Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach dem AMG und dem SGB V: Eine Untersuchung zur Erzeugung administrativer Wissensgrundlagen und ihrer gerichtlichen Kontrolle [1 ed.] 9783428552207, 9783428152209

Karsten Engelke untersucht, wie im Risikoverwaltungsrecht Wissen über Arzneimittel generiert und gerichtlich rezipiert w

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German Pages 347 Year 2018

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Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach dem AMG und dem SGB V: Eine Untersuchung zur Erzeugung administrativer Wissensgrundlagen und ihrer gerichtlichen Kontrolle [1 ed.]
 9783428552207, 9783428152209

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Schriften zum Gesundheitsrecht Band 52

Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach dem AMG und dem SGB V Eine Untersuchung zur Erzeugung administrativer Wissensgrundlagen und ihrer gerichtlichen Kontrolle

Von Karsten Engelke

Duncker & Humblot · Berlin

KARSTEN ENGELKE

Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach dem AMG und dem SGB V

Schriften zum Gesundheitsrecht Band 52 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.

Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach dem AMG und dem SGB V Eine Untersuchung zur Erzeugung administrativer Wissensgrundlagen und ihrer gerichtlichen Kontrolle

Von Karsten Engelke

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen hat diese Arbeit im Jahr 2017 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 978-3-428-15220-9 (Print) ISBN 978-3-428-55220-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-85220-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2016/2017 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen als Dissertation angenommen. Die vorliegende Druckfassung wurde mit Blick auf nachträglich erschienene Literatur und Rechtsprechung bis August 2017 aktualisiert. Jede Dissertation ist Teamwork. Diese Dissertation ist dabei einem besonders großen Team über die Bearbeitungszeit von insgesamt acht Jahren vom ersten Konzept bis zur Druckfassung zu verdanken. Zunächst gilt mein Dank den ehemaligen Direktoren des Instituts für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht (IGMR), Prof. Dr. Dieter Hart und Prof. Dr. Robert Francke, für die Anregung zu diesem Thema und die Förderung durch ein Promotionsstipendium aus Mitteln von MSD Sharp & Dohme. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Friedhelm Hase, der mich nach dem Ende der Stipendiumszeit als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl beschäftigt und in vielerlei Hinsicht prägend gefördert hat. Sodann bin ich sehr dankbar für die Beschäftigung am Sonderforschungsbereich 597 „Staatlichkeit im Wandel“, der mein sozialrechtliches Thema transnationalisiert und in eine neue Richtung gewendet hat. Ohne meine Kollegen und Freunde vom IGMR, allen voran meinen Zweitgutachter Prof. Dr. Benedikt Buchner, wäre der Abschluss der Arbeit gleichsam nicht möglich gewesen. Ferner hätte die Arbeit ohne den Luhmann-Diskussionszirkel um Dr. Heiner Fechner und weitere großartige Menschen ebenfalls nicht in dieser Form geschrieben werden können. Ein ganz großer Dank gilt überdies Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano für die faktische Adoption in das ZERP und vielfältige Unterstützung. Ich bedanke mich des Weiteren herzlich bei der Deutschen Gesellschaft für Kassenarztrecht e. V. für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses sowie bei Prof. Dr. Helge Sodan für die schnelle Aufnahme in die Schriftenreihe zum Gesundheitsrecht. Der größte Dank gilt abschließend meinen Eltern Timm und Karin, meiner Frau Allison und meinem Herrn und Freund Jesus Christus, die mich durch diese Promotion getragen haben. Berlin, im März 2018

Dr. Karsten Engelke

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel

Einleitung und Problemüberblick

17

2. Kapitel

Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

21

A. Information und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 B. Wissensrezeption durch die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I.

Amtsermittlung durch die Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

II. Informationserhebung beim Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1. Stellung von Anträgen im Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Anhörung im Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Akteneinsichtsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 III. Sachverständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Anforderungen an den Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Aufgaben des Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Legitimationsbedürftigkeit der Sachverständigentätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 39 IV. Antizipierte Sachverständigengutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Rezeption der Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Beweisrechtliche Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4. Kritik im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 V. Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Ermessensrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a) Verwendung der Rechtsfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Administrative Beurteilungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 aa) Begründungsansätze in Rechtsprechung und Schrifttum . . . . . . . . . . 55 bb) Anerkannte Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 cc) Gerichtliche Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

8

Inhaltsverzeichnis c) Formelle Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 d) Gesetzesvertretende Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 VI. Administrative Entscheidungsgremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1. Verwendung der Rechtsfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3. Gerichtliche Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

C. Wissensrezeption in der exekutivischen Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 I.

Wissensrezeption in legislativer Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Sachverständige Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Ermittlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Grundsatz der Folgerichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4. Begründungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

II. Grundsätze der Wissensrezeption in der exekutivischen Normsetzung . . . . . . . 69 D. Methoden der Wissensrezeption in komplexen Entscheidungsverfahren . . . . . . . . . . 71

3. Kapitel

Nutzenbewertung in der Medizin

76

A. Von der Erfahrung zur Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 I.

Medizin als Praxiswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

II. Die Kluft zwischen Wissen und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 III. Von der Erfahrung zur Evidenz: evidenzbasierte Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 B. Inhalt des Nutzenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 I.

Verwendungsweisen des Nutzenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

II. Wirksamkeit und Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 2. Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3. Verhältnis von Nutzen und Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4. Grundanforderungen an den Abwägungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 III. Vom Experiment zum RCT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Formen der klinischen Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Studiendesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Fehlerquellen und Fehlerkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 c) Evidenzhierarchie und Studienbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Inhaltsverzeichnis

9

2. Endpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Interne und externe Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Risikoaussagen in klinischen Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5. Aussagekraft klinischer Studien und Fehlerquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Bias in klinischen Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Zufallsfehler und Signifikanzschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 C. Die Feststellung des Standes der medizinischen Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I.

Meta-Analysen und systematische Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

II. Konsensfindung über die methodischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 III. Leitlinienbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

4. Kapitel

Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

119

A. Rechtsquellen des Arzneimittelrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 I.

Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

II. Nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 III. Europäisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 IV. Transnationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Die Harmonisierungsarbeit der ICH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Geschichtliche Entwicklung der Struktur der ICH . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Arbeitsweise der ICH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Weitere transnationale Normsetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 B. Die Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I.

Zulassungspflichtige und zulassungsfreie Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

II. Das zentrale Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Rechtswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 III. Das dezentrale Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2. Koordinierung der nationalen Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 IV. Ablauf von nationalen Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

10

Inhaltsverzeichnis 1. Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Rechtswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Nachzulassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 V. Besondere Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Conditional Approval . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Besonderheiten im Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 c) Empirische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Approval under exceptional circumstances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Besonderheiten im Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 c) Empirische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3. Konzept der Zulassungspfade und der Einbeziehung von HTA-Agenturen . 155 a) Das Konzept der „Adaptive Pathways“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Einbeziehung der nationalen HTA-Agenturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Wandel des Zulassungskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 VI. Off Label Use, Compassionate Use und individuelle Heilversuche . . . . . . . . . . 158 1. Off Label Use . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Compassionate Use . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Europarechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Nationale Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3. Individueller Heilversuch mit nicht zugelassenen Arzneimitteln . . . . . . . . . . 164 VII. Pharmakovigilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 1. Begriff und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Struktur des Pharmakovigilanzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) Der Stufenplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 c) Risikomanagement beim pharmazeutischen Unternehmer . . . . . . . . . . . . 171 3. Wissensgenerierung durch Pharmakovigilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Publikationsbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Wirksamkeitsstudien in Phase IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 c) Wirksamkeitsstudien als Pharmakovigilanzauflage . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 d) Wandel des klinischen Standards in der Phase IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4. Sicherheitsrechtliche Reaktionen auf neues Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 I.

Inhalt und Methodik der Nutzenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Die Nutzenbewertung als Element der Unbedenklichkeitsentscheidung . . . . 177

Inhaltsverzeichnis

11

2. Der Nutzenbegriff im Zulassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Therapeutische Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Wahrscheinlichkeitsaussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3. Der Risikobegriff im Zulassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4. Die Struktur der Nutzen-Risiko-Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 II. Wissensquellen für die Zulassungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Nachweise und Nachweisbewertung im Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . 188 a) Nachweise des pharmazeutischen Unternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 b) Wissensgenerierung durch die Zulassungsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2. Europarechtliche Harmonisierung der Zulassungsunterlagen . . . . . . . . . . . . 193 3. Transnationalisierung der Anforderungen an Zulassungsunterlagen . . . . . . . 194 a) Inhaltliche Gestaltung des Studiendesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Harmonisierung der Guten Klinischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 c) Harmonisierung der Nachweise über die Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4. Verbindlichkeit der ICH-Guidelines im deutschen Zulassungsverfahren . . . 203 a) Umsetzung durch Richtlinienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Umsetzung durch Leitlinien der EMA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 c) Verbindlichkeit der Leitlinien über einen Beurteilungsspielraum . . . . . . 205 d) Leitlinien als antizipiertes Sachverständigengutachten . . . . . . . . . . . . . . 208 5. Rezeption transnationaler Standards zur Wissensgenerierung . . . . . . . . . . . . 210 III. Limitierungen des Wissens über Arzneimittel zum Zeitpunkt der Zulassung . . . 211 1. Auswahl des Komparators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Auswahl der Endpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3. Auswahl der Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5. Kapitel

Nutzenbewertung im Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung 218

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 I.

Anspruch auf die Versorgung mit Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 1. Versicherungsfall der Krankenbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Ausgestaltung als Rahmenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

II. Voraussetzungen der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Apothekenpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Verschreibungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Frühe Nutzenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

12

Inhaltsverzeichnis a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 b) Verfahren der frühen Nutzenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Festbeträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 a) Stufen der Festbetragsgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 b) Ausnahmen von der Einbeziehung in die Festbetragsgruppe . . . . . . . . . . 233 c) Nutzenbewertung in der Festbetragsgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 234 5. Verordnungsbeschränkungen und -ausschlüsse des GBA . . . . . . . . . . . . . . . 234 a) Nachweis der Unzweckmäßigkeit eines Arzneimittels . . . . . . . . . . . . . . . 235 b) Unzweckmäßigkeitsnachweis durch Versorgungsstudien . . . . . . . . . . . . . 236 6. Therapiehinweise, Preisvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 a) Therapiehinweise des Gemeinsamen Bundesausschusses . . . . . . . . . . . . 237 b) Verordnungshinweise auf regionaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 7. Arzneimittelvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 8. Aut-idem-Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 9. Bewertung eines Arzneimittels nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V . . . . 244 10. Verordnungsfähigkeit in Sonderfällen: Off-label-Use, Systemversagen und Nikolaus-Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 a) Off-Label-Use . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 b) Systemversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 c) Verfassungskonforme Auslegung der Leistungsvorschriften . . . . . . . . . . 252 III. Das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Die Tatbestandsmerkmale des Wirtschaftlichkeitsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . 254 a) „ausreichend“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 b) „Maß des Notwendigen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 c) „zweckmäßig“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 d) „wirtschaftlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Verhältnis der Tatbestandsmerkmale zueinander und zum Nutzenbegriff . . . 256

B. Der Nutzenbegriff im SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 I.

Der Stand der medizinischen Erkenntnisse in § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V . . . . . . 258 1. Das Verhältnis von Qualität, Wirksamkeit und Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Stand der medizinischen Erkenntnisse und Nutzenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 260

II. Konkretisierung des Nutzenbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Konkretisierung auf gesetzlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 a) Nutzen als Abwägungsergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 b) Nutzenmaß und Endpunktbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 c) Nutzen im Behandlungsalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 d) Zusatznutzenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Inhaltsverzeichnis

13

e) Nutzennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Konkretisierung durch den GBA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 a) Der Nutzenbegriff in der Verfahrensordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 aa) Nutzenbewertung nach § 92 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 bb) Nutzenbewertung zur Festbetragsgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . 271 cc) Konkretisierung der frühen Nutzenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 dd) Nutzenbewertung zur Ermittlung des Therapiestandards . . . . . . . . . . 273 ee) Nutzenbewertung bei arzneimittelähnlichen Medizinprodukten . . . . 273 ff) Bewertung vergleichbarer Darreichungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . 273 gg) Der Nutzenbegriff nach der Verfahrensordnung des GBA . . . . . . . . . 274 b) Außenverbindlichkeit der Konkretisierung des Nutzenbegriffs . . . . . . . . 274 3. Konkretisierung durch das IQWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 a) Der Nutzenbegriff in den Allgemeinen Methoden des IQWiG . . . . . . . . . 279 b) Außenverbindlichkeit der Konkretisierung des Nutzenbegriffs . . . . . . . . 282 C. Die Methodik der Nutzenbewertung von Arzneimitteln im SGB V . . . . . . . . . . . . . . 285 I.

Bindungswirkung der Zulassungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Die Zulassungsentscheidung als Wissensquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Vorgreiflichkeitsrechtsprechung des Bundessozialgerichts . . . . . . . . . . . . . . 286 a) Dogmatische Grundlagen der Vorgreiflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 b) Entwicklungslinien in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 3. Dogmatisches Verhältnis der Zulassungsentscheidung zur Nutzenbewertung 291 a) Kollisionslage der Nutzenbewertungen des AMG und SGB V . . . . . . . . 291 b) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

II. Wissensquellen der Nutzenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 1. Die Wissensgenerierung durch den GBA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 a) Internes Bewertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 b) Wissensgrundlagen der Nutzenbewertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 2. Die Wissensgenerierung durch das IQWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 a) Internes Bewertungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 b) Auswahl der Wissensquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 3. Außenwirkung und Kontrollmaßstab der Nutzenbewertungen des GBA . . . 302 a) Kooperationsverhältnis zwischen IQWiG und GBA . . . . . . . . . . . . . . . . 303 b) Verhältnis zum Beurteilungsspielraum des GBA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 c) Reduzierung der gerichtlichen Kontrolldichte von Empfehlungen des IQWiG 304 d) Das Konzept der prozeduralen Kontrolle in der Nutzenbewertung . . . . . 305 e) Rechtsschutz durch prozedurale Kontrolle des „Wissens zweiter Ordnung“ 305

14

Inhaltsverzeichnis 6. Kapitel



Ausblick und Zusammenfassung

307

A. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 B. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

Abkürzungsverzeichnis Neben den gängigen rechtswissenschaftlichen und den im Text selbst definierten Abkürzungen finden die folgenden Abkürzungen Verwendung: Ann Intern Med BfArM BMC BMG BMJ Br J Clin Pharmacol CHMP Clin Pharmacol Ther CMAJ CONSORT CPMP DÄBl DMW EJC EQUATOR FDA Forsch Komplementmed GBA GKV GO-GBA GRADE ICH

Int J Epidemiol IQWiG JAMA J Clin Epidemiol J Med Ethics J Natl Cancer Inst Med Klin NEJM PRISMA QJM

Annals of Internal Medicine (Zeitschrift) Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BioMed Central (Zeitschrift) Bundesministerium für Gesundheit British Medical Journal (Zeitschrift) British Journal of Clinical Pharmacology (Zeitschrift) Committee for Medicinal Products for Human Use Clinical Pharmacology & Therapeutics (Zeitschrift) Journal of the Canadian Medical Association (Zeitschrift) Consolidated Standards of Reporting Trials Committee for Proprietary Medicinal Products Deutsches Ärzteblatt (Zeitschrift) Deutsche Medizinische Wochenschrift (Zeitschrift) European Journal of Cancer (Zeitschrift) Enhancing the Quality and Transparency of Health Research U. S. Food and Drug Administration Forschende Komplementärmedizin (Zeitschrift) Gemeinsamer Bundesausschuss Gesetzliche Krankenversicherung Geschäftsordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluations International Council (vormals: Conference) for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use International Journal of Epidemiology (Zeitschrift) Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen Journal of the American Medical Association (Zeitschrift) Journal of Clinical Epidemiology (Zeitschrift) Journal of Medical Ethics (Zeitschrift) Journal of the National Cancer Institute (Zeitschrift) Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin (Zeitschrift) New England Journal of Medicine (Zeitschrift) Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and MetaAnalyses QJM: An International Journal of Medicine (Zeitschrift)

16 RCT RohrFLtgV

STARD Statist. Med. STROBE VerfO-1 VerfO-2 VerfO-4 VerfO-5 ZaeF ZaeFQ ZEFQ

Abkürzungsverzeichnis Randomized controlled clinical trial Verordnung über Rohrfernleitungsanlagen vom 27.09.2002 (BGBl. I S. 3777, 3809), zuletzt geändert durch Art. 99 des Gesetzes vom 29.03.2017 (BGBl. I S. 626) Standards for Reporting of Diagnostic Accuracy Statistics in Medicine (Zeitschrift) Strengthening the Reporting of Observational studies in Epidemiology Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses, 1. Kapitel Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses, 2. Kapitel Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses, 4. Kapitel Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses, 5. Kapitel Zeitschrift für ärztliche Fortbildung (Zeitschrift) Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität (Zeitschrift) Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (Zeitschrift)

1. Kapitel

Einleitung und Problemüberblick Die Arzneimittelversorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung ist seit Jahrzehnten ein Hauptbetätigungsfeld des Gesetzgebers im Bereich des Gesundheitsrechts. Seit Inkrafttreten des SGB V sind die Vorschriften zur Verordnung und Abgabe von Arzneimitteln als Leistungen der GKV in größerem Umfang in den Jahren 19931, 19962, 19973, 19994, 20005, 20016, 20027, 20038, 20069, 200710, 201011, 201112, 201413, und 201714 reformiert worden. Seit dem Inkrafttreten des SGB V ist somit keine Legislaturperiode vergangen, ohne dass der Gesetzgeber 1

Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz – GSG) vom 21.12.1992, BGBl. I S. 2266. 2 Gesetz zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (Beitrags­ entlastungsgesetz – BeitrEntlG) vom 01.11.1996, BGBl. I S. 1631. 3 Zweites Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (2. GKV-Neuordnungsgesetz – 2. GKV-NOG) vom 23.06.1997, BGBl. I S. 1520. 4 Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz – GKV-SolG) vom 19.12.1998, BGBl. I S. 3853. 5 Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000) vom 22.12.1999, BGBl. I S. 2626. 6 Gesetz zur Ablösung des Arznei- und Heilmittelbudgets (Arzneimittelbudget-Abgabegesetz – ABAG) vom 19.12.2001, BGBl. I S. 3773. 7 Gesetz zur Begrenzung der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz – AABG) vom 15.02.2002, BGBl. I S. 684; Gesetz zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz – BSSichG) vom 23.12.2002, BGBl. I S. 4637. 8 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) vom 19.11.2003, BGBl. I S. 2190. 9 Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung (Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz – AVWG) vom 26.04.2006, BGBl. I S. 984. 10 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKVWettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26.03.2007, BGBl. I S. 378. 11 Gesetz zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und anderer Vorschriften (GKVÄndG) vom 24.07.2010, BGBl. I S. 983; Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) vom 22.12.2010, BGBl. I S. 2262. 12 Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz – GKV-VStG) vom 22.12.2011, BGBl. I S. 2983. 13 Vierzehntes Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (14. SGB V-Änderungsgesetz – 14. SGB V-ÄndG) vom 27.03.2014, BGBl. I S. 261. 14 Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (AMVSG) vom 04.05.2017, BGBl. I S. 1050.

18

1. Kap.: Einleitung und Problemüberblick

eine wesentliche Änderung der Vorschriften über die Versorgung mit Arzneimitteln im SGB V vorgenommen hätte. Einige Änderungsgesetze beschränkten sich allein auf die Kostenseite und betrafen schwerpunktmäßig Zuzahlungen der Versicherten, wie beispielsweise im Beitragsentlastungsgesetz aus dem Jahr 1996, oder gesetzliche Rabatte auf den Arzneimittelabgabepreis, die 2002 mit dem Beitragssatzsicherungsgesetz erstmals eingeführt worden sind. Andere Änderungsgesetze reformierten dagegen auch die Verordnungsfähigkeit von bestimmten Medikamenten, so beispielsweise das GKV-WSG oder das AMNOG. Die Regulierung der Arzneimittelversorgung in der GKV steht dabei in einem engen Zusammenhang mit der Regulierung der Arzneimittelzulassung. Da zum einen die individuelle Gesundheit ein grenzenlos optimierbares Gut zu sein scheint und zum anderen viele Krankheiten trotz aller Fortschritte der Medizin nicht vollständig geheilt werden können, sind Ärzte wie Patienten stets auf der Suche nach wirksameren und nebenwirkungsärmeren Therapien. Somit schwingt mit jedem neu zugelassenen Arzneimittel mindestens implizit, angesichts von Werbemaßnahmen der Hersteller oftmals auch explizit die Hoffnung mit, nunmehr den therapeutischen Durchbruch erreicht zu haben. Dass diese therapeutischen Durchbrüche in vielen Fällen in der Behandlungswirklichkeit nicht erreichbar sind, aber die neuen Arzneimittel zu erheblichen Kostenbelastungen für die GKV führen, ist eine der Haupttriebkräfte der eingangs aufgezeigten Dynamik der Reformen des SGB V. Gleichzeitig stellt der medizinische Fortschritt das Recht der Arzneimittelregulierung immer wieder vor neue Herausforderungen. Die Arzneimittelforschung und -entwicklung ist eine hochinnovative und hochrisikoreiche Industrie, nicht nur für die Unternehmer mit Blick auf ihre Investitionen, sondern insbesondere für die Patienten, die mit wirksamen und sicheren Arzneimitteln behandelt werden sollen. Ob ein Arzneimittel in der Behandlungswirklichkeit sicher ist, lässt sich dagegen im Vorfeld der Zulassung oftmals nicht mit Gewissheit sagen, da die Wirksamkeit in Studien nur unter artifiziellen Bedingungen gezeigt werden kann und sich seltene und sehr seltene Nebenwirkungen in den Zulassungsstudien höchstens als Zufallsbefund andeuten. Auf der anderen Seite führt eine verzögerte oder versagte Zulassung möglicherweise dazu, dass den Patienten eine wirksame Therapie vorenthalten wird – das sogenannte „regulatorische Dilemma“. Das Zulassungsrecht hat hierauf, wie im 4.  Kapitel aufgezeigt wird, verschiedene Antworten gefunden, die zu einem kontinuierlichen Risikobeobachtungsprozess führen und dafür in medizinisch begründeten Fällen eine Zulassung auch auf unsicherer Datenlage ermöglichen. Das GKV-Recht wiederum knüpft seinerseits an die Zulassungsentscheidung an, ganz grundlegend indem regelmäßig nur zugelassene Arzneimittel als Leistung der GKV beansprucht werden können. Zur Steuerung der Preisbildung bezieht sich das SGB V gleichfalls auf den mit der Zulassung festgestellten Nutzen des Arzneimittels, bewertet diesen jedoch durch eigene Organisationen nach eigenen Kriterien. Diese Bewertung im GKV-System kann dazu führen, dass Spannungen

1. Kap.: Einleitung und Problemüberblick

19

zwischen der Nutzenbewertung und der Zulassungsentscheidung entstehen. Dies bedeutet insbesondere für pharmazeutische Unternehmer erhebliche Schwierigkeiten in der Studienplanung und in der Marktzugangsstrategie, die sich auch auf die Versorgung der Patienten in Deutschland auswirken können, etwa indem Arzneimittel vom Markt genommen werden, die einen enttäuschenden Preis im Rahmen der Preisregulierungsmaßnahmen in der GKV erzielen. Die Methodik der Nutzenbewertung im SGB V wird im 5. Kapitel beleuchtet. Die Nutzenbewertungsverfahren im Krankenversicherungsrecht und im Arzneimittelrecht müssen sich in ihren Entscheidungsprozessen auf vorhandenes Wissen über das zu bewertende Arzneimittel stützen. Dadurch verweist das Recht auf außerrechtliches, nämlich primär medizinisches Wissen. Die medizinische Wissenschaft und Praxis haben sich in den letzten Jahrzehnten einem grundlegenden Wandel ihrer Grundannahmen zum Kausalitätskonzept in der Therapie von Erkrankungen unterzogen, dessen Konsequenzen aktuell nach wie vor ausgelotet und diskutiert werden. Sie hat ihre Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse auf den Boden der „evidenzbasierten Medizin“ gestellt, die im 3. Kapitel erläutert wird. Unter diesem neuen Paradigma wird für die Annahme, eine Therapie wirke, ein klinischer Beweis gefordert, eine „Evidenz“. Die Aussagekraft eines klinischen Beweismittels wird anhand statistischer Prinzipien und Standards überprüft und bewertet. Die Standards für die methodische Bewertung ergeben sich aus einem „Meta-Diskurs“ in der medizinischen Wissenschaft, der durch verschiedene informelle Gremien, Arbeitsgruppen und Konsensuskonferenzen konsolidiert und für die praktische Forschung handhabbar gemacht wird. Einzelne dieser Prozesse werden im 3. Kapitel näher vorgestellt. Die medizinische Methodik der evidenzbasierten Medizin ist über die Rezeption medizinischen Sachverstandes auch in die rechtlichen Nutzenbewertungsverfahren eingezogen. Aus rechtlicher Sicht bildet dieser Wandel des medizinischen Erkenntniskonzepts jedoch nur einen Anwendungsfall eines grundsätzlicheren Wandels des Wissens im Bereich der Hochtechnologie: Während Alltagswissen gesellschaftlich einheitlich verteilt ist und allgemein gewusst wird, ist für das Verständnis von innovativen Hochtechnologien ein Spezialwissen erforderlich, das sich nicht mehr der bislang bekannten sozialen Wissensspeicher bedienen kann, sondern das im Gegenteil nur in Expertenkreisen und teilweise sogar nur bei den Entwicklern der riskanten Technologie vorhanden ist. Es bedarf daher einer neuen Fokussierung auf die Verfahren der Wissensgenerierung, um diese riskanten Technologien gleichfalls beurteilen und regulieren zu können. Diese Entwicklung vollzieht das Recht bereits seit einigen Jahrzehnten nach, indem das Modell der sachverständigen Verwaltung, die kontrollierend und genehmigend – oder verbietend – Gefahren abwehrt, durch eine netzwerkartige Textur unterschiedlicher Expertengremien mit Beratungs-, teilweise auch mit Sachentscheidungskompetenzen überlagert wird. Die Wertungsmuster stammen unter anderem aus dem Prüfungs- und Medienrecht, vielfach aber aus neueren Regulierungssektoren wie dem Umwelt- und Immissionsschutzrecht, mit deren Hilfe nunmehr gleichfalls Arzneimittel und Biotechnologie

20

1. Kap.: Einleitung und Problemüberblick

reguliert werden. Die zugrundeliegenden Verfahren der Wissensgenerierung und der Wandel in der Struktur der gesellschaftlichen Wissensproduktion werden im 2. Kapitel erörtert und bilden damit die rechtliche Folie, vor deren Hintergrund die Arzneimittelregulierung untersucht wird. Das Ziel dieser Arbeit besteht dementsprechend in einer Untersuchung des Umgangs mit dieser neuen Form des Wissens, das durch transnational geprägte Standards außerrechtlich gebildet wird, in rechtlichen Entscheidungsprozessen und in der gerichtlichen Kontrolle. Sie strebt dagegen keine Entscheidungstheorie der Nutzenbewertung an und will auch nicht die (demokratische)  Legitimation der zugrundeliegenden rechtlichen Architektur hinterfragen. Vielmehr geht es etwas bescheidener um Kriterien und Verfahren in rechtlichen Entscheidungsprozessen, um transnational15 gebildete Standards zur fachwissenschaftlichen Wissensgenerierung dogmatisch handhabbar zu machen und die Dualität aus Tatsachenermittlung und Rechtsanwendung um eine dritte Kategorie zu erweitern, nämlich um die normative Dimension der Bildung methodischer Standards.

15 Unter Transnationalität sei vorliegend die Ebene grenzüberschreitender Sachverhalte zwischen dem Nationalstaat und dem Bereich des Zwischenstaatlichen oder Supranationalen verstanden, die vorwiegend durch die Beteiligung von Akteuren unterhalb der Staatenebene gekennzeichnet ist. Transnationale Normen sind somit von vorwiegend nichtstaatlichen Akteuren in formalisierten Verfahren vereinbarte Verhaltensregeln; insoweit folgt die Begriffsverwendung hier Viellechner, Transnationalisierung des Rechts, 2013, S. 180 f.

2. Kapitel

Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung Die Voraussetzung für jegliches staatliche Handeln ist die Verarbeitung von Wissen.1 Informationen müssen im Rahmen der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage ermittelt und verarbeitet werden. Ohne diese Leistung der Sammlung, Systematisierung und Prozessierung von Informationen können keine zielgerichteten Handlungen geplant und vorgenommen werden; es würde die „Handlungskapazität“ fehlen.2 Diese Prozesse durchzuführen ist seit jeher Aufgabe der Verwaltung.3 Nicht nur im Bereich des Verwaltungshandelns, sondern auch in der exekutivischen Normsetzung bilden die Informationserhebung und -verarbeitung die Grundlage sachgerechter Entscheidungen. In ideengeschichtlicher Hinsicht sind diese Grundsätze ein Ausfluss des Leitbildes des modernen Staats als rationaler Staat.4 Im Bereich der staatlichen Überwachung komplexer Hochtechnologien, zu denen nicht nur technische Großanlagen wie Atomkraftwerke oder manche Infrastrukturprojekte gehören, sondern insbesondere auch Technologiesektoren wie die Arzneimittelforschung, Gentechnologie und Nanotechnologie, stoßen die Möglichkeiten der klassischen verwaltungsrechtlichen Sachverhaltsermittlung und Normanwendung an ihre Grenzen. Die Verwaltungsrechtsdogmatik hat sich in der Folge bemüht, Abhilfe zu schaffen, und als Reaktion neue Rechtsfiguren und Regelungsinstrumente entwickelt. Allerdings zeigt sich, dass auch diese Mechanismen nicht ausreichen, um den immensen Wandel der Wissensgenerierung in Wissenschaft und Technik rechtlich abzubilden. Im Folgenden werden die grundlegenden Mechanismen der Informationsermittlung und Informationsverarbeitung für Entscheidungsformen der Exekutive sowie in Grundzügen auch für die Normsetzung dargestellt. Es wird untersucht, inwieweit die Wissensverarbeitung der Exekutive einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt und welchen Begrenzungen die gerichtlichen Erkenntnisverfahren unterliegen.

1 Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 11. 2 Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 11. 3 Vesting, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 20 Rn. 1 ff. m. w. N. 4 So Fassbender, Wissen als Grundlage staatlichen Handelns, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 76 Rn. 1; Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 1; s. a. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 3 m. w. N. in Fn. 1.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

A. Information und Wissen Um von Wissensgenerierung und Wissensrezeption sprechen zu können, ist zuvor eine Vergewisserung über die zugrundeliegenden Begrifflichkeiten angezeigt. Dies gilt umso mehr, als bereits der Wissensbegriff ungeachtet seiner praktischen Bedeutung selbst kein Bestandteil der klassischen Verwaltungsrechtsdogmatik ist.5 Obgleich die Verwaltung selbstverständlich seit jeher mit Informationen und mit Wissen gearbeitet hat, fehlte es jedoch an einem systematischen Zugang zu diesem Aspekt des Verwaltungshandelns, denn als Analysekategorien standen schwerpunktmäßig die rechtsförmigen Handlungsformen und das Verwaltungsverfahrensrecht im Mittelpunkt.6 Dies ist aus einer juristischen Perspektive auch naheliegend, da als rechtliche Maßstäbe des Verwaltungshandelns primär Rechtmäßigkeit und „Richtigkeit“ gelten, die als formell und materiell rechtmäßiges, also gesetzeskonformes Handeln rekonstruiert werden.7 Außerrechtliche Maßstäbe bedürfen daher der Übersetzung in Rechtsnormen und daraus folgende Handlungsbefugnisse der Exekutive, um zum Bestandteil der rechtlichen Kontrolle der Verwaltung zu werden.8 Angesichts der Vielzahl der wissenschaftlichen Disziplinen, die mit einem Wissensbegriff operieren, verwundert es nicht, dass die Definitionen des Begriffs „Wissen“ ebenso zahlreich sind.9 Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum finden sich ebenfalls unterschiedliche Definitionen des Wissens und vorgelagerter Termini wie „Informationen“ und „Daten“. Daten werden in diesem Zusammenhang als „Zeichen, die auf einen Sachverhalt referieren“, definiert, während Informationen als die einzelne Daten verknüpfenden Sinnelemente verstanden werden.10 Daten sind dabei die strikt formalisierten und nicht an kommunikative Verknüpfungsakte angebundenen Zeichen, gleichsam ein Rohmaterial für sozial sinnhafte

5 Albers, Die Komplexität verfassungsrechtlicher Vorgaben für das Wissen der Verwaltung. Zugleich ein Beitrag zur Systembildung im Informationsrecht, in: Spiecker gen. Döhmann / Collin (Hr.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens, 2008, S. 50 (51). 6 Albers, Die Komplexität verfassungsrechtlicher Vorgaben für das Wissen der Verwaltung. Zugleich ein Beitrag zur Systembildung im Informationsrecht, in: Spiecker gen. Döhmann / Collin (Hr.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens, 2008, S. 50 (51); Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 11. 7 S. nur Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 11 Rn. 1 f. 8 S. Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 11 Rn. 3. 9 Einen Überblick verschaffen Stehr, Wissen und Wirtschaften, 2001, S. 53 ff.; Knoblauch, Wissenssoziologie, 3. Aufl. 2014, S. 141 ff., 351 ff.; Degele, Informiertes Wissen, 2000, S. 37 ff. 10 Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, in: Röhl (Hr.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010, S. 11 (14); Kluth, Die Strukturierung von Wissensgenerierung durch das Verwaltungsorganisationsrecht, in: Spiecker gen. Döhmann / Collin (Hr.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, S. 73 (75 f.).

A. Information und Wissen

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Kommunikation.11 Insoweit ist freilich fraglich, in welchen Fällen ein solcher „Urzustand“ an Interpretationsfreiheit vorliegen kann; Vesting bringt als Beispiel die reinen Zahlen. Bereits der Prozess der Beobachtung von realweltlichen Vorgängen ist mit Auswahl- und Interpretationsvorgängen verbunden, nämlich mit der Auswahl des gerade relevanten Geschehens aus der Menge aller physikalischen Vorgänge und der Codierung dessen in sozial definierten Zeichensystemen.12 Allerdings können auch Zeichen, die einen Ausschnitt der Realität abbilden, als Daten bezeichnet werden, wenn der Datenbegriff am Zeichencharakter und an der kontextvariablen Nutzbarkeit durch initiale Erhebung und Speicherung festgemacht wird.13 Daten sind daher treffender in diesem Sinne als gespeicherte Zeichen zu verstehen, die als Informationsgrundlage dienen können.14 Als Informationen werden dementsprechend kontextbezogene Verknüpfungen von Daten oder anderen Formen von Beobachtungen, Mitteilungen oder Tatsachenwahrnehmungen verstanden.15 Ein vielfach hervorgehobenes Begriffselement der Information ist dabei das Sinnelement, das heißt die nach Relevanzkriterien vorgenommene Verknüpfung der genannten Tatsachengrundlagen. Diese sinnhafte Verknüpfung ist dabei kontextabhängig, sodass die Tatsachen je nach Kontext bzw. Fragestellung zu unterschiedlichen Informationen verknüpft werden können. Wissen wird in diesem Verständnis als Kontext der weiteren Interpretation von Informationen verstanden, der sich durch eine kognitive Komponente auszeichnet.16 Dieser kognitive Kontext führt zu einer weitergehenden Verknüpfung von Informationen, sodass die neue Information gleichsam in ein vorhandenes Netz 11 Vesting, Die Bedeutung von Information und Kommunikation für die verwaltungsrechtliche Systembildung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 20 Rn. 11. 12 Willke, Systemisches Wissensmanagement, 2. Aufl. 2001, S. 7 f. 13 Albers, Die Komplexität verfassungsrechtlicher Vorgaben für das Wissen der Verwaltung. Zugleich ein Beitrag zur Systembildung im Informationsrecht, in: Spiecker gen. Döhmann / Collin (Hr.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens, 2008, S. 50 (54). 14 Albers, Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  II, 2. Aufl. 2012, § 22 Rn. 11; Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, in: Röhl (Hr.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010, S. 11 (14); Kluth, Die Strukturierung von Wissensgenerierung durch das Verwaltungsorganisationsrecht, in: Spiecker gen. Döhmann / Collin (Hr.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, S. 73 (75). 15 Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, in: Röhl (Hr.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010, S. 11 (14); Albers, Die Komplexität verfassungsrechtlicher Vorgaben für das Wissen der Verwaltung. Zugleich ein Beitrag zur Systembildung im Informationsrecht, in: Spiecker gen. Döhmann / Collin (Hr.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens, 2008, S. 50 (54); Albers, Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 22 Rn. 12. 16 Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, in: Röhl (Hr.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010, S. 11 (15); so auch Willke, Systemisches Wissensmanagement, 2. Aufl. 2001, S. 11.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

früherer Informationen eingewoben wird. Das Wissen ist somit zugleich „Faktor und Produkt des Kontexts“ der Verknüpfung von Informationen17 oder auch eine „stabilisierte Erwartungsstruktur“18. Diese Auffassungen von Information und Wissen führen dazu, dass beide Begriffe eine kontextabhängige Konstruktion aus bestimmtem Tatsachenmaterial, den Daten, bezeichnen. Trute spricht davon, dass Wissen „nur in je aktuellen Operationen verfügbar“ sei.19 Er konzediert, dass in dieser Begriffsverwendungsweise das Wissen rechtlich kaum handhabbar sei, weil sich das Recht nicht auf die jeweilige Operation aus individueller Kognition und der verfügbaren Informationsbasis beziehen könne, und bevorzugt das Konzept der Wissensregime, die stärker verfestigte Zusammenhänge von „Praktiken, Regeln, Prinzipien und Normen des Umgangs mit Wissen und unterschiedlichen Wissensformen in bestimmten Handlungszusammenhängen“ wiedergeben.20 Dies lässt an eine Beobachtung zweiter Ordnung der Wissensfabrizierung denken, also der Regeln, nach denen Informationen kontextabhängig zu Wissen verknüpft werden. Dieses Konzept wird unter dem Begriff des „Wissens zweiter Ordnung“ diskutiert.21 Die dargestellten Begriffsverwendungsweisen sind erkennbar soziologisch inspiriert. Im rechtswissenschaftlichen Kontext unterscheiden sie sich von gesetzlichen Definitionen der gleichen Begriffe wie etwa „Information“ in § 2 Nr. 1 des Informationsfreiheitsgesetzes des Bundes.22 Bezüglich der rechtlichen Regelungsstruktur von Hochtechnologien erscheinen folgende Aspekte dieser soziologisch inspirierten Wissenskonzeption als besonders bedeutsam: Wissen eröffnet im jeweiligen sozialen Kontext Handlungsspielräume, indem es erlaubt, neue Informationen spezifisch zu verknüpfen. Das Wissen besteht dabei aus drei Komponenten: zum einen aus dem Zugang zu neuen Informationen, ferner aus einem „Hintergrundnetz“ an Wissen, in das die neuen Informationen eingeflochten werden, und schließlich aus den kognitiven Fähigkeiten, das neue Wissen durch Verknüpfung der hinzutretenden Informationen mit dem vorhandenen Wissensbestand zu pro-

17 Albers, Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  II, 2. Aufl. 2012, § 22 Rn. 14. 18 Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, in: Röhl (Hr.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010, S. 11 (16). 19 Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, in: Röhl (Hr.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010, S. 11 (22). 20 Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, in: Röhl (Hr.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010, S. 11 (22). 21 Zum Konzept des Wissens zweiter Ordnung vgl. Albers, Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 22 Rn. 17. 22 Zum Informationsbegriff im IFG s. Rossi, IFG, 2006, § 2 Rn.  5 ff.; Scheel, in: Berger / Partsch / Roth / Scheel, IFG, 2. Aufl. 2013, § 2 Rn. 8 ff. Dass der Gesetzgeber einen recht verkürzten Begriff gewählt habe, kritisiert Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, § 2 Rn. 13 ff., insb. Rn. 22.

A. Information und Wissen

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duzieren.23 Sowohl der Wissensbestand selbst als auch die Fähigkeiten zur Verknüpfung neuer Informationen mit diesem Wissensbestand sind nicht so leicht kommunizierbar wie neue Informationen. Sie stellen vielmehr eine Form von Fähigkeit dar, die personengebunden ist. Zwar können auch bisher nicht mit dem Wissensbestand vertraute Personen das Wissen erwerben und sich gleichfalls die Fähigkeiten aneignen, zusätzliche Informationen mit diesem Bestand zu verknüpfen und dadurch selbst neues Wissen zu generieren, doch bedarf es dazu neben der kognitiven Befähigung auch erheblicher Investitionen an Zeit und Ressourcen. Somit wächst die Chance von Organisationen, die bereits einen Wissensvorsprung erworben haben, sich weiteres exklusives Wissen anzueignen: der Vorsprung wächst. Im Falle der wirtschaftlichen Verwertbarkeit des Wissensbestandes wachsen dadurch auch ökonomische Erfolgsaussichten. Dieser Zusammenhang zwischen ökonomischer Verwertbarkeit und wachsender Exklusivität des Wissensbestandes ist im Bereich der komplexen Hochtechnologien von besonderer Bedeutung. Wollenschläger beschreibt die zugrundeliegenden Prozesse mit den Schlagworten der Instabilität und der Ubiquität des Wissens.24 Unter Instabilität wird dabei im Kern eine Revisionsoffenheit und Veränderungsanfälligkeit der Wissensbestände verstanden.25 Unabhängig von paradigmatischen Fragen der Selbstbeschreibung der Naturwissenschaften lässt sich jedenfalls für mehrere moderne Technologiebereiche eine hohe Dynamik bei erheblicher Komplexität des Gegenstandes beobachten. Dies führt dazu, dass sich der allgemein verfügbare Wissensbestand innerhalb einer Disziplin beträchtlich destabilisiert. Die Fortschritte innerhalb der betroffenen Disziplinen sind lediglich für Spezialisten eines Teilbereichs dieses Faches zugänglich und ergeben sich nicht aus den Lehrbüchern. In der Medizin wird diese Veränderung des Wissensbestandes besonders durch den Aufstieg der evidenzbasierten Medizin deutlich. Dies bedeutet unter anderem, dass nicht das in der universitären Ausbildung gelehrte und in der wissenschaftlichen und professionellen Praxis weiterentwickelte Wissen den jeweiligen Stand der Erkenntnisse beschreibt, sondern nach bestimmten methodischen Verfahren erstellte Forschungsergebnisse, die typischerweise in anerkannten Journals publiziert und als methodisch hochwertig anerkannt werden. Dagegen verlieren die Praktiker des Fachs, in der Krankenbehandlung tätige Ärzte, den Anschluss an die wissenschaftliche Diskussion mit der Folge, dass sie über evidenzbasierte Leitlinien Praxishandreichungen zur Anwendung der neuen Forschungserkenntnisse erhalten müssen. Dass ein praktisch tätiger Arzt dem rasanten Fortschritt der medizinischen Erkenntnisse in der Realität nicht folgen kann, ist eine spezielle Folge des allgemeinen Phänomens, dass mit der wachsenden Informationsmenge eine

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Vgl. Hoffmann-Riem, Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft – Einleitende Problemskizze, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hr.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 9 (12); Stehr, Wissen und Wirtschaften, 2001, S. 78 f. 24 Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 30 ff. 25 Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 31.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

Zunahme des Nichtwissens einhergeht.26 Somit zeigt sich an der Wissenschaftsdisziplin der Medizin exemplarisch, was auch für andere Disziplinen gilt, die sich mit hochdynamischen Forschungsfeldern wie der Biochemie, Informationstechnologie etc. befassen: Die universitäre und professionelle Ausbildung vermag lediglich eine Grundlage für die Ansammlung eines Wissensbestandes zu vermitteln, das Wissen selbst differenziert sich dagegen weiter aus und wird nicht mehr von allen oder auch nur den meisten Mitgliedern der Profession bzw. Disziplin geteilt. Diese Entwicklung bewirkt nun eine Ubiquität bzw., präziser formuliert, eine Dezentralisierung des Wissens.27 Der Umstand, dass sich moderne, komplexe Technologien weder mit dem allgemein oder noch mit dem professionell geteilten Wissensbestand hinreichend beherrschen lassen, führt dazu, dass das erforderliche spezielle Wissen distribuiert ist, also nicht zentral verfügbar ist. Es genügt somit etwa nicht, als überwachende und kontrollierende Behörde Fachleute der jeweiligen Disziplin vorzuhalten und diese durch Erfahrung das erforderliche Wissen erwerben zu lassen, denn das für eine neue Technologie erforderliche Spezialwissen gehört nicht notwendigerweise zum geteilten Wissensbestand. Vielmehr werden neue, riskante Technologien vielfach direkt in Forschungseinrichtungen entwickelt, sodass das dort vorhandene, an der Speerspitze des Fortschritts stehende Spezialwissen lediglich in dieser Einrichtung und ggf. in einer Teilgruppe der Fachleute der Disziplin verfügbar ist. Es gibt jedoch gleichzeitig nicht nur einen Ort, etwa Universitäten, aus denen dieses hochspezialisierte Wissen stammt, sondern es kann sich aus jeder distribuierten Expertengruppe, jedem Netzwerk, jedem Land heraus entwickeln und nur dort verfügbar sein, bis es zum allgemein verfügbaren Wissen durch Anschlussoperationen zunächst in Spezialistenzirkeln, sodann auch in den breiteren Fachkreisen gemacht wird. Während dieses Zeitraumes ist jedoch gerade die regulierende Entscheidung der Verwaltung zu treffen, sodass die jeweilige Verwaltungsbehörde auf die Wissensquellen bzw. „Wissensspeicher“ in der Gesellschaft zurückgreifen muss, um überhaupt in die Lage versetzt zu werden, sich das notwendige Spezialwissen in der zur Verfügung stehenden Zeit anzueignen.28 Die dadurch entstehenden Kooperationen können auf einmaligen Wissenstransfer oder auch auf Dauer eingestellt sein. Gleichzeitig geht mit der Dezentralisierung des Wissens eine neue Subjektivität des Wissens einher. Bereits im klassischen Wissensparadigma waren die Unterschiede zwischen Expertenmeinungen bekannt, die sich neben Subjektivismen der einzelnen Wissensträger auch auf Differenzen zwischen akademischen Schulen, sich veränderndes Wissen und unterschiedliche Herangehensweisen an Risiko­

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Augsberg, GesR 2012, 595 (596). Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 34 f. 28 Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 35.; Augsberg, DVBl. 2007, 733 (737). Zum Zeitaspekt des Verwaltungshandelns s. grundlegend Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 125 ff.; Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 37 Rn. 1 ff. 27

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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gewichtungen und Risikoeinschätzungen zurückführen ließen.29 Die entscheidende Behörde hatte in diesem Fall auf Grund ihres Sachverstandes eine Bewertung der Expertenmeinungen vorzunehmen und ihre Entscheidung zu treffen. Mit der zunehmenden Dezentralisierung des Wissens nimmt die Überprüfbarkeit der Expertenmeinungen ab. Je geringer nämlich der geteilte Wissensbestand innerhalb der wissenschaftlichen Fachdisziplin ist, desto stärker muss dem Votum der Experten im Einzelfall vertraut werden. Dieser Umstand verlagert den Gegenstand der behördlichen Kontrolle von der fachlichen Richtigkeit auf prozedurale Aspekte wie die Auswahl des Experten, die Repräsentativität der Quellen für die Pluralität in der Fachdisziplin, die Auswahl und Anwendung der Methodik etc. Im Verwaltungsverfahrensrecht stehen der Behörde dabei mehrere Mittel zur Verfügung, um auf den Wandel der Verfügbarkeit von Wissen in der Gesellschaft zu reagieren, die es im Folgenden kurz darzustellen und im Kontext der Wissensgenerierung durch Behörde in ihren Entscheidungsprozessen zu verorten gilt.

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung Im klassischen Modell gesetzesgebundenen Verwaltungshandelns, wie es sich paradigmatisch im allgemeinen Gefahrenabwehrrecht zeigt, ermittelt die Verwaltung einen Sachverhalt, den sie unter eine Norm subsumiert, um zur Rechtsfolge, nämlich dem hoheitlichen Verwaltungshandeln als Abschluss des Verwaltungsverfahrens, zu gelangen.30 Dieses Paradigma, auch als „Vollzugsmodell“ bezeichnet,31 erfordert, dass die jeweils handelnde Behörde über Sachverhaltswissen sowie über Norm- und Verfahrenswissen verfügt.32 Vermittels des Norm- und Verfahrens­ wissens vermag der jeweilige Amtswalter die Rechtsgrundlagen für das behördliche Handeln sowie die Entscheidungsoptionen zu ermitteln. Diese Form des Wissens ist als rechtliches Wissen gleichsam normativ vorgegeben. Dagegen ist das Sachverhalts- oder Tatsachenwissen nicht in dieser Weise rechtlich vorgeprägt, sondern muss in eigenen, rechtlich strukturierten Verfahren ermittelt bzw. generiert werden. Das Sachverhaltswissen, das die Verwaltung für ihre Entscheidungsfindung benötigt, ist Sonderwissen.33 Darunter sei solches Wissen verstanden, das nicht zu den allgemeinen, gesellschaftlich geteilten Wissensbeständen gehört, sondern 29

Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 19 m. w. N. 30 S. Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 36 Rn. 1 ff.; Rossen, Vollzug und Verhandlung, 1999, S. 5, 15 ff. 31 Hierzu Rossen, Vollzug und Verhandlung, 1999, S. 15 ff., 124 ff.; Ludwig, Privatisierung staatlicher Aufgaben im Umweltschutz, 1998, S. 48 ff. 32 Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 9 f. 33 Voßkuhle, Expertise und Verwaltung, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers (Hr.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 637 (643).

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

lediglich in bestimmten Gruppen wie Experten, Professionen etc. vorhanden ist. Dazu zählt nicht nur Wissen über Hochtechnologien, sondern in gleicher Weise etwa das spezielle Wissen über die Abfallentsorgung.34 Dieses Beispiel illustriert, dass viele Sachbereiche der Verwaltung in diesem Sinne ein Sonderwissen über Tatsachen des jeweiligen zu regelnden Lebensbereichs erfordern.35 In der deutschen Verwaltungsrechtsdogmatik stehen der Verwaltung unterschiedliche Quellen für Tatsachenwissen zur Verfügung, die im folgenden Abschnitt erörtert werden. Ausgehend vom Paradigma der sachverständigen Behörde, die selbst über notwendiges Hintergrundwissen verfügt, werden im Einzelfall erforderliche Tatsachen im Wege der Amtsermittlung erhoben. Hieran werden auch andere Individuen beteiligt, so etwa der Antragsteller, der Betroffene sowie erforderlichenfalls Sachverständige. Daneben stehen der Behörde in bestimmten, komplexeren Entscheidungssituationen weitere Wissensquellen zur Verfügung, beispielsweise in Planungsverfahren. Die resultierende behördliche Entscheidung wiederum unterliegt der gerichtlichen Kontrolle. Die dabei zugrundeliegenden epistemologischen Prämissen und die jeweiligen Grenzen der Wissensquellen werden im Folgenden gleichfalls dargestellt. Im Anschluss werden die Wissensquellen normsetzender Rechtsakte kurz beleuchtet. Die Darstellung orientiert sich dabei primär an den Vorschriften des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts, da die Regelungen des Sozialverwaltungsverfahrensrechts insoweit parallel konstruiert sind; bedeutsame Abweichungen werden im Text gesondert hervorgehoben.

