entfesselte Moderne; sie setzten sich selbst als das Neue und verschrieben sich, so Stalin, ganz dem erbitterten »Kampf zwischen Altem und Neuem, zwischen Absterbendem und neu Entstehendem, zwischen Ablebendem und sich Entwickelndem.«3 Auf die Desintegration der vom industriellen Strudel ergriffenen Gesellschaft reagierten die Parteiführer deshalb nicht mit angestrengten Versuchen der Wiederherstellung bewährter Ordnungen. Sie setzten vielmehr auf die reinigenden und befreienden Kräfte der Destruktion und gefielen sich in der Rolle rücksichtsloser Zerstörer. Die Vernichtung der alten Welt erschien ihnen als die unverzichtbare Voraussetzung für die Erschaff ung einer neuen Gesellschaft, um im Zug einer anthropologischen Revolution und eines soul engineering 4 einen »neuen Menschen« zu formen, dem das überlieferte Leben nichts mehr galt, der alle sozialen Bindungen und kulturellen Praktiken abwarf, um sich ganz dem revolutionären Projekt zu verschreiben und sich zum Herrscher über Natur, Raum und Zeit emporzuschwingen. Im Strudel der gewaltigsten aller Revolutionen und im Mahlstrom des gesellschaftlichen Fortschritts sollten die aus dem Zarenreich überlieferten Ordnungsstrukturen, alles angeblich von jahrhundertelanger Sklaverei, Leibeigenschaft und Kapitalismus Verdorbene für immer im Rochus der Geschichte verschwinden. Eine enthemmte tabula rasa-Politik versprach, den erforderlichen Platz für ein welthistorisch einzigartiges social engineering zu schaffen, das sodann allen Ländern der Welt eine Abkürzung in eine bessere, von den Verwerfungen und Kataklysmen des Kapitalismus gesäuberte Industriemoderne anbot. Vermeintliche oder tatsächliche Sympathisanten der alten Welt galten als Fortschrittseunuchen und Klassenfeinde, die umzuerziehen oder gnadenlos zu vernichten seien.5 Der von den stalinistischen Fortschrittspredigern ver3. Ebd., Bd. 13, S. 651. 4. Zur Seelenmetaphorik in der neueren Stalinismus-Forschung vgl. HELLBECK,
Jochen: Fashioning the Stalinist Soul. The Diary of Stepan Podlubnyi, 1931-1939, in: Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Stalinism. New Directions, London, New York 2000, S. 77-116; DERS.: Revolution on my Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge/ MA 2006. Ferner HALFIN, Igal: Terror in my Soul. Communist Autobiographies on Trial, Cambridge/MA 2003. 5. Vgl. HAGENLOH, Paul: »Social Harmful Elements« and the Great Terror, in: Fitzpatrick (Hg.), Stalinism, S. 286-308; ALEXOPOLOUS, Golfo: Stalin’s Outcasts. Aliens, Citizens, and the Soviet State, 1926-1936, Ithaca 2003.
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Gestwa: Social und Soul Engineering unter Stalin und Chruscht schow
ordnete alchemistische Optimismus belegte jeglichen Zweifel mit Verbot und bestrafte das Unbehagen an der Moderne mit Ausgrenzung und Tod. Formen kulturpessimistischer Zivilisationskritik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ähnlich wie in Deutschland auch in Russland weite Teile der Eliten erfasst hatte, brachten die modernisierungswütigen Parteiführer spätestens nach 1928 zum Schweigen. In seiner Rede vor den Absolventen der Akademien der Roten Armee am 4. Mai 1935 verkündete Stalin drohend: »Wer Altes aufrührt, ist ein schlechter Geselle.«6
1.1 TEMPO -D IK TAT UND A UFBAU -D I SPOSI T I V : Z UKUNF T SBE SE S SENHE I T UND Z E I T S T RE S S In ihrem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, nicht traditionsbewusste Überlebenshelfer, sondern erbarmungslose Totengräber der überlieferten Welt zu sein, legten sich die Moskauer Herrschaftseliten spezifische Semantiken und Machtdispositive zu. Dem Begriff der Ordnung bzw. der Neuordnung kam in ihrer politischen Lexik nur sekundäre Bedeutung zu. Er klang restaurativ, weil er die Vorstellung vermittelte, das Bestehende hätte in veränderter Form in der neuen Welt des Sozialismus weiterhin ein Existenzrecht. Als sich gegen Ende der 1920er Jahre Industrialisierung und Revolution zu einer überschießenden Modernisierungsbewegung zusammenschlossen, sprach in Moskau auch niemand mehr von Entwicklung oder Wachstum. Zu den Schlüsselworten von Politik und Kultur wurden »Umgestaltung« (preobrazovanie), »großartiger Umbruch« (velikij perelom), »Planung« (planirovanie) und »Aneignung« (osvoenie).7 Der letzte Begriff war schon vor 1917 viel bemüht worden, bekam jedoch nach 1928 einen zunehmend kämpferischen Ton. So enthielten die neuen sowjetischen Fünfjahrespläne fortan die Sektion »Raumaneignung« (osvoenie prostranstva), die das politische Ziel umschrieb, in den riesigen unerschlossenen Gebieten neue Agrar- und Industrieregionen aus dem Boden zu stampfen, um so die wilde, an Energie und Bodenschätzen reiche Natur des Landes zu zähmen und fortan in den Dienst der Sowjetwirtschaft zu stellen. Osvoenie stand für den Prozess der imperialen Expansion und Binnenkolonisation, in deren Verlauf sich das Zentrum die entferntesten Peripherien sowohl ökonomisch als auch politisch-kulturell unterwarf. Geprägt von der »Romantik des Reißbretts«8, brachte diese Signalvokabel die Dualität von Wissen und Kontrolle, den starken politischen Wunsch nach Eindeutigkeit und Übersichtlichkeit zum Ausdruck, dem regionale und ethnische Besonderheiten zum Opfer fallen sollten. Als handlungsanleitende Schlüsselkategorie stand 6. STALIN, Werke, Bd. 13, S. 591. 7. Vgl. HELLBECK, Jochen: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Tagebuch aus Moskau 1931-
1939, München 1996, S. 9-73, hier S. 27. 8. Zu diesem Begriff vgl. ETZEMÜLLER, Thomas: Die Romantik des Reißbretts. Social engineering und demokratische Volksgemeinschaft in Schweden: Das Beispiel Alva und Gunnar Myrdal (1930-1960), in: Geschichte und Gesellschaft 32, 2006, S. 445466.
