Die Ohnmacht des Spekulativen: Elemente einer Poetik von Hegels "Phänomenologie des Geistes" 3770565401, 9783770565405


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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
Kapitel 1 Phänomenologie des Geistes als ein literarischer Text – Ansätze und Konsequenzen
1.1 Hegel verleugnen
1.2 Poetik?
1.3 Phänomenologie des Geistes?
1.4 Phänomenologie als Literatur, buchstäblich: Gattungen und Affinitäten
1.5 Literarische Phänomenologie: vom Geist zur Entgeisterung
1.6 Literaturproblem
1.7 Fazit (frühzeitig)
Kapitel 2 Intertextualität in der Phänomenologie des Geistes, oder: Vom Indiskreten des Dialogs
2.1 Ideengeschichtliche Vorüberlegungen
2.2 Zitat 1. Spaltungen der Partikularität
2.3 Zitat 2. Ausschweifung des Entfremdeten
2.4 Rameau revenant: Zur Hinfälligkeit der Dialektik
Kapitel 3 Den Geist ersetzen, oder: Die Kreditform der Dialektik
3.1 Reichtum und Eigentum in der Phänomenologie des Geistes
3.2 Geld als Text und als Lebensform
3.3 Zur Logik des Mammons (Zitat 3): Verflüssigung, Liebe und Ansteckung
3.4 Monetäre Ordnung der Aufklärung
3.5 Liebe und Vergeudung
3.6 Geldzeit
3.7 Gabe und Gleichgültigkeit
3.8 Über die Stellvertretung
Kapitel 4 Gewissheit des Geistes und politische Form
4.1 Des Geistes Selbstbegegnung
4.2 Akt 1: Moralität als Heuchelei
4.3 Akt 2: Einsamkeit des Gewissens
4.4 Koda: Schöne Seele, das Böse und die Verzeihung
4.5 Die erste Annäherung: Politisch lesen
4.6 Über die politische Ohnmacht
4.7 Spekulatives Sprachbinden
Kapitel 5 Schönheit der Seele, Unentrinnbarkeit der Ironie
5.1 Texte des Gewissens
5.2 Unaussprechliche Gemeinschaft
5.3 Politik der Singularitäten
5.4 Die ewige Ironie der Spekulation
5.5 Fazit: Lektüren lesen
Kapitel 6 Zum Ende: Poetik der Vergängnis
6.1 Notiz über eine Fußnote (in der Notiz über eine Fußnote)
6.2 Die Zeit, die schwächt
6.3 Zeit der Schrift
6.4 Elemente einer Poetik
6.5 Die letzten Zeilen, das vorletzte Wort
6.6 Stil und Zeit: Hegel, stotternd
Schlusswort: Über das Schutzlose
Literatur
Register
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Die Ohnmacht des Spekulativen: Elemente einer Poetik von Hegels "Phänomenologie des Geistes"
 3770565401, 9783770565405

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Die Ohnmacht des Spekulativen

jena-sophia STUDIEN UND EDITIONEN ZUM DEUTSCHEN IDEALISMUS UND ZUR FRÜHROMANTIK

Herausgegeben von Christoph Jamme und Klaus Vieweg Wissenschaftlicher Beirat Stephen Houlgate (Warwick) Francesca Iannelli (Rom) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Taiju Okochi (Tokyo) Robert B. Pippin (Chicago) Allen Speight (Boston)

Abteilung II – Studien Band 19

2021

Ivan Boldyrev

Die Ohnmacht des Spekulativen Elemente einer Poetik von Hegels „Phänomenologie des Geistes“

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT Umschlagabbildung: Jena – Blick vom Philosophengang (um 1800) kolorierte Radierung von F. W., Stadtmuseum Jena

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl. Dissertation, Institut für deutsche Literatur, Sprach- und literaturwiss. Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin, 2019 Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2021 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2629-8732 ISBN 978-3-7705-6540-5 (hardback) ISBN 978-3-8467-6540-1 (e-book)

Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix Kapitel 1 Phänomenologie des Geistes als ein literarischer Text – Ansätze und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Hegel verleugnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Poetik?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Phänomenologie des Geistes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.4 Phänomenologie als Literatur, buchstäblich: Gattungen und Affinitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.5 Literarische Phänomenologie: vom Geist zur Entgeisterung . . . . . 15 1.6 Literaturproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.7 Fazit (frühzeitig)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Kapitel 2 Intertextualität in der Phänomenologie des Geistes, oder: Vom Indiskreten des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Ideengeschichtliche Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.2 Zitat 1. Spaltungen der Partikularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.3 Zitat 2. Ausschweifung des Entfremdeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.4 Rameau revenant: Zur Hinfälligkeit der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . 37 Kapitel 3 Den Geist ersetzen, oder: Die Kreditform der Dialektik . . . . 47 3.1 Reichtum und Eigentum in der Phänomenologie des Geistes . . . . 48 3.2 Geld als Text und als Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.3 Zur Logik des Mammons (Zitat 3): Verflüssigung, Liebe und Ansteckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.4 Monetäre Ordnung der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.5 Liebe und Vergeudung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.6 Geldzeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.7 Gabe und Gleichgültigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.8 Über die Stellvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Kapitel 4 Gewissheit des Geistes und politische Form . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.1 Des Geistes Selbstbegegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.2 Akt 1: Moralität als Heuchelei  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.3 Akt 2: Einsamkeit des Gewissens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

vi

Inhalt

4.4 4.5 4.6 4.7

Koda: Schöne Seele, das Böse und die Verzeihung . . . . . . . . . . . . . . 92 Die erste Annäherung: Politisch lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Über die politische Ohnmacht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Spekulatives Sprachbinden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Kapitel 5 Schönheit der Seele, Unentrinnbarkeit der Ironie . . . . . . . . . . 125 5.1 Texte des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5.2 Unaussprechliche Gemeinschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 5.3 Politik der Singularitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.4 Die ewige Ironie der Spekulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5.5 Fazit: Lektüren lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Kapitel 6 Zum Ende: Poetik der Vergängnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6.1 Notiz über eine Fußnote (in der Notiz über eine Fußnote)  . . . . . 167 6.2 Die Zeit, die schwächt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6.3 Zeit der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 6.4 Elemente einer Poetik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 6.5 Die letzten Zeilen, das vorletzte Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.6 Stil und Zeit: Hegel, stotternd  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Schlusswort: Über das Schutzlose  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Danksagung Dieses Buch ist im sichtbaren und unsichtbaren Gespräch mit vielen Kolleginnen und Kollegen entstanden. Zu danken ist vor allem Joseph Vogl, der dieses – damals nur im Keim existierende – Projekt enthusiastisch unterstützte. Ohne Daseinsbedingungen, die er, auch durch seine ermutigende und wohlwollende Haltung, geschaffen hat, wäre diese Arbeit überhaupt nicht zustande gekommen. Genauso wenig wäre es ohne meine Frau Elena Mordmillovich gelungen, die mir und meinem Hegel-Fieber in all diesen Jahren beigestanden hat. Ich bedanke mich auch ganz herzlich bei Sascha Freyberg, dessen aufmerksame Lektüre und scharfsinnige Kritik den Text an vielen Stellen verbessert haben, und bei Christoph Jamme, dessen Hilfe, auch bevor ich mit diesem Projekt angefangen habe, kaum zu überschätzen ist. Ganz herzlich zu danken wären ebenfalls diejenige, die mir bei dieser Arbeit in verschiedener Weise geholfen haben, nämlich Andreas Arndt, Stephan Brändle, Dmitry Bugaj, Yuna Cho, Alexander Dobrochotov, Tom Drechsel, Eva Geulen, Anna Glazova, Bettina Henningsen, Ethel Matala de Mazza, Nelly Motroschilowa, Nikolaj Plotnikov, Sebastian Stein, Roman Widder, Burkhardt Wolf und Claus Zittel. Es schien mir ein wenig befremdend, einen Menschen zu erwähnen, der diese Danksagung nicht mehr lesen kann, ihn also, wie Benjamin einmal sagte, in einer Sprache zu grüßen, die er schon nicht mehr versteht. Aber die Präsenz Werner Hamachers (1948-2017), der von dieser Arbeit, wenn auch in skizzenhafter Zusammenfassung, gewusst hat, ist für mich mit einer tiefen Dankbarkeit verbunden, die ich auch hier gerne aussprechen möchte.

Einleitung Die anhaltende Faszination von Hegels Phänomenologie des Geistes liegt in dem Versprechen, alle Philosophien, alle jemals gedachten Gedanken in sich zu sammeln, zu integrieren und darzustellen. Sie präsentiert sich als eine Bildungsgeschichte des Bewusstseins, eine Kulturgeschichte, die selbst als eine solche versammelnde Bewegung gelten soll. Hegels Versprechen, alle nur vorstellbaren Positionen des Denkens als Geistesformen in den Bann seiner Spekulation einzubeziehen, verspricht uns noch mehr. Denn am Ende dieser Bewegung steht eine basale Vernünftigkeit und Stabilität, sprich der Sinn der Welt, deren letzte und höchste Verwirklichung Hegel 1807 im zukünftigen System des absoluten Wissens sah. Spekulative Rationalität verspricht also etwas, was jede mögliche Erwartung übersteigt und sich als Telos aller möglichen Handlungen präsentiert, weil sie, im Verfahren der immanenten Kritik, selber die Bewegung dieser Erwartungen und Handlungen ist. Dass dieses Versprechen unerfüllbar bleibt, wurde schon oft gezeigt. Bereits die ersten häretischen Hegelianer – Kierkegaard und Marx – haben einen neuen Rahmen für Hegels spekulative Dialektik gefunden, der zwar von ihr ausging, sie aber zugleich in Frage stellte. Hegels spekulativer Anspruch erwies sich dabei immer wieder als ein Scheitern. Eine solche Lesart war dem pessimistischen 20. Jahrhundert angemessen, denn die misslungene Synthese wurde schnell in das zu beobachtende regressive Zeitgeschehen zurückübersetzt. Noch wichtiger war es offensichtlich, Hegel mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen, indem sein Denkverfahren selbst zum Grund des Scheiterns erklärt wurde. Damit wurde angeblich das Recht des Heterogenen, Ausgeschlossenen, Verdrängten wiederhergestellt. Das vollkommen Andere, das sich in das Gefüge der spekulativen Vernunft nicht einordnen lasse, das Instabile, vielleicht auch Absurde erhielt dabei eine prominente Stelle in der Diskussion und war mit einer gewissen Geste der intellektuellen Emanzipation verbunden: Regression wurde gegen Repression ausgespielt. Im Unterschied zu den meisten neueren eher analytischen Lesarten, die – z.B. bei Robert Pippin oder Robert Brandom – die hegelsche Philosophie mit den heutigen Kontexten konfrontieren und in die Sprache der akademischen Philosophie übersetzen, wird in dieser Arbeit mit den vorher erwähnten Kritikern Hegels die Phänomenologie als ein Kunstwerk gelesen – sowohl im Angesicht seiner literarischen Form als auch im Sinne seiner Beschäftigung mit Literatur. Das entscheidende Problem im Umgang mit Hegels Text sehe ich in der Erzählbarkeit der Totalität. Denn für die Phänomenologie des Geistes ist