I. Amtsermittlung durch die Verwaltung Im Zentrum der Wissensgenerierung im Verwaltungsverfahren steht der Amtsermittlungsgrundsatz. Hat die Behörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens gem. § 9 VwVfG einen Einzelfall zu entscheiden, indem sie einen Verwaltungsakt erlässt oder einen öffentlich-rechtlichen Vertrag abschließt, so muss sie gem. § 24 VwVfG den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln und dabei alle für den Einzelfall bedeutsamen Umstände berücksichtigen. Die Verwaltungsverfahren können unterschiedliche Komplexität haben und auch bis zu immissionsschutzrechtlichen oder atomrechtlichen Genehmigungen von Großanlagen reichen. Dabei werden nicht nur komplexe Industrien, sondern auch heterogene und weitgehend unzureichend erforschte Wissenschaftsfelder wie die Gentechnik, Nanotechnologie oder experimentelle Technologien wie unterirdische Kohlendioxidspeicher in gleicher Weise nach den Vorschriften des Verwaltungsverfahrens bearbeitet. Diesem rechtlichen Regelungsinstrumentarium liegt die Vorstellung zugrunde, dass Behörden 34 Voßkuhle, Expertise und Verwaltung, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers (Hr.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 637 (643). 35 Zu den unterschiedlichen Arten des dahingehenden Wissens s. Voßkuhle, Expertise und Verwaltung, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers (Hr.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 637 (645).

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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einzelfallbezogen in planvollen administrativen Entscheidungsprozessen Informationen erheben, verarbeiten und bewerten können.36 Die Verwaltungsbehörde hat im Verwaltungsverfahren die entscheidungserheblichen Tatsachen mit Hilfe der ihr zur Verfügung stehenden Informationsquellen zu erheben, um den Sachverhalt festzustellen, der ihrer Entscheidung zugrunde liegt.37 Dadurch soll sie zu einer Überzeugung von dem tatsächlichen Geschehen gelangen. Gelingt es ihr trotz aller zur Verfügung stehender Instrumente nicht, die Tatsachen vollständig zu ermitteln, hält sie diese jedoch für erforderlich, um die maßgebliche Rechtsnorm anzuwenden, so stellen sich Fragen der Darlegungs- und Beweislast im Verwaltungsverfahren bzw. des erforderlichen Grades der Wahrscheinlichkeit, um zur Anwendung der Rechtsnorm zu gelangen.38 Der Untersuchungsgrundsatz ist verwaltungsverfahrensrechtlich in § 24 VwVfG normiert und beinhaltet die Aufgabe der Behörde, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und dabei Art und Umfang der Ermittlungen zu bestimmen, ohne dabei an das Vorbringen der Beteiligten gebunden zu sein.39 Er wird zu den übergreifenden Verfahrensgrundsätzen gezählt, sodass er auch unabhängig von einer einfachgesetzlichen Normierung von Behörden zu beachten ist.40 Verschiedentlich erfolgt eine Ableitung direkt aus dem Grundsatz der Gesetzesbindung der Verwaltung als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips gem. Art.  20 Abs.  3 GG.41 Andernfalls könnte nämlich keine Verwaltungsentscheidung nach den Maßstäben der Richtigkeit und Sorgfalt getroffen werden, wenn der Sachverhalt unzureichend ermittelt worden wäre.42 36

Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 9. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 697. 38 Dazu Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990, S. 706 ff. 39 Schneider, Strukturen und Typen von Verwaltungsverfahren, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 28 Rn. 36. 40 Für eine Anwendung in allen Verwaltungsverfahren, wodurch fiskalisches Handeln ausgeschlossen wird, Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 60 Rn. 28; Pünder, in: Ehlers / Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 13 Rn. 14, § 14 Rn. 27; Schenk, in: Obermayer / Funke-Kaiser, VwVfG, 4. Aufl. 2014, § 24 Rn. 2; für eine Anwendbarkeit nur auf schlicht-hoheitliches Handeln und Verwaltungsprivatrecht Engel / Pfau, in: Mann / Sennekamp / Uechtritz, VwVfG, 2014, § 24 Rn.  11. Die Anerkennung als allgemeiner Rechtsgrundsatz wird dagegen abgelehnt und stattdessen eine analoge Anwendung auf andere Verwaltungsverfahren befürwortet von Ziekow, VwVfG, 3. Aufl. 2013, § 24 Rn. 1; eine analoge Anwendung als Geltungsgrund bevorzugt auch Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 24 Rn. 4. Dass dieser Streit im Ergebnis dahinstehen kann, stellt zutreffend Heßhaus, in: Bader / Ronellenfitsch, VwVfG, 2. Aufl. 2016, § 24 Rn. 3 fest; ohne Angabe des Geltungsgrundes dagegen Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 24 Rn. 13. 41 Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd.  II, 2004, § 26 Rn. 76; Bredemeier, Kommunikative Verfahrenshandlungen im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2007, S. 236; Ehlers, in: Ehlers / Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 2 Rn. 41; Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 24 Rn. 14; Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 24 Rn. 3a. 42 Marwinski, in: Brandt / Sachs (Hr.), Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2009, Kap. B Rn. 124. 37

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

Der Untersuchungsgrundsatz darf jedoch nicht als Auftrag verstanden werden, die volle materielle Wahrheit zu ermitteln, denn unabhängig von erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten würde dieses Ziel den zeitlichen und ökonomischen Rahmen eines rationalen Verwaltungsverfahrens sprengen.43 Dieses Ergebnis wird dogmatisch zumeist über die Annahme eines Auswahlermessens oder einer Beschränkung der Amtsermittlungspflicht durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begründet.44 Die Grenzziehung zu einer Verkürzung der Sachverhaltsermittlung fällt dabei schwer: Die Behörde darf nach einigen Stimmen im Schrifttum zwar Maßnahmen der Verfahrensökonomie treffen, allerdings nur hinsichtlich der Auswahl der Mittel, mit denen sie den Sachverhalt erforscht; ein Verzicht aus ökonomischen Gründen oder Zweckmäßigkeitserwägung auf die Ermittlung von Umständen, die für die rechtliche Beurteilung des Falles relevant sind, wird für unzulässig gehalten.45 Gleichwohl kann auch in diesem Bereich jede Beschränkung der Sachverhaltsermittlung auf bestimmte Erkenntnismittel aus Gründen der Personalkapazität oder der Kosten die Gefahr in sich bergen, eine unzulässige Verkürzung der Pflicht zur Ermittlung des vollständigen Sachverhalts gem. Art. 20 Abs. 3 GG und § 24 VwVfG zur Folge zu haben.46 Der Ausgleich dieser widerstreitenden Interessen ist somit im jeweiligen Einzelfall herzustellen. Innerhalb dieses Rahmens muss die Behörde nicht alle überhaupt vorstellbaren Informationen ermitteln und erheben, beispielsweise wenn bestimmte Tatsachen zwar rechtlich für die zu treffende Entscheidung relevant wären, es für ihr Vorliegen jedoch keinen konkreten Anhaltspunkt gibt.47 Ferner kommen der Behörde pragmatische Heuristiken zur Sachverhaltsermittlung zugute. Dazu gehört beispielsweise die Annahme von typischen Lebenssachverhalten, die lediglich dann im Einzelfall geprüft werden, wenn sich konkrete Anhaltspunkte für eine abweichende Konstellation ergeben. Stets muss die Behörde dabei die Bedeutung und die tatsächliche Schwierigkeit der Er­mittlungen in Relation zu den rechtlichen und tatsächlichen Folgen der Entscheidung setzen.48 Das Ziel der Amtsermittlung ist in § 24 VwVfG nicht expliziert. Gelegentlich enthält das materielle Recht entsprechende Zielvorgaben, indem geregelt wird, 43

Schneider, Strukturen und Typen von Verwaltungsverfahren, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 28 Rn. 36; Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8.  Aufl. 2014, § 24 Rn.  26; Engel / Pfau, in: Mann / Sennekamp / Uechtritz, VwVfG, 2014, § 24 Rn. 19. 44 Dazu BVerwG NVwZ 1999, 535 (536); Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 24 Rn. 26. 45 Marwinski, in: Brandt / Sachs (Hr.), Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2009, Kap. B Rn. 153. 46 Sobota, DÖV 1997, 144 f. 47 Beispiel bei Marwinski, in: Brandt / Sachs (Hr.), Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2009, Kap. B Rn. 153 nach BVerwG, Beschluss vom 10.05.1985 – 1 B 51/85: Die Ausländerbehörde muss bei ihrer Ermessensentscheidung über eine Ausweisung nur die geltend gemachten Lebensumstände des Ausländers berücksichtigen. 48 Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 24 Rn. 26, 36.

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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welcher Grad der Überzeugung von dem Vorliegen eines Sachverhalts zu erreichen ist. Die Anforderungen an das Vorliegen eines Gefahrenverdachts für die Anordnung von Gefahrerforschungsmaßnahmen sind beispielsweise im Vergleich zu den Anforderungen an Gefahrenabwehrmaßnahmen abgesenkt.49 Gleiches gilt für die vorläufige Unterschutzstellung im Denkmalrecht, wenn ein Abriss des Bauwerks droht.50 Generell muss die entscheidende Behörde in Eilfällen lediglich soweit den Sachverhalt erforschen, dass sie die erforderliche Eilmaßnahme beurteilen kann.51 Im Allgemeinen ist der Maßstab der Wahrscheinlichkeit, der bei der Feststellung des Sachverhalts erreicht werden muss, abhängig von dem anwendbaren materiellen Recht.52 Damit die Behörde sich ihre Überzeugung vom Sachverhalt bilden kann, kann sie sich grundsätzlich aller denkbaren Beweismittel bedienen. § 26 Abs. 1 VwVfG limitiert die tauglichen Beweismittel nicht, sondern listet lediglich exemplarisch einige gängige Beweismittel auf. Besonders bedeutsam sind dabei zwei Instrumente der Behörde, um sich die nötigen Informationen über den zu beurteilenden Sachverhalt zu beschaffen: zum einen die eigene Fachkunde und zum anderen die Beteiligung von Betroffenen und Sachverständigen. Die Verwaltungsbehörden verknüpfen durch ihre Verwaltungstätigkeit beständig Informationen zu Wissen. Dieses akkumulieren sie in den Personen ihrer Amtswalter und in der schriftlichen Dokumentation der Verwaltungsverfahren, den Akten.53 Beinahe bedeutsamer erscheinen dagegen Informationsquellen außerhalb der Akten, nämlich allgemeinere Informationen durch Sachverständige, Informationen aus dem Austausch mit Akteuren im Wissenschaftsbetrieb sowie in Industrie und Praxis. Ferner ist der verwaltungsinterne Austausch mit anderen Behörden sowie die grenzüberschreitende, transnationale Kooperation mit Behörden anderer Staaten, die auf ähnlichen Feldern tätig sind, insbesondere im Regulierungsrecht eine bedeutsame Quelle für Informationen und dadurch auch für Wissen. Diese beständige Akkumulierung von Wissen verschafft der Verwaltung wiederum in kom-

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Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2016, Rn.  83, 87 ff. m. w. N. zum Streitstand, inwieweit ein Gefahrverdacht zu Gefahrerforschungsmaßnahmen mit Eingriffscharakter ermächtigen kann. Zum Streit um die Anwendbarkeit des § 24 VwVfG auf Gefahrerforschungseingriffe s. Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 24 Rn. 10. 50 OVG Münster NVwZ-RR 2006, 527 (528); Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 24 Rn. 11. 51 Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 24 Rn. 11 m. w. N. 52 Vgl. BVerwG NVwZ 1985, 658 (660); Engel / Pfau, in: Mann / Sennekamp / Uechtritz, VwVfG, 2014, § 24 Rn. 26; Ziekow, VwVfG, 3. Aufl. 2013, § 24 Rn. 14; Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 60 Rn. 49. 53 Zur „Expertifizierung“ der Verwaltung mittels Personalpolitik s. Voßkuhle, Expertise und Verwaltung, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers (Hr.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 2008, S. 637 (657) sowie Voßkuhle, Personal, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 2013, § 43 Rn. 42.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

plexen Regelungsmaterien einen Wissensvorsprung gegenüber anderen Akteuren, auch gegenüber den anderen Staatsgewalten, der kaum einholbar ist.54

II. Informationserhebung beim Betroffenen Um ihren Pflichten aus dem Untersuchungsgrundsatz nachzukommen, muss die Verwaltungsbehörde den Sachverhalt vollständig ermitteln. Diese Regelung des § 24 VwVfG weist der Behörde die Verantwortung für die Vollständigkeit ihrer Tatsachenermittlung zu.55 Insoweit besteht grundsätzlich auch keine Pflicht der Betroffenen, der Verwaltungsbehörde Informationen zu verschaffen. Vielmehr ist die Behörde selbst verpflichtet, auf die Abgabe von Erklärungen oder sogar die Stellung von Anträgen hinzuwirken, wie § 25 VwVfG regelt, und Beteiligte, in deren Rechte durch einen zu erlassenden Verwaltungsakt eingegriffen werden wird, gem. § 28 VwVfG anzuhören. Unterlässt ein Beteiligter eine solche Mitwirkung, so sind die Folgen vorbehaltlich gesetzlicher Regelungen verfahrensintern zu bewältigen, beispielsweise indem eine für ihn vorteilhafte Entscheidung mangels dafür erforderlicher Informationen nicht getroffen werden kann.56 Es handelt sich somit um „Mitwirkungslasten“ im Sinne von Obliegenheiten.57 1. Stellung von Anträgen im Verwaltungsverfahren Die Antragstellung als Regelfall58 der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens hat neben den verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Wirkungen ebenfalls eine Informationsfunktion für die Behörde.59 Durch die Antragstellung werden Informationen über den zugrundeliegenden Sachverhalt für die spätere Behördenentscheidung vermittelt, insbesondere in komplexeren Verwaltungsverfahren. Dort wird der Antrag regelmäßig mit einer Begründung versehen, sofern eine solche nicht nach speziellen Rechtsvorschriften ohnehin erforderlich ist, wie dies bei-

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Röhl, Ausgewählte Verwaltungsverfahren, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 30 Rn. 38. 55 Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 24 Rn. 10a; Gusy, Die Informationsbeziehungen zwischen Staat und Bürger, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 23 Rn. 39. 56 Gusy, Die Informationsbeziehungen zwischen Staat und Bürger, in: Hoffmann-Riem /  Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  II, 2. Aufl. 2012, § 23 Rn. 39. 57 Gusy, Die Informationsbeziehungen zwischen Staat und Bürger, in: Hoffmann-Riem /  Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 23 Rn. 40; Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 60 Rn. 40. 58 Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 22 Rn. 11. 59 Zu den Antragswirkungen s. Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 60 Rn. 4; Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 22 Rn. 30 ff.

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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spielsweise in § 22 AMG, § 10 BImSchG oder § 10 GenTG vorgesehen ist. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass in diesen Regulierungsbereichen, die sich auf komplexe Technologien und vor allem riskante Stoffe beziehen, das notwendige Wissen für die Regulierungsentscheidung nicht ohne das spezifische Wissen der Betroffenen generiert werden kann, sodass diese dazu angehalten werden müssen, der Behörde ihre Informationen über die Technologie bzw. die neuentwickelte Substanz zu kommunizieren.60 2. Anhörung im Verwaltungsverfahren Das bei Akteuren des zu regelnden Sachbereichs vorhandene Wissen kann auch über das Instrument der Anhörung kommuniziert werden. Die Anhörung dient daher nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs und der Akzeptanz der Verwaltungsentscheidung, sondern sie ermöglicht zugleich die Vervollständigung des Informationsbestandes der Behörde bezüglich des zu beurteilenden Sachverhalts.61 Die Anhörung eines Beteiligten am Verwaltungsverfahren nach § 13 VwVfG ist gem. § 28 Abs. 1 VwVfG verpflichtend durchzuführen, wenn durch einen zu erlassenden Verwaltungsakt in die Rechte dieses Beteiligten eingegriffen werden wird. Falls eine in vergleichbarer Weise in Rechte von Beteiligten eingreifende Entscheidung getroffen werden soll, die jedoch kein Verwaltungsakt ist, wird eine analoge Anwendung des § 28 Abs. 1 VwVfG als Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips gem. Art.  20 Abs.  3 GG diskutiert.62 Im Schrifttum wird ferner eine analoge Anwendung auf Entscheidungen im Verwaltungsverfahren, die eine abschließende Entscheidung vorbereiten, befürwortet, sofern diese verfahrensrechtlichen Entscheidungen bereits unmittelbar geschützte Rechtspositionen des jeweiligen Beteiligten beeinträchtigen.63 Beteiligte im Sinne des § 28 Abs. 1 VwVfG sind die in § 13 Abs. 1 VwVfG ge­ nannten Personen, also im Wesentlichen der Antragsteller, soweit vorhanden ein

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Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissenheit, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hr.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 327 (340 f.). 61 Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 60 Rn. 54. 62 Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 28 Rn. 3; Hochhuth, NVwZ 2003, 30 ff.; Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 28 Rn. 27 ff.; Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 28 Rn. 25 ff.; OVG Münster NVwZ 1993, 399 für den Ausschluss eines Gemeinderatsmitglieds aus einer Fraktion; abl. dagegen Bredemeier, Kommunikative Verfahrenshandlungen im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2007, S. 51 ff. sowie aus der Rspr. für staatliches Informationshandeln VGH München NVwZ 2003, 998 (999) sowie VGH Kassel NVwZ 2003, 1000 f. für die Veröffentlichung eines Verfassungsschutzberichts; offen gelassen in BVerwG NVwZ 2003, 354 (356). 63 Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 28 Rn. 30; abl. dagegen BVerwG NJW 1990, 2637 (2638); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.10.2011  – OVG 10 S 22.11, Rn. 28 bei juris.de.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

Antragsgegner sowie Vertragspartner eines öffentlich-rechtlichen Vertrages, aber auch hinzugezogene Personen, deren Rechte durch die Entscheidung verletzt werden können. Wie § 13 Abs. 3 VwVfG zum Ausdruck bringt, kann die Behörde auch andere Personen anhören, beispielsweise im Planfeststellungsverfahren gem. § 73 VwVfG, ohne dass dadurch zugleich eine Beteiligtenstellung begründet wird.64 Die Anhörung umfasst gem. § 28 Abs. 1 VwVfG das Recht, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen der beabsichtigten Entscheidung zu äußern. Die Behörde muss daher dem Betroffenen mitteilen, welche Entscheidung sie zu treffen beabsichtigt.65 Es besteht dabei kein Anspruch auf Erörterung der Entscheidung, sondern der Betroffene hat das Recht, seine Position zu den entscheidungserheblichen Tatsachen der Behörde kundzutun, die sich mit dieser Stellungnahme vor ihrer Entscheidung auseinandersetzen muss.66 Nach Maßgabe des § 28 Abs. 2 VwVfG kann von einer an sich erforderlichen Anhörung abgesehen werden. In den seltenen Fällen des § 28 Abs. 3 VwVfG muss sie sogar wegen entgegenstehender zwingender öffentlicher Interessen unterbleiben. Dabei ist an bedeutende Rechtsgüter wie erhebliche Gefahren für Leib oder Leben von Personen, erhebliche Nachteile für den Bund oder eines der Länder etc. zu denken.67 In jedem Fall ist jedoch eine restriktive Auslegung der Vorschrift geboten, um ein Unterlaufen der Anhörungspflicht zu vermeiden.68 Im Sozialverwaltungsverfahren ist das Anhörungsrecht der Beteiligten in § 24 SGB X geregelt. § 24 Abs. 1 SGB X stimmt dabei mit § 28 Abs. 1 VwVfG wörtlich überein. Dagegen enthält § 24 Abs.  2 SGB X einen abschließenden Katalog an Gründen, aus denen eine Anhörung unterbleiben kann.69 Die Regelung des § 28 Abs. 3 VwVfG hat keine direkte Entsprechung, sondern wäre im Rahmen der Ermessensentscheidung über das Unterbleiben der Anhörung abzubilden.

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Dazu Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 13 Rn. 54 ff. Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 28 Rn.  57; BVerwGE 142, 205 (207 f.). 66 Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 60 Rn. 72. 67 S.  Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10.  Aufl. 2014, § 28 Rn.  100; Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 28 Rn. 76. 68 Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 28 Rn. 100. 69 BSGE 44, 207 (209) zur Vorgängervorschrift in § 34 Abs. 2 SGB X; Mutschler, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 24 SGB X Rn. 24; Siefert, in: Wulffen / Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 24 Rn. 18. 65

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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3. Akteneinsichtsrecht Zur Information der Beteiligten im Verwaltungsverfahren wiederum dient das Akteneinsichtsrecht nach § 29 VwVfG.70 Dieses Recht reicht nach wie vor weiter als das allgemeine Aktenzugangsrecht nach dem jeweils anwendbaren Informationsfreiheitsgesetz.71 Das verwaltungsverfahrensrechtliche Akteneinsichtsrecht ist nach überwiegender Auffassung auf den Zeitraum des laufenden Verwaltungsverfahrens gem. § 9 VwVfG begrenzt.72 Es umfasst die Verfahrensakte, allerdings mit Ausnahme der Entwürfe oder anderer Interna, soweit diese nicht unmittelbar der Vorbereitung der Entscheidung dienen.73 Von der Akteneinsicht sind ferner die Fallkonstellationen des § 29 Abs. 2 VwVfG ausgenommen. Die Behörde kann allerdings auch in diesen Fällen Akteneinsicht gewähren, soweit nicht spezielle Vorschriften wie etwa die Geheimhaltungsverpflichtung aus § 30 VwVfG eine Akteneinsicht zwingend untersagen.74 Aus der Möglichkeit der Akteneinsicht der Beteiligten folgt somit die Möglichkeit einer informierten Kommunikation zwischen Behörde und Beteiligten, die zu einer Steigerung der Wahrscheinlichkeit führt, dass die Behörde Informationen über relevante Tatsachen sowie Einwendungen der Beteiligten erhält. Die Parallelvorschrift des § 25 SGB X enthält eine im Wesentlichen vergleichbare Regelung, wobei jedoch die Ausnahmetatbestände an die besonderen Belange des Sozialrechts angepasst sind.75

III. Sachverständige Die Bestimmungen über die Beweismittel im Verwaltungsverfahren sehen in § 26 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwVfG vor, dass die Verwaltungsbehörde Sachverständige vernehmen und schriftliche oder elektronische Äußerungen von Sachverständigen einholen kann, um den Sachverhalt zu ermitteln. Die Verortung des Sachverständigen im Beweisrecht zeigt, dass nach der Konzeption des VwVfG die Sachverständigen als Wissensquelle für die Verwaltungsbehörde dienen. Soweit die Be 70

Ladeur, Die Kommunikationsinfrastruktur der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 21 Rn. 11. 71 Dazu Ladeur, Die Kommunikationsinfrastruktur der Verwaltung, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  II, 2. Aufl. 2012, § 21 Rn. 10. 72 BVerwGE 67, 300 (304); Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10.  Aufl. 2014, § 29 Rn. 43; a. A. Gusy, Die Informationsbeziehungen zwischen Staat und Bürger, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  II, 2. Aufl. 2012, § 23 Rn. 45. 73 Dazu Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 29 Rn. 52 ff. 74 Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 29 Rn. 62. 75 Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 29 Rn. 6; Roller, NZS 2013, 761 (763 f.).

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

hörde den Sachverhalt ohne Sachverständige ermitteln kann, also selbst über die erforderliche Sachkunde verfügt, bedarf es nicht der Einschaltung eines externen Sachverständigen.76 Neben der beweisrechtlichen Verortung des Sachverständigen im § 26 VwVfG kennen mehrere Teilbereiche des besonderen Verwaltungsrechts die Beteiligung von Sachverständigen in Entscheidungsprozessen.77 Sachverständige können dabei als Einzelpersonen oder als Mitglieder von besonderen Gremien beteiligt sein. Es handelt sich dabei um die Einschaltung privater Sachverständiger in den Gesetzesvollzug.78 Die materiell-rechtlichen Vorschriften in regulierenden Gesetzen enthalten vielfach unbestimmte Rechtsbegriffe, die als Bezugspunkt auf komplexe und ungewisse Sachverhalte verweisen. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe kann bereits ihrerseits als Instrument zur Wissensgenerierung im Verwaltungsverfahren verstanden werden.79 Durch unbestimmte Rechtsbegriffe bleibt die Norm nämlich für Entwicklungen offen, sodass im Normvollzug die jeweils geltende Auslegung des Rechtsbegriffs zugrunde gelegt werden kann. Dies wird besonders an Begriffen wie dem „Stand der Technik“ deutlich, der darauf angelegt ist, dem technischen Fortschritt einschließen zu können und je nach Betrachtungszeitpunkt unterschiedliche rechtliche Anforderungen an den zu regelnden Gegenstand zu stellen.80 Daneben ermöglichen unbestimmte Rechtsbegriffe den Ausgleich widerstreitender Interessen in der Normanwendung, indem etwa im Fall der gewerberechtlichen Zuverlässigkeit die Interessen des Gewerbetreibenden, insbesondere seine Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG, mit den Zielen des Schutzes des Wirtschaftsverkehrs in Einklang zu bringen sind.81 Die unbestimmten Rechtsbegriffe sind hinsichtlich ihres Bedeutungsinhalts durch die Gerichte grundsätzlich voll überprüfbar, sodass der Verwaltung in dieser Hinsicht keine Befugnis zur Letztentscheidung zukommt. Dies folgt aus Art. 19 Abs.  4 Satz 1 GG, indem die Gerichte eine vollumfängliche Kontrolle der Verwaltungsentscheidungen vorzunehmen haben.82 Allerdings erfolgt diese Kontrolle anhand des Maßstabes des Gesetzes und im Rahmen der Gesetzesbindung der Judikative gem. Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG.83 Inwieweit durch gesetzliche 76

Engel / Pfau, in: Mann / Sennekamp / Uechtritz, VwVfG, 2014, § 26 Rn.  8; Ritgen, in: Knack / Henneke, VwVfG, 10. Aufl. 2014, § 26 Rn. 50, 53. 77 Einen Überblick gibt Scholl, Der private Sachverständige im Verwaltungsrecht, 2004, S. 47 ff., der bereits 44 Felder der Sachverständigenmitwirkung auflistet. 78 Dazu Scholl, Der private Sachverständige im Verwaltungsrecht, 2004, S. 108 ff.; Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (284). 79 Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 93. 80 Vgl. grundlegend BVerfGE 49, 89 (135 ff.); Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, 81. EL 2017, Art. 19 Abs. 4 Rn. 203, 205 ff.; Breuer, AöR 101 (1976), 46 (51 f.); Windmann, UPR 2011, 14 (15 f.). 81 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 40 Rn. 152. 82 BVerfGE 84, 34 (49 f.); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 19 IV Rn. 116 m. w. N.; Huber, in: Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 510. 83 S. BVerfGE 129, 1 (21 f.).

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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Vorgaben Letztentscheidungskompetenzen der Exekutive gegenüber der Judikative verfassungsrechtlich zulässig sind, bemisst sich vor dem Hintergrund der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entscheidend anhand der Grundrechte sowie des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips.84 Die Aufgabe des Sachverständigen ist es nunmehr, nicht die unbestimmten Rechtsbegriffe auszulegen, sondern den auf Grund der Auslegung erforderlichen Sachverhalt zu ermitteln. Die Sachverständigen können entweder als neutrale Dritte begutachten oder auch für einen der Beteiligten selbst tätig sein. Dadurch erspart sich die Verwaltung Ressourcen, indem sie den entsprechenden Sachverstand insoweit nicht selbst vorhalten muss. Diese Regelungstechnik kann gleichzeitig als Reaktion auf Vollzugsdefizite in der staatlichen Überwachungstätigkeit oder als Entlastung des Staates von Teilaufgaben, die erhebliche Ressourcen binden würden, gedeutet werden.85 Ein Beispiel dieser dezentralisierten Überwachungsaufgaben ist die Beteiligung von Expertenkommissionen in der Arzneimittelzulassung bei der Beurteilung der Unbedenklichkeit eines Arzneimittels, die Kontrollen durch externe Laboratorien im Lebensmittel- und insbesondere Trinkwasserrecht sowie die Prüfung von Medizinprodukten durch sog. „Benannte Stellen“, also private Einrichtungen mit sachverständigen Aufgaben, damit ein Medizinprodukt die CE-Kennzeichnung für die Verkehrsfähigkeit in der Europäischen Union tragen darf. 1. Anforderungen an den Sachverständigen Der Sachverständige als Beweismittel im Sinne des § 26 Abs.  1 Satz 2 Nr.  2 VwVfG wird von der Behörde beauftragt. Es muss sich nicht um eine natürliche Person handeln, sondern es kommen auch juristische Personen oder andere Formen von Organisationen in Betracht.86 Behörden sollen auch als Sachverständige bestellt werden können, wobei es in diesen Fällen fraglich erscheint, ob nicht vielmehr eine Form der Amtshilfe vorliegt.87 Ein besonderes Charakteristikum des Sachverständigen im Sinne des § 26 VwVfG ist die Unabhängigkeit. Gleichsam als Spiegel der Neutralitätspflicht der Verwaltungsbehörde bei der Sachverhaltsermittlung muss auch der Sachverständige bezüglich des Ausgangs der Entscheidung, zu deren Vorbereitung er tätig wird, und der Verfahrensbeteiligten unabhängig sein.88 Beteiligte im Verwaltungs­ verfahren können auch selbst Sachverständige beauftragen und dadurch sog. Privat­

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BVerfGE 129, 1 (22 f.). Scholl, Der private Sachverständige im Verwaltungsrecht, 2004, S. 109 ff. 86 Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 26 Rn. 31. 87 Vgl. Engel / Pfau, in: Mann / Sennekamp / Uechtritz, VwVfG, 2014, § 26 Rn. 37; Skouris, AöR 107 (1982), 215 (219 ff.). 88 Vgl. VGH München GewArch 2010, 299. 85

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

gutachten erstellen lassen. Diese Gutachten stellen zwar kein formales Beweismittel dar, müssen aber dennoch von der Behörde beachtet werden, da sie jedenfalls wie Beteiligtenvorbringen zu würdigen sind.89 Dabei wird der Umstand, dass der Privatgutachter in einem Auftragsverhältnis zu seinem Auftraggeber steht, zu berücksichtigen sein.90 Das materielle Recht kann abweichende Vorschriften über die Berücksichtigung von Privatgutachten enthalten, so etwa § 13 Abs. 2 der 9. BImSchV. 2. Aufgaben des Sachverständigen Es lassen sich im Wesentlichen drei Hauptaufgaben von Sachverständigengutachten im Verwaltungsverfahren unterscheiden: „Wissensversorgung“, Begutachtung eines konkreten Gegenstandes sowie schlussfolgernde, zumeist prognostische Gutachten.91 Die Aufgabe der Wissensversorgung bezeichnet die Vermittlung von generellem Regel- oder Erfahrungswissen bzw. abstrakten Lehr- oder Erfahrungssätzen der Fachdisziplin.92 Es geht dabei nicht um die Feststellung eines Sachverhalts oder dessen Subsumtion unter eine Rechtsvorschrift, sondern der Behörde sollen allgemeine Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Fachdisziplin kommuniziert werden. Dadurch kann sich die Behörde in die Lage versetzen, einen zur Entscheidung stehenden Einzelfall anhand des gewonnenen Wissens zu beurteilen. Die Begutachtung eines konkreten Sachverhalts ist sicherlich typusprägend für die Figur des Sachverständigen. Im klassischen Verwaltungsrecht wird die Aufgabe des Sachverständigen darin gesehen, als Mittler bei der Umsetzung normativer Vorgaben auf uneinheitliche Lebenssachverhalte zu fungieren.93 Diese Aufgabe umfasst jedoch nicht die rechtliche Bewertung von Tatsachen, sondern dient umgekehrt dazu, dass der Verwaltungsbehörde feststehende Tatsachen als Entscheidungsgrundlage zur Verfügung stehen.94 Die Sachverständigenarbeit setzt dabei regelmäßig bereits eine Konkretisierung der abstrakt-generellen, normativen Vorgaben auf eine Fragestellung hin voraus; lediglich diese rechtlich konkretisierte Fragestellung soll fachlich durch die sachverständige Stellungnahme bzw. das Gutachten bezogen auf einen Einzelfall beantwortet werden. Der Sachverständige wendet – so das zugrundeliegende Modell – das ihm zur Verfügung stehende

89 Scholl, Der private Sachverständige im Verwaltungsrecht, 2004, S. 206; vgl. für das verwaltungsgerichtliche Verfahren BVerwG, Beschluss vom 18.07.1997 – 5 B 156/96, Rn. 7 bei juris.de. 90 Engel / Pfau, in: Mann / Sennekamp / Uechtritz, VwVfG, 2014, § 26 Rn. 41. 91 So Scholl, Der private Sachverständige im Verwaltungsrecht, 2004, S. 104 ff.; vgl. für eine Einteilung der Aufgaben in nur zwei Kategorien der Mitteilung von abstrakten Lehr- und Erfahrungssätzen und der Feststellung konkreter Folgerungen Skouris, AöR 107 (1982), 215 (219). 92 Scholl, Der private Sachverständige im Verwaltungsrecht, 2004, S. 104 f.; Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (285). 93 Scholl, Der private Sachverständige im Verwaltungsrecht, 2004, S. 104. 94 Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 26 Rn. 68.

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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Wissen seiner Disziplin an, um die vom Auftraggeber gestellte Frage anhand der Methoden seiner Disziplin zu beantworten. Mit dieser Aufgabe sind, als dritte Kategorie, bewertende und prognostische Sachverständigengutachten eng verwandt. Beschränkt sich der Sachverständige nicht nur auf die Feststellung eines Sachverhalts, sondern erstellt Prognosen, bezieht Stellung in fachwissenschaftlichen Kontroversen oder bewertet Risiken oder Folgen einer Technologie, verlässt er die Tatsachenermittlung und betritt den Kompetenzbereich der Verwaltungsbehörde.95 Diese Sachbereiche sind ihrerseits dadurch gekennzeichnet, dass vielfach nur ausfüllungsbedürftige rechtliche Vorgaben bestehen.96 Insoweit droht die Folge, dass Sachverständige rechtlich oder faktisch die materiellen Entscheidungen treffen, die sodann in der Form einer Behördenentscheidung, regelmäßig in Gestalt eines Verwaltungsakts, ergehen. Dagegen existieren in unterschiedlichen Bereichen speziell eingerichtete oder ermächtigte Sachverständigengremien mit derartigen Entscheidungsbefugnissen.97 Sachverständigengremien sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre Mitglieder typischerweise nicht als Repräsentanten bestimmter Partikularinteressen, sondern nach ihrer besonderen Fachkenntnis bzw. ihres persönlichen Erfahrungswissens ausgewählt werden.98 Hiervon werden pluralistisch besetzte Gremien unter­ schieden, die gleich einer „Betroffenenselbstverwaltung“ die Repräsentation von bestimmten Interessengruppen in einem Entscheidungsgremium bezwecken. Dabei treffen die Sachverständigengremien typischerweise nicht selbst außenwirksame Entscheidungen, sondern sollen auf der Grundlage des versammelten Wissens komplexe Sachverhalte feststellen oder Bewertungsprozesse vornehmen, mithin Verwaltungsentscheidungen vorbereiten.99 3. Legitimationsbedürftigkeit der Sachverständigentätigkeit Insbesondere an den zuletzt genannten Fallkonstellationen entzünden sich Kontroversen über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf Sachverständige. Allerdings wird auch der prägende Einfluss einzelner Sachverständiger auf staatliche Entscheidungen ohne formale 95 Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (285 f.); Kallerhoff, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 26 Rn. 68. 96 Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (286). 97 Vgl. etwa die materialreiche Aufzählung bei Häfner, Verantwortungsteilung im Genehmigungsrecht – Entwicklung und Aspekte der Umsetzung eines Sachverständigenmodells für das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren, 2010, S. 148 ff. 98 Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 62; Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (290 ff.). 99 Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 62 f., der auch Sachverständigengremien mit Entscheidungsbefugnissen wie etwa Verwaltungsräte der Sparkassen identifiziert, s. ebd., S. 87 f.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

Bindungswirkung unter dem Blickwinkel der Grundrechtsbindung und der demokratischen Legitimation diskutiert.100 Dabei bleibt der Begriff der „Entscheidungskompetenz“ teilweise etwas unklar, denn es sind rechtlich verbindliche und lediglich tatsächlich bindend wirkende Entscheidungen zu differenzieren.101 Die Haupteinwände gegen Entscheidungskompetenzen von Sachverständigen entspringen dem Rechtstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG und dem Recht auf effektiven Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG. Es wird kritisiert, dass in den Fällen der gesetzgeberischen Delegation von Kompetenzen zur Entscheidung oder Entscheidungsvorbereitung durch Sachverständigengremien, wie sie beispielsweise im Umweltrecht oder besonders prominent in Gestalt der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien vorkommen, eine Schwächung oder gar ein Verlust der demokratischen Legitimation und der gerichtlichen Kontrolle eintreten könne.102 Dies sei eine Folge der unterschiedlichen Ermittlungsmöglichkeiten von Sachverhalten: Die verwaltungsgerichtliche Sachverhaltsermittlung kann sich lediglich einzelner Sachverständiger bedienen, die jedoch Gremienentscheidungen überprüfen müssten. Die Sachverständigengremien konnten den Streitstoff jedoch umfassender aufbereiten und bewerten, als es einem einzelnen Sachverständigen im gerichtlichen Verfahren möglich sei. Dadurch komme es faktisch zu einem nicht aufholbaren Wissensvorsprung der Verwaltung gegenüber den kontrollierenden Gerichten, was umgekehrt bedeute, dass eine effektive Überprüfung der auf Sachverständigengremien gestützten Entscheidung der Verwaltungsbehörde nicht möglich sei.103 In diesem Zusammenhang wird ebenfalls die Frage thematisiert, ob stattdessen der insoweit durch ein Gremium beratenen Verwaltungsbehörde ein Beurteilungsspielraum bei der Konkretisierung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale zukommt, der insoweit von den Gerichten hinzunehmen sei.104 Die dargestellte Diskussion über eine rechtlich oder faktisch reduzierte gerichtliche Kontrolldichte hat ihren Schwerpunkt jedoch nicht im Rechtsstaatsprinzip. Das Rechtsstaatsprinzip bindet in Art. 20 Abs. 3 GG sowohl die Verwaltung als auch die Gerichte an die Rechtsordnung. Wenn jedoch die Beteiligung von Sachverständigengremien in Verwaltungsverfahren gesetzlich angeordnet ist oder solchen Gremien sogar die Entscheidung gesetzlich übertragen wird, müssen die Gerichte aus der Perspektive des Rechtsstaatsprinzips diese gesetzgeberische Entscheidung hinnehmen. Das Gesetz gibt insoweit auch keine weiteren inhaltlichen 100 Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 61 m. w. N. 101 Schoch, Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 24. 102 Dazu Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 60; Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (298). 103 Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 61; Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (299); Sendler, NJW 1986, 2907 (2908 f.); vgl. Di Fabio, VerwArch 81 (1990), 193 (218 f.). 104 Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (299 ff.).

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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Maßstäbe vor, um die Beurteilung durch das Sachverständigengremium gerichtlich zu überprüfen. Der entsprechende Maßstab sollte daher bevorzugt der Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG entnommen werden. Sämtliche Akte der vollziehenden öffentlichen Gewalt müssen einer effektiven gerichtlichen Kontrolle zugänglich sein.105 Diese Gewährleistung umfasst neben dem Recht auf Zugang zu den Gerichten auch die umfassende Überprüfung der angegriffenen Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.106 Da diese grundsätzlich vollumfängliche Überprüfung der exekutivischen Entscheidungen durch die gesetzgeberische Gestaltung, ein Sachverständigengremium einzuschalten, aus den aufgezeigten Gründen jedenfalls faktisch eingeschränkt ist, könnte insoweit eine Verletzung des Art. 19 Abs.  4 Satz  1 GG bestehen: Es droht eine faktische Bindung an die exekutivische Tatsachenfeststellung, die es nach der Grundregel des Gebots des effektiven Rechtsschutzes an sich nicht geben darf.107 Allerdings handelt es sich im Fall der Tatsachenfeststellung durch sachverständige Gremien, auf deren Grundlage eine Verwaltungsbehörde ihre Entscheidung trifft, nicht um eine exekutivische Tatsachenfeststellung, denn die Behörde stellt die Tatsachen gerade nicht selbst fest. Sie bedient sich vielmehr behördenexterner Wissensquellen, die strukturell nicht dem Staatsaufbau, sondern der gesellschaftlichen Sphäre entstammen.108 Dies lässt sich mit der Kontrollüberlegung bestätigen, wie die Gerichte die Behördenentscheidung kontrollieren können: Die rechtlichen Ausgangspunkte der Behörde, ihre Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen sowie die Subsumtion bleiben gerichtlich voll überprüfbar. Die Tatsachenbasis jedoch kann das Gericht nicht auf Grund eigener Sachkompetenz inhaltlich ersetzen, sondern es wäre ebenfalls auf externe, dem gesellschaftlichen Bereich entstammende Wissensvermittler angewiesen. Somit liegt das eigentliche Problem bei der Beteiligung von Sachverständigengremien nicht im Bereich der gerichtlichen Kontrolle, sondern vielmehr in der Frage, in wieweit Entscheidungsbefugnisse von Hoheitsträgern auf nichtstaatliche Akteure übertragen werden dürfen. Die dahingehenden Bedenken werden dementsprechend auch vor dem Hintergrund des Demokratieprinzips gem. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG diskutiert.109 Auch unterhalb der Ebene der formal verbindlichen Entscheidung durch Sach­ verständige entfalten vielfach Gutachten oder Stellungnahmen eine faktische Bindungswirkung für die entscheidende Behörde.110 In diesen Fällen könnte sich der 105

BVerfGE 112, 185 (207); Sachs, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 19 Rn. 126 ff.; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 19 Rn. 32. 106 BVerfGE 112, 185 (207); BVerfGE 107, 395 (401); BVerfGE 85, 337 (345). 107 Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, 81. EL 2017, Art. 19 Abs. 4 Rn. 183. 108 Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (301). 109 Überblick bei Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 58. 110 Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 61; s. a. Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 132.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

Bedarf der demokratischen Legitimation daraus ergeben, dass Sachverständige in einer normativ offenen Entscheidungssituation zur konkreten Entscheidung beitragen und deshalb insoweit den Anforderungen der demokratischen Legitimation für staatliches Entscheidungshandeln unterfallen.111 Dagegen wird jedoch eingewandt, dass jedenfalls für die Fälle, in denen die Letztverantwortung für eine sachverständig beratene Entscheidung bei einem Hoheitsträger liegt, diesem auch die Verantwortung für die Entscheidung zugerechnet wird und er somit alleiniger Adressat der demokratischen Legitimation bleibt.112 Mit dieser Zuschreibung der Verantwortung für die Inhalte der sachverständigen Beratung gehen dann jedoch auch Organisations- und Überwachungspflichten bezüglich der Sachverständigenauswahl und -beteiligung einher. Burgi nennt dafür mehrere Elemente wie sorgfältige Auswahl der Sachverständigen hinsichtlich ihrer fachlichen und persönlichen Eignung, insbesondere ihrer Unabhängigkeit, die Transparenz des Verfahrens, Begründungspflichten der Verwaltung sowie die Partizipation der Betroffenen.113 Es folgt daraus eine „Strukturschaffungspflicht“ zur Erhaltung des angemessenen Legitimationsniveaus hinsichtlich der sachverständig beratenen Verwaltungsentscheidungen.114 Schließlich ist bezüglich der Legitimationsanforderungen an sachverständige Beratung der Verwaltung auf den Umstand hinzuweisen, dass sich die Verwaltung notwendig in einem informationellen Austauschprozess mit der Gesellschaft und mit Akteuren bzw. Betroffenen ihrer Entscheidungen befindet. Das Charakteristikum der verwaltungsrechtlich gesteuerten Interaktion der Verwaltung mit gesellschaftlichen Akteuren besteht darin, dass hoheitliche Eingriffe in die Selbststeuerungsprozesse der Gesellschaft erfolgen. Es spricht somit viel dafür, dass Interaktionsformen dieser Art nicht regelmäßig zusätzlichen Legitimationsanforderungen unterliegen, sondern dass im Normalfall die gesetzliche Steuerung über verwaltungsverfahrensrechtliche Vorgaben sowie die sich anschließende gerichtliche Kontrolle genügen, um auch im Sinne der Anforderungen des Demokratieprinzips ein hinreichendes Legitimationsniveau sicherzustellen. Hiervon ist allerdings nach wie vor die Fragestellung zu unterscheiden, inwieweit durch gesetzgeberische Entscheidung die Ausübung hoheitlicher Befugnisse auf Expertengremien delegiert werden kann.115

111

Nußberger, AöR 129 (2004), 282 (303). Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 370 ff.; Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43 Rn. 61. 113 Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 373 f. 114 Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 378 ff. 115 Dazu s. u. B. V. 3. b) und B. VI. 2. 112

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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IV. Antizipierte Sachverständigengutachten Das typusprägende Bild des Sachverständigen setzt die Begutachtung eines konkreten Einzelfalls voraus. In einigen Bereichen des Verwaltungsrechts, insbesondere mit stark wissenschaftlich oder technisch geprägten Regelungsmaterien, findet sich jedoch eine darüber hinausgehende Aufgabe für sachverständige Beratung: In diesen Regelungsmaterien wird auf einen Stand der Technik, Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse oder ähnliche Maßstäbe verwiesen. Zur inhaltlichen Ausfüllung dieser Begriffe hat insbesondere die Rechtsprechung angenommen, dass anstelle der Beauftragung von Sachverständigen zur Feststellung der Inhalte im jeweiligen Einzelfall vielmehr eine abstrakt-generelle Konkretisierung dieser außerrechtlich geprägten Tatbestandsmerkmale erfolgen kann. 1. Begriff Bei antizipierten Sachverständigengutachten handelt es sich um „vorgefertigte Gutachten“, die über allgemeine Tatsachen oder Verhältnisse Auskunft geben, die der Normanwendung zugrunde liegen.116 Die Geburtsstunde des antizipierten Sachverständigengutachtens wird in der sog. Voerde-Entscheidung117 des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1978 gesehen.118 Das Bundesverwaltungsgericht hat in dieser Entscheidung einen Lösungsansatz für die ungeklärte Bindungswirkung behördlicher Konkretisierungen von unbestimmten Tatbestandsmerkmalen im naturwissenschaftlich-technischen Kontext anerkannt.119 In der Voerde-Entscheidung hatte das BVerwG darüber zu befinden, unter welchen Voraussetzungen Immissionen schädlich im Sinne des § 3 Abs. 1 BImSchG sein können. Nach der Gesetzessystematik werden gem. § 48 BImSchG Grenzwerte für Immissionen durch allgemeine Verwaltungsvorschriften festgelegt. Diese Verwaltungsvorschriften werden als TA Luft und TA Lärm bezeichnet, also als „Technische Anweisungen“ für die Beurteilung von immissionsverursachenden Anlagen hinsichtlich ihrer Schädlichkeit. Derartige Feststellungen erfordern besondere naturwissenschaftliche Sachkunde, die nach dem gesetzlichen Regelungskonzept über die allgemeinen Verwaltungsvorschriften in die Verwaltungsentscheidung über die Anlagengenehmigung einfließen. Die TA Luft und TA Lärm wurden und

116

Pense, Die Rechtsnatur von MdE-Tabellen. Bedeutung, Anwendung und Bindungswirkung von Tabellen der Minderung der Erwerbsfähigkeit, 1995, S. 98; Breuer, DVBl. 1978, 28 (35); Vieweg, NJW 1982, 2473 (2474); Breuer, AöR 101 (1976), 46 (82 f.); Wiester, NZS 2001, 630 (634); Wemdzio, NuR 2012, 19 (21). 117 BVerwGE 55, 250. 118 Vieweg, NJW 1982, 2473 (2474); Nicklisch, NJW 1983, 841. 119 Zur früheren Diskussion im Schrifttum s. Breuer, AöR 101 (1976), 46 (74 ff.); Breuer, DVBl. 1978, 28 (32 ff.).

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

werden nämlich gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 BImSchG nach Anhörung der „beteiligten Kreise“ im Sinne des § 51 BImSchG erlassen. Hierzu werden Vertreter der Wissenschaft, der Betroffenen, der Wirtschaft, des beteiligten Verkehrswesens und der für den Immissionsschutz zuständigen obersten Landesbehörden nach Maßgabe des § 51 BImSchG von Fall zu Fall ausgewählt.120 Das BVerwG hat in der Voerde-Entscheidung weiter ausgeführt, dass die allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach § 48 BImSchG keine Rechtsnormen und daher für niemanden außer den subordinierten Behörden bindend seien, aber dennoch komme ihnen eine besondere rechtliche Bedeutung zu. Die besondere Bedeutung liege darin, dass die allgemeinen Verwaltungsvorschriften die Erkenntnisse und Erfahrungen von Fachleuten der verschiedenen berührten Fachdisziplinen bündelten, sodass die ermittelten Grenzwerte auf einer weitaus verlässlicheren Basis stünden, als wenn die Genehmigungsbehörde selbst die Ermittlungen anstellen würde. Das BVerwG hat die Verwaltungsvorschriften angesichts dieser Qualität des Erarbeitungsprozesses als „geeignete, wenn nicht optimale Erkenntnisquelle“ für die gesetzlich maßgeblichen Grenzwerte angesehen, die somit „als schon die Entscheidung der Genehmigungsbehörde prägendes und insofern ‚antizipiertes‘ Sachverständigengutachten […] auch für das kontrollierende Gericht bedeutsam“ sind.121 Das BVerwG war offenkundig bestrebt, eine einheitliche Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe hinsichtlich der Grenzwerte im BImSchG zu gewährleisten, die auf solider wissenschaftlicher Grundlage erfolgen sollte. Ohne die Bindung der entscheidenden Behörden an generalisierende Vorgaben würden die Unsicherheiten über die Schädlichkeit von Immissionen in das Genehmigungsverfahren transportiert, ohne dass die einzelne Behörde besser in der Lage wäre, den fachwissenschaftlichen Stand der Beurteilung zu ermitteln, als es im Verfahren des § 48 BImSchG erfolgt. 2. Rezeption der Figur In der Folge haben die Gerichte die Kategorie des „antizipierten Sachverständigengutachtens“ hinsichtlich des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse mehrfach aufgegriffen. Außerhalb des Umweltrechts finden sich antizipierte Sachverständigengutachten exemplarisch im Wasserrecht,122 im Lebensmittelrecht,123

120 Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 51 Rn. 2; Hansmann, in: Landmann / Rohmer, Umweltrecht, 83. EL 2017, § 51 BImSchG Rn. 16 ff. 121 BVerwGE 55, 250 (256). 122 BVerwG NVwZ 2013, 227 (230) für Richtlinien für Trinkwasserschutzgebiete des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches e. V. 123 BVerwG ZLR 1988, 556 (562) für die Leitsätze des Deutschen Lebensmittelbuchs; Meyer, in: Meyer / Streinz, LFGB-BasisVO, 2. Aufl. 2012, § 15 LFGB Rn. 8; ähnl. BayVGH ZLR 1998, 660.