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osvoenie für das grenzen- und skrupellose Zutrauen in die Gestaltbarkeit der menschlichen Umwelt, huldigte dem kämpferischen Zeitgeist und wies einer utopischen Ideologie, gepaart mit einem totalitären Dirigismus, den Weg in die politische und soziale Praxis.9 Die Umgestaltung des Landes mittels neuer Infrastrukturen, die umfassende Planung der Volkswirtschaft und die Aneignung weiträumiger Peripherien griffen ineinander und fügten sich mit ihren Teilsemantiken zur mächtigen Rhetorik vom »Auf bau« (stroitel’stvo) zusammen. Daraus sprach ein nervöses Nicht-Abwarten-Können; darin steckten ein starker Handlungsimperativ, ein Ermächtigungsgesetz und ein kaum zu zügelnder, mitreißender Tatendrang, um sich angesichts der komplexen, unübersichtlichen Gegenwartssituation der eigenen Wirklichkeitsmacht und Gestaltungskraft zu vergewissern und dem Strom der Zeit die Richtung zu weisen, statt sich bloß passiv von ihm treiben zu lassen. Die Rhetorik vom »Auf bau« verhalf dem starken Willen zu seinem Ausdruck, entschlossen die Grenzscheide zwischen Idee und Wirklichkeit zu überschreiten und ehrgeizige Planung als angewandte politische und soziale Erkenntnis umzusetzen. Die ersten beiden Fünfjahrespläne standen deshalb unter dem Diktum des »Auf baus des Sozialismus«. Sie versprachen einen verkürzten Aufenthalt in der Gegenwart, die vorerst noch wenig mit der Traumwelt des Sozialismus gemein hatte. Gegen Mitte der 1930er Jahre wurde dann der erfolgreiche Abschluss dieses brachialen Auf bauprozesses verkündet.10 Entwicklungen, die sich in den kapitalistischen Industrienationen 50 bis 100 Jahre hingezogen hätten, wären vom ersten sozialistischen Staat auf Erden innerhalb nur einer Dekade durchlaufen worden. Die aufstrebende sowjetische Industriemacht habe die hinderliche evolutionäre Langsamkeit überwunden, so dass bei ihrem unaufhörlichen Aufstieg ganze historische Epochen in wenigen historischen Momenten zusammengefallen seien. Herkömmliche Begrenzungen und Temporalitätsstrukturen schienen aufgehoben. Die geballte Geschichte der 1930er Jahre, in denen der an sich schon überambitionierte erste Fünfjahresplan in nur vier Jahren erfüllt werden sollte, führte zu einer schwindelerregenden Atemlosigkeit, die selbst die Lokomotivführer der Revolution während der alles erschütternden Kollektivierungs- und Terrorwellen wiederholt die Besinnung verlieren ließ (Abb. 14 und 15).11 9. Zur Etymologie des Begriffes osvoenie vgl. WIDDIS, Emma: Visions of a New Land. Soviet Film from the Revolution to the Second World War, New Haven 2003, S. 7ff. 10. So zelebrierte die Kreml-Führung den 17. Parteitag 1934 schon als »Parteitag der Sieger«. Die 1936 erlassene sogenannte »Stalin-Verfassung« erklärte, dass nach der forcierten Industrialisierung, der erzwungenen Kollektivierung und der damit einhergehenden Kulturrevolution der Sozialismus »im wesentlichen« schon verwirklicht sei und es in der Sowjetunion keine antagonistischen Klassen mehr gebe. Vgl. zum politischen Stimmungswechsel Mitte der 1930er Jahre neuerdings FIGES, Orlando: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland, Berlin 2008, S. 250ff. 11. Die beste Analyse der wechselhaften Stimmungslagen und der Machtmechanismen in Partei und Staat der 1930er Jahre bietet weiterhin CHLEWNJUK, Oleg
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Abbildung 14: »Der Zug fährt …« von P. Sokolov-Skalja aus dem Jahr 1937: Text oben links: »Der Zug fährt von der Station Sozialismus zur Station Kommunismus«; Text unten rechts: »Stalin – der erfahrene Zugführer der Lokomotive der Revolution«
In ihrer revolutionären Ungeduld in steter Vorwärtsbewegung begriffen, ordneten die Moskauer Parteiführer ihr Projekt der Moderne in ein Heilsgeschehen, in eine Teleologie der Erlösung ein. Das Weltgeschehen verlief in ihrer Sicht auf vorgezeichneten Bahnen, die aus dem Gang der Geschichte herausgelesen werden könnten. Die stalinistischen Sozialingenieure folgten einer Zeitachse, auf der konkrete Stationen auf dem Weg in den Kommunismus vermerkt waren. Jegliche Verzögerung beschwor die Gefahr herauf, den Anschluss an die vorgegebene historische Entwicklung zu verpassen. Die Sowjetunion hatte ein drängendes Zeitproblem und litt deshalb unter akutem Zukunftsstress. Der W.: Das Politbüro. Mechanismen der Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg 1998.
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Parteistaat ertrug deshalb nur kurze Phasen der Entspannung und Erholung, der Stabilisierung und Normalisierung. Offensichtlich waren die Parteiführer von der Angst ergriffen, dass Gesellschaft und Wirtschaft durch längere Perioden relativer Normalität in einen Zustand der Routine, Trägheit und Stagnation verfallen könnten. Deshalb galt es, durch eine umfassende Mobilisierung neue Beschleunigungsschübe zu initiieren, um den dynamischen Modus der Vorwärtsbewegung zu erhalten. Aus Angst vor der Dekomposition ihrer Macht im Normalzustand setzten die Mächtigen des Parteistaates alles daran, den inneren Ausnahmezustand zu perpetuieren.12 Schon auf dem 18. Parteitag im Sommer 1939 begannen einzelne Parteiführer darum vom bevorstehenden »Übergang zum Kommunismus« zu reden, um die messianischen Energien der Sowjetmoderne in eingängige Worte und Bilder zu fassen. Die Wirren des bald anbrechenden Zweiten Weltkriegs und der ersten turbulenten Nachkriegsjahre machten es allerdings notwendig, die ehrgeizigen Zukunftspläne aufzuschieben. Als sich 1948 abzeichnete, dass die gesellschaftliche Dynamik in der Wiederherstellung der Vorkriegsstrukturen zu ersticken drohte, traten die Parteiführer mit einer Politik des kurzen Prozesses die Flucht nach vorn an. Die Trümmerlandschaften des Krieges sollten den Traumlandschaften des kommunistischen Paradieses weichen, auch um angesichts des anbrechenden Kalten Krieges der Sowjetbevölkerung im Namen der Zukunft erneut Verzicht, Opfer und Enthusiasmus verordnen zu können. Gegen Ende der 1940er Jahre beschäftigten sich die Moskauer Sozialtechnokraten deshalb verstärkt damit, Perspektivpläne zu erarbeiten, um durch die Konzentration verfügbarer Mittel auf wichtiges Industrie- und Infrastrukturvorhaben angeblich »im Verlauf der nächsten 20 bis 30 Jahre eine kommunistische Gesellschaft in der Sowjetunion zu schaffen.«13 Wenn die Moskauer Sozialingenieure vom Auf bau sprachen, vermittelten sie die Vorstellung einer planvollen Inangriff nahme der Zukunftsgestaltung, die zielgerichtet einem vorher festgelegten Masterplan folgte. Bei genauerer Betrachtung der sowjetischen Planungspraxis zeigt sich aber, dass sich vieles, was nach Omnipotenz und Weitsicht der Staatsmacht aussah, tatsächlich als verzweifeltes Notstandshandeln einer Führung erwies, die bemüht war, angesichts grandioser sozialer Verwerfungen das Heft des Handelns nicht aus der Hand zu geben. Das daraus folgende gedankenlose Drauflosarbeiten und un-
12. GROSSMAN, Gregory: Communism in a Hurry. The »Time Factor« in Soviet Economics, in: Brumberg, Abraham (Hg.): Russia under Khrushchev. An Anthology from Problems of Communism, London 1962, S. 205-218; HANSON, Stephen E.: Time and Revolution. Marxism and the Design of Soviet Institutions, Chapel Hill, London 1997. Zuletzt PLAGGENBORG, Stefan: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt a.M. 2006, S. 81-120. Vgl. auch GESTWA, Klaus: Sowjetische Landschaften als Panorama von Macht und Ohnmacht. Historische Spurensuche auf den »Großbauten des Kommunismus« und in dörflicher Idylle, in: Historische Anthropologie 11, 2003, S. 72-100. 13. ZUBKOVA, Elena: Russia after the War. Hopes, Illusions, and Disappointments 1945-1957, Armonk, London 1998, S. 141f.