x

Einleitung

es wesentlich, die fremden, anzueignenden Gedankensysteme in „Gestalten“ – und zwar, mit Deleuze und Guattari gesprochen, sogar zumeist in „Begriffspersonen“ – zu organisieren, wobei sich zeigt, dass eine solche Organisation, die den Mittelpunkt von Hegels damaliger Philosophie bildete, als poetische anzusehen ist. Hegels Text, den ich zwar auch mit heutigen Augen lese, aber nicht aus seinen Zeitumständen herausreißen will, bleibt einzigartig in seinem philosophischen Bestreben, in seinem geschichtlichen Anspruch und in seiner literarischen Gestaltung. Mit dieser Arbeit möchte ich besonders dieser Gestaltung Rechnung tragen. Damit wird einerseits an die oben erwähnten Verteidiger der Heterogenität angeschlossen, um aber andererseits Hegels philosophisches Projekt, durchaus auch gegen sie, in einer neuen Lektüre zu restituieren. Zentral wird dabei eine elementare dialektische Operation – die Beschäftigung mit dem Anderen im Prozess des Sich-zum-Anderen-Werdens und dadurch – die Beziehung zwischen Fragilität und Entäußerung. Diese Operation wird in der Phänomenologie des Geistes genau dort sichtbar, wo der Geist selber – in der historischen Wirklichkeit – auftritt, wo Hegel die Moderne als Epoche der Zerrissenheit und die Gegenwart als Zeit der Rückkehr ins Innere behandelt, wo also das Spekulative sich in historischen Gestalten auslegt. Und genau bei dieser Auslegung möchte ich in Hegels Text, im Vollzug dieser Operation, die ästhetische „Idee“ sehen, die, folgt man K.W.F. Solgers Theorie der Ironie, durch ihre Entäußerungsstruktur zum Untergang verurteilt ist und eben deshalb zur Kunst gehört. Die Fragilität des hegelschen Kunstwerks, die Hinfälligkeit des (spekulativen) Schönen ist für meine Arbeit eine Leitidee, weil sich durch die Formanalyse auch die metaphilosophische Problematik der Darstellung des Ganzen zeigt. In dieser Hinfälligkeit treffen die spekulative Synthese und ihr (fiktives) politisches und historisches Pendant zusammen. Bevor sie sich aber treffen, soll im ersten Kapitel gezeigt werden, wie man Hegel als Dichter lesen kann – und wie man ihn, in der Literatur und in der Literaturwissenschaft, auf solche Weise schon gelesen hat. Den Philosophen in einen Dichter umzukleiden ist insofern wichtig, als die historische Auseinandersetzung in der Phänomenologie vor allem als Fiktion gedacht wird, indem Hegel die Gestalten des Geistes an exemplarischen Texten und Figuren verdichtet. Und an den anderen Deutungsversuchen wird sichtbar, wie der Umgang der spekulativen Methode mit Literatur beschreibbar ist: ob es um Integration des Literarischen in den Gang der Dialektik oder um deren Affinität mit Literatur geht, dabei wird dieser Kontakt immer als eine Gefahr thematisiert, die, unsichtbar für das spekulative System, das System unterminieren kann. Um dieser Gefahr im Verfahren der hegelschen Erzählung genauer nachzugehen, wird in den folgenden Kapiteln diese Erzählung an exemplarischen

Einleitung

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Stellen untersucht, nämlich auch dort, wo Hegel direkt an die literarische Tradition anknüpft. Es geht um die Lektüre von Rameaus Neffe von Diderot und um Hegels Auseinandersetzung mit den deutschen Denkern und Dichtern, vor allem mit Jacobi und Schlegel. Im Kapitel 2 wird das mimetische Verhältnis demonstriert, in dem Hegels eigene Logik zu Diderots Helden Rameau steht. Hegels Versuch, den Dialog mit Rameau zu beherrschen – mit der Figur, die plötzlich ihre Widerständigkeit und Devianz auch in Hegels Text zu verbreiten beginnt, – verweist auf seine verdrängte Faszination für diese exzessive Gestalt der Entfremdung, wodurch das ganze Geschäft der Aufhebung bedroht wird. Das Unterscheidungsvermögen, das uns helfen könnte, die Tollheit von der spekulativen Selbstentfremdung zu trennen, wird von dem Textverfahren selber desavouiert. Eine weitere metaphorische und geschichtsphilosophische Dimension kommt im Kapitel 3 in der Form des Geldes zur Geltung. Dieses Thema ist, wenn auch indirekt, in Hegels Diderot-Lektüre und allgemein in seiner Darstellung der Moderne stets präsent. Geld stiftet eine Ökonomie der Abstraktion und bringt die entfremdete Welt in Bewegung, indem es als Anpassungsmechanismus und als soteriologisches Mittel fungiert. Durch den Topos des Flüssigen und durch die eigentümliche Temporalität – die den Aufschub, das Kaufen von Zeit impliziert – wirkt das Geld als ein Doppelgänger des spekulativen Geistes und als ein geheimer Motor der Dialektik. Dialektische Zeitlichkeit legt zugleich die geschichtsphilosophische Diskussion nahe, die dann im Kapitel  4 an einem weiteren Fragment der Phänomenologie – an der Kritik von Kants Moralphilosophie und an der Entlarvung des romantischen Geistes – politisch konkretisiert wird. Hegels eigene Zeit koinzidiert dabei mit der Zeit des „seiner selbst gewissen Geistes,“ und die Beschreibung des zerfallenden deutschen Staates wird zur Metapher der im leeren Formalismus verkümmernden kantischen Philosophie und der kränklichen, zerstückelten romantischen Individualität, die sich selbst in der Verzeihung und Versöhnung überwinden soll. Die Situierung Hegels in seiner Geschichte, die auch messianische Figuren in der Phänomenologie sowie Hegels Sprachphilosophie behandelt, wird im fünften Kapitel mit der deutschen Literaturgeschichte konfrontiert, indem ich die Konzepte von Gewissen, Ironie, schöner Seele und romantischer Gemeinschaft als Gestalten, Orte der Kritik und Punkte der unwillkürlichen Konvergenz interpretiere. Die riskante Nähe zu Rameau verwandelt sich, als die Zeit der Erzählung immer knapper wird, in die drohende Identität von Hegel und Fr. Schlegel. Diese historische Berührung geht dann in eine ästhetische über, wenn Hegels philosophisches Verfahren im Lichte von Solgers Kunsttheorie des Ironischen gedeutet wird.

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Einleitung

Wird im Text des sich entfremdeten Geistes Geld zur Leitmetapher, erweist sich die Sprache als ein verwandter metaphorischer Hintergrund – auch als politisches Medium – für den Geist, der seiner selbst gewiss ist, so geht es im sechsten Kapitel, in der letzten, zusammenfassenden Darstellung nicht nur um „absolutes Wissen“ der Phänomenologie, sondern auch um einen rekapitulierenden Begriff – um die Zeit. Ihr Enden als Text, eine reflexive Bewegung, illustriert die Probleme der auktorialen Instanz in der Phänomenologie, deren eigenes Ende von der Perspektive des Absoluten zwar keinen Blick von außen zulässt, zugleich aber ohne sich diesem interpretativen auktorialen Blick preiszugeben, nicht zustande kommt. Dieses gefährliche Ausgesetzt-Sein der spekulativen Erzählung bestimmt die Verwundbarkeit und die Offenheit der phänomenologischen Dialektik, deren Scheitern – als Kunstwerk – hier gerettet werden soll. Dem Text seien noch zwei Überlegungen vorausgeschickt, die zugleich zwei Schwierigkeiten bezeichnen, als deren Bewältigung diese Arbeit zu verstehen wäre. Die erste könnte man als Problem der unendlichen Bibliothek bezeichnen. Anhand der unermesslich gewordenen Hegel-Literatur wäre jede neue Arbeit zugleich anfechtbar und unsichtbar, da dem Vorwurf ausgesetzt, alles Richtige an ihr sei ganz und gar sekundär. Ein Alptraum jedes Hegelforschers scheint es zu sein, in dieser Borgesianischen Bibliothek sein eigenes, gerade vollendetes Buch als eine längst schon erschienene, von jemand anderem verfasste, jedoch von ihm nicht wahrgenommene Studie zu entdecken. Diese Empfindlichkeit, die manche zur nervösen Verpflichtung bewegen könnte, alle unendlichen Hegel-Kataloge bis zum Ende lesen zu wollen, ist in dieser Arbeit für die neue Deutung des hegelschen philosophischen Projekts umfunktioniert. Denn in Hegels Phänomenologie des Geistes geht es ja auch darum, wenn nicht alle, dann die am meisten relevanten Texte im neuen Text aufgehoben zu sehen und jede mögliche Lektürehaltung in diesem zu erkennen. Und eben dieser Wunsch wird hier untersucht und an Hegels eigenem Text ermessen. Die zweite Schwierigkeit betrifft den Stil. Diese Arbeit ist aus einer gewissen Sprachlosigkeit entstanden. Ist das Deutsche nicht die eigene Muttersprache, so muss, indem man auf Deutsch zu philosophieren sucht, Hegel widersprochen werden. In der Sprache ist der Mensch produzierend […] es ist die erste, einfachste Form der Produktion, des Daseins, zu der er kommt im Bewußtsein; was der Mensch sich vorstellt, stellt er sich auch innerlich vor als gesprochen. Diese erste Form ist ein Gebrochenes, Fremdartiges, wenn der Mensch in einer fremden Sprache sich ausdrücken oder empfinden soll, was sein höchstes Interesse berührt. Dieser Bruch mit dem ersten Heraustreten in das Bewußtsein ist so aufgehoben;

Einleitung

xiii

hier bei sich selbst in seinem Eigentum zu sein, in seiner Sprache zu sprechen, zu denken, gehört ebenso zur Form der Befreiung. Dies ist von unendlicher Wichtigkeit (TWA 20, 52f.).