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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im Sozialrecht124 sowie im Recht der medizinischen Berufe.125 Im Arzneimittelrecht ist diese Figur mittlerweile in ständiger Rechtsprechung anerkannt.126 Instanzgerichte neigen offenbar dazu, noch in stärkerem Maße unterschiedlichen technischen Regelwerken die Qualifikation als antizipiertes Sachverständigengutachten zuzusprechen.127 Auch wenn die höchstgerichtliche Rechtsprechung insoweit teilweise zurückhaltend ist, wird dennoch vielfach angenommen, dass derartige Regelwerke jedenfalls Orientierungsfunktion für die Verwaltung und für die Gerichte haben.128 Insoweit scheint sich jedenfalls ein veränderter Darlegungsmaßstab abzuzeichnen, um von solchen Regelwerken abzuweichen. 3. Beweisrechtliche Wirkung Antizipierte Sachverständigengutachten sind im Prozess auf der beweisrechtlichen Ebene zu verorten.129 Sie wirken als Beweismittel für den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Gegenüber gewöhnlichen Sachverständigengutachten haben sie einen gesteigerten Beweiswert: Die „generelle Richtigkeit“ von antizipierten Sachverständigengutachten könne nicht durch Einzelfallgutachten widerlegt werden.130 Dies bedeutet, dass sich die Gerichte grundsätzlich auf deren Inhalte stützen können und insoweit keines weiteren Sachverständigen bedürfen.131 124 BSG SozR 4–3250 § 69 Nr. 9 Rn. 25 und BSGE 91, 205 (209) für die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“; LSG München, Urteil vom 23.04.2009 – L 11 AS 124/08, Rn. 24 ff., 33 bei juris.de für die „Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe“ des (privaten) Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V., offengelassen in BSG SozR 4-4200 § 21 Nr. 12 Rn. 23, ablehnend dagegen noch BSGE 100, 83 (89); BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8 S. 40 und BSGE 82, 212 (215) für die MdE-Tabellen, dazu Wiester, NZS 2001, 630 (634). 125 BVerwG NJW 2009, 3593 zum Wissenschaftlichen Beirat nach § 11 PsychThG. 126 Dazu OVG Berlin, Urteil vom 25.11.1999 – 5 B 11.98, Rn. 28 bei juris.de und bereits die Begründung zum § 26 AMG 1976, BT-Drs. 7/3060 S. 50 zu § 24; OVG Münster PharmR 2009, 297 (299) m. w. N.; OVG Münster, Beschluss vom 22.06.2009 – 13 A 3604/07, Rn. 13 bei juris.de; vgl. zum Konzept BVerwGE 55, 250 (256); Uerpmann, BayVBl. 2000, 705 (708) m. w. N.; Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 26 Anm. 2; Anker, in: Deutsch / Lippert, AMG, 3. Aufl. 2010, § 26 Rn. 3. 127 Beispielsweise OVG Bautzen, Beschluss vom 18.06.2014 – 3 B 59/14, Ls. 1 und Rn. 14 bei juris.de für Beschlüsse des Arbeitskreises lebensmittelchemischer Sachverständiger der Länder und des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit; VGH München, Urteil vom 18.06.2014 – 22 B 13.1358, Rn. 45 bei juris.de für den Bayerischen Windkrafterlass, der jedoch als Verwaltungsvorschrift zu qualifizieren ist. 128 S. BVerwG, Beschluss vom 14.08.1989 – 4 B 53/89, Rn. 10 bei juris.de für Richtlinien für Anlage von Straßen (RAS-Q). 129 OVG Berlin, Urteil vom 25.11.1999 – 5 B 11.98, Rn. 28 bei juris.de. 130 BSGE 91, 205 (209). 131 S. OVG Münster PharmR 2009, 297 (299); Lang, in: Sodan / Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 98 Rn. 151. BVerfGE 129, 1 (24) betont die rein beweisrechtliche Wirkung der antizipierten Sachverständigengutachten, indem es deren Übernahmemöglichkeit im Wege der Würdigung als Bestandteil der Überzeugungsbildung betont.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

Um den Beweiswert eines antizipierten Sachverständigengutachtens zu erschüttern, kommen nach der Rechtsprechung nur bestimmte Angriffsmittel in Betracht: die Vereinbarkeit mit materiellen Gesetzen, die Verwendung wissenschaftlich nicht haltbarer Methoden, die Nichtberücksichtigung des aktuellen Kenntnisstandes der jeweiligen Fachdisziplin sowie das tatsächliche Vorliegen eines Sonderfalls, der nicht von dem antizipierten Sachverständigengutachten umfasst ist.132 Einzelne Gegenmeinungen sind dagegen unbeachtlich und können das antizipierte Sachverständigengutachten nicht erschüttern.133 Das Erfordernis der Vereinbarkeit von antizipierten Sachverständigengutachten mit materiellem Recht trägt dem Umstand Rechnung, dass keine abstrakt-generelle Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen erfolgt, sondern die Auslegung des betreffenden Tatbestandsmerkmals der Ermächtigungsgrundlage für behördliches Handeln vielmehr vorausgesetzt wird. Diesbezüglich kommt den Gerichten eine vollständige Überprüfung der antizipierten Sachverständigengutachten zu. Allerdings erheben auch antizipierte Sachverständigengutachten einen abstrakt-generellen Geltungsanspruch, weshalb die Abgrenzung zwischen fachlich-inhaltlicher Konkretisierung und normativer Ausgestaltung von unbestimmten Rechtsbegriffen in vielen Fällen erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Dieser Umstand ist anhand der allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach § 48 BImSchG gut erkennbar. Entgegen der ursprünglichen Annahme des BVerwG haben diese Verwaltungsvorschriften nicht nur einen „naturwissenschaftlich fundierten fachlichen Aussagegehalt“, sondern sie enthalten zugleich Wertentscheidungen über die Grenzen der schädlichen Umwelteinwirkungen gem. § 3 Abs. 1 BImSchG. Die Festlegung von Immissionswerten erfordert den Ausgleich widerstreitender Interessen, insbesondere die Abwägung, welche Risiken der Bevölkerung und welche Belastungen den Anlagenbetreibern zuzumuten sind.134 Angesichts dieses komplexen, wertenden Charakters der Entscheidung über Immissionsgrenzwerte ist es auch folgerichtig, dass die anzuhörenden beteiligten Kreise nicht nur den wissenschaftlichen Sachverstand repräsentieren, sondern Betroffene und auch zivilgesellschaftliche Akteure umfassen. Es handelt sich somit um eine interessenplurale Beratung der letztendlich entscheidenden Bundesregierung, die sodann gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 BImSchG zudem der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Dieser Typus der Entscheidungsfindung entspricht nicht mehr der sachverständigen Beratung oder der Aufbereitung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes für Entscheidungsverfahren, sondern geht darüber hinaus. In der Folge wurde für diese Entscheidungsformen die Kategorie der normkonkre­ tisierenden Verwaltungsvorschrift entwickelt.

132

BVerwG NJW 2009, 3593 (3596); BSGE 91, 205 (209). BVerwG NJW 2009, 3593 (3596). 134 Koch, in: Koch, Umweltrecht, 4. Aufl. 2014, § 4 Rn. 95; Sendler, NJW 1986, 2907 (2913). 133

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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4. Kritik im Schrifttum Im Schrifttum wurden grundsätzlichere Bedenken gegen diese Rechtsfigur vorgebracht. Nicklisch beispielsweise hat eingewandt, dass es eines antizipierten Sachverständigengutachtens gar nicht bedürfe, damit sich die Verwaltung oder die Gerichte Kenntnisse über abstrakt-generelle, vom Einzelfall losgelöste Tatsachen verschaffen können, sondern es genügen die allgemeinen Möglichkeiten zur Tatsachenermittlung, etwa das einschlägige fachwissenschaftliche Schrifttum.135 Ferner wird kritisiert, dass es eine „Contradictio in adiecto“ sei, wenn einem Sachverständigengutachten Beweiswert zugesprochen werde, obgleich das Gutachten gar nicht für den zu entscheidenden Fall erstellt worden sei. Diesem Einwand liegt die Annahme zugrunde, dass Sachverständige stets nur für einzelne Fragen innerhalb einer spezifischen Entscheidungssituation beauftragt werden. Ferner steht bei antizipierten Sachverständigengutachten stets in Rede, ob die Inhalte noch aktuell sind, also dem Stand der Erkenntnisse entsprechen, und ob der konkret zu entscheidende Fall unter die abstrakt-generell festgestellten Sachverhalte fällt, oder ob es sich um eine Ausnahme handelt. Dafür benötigte es dann wiederum eines Sachverständigen, der ohnehin die einschlägigen technischen Regelwerke und Standards berücksichtigen müsste. Dennoch erleichtern antizipierte Sachverständigengutachten die Entscheidungsfindung, wenn ein typischer Sachverhalt vorliegt oder keine Einwände gegen die Aktualität der Inhalte erhoben werden. In diesen Fällen erübrigt sich die Einholung eines Einzelfallgutachtens und den antizipierten Sachverständigengutachten kommt die unwiderlegte Vermutung der Richtigkeit zu.136 Die antizipierten Sachverständigengutachten sind zudem einem grundsätzlichen Einwand ausgesetzt, der auf verdeckte Wertungen abzielt. Wie die Beispiele der TA Luft und TA Lärm demonstriert haben, sind abstrakt-generelle Regelungen vielfach nicht frei von Wertentscheidungen. Diese sollen antizipierte Sachverständigengutachten jedoch gerade nicht enthalten. Es ist jedoch im konkreten Fall teilweise nicht oder nur unter sehr großem Aufwand möglich, zu erkennen, ob und wieweit antizipierte Sachverständigengutachten Wertungen enthalten und somit nicht ohne Weiteres zur Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen zur Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs geeignet sind.137

V. Verwaltungsvorschriften Eine weitere, sich bereits den Rechtsnormen annähernde Form der Wissensgenerierung der Verwaltung bilden Verwaltungsvorschriften. Die Einordnung von Verwaltungsvorschriften als Form der Wissensgenerierung ist nicht selbstverständlich. Ihrem ursprünglichen Charakter nach handelt es sich um eine Form der hier 135

Nicklisch, NJW 1983, 841 (849). Vieweg, NJW 1982, 2473 (2475 f.). 137 Rittstieg, NJW 1983, 1098 (1099). 136

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

archischen Binnensteuerung der Verwaltung, um organisatorische Entscheidungen zu treffen oder einen einheitlichen Vollzug bestimmter Vorschriften sicherzustellen.138 Sie werden von der jeweils obersten Verwaltungsbehörde für die ihr nachgeordneten Behörden und mithin regelmäßig innerhalb ihres Geschäftsbereichs erlassen, ohne dass es einer gesonderten gesetzlichen Ermächtigung bedürfte.139 Es handelt sich nämlich nicht um unmittelbar außenwirksame Rechtssätze, sondern um reines Binnenrecht, das lediglich auf Grund der Weisungsbefugnis innerhalb des hierarchischen Behördenaufbaus für die Amtswalter verbindlich ist.140 Die Verwaltungsvorschriften lassen sich nach ihrer Funktion unterteilen. Neben den Organisations- und Dienstvorschriften, die beispielsweise die Geschäftsverteilung regeln oder amtsbezogene Weisungen enthalten, stehen die verhaltens­ lenkenden Verwaltungsvorschriften.141 Diese Kategorie untergliedert sich zumeist in drei Arten von Verwaltungsvorschriften, die an den überkommenen dogmatischen Figuren der Kompetenzen der Verwaltung bei der Rechtsanwendung anknüpfen.142 Diese drei dogmatischen Figuren sind das Ermessen, der Beurteilungsspielraum sowie die Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe. Diese Typen von Verwaltungsvorschriften teilen dabei das Charakteristikum, dass es sich bei ihnen um abstrakt generalisierende Regelungen handelt.143 Insoweit können Verwaltungsvorschriften der Wissensrezeption und dem Wissensmanagement in der Verwaltung dienen, indem sie Regeln für die Gewinnung und Verarbeitung von Informationen bereitstellen. Insbesondere durch ihre nicht auf Einzelfälle beschränkte Anwendbarkeit gestalten sie den Kontext der Informationsgewinnung und geben den nachgeordneten Behörden standardisierte Verhaltensweisen und insoweit eine best practice vor. Gerade auf Handlungsfeldern, die fachlich komplex oder ungewöhnlich sind, kann den jeweiligen nachgeordneten Behörden die Erfahrung, das technische Wissen oder die Zeit zur Ermittlung der rechtmäßigen und zweckmäßigen Vorgehensweise fehlen. Da nachgeordnete Behörden auch nicht zwingend über die fachliche oder juristische Expertise verfügen, um ungewöhnliche Sachbereiche ihrerseits bearbeiten zu können, kann die Verwendung von Verwaltungs-

138

Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 2 f., 22 ff. BVerfGE 26, 338 (396). 140 Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 23. Vgl. zur Entwicklung der Diskussion knapp Hill / Martini, Normsetzung und andere Formen exekutivischer Selbstprogrammierung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 34 Rn. 39 f. 141 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S.  250 ff., 282 ff.; Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR V, 3. Aufl. 2007, Rn. 20 ff.; Rogmann, Die Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften, 1998, S. 15; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 8 ff. 142 Wahl, Verwaltungsvorschriften: Die ungesicherte dritte Kategorie des Rechts, in: SchmidtAßmann / Sellner / Hirsch / Kemper / Lehmann-Grube (Hr.), Festgabe 50  Jahre BVerwG, 2003, S. 571 (577 f.); Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 10 ff. 143 BVerwGE 107, 338 (341); Sendler, UPR 1993, 321 (323). 139

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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vorschriften insoweit das kumulierte Wissen an die einzelnen Träger der Einzelfallentscheidungen distribuieren. 1. Ermessensrichtlinien Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften bzw. Ermessensrichtlinien geben vor, in welcher Weise ein der Verwaltung eingeräumtes Ermessen bei der Anwendung einer Rechtsnorm ausgeübt werden soll. Dadurch soll ein einheitlicher und gleichmäßiger Rechtsvollzug sichergestellt werden.144 Verwaltungsvorschriften, die einen Beurteilungsspielraum der Verwaltung ausgestalten, werden als normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften bezeichnet.145 Auch insoweit dient dieser Typus der Verwaltungsvorschrift der Vereinheitlichung der Normanwendung, indem nämlich der Beurteilungsspielraum einheitlich ausgefüllt werden soll. Werden für die Anwendung einer Ermessensermächtigung Verwaltungsvorschriften erlassen, bindet sich die Verwaltung dadurch selbst bezüglich der Ausübung ihres Ermessens in gleich gelagerten Fällen. Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt grundsätzlich das Verbot, wesentlich gleiche Fälle ungleich zu behandeln. Durch eine Ermessensrichtlinie entsteht diese Pflicht zur Gleichbehandlung. Insoweit kann bereits im ersten Anwendungsfall eine Bindung der Verwaltung an ihre Ermessensrichtlinie bestehen.146 Ferner lassen sich Vertrauensschutzgesichtspunkte heranziehen.147 Im Ergebnis ohne Unterschied, aber in der dogmatischen Herleitung sehr verschieden ist dagegen der Begründungsweg, dass der Exekutive eine eigenständige Normsetzungsbefugnis innerhalb des ihr gesetzgeberisch eingeräumten Spielraums zustehe.148 Das Ermessen kann insoweit als Musterfall angesehen werden, denn es ist im Grundsatz konsentiert, dass die gerichtliche Kontrolldichte bezüglich der Ermessensüberprüfung auf bestimmte Fehler beschränkt ist.149

144

Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 10; Mrozynski, SGB I, 5. Aufl. 2014, § 39 Rn. 52 ff. 145 BVerwGE 107, 338 (341). 146 Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 138 f.; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 40 Rn. 112; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 26 ff. m. w. N. zum Streitstand. 147 Hill / Martini, Normsetzung und andere Formen exekutivischer Selbstprogrammierung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 34 Rn. 42. 148 Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 456, 459 ff., 486 f.; Leisner, JZ 2002, 219 (227). Zu weiteren Begründungsansätzen s. Sauerland, Die Verwaltungsvorschrift im System der Rechtsquellen, 2005, S. 207 ff. 149 Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 7 Rn. 19 ff.; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 40 Rn. 74 ff.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

2. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften Die norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften oder „Auslegungsrichtli­ nien“ knüpfen an Rechtsnormen an, die eine gebundene Entscheidung der Behörde zur Folge haben.150 Es handelt sich dabei um Auslegungshilfen für unbestimmte Rechtsbegriffe oder Anweisungen zum Vollzug der Rechtsnorm.151 Dadurch wird innerhalb der Hierarchie der Verwaltung sichergestellt, dass ein einheitlicher Vollzug der Vorschrift erfolgt, und es wird für die nachgeordneten Behörden die Anwendung der Rechtsnorm erleichtert.152 Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe durch den Gesetzgeber lässt sich ihrerseits bereits als Instrument zur Wissensgenerierung im Verwaltungsverfahren deuten. Diesem Typus der Verwaltungsvorschrift kommt keine Außenwirkung zu.153 Sie enthält die Rechtsauffassung der Verwaltung zur Auslegung eines Rechtsbegriffs. Soweit das Gesetz der Verwaltung nicht die Befugnis gewährt, gegenüber den Gerichten eine bindende Auslegung eines Tatbestandsmerkmals vorzunehmen, kommt keine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungshandelns in Betracht. Läge eine solche Befugnis vor, so würde es sich definitionsgemäß nicht mehr um eine norminterpretierende Verwaltungsvorschrift handeln. Fehlt es also an einem Gestaltungsspielraum der Verwaltung, kommt keine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle und dadurch auch keine Außenwirkung der Verwaltungsvorschrift in Betracht, denn insoweit ist die gerichtliche Auslegung des Rechtsbegriffs und nicht die Verwaltungsvorschrift letztlich bindend.154 3. Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften Mit dem Begriff der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift werden Regelungen bezeichnet, die sich nicht auf eine Auslegungshilfe bezüglich unbestimmter Rechtsbegriffe beschränken, sondern die eine letztverbindliche Konkretisierung eines Tatbestandsmerkmals bewirken.155 Diese Kategorie der Verwaltungsvorschrift ist maßgeblich anhand des Umweltrechts und technischen Sicherheitsrechts entwickelt worden.156 Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hat dieser Figur insoweit Wirkungen wie einer Rechtsnorm zugebilligt, nämlich dahingehend, dass normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar sind. Ihre Zulässigkeit wird daher in Fällen angenommen, in denen 150

Baars, Rechtsfolgen fehlerhafter Verwaltungsvorschriften, 2010, S. 56. Baars, Rechtsfolgen fehlerhafter Verwaltungsvorschriften, 2010, S. 43. 152 Baars, Rechtsfolgen fehlerhafter Verwaltungsvorschriften, 2010, S. 43. 153 BVerwG NJW 2004, 1339 (1340); Hill / Martini, Normsetzung und andere Formen exeku­ tivischer Selbstprogrammierung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 34 § 34 Rn. 41. 154 Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 140 f. 155 Möstl, in: Ehlers / Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 19 Rn. 29. 156 Rogmann, Die Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften, 1998, S. 20. 151

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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der Verwaltung ohnehin ein Beurteilungsspielraum bei der Anwendung des Gesetzes zugebilligt wird, den die Gerichte hinzunehmen haben.157 Diesen Spielraum kann die Verwaltung entsprechend durch Verwaltungsvorschriften abstraktgenerell konkretisieren und sich insoweit binden, um in allen nachgeordneten Behörden einen einheitlichen und zugleich beschleunigten Gesetzesvollzug zu gewährleisten.158 a) Verwendung der Rechtsfigur Die Kategorie der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften ist entscheidend durch das Umwelt- und Technikrecht geprägt. Das Bundesverwaltungsgericht hat erstmalig in seiner sog. Wyhl-Entscheidung über eine atomrechtliche Genehmigung die normkonkretisierende Funktion von Verwaltungsvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen anerkannt. Nach der insoweit maßgeblichen Ermächtigungsgrundlage für die Erteilung einer Anlagenbetriebsgenehmigung war unter anderem die Tatbestandsvoraussetzung zu erfüllen, dass die nach dem Stand der Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Anlage getroffen worden ist. Die maßgeblichen Grenzwerte zur Einhaltung der Strahlenschutzvorschriften waren als eine Richtlinie des zuständigen Bundesministeriums nach Beratung des Länderausschusses Atomenergie erlassen worden. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Richtlinie nicht, wie noch die Vorinstanzen, als antizipiertes Sachverständigengutachten gewertet, sondern als Verwaltungsvorschrift angesehen. Die Festsetzung der fraglichen Strahlengrenzwerte beschränkte sich nicht auf die bloße Ermittlung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern erforderte vielmehr die Vorsorge gegen Gesundheitsschäden, sodass Bewertungen der wissenschaftlichen Evidenz und ein abwägender Umgang mit der immanenten Wissensunsicherheit erforderlich waren.159 Die Verwaltungsvorschrift hatte nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts somit eine normkonkretisierende Wirkung, sodass die festgelegten Grenzwerte auch für die Verwaltungsgerichte verbindlich seien.160 Es sei nämlich die gesetzlich zugewiesene Aufgabe der Exekutive, ein Vorsorgekonzept zu erstellen und dabei den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen. Diese Aufgabe dürfe dann nicht entgegen der gesetzlichen Aufgabenzuweisung durch eine eigene Bewertung seitens der Judikative ersetzt werden.161 In Bereichen, die sich gesetzlich nicht durch präzise Tatbestandsmerkmale regeln lassen, sondern einen umfangreichen Bewertungsprozess voraussetzen, können die Grenzen der gerichtlichen Kontrollbefugnisse erreicht werden, sodass ein Bewertungsspielraum der Exekutive verbleibt.162 157

Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 32. Rogmann, Die Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften, 1998, S. 21. 159 BVerwGE 72, 300 (315). 160 BVerwGE 72, 300 (320). 161 BVerwGE 72, 300 (316 f.). 162 BVerwGE 72, 300 (317 f.). 158

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

In späteren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts ist die Figur der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift weiter verfeinert worden. Eine besondere Bedeutung hat die Figur der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift im Umweltrecht. Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits 1988 die TA Luft, die zuvor als antizipiertes Sachverständigengutachten eingeordnet worden war, als normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift angesehen.163 Gleiches ist für die TA Lärm entschieden worden.164 Ferner ist auch für die Allgemeine Rahmen-Verwaltungsvorschrift über Mindestanforderungen an das Einleiten von Abwasser in Gewässer (Rahmen-AbwasserVwV) gem. § 7a WHG anerkannt, dass ihr normkonkretisierende Wirkung zukommt.165 In dieser Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht etwas grundsätzlicher Stellung zur Rechtsnatur von Verwaltungsvorschriften im Umwelt- und Technikrecht bezogen. Verwaltungsvorschriften dienen nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts in diesen Regelungsfeldern der Ausfüllung eines der Verwaltung eingeräumten Beurteilungsspielraums.166 Damit einer Verwaltungsvorschrift normkonkretisierende Wirkung zukommt, verlangt das Bundesverwaltungsgericht ein zusätzliches Element, das diesen Typus der Verwaltungsvorschrift von anderen Typen unterscheidet. Diese gegenüber anderen Verwaltungsvorschriften gesteigerte Außenwirkung komme ihnen zu, wenn „die Exekutive bei ihrem Erlass höherrangigen Geboten und dem für deren Konkretisierung wesentlichen Erkenntnis- und Erfahrungsstand Rechnung getragen hat bzw. wenn die vom Gesetz getroffenen Wertungen beachtet werden“.167 Ferner dürfe die Verwaltungsvorschrift nicht „durch Erkenntnisfortschritte in Wissenschaft und Technik überholt“ sein.168 Diese Anforderungen markieren die gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten, die darüber hinaus in inhaltlicher Hinsicht abweichend vom Grundsatz der gerichtlichen Vollkontrolle der Exekutive nicht bestehen. Insoweit werden materielle Kriterien für die Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften aufgestellt: Die Gerichte überprüfen, ob die Exekutive die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage und ggf. weiterer materiell-rechtlicher Normen eingehalten hat. Ferner darf die Verwaltungsvorschrift noch nicht durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse überholt sein.169 In diesen differenzierten Aussagen zur Bindungswirkung der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift für die Gerichte verbirgt sich die besondere Leistung dieser Handlungsform für die Wissensgenerierung durch die Verwaltung: Die norm­ konkretisierenden Verwaltungsvorschriften ermöglichen eine Flexibilität bezüg 163

BVerwG NVwZ 1988, 824 (825); BVerwGE 110, 216 (219); BVerwGE 114, 342 (344 f.). BVerwGE 145, 145 (148). 165 BVerwGE 107, 338 (341). 166 BVerwGE 107, 338 (341). 167 BVerwGE 107, 338 (341). 168 BVerwGE 107, 338 (341). 169 Sendler, UPR 1993, 321 (326 f.); Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 40 Rn. 218. 164

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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lich der Normierung komplexer wissenschaftlich-technischer Sachbereiche, da sie zwar für Behörden und Gerichte und somit auch für die Betroffenen bindend wirken, aber gleichzeitig dem Vorbehalt eines neueren wissenschaftlichen Erkenntnisstandes unterliegen, also dem Erkenntnisfortschritt nicht blockierend gegenüber stehen.170 Die Fortentwicklung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse kann sowohl im Genehmigungs- als auch im Verwaltungsgerichtsverfahren in rechtlich zulässiger Weise rezipiert und in den Entscheidungsprozess eingespeist werden, indem entweder die Behörde eigenständig oder auf Vorbringen des Betroffenen hin einen neuen Erkenntnisstand abbildet oder eine Einzelfallausnahme trifft. Das Bundesverwaltungsgericht hat darüber hinaus noch eine Anforderung in prozeduraler Hinsicht entwickelt, der normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften entsprechen müssen. Damit die Verwaltungsvorschrift tatsächlich die vorhandenen Erfahrungen bezüglich ihres Regelungsgegenstandes und die wissenschaftlichen Erkenntnisse ausschöpfen kann, müsse sie auf Grund eines umfangreichen Beteiligungsverfahrens ergangen sein.171 Dadurch knüpft das Bundesverwaltungsgericht an die doppelte Leistung der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift an, dass sie nämlich den verfügbaren wissenschaftlich-technischen Sachverstand in hohem Maße abbildet und zugleich die von der Exekutive vorgenommene, abstraktgenerelle Abwägung der betroffenen Interessen Dritter zum Ausdruck bringt.172 Auch in anderen Bereichen des Besonderen Verwaltungsrechts wird von der Figur der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift Gebrauch gemacht. Exemplarisch seien die Gemeinsamen Richtlinien der Landesmedienanstalten gem. § 46 des Rundfunkstaatsvertrags173 sowie die Technischen Regeln für Rohrfernleitungen gem. § 21 Abs. 4 UVPG i. V. m. § 9 Abs. 5 RohrFLtgV174 genannt. Es bestehen jedoch teilweise auch erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der dogmatischen Voraussetzungen für normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften. So hat beispielsweise das VG Dessau in einer Entscheidung über die Vermessung von Flurstücksgrenzen festgestellt, dass sich die hinzunehmenden Abweichungen zwischen der katastermäßigen Grenze und der tatsächlich in die Örtlichkeit übertragenen Grenze nach einem Erlass über die Durchführung von Liegenschaftsvermessungen des zuständigen Ministeriums richten, in dem die Grenzen der Übertragungsgenauigkeit aus dem Kataster auf die tatsächlichen Grenzverläufe definiert werden.175 Insoweit wird aus der Entscheidung jedoch nicht deutlich, ob das Gericht von einer Wirkung als vorweggenommenes Sachverständigengutachten über die ver 170

Häfner, Verantwortungsteilung im Genehmigungsrecht  – Entwicklung und Aspekte der Umsetzung eines Sachverständigenmodells für das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren, 2010, S. 333; Uerpmann, BayVBl. 2000, 705 (709 f.). 171 BVerwGE 107, 338 (342). 172 BVerwGE 114, 216 (219). 173 Oberländer, ZUM 2001, 487(500); vgl. zur Rechtsprechung, die die Frage offenlässt, OVG Koblenz ZUM 2014, 739 (743). 174 VGH Mannheim GewArch 2012, 125 (127). 175 VG Dessau, Urteil vom 14.07.2006 – 1 A 349/04, Rn. 15 bei juris.de.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

messungstechnische Leistungsfähigkeit ausgegangen ist oder ob insoweit tatsächlich ein Beurteilungsspielraum der Verwaltung ausgefüllt werden sollte. Vielmehr setzt das VG Dessau diese beiden Figuren gleich. Diese Art des undifferenzierten Gebrauchs der Figur der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift ist symptomatisch für die dogmatischen Unsicherheiten hinsichtlich dieser Rechtsfigur. Der VGH München hatte die Verwaltungsvorschrift über die Aufnahme von Ausländern aus besonders gelagerten politischen Interessen gem. § 23 Abs. 2 AufenthG ebenfalls als normkonkretisierend angesehen, da sie die Ermächtigungsgrundlage konkretisiere.176 Dieser Auffassung hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Revisionsentscheidung widersprochen, da es sich bei der Verwaltungsvorschrift um eine Ermessenslenkung auf Grund von politischen Leitentscheidungen handle.177 Die zugrunde liegende Rechtsnorm sei nicht dahin auszulegen, dass eine Selbstbindungsmöglichkeit der Verwaltung intendiert sei, sondern im Gegenteil diene die Vorschrift gerade der Steuerung des Verwaltungshandelns auf Grund politischer Interessen der Bundesregierung. Das Bundesverwaltungsgericht sah insoweit einen Anspruch auf gleichheitsrechtlich konforme Ermessensausübung gem. Art. 3 Abs. 1 GG als gegeben an, sprach der Verwaltungsvorschrift darüber hinaus aber eine Außenwirkung ab.178 b) Administrative Beurteilungsspielräume Die Annahme einer normkonkretisierenden Wirkung einer Verwaltungsvorschrift mit der Wirkung, dass die Verwaltungsgerichte an diese Konkretisierungsentscheidung gebunden sind, erfordert die Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte gegenüber der Exekutive. Grundsätzlich garantiert Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die vollumfängliche gerichtliche Kontrolle hoheitlichen Handelns, das einen Betroffenen in seinen Rechten verletzt. Dies umfasst einen effektiven Rechtsschutz, was bedeutet, dass eine Vollkontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht stattzufinden hat.179 Diese Kontrolle steht, wie auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts ausführen, unter dem Vorbehalt abweichender gesetzlicher Bestimmungen. Das Gesetz kann demnach der Exekutive die letztverbindliche Entscheidung über Tatsachen oder die letztverbindliche Konkretisierung des Inhalts eines Rechtsbegriffs zuweisen.180 Solche administrativen Konkretisierungsbefugnisse von gesetzlichen Vorschriften stehen

176

VGH München, Urteil vom 15.11.2010 – 19 BV 10.871, Rn. 19 bei juris.de. BVerwGE 141, 151 (157). 178 BVerwGE 141, 151 (157). 179 BVerfGE 129, 1 (20); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2004, Art. 19 IV Rn. 116. 180 BVerwGE 62, 86 (98); BVerwGE 94, 307 (309 f.); BVerwGE 100, 221 (225); Schmidt-­ Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, 81. EL 2017, Art.  19 Abs.  4 Rn.  185 ff.; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, 29. Ergänzungslieferung 2015, § 114 Rn. 55; Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 104 177

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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ihrerseits unter dem Vorbehalt, dass sie mit grundrechtlichen Gewährleistungen sowie dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip vereinbar sein müssen.181 aa) Begründungsansätze in Rechtsprechung und Schrifttum Die Frage, ob das Gesetz der Exekutive eine solche Letztentscheidungskompetenz zuweist, wird überwiegend nach der sog. normativen Ermächtigungslehre beurteilt. Diese Auffassung besagt, dass sich die Kompetenzzuweisung an die Exekutive der gesetzlichen Regelung entweder bereits dem Wortlaut nach oder durch Auslegung mittels der juristischen Methodik entnehmen lassen muss.182 Insbesondere das Bundesverfassungsgericht misst eine solche gesetzliche Kompetenzzuweisung an dem zusätzlichen Erfordernis, dass dafür ein hinreichend gewichtiger, am Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes durch die Gerichte ausgerichteter Sachgrund besteht.183 Verschiedentlich wird zudem angenommen, dass eine administrative Letztentscheidungskompetenz besteht, wenn die Gerichte im Falle einer Vollkontrolle an ihre Funktionsgrenzen stoßen würden.184 In diesem Fall würde nämlich die gerichtliche Kontrolle keinen effektiven Rechtsschutz mehr darstellen, sondern vielmehr eine Verschlechterung der Effektivität der staatlichen Aufgabenerfüllung darstellen. In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist zudem für die Fallgruppe der Überprüfung von Prüfungsleistungen als Ausnahme von der vollen Kontrolle in tatsächlicher Hinsicht anerkannt, dass die Entscheidung der prüfenden Amtswalter gerichtlich hinzunehmen ist, wenn die Prüfungssituation nicht wiederholt oder rekonstruiert werden kann und vielmehr durch die gerichtliche Anfechtung der Prüfungsentscheidung ein unrechtmäßiger Vorteil erlangt werden würde.185 Dieser Ansatz zur Begründung von administrativen Letztentscheidungskompetenzen unterscheidet sich von einem anderen Konzept, das eine originäre Rechtsetzungsbefugnis der Exekutive annimmt. Ausgehend von der Beobachtung, dass Verwaltungsvorschriften aus rechtstatsächlicher Sicht insoweit Außenwirkung haben, als sie Verhalten von Dritten steuern, wird ihnen die Qualität eines eigenstän-

Rn.72; Redeker, NVwZ 1992, 305  (307); Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 7 Rn.  34; Oster, Normative Ermächtigungen, 2010, S.  47 ff.; Pache, Tatbestandliche Abwägung, 2001, S. 69 ff., 462 f.; vgl. BVerfGE 61, 82 (111). 181 Dazu s. BVerfGE 129, 1 (22 f.); Jacob / Lau, NVwZ 2015, 241 (242). 182 Gerhardt, in: Schoch  /  Schneider  /  Bier, VwGO, 29.  Ergänzungslieferung 2015, § 114 Rn. 57 ff. 183 BVerfGE 129, 1 Ls. 3; BVerfG NVwZ 2012, 694 (696); dazu krit. Sachs / Jasper, NVwZ 2012, 649 (653). 184 Vgl. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 180; Schenke, in: Kopp / Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 114 Rn. 24 ff. m. w. N.; Danwitz, Der Staat 35 (1996), 329 (340 ff.). 185 BVerfGE 84, 59 (77).

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

digen Rechtsakts zuerkannt.186 Insoweit vollzieht dieser Ansatz einen Wechsel von einer rechtsformorientierten zu einer rechtswirkungsorientierten, materiellen Betrachtungsweise hoheitlicher Akte.187 Konsequenterweise wird nicht nach der Art der Verwaltungsvorschrift unterschieden, sondern diese Qualifikation gilt nicht nur für die normkonkretisierende, sondern für alle Typen der Verwaltungsvorschrift.188 Dadurch können insbesondere Schwächen des Begründungsansatzes der mittelbaren Außenwirkung über das Gleichbehandlungsgebot gem. Art.  3 Abs.  1 GG sowie den Vertrauensschutzgedanken vermieden werden, die entstehen, wenn eine Verbindlichkeit der Verwaltungsvorschrift vor Entstehung einer Verwaltungspraxis geltend gemacht wird, beispielsweise bei erstmaliger Anwendung einer veröffentlichten Verwaltungsvorschrift.189 Ferner wird erklärlich, weshalb Verwaltungsvorschriften durch die Gerichte ausgelegt werden können.190 Im Übrigen unterscheidet sich der Ansatz der administrativen Rechtsetzungsbefugnis im Ergebnis kaum von einer Begründung der Verbindlichkeit von Verwaltungsvorschriften über die Selbstbindung der Verwaltung, den Vertrauensschutzgedanken, die normative Ermächtigungslehre oder das Funktionsfähigkeitskonzept. Insbesondere hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolle bestehen weitgehende Übereinstimmungen. Auch unter Anerkennung einer autonomen Rechtssetzungs­ befugnis für Verwaltungsvorschriften führt diese Form der Rechtsetzung zu einer geringeren Verbindlichkeit im Vergleich zu formellen und materiellen Gesetzen. Die Verwaltungsvorschriften bleiben auch nach diesem Ansatz auf die bekannten Anwendungsbereiche beschränkt, unterliegen der Bindung an höherrangiges Recht und sind des Weiteren daraufhin zu überprüfen, ob sie zum Zeitpunkt ihrer Anwendung noch dem aktuellen Erkenntnisstand entsprechen sowie ob ihrer Anwendung „gute Gründe“ entgegenstehen.191 Als solcher „guter Grund“ kommt der Vorbehalt der Einzelfallgerechtigkeit in Betracht, sodass Verwaltungsvorschriften dahingehend zu kontrollieren sind, ob der Einzelfall von ihnen erfasst wird oder ob es sich um einen atypischen Fall handelt, dem die mit der Verwaltungsvorschrift verbundene Typisierung und Schematisierung nicht gerecht wird.192 Gegen derartige Ansätze zur Begründung einer unmittelbaren Außenwirkung insbesondere der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift werden Bedenken geltend gemacht, die ihre Wurzel in einem anders gelagerten Verständnis der Gewaltenteilung haben. Diese Auffassung beruft sich auf die Normentypik der 186

Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 455 ff. S. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 456 f.; Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 104 Rn. 42. 188 Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 458. 189 Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 104 Rn. 58. 190 Dazu Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 104 Rn. 60 sowie BVerwG DVBl. 1982, 195 (197). 191 Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 469. 192 Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 469 ff. 187

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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Artt. 70 ff. GG. Als untergesetzliche Rechtsnorm der Exekutive wird in Art. 80 GG allein die Rechtsverordnung genannt. Im Übrigen folgen abstrakt-generelle Rechte und Pflichten nach dieser Lesart des Grundgesetzes allein aus formellen Gesetzen sowie dem Grundgesetz selbst. Verwaltungsvorschriften finden sich dagegen im Grundgesetz lediglich in Bestimmungen, die die administrative Binnensphäre betreffen, so in Art. 84 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2, Art. 86 sowie Art. 108 Abs. 7 GG.193 Aus dieser grundgesetzlichen Systematik sowie dem Umstand, dass über Art. 3 Abs. 1 GG und die Einbeziehung von tatbestandsbezogenen Verwaltungsvorschriften als „Auslegungsofferte“ an die Gerichte eine hinreichende Bindung an Verwaltungsvorschriften erreicht werde könne, sei daher zu folgern, dass es keiner selbständigen Rechtsverbindlichkeit der Verwaltungsvorschriften bedürfe.194 bb) Anerkannte Fallgruppen Da die Annahme eines Beurteilungsspielraums einen Ausnahmefall von der Regel der vollen gerichtlichen Überprüfung administrativen Handelns darstellt, haben sich insoweit Fallgruppen herausgebildet. Diese Fallgruppen sind nicht mit der Annahme der normkonkretisierenden Wirkung von Verwaltungsvorschriften zu verwechseln. Die Annahme eines Beurteilungsspielraums ist lediglich eine der Voraussetzungen, damit eine Verwaltungsvorschrift normkonkretisierend sein kann. Eine Fallgruppe des Beurteilungsspielraums bilden beamtenrechtliche Beurteilungen sowie Prüfungsentscheidungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind solche Bewertungen nicht vollständig gerichtlich nachprüfbar, die komplexe Entscheidungen mit wertenden und prognostischen Elementen enthalten, die mit gerichtlichen Erkenntnismitteln nicht nachvollzogen werden können.195 Dementsprechend bilden auch Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen insbesondere im Umwelt- und Wirtschaftsrecht eine weitere Fallgruppe. Beispiele sind die Funktionsfähigkeit des Taxigewerbes oder die Ermittlung des Standes der Wissenschaft und Technik zur gebotenen Vorsorge im Atomrecht.196 Eine dritte Fallgruppe bilden Entscheidungen wertender Art durch weisungsfreie, mit Sachverständigen oder Interessenvertretern besetzte Ausschüsse. Zu dieser Fallgruppe gehört die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien.197 Ein 193

Saurer, VerwArch 97 (2006), 249 (263). Saurer, VerwArch 97 (2006), 249 (264); Möstl, in: Ehlers / Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 19 Rn. 29. 195 BVerwGE 106, 263 (267); BVerwGE 99, 74 (76 f.); BVerfGE 84, 59 (77); s. a. Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 7 Rn. 35 ff.; zu weiteren Einzelheiten der verzweigten Dogmatik s. Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 40 Rn. 177 ff. 196 BVerwGE 82, 295 (297); BVerwGE 81, 185 (192); Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 7 Rn. 41. 197 Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 7 Rn. 40. 194

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

anderes Beispiel sind die Widerspruchsausschüsse beim Bundessortenamt, deren ehrenamtliche Beisitzer gem. § 40 Abs. 2 Satz 3 des Saatgutverkehrsgesetzes in der Regel über besondere Fachkunde auf dem Gebiet des Sortenwesens verfügen sollen.198 cc) Gerichtliche Kontrolldichte Die gerichtliche Kontrolle von normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften umfasst somit vier Prüfungspunkte.199 Zunächst hat das Gericht zu überprüfen, ob die Verwaltungsvorschrift nach ihrem eigenen Gegenstandsbereich auf den zugrunde liegenden Fall anwendbar ist.200 Im zweiten Schritt muss die Verwaltungsvorschrift bezüglich der Verfahrensvorschriften und der Ermittlung und Bewertung ihres Gegenstandes fehlerfrei erlassen worden sein, insbesondere wenn ein vorangegangenes umfangreiches Beteiligungsverfahren vorgeschrieben ist, das den Sachgrund für die Außenverbindlichkeit der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift bildet.201 Im dritten Schritt wird geprüft, ob die Inhalte der Verwaltungsvorschrift durch neue, gesicherte Erkenntnisse überholt sind.202 Der letzte Prüfungspunkt betrifft schließlich den entschiedenen Einzelfall und ist auf die Feststellung gerichtet, ob die Besonderheiten des Einzelfalls hinreichend gewürdigt worden sind.203 Andere Inhalte der Verwaltungsvorschrift bzw. ihrer Anwendung werden von den Gerichten nicht berücksichtigt, sondern fallen in den Beurteilungsspielraum der Behörde. c) Formelle Anforderungen In formeller Hinsicht sind zum Erlass von Verwaltungsvorschriften im Wesentlichen lediglich dann besondere Vorschriften zu beachten, wenn diese spezialgesetzlich angeordnet worden sind. Grundsätzlich bedarf die Exekutive nämlich keiner Ermächtigungsgrundlage, um Verwaltungsvorschriften zu erlassen.204 In formeller Hinsicht sind darüber hinaus Vorgaben aus Geschäftsordnungen der jeweiligen Regierung zu beachten, so auf Bundesebene der §§ 69–71 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO).

198

Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 7 Rn. 40. Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, 29. Ergänzungslieferung 2015, § 114 Rn. 63; Hill, NVwZ 1989, 401 (409 f.). 200 BVerwGE 110, 216 (218). 201 BVerwGE 107, 338 (341 f.). 202 BVerwGE 110, 216 (219); BVerwGE 107, 338 (341 f.). 203 BVerwG NVwZ 1998, 1181 (1183). 204 BVerwGE 67, 222 (229); Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 24. 199

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

59

Schließlich wird für Verwaltungsvorschriften mit Außenwirkung eine Publikationspflicht angenommen.205 Diese Pflicht entstammt dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG sowie dem Recht auf effektiven Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.206 Danach müssen Normadressaten die Möglichkeit haben, die jeweilige Rechtsnorm einsehen zu können. Es ist allerdings streitig, ob die Publikation einer Verwaltungsvorschrift Wirksamkeitsvoraussetzung ist.207 Nach § 76 Abs. 4 Nr. 1 GGO können Verwaltungsvorschriften in den Amtsblättern des jeweiligen Ministeriums veröffentlicht werden. Eine Veröffentlichung erfolgt dagegen gem. § 76 Abs. 3 Nr. 2 GGO im Bundesanzeiger, wenn die Veröffentlichung im Amtsblatt des Ministeriums nicht zu der erforderlichen Verbreitung der Verwaltungsvorschrift führen würde. Allerdings begründet diese Vorschrift keine selbständige Veröffentlichungspflicht, sondern differenziert nur das „Wie“ der Veröffentlichung, wenn die grundsätzliche Veröffentlichung nach pflichtgemäßem Ermessen beschlossen worden ist. d) Gesetzesvertretende Verwaltungsvorschriften Schließlich kann das Instrument der Verwaltungsvorschrift eingesetzt werden, um in Bereichen, in denen es an gesetzlichen Regelungen fehlt, Maßstäbe für Verwaltungshandeln zu geben. Es handelt sich in diesen Fällen somit nicht um den Vollzug von Gesetzen, sondern vielmehr um die Schaffung konkreter Voraussetzun­gen für das Verwaltungshandeln. Es liegt auf der Hand, dass es sich dabei nicht um Verwaltungshandeln mit Eingriffscharakter handeln kann, denn insoweit wäre angesichts der Gesetzesvorbehalte der Grundrechtsbestimmungen regelmäßig ein dazu ermächtigendes Gesetz erforderlich. Dementsprechend findet sich diese Fallgruppe der Verwaltungsvorschriften überwiegend im Bereich der Leistungsverwaltung, vor allem im Subventionsrecht, Steuerrecht sowie früher auch im Beamtenrecht.208 Die Kategorie der gesetzesvertretenden Verwaltungsvorschriften setzt voraus, dass die geregelte Materie nicht dem Gesetzesvorbehalt aus Art.  20 Abs.  3 GG unterliegt. Da bei „wesentlichen“ Entscheidungen und bei Grundrechtsbeeinträch-

205 BVerwGE 122, 264 (270); Ehlers, in: Ehlers / Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2016, § 2 Rn. 75; Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: Isensee /  Kirchhof (Hr.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 104 Rn. 83; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 31. 206 BVerwGE 122, 264 (270). 207 Vgl. Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19.  Aufl. 2017, § 24 Rn.  53; F. Kirchhof, in: Maunz / Dürig, GG, 81. EL 2017, Art. 84 Rn. 190. 208 Erichsen / Klüsche, Jura 2000, 540 (541); Hill / Martini, Normsetzung und andere Formen exekutivischer Selbstprogrammierung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 34 § 34 Rn. 43; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 24 Rn. 14; zur Situation bezüglich der Beihilfevorschriften s. BVerwGE 121, 103.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

tigungen stets von der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Gesetzesvorbehalts ausgegangen wird,209 scheidet insoweit eine Regelung durch Verwaltungsvorschriften aus, sodass nur ein vergleichsweise kleiner Anwendungsbereich für diesen Typus verbleibt.

VI. Administrative Entscheidungsgremien Die als Fallgruppe beim administrativen Beurteilungsspielraum angegebenen weisungsunabhängigen, mit Sachverständigen oder Interessenvertretern besetzten Entscheidungsgremien bilden eine weitere Form der Wissensgenerierung im Verwaltungsverfahren. 1. Verwendung der Rechtsfigur Es lassen sich zwei häufiger vorkommende Typen an Entscheidungsgremien unterscheiden. Der Gremientypus, für den die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien charakteristisch ist, ist gesetzlich zur Einzelfallentscheidung ermächtigt, während ein zweiter Typus an Entscheidungsgremien Einzelfallentscheidungen einer Verwaltungsbehörde vorbereitet, indem abstrakt-generelle Festlegungen getroffen werden. Für diesen zweiten Typus sei exemplarisch der wissenschaftliche Beirat nach § 11 des Psychotherapeutengesetzes genannt.210 Dieser Beirat wird auf der Bundesebene von Vertretern der psychologischen Psychotherapeuten und der ärztlichen Psychotherapeuten gebildet, um über die wissenschaftliche Anerkennung eines Psychotherapieverfahrens zu befinden. Die wissenschaftliche Anerkennung ist Voraussetzung für die Ausübung einer neuen Psychotherapierichtung, denn das Gesetz definiert den Umfang der Psychotherapie nicht, sondern verweist in § 1 Abs. 3 Satz 1 PsychThG vielmehr auf die wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren. Derartige Gremien werden durch Gesetz eingerichtet, um besonderes, bei gesellschaftlichen Gruppen oder Individuen verbreitetes Wissen in administrative Verfahren einzuspeisen. Die Zusammensetzung richtet sich nach beteiligten Interessengruppen, die Vertreter entsenden, oder Experten, die auf Grund ihres spezifischen Wissens in das Gremium berufen werden.

209

S. zusammenfassend Sachs, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 20 Rn. 116 m. w. N. S. BVerwG NJW 2009, 3593.