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Abbildung 15: Plakat »Auf bau des Sozialismus« von N. Kotov aus dem Jahr 1927
geduldige Lospreschen stießen immer wieder auf widerständige Realitäten, die sich nicht so ohne Weiteres wie gewünscht formen ließen, und führten so zu einem sinnlosen Verbrauch an menschlichen und ökonomischen Ressourcen. Wunsch und Wirklichkeit waren oft wenig aufeinander bezogen. Die Planwirtschaft erging sich im fortgesetzten Improvisieren und Lavieren. Im lauten Getöse vom Auf bau waren darum stets Stimmen der Panik zu vernehmen; immer wieder geriet die Versammlungs-, Rede- und Propagandaroutine durcheinander, um in solchen seltenen Momenten der Wahrheit die allgemeine Verunsicherung und die Chaosangst der Parteiführer deutlich zu machen.14 Der ungezügelte »Hier-und-Jetzt-Radikalismus« der Moskauer Sozial14. Vgl. dazu die Analyse des Februar-März Plenums des Zentralkomitees im Jahr 1937 bei SCHLÖGEL, Karl: Terror und Traum: Moskau 1937, München 2008, S. 239266. Ferner GETTY, J. Arch: Afraid of Their Shadows: The Bolshevik Recourse to Terror, 1932-1938, in: Hildermeier, Manfred (Hg.): Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, München 1998, S. 169-192.
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ingenieure verweist darum auf enorme Spannungsverhältnisse und auf die mangelhafte Bewegungsenergie des stalinistischen Regimes, das sich kaum in der Lage zeigte, flexibel auf sich wandelnde historische Konstellationen zu reagieren, und deshalb Formen des radikalen Wandels bevorzugte.15 Die eigentümliche Mischung von Zuversicht und Angst, Euphorie und Hysterie, Traum und Terror schlug sich darin nieder, dass in den letzten Jahren der Herrschaft Stalins die Verkündigung des »Übergangs zum Kommunismus« mit einer verstärkten Kriminalisierung von Kleinstvergehen und neuen Verhaftungswellen einherging. Die Lagerwelt des GULag zählte damals mit 2,5 Millionen Häftlingen mehr als jemals zuvor.16 Stalin selbst warnte davor, dass sich die Sowjetgesellschaft statt zur kommunistischen Superzivilisation in eine »Diktatur des GULag-Proletariats« zu verwandeln drohe.17 Während nach 1948 Slogans von der »Schaff ung der materiell-technischen Grundlagen für den Auf bau des Kommunismus« zunehmend das politische Denken in Moskau bestimmten, hatten die Führer des zur Weltmacht aufgestiegenen Sowjetstaats ihren neuen ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten erst einmal den »Auf bau des Sozialismus« und damit eine nachholende Entwicklung verordnet. Diese Phasenverschobenheit und historische Asynchronizität sorgten mit ihren unterschiedlichen Auf baurhetoriken wiederholt für politische Irritationen. Sie führten zu den politischen Krisen der Jahre 1953 und 1956, die den Ostblock nachhaltig erschütterten.18 Angesichts des 1958 von der chinesischen Parteiführung in Peking proklamierten »großen Sprungs« sah die Sowjetunion ihre Hegemonie im sozialistischen Lager in Frage gestellt.19 Um die Führungsposition auf der Überholspur der Geschichte deutlich zu machen, verkündete die Moskauer Propaganda darum 15. SCHLÖGEL, Karl: Utopie als Notstandsdenken – einige Überlegungen zur Diskussion über Utopie und Sowjetkommunismus, in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 7796, hier S. 84. 16. APPLEBAUM, Anne: Der GULAG, Berlin 2003, S. 485-499; GORLIZKI, Yoram/KHLEVNIUK, Oleg: Cold Peace. Stalin and the Soviet Ruling Circle, 1945-1953, Oxford 2004, S. 124-133. 17. Zit. n. ROMANOVSKIJ, Nikolaj: Zur Anatomie des Spätstalinismus, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 1, 1997, H. 2, S. 9-40, hier S. 35. 18. Zu den Aufständen und Krisen im Ostblock vgl. zuletzt FOITZIK, Jan (Hg.): Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956, Paderborn 2001; BISPINCK, Henrik (Hg.): Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Berlin 2004; ENGELMANN, Roger U.A. (Hg.): Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, Göttingen 2008. 19. Zu den Konkurrenzen und Konflikten zwischen Moskau und Peking vgl. bes. SUBOK, Wladislaw/PLESCHAKOW, Konstantin: Der Kreml im Kalten Krieg. Von 1945 bis zur Kubakrise, Hildesheim 1996, S. 296-330; WESTAD, Odd Arne (Hg.): Brothers in Arms. The Rise and the Fall of the Sino-Soviet Alliance, 1945-1963, Washingston 1998; LÜTHI, Lorenz M.: The Sino-Soviet Split. Cold War in the Communist World, Princeton 2008. Vergleiche auch den Beitrag von Susanne Stein in diesem Band.