Frei sein heißt also für Hegel – bei sich, zuhause zu sein. Diese Innigkeit, mit welcher die eigene Sprache uns angehört, fehlt den Kenntnissen, die wir nur in einer fremden besitzen; sie sind durch eine Scheidewand von uns getrennt, welche sie dem Geiste nicht wahrhaft einheimisch sein läßt. (TWA 4, 315).

Hier wird aber versucht, in der für den Autor fremden, für Hegel aber eigenen Sprache, in der ich mich nie „einheimisch“, nie richtig sesshaft machen kann, eine andere „Befreiung“ zu entdecken. Das Brechen, das „Fremdartige,“ die immerwährende „Trennung,“ die diese sprachliche Selbstentfremdung begleiten, implizieren beides: eine Kritik Hegels für seine Inkonsequenz – denn er selbst sollte nach einem Bericht seinen Gedanken eine sprachliche Form geben, „so daß ihm jede Sprache gewissermaaßen als fremde erschien“1 – und ein Versuch, durch das Brechen der sprachlichen Immanenz sich der hegelschen Spekulation in ihrer heute noch haltbaren Gestalt anzunähern. Dieser letzten Aufgabe hofft die vorliegende Arbeit gerecht zu werden.

1 Ros. 361.

Kapitel 1

Phänomenologie des Geistes als ein literarischer Text – Ansätze und Konsequenzen Was sollte uns dazu veranlassen, Hegel als Dichter, als Verfasser einer fiktionalen Geistesgeschichte zu lesen? Und wie wurde das bisher getan? In diesem Kapitel gehe ich diesen Fragen nach, indem ich – allerdings ohne Anspruch auf Vollkommenheit – die vorläufige Klärung definitorischer und methodischer Aspekte vornehme und die Formen einer solchen Lektüre aufgreife, um hierdurch zu meiner eigenen Fragestellung zu gelangen. Es geht dabei nicht nur um eine Literatur- und Meinungsübersicht, sondern auch um die Legitimität einer solchen Fragestellung, um Interpretationsweisen der Phänomenologie in literaturhistorischen und komparatistischen Studien, aber auch um die Analyse eines Beispiels von Robert Menasse, bei welchem Hegels Text nun selbst mit fiktionaler Absicht angeeignet wird. Dadurch soll der Status des Literarischen in der Phänomenologie geklärt werden – als ein konstitutiver Bestandteil und als Problem. 1.1

Hegel verleugnen

Viele Versuche, mit Hegel zu denken, sind durch eine bekannte Formel von Foucault entweder rückblickend zusammengefasst oder antizipiert: um Hegel wirklich zu entrinnen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muß ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.1

Hier ist eine Eigenschaft des dialektischen Diskurses am Werk, der wir später in verschiedenen Formen begegnen werden: Hegels Denkbewegungen veranlassen den Leser, z.B. Foucault, sie in seinem Schreiben mimetisch zu verdoppeln, etwa die List der Vernunft als Denkfigur zu übernehmen. Zugleich zeichnet sich diese kritische Stellung durch eine Notwendigkeit aus, von Hegel loszukommen, ein Gegen-(Hegel-)Denken zu entwerfen. Vor 1 Foucault, Die Ordnung des Diskurses 45.



  

2

Kapitel 1

und nach Foucault sind inzwischen viele Lektüren solcher Art entstanden. Ob man sich das sich selber wiederholende Buch2 vorstellt; dazu aufruft, „sich nicht von Hegel einwickeln zu lassen […][,] die Anschuldigung des Formalismus gegen Hegel selbst zu richten und die spekulative Reflexion als Logik des Verstandes, als Tautologie zu denunzieren“3; das Denken und Dichten untersucht, das, von innen her, das Spekulatitve disloziert. Das es unbeweglich macht und untersagt – oder vielmehr es spannt, es in der Schwebe hält. Was es beständig hindert, an ein Ende zu kommen, und es, verdoppelnd, unaufhörlich von sich selbst entfernt, es zur Spirale höhlt, es untergräbt4

– oder über die „Irritation der Philosophie durch die Politik“5 reflektiert: Immer wieder wird das vermeintliche Versagen der Dialektik zum Ansatz- und Zielpunkt. Dieses immanente Versagen soll von der Widerständigkeit des Fremden oder Anderen verursacht worden sein. Die dekonstruktivistische Kritik der modernisti­schen Denkparadigmen gleicht dabei einer Übung in Philosophiegeschichte. Denn wenn wir etwa behaupten, dass das System (z.B. das philosophische System Hegels) von den ausgeschlossenen, ihr bewusst als extern gesetzten Elementen abhängt, mehr noch, dass ohne diese äußeren, ausgestoßenen Elemente keine systeminterne Logik zustande kommen kann, dann sind wir in die Position eines Ideenhistorikers gerückt, der enthusiastisch eine neue intellektuelle Filiation entdeckt und die bisher verdeckten Abhängigkeiten registriert. Meine Arbeit geht in eine ähnliche Richtung, indem sie die konstitutive Abhängigkeit der von Hegel entwickelten Denkform von den anderen, in der Phänomenologie des Geistes bewusst als aufgehoben wahrgenommenen oder verdrängten Stimmen untersucht. Die Phänomenologie ist uns insofern wichtig, als der Text als Prozess – als Narration – gewisse Effekte hervorbringt, die potentiell selbstzerstörend wirken können. Dass aber somit die Basis der Dialektik wackelig wird, hat in dieser Arbeit Konsequenzen, die eine im Ganzen neue und für manche vielleicht unerwartete normative Deutung erhalten sollen.6 2 „Livré au répétitif sans retour, ne heurte-t-il pas le système hégélien, à la façon d’un désastre?“ (Blanchot, L’écriture du désastre 161). 3 Derrida, Gewalt und Metaphysik 182, 140. Vgl. Glas 53, 183. 4 Lacoue-Labarthe, Die Zäsur des Spekulativen 223. 5 Ruda 22. 6 S. dazu vor allem Fazit des 2. Kapitels sowie den Abschnitt „Die ewige Ironie der Spekulation“ (Kap. 5) und das Schlusswort („Über das Schutzlose“).

Phänomenologie des Geistes als ein literarischer Text

3

In dieser fragilen und widerrufbaren Struktur, die nach meiner Lektüre die Stelle des spekulativen „Meisterdiskurses“ einnimmt, findet man nicht nur die angemessene Beschreibung von Hegels Verhältnis zur Literatur, sondern auch den Weg, Hegels Denken – und damit, wie oben schon angedeutet, die Philosophie als solche – zu retten. Bevor wir aber diese Erlösung in Angriff nehmen, müssen wir noch klären, warum der Weg zu ihr durch die Literatur gehen soll und warum genau „Poetik“ als die beste Beschreibung solch eines Verfahrens gelten kann. 1.2

Poetik?

Was bedeutet es, von einer Poetik der Phänomenologie zu sprechen? Für diese Arbeit wären zuerst zwei vorläufige und in dieser Vorläufigkeit vage Bemerkungen zu machen, die in ihrer Allgemeinheit meinen Ansatz zwar nicht völlig bestimmen können, aber glücklicherweise fast immer richtig – weil umfassend – sind, und den Sinn des Ganzen, wenn auch grob, vermitteln. Von Poetik ist die Rede, wenn es um Fragen der Beschaffenheit, der Form eines Textes geht. Dazu kommt, dass Poetik oft auf Literatur bezogen wird. Wenn also die vorläufigen Bestimmungen des Ansatzes benannt werden dürfen, so sind sie, erstens, auf Hegels Stil, seine Schreibart, gerichtet. Denn „[l]a dialectique hégélienne, comme la poésie, n’est pas indépendante de sa forme“.7 Mehr noch: Das phänomenologische Projekt wurde ursprünglich nicht unabhängig von einer bestimmten Form konzipiert, die – als Ebenbild des Poetischen – das Wesen nur in der Produktion, im Vollzug erscheinen lässt und kein vorgegebenes Jenseits vor, über oder unter diesem Geschehen annehmen will. Die gewählten Worte, die Figurationen des spekulativen Textes, sind auf ihre Performativität hin zu untersuchen. Dann könnten sie sich als Bedingungen der dialektischen Dynamik erweisen und einen Blick auf den geschichtsphilosophischen Wirkungsraum hegelschen Denkens eröffnen. Es muss somit, zweitens, um Verhältnisse des spekulativen Textes zur Literatur gehen. Das heißt aber nicht, dass damit dann eine systematische Untersuchung von Hegels literarischen Techniken vorliegt. Ebenso wenig möchte ich behaupten, dass es hier gelungen ist, das Thema der literarischen Kontexte der Phänomenologie zu erschöpfen. Manche dieser Kontexte und Filiationen sind jedoch für meine Arbeit entscheidend und müssen in allen ihren Konsequenzen durchdacht werden. 7 Hyppolite, Genèse et structure (II) 506.