210

B. Wissensrezeption durch die Verwaltung

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2. Legitimation Soweit auf ein Gremium Entscheidungsbefugnisse im Einzelfall wie in der ersten Fallgruppe delegiert werden, stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieser gesetzlichen Verfahrensgestaltung. Insbesondere vor dem Hintergrund des dualen Legitimationsmodells, das im deutschen Staatsrecht vorherrscht, müssen delegierte Entscheidungsbefugnisse auf weisungsunabhängige Gremien, deren Mitglieder nicht gewählt worden sind, die Ausnahme darstellen. Durch die fachliche Weisungsunabhängigkeit wird der personelle Legitimationszusammenhang zur parlamentarisch legitimierten Exekutivspitze abgeschnitten. Es fehlt dadurch nach dem überkommenen Demokratieverständnis des Grundgesetzes an einem Element des „hinreichenden Legitimationsniveaus“, das vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung für Träger hoheitlicher Gewalt gefordert wird. Wenn gleichzeitig das Gesetz, das es anzuwenden gilt, ein vergleichsweise geringes Determinationsniveau bezüglich der zu treffenden Entscheidung hat, bestehen zugleich Zweifel an der sachlich-inhaltlichen Legitimation der Entscheidung. Unter dem Gesichtspunkt der fehlenden personellen Legitimation erhöhen sich somit mit dem Einfluss eines solchen Gremiums auf den administrativen Entscheidungsprozess die Legitimationsanforderungen. Je größer der Einfluss auf das Ergebnis der Entscheidung ist, desto umfangreicher müssen die institutionellen und prozeduralen Vorkehrungen bei der Gremienbesetzung und im Gremienbeschlussverfahren sein, um eine Interessenselektivität zu vermeiden.211 Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht zum wissenschaftlichen Beirat nach § 11 PsychThG hervorgehoben, dass seine plurale Zusammensetzung die Einseitigkeit der Beschlüsse zu Gunsten bestimmter Therapierichtungen oder Interessengruppen verhindern soll, um eine „höhere Richtigkeitsgewähr“ der Beurteilung zu erreichen.212 In Bezug auf die sachlich-inhaltliche Legitimation bedarf die Zuweisung von Entscheidungskompetenzen einer besonderen Rechtfertigung. Entweder wird eine weisungsunabhängige Behörde bereits im Grundgesetz selbst vorgesehen, wie dies in Art.  114 Abs.  2 GG für den Bundesrechnungshof oder in Art. 88 GG für die Bundesbank geschehen ist, oder die gesetzgeberische Entscheidung für ein solches Gremium ist rechtfertigungsbedürftig. Hinsichtlich der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien wird eine solche Rechtfertigung etwa darin gesehen, dass die Zensur von Medien durch die pluralistische Besetzung der Bundesprüfstelle mit besonderer Staatsferne aus der Gesellschaft heraus erfolgt, also gerade eine staatliche Zensur weitestgehend vermieden wird. Dies ist als ein milderes Mittel im Vergleich zu einer weisungsgebundenen Behörde zu sehen. Dennoch bedarf es eines präzisen gesetzlichen Programms für die Entschei-

211

Sommermann, in: Mangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, Bd.  2, 6.  Aufl. 2010, Art.  20 Rn. 177. 212 BVerwG NJW 2009, 3593 (3596).

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

dungen mit Eingriffscharakter, um der Wesentlichkeitstheorie Genüge zu tun.213 Die verfassungsrechtliche Beurteilung von administrativen Entscheidungsgremien kann somit nur im Einzelfall unter Würdigung der betroffenen Rechtsgüter und der präzisen Ausgestaltung der Besetzung und des Verfahrens des jeweiligen Entscheidungsgremiums erfolgen. 3. Gerichtliche Kontrolldichte Das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet auch für Entscheidungen administrativer Gremien einen effektiven Rechtsschutz. Dieser ist im Bereich der administrativen Gremienentscheidungen im obigen Sinne jedoch reduziert. Für Gremien, die weisungsfrei und mit besonderer fachlicher Legitimation in einem besonderen Verfahren entscheiden, insbesondere wenn es sich um Kollegialorgane handelt, wird eine reduzierte gerichtliche Kontrolldichte angenommen.214 In der jüngeren Rechtsprechung wird hervorgehoben, dass eine besondere Leistung dieser plural besetzten Gremien darin bestehe, dass sie kontroverse, durch „Subjektivismen“ geprägte Diskussionen versachlichen könnten, weshalb sowohl die Behörde als auch das kontrollierende Gericht die Entscheidung mittels ihrer Erkenntnisverfahren nicht in einer vergleichbaren Freiheit von subjektiven Werturteilen treffen können.215 Die gerichtliche Kontrolle ist demnach darauf beschränkt, ob die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten worden sind, ob das Gremium von einem richtigen Verständnis der gesetzlichen Grundlagen ausgegangen ist, ob der Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt worden ist und ob schließlich bei der eigentlichen Beurteilung allgemeine Wertungsgrundsätze sowie das Willkürverbot gewahrt worden sind.216 Der zweite Typus des administrativen Entscheidungsgremiums, in dem keine außenverbindlichen Einzelfallentscheidungen getroffen, sondern wissenschaftliche Standards oder technische Regelwerke beschlossen werden, wird in der Rechtsprechung dogmatisch anders gefasst. Die entsprechenden Entscheidungen sollen als antizipierte Sachverständigengutachten Beachtung finden. Insoweit hat das Bundesverwaltungsgericht jedoch über die oben genannten Kontrollkriterien hinaus ein prozedurales Element entwickelt bzw. stärker konturiert. Sowohl für den Wissenschaftlichen Beirat nach § 11 PsychThG als auch für die technischen Regelwerke der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. im

213

BVerfGE 83, 130 (152). BVerwGE 39, 197 (203 f.); BVerwGE 91, 211 (215 f.); BVerwGE 129, 27 (33); 215 BVerwGE 129, 27 (34). 216 BVerwGE 39, 197 (204); BVerwGE 129, 27 (39); Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 40 Rn. 115; vgl. Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 31 Rn. 28 ff. 214

C. Wissensrezeption in der exekutivischen Normsetzung

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Rahmen der Verkehrsplanung hängt die Anerkennung der jeweiligen Beschlüsse davon ab, ob die Zusammensetzung dieser Gremien und ihre internen Verfahren Gewähr dafür bieten, dass der auf einem Fachgebiet vorhandene Sachverstand durch sie repräsentiert wird und nicht Interessengruppen einseitig die Normung steuern.217 Dadurch wird die gerichtliche Kontrolle von den Inhalten der Entscheidungen auf die Zusammensetzung des Gremiums und die Prozeduren der Entscheidungsfindung verlagert. Dies entspricht einer Betonung von prozedural vermittelter Legitimation, um Schwächen in der klassischen personellen Legitimation zu kompensieren.

C. Wissensrezeption in der exekutivischen Normsetzung Die Wissensrezeption im Verwaltungsverfahren erfolgt im Rahmen eines entsprechenden Normprogramms, das von der Verwaltung ausgeführt und inhaltlich ausgefüllt wird. Die anzuwendenden und auszugestaltenden Normen können dabei auch von der Exekutive selbst erlassen werden. Die Rechtsverordnung und insbesondere die Satzung stellen klassische Beispiele für exekutivisch erlassene Rechts­normen dar. Bei der Normsetzung handelt es sich um den Erlass von außenwirksamen Rechtsvorschriften, die sich insoweit dem Grunde nach von Verwaltungsvorschriften und anderen verwaltungsintern wirkenden Handlungsformen unterscheiden, die nur in Ausnahmefällen eine Bindungswirkung für Dritte entfalten.218 Die Gründe für den Erlass von untergesetzlichen exekutivischen Normen sind vielfältig und reichen von der Qualitätsgewährleistung durch Erlass präzisierender Maßstäbe über die Herstellung von Vollzugsfähigkeit der gesetzlichen Normen bis hin zur Vollzugserleichterung durch Schaffung von standardisierten Handlungsvorgaben.219 Die Befugnis zum Erlass exekutivischer Normen wird durch den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes beschränkt.220 Diesem Grundsatz stehen ältere Auffassungen der Verwaltungsrechtswissenschaft gegenüber, wonach die Verwaltung aus eigener Exekutivkompetenz in allen Bereichen hoheitlich, insbesondere durch Verwaltungsakt, handeln darf, in denen dies nicht durch Gesetz verboten oder speziell abweichend geregelt ist.221 Der Vorbehalt des Gesetzes ergibt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus mehreren Quellen, nämlich einerseits den Grundrechten 217

BVerwG NVwZ 2008, 675 (677); BVerwG NJW 2009, 3593 (3595 f.). Vgl. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, 81. EL 2017, Art. 20 Rn. 140. 219 Hill / Martini, Normsetzung und andere Formen exekutivischer Selbstprogrammierung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 34 Rn. 5. 220 Sachs, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 20 Rn. 113; s. BVerfGE 40, 237 (248); BVerfGE 49, 89 (126). 221 S. Bauer, NVwZ 1987, 112 m. w. N. 218

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

und andererseits dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip.222 Danach müssen die „wesentlichen“ Entscheidungen vom parlamentarischen Gesetzgeber getroffen werden, sodass ihre Übertragung an die Exekutive zur autonomen Entscheidung beschränkt wird. Trotz der erheblichen Kritik, die an der Wesentlichkeitsformel des Bundesverfassungsgerichts geübt wird,223 hält das Bundesverfassungsgericht bislang an ihr fest.224 Es lässt sich als gemeinsamer Kern festhalten, dass jedenfalls in dem Bereich der Normsetzung, die mit Grundrechtseingriffen einhergeht, eine Ermächtigungsgrundlage für exekutivische Normsetzung vorhanden sein muss. Diese Ermächtigungsgrundlage muss jedoch nicht explizit die konkrete exekutivische Rechtsnorm vorsehen, sondern der Exekutive vielmehr eine eigene rechtliche Ausgestaltung erlauben. Insoweit wird ein festgelegter Kanon an rechtlichen Handlungsformen abgelehnt, vielmehr kann die Exekutive im Rahmen ihrer Ermächtigungsgrundlage selbst rechtsformschöpfend tätig werden.225 In Verfahren der exekutivischen Normsetzung gelten gem. § 9 VwVfG nicht die Vorschriften über das Verwaltungsverfahren, da die resultierende Handlungsform der Verwaltung weder ein Verwaltungsakt noch ein öffentlich-rechtlicher Vertrag ist.226 Daher stellt sich die Frage, welche Maßstäbe stattdessen für die Wissensgenerierung in administrativen Normsetzungsverfahren gelten. Diesbezüglich kommt eine entsprechende Anwendung der Grundsätze in Betracht, die für legislative Rechtsetzungsverfahren gelten und die nachfolgend im Überblick dargestellt werden. Teilweise finden sich jedoch auch in den gesetzlichen Normprogrammen, die zu untergesetzlicher Rechtsetzung ermächtigen, spezielle Vorgaben über die Ermittlung von erforderlichem Wissen für die Normsetzung.

I. Wissensrezeption in legislativer Normsetzung Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene ist durch eine Vielzahl von Instrumenten zur Wissensrezeption charakterisiert. An erster Stelle stehen die personellen Wissensquellen, die sich insbesondere aus den Fachreferaten der Bundesministerien, den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Fraktionen, den einzelnen Abgeordneten sowie dem Wissenschaftlichen Dienst des Bundes 222 Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.  II, 2. Aufl. 2012, § 9 Rn. 46; Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, 81. EL 2017, Art. 20 Rn. 79 ff.; BVerfGE 49, 89 (126); BVerfGE 61, 260 (275); BVerfGE 101, 1 (34); BVerfGE 136, 69 (114). 223 Dazu s. Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 9 Rn. 57 ff. m. w. N. 224 S. die Nachweise in BVerfGE 129, 1 (21 ff.). 225 Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 226. 226 Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 9 Rn. 85.

C. Wissensrezeption in der exekutivischen Normsetzung

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tages ergeben. Ferner werden in Gesetzgebungsverfahren neben den Vertretern der Bundesländer und der Kommunen auch betroffene Spitzen- und Fachverbände auf Bundesebene konsultiert, wie sich etwa für Gesetzesentwürfe der Bundesregierung aus § 47 GGO ergibt. Im parlamentarischen Verfahren selbst werden Gesetzesentwürfe regelmäßig in den Ausschüssen des Bundestages im Rahmen von Anhörungen gem. § 70 GOBT mit Sachverständigen und Interessenvertretern diskutiert. Dennoch wird vielfach eine Machtverschiebung vom Parlament zur Exekutive diskutiert, da die Exekutive über überlegene Wissensressourcen verfüge und das Parlament mit dieser Qualität und Quantität an Informationsgenerierung und Wissensverarbeitung nicht Schritt halten könne.227 Sogar für die Bundesministerien wird ein Verlust an Wissen und Gesetzgebungskompetenz beklagt, der sich in der Beauftragung von Rechtsanwaltskanzleien zur Abfassung von Gesetzesentwürfen in komplexen Regelungsmaterien zeige.228 1. Sachverständige Beratung Das Ideal des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens besteht darin, dass allein das Parlament die wesentlichen Entscheidungen in Staat und Gesellschaft politisch trifft und durch Gesetze rechtsförmig übersetzt.229 Dieses demokratische Ideal ist jedoch einer Vielzahl von Angriffen ausgesetzt. Die in Soziologie, Politologie und auch im Recht geführte Steuerungsdiskussion hat erhebliche Zweifel an der Möglichkeit geweckt, durch gesetzgeberische Maßnahmen zielgenaue intendierte Ergebnisse zu erreichen.230 Prozesse wie die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, die Transnationalisierung des nationalen Rechts in vielen Feldern des Zivil- und Verwaltungsrechts, supranationale Rechtsetzung auf europäischer Ebene sowie die Informalisierung der Beziehungen zwischen Staat und privaten Akteuren lassen die Steuerungskraft des parlamentarischen Gesetzes weiter schwinden.231 Auch die Realität des Parlamentarismus ist geeignet, Zweifel an der Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Prozesse zu wecken.232 Die Abgeordneten sind nicht als Fachexperten, sondern als legitimierte Entscheidungsträger in das Parlament gewählt. In der parlamentarischen Praxis existiert eine Tendenz zur individuellen Spezialisierung, die jedoch durch das strukturell überlegene Wissen der 227

Brenner, Das Prinzip Parlamentarismus, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 44 Rn. 59 f. 228 Vgl. Schmieszek, ZRP 2013, 175 ff. 229 Brenner, Das Prinzip Parlamentarismus, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 44 Rn. 30. 230 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR V, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 73. 231 Hoffmann-Riem, AöR 130 (2005), 5 (12 ff.); Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 9 Rn. 95 ff. 232 Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 393 ff.

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

Ministerialbürokratie und nicht zuletzt die Partizipation organisierter Interessen in vielen Fällen überlagert wird.233 Als Folge des Wandels des gesellschaftlichen Wissens hin zu einer Dezentralisierung wird spezialisiertes Fachwissen in der Politik verstärkt über Experten- und Beratungsgremien, Sachverständigenausschüsse etc. rezipiert.234 Dadurch steigt die Abhängigkeit der parlamentarischen Akteure von „Wissensagenten“, die notwendigerweise die Wissensrezeption anhand ihres eigenen Vorverständnisses durchführen und entsprechend die Wissenskommunikation an die im parlamentarischen Prozess beteiligten Akteure gestalten. Dennoch wird die Bedeutung des „parlamentarischen Expertentums“ als Kontrolle der Exekutive betont.235 Daneben ist das Gesetz ein Wissensspeicher, der normativ die Entscheidungsverfahren der Exekutive nach wie vor im Wege der Gesetzesbindung der Exekutive und der Judikative zu steuern in der Lage ist.236 2. Ermittlungspflichten Die Wissensgenerierung im Gesetzgebungsverfahren verschiebt sich somit von der Rolle der Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter als Wissensspeicher zu einer Instanz der Wissensermittlung und Wissensverarbeitung. Insoweit gewinnt im parlamentarischen Verfahren das „Wissen zweiter Ordnung“ eine größere Bedeutung und bildet den Kernprozess der Gesetzgebung durch das Parlament. Der parlamentarische Gesetzgeber hat im Ausgangspunkt keine allgemeine Pflicht, die tatsächlichen Grundlagen für seine normsetzende Entscheidung vollständig zu ermitteln und in gerichtlich überprüfbarer Weise darzustellen. Das Bundesverfassungsgericht geht vielmehr in ständiger Rechtsprechung von einem weiten Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum aus, den es unter den Topoi der Eignung und Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung nur im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle korrigiert.237 Im Regelfall müsse nämlich die gesetzgeberische Beurteilung sowohl des Regelungsgegenstandes als auch der Auswirkungen des Gesetzes hingenommen werden.238 Dennoch nimmt das Bundesverfassungsgericht für sich in Anspruch, das Verfahren der Ermittlung der Wissensgrundlagen für die gesetzgeberische Entscheidung zu überprüfen. In sämtlichen Fällen von Grundrechtsbeeinträchtigungen behält es sich die Befugnis vor zu überprüfen, „ob der Gesetzgeber sich die Kenntnis von der zur Zeit des Erlasses des Gesetzes bestehenden tatsächlichen Ausgangslage in korrekter und ausreichender Weise ver 233

Brenner, Das Prinzip Parlamentarismus, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 44 Rn. 59. 234 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR V, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 71. 235 Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 204. 236 Davon geht auch Hoffmann-Riem, AöR 130 (2005), 5 (30) aus. 237 BVerfGE 126, 112 (141); Nolte, Der Staat 52 (2013), 245 (249); Sachs, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 20 Rn. 151, 153. 238 BVerfGE 126, 112 (141).

C. Wissensrezeption in der exekutivischen Normsetzung

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schafft hat“.239 Hat der Gesetzgeber nach diesem Maßstab die zugrunde gelegten Tatsachen ordnungsgemäß ermittelt, sind die von ihm getroffenen Bewertungen und Prognosen hinzunehmen und der weiteren Verhältnismäßigkeitsprüfung regelmäßig zugrunde zu legen.240 Die Dichte der Überprüfung der parlamentarischen Wissensgenerierung hängt indes von der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung ab.241 Die Grenzen des Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums sind ferner dann erreicht, „wenn sie in einem Maße wirtschaftlichen Gesetzen oder praktischer Erfahrung widersprechen, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben können“.242 Das Bundesverfassungsgericht verlangt somit für die Ermittlung der Tatsachen, auf die sich der parlamentarische Gesetzgeber stützt, die Einhaltung von Mindestanforderungen an die Qualität und den Umfang der Ermittlung des Sachverhalts, den das Parlamentsgesetz regeln soll. 3. Grundsatz der Folgerichtigkeit Die zutreffende Ermittlung des Sachverhalts, der gesetzlich geregelt werden soll, ist nicht nur ein Kontrollmaßstab des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Bewertung der Verhältnismäßigkeit des Gesetzes, sondern stellt ferner eine grundlegende Voraussetzung dar, um gewünschte Steuerungseffekte auch tatsächlich erzielen zu können. Aus der Perspektive der gesellschaftlichen Steuerung durch Recht ist die Möglichkeit, auf andere gesellschaftliche Systeme Einfluss zu nehmen, entscheidend davon abhängig, inwieweit deren Verhältnisse durch die im Rechtssystem statuierten Rechtsetzungsprozeduren erfasst und verarbeitet werden können. Umgekehrt erscheint es aus der Perspektive anderer Gesellschaftssysteme, die dem Steuerungseinfluss des Parlamentsgesetzes unterliegen, zweckmäßig, dass die Regelungsbefehle nachvollziehbar und folgerichtig sind. Hierfür ist ebenfalls die zutreffende Erfassung und Verarbeitung des geregelten Sachverhalts in den Prozeduren des Rechtssystems vonnöten. Neben den Anforderungen an die plausible Ermittlung des zu regelnden Sachverhalts hat das Bundesverfassungsgericht ferner in mehreren Entscheidungen den Maßstab der Folgerichtigkeit, der auch als Konsistenz oder prozedurale Rationalität bezeichnet wird, entwickelt. Das Bundesverfassungsgericht überprüft im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Kontrolle der Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Grundrechtseingriffs die gesetzliche Regelung auch daraufhin, inwiefern die gewählten Mittel und das gesetzgeberisch definierte Ziel in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen. Innerhalb des Rahmens der Einschätzungsprärogative ist der Gesetzgeber jedoch auch an bestimmte Rationalitätsmaßstäbe gebunden. Wählt der Gesetzgeber ein Regelungskonzept, muss er dieses nach der Rechtsprechung 239

BVerfGE 39, 210 (226). BVerfGE 25, 1 (17). 241 BVerfGE 7, 377 (411 f.); BVerfGE 50, 290 (332 f.). 242 BVerfGE 126, 112 (141). 240

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

des Bundesverfassungsgerichts konsequent und in sich folgerichtig umsetzen.243 Eine Abweichung von folgerichtigen Maßnahmen bedarf einer besonderen Rechtfertigung.244 Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich in der privilegierten Erkenntnisposition einer Entscheidung ex post befindet.245 Dadurch kann das Gericht die verfassungsrechtliche Bewertung in Kenntnis der eingetretenen Folgen sowie weitergehender Stellungnahmen zu den Konsequenzen des Gesetzes vornehmen, anders als dies dem Gesetzgeber in der notwendig auf die ex-ante-Sicht beschränkten Entscheidungssituation möglich war. Es wird dementsprechend gefordert, diesen Umstand zusammen mit dem Gewicht und dem Grad der Beeinträchtigung von verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern bei der Kontrollintensität bezüglich des gesetzgeberischen Einschätzungsspielraums zu berücksichtigen.246 4. Begründungspflicht Von den Grundsätzen der Folgerichtigkeit und der Beachtung eines gesetzgeberischen Konzepts ist der Sprung zu einer Begründungspflicht für Gesetze nicht weit, um die Beachtung der vorgenannten Grundsätze überprüfbar zu machen. Tatsächlich wird die Frage, ob eine allgemeine Begründungspflicht für Gesetze besteht, kontrovers diskutiert.247 Das Grundgesetz kennt seinem Wortlaut nach keine dahingehende Pflicht des Gesetzgebers. Begründungspflichten für die Gesetzesentwürfe ergeben sich lediglich auf Geschäftsordnungsebene aus § 76 Abs. 2 GOBT und § 42 Abs. 1 GGO. Zunächst hat auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine echte Begründungspflicht, sondern stattdessen eine Obliegenheit in dem Sinne statuiert, dass die Begründung eines Gesetzes die Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gesetzgebung nachvollziehbar machen kann.248 Die Kontrolle von Gesetzen durch das Bundesverfassungsgericht konzentriert sich jedenfalls im Bereich der Beamtenbesoldung, der Sicherung des Existenzminimums, bei planerischen Gesetzen sowie in Fällen des Art. 14 Abs. 3 GG zunehmend auf prozedurale Aspekte des Gesetzgebungsverfahrens.249 Dieses pro 243

BVerfGE 121, 317 (356 ff.); BVerfGE 122, 210 (231). BVerfGE 122, 210 (231). 245 Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 501 ff. 246 Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 516 ff. 247 S. die Nachweise bei Remmert, in: Maunz / Dürig, GG, 81. EL 2017, Art. 80 Rn. 131; Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“ – Zu alten und neuen Begründungspflichten des parlamentarischen Gesetzgebers, in: Depenheuer / Heintzen / Jestaedt (Hr.), FS Isensee, 2007, S. 325 (329 ff.). 248 BVerfGE 125, 175 (238). 249 BVerfG NJW 2015, 1935 (1941 f.); BVerfG NVwZ 2012, 357 (361 f.); BVerfG NJW 1997, 383 (385 f.); vgl. bereits BVerfGE 53, 30 (65). 244

C. Wissensrezeption in der exekutivischen Normsetzung

69

zedurale Kontrollkonzept gesetzgeberischer Entscheidungen erfordert nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Gesetzgeber eine qualifizierte Begründung des Gesetzes erstellen muss, um die verfassungsgerichtliche Kontrolle zu ermöglichen.250 Demnach muss der Gesetzgeber die Sachverhaltsermittlung, die im Gesetzgebungsverfahren erfolgt ist, in der Gesetzesbegründung dokumentieren und die Schlussfolgerungen, die hierauf basierend zur konkreten Bewertung geführt haben, darstellen.251 Diese Anforderungen gehen deutlich über eine Obliegenheit zur Begründung hinaus, denn das Bundesverfassungsgericht hat in der zitierten Entscheidung zur sächsischen Richterbesoldung ausgesprochen, dass eine bloße Begründbarkeit der gesetzgeberischen Bewertung auf Grund der Prozeduralisierung des Grundrechtsschutzes im Gesetzgebungsverfahren nicht ausreiche.252 Ferner trifft den Gesetzgeber in diesem Bereich nach dem prozeduralen Grundrechtsschutzkonzept eine Pflicht zur Beobachtung und ggf. zur Nachbesserung der gesetzlichen Regelung.253 Inwieweit dieses Konzept der Prozeduralisierung des Grundrechtsschutzes auf andere Regelungsbereiche als die Festlegung von angemessenen Geldleistungen übertragen werden kann, bleibt abzuwarten. Bemerkenswert ist an dieser Rechtsprechungslinie, dass das Bundesverfassungsgericht den parlamentarischen Gesetzgeber dazu verpflichtet, die ihm obliegende Bewertung intersubjektiv nachvollziehbar zu machen und den Grundrechtsschutz zu prozeduralisieren, indem erst die Einhaltung bestimmter Verfahrensvorschriften die parlamentarische Bewertung für das Bundesverfassungsgericht hinnehmbar macht. Diese Konzeption der parlamentsgesetzlichen Ausgestaltung von grundrechtlichen Gewährleistungen entspricht einer Linie in der verwaltungsrechtlichen Diskussion, exekutivische Normsetzungsverfahren prozedural zu konzeptionalisieren.254

II. Grundsätze der Wissensrezeption in der exekutivischen Normsetzung Die Wissensrezeption in der exekutivischen Normsetzung ist wie bei der legislativen Normsetzung oder bei Entscheidungen im Verwaltungsverfahren ein Bestandteil des jeweiligen Verfahrens. Mangels Anwendbarkeit der allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften richtet sich das Normerlassverfahren nach dem jeweiligen Fachrecht. So sieht beispielsweise § 2 Abs. 3 BauGB eine allgemeine Ermittlungspflicht bezüglich der Belange in der Bauleitplanung, 250

BVerfG NJW 2015, 1935 (1942). BVerfG NJW 2015, 1935 (1942). 252 BVerfG NJW 2015, 1935 (1942). 253 BVerfGE 130, 263 (301 f.); BVerfGE 117, 330 (355); BVerfGE 114, 258 (296 f.). 254 S. dazu Hill / Martini, Normsetzung und andere Formen exekutivischer Selbstprogrammierung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 34 Rn. 11 m. w. N. 251

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

die für die Planaufstellung relevant sein können, vor. Nach § 2a BauGB muss der Planentwurf begründet werden, bevor er zur öffentlichen Anhörung gestellt wird. Ein Fehler bei der Ermittlung der potenziell relevanten Belange sowie bei der Abfassung der Begründung ist nur nach Maßgabe des § 214 BauGB beachtlich. Dieses Regelungssystem ist im Wesentlichen in unterschiedlichen Bereichen der Satzungsgebung vorzufinden.255 Insoweit ergibt sich die Fehlerfolgenregelung für untergesetzliche Normen aus spezialgesetzlichen Regelungen. Fehlen solche Regelungen, folgt aus dem sog. „Nichtigkeitsdogma“, dass auch Verfahrensfehler zur Nichtigkeit der Rechtsnorm führen.256 Auf welche Weise die Wissensermittlung im Bereich der exekutivischen Normsetzung zu erfolgen hat, ergibt sich gleichfalls aus dem jeweiligen Fachrecht. Beispielsweise geben die §§ 2 ff. BauGB ein Beteiligungsverfahren vor, das die Einbeziehung von Trägern öffentlicher und privater Belange regelt. Der Erlass von Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 SGB V ist dort sowie konkretisierend in der Verfahrensordnung des GBA geregelt. Diese Vorschriften sehen das Verfahren der Wissensgenerierung, die Anhörung von Betroffenen und Interessenvertretern sowie weitere prozedurale Garantien vor, die sich teilweise speziell aus der Ermächtigungsgrundlage zum Richtlinienerlass ergeben, wie dies etwa in §§ 35, 35a SGB V der Fall ist. Mangels allgemeiner Vorschriften zum Verfahren der exekutivischen Normsetzung stellt sich die Frage, ob die vom Bundesverfassungsgericht für die legislative Normsetzung entwickelten Grundsätze entsprechend anwendbar sind. Für eine solche analoge Anwendung spricht zunächst, dass das Bundesverfassungsgericht seine Anforderungen aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG sowie aus dem Gedanken des prozeduralen Grundrechtsschutzes heraus entwickelt hat. Die exekutivische Normsetzung unterfällt insoweit denselben Beschränkungen, da die Exekutive gleichfalls durch Art. 20 Abs. 3 GG gebunden ist und bei der Beschränkung von Grundrechten die prozeduralen Sicherungen beachten muss, die zum Schutz der Grundrechtsträger erforderlich sind. Das Bundesverfassungsgericht hat den prozeduralen Grundrechtschutz über die Pflicht zur umfassenden Tatsachenermittlung, zur folgerichtigen Ausgestaltung der Normen sowie zur Begründung der Rechtsnormen anhand von Fallgestaltungen entwickelt, in denen die materiellen Inhalte der Rechtsnormen verfassungsgerichtlich nicht effektiv kontrolliert werden können. Dies betraf insbesondere die Beamtenbesoldung und die Bemessung von Existenzsicherungsleistungen. In beiden Regelungsbereichen ist das kontrollierende Bundesverfassungsgericht auf 255 Vgl. Oebbecke, NVwZ 2003, 1313 (1314); Battis, in: Battis / Krautzberger / Löhr, BauGB, 13. Aufl. 2016, § 214 Rn. 3 ff.; aus der Rechtsprechung etwa OVG Hamburg NVwZ-RR 2007, 108 (109) Ls. 4. 256 Vgl. Ossenbühl, NJW 1986, 2805 (2806  f).; Ossenbühl, Rechtsverordnung, in: Isensee / Kirchhof (Hr.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 103 Rn. 79; Schnapp, NZS 1997, 152 (153) m. w. N.; Gassner, PharmR 2012, 248 (252).

D. Methoden der Wissensrezeption in komplexen Entscheidungsverfahren

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eine Evidenzkontrolle beschränkt, sodass sich ein weiter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers eröffnet.257 Dieser Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum wird angesichts der fehlenden Möglichkeit zur Überprüfung und Korrektur der im Einzelnen gesetzgeberisch festgesetzten Inhalte durch die prozeduralen Pflichten des Gesetzgebers eingehegt und eingeschränkt kontrollierbar gemacht. Dieses Konzept zur gerichtlichen Kontrolle entspricht demjenigen, das die Verwaltungsgerichtsbarkeit für die eingeschränkte gerichtliche Überprüfung von administrativen Entscheidungsgremien und normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften sowie antizipierten Sachverständigengutachten entwickelt hat. Der gemeinsame Kern dieser Kontrollansätze besteht in der Unmöglichkeit, den materiellen Inhalt des Kontrollgegenstandes mit eigenen gerichtlichen Erkenntnismitteln bestimmten zu können. Die gerichtliche Kontrolle verlagert sich in diesem Fall auf prozedurale Elemente. Die sich aus dem Richterrecht ergebenden prozeduralen Anforderungen sind daher auch auf die exekutivische Normsetzung analog übertragbar, soweit das jeweilige Fachrecht eine ausfüllungsbedürftige Lücke hinterlässt. Angesichts des hiermit verfolgten Grundrechtsschutzes dürfte von einer solchen ausfüllungsbedürftigen Lücke in der Regel auszugehen sein, sofern das jeweilige Fachrecht nicht eine spezielle Vorschrift bereithält.

D. Methoden der Wissensrezeption in komplexen Entscheidungsverfahren Rechtliche Prozesse der Wissensrezeption sind ihrer überkommenen Struktur nach auf eine bestimmte Form der Verfügbarkeit von Wissen eingestellt. Das Wissen ist essenziell auf Erfahrungen bezogen und durch Erfahrungen gewonnen; es ist grundsätzlich für jeden verfügbar, der sich entsprechendes Spezialwissen aneignet; es kann durch Befragung von Experten gewonnen werden, es ist also insoweit durch Verwaltungsbehörden auch selbst ermittelbar und kann von ihnen auch selbst erworben werden. Durch diese Struktur der Wissensgewinnung bleibt das Wissen trotz der Anknüpfung an vorhandene Erfahrung dynamisch, denn mit jeder neuen Erfahrung ändert sich auch der Wissensbestand.258 Die Besonderheit dieses Wissenstypus ist jedoch, dass die Erfahrung als Deutungsrahmen bestehen bleibt. Sie strukturiert neue Beobachtungen, stabilisiert also die immanente Unsicherheit der Weiterentwicklung des Wissens, indem sie die Veränderungen auf das „Erwartbare“ beschränkt. Mit diesem Prozess ist das Konzept der Wahrscheinlichkeit aufs Engste verknüpft.259 Gleichzeitig postuliert das Primat der 257

BVerfGE 130, 263 Ls. 4; BVerfG NJW 2015, 1935 (1936 f.). Hase, Sozialrecht und die Integration gesellschaftlichen Wissens, in: Masuch / Spellbrink / Becker / Leibfried (Hr.), Denkschrift 60 Jahre BSG, 2014, S. 423 (430). 259 Ladeur, Das Umweltrecht der Wissengesellschaft, 1995, S. 24 f. 258

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

Erfahrung, dass sich unerwartete Ereignisse durch die Beobachtung in die Erfahrung integrieren lassen  – und dadurch beherrschbar und selbst Bestandteil der Erfahrung werden, mit der sich nunmehr weitere, zukünftige Beobachtungen strukturieren lassen.260 Neue Phänomene konnten somit in bestehende Klassen von Erfahrungssätzen eingeordnet werden. Sog. „kanonisierte Beispiele“ bildeten die Typen der Erfahrungssätze, anhand derer die Klassifikation von neuen Entwicklungen oder neuen Entdeckungen vorgenommen werden konnte.261 Auf der Grundlage des Erfahrungswissens lassen sich jedoch hochinnovative – und hochriskante – Technologien nicht angemessen erfassen, da der Deutungsrahmen des Erfahrungswissens nicht mehr geeignet ist, die Verknüpfung der neuen Informationen zu einem die Realität erfassenden Wissensbestand zu gewährleisten. In der Folge der wissenschaftlichen und technologischen Revolutionen der letzten Jahrzehnte und den Fortschritten in den Kommunikationstechnologien hat sich auch die gesellschaftliche Wissensbasis verändert. Der Wissensbestand hat sich in hohem Maße spezialisiert.262 Zwar wird ein erheblicher Teil des modernen Wissens gesellschaftlich geteilt und knüpft nach wie vor an zugängliche Erfahrungen an, doch gerade in den Bereichen der Hochtechnologie ist das dort verfügbare und für Entscheidungsprozesse notwendige Wissen nicht mittels der Anknüpfung an Erfahrungswissen zugänglich. Das Wissen in Bereichen der Hochtechnologie folgt einem anderen Paradigma des Wandels, als es noch für die klassischen Wissensbestände zu Grunde gelegt werden konnte. Im überkommenen Modell des Wandels von Wissen herrschte die Vorstellung der inkrementellen Fortschritte vor, anhand derer der Wissensbestand wuchs. Es zeigt sich in den Bereichen der modernen Hochtechnologie, dass sich das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Technologie grundlegend verändert hat. Im überkommenen Modell diente die Wissenschaft der Generierung von Wissen, während der Technologie die Anwendung des gefundenen Wissens zukam. Auf dieser Grundlage konnte im Recht auch die Regulierung der technologischen Fortschritte unter Anknüpfung an das klassische Modell der Gefahrenabwehr betrieben werden. Indem der technologische Fortschritt extern generiertes Wissen unter dem Paradigma der kanonisierten Beispiele nachvollzog, konnte zur Regulierung an die Ähnlichkeit der technologischen Neuentwicklungen mit den kanonisierten Beispielen angeknüpft werden. Die Ähnlichkeit konnte durch eigene, behördliche Expertise oder durch das vermittels Experten angeeignete Wissen festgestellt werden, sodass auf der Grundlage des Erfahrungswissens Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden konnten. Dabei war allerdings der zu erwartende Möglichkeitsraum der Folgen der technologischen Entwicklung auf die Variationsbreite des kanonisier 260

Ladeur, Das Umweltrecht der Wissengesellschaft, 1995, S. 24 f. Ladeur, Das Umweltrecht der Wissengesellschaft, 1995, S. 25. 262 Hase, Sozialrecht und die Integration gesellschaftlichen Wissens, in: Masuch / Spellbrink /  Becker / Leibfried (Hr.), Denkschrift 60 Jahre BSG, 2014, S. 423 (431). 261

D. Methoden der Wissensrezeption in komplexen Entscheidungsverfahren

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ten Beispiels begrenzt; mit allem, was diesen Erwartungsraum überschritt, musste nicht gerechnet werden, für diese Fälle musste also auch nicht Vorsorge getroffen werden.263 Im Vergleich mit dieser Konzeption von technologischem Fortschritt und seiner rechtlichen Regulierung zeigt sich besonders deutlich, welcher grundlegende Wandel mit dem Fortschritt der modernen Hochtechnologien stattgefunden hat. Wissenschaft und Technologie bilden nicht mehr zwei getrennte Sphären – so dieses Modell denn je der Realität entsprochen haben sollte – mit unterschiedlichen Regelungsbedarfen, sondern sind verschleift. Sie stehen in einem Wechselwirkungsverhältnis, indem sich zwischen Forschung und Anwendung zunehmend weniger trennen lässt.264 Vielmehr findet die Forschung durch die Anwendung statt. Dies ist in der modernen Biotechnologie oder Molekularbiologie besonders greifbar. Zwar findet die Forschung nach wie vor im Labor und nicht am Produkt statt, doch ist der Weg aus dem Labor zur erprobenden Anwendung spürbar kürzer. Es findet eine stärker gekoppelte Form des „learning by doing“ statt. Dies lässt sich beispielsweise durch die molekularbiologische Modifikation von Agrarsaatgut verdeutlichen, dessen Auswirkungen auf das Ökosystem bei großflächiger Anwendung kaum untersucht werden können, wenn das Saatgut nicht großflächig angewendet wird – dann jedoch möglicherweise ohne die Aussicht, die sich zeigenden Folgen wieder eindämmen zu können. Ein strukturell verwandtes Phänomen der unbekannten, aber möglicherweise nicht eindämmbaren Folgen lag und liegt ebenfalls der Anwendung der Kernenergie zugrunde. Es handelt sich dabei um eine Typik vieler Hochtechnologiebereiche. In der Konsequenz versagt für diese Technologien das Modell der kanonisierten Beispiele und damit auch die überkommene Anknüpfung des Gefahrenabwehrrechts an eine ex ante erkennbare und akzeptable Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. In der Konsequenz geht auch die mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff verbundene Lernfunktion verloren.265 Als eine Reaktion auf diese Veränderungsprozesse hat sich auch das Modell des Wahrscheinlichkeitsbegriffs verändert. Im klassischen Modell war die Wahrscheinlichkeit eng mit dem Konzept der Kausalität verbunden. Nunmehr ist Wahrscheinlichkeit im Bereich der Hochtechnologien und generell in der Wissenschaft durchweg statistisch konzipiert.266 Inwieweit die Medizin von diesem Wandel betroffen ist, wird sich im 3. Kapitel zeigen. Die Folgen für die Steuerung der Wissensgenerierung im regulierenden Verwaltungsrecht sind fundamental: Dem überkommenen und das Verwaltungsverfahrensrecht dominierenden Paradigma der sachverständigen Behörde liegt das 263

S. dazu Ladeur, Das Umweltrecht der Wissengesellschaft, 1995, S. 63 ff. Ladeur, Das Umweltrecht der Wissengesellschaft, 1995, S. 67. 265 Ladeur, Das Umweltrecht der Wissengesellschaft, 1995, S. 73. 266 Ladeur, Das Umweltrecht der Wissengesellschaft, 1995, S. 83. 264

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2. Kap.: Wissensgenerierung und staatliche Entscheidung

epistemologische Modell des verfügbaren Erfahrungswissens zugrunde. Neue Sachverhalte lassen sich nach diesem Modell unter Rückgriff auf bereits vorhandene Erfahrungsregeln erfassen und bewerten. Die Gefahren, die von einem neuen Sachverhalt ausgehen, sind in diesem Modell nicht kategorial von den bereits bekannten Vergleichsfällen verschieden. Sie können sich zwar hinsichtlich des Ausmaßes und der Eintrittswahrscheinlichkeit unterscheiden, lassen sich jedoch mit diesen Kenngrößen quantifizieren und dadurch handhaben. Die Behörde kann sich in diesem Paradigma über den Zeitverlauf das notwendige Hintergrundwissen durch Erfahrung sowie durch die Auswahl von qualifizierten Amtswaltern aneignen. Die Amtswalter bedürfen dabei lediglich der allgemeinen Grundkenntnisse ihres jeweiligen Sachgebiets, das spezielle Wissen kann nämlich aus diesen Grundkenntnissen – dem Hintergrundwissen des Sachgebiets – im Laufe der Zeit erworben werden. Die einschlägigen Erfahrungsregeln sind insoweit intersubjektiv bekannt bzw. können als intersubjektiv bekannt vorausgesetzt und somit durch Lernprozesse erworben werden.267 Es bedarf dann lediglich einer Ermittlung des konkreten Sachverhalts und einer Subsumtion unter die einschlägigen Rechtsnormen.268 Insoweit gliedert dieses Modell das Verwaltungshandeln in zwei Ebenen, nämlich eine sachverhaltsbezogene und eine regelbezogene Ebene.269 Dass dieses Modell in starkem Maße reduktionistisch ist, hat Ladeur aufgezeigt. Es ist jedoch für weite Bereiche des Verwaltungshandelns durchaus tauglich, da sich in vielen Lebensbereichen durch Erfahrungswissen hinreichend genaue Vorhersagen über neue Sachverhalte treffen lassen. Das Paradigma der sachverständigen Behörde gerät an seine Grenzen, wenn dadurch Sachbereiche erfasst werden sollen, in denen kein geteiltes Erfahrungswissen als Hintergrundwissen verfügbar ist. Das Angewiesensein auf fachfremden Sachverstand führt in komplexen und techniknahen Sachbereichen dazu, dass behördenexterne Sachverständige, Gutachter oder Experten herangezogen werden, um der Behörde Informationen zu liefern. Ferner kann die Schaffung von behördenexternen Gremien, die beratende Funktion haben oder auf die eine Übertragung der Entscheidungskompetenz stattfindet, auf diesen Prozess zurückgeführt werden.270 Auf der Grundlage dieses Modells des Sachverständigengutachtens bleiben jedoch mehrere Problemlagen unbeantwortet. Eine Problemkonstellation betrifft die Möglichkeit der konkreten Fragestellung hinsichtlich der Tatsachenlage. In der Literatur wird beschrieben, dass insbesondere die komplexen Technologiebereiche immanent „schlecht strukturiert (ill-structured)“ seien, weil sich in diesen Feldern ein sehr rascher Übergang von der wissenschaftlichen Erforschung zur

267

Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 16. Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 16. 269 Vesting, Die Bedeutung von Information und Kommunikation für die verwaltungsrechtliche Systembildung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 20 Rn. 8. 270 Vgl. Schlink, VVDStRL 48 (1990), 235 (247). 268

D. Methoden der Wissensrezeption in komplexen Entscheidungsverfahren

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technischen Anwendung zeige.271 Dadurch muss mit einer Vielzahl an Variablen operiert werden, deren Interaktionen und Relevanz weitgehend unbekannt sind, da es an Erfahrung und an Modellierungen fehlt.272 Der Sachverständige ist sodann gleichermaßen an diese Unsicherheit gebunden, da er angesichts der inhärenten Unsicherheit innerhalb der Fachdisziplin diese Limitationen nicht überschreiten kann. Vielmehr stellt sich die Herausforderung, diese Begrenzungen des Wissens zu reflektieren und im Begutachtungsprozess zu explizieren. Wird dagegen seitens des Auftraggebers nicht auf diese „schlechte“ Strukturierung des Gegenstandsbereichs der Begutachtung bei der Formulierung des Gutachtenauftrags Rücksicht genommen, kann der Sachverständige in die Situation geraten, eine nicht beantworte Frage beantworten zu müssen. Eine Reaktion auf diese Schwierigkeiten der Erkenntnisgewinnung kommt aus der Fachdisziplin: Sie entwickelt gleichfalls, parallel zum Recht und als eigene Reaktion auf den Wandel ihrer Wissensbestände, Strukturen und Verfahren zur Standardisierung des Wissens, insbesondere der Verfahren der Wissenserzeugung. Dieser Prozess liegt der evidenzbasierten Medizin zugrunde, die im folgenden Kapitel analysiert wird.

271

Ladeur, Die Kommunikationsinfrastruktur der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 21 Rn. 50. 272 Ladeur, Die Kommunikationsinfrastruktur der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 21 Rn. 50.

3. Kapitel

Nutzenbewertung in der Medizin In diesem Kapitel steht die Frage im Vordergrund, welche Aussagen die Medizin über den Nutzen von Arzneimitteln treffen kann. In der medizinischen Wissenschaft können nur statistische Aussagen über die Arzneimittelwirkungen getroffen werden, die anhand von therapeutischen Zielen bewertet werden und dadurch Aussagen über die Wirksamkeit und die Risiken der Intervention ermöglichen. Die Abwägung von Wirksamkeit und Risiken vor dem Hintergrund des therapeutischen Ziels wird als Nutzen bezeichnet. Diese Bestimmung des Nutzens von Arzneimitteln erfolgt vor dem Hintergrund eines intradisziplinären Prozesses, der sich ohne Übertreibung als Selbsttransformation des medizinischen Denkens beschreiben lässt. Die Medizin der letzten drei Jahrzehnte hat eine grundlegende Neubewertung der Rolle von Erfahrungswissen vorgenommen. Sie hat sich selbst „szientifiziert“, indem sie ihre Prozesse der Wissensgenerierung und Wissensvalidierung auf statistische, studienbasierte Verfahren umgestellt hat. Diese Neuausrichtung wird unter dem Stichwort der evidenzbasierten Medizin diskutiert und hat als solche mittlerweile auch Eingang in die gesetzliche Terminologie des SGB V gefunden. Der Inhalt und die Bedeutung der evidenzbasierten Medizin werden im Abschnitt A dargestellt. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse widmet sich Abschnitt B dem Inhalt des medizinischen Nutzenbegriffs. Dabei wird aufgezeigt, wie statistische Methoden die Ergebnissicherheit einer Nutzenaussage über ein Arzneimittel bestimmen. Der Grund für die begrenzte Aussagekraft der statistischen Erkenntnisse über die Wirkungen von Arzneimitteln im menschlichen Körper liegt wesentlich in der multifaktoriellen Verursachung von Krankheits- und Gesundungsverläufen begründet. Die Medizin hat dabei mit einem notwendig unvollständigen Wissen von den Kausalverläufen im menschlichen Organismus zu kämpfen und muss auf dieser Grundlage Bewertungen und Entscheidungen treffen. Der Abschnitt C dieses Kapitels fasst zusammen, wie die Medizin mit diesen Limitierungen umgeht. Es zeigt sich, dass die medizinische Wissenschaft und Praxis Verfahren herausgebildet haben, um neue Informationen zu prüfen und gegebenenfalls in ihren Wissenskanon aufzunehmen. Diese Prozeduren sind wiederum überwiegend auf der Grundlage von Erfahrungen mit der Anwendung unterschiedlicher Methoden der Wissensgenerierung und durch Konsensfindungsprozesse entstanden. Insoweit kann von „Erfahrungswissen zweiter Ordnung“ gesprochen werden. Diese Limitierungen des medizinischen Wissens bilden die Grundlage für die Analyse der Rezeption der medizinischen Erkenntnisse in rechtlich normierten Entscheidungsprozessen, die den Gegenstand des 4. und 5. Kapitels bilden.

A. Von der Erfahrung zur Evidenz

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A. Von der Erfahrung zur Evidenz Der Begriff der „evidenzbasierten Medizin“ hat unterschiedliche Bedeutungsgehalte. Der ursprüngliche Inhalt besteht darin, dass die Behandlung von Patienten auf das bestmögliche Wissen über die diagnostizierte Krankheit und die verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten gestützt werden soll.1 Durch die Verwendung systematischer Recherchemethoden soll der aktuelle Stand der medizinischen Forschung ermittelt werden, damit der behandelnde Arzt sein Vorwissen und seine Erfahrung um die gefundenen Ergebnisse erweitern kann. Daneben wird unter evidenzbasierter Medizin in einer neueren Verwendungsweise des Begriffs die vom Behandlungsfall losgelöste Gewinnung von medizinischem Wissen mittels klinischer Versuche und der systematischen Auswertung von Studien verstanden.2 Von diesem insoweit engeren Begriffsverständnis setzen sich einige Stimmen in der medizinischen Methodendiskussion jedoch bewusst ab und betonen, anknüpfend an die ursprüngliche Definition von Sackett, die Bedeutung auch anderer Wissensquellen als klinische Studien für die medizinische Praxis.3 Diese Unterschiede in der Begriffsverwendung werden teilweise als unterschiedliche Perspektiven auf Grund von andersartigen Fragestellungen gedeutet: eine abstrakte, leitlinienorientierte Fragestellung gegenüber der Aufgabe, individuelle Behandlungsentscheidungen zu verbessern.4 Der folgende Abschnitt zeichnet die dieser Debatte zugrundeliegende Entwicklung der Methodik der Medizin nach und zeigt die Aussagekraft der Ergebnisse evidenzbasierter Medizin für die Nutzenbewertung von Arzneimitteln auf.