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seit 1959 lautstark, dass mit dem neuen Siebenjahresplan im fortschrittlichen Heimatland des Sozialismus nun schon der »entfaltete [razvernutoe] Auf bau des Kommunismus« in Angriff genommen werde. In dem vom 22. Parteitag angenommenen neuen dritten Parteiprogramm ließ Chruschtschow 1961 als der »letzte Träumer im Kreml« vollmundig verkünden, die Sowjetgesellschaft trete in den 1980er Jahren in ihr kommunistisches Zeitalter ein, in dem statt Mangel allseits Überfluss herrschen und jeder nach seinen Bedürfnissen glücklich leben würde.20 Unter Stalin und Chruschtschow wurde der Begriff des »Auf baus« zur Chiffre für die euphorisch entgrenzte Fortschrittszuversicht und die utopische Überheblichkeit des sowjetischen Parteistaats. Anders als das radikale Ordnungsdenken im Nationalsozialismus und Faschismus ging es in der sowjetischen Planungspraxis nicht um einen »reaktionären Modernismus«21 mit einer »Wiederanknüpfung nach vorwärts«;22 der Fixpunkt der progressiven Sowjetmoderne lag bei ihrer Parforcejagd eindeutig in der Zukunft. Die Zeitwahrnehmung der Menschen wurde auf das Kommende hin ausgerichtet, um mit Hoffnungen den Schleier der Zuversicht über alltägliche Zweifel und Unmut zu legen. Die Beschleunigung der Gegenwart führte dazu, dass die Zukunft den Rhythmus des Alltags zu bestimmen begann.23 Der Sowjetstaat verschrieb sich einer utopischen Moderne, bei der nur zurückgeblickt wurde, um sich der großartigen Fortschritte und der Richtig20. Vgl. GILISON, Jerome: The Soviet Image of Utopia, Baltimore 1975, S. 58-62, 184f.; MEISSNER, Boris: Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln 1962; TAUBMAN, William: Khrushchev. The Man and the Era, New York, London 2003, S. 507519. 21. HERF, Jeffrey: Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge/MA 1984. 22. GRIFFIN, Roger: Modernism und Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, Houndmills, New York 2007, S. 177ff. 23. Wie groß der Unterschied zwischen den totalitären Diktaturen der 1930er Jahre war, zeigte sich 1937 eindrucksvoll auf der Weltausstellung in Paris. Während sich die Architektur des sowjetischen Pavillon dem zukunfts- und fortschrittsbesessenen »Dynamismus der Moderne« verschrieben hatte, brachte der direkt gegenüber errichtete Pavillon des nationalsozialistischen Deutschlands »mit ewigkeitsbesessenen Monumenten der Unbeweglichkeit« ein anderes Zeit- und Moderneverständnis zum Ausdruck. Vgl. SCHLÖGEL, Terror und Traum, S. 274f. Ausführlich ZOPFF, Maria Christina: Ein Rundgang im Sowjetischen Pavillon der Weltausstellung 1937 in Paris. Architektur, Bauplastik, Wandmalerei in ihrer Aussage und Bedeutung, in: Harten, Jürgen u.a. (Hg.): »Die Axt hat geblüht …«: Europäische Konflikte der 30er Jahre in Erinnerung an die frühe Avantgarde, Düsseldorf 1987, S. 426-429; DIES.: Die sowjetischen Pavillons auf den Weltausstellungen 1937 in Paris und 1939 in New York, in: Gaßner, Hubertus/Schleier, Karin/Stengel, Irmgard (Hg.): Agitation zum Glück. Sowjetische Kunst der Stalinzeit, Bremen 1994, S. 60-63; DIES.: Die sowjetischen Pavillons der Weltausstellungen 1937 und 1939. Kunst und Architektur als Spiegel und Medium der Selbstdarstellung der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, Diss., Univ. Hamburg 1994.
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keit der rigorosen Umgestaltungspolitik zu vergewissern. Die an Opfern und Leiden, aber auch an Helden und Siegen reiche Vergangenheit schien geradezu nahtlos – unter Umgehung der Gegenwart mit ihren unbewältigten Problemen und drückenden Unsicherheiten – in die glorreiche Zukunft überzugehen. Selbst die fernen Epochen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wurden »von der utopischen Gegenwart besetzt […] [A]uch in der Tiefe der Zeiten […] sah man nur Stalin, sowjetische Fahnen und das optimistisch in die Zukunft blickende Volk.«24 Das Vergangene hatte keinen Eigenwert; es verkam zur Vorgeschichte des Auf baus von Sozialismus und Kommunismus. Vormals lebendige Traditionen wurden in Form von Folklore konserviert und als Volkstanzgruppe oder Museumsexponat in den Sowjetmedien ausgestellt.25 Der gigantische Trümmerhaufen der Geschichte, den die stalinistische Industriestaatsdiktatur aufgeworfen hatte, verwandelte sich zum recyclebaren Bauschutt für die neue kommunistische Welt. So nutzten die stalinistischen Ingenieure den Marmor der 1931 zerstörten Moskauer Christi-Erlöser Kathedrale zum Bau pompöser Metrostationen, die mit ihren zivilreligiösen Verweisungen und Heilsgewissheiten als neue Kirchen im Untergrund erschienen.26 Wer auf den Rolltreppen in die Moskauer Metro einfuhr, tauchte ein in die Welt der kommunistischen U-Topie, in der die »Realisierung des Unmöglichen, das Sich-Einrichten im Nichts« eindrucksvoll in Szene gesetzt war.27 Er wurde mitgenommen auf eine Erkundungsreise in die schöne, neue Welt von morgen, in der alle Sowjetmenschen in einer technologischen Superzivilisation friedlich zusammenlebten.28 Der Glanz, die Sauberkeit und Ordnung stellten entsprechende Anforderungen an das Verhalten und Benehmen der Fahrgäste. In der Metro ging es um das Einüben urbaner Zivilisationstechniken, um die Aneignung dessen, was die Parteipropaganda als kul’turnost’ deklarierte. Hier »lernt Moskau zivilisiert zu sein.«29 Geradezu typisch für die stalinistische Indienstnahme der Vergangenheit für die Zukunft war die Inthronisation des Dichters Alexander Puschkin zum 24. GROYS, Boris: Die Erfindung Rußlands, München, Wien 1995, S. 162. 25. Vgl. MILLER, Frank Justus: Folklore for Stalin. Russian Folklore and Pseudo-
folklore of the Stalin Era, Armonk 1990; HIRSCH, Francine: Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of Soviet Union, Ithaca 2005. 26. JENKS, Andrew: A Metro on the Mount. The Underground as a Church of Soviet Civilization, in: Technology and Culture 4, 2000, S. 697-724; SAMBUK, Daria: Die Stadt im Untergrund, in: Rüthers, Monica/Scheide, Carmen (Hg.): Moskau. Menschen – Mythen – Orte. Köln, Weimar 2003, S. 157-164; BOUVARD, Josette: Symbolische Architektur der Stalin-Ära. Die Moskauer Metro, in: Pribersky, Andreas/Unfried, Berthold (Hg.): Symbole und Rituale des Politischen. Ost- und Westeuropa im Vergleich, Frankfurt a.M. 1999, S. 119-133. 27. GROYS, Die Erfindung Rußlands, S. 161. 28. Zur Moskauer Metro vgl. bes. auch NEUTATZ, Dietmar: Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus (1897-1935), Köln, Weimar 2001. 29. SCHLÖGEL, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München, Wien 2003, S. 487.