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Kapitel 1

Hegels Text als „textual manifestation of spirit’s textual relation to itself“ zu begreifen8 heißt, die Arbeit der Literatur und des Literarischen vor allem in den spekulativen Denkfiguren zu erkennen. Ausgehend von der Metaphorologie Hans Blumenbergs, der für die Metaphern eine Autonomie innerhalb des philosophischen Denkens beansprucht, bis hin zu den „Poetologien des Wissens“ bei Joseph Vogl, der Poesie und Wissenschaft zusammendenkt, indem er sie nach ihren gemeinsamen Darstellungs- und Umsetzungsmöglichkeiten befragt, wäre so eine allgemeine Perspektive durchaus legitim.9 Diese Optiken bestimmen aber nur den allgemeinsten Rahmen der Auseinandersetzung mit Hegel. Es gilt, den präzisen Sinn des poetologischen Ansatzes herauszuarbeiten, dergestalt, dass dieser Sinn mit Blick auf das philosophische Projekt in der Phänomenologie aus den exemplarischen Textanalysen klar wird. Unsere theoretischen Instrumente sind also nicht vorgegeben, sondern werden (durchaus hegelianisch) in ihrer Anwendung erst konstituiert. Dies bedeutet zugleich, dass gewisse textuelle Operationen – wie Lektüre, Textanleihen, Zitieren oder Rekapitulieren – zu Metaphern des hegelschen philosophischen Vorgehens selbst werden. Keinesfalls werden sie dabei als exklusive, einzig mögliche wesentliche Bestimmungen der Spekulation behandelt. Will man aber eine konsequent literarische Lesart der Phänomenologie entwickeln, sind diese Entsprechungen unumgänglich. Der intertextuelle Ansatz, der hier vorgeschlagen wird, bedeutet, dass Hegels Text ständig mit den anderen (literarischen) Texten konfrontiert wird, so dass es jeweils um Relationen „von Philosophie und oder als Literatur“10 geht. Hierbei wird nicht der gesamte Text relevant sein, da in dieser Arbeit kein ausführlicher Phänomenologie-Kommentar vorgelegt werden soll.11 Die wichtigste Operation der Phänomenologie – „to avoid taking positions at the same time that it expounds them“12 – wird jedoch eingehend untersucht. Diese Einschränkungen (dass uns nur der „literarische“ Hintergrund der Phänomenologie interessiert, und dass primär das Geisteskapitel näher gelesen wird) sind einerseits durch die hier vorgeschlagene Sichtweise bedingt – in 8 Pahl 31. Vgl. auch Schulte-Sasses These, dass Hegel den Text als Agenten der Entäußerung und spekulativen Vermittlung in der Phänomenologie des Geistes thematisiert und dass es ihm dabei um das Wesen seiner Methode geht. 9 Die poetologischen Studien zu den anderen Philosophen (etwa Nietzsche) sind so zahlreich, dass sie hier kaum aufgelistet werden können. Der Fall Hegels ist aber auch insofern interessant, als er, gerade in der Phänomenologie, die Fiktion – als ein vorstellendes Verfahren – explizit aus dem philosophischen Kanon ausschließt. 10 Horn/Menke/Menke 8. 11 Natürlich wird uns der ganze Korpus hegelschen Schreibens, besonders der aus der Zeit vor 1807, immer begleiten. 12 Jameson 7.

Phänomenologie des Geistes als ein literarischer Text

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der Phänomenologie eine fiktionale Erzählung zu sehen – andererseits durch die früheren Hegel-Lektüren solcher Art inspiriert, bei denen es vor allem die Literatur war, die als Herausforderung der Philosophie fungierte.13 Das heißt also, dass Literatur hier ein schönes Beispiel eines ambivalenten Verhältnisses darstellt, in dem die hegelsche Philosophie zu den ihr alternativen intellektuellen Formen steht. Kritik, spekulatives Verzehren und Nachahmung sind hier in einem Punkt gesammelt, der zu einer neuen Hegel-Lektüre veranlasst, weil dadurch den Kern der dialektischen Vorgehens in der Phänomenologie getroffen wird. Hegels Text wird also nicht nach „Wahrheit“, sondern nach seinen eigenen Wahrheitsoperationen befragt und geprüft. Es geht also genau darum, die poiesis von hegelschen Wissensformen darzustellen.14 Den philosophischen Anspruch muss man dabei nicht zur bedeutungslosen Spielregel des Genres reduzieren, im Gegenteil: Erst an diesen Wahrheitsoperationen kann die Poetik des ein philosophisches Programm verkündigenden Textes sichtbar gemacht werden. Das heißt nicht, dass die schwierigen Fragen nach dem Verhältnis von Philosophie und Literatur einfach übersprungen werden. Es machte freilich ebenso wenig Sinn, dieses Verhältnis für alle möglichen Fälle oder Texte endgültig klären bzw. zu einfachen Schematisierungen gelangen zu wollen.15 Es ist im Gegenteil die Lektüre konkreter Texte, die solche Fragen als Fragen geltend und wichtig machen könnte. Redet man vom Literarischen der Philosophie, so ist immer wieder konkrete Philosophie und konkrete Literatur gemeint. Verallgemeinerungen – ob sie der Philosophie überhaupt den Status des Literarischen absprechen oder verleihen – legen nur die abstrakten Vorstellungen von Philosophie und Literatur nahe, denen die jeweiligen Interpreten anheimfallen. Legitim können sie nur sein, wenn mit ihnen auch ihre Grenzen sichtbar werden. 13 Auf manche solcher Lektüren gehe ich in diesem Kapitel ein. 14 Vgl. Vogl, Poetologie des Wissens 150f. 15 Wie es etwa Schildknecht und Teichert tun, wenn sie mit den Verhältnissen von Philosophie und Literatur ein kombinatorisches Spiel betreiben und von „Modellen“ dieser Beziehung sprechen. Das erste sei das platonische „Disjunktionsmodell“, das eine strenge Gegenübersetzung zwischen Philosophie und Literatur als völlig verschiedene Bereiche impliziert und die Philosophie als etwas Überlegenes deutet. Die zweite Disjunktionsstrategie gehe, so Schildknecht und Teichert, auf Nietzsche zurück und erkläre umgekehrt die strenge begriffliche Erkenntnis der „Philosophen“ als inferior im Vergleich zur poetischen Inspiration der Literatur. Die dritte Strategie („Komplementaritätsthese“) versuche, Literatur und Philosophie zu vereinigen bzw. zu verordnen – mit dem Primat der Philosophie (Kant, Hegel) oder der Literatur und der Kunst (Schelling, Heidegger, Adorno).

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Kapitel 1

Nicht nur die Philosophie, auch der Literaturbegriff wird hier zugleich immer problematisiert. Eine Poetik des Philosophischen geht mit dem Erfragen des Poetischen einher. Hegels Text soll uns als ein Dokument literarischen Verfahrens erschlossen werden – nicht nur, um ihn in einem neuen Lichte darzustellen, sondern auch um die Operation der Kunst näher bestimmen zu können. 1.3

Phänomenologie des Geistes?

In Hegels eigener Denkentwicklung markiert die Phänomenologie einen Wendepunkt. In Jena kommt er zu dem Gedanken, dass weder Kunst noch Religion – noch deren ideale Synthese: die (griechische) Kunstreligion – die erhoffte spekulative Vereinigung, das freie und heitere Ineinandergehen von Subjekt und Objekt, erbringen können. Das neue Werk musste also Hegels eigene Stimme inmitten der anderen, vor allem denen Hölderlins und Schellings, behaupten und in Kraft setzen.16 Deshalb wurde allein die Philosophie zum Ort der höchsten Synthesis erklärt. Das heißt, Hegels Einsicht zufolge, dass diese Synthesis – inszeniert als seine eigene Philosophie – alle vorigen Versuche hervortreten lassen und, in sich aufnehmend, aufheben soll. Nur durch diese synthetische Anstrengung wird der eigentliche Anspruch der Philosophie erfüllt, wird die Philosophie selbst zur Darstellung des Absoluten. Das heißt aber auch, dass die religionsphilosophischen und ästhetischen Theoreme Schellings und Hölderlins ihren Platz bekommen und ihre Begrenztheit erfahren müssen. Dazu gehört ganz wesentlich, dass Hegel die Kunst – und damit die Literatur – aufheben musste, um zur eigenen Philosophie Platz zu bekommen.17 Gerade in diesem Moment aber schreibt Hegel einen Text, der sich in seiner literarischen Prägung von den anderen „systematischen“ Arbeiten deutlich unterscheidet. Das Entledigen, die Abtreibung des Literarischen passiert in der Phänomenologie des Geistes durch eine Art philosophischer Erzählung, deren Lektüre zu einem poetologischen Ansatz führt, und zwar vor allem durch die Struktur des hegelschen philosophischen Verfahrens selbst.

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Dass dieses Erhalten (der Stimme) Hegels rhetorische Strategien bestimmt, zeigt Smith, The Spirit and its Letter. Deshalb kann man, wie Manfred Frank, eine Linie von Hölderlin und Schelling zu Adorno ziehen, wobei Kunst als Locus des Nichtidentischen und das subjektzentrierte hegelsche System Sprengenden entdeckt wird (Frank, Der unendliche Mangel am Sein. 112f. Fn.).