I. Medizin als Praxiswissenschaft Grundlegender Ausgangspunkt für das Verständnis der evidenzbasierten Medizin ist der Charakter der Medizin als Praxiswissenschaft.5 In ihrem Zentrum steht von alters her der Heilauftrag des Arztes. Diese Aufgabe findet im Hippokratischen 1

Sackett / Rosenberg / Gray / Haynes / Richardson, BMJ 312 (1996), 71; Sackett, Seminars in perinatology 21 (1997), 3 f.; Raspe, GesR 2011, 449 (454); Longmore / Wilkinson / Rajagopalan, Oxford Handbook of Clinical Medicine, 6. Aufl. 2004, S. 24; Siegrist, Medizinische Soziologie, 6. Aufl. 2005, S. 141; Puls, Die Bedeutung der Qualität medizinischer Leistungen, in: Gerber / Kropp (Hr.), Lehrbuch Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, 2007, S. 429 (431). 2 Vgl. Haynes / Devereaux / Guyatt, Evidence Based Medicine 2002, 36; in diese Richtung Raspe, GesR 2011, 449 (454) a. E. 3 Haynes / Devereaux / Guyatt, Evidence Based Medicine 2002, 36 (38); Buetow / Kenealy, Journal of Evaluation in Clinical Practice 6 (2001), 85 (90). 4 Eddy, Health Affairs 24 (2005), 9 (11 ff.). 5 Dazu s. Siegrist, Medizinische Soziologie, 6. Aufl. 2005, S. 7; Berger / Dahme, Methodische Grundlagen, in: Strauß / Berger / Troschke / Brähler (Hr.), Lehrbuch Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, 2004, S. 119 (121 ff.); Strech, ZEFQ 2010, 168 (169); Schölme-

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

Eid paradigmatisch ihren Ausdruck.6 Er gibt die Verpflichtung der Ärzte wieder, sich allein dem Nutzen ihrer Patienten zu widmen. Die Praktiker der Medizin, allen voran die Ärzte, sind die „Experten und Partner“, denen sich der kranke Mensch anvertraut.7 Daher steht die Frage im Mittelpunkt des ärztlichen Denkens, auf welche Weise dem einzelnen Patienten geholfen werden kann. Die längste Zeit der Medizingeschichte wurde diese Frage allein durch die praktische Erfahrung der Heilenden beantwortet. Bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts verstand sich die Medizin als „Technik“ oder „Kunst“.8 In der Folge wurde eine Annäherung an die Naturwissenschaft angestrebt, die sich primär in dem epistemologischen Selbstverständnis der Medizin niedergeschlagen hat.9 Damit bewegte sich die Medizin als Disziplin in den Bahnen des Zeitgeistes des späten 19. Jahrhunderts, der durch einen starken Glauben an die Kraft der Naturwissenschaft und des Fortschritts geprägt war.10 Es herrschte die Überzeugung vor, durch diese Neuausrichtung könne die Medizin zu einer „exakten Wissenschaft“ im Kanon der Naturwissenschaften werden und die erheblichen praktischen Probleme in der Patientenbehandlung nach und nach lösen.11 Man erhoffte sich dadurch genaues Wissen über Ursachen und Heilungsmöglichkeiten der Krankheiten. Tatsächlich führte dieser Elan der Verwissenschaftlichung zu einer Vernachlässigung der klinisch-praktischen Arbeit und zu einem erheblichen Renommeeverlust für die Ärzte, die keine Forschung betrieben.12 Fortschritte seien, so hieß das Credo, nur im Labor zu erzielen. Tatsächlich blieben die erhofften Fortschritte in weitem Umfang aus.13 Die entstandene Ausdifferenzierung der Medizin in die Rollen des medizinischen Forschers und des behandelnden Arztes blieb jedoch bestehen.14 Als Reaktion auf diese radikale Wende wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neues disziplinäres Selbstverständnis der Medizin formuliert. Die Reformer rückten von dem Ziel ab, dass die Medizin eine Naturwissenschaft zu sein habe, und definierten sie erstmals als „praktische Wissenschaft“ oder Handlungswissenschaft.15 Insbesondere betonten sie dabei das klassische Ziel der Medizin, einen rich, Med Klin 105 (2010), 219 (220 f.); Bauer, Internist 38 (1997), 299 (300); Wieland, Medizin als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem Menschenbild, in: Girke / Hoppe / Matthiesen / Willich (Hr.), Medizin als praktische Wissenschaft, 2006, S. 9 (14); Gerok, Grundlagen und Grenzen der wissenschaftlichen Medizin, in: Köbberling (Hr.), Die Wissenschaft in der Medizin, 1992, S. 27 (29). 6 Steinmann, Hippokrates, Der Eid des Arztes, 1996, S. 12 ff., insb. S. 15 Ziff. 7. 7 Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 6. 8 Wiesing, Zur Verantwortung des Arztes, 1995, S.  23; Porter, The Greatest Benefit to ­Mankind, 1999, S. 304 ff.; 525 ff.; Behrens, ZEFQ 104 (2010), 617 (618). 9 Wiesing, Zur Verantwortung des Arztes, 1995, S. 24 ff. 10 Vgl. Siegrist, Medizinische Soziologie, 6. Aufl. 2005, S. 226. 11 Wiesing, Wer heilt, hat Recht, 2004, S. 14. 12 Wiesing, Wer heilt, hat Recht, 2004, S. 15. 13 Wiesing, Wer heilt, hat Recht, 2004, S. 24; vgl. Bauer, Internist 38 (1997), 299 (302 ff.). 14 Siegrist, Medizinische Soziologie, 6. Aufl. 2005, S. 227. 15 Wiesing, Zur Verantwortung des Arztes, 1995, S. 25.

A. Von der Erfahrung zur Evidenz

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Nutzen für den Patienten zu erzielen.16 Der dadurch hervorgehobene Handlungsaspekt unterscheidet sich in wissenschaftstheoretischer Hinsicht erheblich von dem Wissen als Leitkategorie des naturwissenschaftlichen Paradigmas. Handeln beschränkt sich nicht auf einen hypothetischen Charakter, sondern gestaltet die Wirklichkeit in dem Sinne, dass es Konsequenzen für das Handlungsobjekt wie für das Handlungssubjekt bewirkt. Die Medizin kann somit zwar in ihrer naturwissenschaftlichen Komponente Hypothesen aufstellen und diese testen, doch sie kann dies nur um den Preis von Gesundheitsfolgen für den Patienten tun. Andernfalls muss sie sich auf Experimente an Modellen beschränken, ohne dadurch jedoch exakt wissen zu können, wie sich die modellhaft gefundenen Ergebnisse an einem Patienten auswirken würden. Sie ist somit bei jedem Patienten konzeptionell mit dem „Ernstfall“ konfrontiert, da durch das Handeln „Unwiderrufliches und Endgültiges gesetzt wird“ und, anders als im Experiment, kein Konzept des Lernens durch trial and error postuliert werden kann.17 Die Kluft zwischen der naturwissenschaftlichen Komponente der Medizin als Erbe insbesondere des späten 19. Jahrhunderts und der praktischen, handlungs­ orientierten Komponente als Vollzug des Heilauftrags für jeden einzelnen Patienten konnte in der Selbstbeschreibung als Handlungswissenschaft nicht befriedigend überbrückt werden. Sowohl die wissenschaftlich als auch die praktisch arbeitenden Ärzte erkannten, dass die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse angesichts der Komplexität ihres Gegenstandes niemals die Rationalitätshoffnungen würden einlösen können, die der medizinischen Forschung entgegengebracht wurden. Gleichzeitig blieb die ärztliche Praxis mit der Herausforderung konfrontiert, das wachsende naturwissenschaftliche Wissen in ihre Handlungsweise zu integrieren. Ohne Zweifel wurde die Therapie vieler Krankheiten durch die medizinische Forschung entscheidend vorangebracht und verbessert. Nur schienen die dahinterstehenden Logiken nach wie unversöhnlich.18 Daher beschränkte sich die Medizin nicht auf ein einzelnes naturwissenschaftliches Modell ihres Gegenstandes, sondern praktizierte eine Pluralität an Therapieansätzen und Menschenbildern, sofern infolgedessen Behandlungserfolge erzielt werden konnten.19

II. Die Kluft zwischen Wissen und Handeln Die mit dem Verständnis als Handlungswissenschaft einhergehende Zweckorientierung der Medizin hat zur Folge, dass medizinisches Handeln anhand von Erfolgen beurteilt werden kann. Der Erfolg liegt in der Heilung eines Kranken. Das naturwissenschaftliche Paradigma würde dagegen eine rationale Erklärung auf 16

Wiesing, Wer heilt, hat Recht, 2004, S. 20 f. Wieland, Medizin als praktische Wissenschaft – Die Frage nach ihrem Menschenbild, in: Girke / Hoppe / Matthiesen / Willich (Hr.), Medizin als praktische Wissenschaft, 2006, S. 9 (17). 18 Wiesing, Wer heilt, hat Recht, 2004, S. 35 f. 19 Wiesing, Wer heilt, hat Recht, 2004, S. 32; Bauer, Internist 38 (1997), 299 (300 ff.). 17

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

dem Boden eines Modells erfordern. Dies ist für die handlungswissenschaftliche Perspektive nicht erforderlich. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass sowohl die Begriffe der Heilung wie auch bereits der Krankheit stark normativ geprägt sind. Jede Profession und jede „Schule“ innerhalb des Bereichs der Heilkunde hat prinzipiell ein eigenes Vorverständnis und einen eigenen Begriff des Gesunden bzw. gesundheitlich Normalen.20 Die ärztliche Profession hat auf der Grundlage ihres Krankheitsmodells infolge ihrer Wendung zur Naturwissenschaft begonnen, durch Forschung gewonnenes Wissen für ihr praktisches Handeln nutzbar zu machen. Der Transfer von Forschungsergebnissen in die praktische Anwendung der Medizin blieb jedoch problembehaftet. Zum einen wurden viele überholte Behandlungspraktiken durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse verbessert oder aufgegeben. Zum anderen konnten jedoch die Erkenntnisse der Forschung nicht in allen Fällen zuverlässige Handlungsempfehlungen für die Behandlung von Krankheiten geben. Dies lag nicht primär an den begrenzten Kapazitäten der praktisch arbeitenden Ärzte zur Implementierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern vielmehr an den Grenzen der Erkenntnisfähigkeit der Wissenschaft.21 Forschende Mediziner müssen, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen, die extrem hohe Komplexität des menschlichen Organismus in einer Weise reduzieren, dass sie alle wesentlichen Kausalfaktoren in ihr Modell einschließen, ohne zu wissen, ob sie in ihrer Forschung bereits sämtliche wesentlichen Faktoren für den Verlauf einer Krankheit identifiziert haben. Viele Krankheiten können erst durch Durchbrüche im Verständnis der pathologischen Abläufe im menschlichen Körper hinreichend genau erklärt werden, beispielsweise durch die Entdeckung von genetischen und epigenetischen Einflussfaktoren, durch neue Verständnisse der Wirkungen von Botenstoffen im Körper, oder durch die Identifizierung von Umwelteinflüssen. Wie aber die Genforschung andererseits ebenfalls zeigt, folgt aus einem neuen Verständnis der Ätiologie einer Krankheit nicht notwendig eine verbesserte Heilungsmöglichkeit.22 Trotz der Fortschritte im wissenschaftlichen Verständnis von Krankheitsprozessen bleibt es auf der praktischen Seite der Medizin in weiten Bereichen bei einem erfahrungsbasierten Ansatz.23 Dies ist die zweite Aussage der Selbstbeschreibung der Medizin als Handlungswissenschaft. Ärzte benötigen neben der Kenntnis der

20

Überblicke bei Bauer, Internist 38 (1997), 299 (300 ff.); Siegrist, Medizinische Soziologie, 6. Aufl. 2005, S. 26 ff.; Schumacher / Brähler, Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit, in: Strauß / Berger / Troschke / Brähler (Hr.), Lehrbuch Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, 2004, S. 15 ff. 21 Malterud, Theoretical Medicine 16 (1995), 183 (185). 22 Vgl. Boyle / Li / Pritchard, Cell 169 (2017), 1177 S. 1177 ff. 23 Siegrist, Medizinische Soziologie, 6. Aufl. 2005, S. 238 f.; Donner-Banzhoff, Ärztliches Denken und Entscheiden, in: Kunz / Ollenschläger / Raspe / Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, 2. Aufl. 2007, S. 261 (262).

A. Von der Erfahrung zur Evidenz

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aktuellen wissenschaftlichen Modellierungen von Krankheitszuständen auch die Fähigkeit, therapeutische Mittel handwerklich korrekt anzuwenden, sowie die Befähigung zur Indikationsstellung. Mit dem Begriff der Indikation wird die Verbindung zwischen der Diagnose, der festgestellten Gesundheitsstörung und dem therapeutischen Mittel hergestellt.24 Die Indikation ist dabei stets auf den konkreten Patienten und seine spezifische Krankheitsausprägung, seine Präferenzen und die bei ihm bestehenden therapeutischen Möglichkeiten bezogen.25 Indikationen werden auch abstrakt bestimmt, beispielsweise als Anwendungsgebiete bei der Zulassung eines neuen Arzneimittels; allerdings erfordert dann die Anwendung eines solchen Präparats stets auch die Indikationsstellung für den einzelnen Patienten. Dafür muss der Arzt prüfen, ob der konkrete Patient bezüglich seiner Krankheit und den konkret gewählten Therapiezielen dem „Modellpatienten“, der der abstrakten Indikation zugrunde liegt, wesentlich gleicht. Dieser Erkenntnisprozess funktioniert auf der Grundlage von Erfahrungswissen. Trotz der Verwissenschaftlichung der Medizin verbleibt somit ein erheblicher Anteil an Erfahrungswissen, der ärztliche Entscheidungen determiniert.26 Dieses Erfahrungswissen wird durch die Sozialisierung des lernenden Arztes im Studium und besonders in der praktischen Ausbildung nach dem Studium auf dem Weg zur Facharztanerkennung erworben.27 Die Fähigkeiten, die es sich dabei anzueignen gilt, machen den Kern dessen aus, wodurch gemeinhin ein „guter“ Arzt gekennzeichnet ist. Dabei besteht jedoch die Gefahr, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum einen zu vernachlässigen oder zum anderen nicht zur Kenntnis zu nehmen und nicht in das eigene ärztliche Handeln zu integrieren. Insbesondere auf die Folge des naturwissenschaftlichen Paradigmas, ein mechanistisches Bild des Organismus und des Patienten zu entwickeln und daran die Therapie auszurichten, wird in der medizintheoretischen Literatur verstärkt hingewiesen.28 Andere Sichtweisen von Krankheiten werden schwerpunktmäßig nicht in der formalen Ausbildung gelehrt, sondern durch die Arbeit mit Patienten je nach Sozialisation und persönlicher Schwerpunktsetzung mal in stärkerem, mal in schwächerem Umfang erlernt.29

24

Raspe, GesR 2011, 449 (450); Gahl, DMW 130 (2005), 1155 (1156). Vgl. dazu Neitzke, Unterscheidung zwischen medizinischer und ärztlicher Indikation, in: Charbonnier / Dörner / Simon (Hr.), Medizinische Indikation und Patientenwille, 2008, S.  53 (56 ff.): die Berücksichtigung der individuellen Umstände des Patienten wird als „ärztliche Indikation“ von der abstrakten „medizinischen Indikation“ unterschieden. 26 Dörner, Der gute Arzt, 2. Aufl. 2003, S. 86 ff.; Uexküll / Wesiack, Theorie der Humanmedizin, 3. Aufl. 1998, S. 6 ff.; Wiesack, Die Medizin im Spannungsfeld von Pragmatismus, Ideologie und Wissenschaft, in: Pieringer / Ebner (Hr.), Zur Philosophie der Medizin, 2000, S. 205 (207). 27 Siegrist, Medizinische Soziologie, 6. Aufl. 2005, S. 238 f. 28 Wiesack, Die Medizin im Spannungsfeld von Pragmatismus, Ideologie und Wissenschaft, in: Pieringer / Ebner (Hr.), Zur Philosophie der Medizin, 2000, S. 205 (210); zusammenfassend Uexküll / Wesiack, Theorie der Humanmedizin, 3. Aufl. 1998, S. 441. 29 Wiesack, Die Medizin im Spannungsfeld von Pragmatismus, Ideologie und Wissenschaft, in: Pieringer / Ebner (Hr.), Zur Philosophie der Medizin, 2000, S. 205 (210 ff.). 25

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

Darin liegt ein Charakteristikum der Medizin als erfahrungsbasierte Disziplin, als Heilkunde bzw. Heilkunst.30

III. Von der Erfahrung zur Evidenz: evidenzbasierte Medizin Als Reaktion auf diese beharrliche Kluft zwischen Wissen und Handeln hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das bereits skizzierte Programm der evidenzbasierten Medizin entwickelt. Besonders seit den 80er Jahren hat dieser Ansatz eine beachtliche Entwicklung erfahren. Das Ziel der evidenzbasierten Medizin haben in bemerkenswerter Klarheit David Sackett und Kollegen 1996 herausgearbeitet: „Evidence based medicine is the conscientious, explicit, and judicious use of current best evidence in making decisions about the care of individual patients.“31 Nach dieser Begriffsdefinition ist evidenzbasierte Medizin eine Methode, um die unsicheren Folgen des ärztlichen Handelns kontrolliert zu reflektieren und dadurch die Therapieentscheidungen zu verbessern.32 Die evidenzbasierte Medizin trägt der immanenten Unsicherheit der Medizin Rechnung, die aus der Komplexität ihres Gegenstandes im Zusammenspiel mit der Zweckorientierung, therapeutische Erfolge zu erzielen, erwächst. Dies geschieht durch einen strukturierten Umgang mit sämtlichem verfügbaren Wissen. In diesem Verfahren wird systematisch nach „Evidenzen“ gesucht. Der Begriff der Evidenz ist eine sprachlich ungelenke Übertragung des englischen Terminus der „evidence“ ins Deutsche, wodurch der Bedeutungsgehalt verschoben worden ist. „Evidenz“ ist daher, getreu der Bedeutung des englischen Begriffs, als Nachweis oder Beweismittel zu lesen.33 Somit handelt es sich um eine nachweisbasierte Medizin. Dies bedeutet, dass jede Therapieentscheidung auf der Grundlage medizinischer „Beweise“ kritisch hinterfragt werden soll. Eine besondere Bedeutung kommt daher dem Umgang mit den Quellen medizinischen Wissens zu. Aus medizintheoretischer Sicht werden dabei zwei grundlegende „Klüfte“ unterschieden.34 Die erste Kluft liegt in der schnellen und umfangreichen Produktion klinisch relevanten Wissens durch die medizinische Forschung und die Publikationstätigkeit wissenschaftlich arbeitender Ärzte. Die Folge ist eine Kluft zwischen theoretisch verfügbarem und praktisch verwendbarem Wissen, die 30 Zur Kritik an diesem Verständnis als „Mystik und Magie“ s. Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 273 ff. 31 Sackett / Rosenberg / Gray / Haynes / Richardson, BMJ 312 (1996), 71. 32 Raspe, Theorie, Geschichte und Ethik der Evidenzbasierten Medizin (EbM), in: Kunz / Ollenschläger / Raspe / Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, 2. Aufl. 2007, Kap. 2 S. 15 (18). 33 Kühnlein / Forster, Welche Evidenz braucht der Arzt?, in: Kunz / Ollenschläger / Raspe / Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, 2. Aufl. 2007, S. 39 f.; Zielinski, Evidence-based Medicine: Einsatzmöglichkeiten in der stationären Versorgung, 2003, S. 33. 34 Paul, Medizintheorie, in: Schulz / Steigleder / Fangerau / Paul (Hr.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, 2006, S. 59 (62 f.); Trinder, Introduction: the Context of Evidence-Based Practice, in: Trinder / Reynolds (Hr.), Evidence-Based Practice, 2000, S. 1 (3 ff.).

A. Von der Erfahrung zur Evidenz

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auch als „Wissensdilemma“ bezeichnet wird.35 Hinzu tritt für die klinische Entscheidungsfindung die Schwierigkeit der Übertragbarkeit von Forschungsergebnissen auf den Behandlungsfall, was sich als Kluft zwischen Forschung und Therapie beschreiben lässt. Dies wird auf unzureichendes Wissen über die Übertragbarkeit von Forschungsergebnissen auf die Patientenbehandlung zurückgeführt.36 Die evidenzbasierte Medizin reagiert auf diese Defizite in der Verarbeitung des verfügbaren Wissens, indem sie zuallererst die verfügbaren Wissensquellen in einem strukturierten Prozess sichtet und nach ihrer jeweiligen Relevanz für den Behandlungsprozess sortiert.37 Dadurch reduziert sie die Komplexität des Wissensbestandes für die Anwender des Wissens.38 Dies geschieht insbesondere über Aufbereitungen von Wissensquellen durch Review-Artikel, durch Übersichtsarbeiten eigens dafür entstandener Organisationen wie der Cochrane Collaboration oder auch durch evidenzbasierte Leitlinien. Des Weiteren gibt die evidenzbasierte Medizin Regeln vor, mit deren Hilfe die Aussagekraft der identifizierten Wissensquellen für die Behandlungsentscheidung eingeschätzt werden kann. Dies ist ein im Detail komplexer Prozess, dessen Details im Abschnitt B dieses Kapitels dargestellt werden. Dadurch wird auf die Kluft zwischen Forschungswissen und klinischer Relevanz reagiert. Aus der Notwendigkeit der medizinischen Forschung, Modelle für die Beschreibung ihres Gegenstandes zugrunde zu legen, folgt die Unsicherheit, ob die darauf aufbauenden Erkenntnisse angesichts der notwendigen Limitierungen von Modellierungen zu tatsächlich korrekten Aussagen kommen. Zur Auflösung dieser Unsicherheit verfolgt die evidenzbasierte Medizin ein gestuftes Modell der Erkenntnissicherheit bezüglich des Zusammenhangs zwischen einem beobachteten Effekt und einer medizinischen Ursache. Dieses Resultat wissenschaftlicher Methodendebatten geht auf eine lange Geschichte der medizinischen Versuche zurück.39 Es wird davon ausgegangen, dass kontrollierte klinische Studien, die bestimmte Qualitätsanforderungen erfüllen, einen höheren Aussagewert besitzen als nicht kontrollierte klinische Studien, Fallbeobachtungen oder pathophysiologische Überlegungen durch Experten. Dahinter steht das

35 Paul, Medizintheorie, in: Schulz / Steigleder / Fangerau / Paul (Hr.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, 2006, S. 59 (62). 36 Paul, Medizintheorie, in: Schulz / Steigleder / Fangerau / Paul (Hr.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, 2006, S. 59 (63). 37 Reynolds, The Anatomy of Evidence-Based Practice: Principles and Methods, in: Trinder / Reynolds (Hr.), Evidence-Based Practice, 2000, S. 17 (19); Straus / McAlister, CMAJ 163 (2000), 837 ff.; Sönnichsen, Kritische Bewertung von Studien zu Prävalenz und Symptomen, in: Kunz / Ollenschläger / Raspe / Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, 2. Aufl. 2007, S. 93 (94). 38 Reynolds, The Anatomy of Evidence-Based Practice: Principles and Methods, in: Trinder / Reynolds (Hr.), Evidence-Based Practice, 2000, S. 17 (19). 39 Überblick bei Raspe, GesR 2011, 449 (451).

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

natur­wissenschaftliche Bild von der Medizin, die durch möglichst exakte Versuche Gewissheit bezüglich der Kausalverläufe im menschlichen Körper erlangen kann. Die unterschiedlichen Erkenntnisquellen, die mittels der evidenzbasierten Medizin methodisch verarbeitet werden, werden nach unterschiedlichen Schemata gewürdigt. Einzelheiten werden in Abschnitt C dargestellt. An dieser Stelle lässt sich jedoch festhalten, dass in der medizinischen Diskussion weitgehend konsentiert ist, dass die Beurteilung der Qualität einer Wissensquelle kontextabhängig ist.40 Ärzte brauchen für Behandlungsentscheidungen Informationen, die sie für ihr jeweiliges Therapieziel nutzen können.41 Sollen auf der Grundlage der Daten hingegen keine einzelfallbezogenen Therapieentscheidungen getroffen werden, sondern gruppen- oder bevölkerungsbezogene medizinische Entscheidungen, können andere Kriterien für die Beurteilung der Aussagekraft einer Studie im Vordergrund stehen, beispielsweise die Kosteneffektivität.42 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die evidenzbasierte Medizin über ihren ursprünglichen Zweck, die Therapieentscheidung des einzelnen Arztes zu verbessern, hinaus wegen ihrer Eignung zum Umgang mit den Dilemmata des medizinischen Wissens für alle beteiligten Professionen von großer praktischer Relevanz ist. Dies hat zugleich zur Folge, dass es unterschiedliche Anwendungskontexte der evidenzbasierten Medizin gibt, weshalb eine Übertragung bestimmter Methodiken von dem einen Kontext in einen anderen nicht automatisch und ohne Reflexion erfolgen darf.

B. Inhalt des Nutzenbegriffs Bei der evidenzbasierten Medizin handelt es sich um ein Instrument beziehungsweise eine Methode innerhalb der medizinischen Wissenschaft und Praxis, um Wissensquellen daraufhin zu überprüfen, mit welcher Gewissheit sie eine zuverlässige Aussage über einen medizinischen Sachverhalt treffen. Im Folgenden wird daher dargestellt, auf welche Weise die evidenzbasierte Medizin zu derartigen Aussagen gelangt. Dabei wird ein Hauptaugenmerk auf die Methodik der Arzneimittelstudien gelegt. Die für die Arzneimittelbeurteilung wenig relevanten Erkenntnisquellen jenseits von Studien werden nur kursorisch gestreift. Die Darstellung dieser komplexen medizinischen Sachverhalte erfolgt auf der Basis gesicherter Aussagen aus der medizinwissenschaftlichen Literatur in mehreren Schritten. 40

Zusammenfassend Wegschneider, Pluralismus in der Evaluation, in: Kunz / Ollenschläger /  Raspe / Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, 2007, S. 75 ff.. 41 Dazu speziell Kühnlein / Forster, Welche Evidenz braucht der Arzt?, in: Kunz / Ollenschläger /  Raspe / Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, 2. Aufl. 2007, S. 39 (41 ff.). 42 Dazu Busse / Gibis, Welche Evidenz braucht das System?, in: Kunz / Ollenschläger / Raspe /  Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, 2. Aufl. 2007, S. 61 ff., insb. S. 69 ff.

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

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I. Verwendungsweisen des Nutzenbegriffs Der Begriff des Nutzens wird in der Medizin nicht mit einem einheitlichen Bedeutungsgehalt verwendet. Vielmehr lassen sich unterschiedliche Verwendungsweisen unterscheiden. Eine grundlegende Unterscheidung besteht darin, ob sich der Nutzenbegriff lediglich auf therapeutisch erwünschte Effekte bezieht, dem dann ein Gegenbegriff gegenübergestellt wird, der die therapeutisch unerwünschten oder schädlichen Wirkungen eines Arzneimittels bezeichnet. Dafür wird überwiegend der Begriff des Risikos verwendet. Alternativ kann der Nutzenbegriff auch das Ergebnis der Bilanzierung von erwünschten mit unerwünschten Wirkungen einer Therapie bezeichnen. Die Begriffsverwendung, die den Nutzen lediglich auf therapeutisch erwünschte Effekte bezieht,43 lässt sich ihrerseits weiter unterteilen. Innerhalb dieser Gruppe wird vor allem nach dem Bezugspunkt des Nutzens unterschieden. Ein Nutzen kann zum einen vorliegen, wenn eine medizinische Maßnahme generell geeignet ist, zu einem Behandlungsvorteil zu führen. Dies wäre etwa der Fall, wenn aus einer objektiven Perspektive allgemein als vorteilhaft bewertete Effekte erzielt werden können. Dem steht ein Nutzenbegriff gegenüber, nach dem ein Nutzen nur dann vorliegt, wenn der jeweilige konkrete Patient diese Maßnahme einer anderen vorziehen würde. Aus Patientensicht wird hierbei das Ausmaß der medizinisch erwünschten Effekte auf der Ebene eben dieses individuellen Patienten von diesem bewertet. Dabei kann diese Bewertung zugleich noch mit gesundheitsökonomischen Effekten zu einem einheitlichen Maß, der „utility“ integriert werden.44 Auf dieser Ebene wird somit danach unterschieden, in welchem Umfang Patientenpräferenzen in die Nutzenbestimmung einzubeziehen sind. Dadurch wird die überkommene Gliederung der evidenzbasierten Medizin in wissenschaftliches Wissen, klinisch-therapeutisches (Experten-) Wissen und Patientenpräferenzen als gleichrangige Komponenten der evidenzbasierten Entscheidungsfindung reflektiert.45 Der Nutzenbegriff im engeren Sinne wird dabei als „benefit“ bezeichnet.46 Dabei wird jedoch nicht negiert, dass auch unerwünschte Wirkungen des zu beurteilenden medizinischen Verfahrens einzubeziehen sind. Solche Effekte werden unter dem Begriff des Risikos oder des Schadens registriert, allerdings dem Nutzen erst in der abschließenden Nutzenbewertung als Abwägungsposten gegenübergestellt. Eine andere Verwendungsweise des Nutzenbegriffs kann das Schadenspotenzial einer medizinischen Maßnahme bereits direkt in den Nutzen integrieren. Die positiv bewerteten therapeutischen Effekte werden dementsprechend selbst nicht

43

Strech, ZaeFQ 2007, 473(476); Bertelsmann / Roters / Bronner, ZaeFQ 2007, 455 (460). Vgl. Höer, DÄBl 2010, A 1150. 45 Haynes / Sackett / Gray / Cook / Guyatt, Evidence-Based Medicine 1 (1996), 196. 46 Koller / Ohmann / Lorenz, ZEFQ 102 (2008), 379 ff. 44

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

als Nutzen bezeichnet, sondern als Wirksamkeit, und direkt den Risiken oder dem Schaden gegenübergestellt. Nur wenn die erwünschten Effekte die unerwünschten überwiegen, wird gesagt, die Maßnahme habe einen Nutzen. Nur dann könne davon die Rede sein, dass der Arzt und der Patient diese Maßnahme einer anderen wegen ihres Nutzens vorziehen würden.47 In inhaltlicher Hinsicht ist festzustellen, dass die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Nutzenbegriffs nur selten nennenswerte Unterschiede aufweisen. Bedeutsam sind bei der Analyse des Nutzenbegriffs die Meinungsverschieden­ heiten bezüglich der Inkorporation von Patientenpräferenzen sowie der Differenzierung zwischen generalisierter und individuell-ärztlicher Perspektive.

II. Wirksamkeit und Risiko Der erste Schritt in der Analyse des Nutzenbegriffs betrifft die Untersuchung der therapeutisch erwünschten Komponente, die je nach Begrifflichkeit ihrerseits als Nutzen oder – als Komponente des Nutzenurteils – als Wirksamkeit bezeichnet wird. Der spiegelbildliche Begriff, der aus medizinischer Sicht unerwünschte Effekte eines Arzneimittels bezeichnet, ist der Risikobegriff. 1. Wirksamkeit Der Begriff der Wirksamkeit erfasst im deutschen Sprachraum zwei verschiedene Konzepte, die in der angloamerikanischen Diskussion strikt getrennt werden. Dort wird zwischen „efficacy“ und „effectiveness“ unterschieden. Der Begriff der Efficacy meint die Fähigkeit einer Behandlungsmaßnahme, einen therapeutischen Vorteil zu erzielen, wenn sie unter idealen Bedingungen eingesetzt wird.48 Um eine valide Aussage zur Efficacy eines Arzneimittels treffen zu können, müssen die Rahmenbedingungen der Arzneimittelanwendung möglichst genau kontrolliert werden.49 Erst dadurch können andere Einflussfaktoren auf das beobachtete Ergebnis im Rahmen der methodischen Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Dies ist jedenfalls in der medizinischen Methodendiskussion die Zielsetzung hinter dem Konzept der Efficacy. Der Begriff lässt sich daher mit „Wirksamkeit unter Idealbedingungen“ übersetzen.

47

Höer, DÄBl 2010, A 1150. So Cartwright, What Is This Thing Called „Efficacy“?, in: Mantzavinos (Hr.), Philosophy of the Social Sciences, 2009, S. 185 (187 f.); ebenso Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 351; Flay et al., Prevention Science 2005, 151 (153); Witt, Forsch Komplementmed 2009, 292. 49 Flay et al., Prevention Science 2005, 151 (153). 48

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

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Unter „effectiveness“ wird eine erwünschte Wirkung verstanden, die tatsächlich eintritt, wenn die Behandlungsmaßnahme in der medizinischen Praxis eingesetzt wird.50 Der Begriff der Effectiveness stellt somit auf die Wirksamkeit unter realen Behandlungsbedingungen ab und kann dementsprechend als „Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen“ übersetzt werden.51 Wie weit diese realen Rahmenbedingungen der Arzneimittelanwendung zu ziehen sind, ist Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Die damit zusammenhängenden Fragen werden unter dem Begriff der externen Validität diskutiert.52 Von der Wirksamkeit ist wiederum die biologische Wirkung eines Arzneimittels zu unterscheiden. Beide soeben differenzierten Bedeutungsgehalte des Begriffs der Wirksamkeit legen einen erwünschten therapeutischen Effekt, mithin einen Vorteil für den Patienten zugrunde. Die biologische Wirkung ist dabei grundlegend als eine Veränderung in einem biologischen System durch das Arzneimittel definiert.53 Eine solche Wirkung muss nicht therapeutisch erwünscht oder auch nur therapeutisch wirksam sein. Insbesondere sind schädliche Effekte oder Nebenwirkungen eines Arzneimittels auch Wirkungen. Die Aussage, ob ein Arzneimittel „wirkt“, scheint somit zunächst ohne weiteres auf Grund der bekannten oder ermittelten Tatsachen möglich zu sein. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um ein Werturteil über das Arzneimittel. Ohne im Detail die philosophische Diskussion über die Zuschreibung einer Kausalität zu einem Arzneimittel aufgreifen zu können,54 sei festgehalten, dass die Zuschreibung von Kausalität – jedenfalls im vorliegenden Kontext – eine normative Setzung ist, die nicht notwendigerweise die naturwissenschaftliche Realität korrekt abbildet. Dies wird vornehmlich darauf zurückgeführt, dass der Stellenwert von Randbedingungen der Anwendung eines Arzneimittels innerhalb einer Studie sowie die Bedeutung der vielfältigen, möglicherweise dem Untersucher auch gar nicht bekannten Unterschiede zwischen den Probanden in der Studie und der Zielpopulation in der Breitenanwendung auf der Grundlage allein der kausalitätsbehauptenden Studie nicht abschätzbar seien.55 Der Wirksamkeitsbegriff ist zudem auf einen bestimmten, vom Beobachter gesetzten Zielzustand bezogen. Dies folgt aus der Struktur der Zuschreibung von Kausalität. Die Aussage, ein Ereignis sei ursächlich für ein anderes Ereignis, kann

50 Cartwright, What Is This Thing Called „Efficacy“?, in: Mantzavinos (Hr.), Philosophy of the Social Sciences, 2009, S. 185 (188). 51 S. dazu Flay et al., Prevention Science 2005, 151 (153); Eichler / Pignatti / Flamion / Leufkens / Breckenridge, Nature Reviews Drug Discovery 7 (2008), 818. 52 S. u. Kap. 3 B. III. 3. 53 Mutschler / Geisslinger / Kroemer / Ruth / Schäfer-Korting, Arzneimittelwirkungen, 9. Aufl. 2008, S. 3. 54 Einen kurzen Überblick bietet Cartwright, What Is This Thing Called „Efficacy“?, in: Mantzavinos (Hr.), Philosophy of the Social Sciences, 2009, S. 185 (192 ff.). 55 Raspe, GesR 2012, 584 (590 f.).

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

nur erfolgen, wenn dieses zweite Ereignis hinreichend klar definiert ist. Im Falle von Arzneimittelwirkungen bedeutet dies, dass der Beobachter definieren muss, welche Effekte er von dem Arzneimittel erwartet. Die in diesem Sinne definierten Zielpunkte der Beobachtung, deren Auftreten statistisch erfasst wird, werden als Endpunkte einer klinischen Studie bezeichnet. In der Medizin wird zudem für die Erstellung klinischer Studien die Forderung vertreten, dass es zwischen der zu prüfenden Intervention – beispielsweise einem Arzneimittel – und dem zu beobachtenden Effekt, also dem gesetzten Endpunkt, einen „biologisch plausiblen“ Mechanismus geben müsse.56 Der Grund für diese Forderung lässt sich darauf zurückführen, dass andernfalls die Unterscheidung zwischen einem Kausalzusammenhang und einer bloßen Korrelation schwierig zu ziehen sein könnte. Angesichts des Umstands, dass Arzneimittel vielfach lediglich ein Faktor unter vielen sind, die einen beobachteten Endpunkt hervorrufen können, die Zuschreibung von Kausalität also statistisch erfolgt, bedarf es weiterer Kontrollüberlegungen, um irrtümlich gefundene Kausalzusammenhänge auszuscheiden. Um daher in dieser Vielzahl an „Kandidaten“ für eine Ursache-Wirkungs-Reaktion einen oder gar den Kausalfaktor ausfindig zu machen, wird auf eine Alltagserfahrung zur Kausalität zurückgegriffen: Kausalität erfordert im klassischen Verständnis stets ein zeitlich vorausgehendes und zur Bewirkung des Effekts geeignetes Moment als Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung, um die Kausalität von der Korrelation abzugrenzen.57 Daher wird das Urteil, eine klinische Studie belege eine Kausalität der Intervention für die Endpunktbeobachtung, als „professionelles Urteil“ bezeichnet und nicht gleichsam als intersubjektiv feststehende Tatsache.58 Diese Vorgehensweise, die am bisher verfügbaren Erfahrungswissen ansetzt, birgt jedoch gleichzeitig die Gefahr, bislang unbekannte oder unerforschte Kausalzusammenhänge vorschnell zu übersehen. 2. Risiko Als Risiko wird im medizinischen Sprachgebrauch die Eintrittswahrscheinlichkeit einer unerwünschten Wirkung bezeichnet.59 In dieser Begriffsverwendung bilden Nutzen und Risiko ein Begriffspaar. Wird dagegen mit Nutzen nicht die Summe

56

Ashcroft, J Med Ethics 30 (2004), 131 (133). Bunge, Kausalität, 1987, S. 52. 58 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 9 ff., insb. S 12; s. a. Lucas / McMichael, Bulletin of the World Health Organization 83 (2005), 792 f. 59 Chou et al., Journal of Clinical Epidemiology 63 (2010), 502 (504); Ioannidis et al., Ann Intern Med 141 (2004), 781 (782); Perleth / Matthias / Nocon, in: Perleth et al. (Hr.), Health Technology Assessment, 2. Aufl. 2014, S. 219. Zur Diskussion um den Risikobegriff, auch interdisziplinär, s. Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 284 ff., und Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 52 ff., jeweils ausführlich m. w. N. 57

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

89

der positiven Effekte eines Arzneimittels bezeichnet, sondern ein Abwägungsergebnis der positiven mit den negativen Effekten, werden die negativen Effekte auch als Schaden bezeichnet und der Wirksamkeit gegenübergestellt.60 Im medizinischen Kontext werden Schäden ähnlich wie die Wirksamkeit in Hinblick auf therapeutisch relevante Effekte bemessen.61 Es geht also um nachteilige Veränderungen des Gesundheitszustands, die bei Patienten mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auftreten können.62 Die Charakterisierung auch des Risikobegriffs als (bloße) Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines negativ bewerteten, also eines schädigenden Ereignisses führt zu besonderen Wertungsschwierigkeiten in Unsicherheitssituationen. Eine Un­sicherheitssituation besteht dabei zumeist in zweifacher Hinsicht: einerseits ist unsicher, wann sich bekannte Risiken realisieren, und andererseits ist unsicher, ob bislang noch unbekannte Risiken auftreten können. Die erste Unsicherheit erfordert eine Bewertung, welche Eintrittswahrscheinlichkeit angesichts der Schwere der Schäden vertretbar ist. Diese Bewertung hängt zum einen von den Zielen dieser Bewertung ab, zum anderen auch von dem spiegelbildlich zu erwartenden Nutzen. Daher handelt es sich in beiderlei Hinsicht um eine abwägende Bewertungsentscheidung. Die zweite Unsicherheit betrifft dagegen die Eignung der Wissensquellen für den Nachweis eines Risikos. Bei ihr ist jedoch, außer in Fällen des Verdachts in Hinblick auf bestimmte Schäden, keine Abwägung zwischen dem Ausmaß der Nachteile und dem Nutzen möglich. Im Rahmen der Risikobeurteilung muss daher im Wege einer Prognoseentscheidung abgewogen werden, welches Maß an Gewissheit oder auch Sicherheit über den Zusammenhang von Intervention und Schaden, über das mögliche Ausmaß der Schäden und über die Häufigkeit von deren Auftreten erforderlich ist, um zunächst das Ausmaß des Risikos zu bestimmen. Die genaue Auflösung dieser Frage kann sich je nach Regelungsmaterie unterschiedlich gestalten. Eine allen Regelungsbereichen gemeinsame Überlegung besteht jedoch darin, nach Möglichkeit schädliche Wirkungen zu vermeiden, das Risiko des Schadenseintritts also zu minimieren.63

60 Sawicki, DMW 131 (2006), S16; dass diese Gleichsetzung von Risiko und Schaden möglicherweise zu kurz greift und sachliche Unterschiede verschleiert, zeigt Fries, Nutzen / RisikoAbwägung, 2009, S. 285 f., 292 ff., auf. 61 Chou et al., Journal of Clinical Epidemiology 63 (2010), 502 (504); Hart, in: Hart / Hilken /  Merkel / Woggan, Das Recht des Arzneimittelmarktes, 1988, S. 84 m. w. N. 62 Dazu m. w. N. exemplarisch Heitz, Arzneimittelsicherheit zwischen Zulassungsrecht und Haftungsrecht, 2005, S. 242. 63 Vgl. exemplarisch Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 51 f.; Scherzberg, ZUR 2010, 303 (305 ff.); Reese, ZUR 2010, 339 (341 ff.); die Diskussion ist über derartige Schematisierungen mittlerweile hinaus, s. die soeben genannten Autoren und ferner Wahl / Appel, Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Wahl (Hr.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 (25 ff.).

90

3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

Aus dem Charakter der Risikokomponente als Minimierungsprinzip folgt für sich genommen kein anderer Maßstab als für den Nutzen, um jeweils vom Vorliegen des Merkmals zu sprechen: Ob und in welchem Ausmaß eine Intervention ein Risiko birgt, also schädliche Wirkungen herbeiführen kann, unterliegt ebenso der Unsicherheit wie die Herbeiführung erwünschter Effekte. Somit würde naheliegen, dass auch dieselben Anforderungen an den Kausalitätsnachweis zu stellen sind. 3. Verhältnis von Nutzen und Risiko Das Risiko ist nach diesem Konzept eine Komponente der Nutzenbewertung. Ihm stehen die positiven Effekte, hier: die Wirksamkeit, gegenüber. Die Optimierung dieser Abwägung kann grundsätzlich in zwei Weisen erfolgen: zum einen kann der Nutzen optimiert werden, indem das Verhältnis der Wirksamkeit zu den Risiken maximiert wird, zum anderen kann das Optimum aber auch erreicht sein, wenn die Risiken minimal sind.64 Es handelt sich dabei um verschiedene Bewertungsansätze hinsichtlich des Risikos. Die letztgenannte Variante, eine Minimierung des Risikos, entspricht dem konventionellen Verständnis des Vorsorgeprinzips. Der Preis für diese Lösung des Optimierungsproblems ist jedoch unter Umständen der Verzicht auf wirksame Leistungen. Ist die Minimierung des Risikos also notwendig mit einer Verminderung des Nutzens verknüpft, so ist eine differenzierende Abwägung zu leisten. Die Maßstäbe können sich aus verschiedenen Quellen ergeben: vorrangig scheinen medizinische Entscheidungen zu sein, doch es müssen daneben gesellschaftliche und allgemeinethische Wertungen berücksichtigt werden, die nicht per se nachrangig zu medizinischen Wertungen sind. Es zeigt sich, dass sowohl Risikominimierung wie auch Nutzenmaximierung Entscheidungsprinzipien sein können, deren optimaler Ausgleich im Einzelfall zu leisten ist. 4. Grundanforderungen an den Abwägungsprozess Auf Grund der angedeuteten Komplexität des Nutzen- und Risikobegriffs sowie der starken Prägung durch die konkrete Abwägungssituation und insbesondere ihren Kontext, also die mit der Abwägung verbundenen Ziele, kann im Folgenden lediglich ein allgemeiner Überblick über die Grundstrukturen der Abwägung gegeben werden.65 Im gesundheitsrechtlichen Schrifttum wird zwischen zwei verschiedenen Arten der Nutzen-Risiko-Abwägung unterschieden.66 Terminologisch wird dabei der

64

Vgl. Hart, MedR 2004, 469 (479) m. w. N. Ausführlich Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 353 ff.; Heitz, Arzneimittelsicherheit zwischen Zulassungsrecht und Haftungsrecht, 2005, S. 211 ff., 234 ff. 66 S. Hart, Bundesgesundheitsblatt 48 (2005), 204 (206 ff.). 65

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

91

Nutzen in aller Regel mit den positiven Effekten der Intervention gleichgesetzt, wofür im Rahmen dieser Arbeit bisher der Terminus Wirksamkeit verwendet worden ist. Die erste Art der Nutzen-Risiko-Abwägung wird als „absolut“ bezeichnet, soweit sie den Nutzen und die Risiken, welche identifiziert worden sind, lediglich zuein­ ander und zur Zielgröße, also der Indikation, in Bezug setzt. Es werden der Nutzen, also die zu erwartenden positiven Effekte im Vergleich zur Situation ohne Intervention, sowie die Risiken, also die zu erwartenden negativen Effekte im Vergleich zur Situation ohne Intervention, miteinander abgewogen, wobei die Indikation die Perspektive bietet, welche Risiken gegenüber welchem Nutzen angemessen oder noch zumutbar sein sollen.67 Die zweite Art der Nutzen-Risiko-Abwägung bezieht Behandlungsalternativen zur geprüften Intervention ein, nicht nur die „Null-Alternative“. Sie ist vergleichend und daher relativ. Dies ist eine Erweiterung im Rahmen des Vertretbarkeitsurteils: Es kommt nicht mehr allein darauf an, ob die konkrete Wirksamkeit die konkreten Risiken überwiegen, sondern die Perspektive wird um den bereits erreichten Stand eines günstigen, weil zuvor als günstig akzeptierten Nutzen-Risiko-Verhältnisses erweitert, an welchem sich die neue, nunmehr zu prüfende Intervention messen lassen muss. Dadurch wird der technische bzw. medizinische Fortschritt in der Abwägung berücksichtigt, indem sich jeweils das Maß des Vertretbaren am bereits erreichten Stand zu orientieren hat. Diese Betrachtungsweise trägt auch dem Prinzip der Nutzenmaximierung und der Risikominimierung Rechnung, indem hinter einen bereits erreichten Stand des jeweils optimalen Ausgleichs nicht zurückgefallen werden soll. Diese Art der Nutzen-Risiko-Bewertung wird insbesondere für das Arzneimittelzulassungsrecht stark befürwortet.68 Die Abwägungsentscheidung, welches Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko angemessen bzw. vertretbar sein soll, wird dadurch erschwert, dass die jeweils zu erwartenden Effekte regelmäßig nicht direkt vergleichbar sind. Eine therapeutische Intervention führt nicht regelhaft neben einem bestimmten Heilerfolg einen spiegelbildlichen Schadenseintritt herbei, sondern kann Auswirkungen auf gänzlich andere Organsysteme, Körperzustände, aber auch die Umwelt haben. Dabei sind die Schäden bzw. unerwünschten Effekte zumeist von unterschiedlich großem Gewicht in Hinblick auf das Zielgut, die Gesundheit: Juckreiz nach Einnahme eines Arzneimittels ist beispielsweise in Hinblick auf die Schadensschwere leichter zu gewichten als schwere Hautreaktionen, welche wiederum anders zu gewichten sein könnten als Magenschädigungen oder Gewichtszunahme. Diese gängigen Beispiele von unerwünschten Arzneimittelwirkungen zeigen, dass eine einzelfallorientierte Abwägung mit schwer objektivierbaren oder generalisierbaren Entscheidungen zu

67

Ausführlich dazu Hart, Bundesgesundheitsblatt 48 (2005), 204 (207). S. u. Kap. 4 C. I. 4.

68

92

3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

leisten ist.69 Hinzu kommt, dass Risiken, aber auch Schäden psychologisch teilweise nach anderen Prinzipien gewichtet werden als positive Effekte.70

III. Vom Experiment zum RCT In diesem Geflecht an anderen möglichen Kausalfaktoren für die am Ende beobachtete Änderung des Gesundheitszustandes ist es ohne weitergehende Methodik unmöglich, das Resultat dem Arzneimittel zuzuschreiben. Unmöglich heißt hier, dass es nicht überzeugend wäre, dies allein anhand der Anschauung oder einer zeitlichen Koinzidenz zu tun, weil die Zweifel über die Effekte anderer möglicher Faktoren zu groß wären. Eine Technik, diese immanente Unsicherheit zu reduzieren, ist das Experiment. Dieser Ansatz, der auf den Wandel der Medizin im 19. Jahrhundert von der Kunst zur Naturwissenschaft zurückzuführen ist, soll dazu dienen, die soeben beschriebene Unsicherheit über die Bedeutung weiterer externer oder (patienten-) interner Einflussfaktoren zu reduzieren. Der einfachste Fall eines Experiments ist die Wiederholung der Arzneimittelgabe – sei es am selben Patienten, sei es an anderen, aber vergleichbaren Patienten. Hier zeigt sich bereits eine Schwierigkeit klinischer Versuche: Mangelt es an Patienten mit derselben Krankheit, wie es beispielsweise bei seltenen Erkrankungen der Fall ist, kann eine systematische Erprobung, ob sich der Heilerfolg reproduzieren lässt, nicht oder kaum durchführbar sein.71 Diese grundlegende Form des Experiments liegt allen gängigen Wissensquellen der evidenzbasierten Medizin zugrunde. Es handelt sich dabei stets um Beobachtungen oder Versuche, die sich hinsichtlich der wachsenden Fallzahl und einer verfeinerten Methodik unterscheiden. Die grundlegende epistemologische Behauptung dahinter ist, dass sich mit wachsender Anzahl der Probanden und weiterhin eintretendem Erfolg die Wahrscheinlichkeit verringert, dass eine andere Ursache als die Intervention zu den Effekten führt. Die Zuschreibung eines therapeutischen Erfolgs zu einem Arzneimittel ist daher eine Aussage über einen statistischen Zusammenhang.