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Klassiker der russischen und sowjetischen Literatur. Nach 1917 war Puschkin von den Revolutionären noch als Protagonist des »Goldenen Zeitalters« des russischen Feudaladels verfemt worden. Der bekannte Sowjetliterat Valdimir Majakovskij hatte mit antihistorischem Pathos sogar die Forderung erhoben, Puschkins Werk »vom Dampfer der Gegenwart« ins Meer des Vergessens zu stoßen. Anlässlich des 100. Todestages stieg der angefeindete »Vertreter der Aristokratie« 1937 dann aber zum »Genossen Puschkin« auf. Das ganze Jahr über kam es in der Sowjetunion zu kulturellen Festveranstaltungen. Deren gesamter Aufwand zielte darauf, den großen russischen Dichter ins Zentrum der literarischen Öffentlichkeit zu rücken, der stalinistischen Kultur ein historisches Fundament zu geben und ihr durch den Rekurs auf die Autorität großer Literatur Legitimation zu verleihen. Puschkin-Zitate und Politslogans verschmolzen in der Parteirhetorik. In Nachbarschaft und Ergänzung zu übergroßen Stalin- und Lenin-Denkmälern bevölkerten neue PuschkinSkulpturen bald allerorten den öffentlichen Raum. In einer Zeit, in der die sowjetischen Alphabetisierungskampagnen eine Heerschar von neuen Lesermassen geschaffen hatten, bedeutete für Abermillionen die Puschkin-Lektüre den parteistaatlich sorgfältig überwachten Zugang zur Welt der Bildung und des Wissens, der Literatur und Kultur. Der große russische Dichter diente den stalinistischen Seelenhermeneutikern und Kulturfunktionären dazu, im multiethnischen Sowjetimperium die Hegemonie des Russischen festzuschreiben. Wer Puschkin im offiziell verordneten Sinne las, galt als kul’turnyj, als kultivierter und gebildeter »neuer Mensch«, der die universalen Werte der Sowjetzivilisation internalisiert hatte.30 Das Puschkin-Buch gesellte sich zum Parteibuch. Bei seiner Lektüre sollte der Sowjetleser nicht wehmütig oder gar nostalgisch zurück auf die untergegangene Kultur des russischen Kaiserreiches blicken, sondern nur nach vorne in die lichte Zukunft des Kommunismus.31 Die Zukunftsbesessenheit der Sowjetmoderne schlug sich in einem charakteristischen Planungs- und Wirtschaftsstil nieder. Seit den ersten Fünfjahresplänen war die »genetische Planung« in die Defensive geraten, die vom Bestehenden ausging, um im Horizont des Möglichen ehrgeizige Planvorgaben zu berechnen. Stattdessen hatte sich eine »teleologische Planung« durchgesetzt, die Wunschzahlen zu Planziffern erhob, um den Kosmos des Unmöglichen zu erschließen.32 Die Planungsweise führte zu einem entgrenzten soci30. VOLKOV, Vadim: The Concept of kul’turnost’: Notes on the Stalinist Civilizing Process, in: Fitzpatrick (Hg.), Stalinism, S. 210-230; HOFFMAN, David L.: Stalinist Values. The Cultural Norms of Soviet Modernity, 1917-1941, Ithaca 2003. 31. Zum Puschkin-Jubiläum 1937 vgl. zusammenfassend SCHLÖGEL, Terror und Traum, S. 198-217; PETRONE, Karen: »Life has become more joyous, comrades«. Celebrations in the Time of Stalin, Bloomington 2000, S. 113-148. 32. Zum sowjetischen Planungs- und Wirtschaftsstil vgl. bes. LEWIN, Moshe: The Disappearance of the Planning in the Plan, in: Slavic Review 32, 1973, S. 271-287; RUTLAND, Peter: The Myth of the Plan. Lessons from Soviet Planning Experience, London 1983; Z ALESKI, Eugène: Stalinist Planning for Economic Growth, 1933-1952, Chapel Hill 1980; DAVIES, Robert W.: Crisis and Progress in the Soviet Economy, 1931-
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al engineering unter den Bedingungen des permanenten Ausnahmezustands. Dem Erreichen der Industrialisierungspläne hatten sich alle anderen Aufbautätigkeiten zu unterwerfen. Während so mächtige Industriezentren wie die Stahlmetropole Magnitogorsk im Südural aus dem Boden gestampft wurden und mit ihren gigantischen Hochöfen alle Blicke auf sich zogen, versanken vormals wohlhabende Dörfer infolge der Zwangskollektivierung in Not, Hunger und Elend. Selbst an den Geburtsorten der industriellen Sowjetzivilisation ließen sich das Unfertige und Provisorische des sozialistischen Aufbauwerkes kaum übersehen. Die halbwegs funktionierende industrielle Infrastruktur war oftmals in eine mangelhafte und brüchige sozialkulturelle Infrastruktur eingebettet. Die Großbaustellen erwiesen sich als Räume des Zeitbruchs, in denen es neben den modernsten Maschinen weiterhin primitivste Handarbeit gab und großartige Industrietempel ihren Schatten auf erbärmliche Slumsiedlungen warfen. Das Verheißungsvolle und Unheilsvolle koexistierten nicht nur, sondern waren kaum lösbar miteinander verschränkt.33 Die vorwärtsdrängende Sowjetzivilisation hatte ihre Potentiale und Ressourcen oftmals weit überschätzt. Der Modernisierungsimpuls versandete häufig schon in Reichweite der neu errichteten Zitadellen des Fortschritts. Abermillionen sowjetischer Kolchosbauern und zugewanderter Stadtbewohner konnten über mehrere Generationen hinweg ein trauriges Lied davon singen. Die Moskauer Planungsstrategen waren offensichtlich zu viele und zu große Projekte auf einmal angegangen. In einem lichten Moment, in dem Stalins Wirklichkeitswahrnehmung sich nicht im verblendeter Wunschdenken erging, beschwerte sich so der »große Führer« über den vorgelegte Plan für das Jahr 1948: »Der Plan ist sehr aufgebläht und geht über unsere Kräfte. Man sollte nur Geld für anlaufende Projekte ausgeben und sich nicht bei vielen anderen Projekten verzetteln. Allerlei Unsinn wird an neuen, unbesiedelten Orten gebaut und viel Geld verschwendet. Man sollte die alten Unternehmen erweitern. Unsere Planer sind Lumpen, sie planen alle nur neue Fabriken und übertreiben den Bau.«34 Der Zeitdruck und der Zukunftsstress, den die Parteiführer sich und der gesamten Gesellschaft zumuteten, führten offensichtlich zu hohen Kosten. Sie schlugen sich in einer verwahrlosten Sowjetmoderne nieder, deren Bankrotterklärung die Gesellschaftsmanager des Kremls nur durch immer neue waghalsige Vorhaben vermieden, um endlich den herbeigesehnten gesellschaftlichen Fortschritt durch die Flucht nach vorne zu erzwingen. Die Planung verkam immer mehr zur schwindelerregenden Projektemacherei. 1933, Basingstoke 1996; SHEARER, David: Industry, State, and Society in Stalin’s Russia, 1926-1934, Ithaca 1996; GREGORY, Paul: Behind the Façade of Stalin’s Command Economy, Stanford 2001. 33. Ausführlich GESTWA, Klaus: Die »Stalinschen Großbauten des Kommunismus«. Technik- und Umweltgeschichte der Sowjetunion, 1948-1968, Habil.-schrift, Univ. Tübingen 2007, bes. Kap. 4. 34. So die Aufzeichnung von V. A. Malyšev in seinem Tagebuch, zit.n. CHLEVNJUK, Oleg: Die sowjetische Wirtschaftspolitik im Spätstalinismus und die »Affäre Gosplan«, in: Osteuropa 50, 2000, S. 1031-1047, hier S. 1036.