Phänomenologie des Geistes als ein literarischer Text

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In der Phänomenologie historisiert Hegel die verschiedenen philosophi­ schen Positionen, besteht also darauf, dass sie nicht als endgültig zu denken sind, sondern immer erneuert, umgedeutet, abgelehnt und aufgehoben werden müssen. Sein experimentierender Pragmatismus mit dem Primat des Handelns wird durch die Geste des Entfalten-Lassens geprägt. Man muss daher Adorno Recht geben in der Hinsicht, dass die literarische Form hegelscher Texte sich der gedanklichen Befestigung widersetzt, dass sie eher als „Filme des Gedankens“18 denn als Gedanken selbst zu erfassen wären, also nicht als statische Bilder, denen eine scheinbar unbewegliche Realität, nicht als Aussagen, denen Wissensobjekte als „gegebene und stabile Referenten“19 entsprechen würden. Die phänomenologische Erzählung vermittelt das Wissen mit der Welt, die Anschauung mit dem Begriff, aber vorerst dadurch, dass sie die verschiedenen Vermittlungsweisen darstellt.20 Das phänomenologische Narrativ ist fiktional. Das dialektische Subjekt – das Bewusstsein, der Geist – becomes a locus of ever more sophisticated forms of deception, and thus learns about ever more insidious appearances of the Absolute which turn out to be partial, fictional, and false.21

Genauso wie im literarischen Text akzeptieren wir, dass diese Fiktionen eben Fiktionen sind, die zum äußersten getrieben werden und dadurch eine Krise auslösen, aber zugleich Offenheit versprechen.22 In der literarischen Gestaltung wird ihre scheinbare „Unwahrheit“ zur Wahrheit des Ganzen. Man könnte zwar den gesamten hegelschen Text als Fiktion des Ganzen entlarven,

18 Adorno, Drei Studien zu Hegel 353. 19 Vgl. Vogl, Poetologie des Wissens 147f. 20 Dies schließt natürlich ein, dass Hegels Text im Ganzen die Spuren des Literarischen in sich trägt. Sogar das meistens als rein epistemologisch gedeutete Bewusstseinskapitel lässt sich in vielen Motiven etwa auf Hegels eigenes Gedicht Eleusis (Agamben, Die Sprache und der Tod; Bowman, „Die unterste Schule der Weisheit“; Spinozist Pantheism and the Truth of „Sense Certainty“; Boldyrev, Hegel nach Benjamin; Spekulative Poesie) oder auf Tiecks Komödie Die verkehrte Welt (Verene) beziehen. In der Herr und Knecht-Dialektik hat man oft die Umkehrung der gewöhnlichen sozialen Verhältnisse gesehen, die auch ganz stark in der Literatur präsent ist – etwa bei Beckett (Mayer; Carrabino). Im „unglücklichen Bewusstsein“ hat man Hölderlins Hyperion und Empedokles wiedererkannt (Schmaus). In Beckett konnte Drew Milne auch eine neue Potentialität der literarischen schönen Seele im Anschluss an Hegels phänomenologische Kritik entdecken. Zu Herr und Knecht s. auch Smith, The Language of Mastery; Birkner. 21 Butler 23. 22 Vgl. Comay 96, 148.

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Kapitel 1

als „Schauplatz des Scheins absoluter Identität“, wie es etwa Adorno tut.23 Dies ändert aber nichts an der allgemeinen Feststellung, dass dieses ihrem Anspruch nach wissenschaftliche System im Grunde auch literarisch ist. Das elementare Schema dieser Erzählbarkeit der Dialektik wird, wenn auch grob, noch von Richard Rorty herausgearbeitet. Rorty macht eine Unterscheidung zwischen dem „kantischen“ Philosophieren, das sich mit der richtigen Repräsentation beschäftigt, und dem dialektischen, geschichtlichen Denken, das die Philosophie als Schreiben wahrnimmt. The first tradition thinks of truth as a vertical relationship between representations and what is represented. The second tradition thinks of truth horizontally – as the culminating reinterpretation of our predecessors’ reinterpretation of their predecessors’ reinterpretation. …. it is the difference between regarding truth, goodness, and beauty as eternal objects which we try to locate and reveal, and regarding them as artifacts whose fundamental design we often have to alter.24

Die sogenannte „kantische Tradition“ versucht, laut Rorty, die Struktur der Beziehung zwischen dem Repräsentierenden und dem Repräsentierten klar zu halten um immer genauer Erkenntnismöglichkeiten zu analysieren und den „richtigen“ Vorgang der Repräsentation zu beschreiben. Dadurch wird oft das philosophische Bemühen von seiner Operation und seinen Instrumenten getrennt und wird dann zum Werkzeug oder zum passiven Medium „durch welches hindurch das Licht der Wahrheit an uns gelangt“ (53), zum Ansatz, der, wie Benjamin ihn später im Zusammenhang mit der philosophischen Darstellung charakterisierte, „die Wahrheit in einem zwischen Erkenntnissen gezogenen Spinnennetz einzufangen sucht als käme sie von draußen herzugeflogen“ (207). Die dialektische Tradition dagegen will die philosophische Betrachtung selbst relativieren und die Selbstverständlichkeiten des philosophischen Betriebs (wie z.B.  die  Definition von Philosophie selbst) entlarven: als „polemical devices – intended to exclude from the field of honor those whose pedigrees are unfamiliar“.25 Das dialektische Philosophieren macht keine Aussagen, die eine Berichtigung der behandelten Texte darstellen mit Bezug auf eine „äußere“ Realität, sondern problematisiert die in diesen Texten vertretenen Positionen.

23 Adorno, Drei Studien zu Hegel 367. 24 Rorty, Philosophy as a Kind of Writing 143. 25 Ibid. 142. Derrida setzt laut Rorty dieselbe dialektische Tradition fort, die philosophische Texte als die verschiedenen Genres liest und dekonstruiert.

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Nun ist laut Rorty gerade Phänomenologie des Geistes das erste Werk, bei dem die Philosophie als Schreiben anfängt. Phänomenologie „taught us to see not only the history of philosophy, but that of Europe, as portions of a Bildungsroman.“26 Dabei folgt Rorty u.a. Natural Supernaturalism (1971) von Meyer Abrams. Die Phänomenologie, so Abrams, is deliberately composed not in the mode of philosophic exposition or demonstration, but in the mode of a literary narrative, as the growth of human awareness toward the discovery of „science,“ or the timeless systematic truth […] it is organized primarily in accordance with literary principles of structure, and persistently deploys typically literary devices. Hegel’s narrative has a protagonist, whom he denominates as das allgemeine Individuum or der allgemeine Geist.27

Nun besteht das Werk die Phänomenologie genau darin, andere Texte zu verarbeiten und in seinem zu überbieten. Das Wesentliche in dieser intertextuellen Operation ist Anonymität: Um alle anderen Philosophielehrbücher überflüssig zu machen, selber also unabschaffbar zu werden, tilgte das neue Lehrbuch [die Phänomenologie – I.B.] einfach ihre Adressen.28

Hegels Lektüre macht seinen Text aus, sein Lesen der Literatur wird selbst Literatur, genauer: „frei interpretierende Fortschreibung.“29 Mit diesem Grundprinzip der hegelschen Poetik (in) der Phänomenologie soll sich hier auseinandergesetzt werden. Der Sinn der phänomenologischen Erzählung liegt in der doppelten Bewegung des Aufhebens und Entlassens. Aufgehoben werden die Entgegensetzungen von Subjekt und Prädikat in der „Harmonie“ des spekulativen Satzes (44) und entlassen werden sie aus der spekulativen Einheit des Geistes, der sie als eigene abstrakte Momente anerkennt (239). Darstellung philosophischer Werke wird bei Hegel auf die Hemmung des spekulativen Satzes – als Wesen der phänomenologischen Methode – bezogen: 26 Ibid. „Hegel’s so-called dialectical method [in der Phänomenologie – I.B.] is not an argumentative procedure or a way of unifying subject and object, but simply a literary skill – skill at producing surprising gestalt switches by making smooth, rapid transitions from one terminology to another“ (Rorty, Contingency, Irony, Solidarity 78). 27 Abrams 227f. 28 Kittler, Die Nacht der Substanz 512f. Die neue „Adresse“ wäre für Hegel, nach Kittlers Lesart, nicht (nur) die „Substanz“ der geschriebenen und gelesenen Bücher, sondern (auch) das Subjekt, also der Geist, dessen immanente Entwicklung das ganze andere Lesen redundant machen sollte. 29 Kittler, Aufschreibesysteme 206.

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Kapitel 1 Daß die Form des Satzes aufgehoben wird, muß nicht nur auf unmittelbare Weise geschehen, nicht durch den bloßen Inhalt des Satzes. Sondern diese entgegengesetzte Bewegung muß ausgesprochen werden; sie muß nicht nur jene innerliche Hemmung [sein], sondern dies Zurückgehen des Begriffs in sich muß dargestellt sein. Diese Bewegung […] ist die dialektische Bewegung des Satzes selbst. Sie allein ist das wirkliche Spekulative, und nur das Aussprechen derselben ist spekulative Darstellung (45).

Der Satz hemmt sich und spricht sich aus. Die Unvermeidbarkeit der Darstellung – oder Selbstinszenierung30 – macht die literarische Auslegung der Phänomenologie ebenso unvermeidbar.31 Die Literarizität der Philosophie hängt auch mit der Anschaulichkeit der philosophischen Begriffe zusammen. In der Phänomenologie müssen die philosophischen Positionen innerhalb der Wissenschaft, des Systems als die abstrakten Momente oder Formen des Geistes anschaulich auftreten (239). Sie müssen nicht von außerhalb beurteilt, sondern immanent entfaltet werden und ihrer eigenen Logik folgen. Zur Literarizität der Phänomenologie gehört das Bestreben, die Gestalten in ihrer eigenen Gesetzlichkeit aufzufassen, sie sich gleichsam von selbst, performativ entwickeln zu lassen, prophetisch „die mächtigsten Gedanken aus dem untersten Grunde der Dinge heraufzufördern“ (HBZ, 247), wie Hotho Hegels spätere Vorlesungen beschrieben hat. Was im Text der Phänomenologie noch auffällt, ist die – manchmal offene, manchmal aber verdeckte – Willkür der Konstruktion. Hegel erklärt zwar, wie man von einer zur anderen Gestalt übergeht, warum aber genau diese Denkstrukturen und historischen Bezüge gewählt werden, wird im Text kaum begründet. So bemerkt etwa Ludwig Siep, dass „eine Fülle von Schritten im phänomenologischen Argumentationsgang nicht zwingend erscheint,“32 weshalb er im Text keinen überzeugenden Beweis sieht, dass genau die von Hegel gegebenen Deutungen allen anderen überlegen sind. Viele Leser bestätigen diese Kontingenz: die Unsicherheit darüber, was demnächst kommen wird, und das nachträgliche Rationalisieren des bereits Dargestellten,

30 Wie bei Butler 18. 31 Dasselbe behauptet auch Robert Pippin, indem er die literarische Repräsentation als Folge und Form der spekulativen Entäußerung liest – die zugleich, wie in Schillers Vers am Ende der Phänomenologie, ein Zitieren und eine Veränderung impliziert. Ähnliche Überlegungen Kittlers legen nahe, dass Hegels „Geisterreich“ ein ästhetisches ist und Hegel bei der Rückbesinnung zu einem Schiller-Zitat veranlasst (Aufschreibesysteme 205f.). 32 Siep 257.