69

Vgl. Victor, DÄBl 1990, B-741 (B-746). S. dazu Slovic / Fischhoff / Lichtenstein, Facts versus fears: Understanding perceived risk, in: Kahnemann / Slovic / Tversky (Hr.), Judgment under uncertainty: Heuristics and biases, 1982, S. 463 ff.; Preuss, Wahrnehmung und Bewältigung von Risiken, in: Preuss (Hr.), Risikoanalysen, 1996, S.  67 (70 ff.); Beauchamp / Childress, Principles of Biomedical Ethics, 6. Aufl. 2009, S. 227 f. 71 Hughes / Tunnage / Yeo, QJM 98 (2005), 829 (830); Roters, NZS 2007, 176 (178); Goecke, NZS 2002, 620 (621 f.). 70

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

93

1. Formen der klinischen Studien Die Ergebnisse klinischer Studien sind immanent mit Unsicherheiten behaftet. Neben Fehlerquellen besteht stets der Unsicherheitsfaktor, dass ein Studienergebnis einen statistischen Extremwert abbildet, der nur zufällig ein positives oder negatives Ergebnis produziert, aber nicht repräsentativ für den tatsächlichen Verlauf der medizinischen Behandlung ist. Diese Unsicherheitsfaktoren lassen sich durch methodische Techniken, durch präzise Endpunktauswahl, durch Wiederholungsversuche und weitere Maßnahmen weitgehend reduzieren, aber nicht völlig ausschließen. Daher bedarf es eines zusätzlichen Schrittes der Bewertung der Ergebnisse klinischer Studien, dessen Vorgehensweise durch Konsensfindungsprozesse in der Medizin harmonisiert wird. a) Studiendesigns In methodischer Hinsicht lässt sich die Gewissheit über den Kausalzusammenhang durch unterschiedliche Designs des Experiments erhöhen. Methodiker treffen dabei verschiedene Unterscheidungen. Die bloße Erhöhung der Fallzahl in einem Experiment ohne eine nähere, gezielte Kontrolle der äußeren Rahmenbedingungen wird als Fallserie bezeichnet. Dabei wird eine Mehrzahl an Patienten mit einem Medikament behandelt, während die medizinischen Verläufe dieser Patienten aufgezeichnet werden. Dieses Untersuchungsdesign kann im Regelfall lediglich Hinweise auf einen Kausalzusammenhang generieren, da die weiteren möglichen Einflussfaktoren wie unterschiedliche Begleiterkrankungen oder externe Umwelteinflüsse nicht kontrolliert werden können. Eine solche Kontrolle setzt nach gängiger Auffassung in der Methodendiskussion die Bildung von Vergleichsgruppen voraus. Dazu werden die Patienten in mindestens zwei Gruppen eingeteilt, wobei die Gruppen der Zielsetzung nach möglichst gleich sein sollen. Die Gruppenbildung erfolgt regelmäßig auf der Basis bekannter Einflussfaktoren auf Krankheitsverläufe wie insbesondere Alter, Vor- und Begleiterkrankungen, Geschlecht etc. Wird eine solche Gruppenbildung erst nachträglich vorgenommen, werden die Patienten also erst nach Abschluss der Behandlung auf eine Therapie- und eine Kontrollgruppe verteilt, handelt es sich methodisch um eine Beobachtungsstudie, die in diesem Fall als retrospektive Kohortenstudie bezeichnet wird. Findet dagegen die Gruppenbildung vor Therapiebeginn statt, handelt es sich um eine prospektive Kohortenstudie, die ebenfalls als experimentelle klinische Studie verwendet werden kann.72

72

Klug / Bender / Blettner / Lange, DMW 129 (2004), T7 f.

94

3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

b) Fehlerquellen und Fehlerkontrolle Auch kontrollierte klinische Studien sind anfällig für systematische Verzerrungen und Fehler. Sie bieten jedoch die Möglichkeit, diese Schwächen der Aussagekraft von Beobachtungsstudien zu minimieren. Dazu werden die Probanden den Gruppen der Studie nach einem Zufallsverfahren zugeteilt. Durch diese Randomisierung der Probandenzuteilung können neben bekannten oder strukturbedingten Einflussgrößen prinzipiell auch unbekannte, ggf. auch nur zufällig auftretende Störfaktoren im Rahmen statistischer Gesetzmäßigkeiten gleichmäßig auf alle Gruppen verteilt werden.73 Dadurch kann idealiter „Strukturgleichheit“ zwischen den Gruppen hergestellt werden.74 Verblindet man zudem die Gruppen, d. h. verhindert man, dass die Probanden – und im Idealfall auch die behandelnden Ärzte – wissen bzw. merken, ob sie die Intervention oder lediglich ein Placebo oder eine Behandlungsalternative erhalten, lässt sich methodisch relativ sicher herausfinden, ob es wirklich das Arzneimittel ist, das einen Effekt herbeiführt. Für das Gelingen einer solchen zwei- oder mehrarmigen Studie ist es entscheidend, eine grundlegende Fehlerquelle auszuschließen: dass nämlich eine Studie am falschen Agenten für eine Kausalität ansetzt. Wenn es einen anderen Faktor gibt, dessen Auftreten von der Intervention abhängt und der den Effekt bewirkt, wäre dieser die Ursache und nicht die Intervention, wie man allein nach der Datenlage denken könnte. Solch ein anderer Faktor nennt sich Confounder: Er ist mit der Intervention assoziiert, führt aber unabhängig von dieser den Effekt herbei.75 Aus dieser Fehlermöglichkeit leiten sich bereits Kriterien zur Rangbildung von klinischen Studien ab: höherwertiger sind solche Studien, die diese Fehler zu vermeiden suchen. Der erste Schritt zu dessen Vermeidung besteht in der zufälligen Zuteilung der Probanden zu den beiden Studienarmen, der Intervention und der Kontrollgruppe. Durch diese zufällige Zuteilung werden nach statistischen Grundsätzen regelmäßig auch zufällige Veränderungen im Gesundheitszustand der Probanden sowie unbekannte Faktoren auf beide Studiengruppen verteilt. Dies erklärt die prinzipielle Überlegenheit von randomisierten Studien gegenüber nichtrandomisierten. Ein Confounder ist dagegen durch das Studiendesign allein nicht sicher zu vermeiden. Durch sorgfältige Gruppenbildung, sodass sich die Probanden in beiden Gruppen in jeder Hinsicht, auch scheinbar unbedeutenden, gleichen, sowie weitere Techniken kann das Risiko einer Verzerrung durch einen Confounder jedoch weit-

73

Purssell / While, Nurse Education Today 31 (2011), 837 (838). Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 90 f.; Lange, Bundesgesundheitsblatt 49 (2006), 272 (274); Windeler / Antes / Behrens / DonnerBanzhoff / Lelgemann, DÄBl 2008, A-565 (A-566). 75 Ausführlich Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 158 ff. 74

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

95

gehend minimiert werden. Die für Confounding am wenigsten anfällige Studienart ist die randomisierte kontrollierte Studie (RCT); Beobachtungsstudien sind gegen diese Fehlerquelle praktisch gar nicht gefeit.76 Der sicherlich bekannteste Confounder ist der sog. Placebo-Effekt.77 Damit ist, vereinfacht gesagt, das Phänomen gemeint, dass bereits der Anschein einer medizinischen Behandlung zu einer Besserung des Gesundheitszustands beim Patienten führen kann – ohne dass eine wirksame Behandlung angewendet wird.78 Auch wenn das Ausmaß des Placebo-Effekts nach wie vor nicht gänzlich gesichert ist, scheint festzustehen, dass er jedenfalls patientenberichtete Outcomes und insbesondere Schmerzen stark beeinflussen kann.79 Es ist mittlerweile zum Standard geworden, eine Intervention, wenn sie nicht gegen eine alternative Therapie geprüft wird, im Regelfall zumindest gegen Placebo zu testen. Vielfach wird darüber hinausgehend sogar die Auffassung vertreten, der Placebovergleich sei die wissenschaftlichste Art, einen reinen Medikamenteneffekt zu beobachten, da bei ansonsten methodisch korrekter Gruppenbildung durch den Placeboeinsatz alle nichtmedikamentösen Einflüsse kontrolliert werden könnten.80 Durch die Gruppenbildung vor Behandlungsbeginn wird die Gefahr erheblich verringert, eine Koinzidenz als Korrelation misszuverstehen, insbesondere wenn eine Theorie über den Zusammenhang von vermuteter Ursache und Effekt fehlt (oder eine besonders starke, aber falsche theoretische Vermutung über den Zusammenhang besteht) oder wenn die Suche nach alternativen oder unbekannten Ursachen nicht gelingt.81 c) Evidenzhierarchie und Studienbewertung Es hat sich auf der Grundlage dieser Erkenntnisse zu Stärken und Schwächen der verschiedenen Typen von Evidenz eine Hierarchisierung herausgebildet, an deren Spitze der RCT steht. Eine stärkere Aussagesicherheit als ein RCT bietet

76

Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 217 ff. 77 Zum Placeboeffekt s. exemplarisch Oken, Brain 131 (2008), 2812 ff.; Enck / Zipfel / Klosterhalfen, Bundesgesundheitsblatt 52 (2009), 635 ff.; Kradin, The placebo response and the power of unconscious healing, 2007, S. 7 ff. 78 Besonders eindrucksvoll ist das Beispiel einer Placebo-Operation: Moseley et al., NEJM 347 (2002), 81. 79 Oken, Brain 131 (2008), 2812 (2813); Hróbjartsson / Gotzsche, NEJM 344 (2001), 1594 (1597 ff.). 80 Stapff, Arzneimittelstudien. Eine Einführung in klinische Prüfungen für Ärzte, Studenten, medizinisches Assistenzpersonal und interessierte Laien, 5. Aufl. 2008, S. 52 f.; aus juristischer Sicht Ulsenheimer, in: Laufs / Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. 2010, § 148 Rn. 16; aus regulatorischer Sicht EMA, Note for Guidance on Choice of Control Group in Clinical Trials, CPMP / ICH/364/96 (Januar 2001), Ziff. 2.1.6.2. 81 S. Höfer / Przyrembel / Verleger, Paediatric and Perinatal Epidemiology 18 (2004), 88; Sies, Nature 332 (1988), 495.

96

3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

in den anerkannten Hierarchisierungen lediglich ein systematisches Review von methodisch homogenen RCTs.82 Diese beiden Evidenzstufen werden als Ia und Ib bezeichnet. Auf der Stufe II werden als IIa systematische Reviews und als IIb Einzelstudien klassifiziert. Die Stufe II bezieht sich dabei auf prospektiv vergleichende Kohortenstudien sowie, nach einer gängigen Erweiterung dieser Stufe, auf RCTs mit schwacher Qualität.83 Auf der Stufe III sind Fallkontrollstudien angesiedelt, also Beobachtungsstudien von Fällen ohne Randomisierung oder strukturierter Vergleichsgruppenbildung. Vielmehr werden die beiden zu vergleichenden Gruppen nachträglich aus der Grundpopulation auf der Grundlage des Ergebnisunterschieds zwischen den Individuen gebildet, um gewissermaßen retrospektiv nach Erklärungsansätzen für den Ergebnisunterschied zu suchen. Auch bei diesem Studientyp werden auf Stufe IIIa systematische Reviews von einzelnen Fallkontrollstudien der Stufe IIIb unterschieden. Auf Stufe IV werden einzelne Fallserien ohne Kontrollgruppe sowie teilweise qualitativ schwache Kohortenstudien eingeordnet, während schließlich Stufe V andere Evidenzquellen wie Expertenmeinungen, „Proof of principle“-Untersuchungen und theoretisch-wissenschaftliche Überlegungen bündelt. Die Bildung einer Evidenzhierarchie kann zu der Annahme verleiten, dass eine Evidenz höherer Stufe stets einer Evidenz niedrigerer Stufe überlegen und daher vorzuziehen wäre. Mit derselben Überlegung könnte angesichts des Umstandes, dass die Stufe I von RCTs gebildet wird, die Forderung erhoben werden, stets eine randomisierte klinische Studie zu verlangen, sich also immer an dem höchsten Evidenzniveau zu orientieren. Dazu verleitet insbesondere die Bezeichnung des RCT als „Goldstandard“.84 Diese Schlussfolgerungen oder Forderungen wären jedoch deswegen nicht überzeugend, da sie der methodischen Qualität der einzelnen Evidenzquelle nicht Rechnung tragen. In der Methodendiskussion ist daher das zusätzliche Element der Bewertung der Aussagekraft einer Evidenzquelle entwickelt

82

Eine aktuelle Übersicht über den konsentierten Stand der Evidenzhierarchie bietet das Oxford Centre for Evidence-based Medicine auf seiner Website http://www.cebm.net/oxford-centreevidence-based-medicine-levels-evidence-march-2009/ (zuletzt abgerufen am 30.06.2017); s. ferner Haynes / Sackett / Guyatt / Tugwell, Clinical Epidemiology, 3.  Aufl. 2006, S.  358 f.; Zielinski, Evidence-based Medicine: Einsatzmöglichkeiten in der stationären Versorgung, 2003, S. 36 f.; Windeler / Ziegler, ZaeFQ 97 (2003), 513 f.; Burns / Rohrich / Chung, Plastic and Reconstructive Surgery 128 (2011), 305 (306). 83 Oxford Centre for Evidence-based Medicine, http://www.cebm.net/oxford-centreevidence-based-medicine-levels-evidence-march-2009/ (zuletzt abgerufen am 30.06.2017); Burns / Rohrich / Chung, Plastic and Reconstructive Surgery 128 (2011), 305 (306). 84 Vgl. Grimes / Schulz, Lancet 359 (2002), 57 (59); Corrigan, Social Science & Medicine 55 (2002), 497 (498); Reeves et al., Comparison of effect sizes derived from randomised and non-randomised studies, in: Black / Brazier / Fitzpatrick / Reeves (Hr.), Comparison of effect sizes derived from randomised and non-randomised studies, 1998, S. 73 ff.; Freemantle / Eastaugh /  Calvert / Hill / Berlin, Interpreting clinical evidence, in: Freemantle / Hill (Hr.), Interpreting clini­ cal evidence, 2004, S. 24 (25); Timmermans / Berg, The Gold Standard. The Challenge of Evidence-Based Medicine and Standardization in Health Care, 2003, S. 93.

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

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worden, insbesondere durch die Arbeiten der GRADE-Gruppe.85 Somit kann aus methodischer Sicht nicht geschlussfolgert werden, dass ein RCT einer Kohortenstudie stets überlegen ist, da die Aussagekraft der einzelnen Studie anhand ihrer methodischen Qualität, ihrer Endpunkte und ihrer Durchführung beurteilt werden muss. Ferner bedarf es aus medizinischer Sicht gleichfalls nicht stets eines RCT, um zur Überzeugung von einer Kausalität zu gelangen. Dies gilt beispielsweise bei sogenannten „dramatischen Effekten“ einer Intervention.86 Dramatische Effekte liegen vor, wenn ein Heilungserfolg durch eine Intervention offensichtlich ist und ein dermaßen großes Maß erreicht, dass kein vernünftiger Zweifel an der Kausalbeziehung zwischen Intervention und Effekt bestehen kann. Ein Beispiel wäre die intravenöse Gabe von Glukose bei einer schweren Unterzuckerung. Regelmäßig kommen RCTs jedoch dem Ideal eines Experiments zum Kausalitätsnachweis am nächsten und sind somit konzeptionell der sicherste Weg, um einen Kausalzusammenhang zu belegen.87 Ob dies jedoch notwendig ist, entscheidet sich nach dem Kontext, in dem die Evidenz verwendet werden soll. 2. Endpunkte Jeder Nachweis eines Effektes eines Arzneimittels bedarf eines Maßstabes für den Erfolg, eines Endpunktes. Tritt der Endpunkt ein, wird dieses Resultat im Rahmen einer Studie – als Erfolg – registriert und zur Basis der statistischen Auswertung der Studienergebnisse gemacht. Die Bestimmung des Endpunktes einer Studie ist somit essentiell für die Bewertung der Wirkungen eines Arzneimittels. Aus methodischer Sicht werden die Endpunkte einer Studie so gewählt, dass sie die Fragestellung des Studienautors beantworten können.88 Es hängt folglich von der Beurteilung durch die medizinische Profession ab, wie weit der Aussagegehalt eines Endpunkts in Anbetracht der Fragestellung einer klinischen Studie reicht. Hinsichtlich der Arten von Endpunkten klinischer Studien werden grundlegend zwei Arten unterschieden: Die eine Art von Endpunkten soll unmittelbar therapeutisch erwünschte Effekte einer Intervention abbilden. Diese als „clinical outcome“ bezeichneten Endpunkte sind der Eintritt (oder die Verhinderung) des Todes, Auftreten von Erkrankungsbildern oder Symptomen, die Notwendigkeit bestimmter 85

S. Guyatt et al., Journal of Clinical Epidemiology 64 (2011), 383 (384) für eine Erläuterung des GRADE-Ansatzes; Balshem et al., Journal of Clinical Epidemiology 64 (2011), 401 (403 ff.) zur Qualitätsbewertung von klinischen Studien. 86 Dazu Glasziou / Chalmers / Rawlins / McCulloch, BMJ 334 (2007), 349 (350); Lange / Thomas, ZEFQ 2010, 642 (644). 87 McKnee et al., Choosing between randomised and non-randomised studies, in: Black / Brazier / Fitzpatrick / Reeves (Hr.), Choosing between randomised and non-randomised studies, 1998, S. 61 (69); Freemantle / Irs, BMJ 336 (2008), 627. 88 S. Borm / Teerenstra / Zielhuis, J Clin Epidemiol 61 (2008), 99 (100); Hanson, Injury 39 (2008), 656 (657).

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

Behandlungsmaßnahmen und ähnliche Ereignisse.89 Dabei können in einem weiteren Differenzierungsschritt solche Endpunkte unterschieden werden, die unmittelbar einen Therapieerfolg abbilden. Dazu zählen unter anderem die Reduzierung der Mortalität sowie der Morbidität, das heißt der Wahrscheinlichkeit, in einem definierten Zeitraum an einer bestimmten Krankheit bzw. ihrer Symptombelastung zu leiden. Ferner können aus medizinischer Sicht weitere Behandlungsziele definiert werden, etwa eine Schmerzlinderung oder die Verbesserung der Lebensqualität.90 Die zweite Art von Endpunkten bilden die sogenannten Surrogatparameter. Surrogatparameter sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht selbst ein medizinisches Behandlungsziel darstellen, sondern vielmehr Rückschlüsse auf einen solchen Therapieerfolg zulassen, insoweit also ein Surrogat darstellen.91 Beispiele wären die Messung des Cholesterinwertes für Medikamente zur Vermeidung von koronaren Herzkrankheiten oder der Knochendichte zur Behandlung von Osteoporose.92 Damit Surrogatparameter als Endpunkte einer klinischen Studie Aussagen über die therapeutischen Wirkungen zulassen, muss allerdings medizinisch gesichert sein, wie der Surrogatparameter mit dem klinischen Outcome, also der Gesundheit des Patienten zusammenhängt. Eine bloße Korrelation zwischen Surrogatparameter und klinischem Outcome genügt dabei nicht, sondern es bedarf eines Kausalzusammenhangs.93 Insoweit wird von der Validierung des Surrogat­ parameters gesprochen.94 Als Gründe für die Verwendung von Surrogatparametern in klinischen Studien werden die praktische Durchführbarkeit, die Dauer der Studie sowie die Höhe der Kosten angegeben.95 Die Bestimmung der Endpunkte kann dabei aus unterschiedlichen Sichtweisen erfolgen. Aus ärztlicher Sicht könnte von der Wirksamkeit eines Medikaments gesprochen werden, wenn eine Heilung von Patienten eintritt, wenn durch die Intervention Todesfälle verhindert werden, weniger Folgeschäden eintreten oder andere medizinisch erwünschte Wirkungen auftreten. Diese Endpunkte einer Studie werden als „harte Endpunkte“ bezeichnet. Die Anforderungen, um einen Surrogatendpunkt als valide bezeichnen zu können, variieren: Mindestforderungen sind, dass der Surrogatparameter die Veränderung der Erkrankung widerspiegelt und dieses Abbildungsverhältnis zwischen

89

Fleming / DeMets, Ann Intern Med 125 (1996), 605; Windeler, DMW 2006, S12 (S13). S. Sawicki, DMW 131 (2006), S16. 91 Zum Begriff s. Aronson, Br J Clin Pharmacol 59 (2005), 491 f.; Biomarkers Definition Working Group, Clin Pharmacol Ther 69 (2001), 89 (91); Böger, Der Internist 43 (2002), 493 (494 f.); Fleming / DeMets, Ann Intern Med 125 (1996), 605; Sawicki, DMW 131 (2006), S16 (S17). 92 Beispiele nach Sawicki, DMW 131 (2006), S16 (S17). 93 Fleming / DeMets, Ann Intern Med 125 (1996), 605 f. 94 Fleming / DeMets, Ann Intern Med 125 (1996), 605 (606); Prentice, Statist. Med. 8 (1989), 431 (432); Domanski et al., Fundamental & Clinical Pharmacology 25 (2011), 411 f. 95 Prentice, Statist. Med. 8 (1989), 431 f.; Sawicki, DMW 131 (2006), S16 (S17). 90

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

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Erkrankungsverlauf und Parameterveränderung vollständig ist.96 Hinzu können weitere, durch Studien belegte Anforderungen an die Korrelation zwischen Surrogatparameter und einem klinischen Outcome-Parameter treten.97 Dass Surrogatparameter dabei nicht notwendigerweise mit klinischen Outcomes gleichgerichtet zusammenhängen, sondern bisweilen genau gegenteilige Wirkungen auf die Gesundheit des Patienten zeigen können, belegt das klassische Beispiel der CASTStudie: Zur klinischen Erprobung eines Herzmedikaments zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen wurde die Verbesserung des EKG-Bildes der Probanden als Endpunkt definiert. Zwar zeigte sich unter der Behandlung mit dem Medikament durchaus eine Reduktion der als gefährlich angesehenen ventrikulären Extrasystolen, allerdings stellte sich heraus, dass dennoch mehr Patienten unter der Arzneimittelgabe verstarben als in der Kontrollgruppe.98 In diesem Fall war der Surrogatparameter nicht nur ungeeignet, einen therapeutischen Effekt zu messen, sondern er kaschierte ihn im Gegenteil durch eine scheinbare Verbesserung des Patientenzustands. 3. Interne und externe Validität Mit der Forderung, eine Kausalität zwischen Intervention und Effekt nachzu­ weisen, ist eng die Forderung verknüpft, dass das Ergebnis reproduzierbar sein muss. Dies ist nicht nur eine Forderung der Kausalitätsdefinition, sondern auch eine Forderung der Medizin als praktischer Wissenschaft. Aus dem Charakter der medizinischen Kausalität als Wahrscheinlichkeitsurteil folgt, dass nicht jedes Mal die Intervention zum gewünschten Effekt führen wird. Ärzte möchten allerdings wissen, ob die Intervention auch bei ihren Patienten zu einem Effekt führen wird. Eine Antwort auf diese Frage unterliegt drei Einschränkungen: die erste ist die immanente Unsicherheit auf Grund des Wahrscheinlichkeitsurteils; die zweite Einschränkung ergibt sich aus der Generalisierbarkeit der Studienergebnisse, also aus der Frage, inwiefern die in Studien gefundenen Ergebnisse auf die Behandlungswirklichkeit übertragbar sind. Die dritte Einschränkung betrifft den Zustand des konkreten Patienten, also die Indikationsstellung durch den behandelnden Arzt. Dass die Übertragbarkeit von Studienergebnissen auf den Behandlungsalltag keine Selbstverständlichkeit ist, resultiert letztlich aus dem Modell des naturwissenschaftlichen Experiments, dem klinische Studien folgen. Soll das Studiendesign 96 S. Weir / Walley, Statist. Med. 25 (2006), 183 (184); Fleming / DeMets, Ann Intern Med 125 (1996), 605 f.; Böger, Der Internist 43 (2002), 493 (494); Berns / Démolis / Scheulen, EJC Supplements 5 (2007), 37 (38). 97 Matthias, ZEFQ 2010, 272 (274 f.); Böger, Der Internist 43 (2002), 493 (494); Baker, J Natl Cancer Inst 98 (2006), 502 m. w. N. 98 The Cardiac Arrythmia Suppression Trial (CAST) Investigators, NEJM 321 (1989), 406 ff.; Fleming / DeMets, Ann Intern Med 125 (1996), 605 (607).

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

einen Effekt der Intervention im Sinne von Wirksamkeit belegen, so müssen sich die beiden Studiengruppen in möglichst allen Eigenschaften gleichen. Ist diese Forderung erfüllt, so indiziert ein Unterschied hinsichtlich des Effektmaßes zwischen den Gruppen eine Ursächlichkeit der Intervention. Inwieweit eine Studie dieser Forderung genügt, wird als ihre interne Validität bezeichnet.99 Die Generalisierbarkeit oder Verallgemeinerbarkeit von Ergebnissen einer Studie auf eine breitere Population als diejenige, an der die Studie durchgeführt worden ist, wird als externe Validität bezeichnet.100 Die maßgebliche Frage hierfür ist, ob die Studienbedingungen denen im Behandlungsalltag entsprechen. Um dem Ideal eines naturwissenschaftlichen Experiments nahe zu kommen, also eine möglichst hohe interne Validität zu erreichen und dadurch ein mit hoher Wahrscheinlichkeit zuverlässiges Urteil über die Kausalität fällen zu können, werden Maßnahmen ergriffen, die zu Lasten der externen Validität gehen. Im medizinischen Schrifttum werden mehrere Ursachen für eine reduzierte externe Validität identifiziert.101 Ein erster Faktor, der die externe Validität der Studienergebnisse maßgeblich beeinflusst, liegt in der Auswahl der Prüfzentren oder auch der Ärzte, die klinische Prüfungen durchführen. Die studienbegleitenden Zentren und Ärzte entsprechen in ihrer Fachkunde, Ausstattung und Sorgfalt selten dem Durchschnitt der Ärzte und Kliniken, auf die Patienten für gewöhnlich treffen.102 Hochselektive Ein- und Ausschlusskriterien für Studienteilnehmer führen zudem dazu, dass die Probanden vielfach nicht mehr den realen Patienten im Behandlungsalltag entsprechen. In vielen Studien werden ältere Patienten ausgeschlossen,103 ebenso Patienten mit Begleiterkrankungen, bestimmten Vorerkrankungen oder Begleitmedikationen.104 Genau solche Patienten sind jedoch im Behandlungsalltag typisch.105 Darüber hinaus kann es methodisch erwünscht sein, der Verabreichung der Intervention sog. „Run-in-Phasen“ vorzuschalten, während der Patienten, die bereits in dieser Phase kaum auf die Intervention reagieren, wieder ausgeschlossen werden.106 Ferner kann die Überwachung, ob Probanden die für die Intervention 99

Schumacher / Schulgen, Methodik klinischer Studien, 2. Aufl. 2007, S. 16; Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 80. 100 Schumacher / Schulgen, Methodik klinischer Studien, 2. Aufl. 2007, S. 16; Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 81. 101 Zu einem Überblick und einer Diskussion der verschiedenen Designvarianten und ihrem Einfluss auf die externe Validität: Rothwell, Lancet 365 (2005), 82 (83 ff.). 102 Roberts, Statist. Med. 18 (1999), 2605 (2615); dieses Problem wird auch unter dem Stichwort „applicability“ diskutiert, s. Dekkers / Elm / Algra / Romijn / Vandenbroucke, Int J Epidemiol 39 (2010), 89 (90). 103 Dies geschieht nach einer Untersuchung in etwa 60 % der Studien: Rothwell, Lancet 365 (2005), 82 (86) m. w. N. 104 Dekkers / Elm / Algra / Romijn / Vandenbroucke, Int J Epidemiol 39 (2010), 89 (91). 105 Weniger als 10 % der Patienten mit einer bestimmten Erkrankung können typischerweise als Probanden in die Studie eingeschlossen werden: Rothwell, Lancet 365 (2005), 82 (86) m. w. N. 106 Rothwell, Lancet 365 (2005), 82 (86 f.); Pablos-Méndez / Barr / Shea, JAMA 279 (1998), 222 ff.

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

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vorgeschriebenen Verhaltensweisen beachten, in Studien viel intensiver erfolgen, als dies im Behandlungsalltag möglich ist.107 Viele Patienten befolgen die Anweisungen ihres Arztes nicht genau, sodass dies zu Lasten der Übertragbarkeit der Studienergebnisse gehen kann.108 Hinsichtlich des Designs der Studien besteht ein häufiges Problem darin, dass die gewählten Endpunkte nicht notwendigerweise mit einem therapeutisch relevanten Behandlungserfolg korrelieren.109 Dies ist besonders bei Surrogatendpunkten oder bei der Messung der Lebensqualität und Patientenzufriedenheit der Fall. Hinzu kommt schließlich, dass für eine Übertragung der Studienergebnisse auf den Behandlungsalltag ein Vergleich zu bestimmten anderen Therapieoptionen förderlich wäre, der in Wirksamkeitsstudien nicht notwendigerweise durchgeführt wird. Die Auswahl der Kontrollbehandlung ist nämlich allein von der Fragestellung der einzelnen Studie bestimmt, die sich nicht notwendigerweise mit der Behandlungswirklichkeit decken muss. Die Behandlungsoptionen für eine bestimmte Krankheit variieren zudem mit dem Land oder der Region, die gerade betrachtet wird. Auch dieser Aspekt kann zu einer Reduzierung oder gar einem Verlust der externen Validität einer Studie führen. Die Auswahl einer konkreten Alternativtherapie wie beispielsweise eines anderen Arzneimittels, eines „aktiven Komparators“, führt jedoch regelmäßig zu einer Abschwächung der Aussage der Studienergebnisse über die Wirksamkeit des Prüfmedikaments. Ein solcher direkter Vergleich würde nämlich nicht die Wirksamkeit an sich zur Behandlung der Krankheit belegen, sondern lediglich eine relative Aussage erlauben, nämlich ob eine Verbesserung oder Verschlechterung gegenüber der Vergleichstherapie eintritt. Dies ist eine andere Fragestellung als die Kausalitätsprüfung und setzt gedanklich voraus, dass diese Standardbehandlung ihrerseits nachweisbar wirksam ist oder dass ein dritter Studienarm mit Placebobehandlung aufgenommen wird. Ein dritter Placeboarm in der Studie führt jedoch beim Vergleich mit Standardbehandlung möglicherweise zu ethischen Schwierigkeiten, da diesem Probandenkollektiv die Standardtherapie vorenthalten werden müsste. Viele dieser Ursachen für eine geringe externe Validität sind prinzipiell vermeidbar. Es besteht kein notwendiger Widerspruch zwischen hoher interner und hoher externer Validität.110 Beispielsweise könnten viel mehr Patienten mit typischen Begleiterkrankungen in die Studien eingeschlossen werden, und die Kontrollgruppe könnte regelmäßig mit der Standardtherapie behandelt werden. Allerdings kann externe Validität erst dann klinisch bedeutsam werden, wenn die Studie intern valide ist, denn sonst gäbe es kein methodisch glaubwürdiges Ergebnis, das auf den

107

S. Di Blasi / Harkness / Ernst / Georgiou / Kleijnen, Lancet 357 (2001), 757 (760 f.). Rothwell, Lancet 365 (2005), 82 (83); Victora / Habicht / Bryce, Am J Public Health 94 (2004), 400 (402 f.). 109 Rothwell, Lancet 365 (2005), 82 (88 f.); Bucher, ZEFQ 2010, 230 (232). 110 S. dazu Windeler, ZEFQ 2008, 253 (255 ff.). 108

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

Versorgungsalltag übertragen werden könnte.111 Die Kriterien für eine hohe externe Validität tendieren dazu, die interne Validität einer Studie zu reduzieren, da sie von dem Ideal eines naturwissenschaftlichen Experiments abrücken und eine möglichst originalgetreue Abbildung der (Behandlungs-)Wirklichkeit verlangen. Abgesehen von dem Problem, dass sich die Realität in ihrer Komplexität nie abbilden lässt,112 wäre eine erhebliche Erhöhung der Probandenzahl erforderlich. Andernfalls würden wegen der kleineren Effektgröße der Intervention solche Studiendesigns zur Erhöhung der externen Validität dazu führen, dass die interne Validität leidet und dadurch therapeutische Effekte übersehen oder unterschätzt werden.113 Dies muss durch eine daran angepasste Planung und Durchführung der Studie ausgeglichen werden, insbesondere hinsichtlich der erforderlichen Probandenzahl und der Studiendauer. Dieses Dilemma besteht für jede Art von klinischer Studie, nicht nur für RCTs, sondern ebenso für Beobachtungsstudien und andere Evidenzformen.114 Zusammenfassend lässt sich lediglich aus praktischen Gründen der Planung und Durchführung klinischer Studien ein Zielkonflikt zwischen interner und externer Validität konstatieren, da zum einen die interne Validität gedankliche Voraussetzung für die Frage nach der externen Validität ist, die Erhöhung der letzteren aber in der Praxis wiederum zur einer Verringerung der ersteren führt. 4. Risikoaussagen in klinischen Studien Inwieweit welcher Typ klinischer Studien geeignet ist, Aussagen über Risiken von Arzneimitteln zu treffen, wird in der medizinischen Wissenschaft kontrovers diskutiert.115 Neuere Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass unerwünschte Effekte einer Intervention am besten durch Beobachtungsstudien, Fall-KontrollStudien oder Einzelfallberichten belegt werden können.116 Begründet wird dies mit der Überlegung, dass RCT nur messen können, wofür sie entworfen worden sind, und das ist regelmäßig die Wirksamkeit. Für den Schadensbeleg sei es aber 111

Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 81; Dekkers / Elm / Algra / Romijn / Vandenbroucke, Int J Epidemiol 39 (2010), 89 (90). 112 Vgl. Windeler / Antes / Behrens / Donner-Banzhoff / Lelgemann, ZEFQ 2008, 321 (324): „so hilfreich wie eine Landkarte im Maßstab 1:1“. 113 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 81; Godwin et al., BMC Medical Research Methodology 3 (2003), 1 ff. m. w. N. 114 Windeler / Antes / Behrens / Donner-Banzhoff / Lelgemann, ZEFQ 2008, 321 (324). 115 Exemplarisch seien die Veranstaltung „IQWiG im Dialog“ am 19.06.2009 zum Thema: „Nutzenbewertung ohne Schadenaspekte?“, sowie das IQWiG-Herbstsymposium 2010, 19./20.11.2010, und die dort gehaltenen Vorträge genannt; aus dem Schrifttum s. Freemantle / Irs, BMJ 336 (2008), 627 m. w. N.; Chou et al., Journal of Clinical Epidemiology 63 (2010), 502 ff.; Corrigan, Social Science & Medicine 55 (2002), 497 (500 ff.); Vandenbroucke, PLoS Medicine 5 (2008), e67; Vandenbroucke, CMAJ 174 (2006), 645 f.; Ioannidis et al., Ann Intern Med 141 (2004), 781 ff. 116 Papanikolaou / Christidi / Ioannidis, CMAJ 174 (2006), 635 (638); Vandenbroucke, CMAJ 174 (2006), 645 f.

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

103

erforderlich, offen für überraschende Effekte zu sein, weswegen die strenge Kopplung von Vorhersage und Beobachtung aufgelöst werden müsse.117 Bezeichnenderweise wird die grundsätzliche Eignung des RCT, Risiken aufzudecken, auch von skeptischen Autoren nicht in Zweifel gezogen.118 Die maßgebliche Frage ist, wie sensibel das Studienprotokoll eines RCT für die Entdeckung von schädlichen Effekten ist. Die Bewertung, ob ein RCT für den Risikonachweis geeignet ist, hängt somit von der methodischen Qualität der individuellen Studie für diese Fragestellung ab. Dies entspricht dem Befund zur Eignung des RCT und anderen Studien zum Nachweis der Wirksamkeit eines Arzneimittels. Regelmäßig sind RCT jedoch bereits angesichts der eingeschlossenen Probandenzahl praktisch nicht in der Lage, in hinreichendem Umfang schädliche Arzneimittelwirkungen aufzuzeigen. Um unter Geltung des in der evidenzbasierten Medizin konsentierten Kriteriums für Signifikanz eine schädliche Wirkung aufzudecken, die mit der Wahrscheinlichkeit 1:10.000 auftritt, bedarf es etwa 30.000 Studienteilnehmer, die dieses Präparat erhalten (sog. „Dreier-Regel“).119 Die Größe des RCT, d. h. die Anzahl der einzuschließenden Probanden, wird typischerweise danach geplant, wie viele Probanden erforderlich sind, um den zu erwartenden Effekt statistisch belegen zu können, und wie viele Probanden realistisch rekrutierbar sind.120 Ein durchschnittlich großer RCT weist in etwa um die 1000 Probanden auf, die auf die Studienarme verteilt werden.121 Somit können allenfalls schädliche Effekte, die zumindest häufig auftreten, oder Zufallsbefunde entdeckt werden. Bei Zufallsbefunden besteht jedoch neben der Möglichkeit der Erfassung im Studienprotokoll das Problem, ihre Häufigkeit zu quantifizieren. Für Ärzte in einer Behandlungssituation stellt sich dieser Methodenstreit jedoch als erhebliches Dilemma dar. Ausgehend von dem ärztlichen Grundsatz des primum non nocere müsste der behandelnde Arzt im Falle nicht eindeutiger Aussagen zum Schadenspotenzial einer Behandlungsmöglichkeit deren Anwendung solange „zurückstellen“, bis hinreichend sichere Erkenntnisse über die Kausalität von Intervention und Schaden vorliegen. Dies würde regelmäßig ein Studiendesign mit einer Fragestellung speziell zum Schadenspotenzial erfordern. Derartige Studien werden für Arzneimittel seitens der pharmazeutischen Hersteller jedoch regelmäßig nicht durchgeführt. Zudem steht diese Option des Abwartens auf Grund des ärztlichen Heilauftrags vielfach bereits praktisch nicht zur Verfügung. Somit 117

Vandenbroucke, PLoS Medicine 5 (2008), e67. S. Papanikolaou / Christidi / Ioannidis, CMAJ 174 (2006), 635 (640); radikaler jedoch Vandenbroucke, CMAJ 174 (2006), 645, der sich für einen generellen Vorrang von Beobachtungsstudien ausspricht. 119 Pirmohamed / Breckenridge / Kitteringham / Park, BMJ 316 (1998), 1295 (1297); Eypasch /  Lefering / Kum / Troidl, BMJ 311 (1995), 619; World Health Organization, The Importance of Pharmacovigilance, 2002, S. 15. 120 Röhrig / du Prel / Wachtlin / Kwiecien / Blettner, DÄBl 2010, 552 (553); Wittes, Epidemiologic Reviews 24 (2002), 39 (41 ff.). 121 Stanley, Circulation 115 (2007), 1164 (1165). 118

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

ist der behandelnde Arzt berufsethisch dazu verpflichtet, die erwartete Wirksamkeit mit dem befürchteten Risiko sorgsam abzuwägen.122 Dies führt dazu, bei den Risiken eine größere Vorsicht an den Tag zu legen und lieber auf eine mögliche Wirksamkeit zu verzichten, als ein erhöhtes Risiko in Kauf zu nehmen. Der Arzt trifft dadurch eine eigene Entscheidung über die akzeptable Ungewissheit bezüglich des Kausalzusammenhangs von Intervention und Schaden, die sich von der rein evidenzbasierten Bewertung des Nutzens einer Behandlungsvariante erheblich unterscheiden kann. Sie ist regelmäßig von dem Bestreben geprägt, Risiken zu vermeiden. 5. Aussagekraft klinischer Studien und Fehlerquellen Die bisherigen Ausführungen zu klinischen Studien als Erkenntnisquellen über medizinische Verfahren lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass sich von der Einzelfallbeobachtung bis zum „Goldstandard“ RCT ein Kontinuum der medizinischen Erkenntnisquellen erstreckt. Gleichzeitig sind die Studientypen in unterschiedlichem Maße für bestimmte Fehler anfällig. Die Aussage, nur ein RCT kann einen Kausalitätsnachweis bringen, wäre nach dem zuvor Gesagten daher aus zweierlei Gründen unzutreffend: Erstens kann auch ein RCT keinen Kausalitätsnachweis für die Wirksamkeit einer Therapie erbringen, und zweitens kann ein handwerklich schlecht durchgeführter RCT weniger verlässliches Wissen generieren als eine methodisch hochwertig durchgeführte und ausgewertete Studie auf einer niedrigeren Evidenzstufe, z. B. eine prospektive Kohortenstudie. Drittens können für bestimmte Fragestellungen – beispielsweise in der Epidemiologie – gar keine RCTs durchgeführt werden, weil sich entweder keine Gruppenzuteilung realisieren lässt oder sich der Effektunterschied erst im Maßstab der Auswertung von vielen zehntausend oder hunderttausend Personen zeigt. a) Bias in klinischen Studien Die auf dem Kontinuum der klinischen Evidenz verteilten Studientypen weisen zudem Gemeinsamkeiten in der Fehlerlehre auf. Während jede Studienform insoweit ebenfalls eigene Besonderheiten kennt, haben sie doch zwei grundlegende Fehlerkategorien gemein: Zufallsfehler und systematische Fehler. Oben sind bereits mehrere systematische Fehler und Ansätze zu deren Vermeidung dargestellt worden. Besonders wichtig, weil schwer zu entdecken, sind Bias-Formen. Durch einen Bias erfolgt eine systematische Verzerrung in eine Richtung, die sich statistisch nicht erkennen lässt, da sie in der Auswertung wie ein beobachteter Effekt

122 S. Beauchamp / Childress, Principles of Biomedical Ethics, 6. Aufl. 2009, S. 149 ff.; Wiesing, Zur Verantwortung des Arztes, 1995, S. 29.

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

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wirkt, dabei jedoch auf Ungleichgewichten im Studiendesign beruht. Ein Bias in der Zuteilung der Probanden auf die Studienarme kann beispielsweise durch die strenge Randomisierung des Zuteilungsverfahrens, gegebenenfalls bereits verbunden mit einem Verblindungsschritt, vermieden werden. Ein Bias in der Auswertung wird vermieden, wenn die auswertenden Personen nicht wissen, zu welcher Studiengruppe die Datensätze gehören, die sie analysieren und darstellen. Dagegen werden in der Literatur Formen des Bias beschrieben, die kaum oder nur mit großem Aufwand vermieden werden können. Ein Beispiel wäre der „Regulatory Bias“: Diese Form der Verzerrung tritt auf, wenn Ethikkommissionen oder Aufsichtsbehörden bestimmte Typen von klinischen Studien nicht oder nur stark modifiziert genehmigen, sei es wegen der Art der Fragestellung, bestimmten Patientengefahren oder auf Grund eigener Forschungsinteressen. Andere Formen wie der „Population Choice Bias“ bzw. „Sampling Bias“ sind teilweise aus zwingenden ethischen Gründen nicht vermeidbar, so zum Beispiel der Ausschluss von gebärfähigen Frauen, bei denen eine Schwangerschaft während der Laufzeit der Studie nicht sicher ausgeschlossen werden kann.123 Dadurch können ganze Altersgruppen von Frauen in klinische Studien unterrepräsentiert sein, obgleich sie in der Alltagsanwendung des medizinischen Verfahrens durchaus zur Zielgruppe gehören. b) Zufallsfehler und Signifikanzschwelle Ein anderer wichtiger Fehlertyp ist der Zufallsfehler. Dieser Fehler ist statistischer Natur. Wenn ein Datensatz statistisch ausgewertet wird und sich bestimmte Beobachtungsergebnisse zeigen – beispielsweise die Heilung einer Krankheit oder die Verbesserung der Symptomatik um ein bestimmtes Maß –, stellt sich die Frage, ob dieses Ergebnis durch eine zufällige Variation der beobachteten Daten oder durch einen tatsächlichen Effektunterschied zwischen den Studiengruppen zu erklären ist. Zufällige Variationen ergeben sich in praktisch jedem Beobachter-Objekt-System. Sowohl das beobachtete Objekt als auch das Beobachtungs- bzw. Messsystem selbst weisen Störungen auf, die sich ohne spezifische Regelmäßigkeit manifestieren und auf das Messergebnis einwirken, es verzerren. Da sich diese Störgrößen – anders als Confounder oder ein Bias – weder ausschalten noch in ihrem Ausmaß prognostizieren lassen, müssen sie nach allen Versuchen der Störfaktorenkontrolle hingenommen und bei der Datenauswertung berücksichtigt werden. Daher bedarf es statistischer Verfahren, um zu einer möglichst verlässlichen Aussage zu gelangen, ob eine Varianz in den Daten auf eben diese Zufallsfaktoren zurückzuführen ist oder ob sich in der Varianz ein nicht-zufälliger Einflussfaktor zeigt. Dieser

123

Jadad / Enkin, Randomized Controlled Trials, 2. Aufl. 2007, S. 37.

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

nicht-zufällige Faktor kann dann, je nach Lage der Dinge, entweder auf die untersuchte medizinische Intervention oder auf einen systematischen Fehler zurückzuführen sein. Es existieren in der statistischen Diskussion mehrere Methoden, um zu einer Entscheidung zu gelangen, ob die gemessenen Unterschiede zwischen zwei Datensätzen auf dem Zufallsfehler beruhen. Ein Standardverfahren hierzu ist die Angabe des sogenannten p-Werts. Das P steht hierbei für „probability“ und zeigt ein Wahrscheinlichkeitsmaß an. Die Interpretation dieses Wertes ist jedoch nicht trivial, denn stets ist zu hinterfragen, auf Grund welcher Annahmen ein p-Wert bestimmt worden ist. Die ursprüngliche Definition des p-Werts geht auf Arbeiten des Statistikers Sir Ronald Aylmer Fisher in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts zurück. Fisher hat eine Lösung vorgeschlagen, um festzustellen, ob der Unterschied zwischen den Mittelwerten zweier Datensätze auf zufällige Variationen der Messungen zurückzuführen ist. Dieser Ansatz hat laut Fisher für alle diejenigen Messungen Gültigkeit, deren Mittelwerte der sog. „Normalverteilung“ folgen. Bei der Normal­ verteilung handelt es sich um das bekannte symmetrische „Glockenbild“ in einem x-y-Diagramm, das eine Spitze auf der y-Achse am Nullpunkt der x-Achse aufweist, die x-Achse niemals schneidet und dessen Fläche unter der Kurve auf 100 % standardisiert ist.124 Sind diese Grundannahmen für eine Messung gegeben, so lassen sich Mittelwerte zueinander in Verhältnis setzen. Aus der Normalverteilung folgt nämlich, dass sich ein gemessener Wert nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit um einen bestimmten Abstand vom „eigentlichen“ Mittelwert entfernt. Diese Entfernung wird durch die Standardabweichung angegeben. Beispielsweise befinden sich 95 % der Messwerte, die einer Normalverteilung folgen, innerhalb von zwei Standardabweichungen in beide Richtungen vom „wahren“ Mittelwert. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass 5 % aller Messwerte um mehr als zwei Standardabweichungen vom Mittelwert abweichen. Dieser Anteil an Werten, der eine bestimmte Anzahl von Standardabweichungen überschreitet, wird als p-Wert bezeichnet.125 Als Signifikanzschwelle, das heißt als hinreichende Grenze, damit ein Zufallsergebnis unwahrscheinlich ist, definiert Fisher die Grenze von p=0,05. Die Schwelle wird damit begründet, dass es „convenient convention“ bei einer Messung sei, ab einer Abweichung von mindestens zwei Standardabweichungen vom „wahren“ Mittelwert ein Zufallsergebnis auszuschließen.126 Diese Setzung wird im moderneren Schrifttum darauf zurückgeführt, dass die Berechnung der Standardabweichungen vor der Erfindung 124

S. exemplarisch die Abbildung und Beschreibung bei Freedman / Pisani / Purves, Statistics, 4. Aufl. 2007, S. 79. 125 Fisher, Statistical Methods for Research Workers, 5. Aufl. 1934, S. 113. 126 Fisher, Statistical Methods for Research Workers, 5. Aufl. 1934, S. 113.

B. Inhalt des Nutzenbegriffs

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leistungsfähiger Computer sehr aufwendig war, weshalb stets mit vorgefertigten Tabellen gearbeitet worden sei. Diese Tabellen hätten jedoch für die Berechnung der Wahrscheinlichkeit, dass ein Wert um eine bestimmte Anzahl von Standardabweichungen vom Mittelwert abweicht, nur bestimmte Intervalle wiedergegeben, nämlich 10 %, 5 % und 1 % sowie kleinere Werte. Daher habe es als vernünftiger Ansatz nahegelegen, den 5 %-Wert zu wählen.127 Angesichts des Umstands, dass dieser Methodik von Fisher die Annahme zugrunde lag, die Abweichung einer Messreihe von der Standardverteilung zu bestimmen, lag es nahe, dieses Verfahren allgemein auf den Vergleich von Messreihen anzuwenden. Dieser Ansatz ist insbesondere von Jerzy Neyman und Egon Pearson weiterentwickelt worden. Neyman und Pearson haben einen entscheidungstheoretisch inspirierten Ansatz aufgestellt. Sie gehen von einer sog. Nullhypothese H0 aus, die das Eintreten des Ereignisses E mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit beschreibt. Wenn die Richtigkeit dieser Hypothese statistisch geprüft wird, mag es immer vorkommen, dass das gefundene Ergebnis außerhalb der von der Hypothese benannten Spannbreite der erwartbaren Ergebnisse liegt. Diese Variationen der gemessenen Ergebnisse lassen sich durch statistische Verfahren in Bezug zur vermuteten Richtigkeit der Hypothese setzen, doch es verbleibt stets eine Unsicherheit; daher kann es vorkommen, dass es zu Fehlentscheidungen kommt. Diese Fehlentscheidungen können wie folgt aussehen: H0 kann abgelehnt werden, obgleich die Hypothese in Wirklichkeit zutrifft, oder aber H0 kann akzeptiert werden, obwohl sie in Wirklichkeit falsch und die Alternativhypothese Ht stattdessen wahr ist.128 Neyman und Pearson heben nun hervor, dass sich diese Irrtumsmöglichkeiten statistisch nicht ausschließen lassen; es sei lediglich die Entscheidung möglich, welchen dieser beiden Fehler man in einer Entscheidungssituation am stärksten vermeiden möchte.129 Der Fehler, die Hypothese H0 abzulehnen, obgleich sie in Wirklichkeit wahr ist, wird als Typ-I-Fehler oder als α-Fehler bezeichnet. Die andere Variante, dass H0 akzeptiert wird, obgleich sie in Wirklichkeit falsch ist, wird dementsprechend Typ-II-Fehler oder β-Fehler genannt.130 Auch für diese Fehler existieren Grenzwerte, die eine Signifikanzschwelle markieren. Der α-Fehler wird, dem p-Wert entsprechend, konventionsgemäß mit 0,05 oder 5 % angegeben, während für den β-Fehler regelmäßig ein Wert von 0,2 oder 20 % als Standard angesehen wird. Dabei ist zu beachten, dass der β-Fehler durch die Studiengröße kontrollierbar ist und unter anderem auch von der Effektstärke, d. h. dem Ausmaß und der Häufigkeit des

127

Freedman / Pisani / Purves, Statistics, 4. Aufl. 2007, S. 546. Neyman / Pearson, Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Series A 231 (1933), 289 (296). 129 Neyman / Pearson, Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Series A 231 (1933), 289 (296). 130 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 256. 128

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

Auftretens eines Erfolgs, abhängt.131 Je größer die Probandenzahl, desto geringer kann der β-Fehler gewählt werden. Allerdings ist es im Alltag klinischer Studien gängiger, einen β-Fehler von 10 % bis 20 % zu tolerieren und die Studiengröße so zu wählen, dass die erwarteten Ergebnisse innerhalb dieses Fehlerbereichs liegen. Diese erforderliche Studiengröße, um ein mit dem gewählten β-Fehler zu vereinbarendes Ergebnis zu erzielen, wird als „Power“ bezeichnet.132 Die Konsequenz hieraus ist, dass bei unzureichender Studiengröße oder bei Eintritt des β-Fehlers kein signifikantes Ergebnis beobachtet wird, obgleich nicht die Nullhypothese zutrifft, sondern die Alternativhypothese. Diese statistischen Instrumente sind anhand des Regelfalls der Normalverteilung von Messwerten entwickelt worden. Insbesondere die klassische Bestimmung des p-Werts setzt voraus, dass jedenfalls die Streuung der Mittelwerte der Hypothesen, die getestet werden, der Normalverteilung entspricht und kein atypischer Sonderfall vorliegt.133 Diese Limitierung verdeutlicht die besondere Bedeutung einer adäquaten statistischen Modellierung der erwarteten Studienergebnisse. Im weiteren Verlauf der statistikwissenschaftlichen Diskussion sind die Methoden und Verfahren jedoch soweit verfeinert worden, dass sie nach ihrer Selbstdarstellung unabhängig von der Verteilung der Daten geworden sind.134 Dies entbindet den Datenauswerter jedoch nicht von der Verantwortung, das jeweils zu den Daten passende statistische Modell auszuwählen, um unzutreffende statistische Resultate zu vermeiden.135 Als eine Reaktion auf die begrenzte Aussagekraft von Zahlen wie dem p-Wert und zur Vermeidung daraus resultierender Fehlinterpretationen werden zunehmend weitere Maße für den Aussagegehalt von Studiendaten verwendet. Ein weit verbreitetes Instrument ist das Konfidenzintervall.136 Dadurch wird die Variabilität der Messwerte angegeben, deren Grenzen gleichfalls durch einen Prozentwert markiert werden. Das in klinischen Studien zumeist verwendete Konfidenzintervall von 95 % greift den konventionellen p-Wert von 5 % auf und gibt somit an, welche Werte um zwei Standardabweichungen von dem Mittelwert abweichen. Diese Entfernung von zwei Standardabweichungen vom Mittelwert entspricht bei normal verteilten Daten der Grenze, innerhalb derer mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % die „wahre“ Spannbreite der Messwerte der Zielpopulation liegt.137 Dadurch wird nicht lediglich der p-Wert berichtet, sondern es wird aufgezeigt, welche Messwerte sich

131 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 257. 132 Schumacher / Schulgen, Methodik klinischer Studien, 2. Aufl. 2007, S. 173 f. 133 Fisher, Statistical Methods for Research Workers, 5. Aufl. 1934, S. 112. 134 Lumley / Diehr / Emerson / Chen, Annual Reviews Public Health 23 (2002), 151. 135 Mogie, Proceedings: Biological Sciences 271 (2004), S82. 136 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 235. 137 Gardner / Altman, BMJ 292 (1986), 746 (747); Freedman / Pisani / Purves, Statistics, 4. Aufl. 2007, S. 381.