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Knappe Investitionsmittel mussten auf zu viele Großbaustellen umverteilt werden, so dass allerorten Mangel herrschte und die Bauarbeiten kaum fristgerecht zu Ende gebracht werden konnten.35 So sehr im Rückblick dem Historiker das Dysfunktionale und Irrationale des Stalinismus ins Auge springt, so wenig darf er zugleich aus dem Blick verlieren, dass betroffene Sowjetmenschen der Mühsal ihres Alltags oftmals als notwendiges Opfer für das sozialistische und später kommunistische Aufbauwerkes einen Sinn zuschrieben, um ihrem Leben Bedeutung zu geben. Harte Arbeit heute sei der Preis, den sie für das schöne Leben morgen bezahlen müssten. Die spätere Dissidentin Raisa Orlova berichtete in ihren Memoiren davon, dass sie und viele ihrer Altersgenossen in den 1930er Jahren vom Gefühl ergriffen waren, in einer »Zeit der großen Taten« zu leben und »der Zukunft entgegenzurasen«. Auf dem Marsch in das kommunistische Paradies stellten die unter großen Opfern errichteten Großbauten wichtige Wegzeichen dar, die eindrücklich bewiesen, dass das Land den rechten Weg eingeschlagen habe. Wie Orlova hatten auch andere das Gefühl, nicht für das Hier und Heute der Gegenwart, sondern für die Zukunft zu leben. Sie verachteten das Traditionelle und sahen im Kommunismus nicht ein fernliegendes Erzeugnis politischer Science Fiction, sondern meinten, seinen Anbruch schon zu erfahren. Zusammengehalten durch einen euphorischen Zukunftsdiskurs, waren Erwartung und Erfahrung trotz aller Zumutungen und Unerträglichkeiten der verwahrlosten Sowjetmoderne noch nicht auseinander gefallen. Der atemberaubende Wandel der Sowjetunion hin zu einer Industriegesellschaft und die optimistische Atmosphäre überwältigten selbst kritische Köpfe der sowjetischen Intelligencija. So schrieb Boris Pasternak im April 1935 an Olga Freudenberg, er sei »voll des Glaubens an das, was bei uns geschieht. Vieles befremdet, weil es ungeschlachtet ist, aber dann staunt man wieder. Immerhin […] hat man noch nie so weit und mit so viel Würde in die Zukunft geblickt, und das aus derart echten, unkonventionellen Beweggründen.«36 Selbst denjenigen, die wie der Bauer Andrej Aršilovskij mutmaßten, dass die glorreichen Auf bauprojekte als Täuschungsmanöver vor allem der Prahlerei dienten, mussten eingestehen, dass von den »schönen Phantasien […] das raue Leben ein wenig glatter« wurde. Mit großem Bedauern vertraute Aršilovskij seinem Tagebuch an, dass sich bei ihm der von der Propaganda verbreitete Rauscheffekt nicht bemerkbar mache. Er deutete dies als Charakterschwäche: »So ein Mensch bin ich eben – ohne beflügelnde Phantasie und Begeisterung.«37 Wie unbarmherzig ausgrenzend die offiziell inszenierte Zukunftsgläubigkeit wirkte, beschrieb Nadeshda Mandel’stam in ihrer Autobiographie: »Wer 35. Zur »Projektemacherei« im Bereich der Energiewirtschaft vgl. GESTWA, Die »Stalinschen Großbauten des Kommunismus«, Kap. 3 und 4. 36. Die Zitate von Orlova und Pasternak finden sich bei FIGES, Die Flüsterer, S. 290, 292. 37. GARROS, Véronique/KORENEWSKAJA, Natalija/L AHUSEN, Thomas (Hg.): Das wahre Leben. Tagebücher der Stalin-Zeit, Berlin 1998, S. 64, 101ff.
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wußte, daß man die Gegenwart nicht auf den Steinen der Zukunft bauen kann, mußte sich schon von vornherein mit seinem unausweichlichen Ende abfinden und auf seine Erschießung gefaßt sein.«38
2. Drei Repräsentationen des sowjetischen social und soul engineer ing Die Sowjetmoderne brachte ihre Machtdispositive besonders durch drei eingängige und vereinnehmende Repräsentationen zur Anschauung. Sie ergingen sich trotz ihres visionären Charakters nicht in Fantasien und Schwärmereien. Als gedachte Zukunftsordnungen und Leitbilder vermaßen sie die Landschaften kollektiver Aspirationen. Ihr Entwurf galt als Vorgabe zur Neugestaltung von Gesellschaft. Die Repräsentationen wirkten damit als mächtige Handlungsressourcen und organisierte Bereiche sozialer Praxis, sie schrieben sich auf vielfältige Weise fest in den Alltag der Sowjetmenschen ein.39
2.1 G ROS SBAUS TELLE , FABR IK UND M A SCHINE : A UFBAU -, S CHMIEDE - UND V ER SCHMEL ZUNGSRHE TOR IK Von Beginn der Sowjetgeschichte an erschien die Großbaustelle (velikaja strojka) als »Raum des enthusiastischen Willens« 40 und als Geburtsort einer neuen Welt, die sich im Zeitraffer entwickelte und mit ihrer raumbewältigenden Macht jegliche Grenzen und störende Teilungen überwand. So verkündete die Moskauer Propaganda, die gigantischen Kanäle und Flusskraftwerke würden »gleichsam eine Tür in ein neues Land aufreißen […], ein Land mit neuen Städten, Dörfern, verschiedenartiger Produktion, kulturellen Instituten und Institutionen.« 41 Die sowjetischen Medienbosse spürten im realen sowjetischen Raum in die Zukunft weisende Einzelmerkmale auf und montierten diese zu einem sozialistischen Schönwetterland zusammen, um die Gren38. MANDEL’STAM, Nadeschda: Der Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiographie, Frankfurt a.M. 1991, S. 135f. 39. Zur Wirkung sozialer Repräsentationen vgl. APPADURAI, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996, S. 31ff.; CHARTIER, Roger: Kulturgeschichte zwischen Repräsentation und Praktiken, in: Ders. (Hg.): Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Frankfurt a.M. 1992, S. 7-23. Der hier verwendete Begriff der Repräsentation orientiert sich am Konzept des Sonderforschungsbereich 640 »Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel« an der Humboldt-Universität Berlin; vgl. BABEROWSKI, Jörg/K AELBLE, Hartmut/SCHRIEWER, Jürgen (Hg.): Selbstbilder und Fremdbilder: Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel, Frankfurt a.M. am Main 2008. 40. K AGANSKIJ, Vladimir: Kul’turnyj landšaft i sovetskoe obitaemoe prostranstvo, Moskva 2001, S. 142. 41. WELITSCH, W. : Die Eroberung der Wüste Karakum, Leipzig 1952, S. 15f., 39, 85.