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Geschehenen.33 Von Gestalten erzählend, gestaltet sich die Phänomenologie selber zur literarischen Form. 1.4

Phänomenologie als Literatur, buchstäblich: Gattungen und Affinitäten

Ist aber der literarische Charakter der Phänomenologie, also Hegels Affäre mit Literatur, so auffällig? Und woher kommt die Idee, dass hier nicht nur über Literatur gesprochen, nicht nur Literatur aufgehoben wird, dass sich die spekulative Integration so proteisch in die „untergeordnete“ Gestalt des Geistes verwandeln soll? Hegels Werk wird oft als Bildungsroman oder etwa „roman de culture“34 behandelt –die Annäherung, die wohl auf Josiah Royce zurückgeht. Royce begreift die Phänomenologie als eine Biographie des Weltgeistes, dessen individualisierte, vielleicht sogar idiosynkratische Stufen uns ihre Komödien (der Unangemessenheit) und ihre Tragödien (des Scheiterns) darstellen.35 Außer der auffälligen Individualisierung, dem zur-Person-Werden jeder Gestalt, führt Royce noch ein allgemeineres Argument an, nämlich dass die von den phänomenologischen Gestalten zu lösenden theoretischen Probleme immer zugleich Lebensprobleme sind, jede Gestalt eine gewisse Lebensform und Lebensäußerung, insofern etwas Ganzes, im Inneren Zusammenhängendes ist, genauso wie eine literarische Figur, der bei Royce die Leser sympathisieren. Für Abrams ist die Phänomenologie eine Bildungsbiographie, „the unwitting quest of the spirit to redeem itself by repossessing its own lost and sundered self, in an ultimate recognition of its own identity,“36 ein Geschehen, an dem beide, Autor und Leser, teilnehmen. Es ist jedoch nicht genug zu behaupten, dass Hegel, der dem Bildungsbegriff eine prominente Rolle im System einräumt und tatsächlich den phänomenologischen Weg als einen propädeutischen Anstieg allegorisiert, den Text als Bildungsroman schreibt. Die Phänomenologie des Geistes ist als Hegels eigene Bildung zu verstehen, als Erfahrung der Selbstaneignung, als Suchen nach der eigenen Emanzipation, nach der endgültigen Trennung vom Vater-Polypen Schelling, wie es Jean Paul einmal 33 Sussman 379; Pahl 66. 34 Hyppolite, Structure du langage philosophique 342. 35 Als die paradigmatischen Texte dieses Typs nennt er Wilhelm Meister, Heinrich von Ofterdingen und Sartor Resartus (Royce 147 ff.); Hyppolite fügt noch Rousseaus Emile hinzu (Genèse et structure (I) 16 f.). 36 Abrams 230.

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Kapitel 1

treffend bemerkte. Dies – aber auch die Idee der sammelnden Er-Innerung, die am Ende des Textes/der Erzählung steht,37 – macht die Phänomenologie zu einer Art Autobiographie. Judith Butler, die, genauso wie Abrams, die Rolle des Lesers in den Knotenpunkten des Narratives feststellt, plädiert sowohl für die romanhafte als auch für die poetische Natur der hegelschen Darstellung. Für sie ist die Lektüre der Phänomenologie immer schon eine doppelte, eine Wiederholung veranlassende Handlung: Hegelian sentences are read with difficulty, for their meaning is not immediately given or known; they call to be reread, read with different intonations and grammatical emphases. Like a line of poetry that stops us and forces us to consider that the way in which it is said is essential to what it is saying, Hegel’s sentences rhetorically call attention to themselves.38

Katrin Pahl fasst die literarischen Dimensionen von Hegels Text zusammen, indem sie dieser wiederkehrenden poetischen Temporalität eine theatralische Präsenz und eine lineare Entfaltung der romanhaften Prosa hinzufügt.39 Als Bewegung von Unwissenheit zum Selbstwissen hin, das Zerrissenheit (im Inneren sowie in der sozialen Ordnung) überwindet und in Versöhnung mündet, wäre die Phänomenologie als Tragödie zu verstehen40 – oder, besser gesagt, als eine Reihe von Tragödien, in denen jede Gestalt seinen epistemologischen pathos zum Vorschein bringt.41 Aber auch als Komödie ist Hegels Text begreifbar:42 als eine Inszenierung der Unangemessenheit und Apotheose des Scheiterns, mit komischem Ernst zunächst von den Gestalten als Triumph wahrgenommen, die am Ende doch gut ausgeht, oder als eine ironische, den eigenen Ernst suspendierende Haltung, von der Pahl spricht. Jedenfalls fände sich hier Brechts bekannte These aus den Flüchtlingsgesprächen von Hegel als dem größten Humoristen vollkommen bestätigt.43 37 Schmaus. 38 Butler 18. 39 Pahl  6. Diese letzte sieht Thouard als die eigentliche Temporalität des hegelschen Narratives, die in der Vorrede der Gleichzeitigkeit des tabellarischen Verstandes gegenübergestellt wird. 40 Das ist die These von Jurist, in vielem aber auch schon von Jean Wahl. 41 Vgl. Pahl 65. 42 So Loewenberg und Butler 23. 43 Allerdings spricht Martin Jörg Schäfer nicht ohne Grund davon, dass in der Phänomenologie die (theatralische) Vorstellung des philosophischen Narratives immer untergeordnet bleibt und dass der Geist selbst die Bewegung „von der Zuschauersituation zur Selbstfindung […] ausmacht.“ (Schäfer 113ff., hier 124).

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Wiederholung und Akkumulation nähern den hegelschen Text auch an eine Art von kumulativ zu erzählendem Märchen an, im Sinne von This Is the House That Jack Built. Die Entfaltung des Geistes, der alle seine Elemente immer wieder aufzählt und in neuen spekulativen Stanzen als Teile der sich erweiternden und bereichernden Totalität darstellt, beruhigt den Leser und versichert, dass die ganze Bewegung einen Sinn hat.44 Die Gattungen mehren sich.45 Diese Heterogenität entspricht der poetologischen Einsicht, die uns Hegel in der Phänomenologie hinterlassen hat: Gattungen selbst als Bewusstseinsformen zu behandeln.46 Der eventuellen Unbestimmbarkeit der Gattungsfrage entspricht die Mannigfaltigkeit der eigentlich literarischen Parallelen zum hegelschen Text, die in der konstitutiv unüberschaubaren Hegel-Literatur inzwischen entstanden sind. Es liegt etwa nahe, diese Odyssee des Geistes mit der fortschreitenden Bewegung des Faust zu vergleichen, wie es Georg Lukács und Ernst Bloch gemacht haben. Die Bildungsreise des Geistes und die diese Reise begleitende Negativität würden als Gemeinsamkeiten dieser Hauptwerke der Moderne interpretiert, obwohl Goethes Ansichten dabei eine ganz andere Bedeutung haben können.47 Auch die Göttliche Komödie wird manchmal im Zusammenhang mit dieser Reise genannt.48 Die literarische Prägung der Phänomenologie lässt sich außerdem als eine Verschränkung der epischen Logiken von Ilias und Odyssee beschreiben, wobei die fortschreitende Reiseerzählung durch die epische Sammlung aus der (in jedem Augenblick der Handlung präsenten) Perspektive des absoluten Wissens er-innert und somit die Linie zum Kreis umgeschrieben wird.49 Dieselbe Er-Innerung als rhetorische Macht der Selbstreferenz legt auch den Vergleich mit Hundert Jahre Einsamkeit von García Márquez nahe, der seinen Helden – wie Hegel den absoluten Geist – die eigene Geschichte und uns als Leser dieselbe Geschichte als diesen Roman lesen lässt.50 Alle diese Versuche, einen Paralleltext zu Phänomenologie zu finden, weisen auf ein wichtiges Problem hin, dem wir unten noch begegnen werden: Wer 44 Dass Wiederholung eine wesentliche Operation des spekulativen Geistes ist, wird etwa von Derrida (Glas 27, 31) gezeigt. 45 Sussman spricht von der Phänomenologie als „a novel, an encyclopaedia, a history of ideas, a genealogy of symbolic forms, an anthropology, and a ‚logic‘ of its own operations“ (366). 46 S. dazu Theorie des Romans von Lukács und neuerdings etwa Rajan. 47 Lukács, Faust und Faustus; Bloch und dazu: Wieland, Vosskamp. 48 Bloch; Dobbins/Fuss. 49 Thouard. Diese Interpretation ist durchaus mit der von Albrecht Koschorke vereinbar, der Hegel als epischen Erzähler liest – allerdings im Kontext der späteren Geschichtsphilosophie. 50 Landau.