C. Die Feststellung des Standes der medizinischen Erkenntnisse 

109

hinter der statistischen Signifikanz verbergen. Dies ermöglicht eine Abschätzung der klinischen Bedeutung von statistisch signifikanten Effekten für den klinischen Praktiker. Daneben haben Statistiker eine Vielzahl anderer Maßzahlen entwickelt, um die statistische Signifikanz von Daten zu testen.138

C. Die Feststellung des Standes der medizinischen Erkenntnisse Das bisher gezeichnete Bild skizziert die Medizin als eine hochdynamische Disziplin, die einem beständigen Wandel des Wissens und dessen praktischer Um­ setzung unterliegt. Die Medizin als Praxiswissenschaft muss dabei das sich beständig wandelnde naturwissenschaftliche Wissen über ihren Gegenstand, den menschlichen Organismus, in die Therapie von Patienten transformieren. Jeder „Stand der medizinischen Erkenntnisse“ kann daher nur vorläufig sein und muss sich mit neuem Wissen wandeln. In diesem Spannungsfeld hat die Medizin in Folge ihrer Fokussierung auf die Evidenzbasierung interne Verfahren entwickelt, um bestimmte Wissensbestände als jeweils gesicherten Erkenntnisstand zu identifizieren. Dies ist zum einen für die Praktiker der Medizin als weiteres Hilfsmittel zur Komplexitätsreduktion unerlässlich, zum anderen schafft es gleichzeitig Handlungssicherheit. Als Hauptinstrument zur Ermittlung des Standes der medizinischen Erkenntnisse dienen dabei MetaAnalysen und das systematische Review. Zusätzlich werden die Methoden, nach denen Studien und Reviews durchgeführt werden, im Rahmen von Peer-Reviews, Konferenzen und strukturierten Konsensfindungsverfahren etabliert. Nach diesen Verfahren gewonnenes Wissen aus einzelnen Studien, Reviews und Meta-Analysen wiederum wird in Formen von Konsensuskonferenzen und im Rahmen der medizinischen Fachgesellschaften in Leitlinien umgesetzt.

I. Meta-Analysen und systematische Reviews Meta-Analysen sind erneute Auswertungen von Ergebnissen bereits durchgeführter Studien.139 Die dafür verwendeten Daten können entweder die Ergebnisse von Studien oder die Rohdaten von publizierten oder unveröffentlichten Studien 138 Für einen Überblick s. Bender / Lange / Ziegler, DMW 132 (2007), e24 f.; Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 227 ff.; Lumley / Diehr / Emerson / Chen, Annual Reviews Public Health 23 (2002), 151  (152 ff.); Schumacher / Schulgen, Methodik klinischer Studien, 2. Aufl. 2007, S. 47 ff. 139 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 283.

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

sein. Durch die Einbeziehung mehrerer Studien entsteht eine breitere Datenbasis für die Analyse, die rechnerisch einer größeren Fallzahl entspricht, sodass Kausaleffekte statistisch besser korreliert und teilweise erstmalig identifiziert – oder widerlegt – werden können.140 Von den Meta-Analysen werden die systematischen Reviews unterschieden. Dabei handelt es sich um strukturierte Literaturübersichten nach bestimmten fachlichen Standards, die relevante Studien zu einer bestimmten Fragestellung identifizieren, bewerten und zusammenfassen.141 Im Unterschied zur Meta-Analyse werden die Daten aus den Studien jedoch grundsätzlich nicht statistisch zusammengerechnet, sondern lediglich dargestellt und jeweils für sich bewertet.142 Es haben sich allerdings mehrere Organisationen herausgebildet, die die Verfahren der Meta-Analyse und des systematischen Reviews miteinander verbinden und so die Daten der in das Review einbezogenen Studien statistisch auswerten. Die bekannteste Organisation ist die Cochrane Collaboration. Als wesentliches Motiv für die Erstellung von systematischen Reviews wird in der medizinischen Profession auch die beschränkte Lesezeit von Ärzten, Wissenschaftlern und Entscheidungsträgern bezeichnet, sodass die Wahrnehmung aller relevanten Einzelstudien praktisch kaum zu erwarten ist.143 Auf diese Weise bildet die medizinische Profession eigene Methoden und Verfahren heraus, um das generierte Wissen verfügbar zu halten bzw. überhaupt erst für Entscheidungsprozesse verfügbar zu machen. Das Verfahren der systematischen Reviews wird in einen Gegensatz zum narrativen Review gesetzt.144 Unter dem Begriff des narrativen Reviews wird das Verfahren verstanden, dass klinische Studien, die zur Beantwortung einer Fragestellung relevant sein können, einzeln und teilweise nach Zufallsgesichtspunkten gesucht werden, um sodann einzeln bewertet und zur Grundlage für Entscheidungen oder Empfehlungen gemacht zu werden.145 Diese Art der Rezeption und Publikation von Wissen ist jedoch stark von der Vollständigkeit und Qualität der Such- und Bewertungsstrategien des einzelnen Autors abhängig. Insbesondere angesichts der Fülle medizinischer Publikationen kann ein solches narratives Verfahren keine hinreichende Ergebnisgüte garantieren. Zudem legt ein narratives Review auch nicht offen, auf welche Weise die verwendeten Primärquellen gesucht und identi-

140 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 282; DerSimonian / Laird, Controlled Clinical Trials 7 (1986), 177. 141 Khan / Kunz / Kleijnen / Antes, Systematische Übersichten und Meta-Analysen, 2004, S. 2; Siegrist, Medizinische Soziologie, 6. Aufl. 2005, S. 140. 142 Siegrist, Medizinische Soziologie, 6. Aufl. 2005, S.  140; Trampisch / Windeler, Medizinische Statistik, 1997, S. 325. 143 Schumacher / Schulgen, Methodik klinischer Studien, 2. Aufl. 2007, S. 151. 144 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 281; Greenhalgh, Einführung in die Evidence-based Medicine, 2. Aufl. 2003, S. 153. 145 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 281.

C. Die Feststellung des Standes der medizinischen Erkenntnisse 

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fiziert worden sind.146 Dadurch sind entscheidende Kriterien für die Bewertung der Qualität einer solchen Review-Arbeit nicht nachprüfbar.147 Anders als Leitlinien werden Meta-Analysen und systematische Reviews nicht notwendigerweise von bestimmten Organisationen oder organisierten Zusammenschlüssen von forschenden oder praktizierenden Medizinern durchgeführt. Diese Instrumente der Bündelung des Standes der Erkenntnisse zu einer bestimmten Forschungsfrage oder auch die aufbauende Forschung durch Meta-Analysen auf Grund vorhandener Daten werden typischerweise von einzelnen Forschungseinrichtungen, insbesondere an Universitäten, angewendet. Daneben existieren jedoch auch auf systematische Reviews spezialisierte Zentren, wie z. B. die Cochrane Collaboration. Die Cochrane Collaboration ist ein internationales Netzwerk rechtlich voneinander unabhängiger Zentren, die nach einer einheitlichen Methodik systematische Reviews durchführen, die auf Meta-Analysen beruhen.148 Die Cochrane Collaboration hat ihren Anfang mit einem Forschungszentrum an der Universität Oxford in Großbritannien genommen, das nach Archibald Cochrane, einem Pionier der Public Health-Forschung und der evidenzbasierten Medizin, benannt worden ist.149 Dieses Zentrum war von Anfang an darauf ausgerichtet, ein internationales Netzwerk ähnlich arbeitender Zentren zu etablieren.150 Neben der Veröffentlichung systematischer Reviews trägt die Cochrane Collaboration durch die Veröffentlichung von eigenen methodischen Anleitungen zur Durchführung systematischer Reviews und Meta-Analysen maßgeblich zur Verbreitung ihres methodischen Ansatzes bei.151 Auch Meta-Analysen und systematische Reviews unterliegen bestimmten Beschränkungen bezüglich ihrer Aussagekraft. Diese Beschränkungen haben ihrerseits wiederum methodische Gründe. Eine erhebliche Schwierigkeit bei der Arbeit mit veröffentlichten Daten besteht darin, dass die Chancen einer klinischen Studie, in einem anerkannten Journal veröffentlicht zu werden, nicht allein von ihrer Qualität abhängen, sondern ihrerseits einer Verzerrung unterliegen, dem sog. „Publication Bias“. Das viel diskutierte Phänomen des Publication Bias basiert auf der empirisch vielfach untersuchten Beobachtung, dass solche Publikationen eher veröffentlicht werden, die positive Ergebnisse darstellen.152 Demgegenüber 146 Droste / Lühmann, in: Perleth et al. (Hr.), Health Technology Assessment, 2. Aufl. 2014, S. 170. 147 Droste / Lühmann, in: Perleth et al. (Hr.), Health Technology Assessment, 2. Aufl. 2014, S. 170. 148 Ihle, Ärztliche Leitlinien, 2007, S. 23 ff.; Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 284. 149 Schumacher / Schulgen, Methodik klinischer Studien, 2. Aufl. 2007, S. 152 f.; Silverman, Where’s the Evidence, 1998, S. 40. 150 Silverman, Where’s the Evidence, 1998, S. 40. 151 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 284, der auch seinerseits dieser Methodik weitgehend folgt. 152 Mahoney, Cognitive Therapy and Research 1 (1977), 5 (169 ff.); Simes, Journal of Clinical Oncology 4 (1986), 1529; Godlee / Dickersin, Bias, subjectivity, chance, and conflict of interest

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

haben Studien, die keine eindeutigen oder aber negative Ergebnisse zeigen, größere Schwierigkeiten, in einer wahrnehmbaren Zeitschrift zu erscheinen.153 Der Publication Bias verzerrt nicht nur das Wissen über die Effekte medizinischer Informationen, sondern führt zusammen mit dem „Retrieval Bias“, der erhöhten Schwierigkeit, nicht hochrangig veröffentlichte Studien aufzufinden, zu Verzerrungen in Meta-Analysen und systematischen Reviews.154 Ferner bereitet die studienübergreifende Auswertung von Daten methodische Schwierigkeiten,155 da beispielsweise die Vergleichbarkeit der zugrunde liegenden Interventionen in den Studien oder der Effektmaße nicht stets gesichert bzw. belegt werden kann.156 Eine weitere Voraussetzung für die studienübergreifende Erfassung und Auswertung von Daten besteht darin, dass die Ergebnisse in einer vergleichbaren Weise dargestellt sein müssen, beginnend mit den unterschiedlichen Probandengruppen über den Verlauf der klinischen Studie bis hin zu den Resultaten.

II. Konsensfindung über die methodischen Grundlagen Wie sich gezeigt hat, bedarf die neue Wirklichkeit der evidenzbasierten Medizin einer bestimmten Methode des Umgangs mit den Quellen des Wissens. Die Qualität der unterschiedlichen Studientypen muss bewertet, die Ergebnisse interpretiert und zur Grundlage von medizinischen Entscheidungen und weiterer Forschung gemacht werden. In der medizinischen Profession haben sich für diese Aufgaben netzwerkartig organisierte Gruppen herausgebildet, die auf unterschiedlichen Wegen Einfluss auf die Rezeption des beständig generierten Wissens nehmen. Eine Schlüsselposition nimmt ein Netzwerk ein, das über den Zugang der Wissenschaftler zu den maßgeblichen Publikationsorganen entscheidet. Die Herausgeber der angesehensten medizinischen Fachzeitschriften haben sich 1978 in der sog. „Vancouver-Gruppe“ zusammengeschlossen.157 Dieses Netzwerk der Fachzeitschriftenherausgeber hat sich ursprünglich als Arbeitsgruppe gegründet, um ein einheitliches Format für Manuskripte, die bei den Zeitschriften eingereicht wurden, zu vereinbaren.158 Mittlerweile hat die Arbeit der Vancouver-Gruppe, die nunmehr in editorial decisions, in: Godlee / Jefferson (Hr.), Peer Review in Health Sciences, 1999, S. 57 (68 ff.); Schumacher / Schulgen, Methodik klinischer Studien, 2. Aufl. 2007, S. 144; Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 287; Droste / Lühmann, in: Perleth et al. (Hr.), Health Technology Assessment, 2. Aufl. 2014, S. 198. 153 Droste / Lühmann, in: Perleth et al. (Hr.), Health Technology Assessment, 2. Aufl. 2014, S. 198. 154 Droste / Lühmann, in: Perleth et al. (Hr.), Health Technology Assessment, 2. Aufl. 2014, S. 199. 155 Schumacher / Schulgen, Methodik klinischer Studien, 2. Aufl. 2007, S. 135 ff. 156 Elwood, Critical Appraisal of Epidemiological Studies and Clinical Trials, 3. Aufl. 2007, S. 298 ff. 157 International Committee of Medical Journal Editors, Pathology (1997), 441. 158 International Committee of Medical Journal Editors, Pathology (1997), 441.

C. Die Feststellung des Standes der medizinischen Erkenntnisse 

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unter dem Namen „International Committee of Medical Journal Editors“ (ICMJE) firmiert,159 diese technisch-koordinierende Ebene verlassen und geht in inhaltliche Anforderungen an die Manuskripte über.160 Die inhaltlichen Anforderungen sind dabei nicht nur auf das Verfassen der Arbeiten als solches beschränkt, sondern greifen in den inhaltlichen Teil der Forschungsarbeit über. Damit eine Forschungsarbeit publiziert werden kann, müssen die Autoren im Manuskript darlegen, ob bzw. inwieweit sie die Deklaration von Helsinki in der Version von 2013 beachtet haben,161 dass sie ein Ethikvotum und die erforderlichen Einwilligungserklärungen der Probanden eingeholt haben162 und dass der Bericht über das Studiendesign und die Studiendurchführung den Anforderungen entspricht, die wiederum von bestimmten externen Standards gefordert werden. Diese Standards sind das CONSORT-Statement, das STROBE-Statement, die PRISMA-Regeln, die STARD-Regeln sowie Standards des EQUATOR-Netzwerks.163 Diese Standards und Regelwerke sind ihrerseits von privaten, professionsangehörigen Netzwerken beschlossen worden. Es ist bemerkenswert, dass diese Anforderungen an die Manuskripte des ICMJE im Wege der Selbstkontrollmechanismen der Fachwissenschaft durchgesetzt werden können. Zu diesem Zweck wird insbesondere das sog. Peer-Review eingesetzt, das dazu dient, eine methodische Kontrolle der eingereichten Manuskripte durchzuführen. Das System der Peer-Reviews basiert auf dem Konzept, dass Aufsätze erst von Fachkollegen in zumeist anonymisierter Form geprüft werden sollen, bevor sie veröffentlicht werden. Es handelt sich dabei um ein Selbstkontrollsystem innerhalb der Wissenschaft,164 das jedoch ungeachtet seiner Verbreitung beständig in der Kritik steht.165 Das ICMJE hat keine eigene Entscheidungskompetenz im herkömmlichen Sinne, um die eigenen Politiken durchzusetzen. Allerdings ist vorgesehen, dass die Empfehlungen des ICMJE im Wege der Selbstverpflichtung durch die Mitglieder, die 159

S. die Website unter www.icmje.org (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). Alfonso / Bermejo / Segovia, Rev Esp Cardiol 57 (2004), 592; Brand, Clinical Orthopaedics and Related Research 467 (2009), 1393 f. 161 International Committee of Medical Journal Editors, Recommendations for the Conduct, Reporting, Editing, and Publication of Scholarly Work in Medical Journals, Updated December 2016, S.  7 (verfügbar unter http://www.icmje.org/icmje-recommendations.pdf, zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 162 International Committee of Medical Journal Editors, Recommendations for the Conduct, Reporting, Editing, and Publication of Scholarly Work in Medical Journals, Updated December 2016, S.  7 (verfügbar unter http://www.icmje.org/icmje-recommendations.pdf, zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 163 International Committee of Medical Journal Editors, Recommendations for the Conduct, Reporting, Editing, and Publication of Scholarly Work in Medical Journals, Updated December 2016, S. 13 (verfügbar unter http://www.icmje.org/icmje-recommendations.pdf, zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 164 Hirschauer, Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), 62 (63). 165 Für einen Überblick s. Hirschauer, Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), 62 (64 ff.). 160

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

Herausgeber der medizinischen Fachzeitschriften, umgesetzt werden. Zusätzlich werden die Verfasser von Peer Reviews dazu angehalten, die Empfehlungen des ICMJE sowie die einschlägigen, von dieser Gruppe als verbindlich angesehenen Standards z. B. der CONSORT-Arbeitsgruppe bei der Durchführung eines Peer Review anzuwenden.166 Auf diesem Wege werden die entsprechenden Standards über den Weg der professionellen Anerkennung von Bewertungen und Entscheidungen für verbindlich erklärt. Die am weitesten verbreiteten Standards für die Aufbereitung und Darstellung von Studienergebnissen wie das CONSORT-Statement, das STROBE-Statement, die PRISMA-Regeln, die STARD-Regeln sowie weitere Publikationsleitlinien waren ursprünglich lediglich als eine Hilfestellung für Autoren und Peer-Reviewer gedacht, um die strukturierte Darstellung der Studienergebnisse zu unterstützen und dadurch zugleich eine Vergleichbarkeit von publizierten Studien zu befördern.167 Sobald jedoch die Einhaltung derartiger Empfehlungen im Sinne einer Checkliste gefordert wird, können bestimmte Studientypen und -inhalte benachteiligt werden.168 In der medizinischen Profession ist die flächendeckende Verbreitung dieser Standards jedenfalls für Publikationen in angesehenen Zeitschriften mittlerweile erfolgt. Dementsprechend hat sich ein Netzwerk von Autoren dieser methodischen Standards, das EQUATOR-Netzwerk, herausgebildet. Zunächst hat das EQUATOR-Netzwerk die verschiedenen Leitlinien zur Publikation unterschiedlicher Studientypen lediglich gesammelt und somit die Zugänglichkeit dieser Quellen sichergestellt. Mittlerweile geht das EQUATOR-Netzwerk jedoch stärker zu weiteren Mechanismen der Verbreitung der Publikationsstandards über, beispielsweise durch Workshops für Zeitschriftenherausgeber und Wissenschaftler oder die Entwicklung von Bewertungstools für bei Zeitschriften eingereichte Manuskripte.169 Die Aktivitäten, insbesondere die veröffentlichten Berichte und Methodenbeschreibungen von Forschungszentren und Netzwerken wie der Cochrane Colla­boration tragen ebenfalls zu einer Konsensbildung über die methodischen Grundlagen zur Feststellung des Standes der medizinischen Erkenntnisse aus medizinischer Sicht bei. Dies ist von besonderer Bedeutung, da es im gegenwärtigen medizinischen Paradigma der evidenzbasierten ärztlichen Behandlung und Gesundheitsversorgung keinen fixierten Stand der Erkenntnisse geben kann.170 166 International Committee of Medical Journal Editors, Recommendations for the Conduct, Reporting, Editing, and Publication of Scholarly Work in Medical Journals, Updated December 2016, S. 1 f. (verfügbar unter http://www.icmje.org/icmje-recommendations.pdf, zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 167 Meerpohl / Blümle / Antes / Elm, DMW 134 (2009), 2078; Vandenbroucke, J Clin Epidemiol 62 (2009), 594. 168 Meerpohl / Blümle / Antes / Elm, DMW 134 (2009), 2078 (2082); Vandenbroucke, J Clin Epidemiol 62 (2009), 594 (595). 169 Simera et al., BMC Medicine 8 (2010), 24. 170 Vgl. Thyer, What is Evidence-based Practice?, in: Roberts / Yeager (Hr.), Foundations of Evidence-Based Social Work Practice, 2006, S. 35 (36).

C. Die Feststellung des Standes der medizinischen Erkenntnisse 

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III. Leitlinienbildung Insbesondere für klinisch tätige Ärzte verbleibt die Schwierigkeit, aus den Ergebnissen der evidenzbasierten Medizin therapeutische Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Besonders deutlich wird dieses Translationsproblem an der bereits diskutierten Unterscheidung der internen und externen Validität von Studienergebnissen. Die externe Validität, also die Reproduzierbarkeit der Studienergebnisse im Behandlungsalltag, leidet nicht nur unter der Kooperationsbereitschaft und Disziplin der Patienten, sondern ebenfalls unter den Ressourcen der behandelnden Ärzte. Nicht nur das Fehlen insbesondere hochtechnologischer Diagnose- und Behandlungsverfahren in vielen Kliniken und Arztpraxen behindert die praktische Umsetzung von neuen medizinischen Erkenntnissen, sondern auch die begrenzte Möglichkeit seitens der Ärzte, sich das neu verfügbare Wissen handlungsleitend anzueignen.171 Neben diese praktischen Umsetzungsprobleme treten mehrere theoretische Probleme. Die Publikationen von Studien in medizinischen Fachzeitschriften können häufig nur intraprofessionelle Diskussionsprozesse anstoßen. Nur selten ist ein Studien­ergebnis so eindeutig, dass sofort neue Behandlungsentscheidungen aus der Studie resultieren. Viel häufiger ist der Fall, dass durch die Vielzahl der durchgeführten und veröffentlichten Studien langsam ein Bild von dem Nutzen einer Behandlungsmöglichkeit entsteht. Systematische Reviews und Meta-Analysen bündeln und systematisieren die vorhandene Studienlage und bereiten somit das potentiell verfügbare Wissen so auf, dass es für Entscheidungsträger einschließlich behandelnder Ärzte handhabbar, d. h. praktisch anwendbar wird. Dennoch beschränken sich diese Instrumente vornehmlich auf die Wiedergabe oder Bündelung von statistischen Daten aus klinischen Studien. Daraus ergeben sich noch keine therapeutisch relevanten Schlussfolgerungen für Behandlungsverläufe. Diese Lücke zu überbrücken ist die Zielsetzung von Leitlinien. Darunter werden systematisch entwickelte Entscheidungshilfen für Ärzte verstanden, die auf der Grundlage wissenschaftlicher Evidenz und Praxiserfahrung zu speziellen Versorgungsproblemen unter Abwägung von Nutzen und Schaden verschiedener Handlungsoptionen Empfehlungen abgeben.172 Ein wesentliches Instrument des medizinischen Lernens – aber auch der medizi­ nischen Normierung – sind ärztliche Leitlinien. Es handelt sich dabei um „systematisch entwickelte Entscheidungshilfen für Ärzte über die angemessene ärzt-

171 Sackett / Straus / Richardson / Rosenberg / Haynes, Evidence-Based Medicine, 2. Aufl. 2000, S. 2 f., 29 ff. 172 Ollenschläger / Kirchner / Fiene, Internist 42 (2001), 473; Kopp / Selbmann / Koller, ZaeFQ 101 (2007), 89 (95); Lelgemann / Ollenschläger, Internist 47 (2006), 690; Kunz et al., Von der Evidenz zur Empfehlung, in: Kunz / Ollenschläger / Raspe / Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, 2. Aufl. 2007, S. 231 ff.

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

liche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen“.173 Sie wirken dadurch sowohl deskriptiv als auch normativ.174 Leitlinien können also beschreiben bzw. zusammenfassen, was nach ärztlicher Sichtweise das angemessene Vorgehen zur Behandlung einer bestimmten – vertypten – Symptomatik darstellt. Diese Beschreibung kann jedoch stets nur die Perspektive der Leitlinienautoren wieder­ geben. Inwieweit sie dadurch auch im juristischen Sinne normativ wirken, also ein bestimmtes ärztliches Handeln als rechtlich gesollt bewerten, ist dadurch noch nicht entschieden.175 Insbesondere sind die „Subsumtion“ eines Patienten unter die Leitlinien und die Feststellung, ob die Leitlinien dem medizinischen Erkenntnisstand entsprechen, weiterhin Aufgabe des behandelnden Arztes.176 Während systematische Reviews und Meta-Analysen von einzelnen Wissenschaftlern oder von Forschergruppen erstellt werden, handelt es sich bei den Autoren von Leitlinien vielfach um Arbeitsgruppen innerhalb der medizinischen Fachgesellschaften. Es gibt jedoch keinen abgegrenzten Kreis von Leitlinienautoren. Leitlinien werden zudem auf allen Ebenen erstellt, sodass es internationale und nationale Leitlinien, regionale Leitlinien sowie einrichtungsinterne Leitlinien gibt. Diese Pluralität hat zur Entwicklung von Bewertungskriterien für Leitlinien geführt. Auch insoweit herrscht eine Pluralität der Kriterienkataloge; weit verbreitet sind die europäische AGREE-Checkliste und das deutsche DELBI-Instrument.177 In der deutschen Diskussion ist ein dreistufiges Klassifikationssystem für Leitlinien am stärksten verbreitet. Es geht zurück auf eine Einteilung durch die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).178 Auf der ersten und in Hinblick auf die Validität der Leitlinie untersten Stufe (S 1) befindet sich die Expertengruppe. Werden die Ergebnisse einer solchen Expertengruppe in einem Konsensfindungsverfahren beraten, das bestimmten formalen Anforderungen entspricht, kann die Leitlinie auf der zweiten Stufe (S 2) verortet werden. Die dritte und höchste Stufe (S 3) stellt neben Verfahrensanforderungen auch inhaltliche Kriterien bereit, an denen eine Leitlinie zu messen ist, um diesen Gütegrad zu erreichen.179

173 Ollenschläger / Thomeczek, ZaeF 90 (1996), 347; entspr. Ihle, Ärztliche Leitlinien, 2007, S. 70. 174 Hart, MedR 1998, 8 (10). 175 S. nur Hase, GesR 2012, 268 (602); Hart, VSSR 2002, 265 (276 ff.). 176 Hart, VSSR 2002, 265 (276). 177 Überblick bei Thole / Thalau / Ollenschläger / Kopp / Lelgemann, Kritische Bewertung von Leitlinien, in: Kunz / Ollenschläger / Raspe / Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin, 2. Aufl. 2007, S. 177 ff. 178 Ihle, Ärztliche Leitlinien, 2007, S. 71. 179 Kopp / Encke / Lorenz, Bundesgesundheitsblatt 45 (2002), 223 (225 ff.); Thole / Thalau / Ollenschläger / Kopp / Lelgemann, Kritische Bewertung von Leitlinien, in: Kunz / Ollenschläger /  Raspe / Jonitz / Donner-Banzhoff (Hr.), Lehrbuch Evidenz-basierte Medizin, 2. Aufl. 2007, S. 177 (178 ff.).

D. Zwischenergebnis

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Die Medizin hat sich auf diesem Wege eigene Meta-Regeln zur Verarbeitung des unüberschaubaren Wissensbestandes gegeben, die beständig weiterentwickelt und angepasst werden. Mit dem Konzept des wissenschaftlichen Fortschritts von Kuhn ist somit zu keinem Zeitpunkt von einem allseits konsentierten Wissensbestand auszugehen, sondern es finden sich stets Mindermeinungen neben dem herrschenden Paradigma, es sind Widersprüche und offene Fragen zu erkennen, die auf Erörterung warten oder auch auf einen Paradigmenwechsel weisen.180 Vor diesem Hintergrund stellen Leitlinien eine wichtige Brücke zwischen dem Programm der evidenzbasierten Medizin und den Zwängen des Behandlungsalltags dar, indem sie für den Regelfall Empfehlungen auf der Grundlage der besten verfügbaren Evidenzen zur Verfügung stellen. Die Leitlinien unterliegen ihrerseits professionsinternen Verfahren der Qualitätskontrolle. Sie sind nicht nur dem intraprofessionellen Diskurs und dadurch der Kritik ausgesetzt, sondern sind auch Gegenstand von Evaluationsverfahren. Die AWMF hat eigene Leitlinien zur Leitlinienerstellung entworfen.181 Ferner haben die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung bereits 1995 das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) gegründet, das seit 1999 als Clearingstelle für Leitlinien fungiert.182 Diesem Clearingverfahren sind weitere Organisationen im Gesundheitswesen beigetreten, z. B. der Verband der Privaten Krankenversicherung und der frühere Verband Deutscher Rentenversicherungsträger.183 Das Clearingverfahren hat zum Inhalt, nationale und internationale Leitlinien zu evaluieren, um auf der Basis dieser Ergebnisse ggf. die Erstellung neuer Leitlinien unterstützen zu können.184

D. Zwischenergebnis Die medizinische Wissenschaft und Praxis befinden sich in einem grundlegenden Selbsttransformationsprozess, dessen Ende noch nicht absehbar ist. Der in der Medizingeschichte bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert erkennbare Widerstreit zwischen einer szientistischen und einer praktischen Selbstbeschreibung der Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten auf die Ebene der Selbstbeobachtung der Medizin verschoben und wird unter dem Schlagwort der evidenzbasierten Medizin diskutiert. Aktuell lässt die Diskussion innerhalb der Medizin ein Überwiegen des szientistischen Konzepts auf der Beobachtungsebene erkennen; ob dieser Zustand von Dauer ist, lässt sich angesichts der Verbreitung naturheilkundlicher 180

Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 37 ff., 91. Ihle, Ärztliche Leitlinien, 2007, S. 72. 182 Franzen / Kroegel, Pneumologie 58 (2004), 835 f.; Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung, DÄBl 1999, A-2105 f. 183 Ihle, Ärztliche Leitlinien, 2007, S. 73. 184 Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung, DÄBl 1999, A-2105 f.; Franzen / Kroegel, Pneumologie 58 (2004), 835 f.; Ihle, Ärztliche Leitlinien, 2007, S. 74. 181

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3. Kap.: Nutzenbewertung in der Medizin

und alternativmedizinischer Konzepte auch in der ärztlichen Praxis nicht sicher sagen. Die evidenzbasierte Medizin hat als handlungspraktische Anleitung zur kritischen Reflexion überkommener Behandlungstraditionen begonnen, sie sollte als Handreichung zur Identifizierung der besten ärztlichen Praxis im konkreten Behandlungsfall dienen. Schnell hat sie sich jedoch als epistemologisches Prinzip etabliert, dass nämlich – in der stärksten Formulierung – nur solche therapeutischen Methoden einen Nutzen besitzen, die sich in methodisch hochwertigen klinischen Studien bewiesen haben. Die Kritik einer Behandlung hat sich auf die Ebene der Methodenkritik verschoben: Entsprechen die klinischen Studien nicht den methodischen Anforderungen, dann kann kein Nutzen beansprucht werden. Darin zeigt sich die Operationalisierung szientistischer Konzepte auf der zweiten Ebene der Selbstbeobachtung der Medizin, nämlich der Beobachtung ihrer Verfahren und Methoden zur Heilbehandlung der Patienten. Die Instrumente der Medizin zur Selbstbeobachtung sind überwiegend Fachaufsätze in hochrangigen Fachzeitschriften mit Peer-Review. Die Herausgeber dieser Zeitschriften definieren die methodischen Standards, denen die Publikationen genügen müssen. Die Reviewer der eingereichten Fachaufsätze ziehen diese Standards und daneben die methodischen Standardbeschreibungen zu Rate, die andere Gremien erarbeitet haben. In diesen Gremien versammeln sich Methodiker und Experten des jeweiligen Fachgebiets. Die medizinische Anerkennung der Ergebnisse hängt daher zentral von der methodischen Güte der Durchführung von Experimenten, insbesondere der Qualität der Kontrollgruppenbildung und der Einhaltung der experimentellen Standards, ab. Dadurch verschiebt sich der Fokus der medizinischen Bewertung eines therapeutischen Verfahrens von der Wirksamkeit im Einzelfall auf eine statistische Analyse der gemessenen Effekte im Vergleich zur Alternativbehandlung in der Kontrollgruppe, bei der es sich auch um Placebo handeln kann. Insbesondere die Pluralität der methodischen Standards, die über einen geteilten Kern verfügen und sich in mal mehr, mal weniger großen Einzelheiten unterscheiden, und die Vielfalt der Verfahren der Standardbildung reflektieren einen permanenten Diskursprozess in der Medizin. Die evidenzbasierte Medizin erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als ein Katalog an Methoden der Erkenntnisgenerierung, sondern als Sammelbegriff für eine Perspektive auf die Medizin, die sich an Beobachter zweiter Ordnung im System der Medizin richtet. Sie ist aus der Binnenperspektive der Medizin nicht als einheitlicher, homogener Kriterien- oder Methodensatz zu verstehen.

4. Kapitel

Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung Das Arzneimittelrecht beschäftigt sich im Kern mit der Überwachung von Medikamenten, die innerhalb des Medizinsystems als Bestandteil einer Heilbehandlung eingesetzt werden sollen. Damit das Arzneimittelrecht diese Aufgabe zweckmäßig erfüllen kann, ist es auf eine enge Wechselwirkung mit der Medizin angelegt. Nicht nur aus funktionaler Sicht ist ein effektiver Diskurs zwischen Medizin und Recht in diesem Sinne geboten, sondern das Arzneimittelrecht verwendet zugleich eine Vielzahl an Begriffen, die auf medizinische Inhalte verweisen, wie der Nutzenbegriff illustriert. Im Folgenden wird untersucht, wie diese Rezeption medizinischen Wissens im Arzneimittelzulassungsverfahren strukturiert ist und welche Erkenntnisse das Recht durch die Anknüpfung an die Medizin zu gewinnen sucht. Zunächst werden die Entwicklung des Arzneimittelrechts und seine Verflechtung mit europäischen Rechtsetzungsprozessen skizziert. Im Anschluss werden das Arzneimittelzulassungsverfahren und insbesondere der Nutzenbegriff im AMG dargestellt. Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Erzeugung der medizinischen Erkenntnisse im Stadium vor der Zulassungsentscheidung und der Frage, welche Anforderungen das AMG an Nutzen und Risiko stellt. Ferner werden Aufgabe und Funktionsweise der Überwachung von Arzneimitteln nach Zulassungserteilung im Wege des Pharmakovigilanzsystems dargestellt, wodurch sich ein umfassendes Bild der Funktionsweise des Arzneimittelüberwachungsrechts ergibt.

A. Rechtsquellen des Arzneimittelrechts Das heutige Arzneimittelrecht basiert auf Rechtsquellen, die allen Ebenen des globalen Rechtssystems entstammen. Das deutsche Arzneimittelgesetz bildet lediglich eine mittlere Ebene der Normierung. Unter ihm stehen Rechtsverordnungen, die auf seiner Grundlage erlassen worden sind und Einzelheiten des Umgangs mit Arzneimitteln vor und nach der Zulassung regeln. Oberhalb der deutschen Normierung stehen europäische Rechtsnormen und Regeln, die im europäischen Gesetzgebungsverfahren erlassen sowie von der EU-Kommission oder der Europäischen Arzneimittelagentur EMA gesetzt werden. Zusätzlich entstammen Rechtsnormen sowohl auf der europäischen als auch der deutschen Ebene einem transnationalen Standardsetzungsprozess in der ehemaligen International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

for Human Use (ICH), die nunmehr unter dem Namen International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use firmiert.

I. Historischer Überblick Dass es überhaupt ein Zulassungsrecht mit obligatorischer Prüfung der Sicherheit, Qualität und auch Wirksamkeit eines Arzneimittels gibt, ist ein relativ junges Phänomen. Erst 1976 wurde eine entsprechende Reform der Arzneimittelregulierung Gesetz. Es war ein längerer gesellschaftlicher Lernprozess, bis überhaupt die Notwendigkeit erkannt wurde, arzneilich wirkende Produkte einer näheren Prüfung zu unterziehen.1 Bis 1961 war außerhalb von Apotheken ausschließlich der Arzneimittelverkehr, also der Handel mit Arzneimitteln gesetzlich geregelt.2 Das erste Arzneimittelgesetz in Deutschland führte eine behördliche Erlaubnis für die Herstellung von Arzneimitteln sowie eine Produktkennzeichnungs- und Registrierungspflicht ein. Eine unabhängige Prüfung der Arzneimittel selbst war dagegen nicht vorgesehen.3 Nachdem 1961, kurz nach Inkrafttreten des ersten Arzneimittelgesetzes, die Schädigungen von ungeborenen Kindern durch das Schlafmittel Contergan publik wurden,4 führte der Gesetzgeber 1964 die Zulassungspflicht für Arzneimittel ein. Es bestand nun die Möglichkeit, einem Arzneimittel den Marktzugang zu versagen, wenn die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht hinreichend belegt worden waren. Allerdings erfasste diese Regelung zunächst nicht alle Arzneimittel. Erst 1976 wurde eine umfassende Novellierung Gesetz, die alle neuen Arzneimittel unter den Vorbehalt einer Zulassung nach ausführlicher Prüfung der Unterlagen des Herstellers stellte. Gleichzeitig stellte diese Neuregelung die Arzneimittelsicherheit in den Vordergrund der gesetzlichen Regelung, programmatisch hervorgehoben in § 1 AMG.5 1

Für einen umfassenden historischen Überblick s. Rotthege, Die Entstehung des Arzneimittelgesetzes vom 16. Mai 1961, 2011, insb. S. 107 ff. zur Entstehung des ersten Arzneimittelgesetzes von 1961. 2 Murswieck, Die staatliche Kontrolle der Arzneimittelsicherheit in der Bundesrepublik und den USA, 1983, S. 267 f. 3 Dieners / Heil in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 1 Rn. 19; Murswieck, Die staatliche Kontrolle der Arzneimittelsicherheit in der Bundesrepublik und den USA, 1983, S. 284; Scheu, In Dubio Pro Securitate, 2003, S. 734 f. Zur Vorgeschichte und Entwicklung dieses Gesetzes, das in seiner ersten Entwurfsfassung auf einen Gesetzentwurf der Arbeitsgemeinschaft Pharmazeutische Industrie zurückging, Murswieck, Die staatliche Kontrolle der Arzneimittelsicherheit in der Bundesrepublik und den USA, 1983, S. 280 ff.; sowie im Detail Rotthege, Die Entstehung des Arzneimittelgesetzes vom 16. Mai 1961, 2011, S. 109 ff. 4 S. überblicksartig Maio, DMW 126 (2001), 1183 ff.; Dieners / Heil, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 1 Rn.  20 ff.; Beyer, Grenzen der Arzneimittelhaftung, 1989, S. 1 ff.; s. a. LG Aachen, JZ 1971, 507 (510 ff.). 5 Murswieck, Die staatliche Kontrolle der Arzneimittelsicherheit in der Bundesrepublik und den USA, 1983, S. 288; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 167; Scheu, In Dubio Pro Securitate, 2003, S. 749 f.

A. Rechtsquellen des Arzneimittelrechts

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Die EU hat 1965 begonnen, Vorschriften für die Arzneimittelzulassung zu erlassen. Auf der Grundlage eines Kommissionsvorschlags aus dem Jahr 1962 wurde die Richtlinie 65/65/EWG6 beschlossen, die ebenfalls auf den Contergan-Skandal zurückgeführt wird.7 Diese Richtlinie verpflichtete die Mitgliedstaaten zur Schaffung einer Kontrolle bzw. eines Zulassungsregimes vor Marktzugang eines Arzneimittels. Art. 3 der Richtlinie hat eine antragsabhängige, vorherige Genehmigungspflicht statuiert, während Art. 5 die Mitgliedstaaten verpflichtete, die Genehmigung zu versagen, wenn sich auf Grund der Prüfung von einzureichenden Unterlagen ergab, dass die Arzneispezialität bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädlich sein würde, die therapeutische Wirksamkeit fehlt oder unzureichend begründet ist. Art und Inhalt der einzureichenden Unterlagen wurden durch Art. 4 der Richtlinie verbindlich festgelegt. Art. 7 sah zudem Regelfristen für die Antragsbearbeitung durch die mitgliedstaatlichen Behörden vor. Die europäischen Arzneimittelzulassungsregeln wurden 1975 ergänzt und weiterentwickelt. Durch die Richtlinie 75/318/EWG wurden einheitliche Vorgaben für die Durchführung u. a. von klinischen Prüfungen von Arzneimitteln am Menschen und für die Darstellung und Dokumentation der Ergebnisse aufgestellt.8 Mit der Richtlinie 75/319/EWG wurden die Vorgaben der Richtlinie 65/65/EWG hinsichtlich der Qualität der Unterlagen durch die Artt. 1 ff. spezifiziert.9 Zudem führte diese Richtlinie das sog. Mehrstaatenverfahren in Artt. 8 ff. ein, wodurch divergierende Auffassungen unterschiedlicher Mitgliedstaaten über die Zulassungsfähigkeit eines neuen Arzneimittels vom Ausschuss für Arzneimittelspezialitäten, dem CPMP,10 geschlichtet und entschieden werden konnten.11

6 Richtlinie des Rates vom 26.01.1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (65/65/EWG), ABl. 22 vom 09.02.1965, S. 369. 7 Lorenz, Das gemeinschaftliche Arzneimittelzulassungsrecht, 2006, S.  41; für einen Überblick über die Rechtsetzungsgeschichte auf europäischer Ebene s. Lorenz, Das gemein­ schaftliche Arzneimittelzulassungsrecht, 2006, S. 41 ff.; Fuhrmann, Sicherheitsentscheidun­gen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 31 ff.; Heitz, Arzneimittelsicherheit zwischen Zu­lassungsrecht und Haftungsrecht, 2005, S.  66 ff.; Collatz, in: Collatz (Hr.), Handbuch der EU-Zulassung, 1998, S.  25 ff.; Dieners / Heil, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 1 Rn. 46 ff. 8 Richtlinie des Rates vom 20.05.1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die analytischen, toxikologisch-pharmakologischen und ärztlichen oder klinischen Vorschriften und Nachweise über Versuche mit Arzneispezialitäten (75/318/EWG), ABl. L 147 vom 09.06.1975, S. 1. 9 Zweite Richtlinie des Rates vom 20.05.1975 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (75/319/EWG), ABl. L 147 vom 09.06.1975, S. 13. 10 Collatz, in: Collatz (Hr.), Handbuch der EU-Zulassung, 1998, S. 28 f.; dieser Ausschuss ist Vorläufer des heutigen CHMP bei der EMA. 11 Dazu ausf. Hart, in: Hart / Reich, Integration und Recht des Arzneimittelmarktes in der EG, 1990, Rn. 15 ff; ferner Dieners / Heil, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 1 Rn. 48; Collatz, in: Collatz (Hr.), Handbuch der EU-Zulassung, 1998, S. 29 f.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Die Harmonisierung der nationalen Zulassungsentscheidungen wurde durch die Richtlinie 83/570/EWG12 weiter vorangetrieben, indem dort neben der Änderung der Anforderungen an die vorzulegenden Unterlagen erstmalig ein Verfahren der gegenseitigen Anerkennung von Zulassungen etabliert wurde.13 Art. 3 der Richtlinie änderte die Artt. 8 ff. der Richtlinie 75/319/EWG dahingehend, dass für die Ablehnung eines Antrags auf Zulassung eines bereits in einem anderen Mitgliedstaat zugelassenen Arzneimittels besondere Gründe vorgebracht und eine Entscheidung des Ausschusses für Arzneispezialitäten eingeholt werden müssen. Durch die Richtlinie 87/21/EWG wurde die sog. bezugnehmende Zulassung eingeführt, indem der pharmazeutische Hersteller von der Vorlage von Unterlagen zu pharmakologischen und toxikologischen Untersuchungen sowie von klinischen Studien befreit wurde, wenn er nachweisen konnte, dass sein Präparat einem Arzneimittel gleicht, das im Regelfall bereits seit mindestens sechs Jahren nach den Gemeinschaftsvorschriften in dem Mitgliedstaat, in dem die Zulassung beantragt wird, zugelassen war.14 Trotz dieser Harmonisierungsbestrebungen blieb aus Sicht der Kommission die Verwirklichung des Binnenmarktes für Arzneimittel hinter den Zielvorstellungen zurück.15 In der Folge wurde 1995 ein neues Zulassungssystem geschaffen, das grundlegend auf einem zentralen und einem dezentralen Verfahren für Zulassungsentscheidungen basierte. Durch die Verordnung (EWG) Nr.  2309/93 wurde mit Wirkung zum 01.01.1995 das neue Zulassungsverfahren auf europäischer Ebene eingeführt.16 Bestimmte Arzneimittelgruppen durften nur noch nach diesen Vorschriften zugelassen werden. Die Zulassung nach Maßgabe dieser Verordnung hatte die Verkehrsfähigkeit in sämtlichen Mitgliedstaaten zur Folge. Zur Durchführung des Zulassungsverfahrens wurde durch Artt. 49 ff. dieser Verordnung die Europäische Arzneimittelagentur geschaffen. Der Arzneimittelausschuss CPMP ist Teil dieser Agentur geworden und erhielt die Zuständigkeit für die wissenschaftliche Bewertung der Zulassungsanträge. Daneben bestand nach wie vor die Möglichkeit eines nationalen Zulassungsverfahrens für Arzneimittel, die nicht unter die Vorschriften über die zentrale Zulassung fielen. In der Gestalt des dezentralen Zulassungsverfahrens für Humanarzneimittel erhielt es durch die Richtlinie 93/39/ 12

Richtlinie des Rates vom 26.10.1983 zur Änderung der Richtlinien 65/65/EWG, 75/318/ EWG und 75/319/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (83/570/EWG), ABl. L 332 vom 28.11.1983, S. 1. 13 Dieners / Heil, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 1 Rn. 48. 14 Richtlinie des Rates vom 22.12.1986 zur Änderung der Richtlinie 65/65/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten (87/21/EWG), ABl. L 15 vom 17.01.1986, S. 36. 15 Zur Diskussion s. Lorenz, Das gemeinschaftliche Arzneimittelzulassungsrecht, 2006, S. 57 ff.; Hart, in: Hart / Reich, Integration und Recht des Arzneimittelmarktes in der EG, 1990, Rn. 21 ff.; Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 41. 16 Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 des Rates vom 22.07.1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, ABl. L 214 vom 24.08.1993, S. 1.