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zen zwischen Wirklichkeit und Metapher, zwischen Präsens und Futur verschwimmen zu lassen. Die unaufhörlich und aufwändig inszenierte Repräsentation des vorwärtsstürmenden Sowjetlandes als Großbaustelle ging mit mechanisch-technischen Topoi einher. Schon vor der Oktoberrevolution hatte im Zarenreich, das sich im industriellen Auf bruch befand, eine Lokomotiven- und Maschinenmetaphorik breiten Anklang gefunden. Die literarische Gruppe der Futuristen bezeichneten sich selbst als »Psychoingenieure«. Sie bemühten sich um die »Technologisation des Wortes«, um so den modernen Menschen besser »umschmieden« zu können. 42 Nicht nur Protagonisten der sogenannten Proletpoesie wie Aleksej Gastev, sondern auch andere Vertreter der sowjetischen Avantgarde-Kultur träumten von der Verschmelzung von Fleisch und Stahl, von Mensch und Maschine zu einen neuen Wesen, das dazu auserkoren sei, dem industriellen Fortschritt den Weg in die Gesellschaft zu bereiten. Der Künstler Kazimir Malevič verklärte »Fleisch und Maschine als die Muskeln des Lebens. Beide sind Körper, in denen der Mensch lebt.« 43 In ihren Identitätsprogrammen für den neuen Sowjetmenschen legten die Funktionäre der entstehenden Gesellschaften für Körperkultur ( fizkul’tura) all ihren Mitgliedern nahe, »sich wie Stahl zu härten«. 44 Im populären Massenlied »Der Fliegermarsch«, das bereits zu Beginn der 1920er Jahre bekannt war und 1933 zum offiziellen Marsch der sowjetischen Luftflotte wurde, hieß es: »Uns hat der Verstand stählerne Hände gegeben – die Flügel, und anstelle des Herzens einen feurigen Motor.«45
Die Metaphorik von Eisen und Maschine ergriff nicht nur die kulturelle, sondern auch die politische Elite. So hatte sich der »große Führer« schon im vorrevolutionären Untergrund den Kampfnamen »Stalin« (Der Stählerne) ausgesucht. Er sah die Bolschewiken im Unterschied zu anderen Menschen aus einem »anderen Material« gemacht. In seinem mechanizistischen Weltbild erschien der Staat als Maschine, die Partei als Räderwerk mit Keilreimen, die Gesellschaft als Fabrik und die Natur als schier unendliches Energie- und
42. HELLEBUST, Rolf: Flesh to Metal. Soviet Literature and the Alchemy of Revolution, Ithaca 2003, S. 62ff. 43. Zit. n. ebd., S. 67. 44. ATTWOOD, Lynn/KELLY, Catriona: Programmes for Identity. The »New Man« and the »New Woman«, in: Kelly, Catriona/Shepherd, David (Hg.): Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881-1940, Oxford 1998, S. 256-290, hier S. 268f. 45. BRÜGGEMANN, Karsten: Von Krieg zu Krieg, von Sieg zu Sieg. Motive des sowjetischen Mythos im Massenlied der 1930er Jahre. Einführung, Texte, Übersetzungen, Hamburg 2002, S. 31, 120f. Zu diesem Lied vgl. auch ROTHSTEIN, Robert A.: The Quiet Rehabilitation of the Brick Factory. Early Soviet Popular Music and its Critics, in: Slavic Review 39, 1980, S. 373-388, bes. S. 380; NELSON, Amy: The Struggle for Proletarian Music. RAPM and the Cultural Revolution, in: Slavic Review 59, 2000, S. 101-132, bes. S. 119f.
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Grenzfälle?
Rohstofflager. 46 Zum Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnete Stalin die einfachen Sowjetmenschen in einer offiziellen Rede sogar als »Schrauben, die für das Funktionieren unseres riesigen Staatsapparates in allen seinen Bereichen sorgen.« 47 In den 1930er Jahren hatten die Chefagitatoren und Medienbosse des Kremls die aus dem Boden gestampfte Stahlmetropole Magnitogorsk überschwänglich als »Fabrik zur Umformung von Menschen« und die Unterkünfte der neuen Industriearbeiter, so elend sie sich auch darstellen mochten, als »Schmieden der proletarischen Kultur« gefeiert. 48 Schon 1925 hatte Nikolaj Bucharin in der Sprache des Taylorismus erklärte: »Wir gehen zur Standardisierung der Intellektuellen über, wir fabrizieren sie wie in der Fabrik.« 49 Stalin berief die Schriftsteller dann 1932 zu »Ingenieuren der menschlichen Seele«,50 denen bei der Formung der »neuen Menschen« und beim »Umschmieden« (perekovka) von kriminellen und politischen Häftlingen eine zentrale Aufgabe zufalle.51 Das in den 1930er Jahren ausufernde Lagersystem des GULag wurde zum Auffangbecken all jener Menschen, die nicht in die Gussform der erwünschten Sowjetpersönlichkeit passten, und hier im Schmelztiegel von Zwangsarbeit und Gewalt umerzogen werden sollten.52 Ganz im Sinne Stalins verkam die Sowjetliteratur zu einer »verarbeitende[n] Industrie« und »schweren Artillerie«,53 deren lautes Donnern die Auf bruch46. BEYRAU, Dietrich: Das bolschewistische Projekt als Entwurf und als soziale Praxis, in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 13-39, bes. S. 25ff. 47. STALIN, Werke, Bd. 15, S. 22. 48. KOTKIN, Stephen: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995, S. 50, 71f, 180, 184, 191. 49. HELLER, Leonid/NIQUEUX, Michel: Geschichte der Utopie in Russland, Bietigheim-Bissingen 2003, S. 241. 50. So geschehen in seiner Rede vor Schriftstellern in der Privatresidenz von Maxim Gor’kij am 26. Oktober 1932. Der genaue Wortlaut der Rede ist nur durch Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zuhörer überliefert. Nach neuen archivalischen Funden finden sich die wichtigen Auszüge des rekonstruierten Redetextes in GUTKIN, Irina: The Cultural Origins of the Socialist Realist Aesthetic, 1890-1934, Evanston 1999, S. 51. Vgl. auch die anschauliche Schilderung bei WESTERMAN, Frank: Ingenieure der Seele. Schriftsteller unter Stalin – Eine Erkundungsreise, Berlin 2002, S. 38ff. 51. Zum Topos des »Umschmiedens« (perekovka) vgl. zusammenfassend C ARLETON, Greg: Genre in Socialist Realism, in: Slavic Review 53, 1994, S. 992-1009. 52. WESTERMAN, Ingenieure der Seele, S. 61-82; KLEIN, Joachim: Belomorkanal. Literatur und Propaganda in der Stalinzeit, in: Zeitschrift für Slavische Philologie 55, 1995/96, S. 53-98; RUDER, Cynthia A.: Making History for Stalin. The Story of Belomor Canal. Gainesville 1998; TOLCZYK, Dariusz: See No Evil: Literary Cover-Ups and Discoveries of the Soviet Camp Experience, New Haven, London 1999; PRIESS, Sebastian: Strafe und Textproduktion. Apologetisches Bekenntnis und literarische Kompensation, Diskurse über Lagerhaft, Frankfurt a.M. 2002. 53. GUSKI, Andreas: Literatur und Arbeit. Produktionsskizze und Produktionsroman im Russland des 1. Fünfjahresplans (1928-1932), Wiesbaden 1995, S. 239.