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ist die Hauptfigur in Hegels Erzählung? Wer handelt in diesem Roman oder Drama als Held? Hegels Protagonist ist zugleich sein eigener Antagonist, die Romanfigur wird verstreut, verteilt und in ihrem Anderen immer widerspiegelt, so dass die Vielheit der Stimmen durch die synthetische Bewegung des Erzählens ständig in die Einheit übersetzt wird.51 Der Held wird vervielfältigt, der Autor und der Leser verschwören sich zum kollektiven Wir, zur bildungsphilosophischen Turmgesellschaft52, die sich aber auch im Helden widerspiegelt, der als Geist keinen eigentümlichen Habitus zu besitzen scheint und stattdessen als eine Kollektivität auftritt.53 Pahl hat diese Grenzüberschreitung mit erlebter Rede verbunden, die sie zum wichtigsten literarischen Instrument in Hegels Text erklärt, das die Stimmen des Autors und des Helden ununterscheidbar machen soll.54 Diese Verschmelzung der Stimmen wird in den nächsten Kapiteln eingehender untersucht. Abrams erstaunt die zeitliche Nähe von Hegels Bildungsbiographie mit The Prelude (1805) von Wordsworth: ein Poem, in dem die erinnernde Selbstbeschreibung zum Vorspiel des eigentlichen Werks wird.55 In Hawthornes Roman Der scharlachrote Buchstabe sieht John Rowe eine Versöhnungslogik, die sich zwischen Moralität und Natur abspielt und Herr-und-Knecht-Dialektik, unglückliches Bewusstsein und sittlichen Geist verkörpert. Hester Prynne, die Heldin des Romans, erkennt sich innerhalb der Gemeinschaft nicht an, kommt somit nicht zu dem Verständnis des inneren notwendigen Zusammenhangs zwischen ihrer selbstbewussten Handlung und der Reproduktion der sozialen Ordnung.56 Derselbe Konflikt spielt sich, wie Hermann Schmitz bemerkt, bei 51 Vgl. dazu Abrams 230f. und Pahl. 52 Jurist; Pahl 234. 53 Obwohl die Unterscheidung von Wir (als Phänomenologen) und Protagonisten an verschiedenen Stellen der Phänomenologie kollabiert (Pahl 39 f.). 54 Dies bemerkt auch Thouard: „[L]e narrateur et le héros sont les mêmes en tant qu’ils sont différents“ (240). Zur erlebten Rede in der Phänomenologie vgl. auch Sussman, der dabei ein Oszillieren zwischen der präsentistischen Narration und der Perspektive des allwissenden Erzählers registriert, und de Boer, die eine gewisse Unschärfe der Perspektive in Hegels Umgang mit der antiken Tragödiendichtung in der Phänomenologie bemerkt – „Hegel must, in his analysis, move back and forth between the actual self-comprehension of Greek culture and the speculative comprehension of its tragic history which is only achieved in the Phenomenology itself. The difficulty of the text is partly due to the fact that Hegel generally does not mark the transition between these two perspectives.“ (Boer 315). 55 Abrams, 236f. 56 Tatsächlich geht es in Der scharlachrote Buchstabe um Konflikte der Heldin mit dem sozialen Milieu und um die tragische Unangemessenheit der individuellen Tugend und der überindividuellen, „positiven“ Gesetze und Institutionen. Die innere Zerrissenheit fällt ebenso auf wie der Gewinn der Selbstheit durch die Konfrontation mit der sozialen Umgebung. Rowes eigene Vorgehensweise besteht also darin, Hegels Gestalten zu

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Kleist in Michael Kohlhaas ab – im Text also, an dem der Vorgang des Geistes und die Spannung zwischen verschiedenen Dimensionen der Allgemeinheit illustriert werden können.57 Und Jacques D’Hondt versammelt in seinem vergleichenden Beitrag über Hegel und Marivaux einen Katalog der Elemente, die in La Vie de Marianne am Werk sind und zugleich die Phänomenologie in nuce darstellen: Bildungsbewegung und Bemühungen um Selbsterkenntnis; Herrund-Knecht Dialektik; Hypokrisie und deren Entlarvung; das Böse und dessen Verzeihung; die er-innernde Geste des absoluten Wissens.58 Der hegelsche Text fungiert dabei als eine Sammlung von Themen und Kunstgriffen, ein Gerippe, das von dem Romankorpus des achtzehnten Jahrhunderts übriggeblieben und von Hegel für seine philosophische Erzählung umfunktioniert worden ist. Wir sehen also, dass die Phänomenologie zu verschiedensten literarischen Assoziationen veranlasst, dass der Text des Systems allzu oft mit Formen fiktionalen Schreibens verglichen wird. Um dieser Annäherung des Literari­ schen und Philosophischen Rechnung zu tragen, lohnt es sich, sie von der anderen, fiktionalen Seite zu beobachten. Dann wird es sichtbar, wie deutlich durch ihre literarische Ausarbeitung die spekulative Operation selbst in Frage gestellt wird. 1.5

Literarische Phänomenologie: vom Geist zur Entgeisterung

Das Philosophische, von der viele Interpreten der Phänomenologie ausgehen, stellt man dem Literarischen gegenüber in der Hoffnung, die Form und das Verfahren beider zu erhellen. Diese Annäherung kann aber auch vom Literarischen stammen, als dessen inneres Bedürfnis und intellektuelle Forderung. Es ist nur konsequent, dass auch in jüngster Zeit Hegels Text Schriftsteller fasziniert, die ihre Fiktion mit den phänomenologischen Figuren verbinden. In seiner Trilogie der Entgeisterung lässt Robert Menasse seine Helden, Roman, Leo und Judith, aber eventuell auch sich selbst, Hegels Text weiterschreiben.59 Indem Leo Singer ständig versucht, durch sein „Werk“ die Welt zu verändern, und dieses Werk zuerst als Arbeit zu Hegel, dann aber als Fortsetzung und Umkehrung der phänomenologischen Erzählung konzipiert; indem die von Leo geliebte und dann getötete Judith Katz, nachdem ihre (durch und durch allegorisieren und in diesem allegorischen Zustand als Schemata für die Interpretation des Romans zu benutzen. 57 Schmitz, 327f. 58 D’Hondt. 59 S. Menasse, Sinnliche Gewißheit; Selige Zeiten, brüchige Welt; Schubumkehr; Phänomenologie der Entgeisterung.

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dialektischen) Beziehungen wieder zu ihrem Anfang gekommen sind, Leos Phänomenologie-Vorlesungen aufschreibt, die er nach der Mordtat benutzt, um die Geschichte der Entgeisterung zu schreiben; indem Roman Gilanian an Roman zu arbeiten beginnt, schließlich aber selbst in den kindischen Zustand der elementaren Sinnlichkeit zurückkehrt – berühren sich die Welten der erzählten Spekulation Hegels und der heutigen Suche nach Sinn und Zusammenhang. Menasse konfrontiert Philosophie und Literatur: Roman und Leo lesen und besprechen die Phänomenologie, ihre geistigen Zustände assoziiert man mit den phänomenologischen Gestalten. Menasse versucht dabei tatsächlich darzustellen, welche Erfahrung man machen kann, wenn der von Hegel beschriebene Weg tatsächlich zurück zu seinem Ausgangspunkt gegangen wird. Eine Vielzahl der Phänomenologie-Verweise begleitet uns auf diesem Weg nach hinten.60 Nicht nur die sinnliche Gewissheit als Endstation, sondern auch Begierde, Herr-und-Knecht-Verhältnisse, Lust und Notwendigkeit, Sittlichkeit und Bildung – dies alles wird von den Romanfiguren besprochen und zugleich verkörpert, als ob sie, indem sie Hegel kommentieren, zugleich die phänomenologischen Konflikte erleben und ertragen. Was entsteht ist ein Gemenge der Begebenheiten, zersplitterte Subjektivitäten, ein Reich des Vergessens und der infantilen Regression. Das Jazzkonzert, dieser Abend, diese Nacht. Diese Worte sind große Samtüberwürfe über Ereignisse und Gefühle, die so bruchstückhaft waren, als wären sie schon im Moment des Erlebens nichts anderes als Fixpunkte bemühter, doch vergeblicher Erinnerung.61

Vieles ist dort literarisch beschreibbar, aber philosophieren lässt es sich vor allem über eine Entgeisterung, die dieser gegenseitigen Berührung eine Form gibt. Die Trilogie stellt somit „die paradoxe Anstrengung“ dar, „den repräsentativen Zeit- und Gesellschaftsroman der Postmoderne zu schreiben, ästhetische Totalität also zu bilden, indem von ihrer Unmöglichkeit erzählt wird.“62 In der Tat scheint diese neuere (post-)moderne Sensibilität mit dem Totalitätsanspruch weniger vereinbar zu sein, da das ganze Geschäft der Vereinbarung in dieser gebrochenen und bedeutungslosen Welt tragikomisch zu Ende geht. Lukacs kann im ersten Roman, im Roman über Roman (Sinnliche Gewissheit), nur der Papagei heißen, um dann im zweiten – vor allem mit dem 60

Auch als Leser bewegen wir uns hin und her (oder gehen zu Grunde?), denn der zweite Roman in der Trilogie erzählt meistens die Vorgeschichte des ersten, um dann im dritten die Hauptfigur des ersten Romans – den Roman – wieder auf die Bühne zu bringen. 61 Menasse, Sinnliche Gewißheit 105. 62 Müller-Tamm 64.

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Titel Selige Zeiten, brüchige Welt sowie den längeren wortwörtlich zitierten Passagen – an die richtige Theorie des Romans von dem richtigen Lukács zu erinnern. Was am Ende kommt, ist ein Fehlschlag, „eine raffinierte Komposition falscher Zusammenhänge.“63 Die Romane von Menasse und die Texte, die seine Helden schreiben, vermitteln also die gleiche Erfahrung, nach der Hegels spekulatives Projekt anziehend und fraglich da steht. Mit seiner Hegel-Arbeit wollte Singer auf das Ganze gehen. Er konnte keine Sekunde an etwas anderes denken als an das Ganze. Er konnte keinen Satz akzeptieren, weil jeder nur ein Satz war, und noch nicht das Ganze. Er konnte keinen Satz schreiben, ohne gleich zu versuchen, alles schon in diesem Satz zu sagen. Er konnte also nicht einen Satz schreiben.64

Die Fortbewegung der Narration koinzidiert bei Menasse mit der Rückbewegung des Geistes. Hegel hat bekanntlich am Ende der Phänomenologie auch die sinnliche Gewissheit angesprochen, um seine Geschichte zu runden und den Anfang am Ende erscheinen zu lassen. Nun ist die Apotheose des absoluten Wissens zugleich dessen sicherster Untergang. Was jedoch Menasse aus seiner eigenen historischen Situation entwickelt, aus dem jetzt als unhaltbar empfundener Sehnsucht die Totalität – „Tato, Toti, Totalität“65 – zu begreifen, geht, wie ich zeigen werde, aus Hegels eigener Logik hervor, aus seinem Schreiben und seiner Lektüre, aus seinem Schreiben als Lektüre. Und wenn nach Menasse (und Singer) der Grund, warum die Entwicklung des Geistes nun in umgekehrter Richtung verläuft, im Verwirklichungsanspruch liegt, also im Bedürfnis, sich selbst zu realisieren,66 so möchte ich im Weiteren zeigen, dass und wie die spekulative Bewegung schon an sich – und dann am deutlichsten, wenn sie sich dem Literarischen aussetzt – verloren gehen muss. 1.6

Literaturproblem

Im alten, seit Platon schon bekannten Streit zwischen „Philosophie“ und „Literatur“ (oder Kunst) merkt man in verschiedenen Kontexten die Angst, eine besorgliche, argwöhnische Stimmung der Philosophen, die ihre Arbeit 63 64 65 66

Neuber 303. Menasse, Selige Zeiten, brüchige Welt 351. Ibid. 63. Selige Zeiten, brüchige Welt 298f.; Phänomenologie der Entgeisterung.