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und Sturmatmosphäre der ersten Fünfjahrespläne im gesamten Land verbreitete. Auf den literarisch aufwändig in Szene gesetzten Großbaustellen sollten ein entgrenzter Enthusiasmus und eine soziale Ekstase die Bauarbeiter im Strudel von Fortschritt und Revolution mitreißen. Komplexe Konstruktionsund Produktionsprozesse reduzierte der neue Heroismus auf den einfachen Kampf zwischen Mensch und Natur. Kräne, Bagger und Lastwagen, Beton und Stahl, Baugruben und Rohbauten schufen ein Panorama, in dem der »neue Mensch« den sich heftig wehrenden Naturgewalten kraftvoll trotzte und diese letztlich in seinem Titanenkampf unterwarf. Die mechanisch-heroischen Semantiken des Auf baunarrativs verschleierten genauso wie die schönfärberischen Statistiken zum fortschreitenden Einsatz neuer, immer leistungsfähigerer Maschinen, dass die Nutzung der »beste[n] Technik der Welt«54 erhebliche Probleme aufwarf. Die gigantischen Maschinen- und Fuhrparks verwandelten sich so häufig in »Friedhöfe der Fahrzeuge«. Angesichts der hohen Ausfallquote und des fortgesetzten Mangels an Ersatzteilen gingen die Leiter vieler Baustellen dazu über, jeden dritten Bagger, Bulldozer, Traktor und Lastwagen als Ersatzteillager zu nutzen, um andere Baumaschinen und Fahrzeuge betriebsfähig zu halten. Ausgeschlachtete Karosserien, die wie technische Skelette wirkten, gehörten damit zum Erscheinungsbild der Großbaustellen. Gegen diese weit verbreitete Form des »Maschinenkannibalismus« zogen Parteifunktionäre wiederholt in den Kampf, ohne daran allerdings etwas Grundsätzliches ändern zu können.55 Auch nach 1953 setzte sich die mechanisch-technische Semantik weiter fort. In den Werken der damals populären Schriftsteller Evgenij Evtušenko und Andrej Voznesenskij gab es genauso wie in der Prosa des späteren Dissident Vasilij Aksenov eine viel benutzte Metaphorik von Eisen und Maschine.56 Die neuen bahnbrechenden Technologien wie Raketen, Atomkraft und Computer leiteten eine »wissenschaftlich-technischen Revolution« ein, an deren Ende das kommunistische Paradies auf Erden Gestalt angenommen haben würde, um den Menschen die Erlösung von Not, Unbill und allen Erschwernissen zu bringen. Ein besonders beeindruckendes Monument dieser Zeit ist die 1980 aus Titanium errichtete, 40 Meter hohe Gagarin-Skulptur im Moskauer Stadtzentrum. Das Monument stellt den ersten Raumfahrer der Welt als Raketenmenschen dar, dessen Körper mit der Rakete verschmilzt. Gekleidet in einem einer mittelalterlichen Rüstung ähnelnden Raumanzug, reckt er sich kühn dem Himmel entgegen. Auch wenn dieser stählerne Übermensch Gagarin seine Arme nicht ausgestreckt, sondern an seinem Körper angewinkelt hat, so vermittelt das Denkmal doch den Eindruck einer Kreuzigung und damit die Vorstellung, dass sich der bei einem Flugunfall verstor-
54. ZUMM, Alfred: Der W.-I.-Lenin-Wolga-Don-Schiffahrtskanal, in: Wissenschaft und Fortschritt 1952, S. 291-293, hier S. 292. 55. Zum »Maschinenkannibalismus« vgl. die Karikatur in: Krokodil 1954, H. 31, S. 4. Ausführlich GESTWA, Die »Stalinschen Großbauten des Kommunismus«, Kap. 4. 56. HELLEBUST, Flesh to Metal, S. 129-140.
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bene Gagarin als »großartiger Sohn der Heimat« für das Wohl des gesamten Sowjetvolkes geopfert habe.57
2.2 D IE » GROS SE FAMIL IE DE S S OWJE T VOLKE S « AL S NEUE G EME INSCHAF T SRHE TOR IK Der stalinistische Terrorstaat zerstörte auf seinen Industrialisierungs- und Kollektivierungsfeldzügen mit aller Macht alte Bande, Solidaritäten und Loyalitäten innerhalb von Gemeinschaft und Familie. Seinen Imperativen der Destruktion folgend, löste er soziale Zusammenhänge auf und schuf eine atomisierte Gesellschaft. Sie zeichnete sich zudem durch eine wachsende Vaterlosigkeit aus, weil viele Väter den Repressionswellen der 1930er Jahre zum Opfer gefallen waren und später während des »Großen Vaterländischen Krieges« ihr Leben verloren.58 Diese Zerstörungen des sozialen und familiären Zusammenhalts versuchte die stalinistische Bildermaschine durch eine neue Gemeinschaftsrhetorik zu kompensieren. Dabei kam der Großbaustelle als soziale Repräsentation erneut eine wichtige Rolle zu. Als »symbolischer Ort der Völkerfreundschaft«59 wurde dieses Schlachtfeld der Industrialisierung medial zur einheitsverkörpernden Öffentlichkeit und vorgestellten Gemeinschaft hochstilisiert. Hier treffe man – so die Propaganda – »Menschen aus allen Ecken unserer unermesslichen Heimat«.60 Ergriffen vom »lebensspendenden Sowjetpatriotismus«,61 finden sie im enthusiastischen Arbeitseinsatz zueinander und verschmelzen als »sowjetische Völkergemeinschaft« zu »einer einträchtigen Familie«.62 Die neue welthistorische Superethnie des »Sowjetvolkes« erschien nicht als eine über Jahrhunderte hinweg organisch gewachsene historische Einheit, sondern als ein durch den enthusiastischen Auf bauwillen und durch die gewaltigen Unternehmungen des Parteistaates neu ins Leben gerufenes Großkollektiv, das sich sodann im Rückblick eigene Traditionen erfand und sich damit selbst historische Tiefe zuschrieb.63 57. Ein gutes Foto findet sich z.B. auf (URL: ]\[`lfakÛngfÛ