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vor Literatur behüten wollen.67 Insofern wäre die Literatur und der Streit mit der Literatur eine reflektierende Bewegung innerhalb der Philosophie selbst, der Kampf um die eigene Identität und das Abtasten der eigenen Grenzen. Dass Hegel selbst der Literatur ganz klare Grenzen setzen wollte, wissen wir nicht nur von der Berliner Ästhetik. Schon in Jena wollte er das Literarische mit der bekannten Geste im Namen einer höheren Synthesis überwunden sehen: Die Götter der Poёsie, oder das rein poёtische sind ebenso beschränkte Gestalten, und der absolute Geist, das absolute Leben, weil es die Gleichgültigkeit aller Gestalten ist, in seinem Wesen ebenso alle vergehen, als sie in ihm sind entflieht der Poёsie selbst; er ist allein in der Philosophie auszusprechen und darzustellen (GW 5, 373).

Verfehlen wir also Hegels eigene Botschaft nicht, wenn wir seinen Text als einen literarischen behandeln? Nach der Poetik der Phänomenologie zu fragen, heißt aber nicht, sie als philosophisches Werk zu entwerten.68 Literarizität wird, als Form, zur Kehrseite des Philosophischen – und zum Problem. Es ist dieses Problem, das uns beschäftigen wird, und es ist dieses Verhältnis, das gerade zur Zeit um 1800 von den Romantikern neu reflektiert wird. „Poesie“ – absolu littéraire – erhebt dann einen philosophischen Anspruch, und der Phänomenologie des Geistes kann die Spannung nicht entgehen, die Attraktions- und Repulsionskräfte der Literatur und Philosophie zutage bringt.69 Es ist genau dieses Problem, das mit dem Begriff der Poetik charakterisiert werden soll. „Poetik“ ist hier – nicht im Gegensatz, sondern in Ergänzung zum bereits gesagten – als Stichwort der ästhetischen Subversion, der beharrlichen Äußerlichkeit, die oft gegen spekulative Er-Innerung ausgespielt wird. Dieser Gedankengang taucht in verschiedenen Kontexten immer wieder auf. So sagt etwa Henry Sussman: To overlook […] the potentialities for uncertainty at play even in the Phenomenology’s most sublime moments […] is to ignore the Hegelian undecidability that became a hallmark of modern poetics.70

In der Literatur, oder eher im Einbruch des Literarischen in Hegels Text, könnte man nämlich die Gefahr, das Risiko sehen, dass der philosophische Diskurs kollabiert, dass er nicht mehr imstande sein wird, die Wahrheit der reflexiven 67 Vgl. auch Horn/Menke/Menke 8ff. 68 Vgl. dazu Jurist. 69 Auch später konnte Hegel die Affinität des Poetischen mit dem spekulativen Denken nicht verschweigen (vgl. Ästhetik, TWA 15, 243). 70 Sussman 361.

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Selbstbewegung hervorzubringen, und, von der Poesie ununterscheidbar, in das ästhetische Spiel übergeht, dessen Spuren wir „nur“ als Literaturwissenschaftler nachgehen können. Ich möchte hier einige Beispiele anführen – zu den anderen kommen wir etwas später. Philippe Lacoue-Labarthe erfasst Literatur als Fehlgeburt (avortion), als etwas, das sich nicht bis zum Ende vom hegelschen Text verschlingen und aufzehren lässt, ein Rest, der unaufhebbar bleibt. Und diese Fragestellung verortet er gerade in der Zeit um 1800, in der Epoche von Schlegels Lucinde.71 Von dort geht er weiter bis zu Nietzsche und Valéry, um eventuell zu zeigen, dass Philosophie in ihrem Wettstreit mit der Literatur immer von Selbstpoetisierung geträumt hat.72 Das Sinnliche, die Fiktion kann ihre Rechte gegen die spekulative Darstellung geltend machen, weil in dieser – wie in der Figur des Weiblichen bei Schlegel, in der Frechheit der Lucinde – das (dialektisch) Undarstellbare, das sich der Aneignung Widersetzende oder, mit Adorno gesprochen, das Nichtidentische haust. Um seine eigene Version des Nichtidentischen zur Sprache zu bringen, schlägt Werner Hamacher ebenfalls vor, Hegel philologisch zu lesen: Eine Lektüre, die sich dem Sog des dialektischen Zirkels so weit wie möglich entziehen will, um sich in die Lage zu versetzen, seine Struktur und seine Dynamik zu durchschauen, hat von […] Rückständen ihres eigenen Verfahrens im Text auszugehen, von dem, was sie selbst noch nicht oder nicht mehr ganz ist. Also nicht bloß von ihrer logischen Struktur und ihren systematischen Implikationen, sondern auch von der Metaphorik ihres Textes und der phantasmatischen Dimension, die in ihr wirksam ist, von dem gleichsam literarischen Charakter, der die Selbstdarstellung des Absoluten determiniert, und von der Genese des Systems, die rein nach dem genealogischen Modell des vollendeten Systems selbst nicht zu denken ist.73

Dieses subversive Potential kann als eine affektive Dimension, als Erzittern des dialektischen Textes auftreten. Katrin Pahl zeigt, wie in der Apotheose des absoluten Wissens oder im nie endenden gegenseitigen Anerkennen der phänomenologische Text – auch in seiner Syntax – gebrochen bleibt und schwankend wirkt, indem seine Gestalten der entäußernden spekulativen Bewegung ausgesetzt werden und sich der Text selbst der künftigen Leserschaft übergibt. Die Entwicklung denkt sie als eine Reihe von Brüchen, als ein Beben der spekulativen Konstruktion, in der verschiedene Elemente durcheinander 71 Lacoue-Labarthe, L’imprésentable. 72 Später ging es Lacoue-Labarthe ebenfalls darum, spekulative Philosophie als von der Mimesis abhängige darzustellen (Die Zäsur des Spekulativen). 73 Hamacher, pleroma – 14f.

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figuriert werden und sich ineinander verwandeln – „between linear time and the trembling of the infinite present“.74 Martin Jörg Schäfer, der in seiner Phänomenologie-Lektüre das Theatralische hervorhebt und das phänomenologische Geschehen als die sich selbst überwindende Szene der dionysischen Materialität auslegt (als „permanente, exzessive Autokatharsis […][,] welche sich beständig von sich reinigt und in immer neuen Szenen zu sich als dem absoluten Wissen zurückkehrt, um sich aufzulösen“75), spricht ebenso oft von der „Drohung“/ „Unproduktivität“ des Szenischen und vom Risiko des Fehlschlagens, das dem absoluten Wissen innewohnt.76 An die Stelle freilich, wo er „das Produktive einer dionysischen Theatralität: Neuankunft des Heterogenen“77 situiert, das jeder Auflösung der spekulativen Szene eine neue, vielleicht völlig unbekannte Form folgen lässt und das absolute Wissen als dionysische Ausschweifung, als oszillierende Bewegung zwischen Chaos und Ordnung darstellt, möchte ich eine negative Möglichkeit des schlechthinnigen Verschwindens setzen, das in keine neue Konstellation einmünden kann.78 Wenn etwa Jurist die Tragödie als „the background narrative“79 in der Phänomenologie versteht und die Aufhebung des Tragischen als Schwäche der hegelschen Tragödieninterpretation darstellt – als Vernachlässigung der individuellen hybris von Antigona oder als Vergessen der für die Tragödie wesentlichen und mit dem Scheitern drohenden Kontingenz –, so heißt es aus der Perspektive meiner Arbeit, dass dieses Vergessen notwen­ dig und zugleich verhängnisvoll, Hegels Spekulation produktiv und zugleich selbstvernichtend ist. Diese Struktur muss man zunächst philosophisch erläutern. Am besten verrät sie sich bei der Abgrenzung des hegelschen Denkens von dem Hölderlins. Während Hölderlin, dessen Vereinigungsphilosophie Hegel einen entscheidenden Anstoß gab, in seiner Metaphysik – vor allem im kleinen Fragment Urtheil und Seyn – von einem Grund des Entgegengesetzten ausging, von einer ursprünglichen Einheit, die jeder Synthesis, jeder Relation vorausgeht, so war für Hegel „[d]as Geschehen der Vereinigung selber, nicht ein Grund, aus dem es herzuleiten ist […] das wahre Absolute, das >Alles in 74 Pahl 180. 75 Schäfer 192. 76 S. etwa Schäfer 97, 99, 134, 159. Von der Theatralität spekulativer Darstellung spricht im Anschluss an Bataille auch Lacoue-Labarthe (Die Zäsur des Spekulativen). 77 Schäfer 164. 78 Weiter räumt auch Schäfer dieser Möglichkeit „des Ausbleibens einer Ankunft“ den Platz „eines beständigen Widerstandes, der nicht im dionysischen Rausch zersplittert“ (189), ein; allerdings nicht bei Hegel, sondern bei Hölderlin. 79 Jurist 165.

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Allem