A. Rechtsquellen des Arzneimittelrechts

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EWG17 eine neue Grundlage. Es baute dabei auf dem bisherigen Mehrstaatenverfahren auf, erweiterte es jedoch um die Möglichkeit des Arzneimittelausschusses, für die Mitgliedstaaten bindende Entscheidungen zu treffen. Dies wurde für Fälle ermöglicht, in denen ein Mitgliedstaat die Zulassungsentscheidung eines anderen Mitgliedstaates für ein Arzneimittel nicht anerkennen wollte. Dies setzte voraus, dass der betreffende Mitgliedstaat gem. Art. 10 der Richtlinie in der Zulassung eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit sah, worüber dann der Ausschuss zu befinden hatte.18 Das dezentrale Zulassungsverfahren folgte insoweit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.19 Durch den sog. Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel, die Richtlinie 2001/83/EG20, wurden die Regelungen aus den Richtlinien zur Harmonisierung der nationalen Zulassungen und zur Durchführung des dezentralen Zulassungsverfahrens in einer Richtlinie gebündelt.21 Mit der Richtlinie 2001/20/EG22, der sog. GCPRichtlinie, sind zudem Vorschriften über die klinische Prüfung von Arzneimitteln zum Schutz der Probanden kodifiziert worden. In der Folge ist auch das zentrale Zulassungsverfahren in der neuen Verordnung (EG) Nr. 726/200423 normiert worden, um die Vorschriften an die geänderte Rechtslage durch die Richtlinien 2001/83/EG und 2001/20/EG anzupassen. Durch die Verordnung (EG) Nr. 1394/200724 wurde zudem der Katalog der Arzneimittel, die im zentralen Verfahren zugelassen werden müssen, um sog. Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP) erweitert. Die GCP-Vorschriften der EU haben durch die Verordnung (EG) Nr. 1901/200625 eine 17

Richtlinie 93/39/EWG des Rates vom 14.06.1993 zur Änderung der Richtlinien 65/65/EWG, 75/318/EWG und 75/319/EWG betreffend Arzneimittel, ABl. L 214 vom 24.08.1993, S. 22. 18 Zum Verfahren s. Lorenz, Das gemeinschaftliche Arzneimittelzulassungsrecht, 2006, S. 63, 67 f. 19 Heitz, Arzneimittelsicherheit zwischen Zulassungsrecht und Haftungsrecht, 2005, S. 56; für eine Unterscheidung in zwei getrennte Verfahren Purnhagen, EuR 2010, 438 (441 f.). 20 Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 06.11.2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel, ABl. L 311 vom 28.11.2001, S.  67, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2011/62/EU vom 08.06.2011, ABl. L 174 vom 01.07.2011, S. 74. 21 Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 48. 22 Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.04.2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln, ABl. L 121 vom 01.05.2001, S. 34. 23 Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.03.2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur, ABl. L 136 vom 30.04.2004, S. 1. 24 Verordnung (EG) Nr.  1394/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über Arzneimittel für neuartige Therapie und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/ EG und der Verordnung (EG) Nr. 726/2004, ABl. L 324 vom 10.12.2007, S. 121. 25 Verordnung (EG) Nr.  1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Kinderarzneimittel und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1768/92, der Richtlinien 2001/20/EG und 2001/83/EG sowie der Verordnung (EG) Nr. 726/2004, ABl. L 378 vom 27.12.2006, S. 1.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Änderung erfahren, indem besondere Bestimmungen für die klinische Prüfung von für Kinder geeigneten Arzneimitteln eingeführt worden sind. Zugleich hat diese Kinderarzneimittel-Verordnung auch materielle Anreize für die Erprobung und Zulassung von Arzneimitteln in der Pädiatrie geschaffen, indem beispielsweise eine sechsmonatige Verlängerung des Schutzzertifikats für Arzneimittel gewährt werden kann, was eine dementsprechend verlängerte Vermarktung des Präparats ohne Konkurrenz durch Generika zur Folge hat.26 Das europäisch normierte Zulassungsrechts wird neben den formell verbindlichen Rechtsakten der EU, den Richtlinien und Verordnungen, auch durch formell nicht verbindliche Akte der EU-Kommission gestaltet.27 Diese zumeist Guidelines bzw. Leitlinien oder Empfehlungen genannten Dokumente sind in den Bänden 2 bis 4 und 6 bis 10 der Rechtssammlung EudraLex zusammengefasst.28 Auch die EMA selbst erlässt Leitlinien und Stellungnahmen, denen es ebenfalls mangels formeller Ermächtigungsgrundlage im Sekundärrecht an Rechtsverbindlichkeit fehlt.29 Auf transnationaler Ebene trifft schließlich der ICH Entscheidungen, die Inhalte des Zulassungsverfahrens und der Arzneimittelbewertung betreffen. Der ICH ist eine Organisation, deren Mitglieder von Arzneimittelzulassungsbehörden und Pharmaindustrieverbänden entsandt werden.30 Sie hat sich aus einer Koordinierungskonferenz der Zulassungsbehörden und der Pharmaindustrieverbände der drei Regionen EU, USA und Japan über die Harmonisierung der Dokumentationsstandards für Anträge im Arzneimittelzulassungsverfahren entwickelt. Mittlerweile hat sie Leitlinien für die Prüfung der Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit sowie für die Vereinheitlichung von Dokumenten und Standards in weiteren Teilen der Arzneimittelbeurteilung erstellt, die nicht nur in den Regionen der ICH-Mitglieder umgesetzt werden, sondern auch als Vorbild für die Regulierungsbestrebungen anderer regionaler Akteure in Osteuropa, Lateinamerika und Asien fungieren.31 26 Rechtsgrundlage ist nunmehr die Verordnung (EG) Nr. 469/2009 vom 06.05.2009, ABl. L 152 vom 16.06.2009, S. 1. S. dazu Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, Vorbemerkung zu §§ 21 ff. Rn. 36; Weber, PharmR 2009, 442 (443 f.). 27 Fleischfresser, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 3 Rn. 20 ff.; Dieners / Heil, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 1 Rn. 78. 28 Die aktuelle Fassung der EudraLex-Datenbank findet sich auf der Homepage der EU-Kommission unter http://ec.europa.eu/health/documents/eudralex/index_en.htm (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 29 Engelke, MedR 2010, 619 (620); Schneider, Das Kooperationsprinzip im Vorfeld der Arzneimittelzulassung, 2003, S. 121 ff.; Fleischfresser, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 3 Rn. 31; Kortland, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, Vorb. zu § 21 Rn. 9; Sickmüller, in: Collatz (Hr.), Handbuch der EU-Zulassung, 1998, S. 143. 30 Zu Geschichte, Struktur und Arbeit der ICH s. Engelke, MedR 2010, 619 f.; Purnhagen, EuR 2010, 438 (446 ff.); Sickmüller, in: Collatz (Hr.), Handbuch der EU-Zulassung, 1998, S. 183 ff.; Fleischfresser, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 3 Rn. 43 ff. 31 Abraham, Lancet 360 (2002), 1498 (1500). Einen Überblick über die ICH-Bestrebungen geben Ward, The Global Cooperation Group – A Bridge from ICH to the World Beyond, sowie Hunt, Guideline Information Dissemination / Uptake in Non-ICH Countries, in: ICH (Hr.), The Value and Benefits of ICH Drug Regulatory Authorities – Advancing Harmonization for

A. Rechtsquellen des Arzneimittelrechts

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Der Mitgliederkreis wird sukzessive erweitert und umfasst auch die Arzneimittelzulassungsbehörden Kanadas, der Schweiz, Brasiliens, Chinas und Südkoreas; die Behörden weiterer Staaten haben Beobachterstatus. Auf Seiten der Pharmaindustrie nehmen weitere Industrieverbände teil, die beispielsweise speziell die Hersteller biotechnologisch erzeugter Arzneimittel vertreten. Ferner haben Organisationen wie CIOMS und EDQM mittlerweile Beobachterstatus.32 Die von der ICH beschlossenen Leitlinien sind formell nicht bindend. Sie werden in der EU teilweise von der EMA in ihre eigenen Leitlinien übernommen, teilweise in Richtlinien umgesetzt und teilweise im nationalen Recht auf unterschiedlichen Wegen rezipiert, in Deutschland beispielsweise über Bezugnahme in den Arzneimittelprüfrichtlinien.33

II. Nationales Recht Die wesentlichen Rechtsquellen des deutschen Arzneimittelrechts finden sich auf gesetzlicher Ebene im AMG sowie auf untergesetzlicher Ebene in diversen Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften. Als Grundgedanken der gefahrenabwehrrechtlichen Zielsetzung des AMG lässt sich das Verbot in § 5 Abs. 1 AMG ausmachen, bedenkliche Arzneimittel in den Verkehr zu bringen. Die Bedenklichkeit wird in § 5 Abs. 2 AMG als der nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse begründete Verdacht definiert, dass bei bestimmungsgemäßem Gebrauch des Arzneimittels schädliche Wirkungen auftreten, die über ein vertretbares Maß hinausgehen, das nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft zu beurteilen ist. Zur Konkretisierung dieser allgemeinen Verbotsbestimmung sieht das AMG eine Reihe von Maßnahmen vor, um im Sinne des § 1 AMG die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln zu gewährleisten. Im Hinblick auf die Beurteilung des Nutzens von Arzneimitteln können zwei Regelungskomplexe im AMG unterschieden werden. Der erste Komplex betrifft die Zulassung von Arzneimitteln, die im Wesentlichen durch §§ 21–37 AMG geregelt wird. Der zweite Komplex regelt die Überwachung von Arzneimitteln nach Erteilung der Zulassung und findet sich in mehreren Bestimmungen in den §§ 62 ff. AMG. Zur Arzneimittelüberwachung zählen neben dem sog. Pharmakovigilanzverfahren34 auch Informationspflichten des Herstellers gegenüber Anwendern,

Better Health, 2010, einer Publikation der ICH anlässlich ihres 20jährigen Bestehens, abrufbar unter http://www.ich.org/fileadmin/Public_Web_Site/News_room/C_Publications/ICH_20_anni versary_Value_Benefits_of_ICH_for_Regulators.pdf (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 32 Die aktuelle Mitgliederliste kann auf der Website der ICH eingesehen werden (http://www. ich.org/about/organisation-of-ich/assembly.html, zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 33 Zu den Rezeptionswegen s. Engelke, MedR 2010, 619 (620 ff.). 34 Eingehend und umfassend dazu Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 65 ff.; für einen Überblick s. u. Kap. 4 B. VII.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Ärzten und Behörden sowie die Überwachungs- und Eingriffsrechte der zuständigen Bundes- und Landesbehörden. Die zuständige Bundesoberbehörde für die Zulassung eines Fertigarzneimittels ergibt sich aus der Regelung in § 77 Abs. 1 und 2 AMG.35 Die Regelungen des AMG zur Zulassung von Arzneimitteln werden durch die sog. Arzneimittelprüfrichtlinien näher konkretisiert. Die Arzneimittelprüfrichtlinien sind ursprünglich auf der Rechtsgrundlage des § 26 Abs. 1 AMG a. F. als Verwaltungsvorschrift erlassen worden.36 Sie setzten auf diesem Wege ausweislich der amtlichen Anmerkung zur Verwaltungsvorschrift die Vorschriften des Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel bezüglich der Untersuchung, Erprobung und Zulassungsbeantragung neuer Arzneimittel um. Als Verwaltungsvorschriften kam den Arzneimittelprüfrichtlinien jedoch keine Außenwirkung zu, sondern sie konnten lediglich die Zulassungsbehörde in ihrer Verwaltungspraxis binden. Da sich aus den Arzneimittelprüfrichtlinien jedoch die Anforderungen an die Einreichung eines Zulassungsantrags ergeben, dessen Unvollständigkeit oder unzureichende Begründung gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 AMG einen Versagungsgrund für die Zulassung darstellt, bestand die Möglichkeit, dass angerufene Gerichte im Streit um eine Zulassungsentscheidung die Arzneimittelprüfrichtlinien außer Acht lassen könnten. Tatsächlich haben jedoch die Rechtsprechung und das überwiegende Schrifttum auf anderem Wege eine Bindungswirkung der Arzneimittelprüfrichtlinien angenommen. In der Rechtsprechung wurden die Arzneimittelprüfrichtlinien unabhängig von dem zugrunde liegenden dogmatischen Streit37 überwiegend als „antizipierte Sachverständigengutachten“ angesehen und dementsprechend zur Auslegung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale von den Gerichten herangezogen.38 Stimmen im Schrifttum sehen in der Übereinstimmung mit den Arzneimittelprüfrichtlinien eine gesetzliche Vermutung, dass dem „jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ entsprochen worden ist.39 Die rechtlich unverbindliche Umsetzung von Inhalten der Richtlinie 2001/83/EG war jedoch europarechtlich bedenklich, da Verwaltungsvorschriften grundsätzlich nicht den Anforderungen entsprechen, die der EuGH für die rechtssichere Umset-

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Von der Möglichkeit der abweichenden Zuständigkeitszuweisung durch Rechtsverordnung gem. § 77 Abs. 4 AMG ist durch die Verordnung zur Änderung der Zuständigkeit des Paul-Ehrlich-Instituts vom 25.09.1996, BGBl. I S. 1487, Gebrauch gemacht worden. 36 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Anwendung der Arzneimittelprüfrichtlinien vom 05.05.1995, BAnz. Nr. 96a Beil. S. 3, zuletzt geändert durch Art. 1 und 2 Zweite ÄndVwV vom 11.10.2004, BAnz. Nr. 197 S. 22037. 37 S. o. Kap. 2 B. IV. 4. 38 VG Köln, Urteil vom 01.04.2008 – 7 K 6617/05, Rn. 37 bei juris.de; VG Köln, Urteil vom 25.03.2008 – 7 K 6208/05, Rn. 33 bei juris.de; VG Köln, Urteil vom 04.10.2006 – 9 K 601/05, Rn. 44 bei juris.de; OVG Berlin, Beschluss vom 04.04.2001 – 5 N 13.00, Rn. 4 bei juris.de; OVG Berlin, Urteil vom 25.11.1999 – 5 B 11.98, Rn. 28 bei juris.de. 39 Schneider, Das Kooperationsprinzip im Vorfeld der Arzneimittelzulassung, 2003, S. 150.

A. Rechtsquellen des Arzneimittelrechts

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zung von Richtlinien statuiert hat.40 Diese Problematik ist aus dem Immissionsschutzrecht bekannt.41 Nach Auffassung des EuGH müssen Richtlinienvorgaben nämlich durch außenwirksame, also gegenüber Dritten bindende Normen umgesetzt werden. Diesen Anforderungen genügen Verwaltungsvorschriften grundsätzlich nicht.42 Daher ist 2005 diese Rechtsgrundlage durch eine Ermächtigung zum Erlass einer gleichlautenden Rechtsverordnung ersetzt worden.43 Erst 2016 ist die Überführung der Arzneimittelprüfrichtlinien in eine Rechtsverordnung vorgenommen worden.44 Im Bereich der Tierarzneimittel hatte der Verordnungsgeber bereits im Jahr 2010 den gleichlautenden Regelungsauftrag des § 26 Abs. 1 AMG umgesetzt.45 Die Regelungstechnik der Arzneimittelprüfrichtlinien-Verordnung folgt dem Muster, das bereits in § 1 Tierarzneimittel-Prüfrichtlinienverordnung verwendet worden ist.46 Die Verordnung enthält einen Verweis auf die in Anhang Teil I bis III der Richtlinie 2001/83/EG definierten Anforderungen an die Angaben, Unterlagen und Gutachten, die nach den §§ 22–24 AMG verlangt werden. Dabei bezieht sich dieser Verweis auf den Anhang der Richtlinie „in der jeweils geltenden Fassung“, sodass eine dynamische Verweisung auf den Richtlinientext eingeführt wird.47 Dies unterscheidet die Neuregelung von der bisher in der Verwaltungsvorschrift verwendeten Regelungstechnik, nach der die Inhalte des Anhangs der Richtlinie 2001/83/EG im Anhang zur Verwaltungsvorschrift im Wortlaut wiedergegeben werden. Die Regelungstechnik der dynamischen Verweisung in Gesetzen oder Rechtsverordnungen unterliegt dabei der Gefahr, verfassungsrechtliche Anforderungen an materielle Gesetze zu verletzen. Neben den formalen Anforderungen wie die

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Ausf. Engelke, MedR 2010, 619 (621 ff.); Schneider, Das Kooperationsprinzip im Vorfeld der Arzneimittelzulassung, 2003, S. 137 ff. 41 EuGH, Urteil vom 28.2.1991  – Rs. C-131/88, Slg. 1991, I-825; EuGH, Urteil vom 30.5.1991 – Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567; EuGH, Urteil vom 30.5.1991 – Rs. C-59/89, Slg. 1991, I-2607; Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 3 Rn. 125 ff.; Koch, in: Koch, Umweltrecht, 4. Aufl. 2014, § 4 Rn. 99; Saurer, DÖV 2005, 587 (588 f.). 42 EuGH, Urteil vom 30.5.1991  – Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567; EuGH, Urteil vom 30.5.1991 – Rs. C-59/89, Slg. 1991, I-2607; dazu nur Koch, in: Koch, Umweltrecht, 4. Aufl. 2014, § 4 Rn. 73, 84 ff.; Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 3 Rn. 75; Saurer, DÖV 2005, 587 (589); Badura, Staatsrecht, 6. Aufl. 2015, Kap. F Rn. 25; s. a. BT-Drs. 15/4294, S. 6. 43 Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher Vorschriften vom 15.04.2005, BGBl. I S. 1068; Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/4294, S. 6. 44 Verordnung zur Anwendung der Arzneimittelprüfrichtlinien (AMPV) vom 08.01.2016, BGBl. I S. 47. 45 Verordnung zur Anwendung der Arzneimittelprüfrichtlinien, soweit es sich um Arzneimittel handelt, die zur Anwendung bei Tieren bestimmt sind, und zur Ablösung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Anwendung der Tierarzneimittelprüfrichtlinien (Tierarzneimittel-Prüfrichtlinienverordnung – TamPV) vom 18.02.2010, BGBl. I S. 130. 46 Begründung zur Arzneimittelprüfrichtlinien-Verordnung, BR-Drs. 529/15, S. 3. 47 Zur Typologie von Verweisungen s. Haratsch, ZG 1999, 346 (347); Clemens, AöR 111 (1986), 63 (79 ff.); Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, 2008, S. 39 ff.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Wahrung des Bestimmtheitsgebots kommen insbesondere die Verletzung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips in Betracht.48 Während sich die Beachtung des Bestimmtheitsgebots insbesondere durch eine klare und auffindbare Bezeichnung des Verweisungsobjekts sicherstellen lässt und darüber hinaus kein Fortbestand des Verweisungsinhalts vom Bestimmtheitsgebot garantiert wird,49 ist eine Verletzung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips insbesondere in Gestalt des Parlamentsvorbehalts für wesentliche Entscheidungen weniger leicht zu vermeiden.50 Der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Parlamentsvorbehalt könnte verletzt werden, wenn grundrechtsbeschränkende Inhalte eines materiellen Gesetzes über eine dynamische Verweisung von einem anderen Normgeber erlassen werden.51 Eine solche dynamische Verweisung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG jedoch erlaubt, wenn in der Bezugnahme auf die verwiesene Rechtsnorm kein Verzicht des Gesetzgebers auf seine Regelungsbefugnisse liegt.52 Da die durch Verweisung in Bezug genommenen Inhalte der Arzneimittelprüfrichtlinien Bestandteil der europäischen Richtlinie 2001/83/EG sind, kommt in diesem Fall eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt einer mit Art. 20 Abs. 3 GG zu vereinbarenden Umsetzungstechnik von Europarecht in Betracht. Die Technik der Umsetzung von Sekundärrecht durch dynamische Verweisungen ist jedenfalls dann vor dem Hintergrund des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips unbedenklich, wenn kein nationaler Umsetzungsspielraum verbleibt.53 In diesem Fall ist der nationale Gesetzgeber bereits gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, die Richtlinienbestimmungen in das nationale Recht ohne Veränderung zu übernehmen. Besteht diese Verpflichtung, so kann die Umsetzung erst recht durch eine dynamische Bezugnahme erfolgen, da diese Regelungstechnik die Umsetzung stets an den umzusetzenden Rechtsstand anpasst und dadurch zugleich dem gemeinschaftsrechtlichen „effet utile“ dient.54 Ferner kann dieses Ergebnis durch einen „Erstrecht-Schluss“ aus Art. 23 Abs. 1 GG begründet werden: Wenn das Grundgesetz die Übertragung von Rechtsetzungskompetenzen auf die EU erlaubt und der Parlamentsvorbehalt hierdurch nicht verletzt wird, liegt in der Bezugnahme auf diese Rechtsetzungsakte – jedenfalls wenn sie keine gesetzgeberischen Entscheidungen

48

Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 20 Rn. 91 f.; Sachs, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 20 Rn. 123a; Pabst, NVwZ 2005, 1034 (1035); ausf. Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, 2008, S. 112 ff. 49 Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, 2008, S. 148 f. 50 S. Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, 2008, S. 203 ff.; Jarass, in: Jarass /  Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 20 Rn. 72 ff.; Clemens, AöR 111 (1986), 63 (100 ff.); s. a. BVerfGE 47, 285 (312). 51 BVerfGE 47, 285 (316); BVerfGE 64, 208 (214 f.). 52 BVerfGE 64, 208 (215). 53 Milej, EuR 2009, 577; Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, 2008, S. 286; s. a. Klindt, DVBl. 1998, 373 (379). 54 Klindt, DVBl. 1998, 373 (380).

A. Rechtsquellen des Arzneimittelrechts

129

im Rahmen der Umsetzung erfordern – durch den nationalen Gesetzgeber erst recht keine Verletzung des Parlamentsvorbehalts.55 Wesentliche Vorschriften für die Durchführung von klinischen Prüfungen, die Bestandteil eines Zulassungsantrags werden sollen, finden sich weiterhin in der sog. GCP-Verordnung über die gute klinische Praxis bei Arzneimittelversuchen am Menschen, die der Umsetzung der entsprechenden europäischen Richtlinie dient.56

III. Europäisches Recht Eine Zulassung von Arzneimitteln nach nationalem Recht kommt nur noch in Betracht, soweit keine Zulassung nach Unionsrecht erfolgt. Eine zentrale Zulassung ist nach Art.  3 Abs.1 der Verordnung (EG) 726/2004 in Verbindung mit ihrem Anhang obligatorisch für bestimmte Arzneimittelgruppen, zu denen mit Hilfe bestimmter biotechnologischer Verfahren hergestellte Arzneimittel, Arzneimittel für neuartige Therapien nach Maßgabe des Art. 2 der Verordnung (EG) 1394/2007, Präparate zur Behandlung seltener Leiden gemäß der Verordnung (EG) 141/200057 sowie Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, der zur Behandlung von Katalogkrankheiten bestimmt ist, zählen. Andere Arzneimittel können unter den Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 VO (EG) 726/2004 fakultativ im zentralen Verfahren zugelassen werden. Dazu muss das Arzneimittel entweder einen neuen Wirkstoff enthalten oder eine bedeutende Innovation in therapeutischer, wissenschaftlicher oder technischer Hinsicht darstellen. Ein Wirkstoff ist dabei neu, wenn er zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung noch nicht in der EU zugelassen war. Dies bedeutet, dass das zentrale Zulassungsverfahren seit dem 20.05.2004 für alle neuen Wirkstoffe möglich ist. Das gemeinschaftsrechtlich geregelte dezentrale Zulassungsverfahren sowie das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung basieren beide auf der Zulassungs­ entscheidung durch eine nationale Behörde.58 Der Unterschied zwischen den beiden 55

Milej, EuR 2009, 577 (579 f.). Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen (GCP-Verordnung) vom 09.08.2004, BGBl. I S.  2081, zuletzt geändert durch Art.  8 des Gesetzes vom 19.10.2012, BGBl. I S. 2192. Das Recht der klinischen Prüfungen wird durch die europäische Verordnung (EU) Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln, ABl. EU L 158/1 vom 27.05.2014 mit dem Datum ihrer Anwendbarkeit gem. Art. 99 nach Einrichtung eines EU-Portals zur Datenübermittlung und einer entsprechenden Datenbank, womit zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Untersuchung für 2019 gerechnet wird, grundlegend neugestaltet. 57 Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden, ABl. L 18 vom 22.01.2000, S. 1, geändert durch Verordnung (EG) Nr. 569/2009 vom 18.06.2009, ABl. L 188 vom 18.07.2009, S. 14. 58 Zum Verfahrensablauf Friese, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 5 Rn. 161 ff. und unten Kap. 4 B. III.; zur Umsetzung im deutschen Recht Fries, Nutzen / RisikoAbwägung, 2009, S. 60 ff. 56

130

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Verfahren besteht darin, dass beim Verfahren der gegenseitigen Anerkennung bereits eine rein nationale Zulassung erteilt worden ist, deren Anerkennung in den übrigen Mitgliedstaaten erwirkt werden soll, während beim dezentralen Zulassungsverfahren zum Zeitpunkt der Antragstellung noch keine Zulassung in einem Mitgliedstaat erteilt worden ist.59

IV. Transnationales Recht Der Einfluss des transnationalen Rechts auf die Arzneimittelzulassung ist aus juristischer Perspektive relativ subtil. Die Guidelines des ICH werden durch die EU-Kommission und durch die EMA auf europäischer Ebene in dort angesiedelte Rechtsakte und Dokumente übernommen, teilweise mit, teilweise ohne Modifizie­ rungen. Dies erscheint zunächst unproblematisch, da sich entweder – wie im Falle der Übernahme von ICH-Guidelines in den Anhang der Richtlinie 2001/83/EG – Gesetzgebungsorgane die Inhalte zu Eigen machen oder – wie im Falle der Übernahme in EMA-Leitlinien – die umgesetzten Inhalte auf Grund der Form der Umsetzung keine Rechtsverbindlichkeit erlangen. Diese Betrachtung der formellen Rechtsnatur kann jedoch nicht in den Blick nehmen, dass in Guidelines und Leitlinien sowohl auf der transnationalen wie auf der europäischen Ebene normative Aussagen getroffen werden können, die über rein fachlich-neutrale Stellungnahmen hinausgehen.60 Dies rechtfertigt eine Betrachtung auch solcher scheinbar unverbindlichen Instrumente. 1. Die Harmonisierungsarbeit der ICH Bei dem ICH handelt es sich ursprünglich um einen Zusammenschluss der Regulierungsbehörden und der Pharmaverbandsvertreter der drei Regionen USA, Europäische Union und Japan, der jedoch seitdem beständig erweitert worden ist. Die Gründung des ICH, zunächst als Harmonisierungskonferenz und seit Oktober 2015 in der Rechtsform eines Vereins nach Schweizer Recht und als „Harmonisierungsrat“ firmierend, geht auf eine Initiative der EG-Kommission und der europäischen Pharmaindustrie zurück, die ein starkes Interesse an einer Vereinheitlichung der Anforderungen an Zulassungsunterlagen für Arzneimittel hatten. Beispielsweise lehnte die FDA Zulassungsanträge für solche Arzneimittel ab, die nicht wenigstens auch in den USA erprobt worden waren.61 Es war insbesondere ein Desideratum der Pharmaindustrie, im Idealfall nur einen einzigen Zulassungs-

59

Fleischfresser, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 55; Roth, EuR 2007, Beiheft 2, 9 (17). 60 Fleischfresser, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 3 Rn. 32. 61 Lee, U Pa J Int’l Econ L 26 (2005), 151 (154).

A. Rechtsquellen des Arzneimittelrechts

131

antrag erarbeiten zu müssen und diesen bei allen drei Zulassungsbehörden stellen zu können.62 Zugleich förderte eine solche Harmonisierung der Prüfkriterien für Arzneimittel die Arbeit der Zulassungsbehörden, da sie durch eine Harmonisierung das von anderen Zulassungsbehörden generierte Wissen in ihren eigenen Entscheidungsprozessen verwenden können.63 Am Rande der WHO-Konferenz 1989 beschlossen daher die Repräsentanten der späteren ICH-Gründungsmitglieder, eine entsprechende Harmonisierungskonferenz zu gründen.64 Zu diesem Zweck hat sich 1990 eine Konferenz aus Vertretern der besagten drei Zulassungsbehörden sowie der Repräsentanten der Pharmaherstellervereinigungen dieser drei Regionen konstituiert, um die technischen Anforderungen an die Zulassungsanträge zu vereinheitlichen.65 a) Geschichtliche Entwicklung der Struktur der ICH Die frühere Struktur der damaligen ICH bestand darin, dass die Erarbeitung von Guidelines durch Expertenarbeitsgruppen, die Expert Working Groups, erfolgte, die von den Mitgliedern der ICH und assoziierten Organisationen eingesetzt wurden. Die Mitglieder planten und steuerten diesen Prozess mit dem sogenannten „Steering Committee“, dem Beschlussgremium der ICH. Das Steering Committee beschloss die ICH-Guidelines am Ende des Beratungsprozesses. Neben den stimmberechtigten Mitgliedern waren bestimmte Organisationen als ständige Beobachter eingeladen. Dabei handelte es sich um die Weltgesundheitsorganisation WHO, die schweizerische Arzneimittelzulassungsbehörde Swissmedic als Repräsentantin der Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA sowie Health Canada, die kanadische Zulassungsbehörde. Eine Sonderstellung kam dem internationalen Verband der Pharmaunternehmen IFPMA zu, da dieser Verband sowohl nichtstimmberechtigtes Mitglied des Steering Committee war als auch das Sekretariat der ICH führte. Die ICH hat ihre ursprüngliche Struktur einer Konferenz der sechs Gründungsmitglieder kontinuierlich weiterentwickelt. Anfänglich haben sich die Mitglieder in unregelmäßiger Folge zu Konferenzen zusammengefunden. In der Folge haben diese Konferenzen einen festen Rhythmus gefunden und wurden mindestens

62 63

hin.

Kidd, Indiana Journal of Global Legal Studies 4 (1996), 183 (185 f.). Auf diesen wichtigen Zusammenhang weist Lee, U Pa J Int’l Econ L 26 (2005), 151 (159 ff.)

64 Branch, Journal of Pharmaceutical and Biomedical Analysis 38 (2005), 798 (799); Kidd, Indiana Journal of Global Legal Studies 4 (1996), 183 (185). 65 Zur Geschichte der ICH s. Berman, Informal International Lawmaking in Medicinal Products Regulation, in: Berman / Duquet / Pauwelyn / Wessel / Wouters (Hr.), Informal International Lawmaking: Case Studies, 2012, S. 353 (355 ff.); Bahri / Tsintis, Pharmacoepidemiology and Drug Safety 14 (2005), 377 f.; O’Donnell, Applied Clinical Trials 3 (1994), 60 f.; Sickmüller, in: Collatz (Hr.), Handbuch der EU-Zulassung, 1998, S. 183 f.

132

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

zweimal im Jahr abgehalten.66. Dabei wurden Arbeitsergebnisse verabschiedet, die während der laufenden Arbeit der ICH in Arbeitsgruppen beraten worden sind. Somit hat sich die ICH von einem eher losen Netzwerk zu einer Organisation weiterentwickelt. Während dieses Entwicklungsprozesses hat sich insbesondere auch die Art und Weise der Beschlussfassung der ICH fortentwickelt. Während zu Beginn der Harmonisierungsarbeit Guidelines regelmäßig konsensual entwickelt und verabschiedet wurden,67 hat sich im Laufe der Arbeit der ICH ein Prozess der organisatorischen Verfestigung entwickelt, der schließlich 2004 in einer Verfahrensordnung der ICH gemündet ist. Dieses Dokument hat verschiedene Entwicklungsstufen erlebt, die eine Veränderung und Effektivierung der Arbeitsprozesse der ICH bei gleichzeitiger Einbeziehung weiterer Akteure aus anderen Regionen als den Mitgliedern der ICH reflektieren. In seiner letzten Version vor der organisatorischen Umstrukturierung der ICH im Jahr 2015 hat die Verfahrensordnung differenziert die unterschiedlichen Verfahrensarten und Mehrheitsregelungen in den Entscheidungsprozessen geregelt.68 Nach ihrer Umstrukturierung hat sich die ICH im Frühjahr 2016 eine neue Verfahrensordnung gegeben, die das Verfahren in vielerlei Hinsicht abweichend gestaltet und insbesondere die Rechte der industriellen Mitglieder einschränkt.69 Im Oktober 2015 hat die ICH eine Veränderung ihrer Organisationsform vorgenommen und sich in einen Verein nach schweizerischem Recht umgewandelt. Zugleich hat sie ihren Namen dahingehend geändert, dass sie von einer Konferenz (Conference) zu einem Harmonisierungsrat (Council) geworden ist. Mit der Vereinsgründung sind die bisherigen Beobachter der ICH zu Mitgliedern geworden bzw. haben das Recht, als bisher an den ICH-Verfahren beteiligte Organisationen als Mitglieder des ICH aufgenommen zu werden. Die bisherigen Gründungsmitglieder der ICH nehmen auch im Verein eine hervorgehobene Rolle wahr. Die Articles of Association des Vereins sehen jedoch in Art. 9 Nr. 2 lit. a vor, dass die Industriemitglieder des ICH kein Stimmrecht in der Vollversammlung, die das Steering Committee ersetzt, haben, soweit über die Einleitung von Harmonisierungsverfahren oder die Änderung oder Aufhebung von Guidelines beschlossen wird. Dadurch beschränkt sich die Rolle der Industriemitglieder neben der Mitwirkung an allgemeinen Verwaltungsaufgaben des Vereins auf die Entsendung von Experten in die Arbeitsgruppen. Die harmonisierten Guidelines werden ohne

66 Die aktuellen Sitzungstermine sowie die Sitzungsintervalle veröffentlicht die ICH auf ihrer Website unter www.ich.org/meetings/ich-calendar.html (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 67 S. Miller, Cornell International Law Journal 30 (1997), 203(231 f.); Dagron, Global harmonization through public-private partnership: The case of pharmaceuticals, IRPA GAL Working Paper 2012/2, S. 7. 68 ICH Procedures endorsed by the Steering Committee on June 10 2015, verfügbar unter http://www.ich.org/fileadmin/Public_Web_Site/ABOUT_ICH/Process_of_Harmonisation/ ICH_Procedures_updated_July_2_2015.pdf (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 69 Standard Operating Procedure of the ICH Working Groups, Version 3.0 (Stand: 29.05.2017), mit einem Überblick über die Änderungshistorie auf S. ii (zuletzt abgerufen am 30.06.2017).

A. Rechtsquellen des Arzneimittelrechts

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Vetorecht der Industrievertreter allein von den regulatorischen Mitgliedern des ICH beschlossen, wobei den Gründungsmitgliedern die Befugnis zukommt, bei Dissens unter den regulatorischen Mitgliedern einstimmig eine Guideline gegen den Willen der dissenten übrigen regulatorischen Mitglieder zu beschließen. Die im Vergleich zur bisherigen ICH-Verfassung abermals reduzierten Einflussmöglichkeiten der Industriemitglieder setzen einerseits den bisherigen Entwicklungsprozess der ICH konsequent fort, dürfen jedoch andererseits nicht unterschätzt werden, denn die Entsendung von Experten in die Arbeitsgruppen kann angesichts der umfangreichen Wissensressourcen der Industrievertreter entscheidenden Einfluss auf den Inhalt eines Harmonisierungsvorhabens nehmen.70 b) Arbeitsweise der ICH Bereits seit ihrer Gründung verfolgte die ICH das Ziel, neben der Angleichung der formalen Anforderungen für Zulassungsanträge auch die inhaltlichen Kriterien der Zulassung zu vereinheitlichen.71 Zu diesem Zweck erarbeitete die ICH Leitlinien, die sogenannten Guidelines. Diese wurden vier Hauptarbeitsfeldern der ICH zugeordnet. Die Hauptarbeitsfelder sind nach den Anforderungen an Arzneimittel im Zulassungsverfahren benannt. Es handelt sich um die Bereiche der Qualität (quality), Sicherheit (safety) und Wirksamkeit (efficacy). Hinzu tritt der Bereich von Guidelines mit sonstigem Inhalt oder zu Querschnittsfragen (multidisciplinary). Zu den M-Guidelines, die dem Bereich der Querschnittsfragen zugehören, zählt das sogenannte Common Technical Document (CTD), das den Gründungsauftrag der ICH zur Vereinheitlichung der Formate der Zulassungsanträge umsetzt.72 Dieses Common Technical Document ist seinerseits im Anhang I zur Richtlinie 2001/83/EG umgesetzt worden. Das Standardverfahren der ICH zur Beschlussfassung über Guidelines wird als „Formal ICH Procedure“ bezeichnet.73 Es wird federführend von einer Expertenarbeitsgruppe durchgeführt und verläuft in mehreren Stufen. Das Verfahren beginnt mit der Einrichtung einer Expertenarbeitsgruppe, der Expert Working Group (EWG), für die jedes ICH-Vollmitglied zwei Experten nominiert. Bei Bedarf können weitere Experten hinzugezogen werden. Die EWG erarbeitet ein auf die inhaltlichen Aspekte der zukünftigen Guideline beschränktes Dokument (Technical Document) und konsentiert dieses innerhalb der EWG (Step 1). Dieser Entwurf 70

Berman, Informal International Lawmaking in Medicinal Products Regulation, in: Berman /  Duquet / Pauwelyn / Wessel / Wouters (Hr.), Informal International Lawmaking: Case Studies, 2012, S. 353 (357 f.). 71 Jordan, Vanderbilt Journal of Transnational Law 25 (1992), 471 (491); Vozeh, European Journal of Clinical Pharmacology 48 (1995), 173 (174); Abraham / Reed, Social Studies of­ Science 32 (2002), 337 (342 ff.). 72 Dazu Ekman, Toxicology Letters 102–103 (1998), 551 (552 f.). 73 Standard Operating Procedure of the ICH Working Groups, Version 3.0 (Stand: 29.05.2017), S. 18 Nr. 2.1 (zuletzt abgerufen am 30.06.2017).

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

des Technical Document wird sodann dem Steering Committee vorgelegt, das darüber entscheidet, ob der Entwurf auf die Zustimmung aller Mitglieder des Steering Committee trifft (Step 2a). Ist dies der Fall, wird auf der Grundlage des Technical Document ein Entwurf für die zu erstellende Guideline erarbeitet. Sofern jedoch kein Konsens zustande kommt, haben die regulatorischen Mitglieder die Möglichkeit, gemeinsam das Technical Document zu verabschieden. Auf der Basis dieses Dokuments wird ein Guideline-Entwurf von den regulatorischen Mitgliedern der ICH erarbeitet und beschlossen (Step 2b). Der daraus entstandene Entwurf der Guide­line wird in die als Step 3 bezeichnete Konsultationsphase gegeben. Innerhalb des Konsultationsprozesses wird der Entwurf in den Regionen der ICH beraten. Dabei soll der Guideline-Entwurf in der Regel als ein Entwurf des Umsetzungsdokuments in der jeweiligen Region beraten werden, d. h. in der EU als CHMPGuideline.74 Anschließend bündeln die Mitglieder die Anhörungsergebnisse und bringen sie auf ICH-Ebene in den abschließenden Beratungsprozess im Steering Committee ein. Am Ende dieses Prozesses steht die Entscheidung über die Guideline, die durch die Behördenmitglieder gefällt wird (Step 4). Die Industriemitglieder haben in diesem Stadium des Verfahrens in Step 3 lediglich das Recht, weitere Beratungen innerhalb der ICH zu verlangen, wenn eines dieser Mitglieder wegen eines erheblichen Abweichens von dem Step 2a-Dokument oder wegen neuer Themen, die in der Guideline behandelt werden müssen, erhebliche Bedenken gegen die Guideline hat.75 Eine formale Vetoposition der Industriemitglieder besteht im Prozess der Erstellung einer Guideline demnach nicht. Die Industrieseite kann jedoch im Erarbeitungsprozess der Guidelines über den fachlich-inhaltlichen Diskussionsprozess maßgeblichen Einfluss auf den Guideline-Inhalt nehmen. Unter der vorherigen Fassung der Verfahrensordnung der ICH bestanden noch weitergehende Mitberatungs- und vor allem prozedurale Vetorechte, die sukzessive mit der Weiterentwicklung der ICH zu einem Forum der Regulierungsbehörden abgeschafft worden sind. So konnten die industriellen ICH-Mitglieder noch unter der Verfahrensordnung 2015 auf der Stufe 4 eine Guideline verhindern, die grundlegend von der im Anhörungsverfahren beratenen Version abwich,76 was ihnen unter der seit 2017 geltenden Verfahrensordnung nicht mehr möglich ist.77 Neben dem beschriebenen Verfahren zur Erstellung von Guidelines kennt die ICH weitere formalisierte Verfahren, z. B. Verfahren zur Überarbeitung von Guide­ 74

Standard Operating Procedure of the ICH Working Groups, Version 3.0 (Stand: 29.05.2017), S. 22 Nr. 2.1.5(a) (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 75 Standard Operating Procedure of the ICH Working Groups, Version 3.0 (Stand: 29.05.2017), S. 23 Nr. 2.1.5(c) (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 76 ICH Procedures endorsed by the Steering Committee on June 10 2015, verfügbar unter http://www.ich.org/fileadmin/Public_Web_Site/ABOUT_ICH/Process_of_Harmonisation/ ICH_Procedures_updated_July_2_2015.pdf (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 77 Standard Operating Procedure of the ICH Working Groups, Version 3.0 (Stand: 29.05.2017), S. 24 Nr. 2.1.6 (zuletzt abgerufen am 30.06.2017).

B. Die Zulassungsverfahren

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lines oder zur Erstellung von weiteren Dokumenten und Empfehlungen, die die Umsetzung von Guidelines erleichtern sollen.78 2. Weitere transnationale Normsetzer Schließlich sei ergänzend darauf hingewiesen, dass transnationale Regelungen mit Relevanz für den Arzneimittelverkehr nicht nur von dem ICH stammen. Die Herstellung von Arzneimitteln ist durch die Erstellung von Arzneibuchstandards, die Qualitätsanforderungen an Arzneimittel aufstellen, transnational geprägt. Die Aufgaben der Entwicklung der entsprechenden Qualitätsstandards wird in Europa durch das European Directorate for the Quality of Medicines and Health Care (EDQM) wahrgenommen, einer Unterorganisation des Europarats, die das Sekretariat für die Europäische Pharmakopöe-Kommission bildet. Diese Kommission setzt sich aus Experten zusammen, die von den Mitgliedstaaten der zugehörigen Konvention entsandt werden.79 Auch auf WHO-Ebene werden Standards mit Relevanz für die Arzneimittelprüfung und für klinische Studien sowie zur Klassifizierung von arzneilich wirksamen Bestandteilen vereinbart.80

B. Die Zulassungsverfahren Arzneimittel können in zentralen, dezentralen und nationalen Verfahren zugelassen werden. Daneben existiert das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung nationaler Zulassungen. Dem AMG unterliegen damit sowohl rein nationale als auch europarechtlich geregelte Zulassungsverfahren. Letztgenannte Verfahren bilden die dezentrale Zulassung und das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung, die zusammen mit der nationalen Zulassung in die Vorschriften der §§ 21 ff. AMG integriert worden sind. Soweit Deutschland in einem europäischen Verfahren als Referenzmitgliedstaat fungiert, wird ein Zulassungsverfahren wie bei einer nationalen Zulassung durchgeführt. Im Übrigen wird in den Vorschriften zu den jeweiligen Verfahrensschritten auf die maßgeblichen europäischen Richtlinien Bezug genommen.81 Das zentrale Zulassungsverfahren gemäß der VO (EG) Nr. 726/2004 verweist im Wesentlichen gleichfalls auf die Richtlinie 2001/83/EG sowie die weiteren, zusammenhängenden Vorschriften.

78

Standard Operating Procedure of the ICH Working Groups, Version 3.0 (Stand: 29.05.2017), S. 24 ff. Nr. 2.2–2.5 (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 79 S. Übereinkommen vom 22.07.1964 über die Ausarbeitung eines Europäischen Arzneibuches, BGBl. II 1973, S.  701; dazu Fleischfresser, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 3 Rn. 46 ff. 80 S. Kügel, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 73a Rn. 20. 81 S. Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, Vor § 21 Rn. 16 ff.; Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 21 Anm. 4.

136

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Um die Bedeutung des nationalen Verfahrens einschätzen zu können, ist ein Blick auf die Verfahrensstatistik hilfreich: Nach Angaben des BfArM wurden im Jahr 2016 im (rein) nationalen Verfahren insgesamt 243 Zulassungen erteilt. Davon entfiel lediglich eine Zulassung auf einen neuen Stoff im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 1 AMG, wohingegen die übrigen 242 Zulassungen bereits bekannte Stoffe betrafen. Im dezentralen Verfahren wurden 61 Zulassungen für neue Stoffe erteilt, wobei das BfArM in 36 Fällen als federführender Mitgliedstaat beteiligt war. Eine weitere Zulassung für einen neuen Stoff wurde im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung erteilt. Für bekannte Stoffe wurden im selben Zeitraum 989 Zulassungen im dezentralen Zulassungsverfahren sowie 93 Zulassungen im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung erteilt.82 Die EMA hat im selben Jahr für 81 Arzneimittel eine positive Empfehlung ausgesprochen, die in 27 Fällen einen neuen Wirkstoff betrafen, und über 16 Anträge nicht entschieden, da sie zuvor zurückgezogen worden waren.83 Dies zeigt, dass neue Wirkstoffe praktisch ausschließlich im europäischen Zulassungsverfahren zugelassen werden, wobei der zentralen Zulassung ein erhebliches Gewicht mit etwa einem Drittel der neuen Wirkstoffe zukommt.

I. Zulassungspflichtige und zulassungsfreie Arzneimittel Arzneimittel dürfen nach § 21 Abs. 1 AMG in Deutschland nur in den Verkehr gebracht haben, wenn sie entweder eine Zulassung nach nationalem Recht oder eine zentrale Genehmigung zum Inverkehrbringen erhalten haben, sofern das Arzneimittel nicht aus anderen Gründen zulassungsfrei ist. Die Zulassungspflicht der §§ 21 ff. AMG gilt für Fertigarzneimittel.84 Abweichend davon bestimmen die §§ 39 ff. AMG, unter welchen Voraussetzungen homöopathische Fertigarzneimittel keiner Zulassung bedürfen, sondern lediglich registriert werden müssen.85 Auch für die Registrierung ist die Vorlage von Unterlagen über die Qualität und Sicherheit des Produktes erforderlich; eine Versagung der Registrierung erfolgt in den in § 39 Abs. 2 AMG bezeichneten Fällen. Für traditionelle pflanzliche Arzneimittel gilt gleichfalls eine Registrierungspflicht. In dem Registrierungsverfahren müssen Nachweise zur Qualität und Unbedenklichkeit

82

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bearbeitungsstatistik 2016, abrufbar unter http://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/Statistik/AM-Statistik/stat2016-internet.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 83 EMA Annual Report 2016, abrufbar unter http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document _library/Annual_report/2017/05/WC500227334.pdf (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 84 Zum Arzneimittelbegriff s. Krüger, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 4 Rn. 4 ff.; Winter, Die Verwirklichung des Binnenmarktes für Arzneimittel, 2004, S. 64 ff. 85 Dazu Wagner, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 6 Rn. 181 ff.; Tolle, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 7 Rn. 95 ff.

B. Die Zulassungsverfahren

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beigebracht werden. Die Regelung des § 39c Abs. 2 AMG benennt die einzelnen Versagungsgründe für die Erteilung der Registrierung.86 Einen weiteren Spezialfall der Zulassung stellt die sog. vereinfachte Zulassung dar, die durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelt worden ist.87 Dieses vereinfachte Zulassungsverfahren betrifft Parallelimporte im EU-Binnenmarkt. Das parallelimportierte Arzneimittel ist in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen, nicht aber im Einfuhrstaat. Dort ist aber eine Zulassung für ein gleiches („paralleles“) Präparat bereits erteilt worden. Kern des vereinfachten Zulassungsverfahrens ist es, diese „Gleichheit“ zwischen dem im Einfuhrstaat zugelassenen Arzneimittel und dem importierten Präparat zu prüfen.88 Sind die Präparate in diesem Sinne vergleichbar, bedarf es keiner erneuten Zulassung im Einfuhrstaat, sondern nur noch des Nachweises der Gleichheit.89 Es handelt sich also um ein vereinfachtes Verfahren zur Anerkennung einer ausländischen nationalen Zulassung im Einfuhrstaat, auf die ebenfalls die Richtlinie 2001/83/EG in der jeweiligen nationalen Umsetzung Anwendung gefunden hat. Andere Arten von Arzneimitteln bedürfen dagegen keiner Zulassung. Einige Produkttypen sind durch § 21 Abs. 2 AMG von der Zulassungspflicht freigestellt, wie beispielsweise solche Rezepturarzneimittel, die in einer Apotheke auf ärztliche Verordnung auf Grund einer Einzelrezeptur hergestellt werden,90 oder Arzneimittel im Compassionate Use. Diese in § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG vorgesehene Möglichkeit, die auf Art. 83 VO 726/2004 zurückgeht, ermöglicht die Anwendung von Arzneimitteln im Rahmen eines sog. Härtefallprogramms nach Maßgabe der Arzneimittel-Härtefall-Verordnung (AMHV) für Erkrankungen, die lebensbedrohlich sind oder zu schweren Behinderungen führen können, sofern es für sie keine hinreichenden Therapiealternativen gibt.91 Es müssen dabei für das nicht zugelassene Arzneimittel ausreichende Erkenntnisse über die Wirksamkeit und Produktsicherheit vorliegen. Zudem muss ein Zulassungsantrag auf europäischer oder mitglied-

86

S. Wagner, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 6 Rn. 209 ff.; Stolte, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 7 Rn. 134 ff. 87 EuGH, Urteil vom 20.05.1976 – Rs. 104/75, Slg. 1976, 613 (637 f.); EuGH, Urteil vom 12.11.1996 – Rs. C-201/94, Slg. 1996, I-5819 (I-5855 f.); EuGH, Urteil vom 16.12.1999 – Rs. C-94/98, Slg. 1999, I-8789 (I-8827 f.) (I-8835 f.); Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, Vorb. vor § 21 Rn. 24; Lorenz, Das gemeinschaftliche Arzneimittelzulassungsrecht, 2006, S. 227 ff. 88 Zu den Voraussetzungen eines Parallelimports s. Wagner, PharmR 2001, 174 (174 f.) m. w. N.; Heinemann, PharmR 2001, 180 ff.; Koenig / Engelmann / Sander, GRUR Int. 2001, 919 (921). 89 S. Lorenz, Das gemeinschaftliche Arzneimittelzulassungsrecht, 2006, S. 230 ff. Zum Prüfungsumfang s. EuGH, Urteil vom 12.11.1996 – Rs. C-201/94, Slg. 1996, I-5819 (I-5855 ff.); aus der Literatur Heinemann, PharmR 2001, 180 (181 f.); Koenig / Engelmann / Sander, GRUR Int. 2001, 919 (922). 90 Fleischfresser, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 2 Rn. 173. 91 Verordnung über das Inverkehrbringen von Arzneimitteln ohne Genehmigung oder ohne Zulassung in Härtefällen (Arzneimittel-Härtefall-Verordnung) vom 14.07.2010, BGBl. I S. 935.

138

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

staatlicher Ebene gestellt worden sein, oder es muss bereits eine klinische Prüfung mit diesem Arzneimittel durchgeführt werden. Eine weitere Ausnahme von der Zulassungsprüfung nach §§ 21 ff. AMG ist die sog. Standardzulassung nach § 36 AMG. Auf der Grundlage dieser Ermächtigungsgrundlage ist die Arzneimittel-Standardzulassungsverordnung (StandZV)92 erlassen worden, die einen Katalog von Fertigarzneimitteln von der Pflicht zur Einzelzulassung nach §§ 21 ff. AMG freistellt.93 Weitere Ausnahmen von dem Verkehrsverbot ohne Zulassung können auch in den Vorschriften über den Einzelimport von im Inland nicht zugelassenen und damit nicht verkehrsfähigen Arzneimitteln gesehen werden. So ist nicht nur der Versandhandel mit nicht im Inland zugelassenen Medikamenten innerhalb der EU gem. § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG möglich, sondern es können auch gem. § 73 Abs.  3 Satz 2 AMG Arzneimittel von Apotheken beschafft und nach Maßgabe insb. des § 18 Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) abgegeben werden, wenn es für die Indikation des im Ausland zugelassenen Arzneimittels im Inland keine zugelassenen Medikamente gibt oder wenn eine Bevorratung für den Notfall vorgeschrieben ist.

II. Das zentrale Zulassungsverfahren Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG dürfen nicht nur nach dem AMG zugelassene Arzneimittel in Deutschland in den Verkehr gebracht werden, sondern auch solche Arzneimittel, die von der Europäischen Union eine Genehmigung zum Inver­ kehrbringen nach Art. 3 Abs. 1 oder 2 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 erhalten haben. Diese Genehmigung wird nach Art. 10 Abs. 2 VO 726/2004 von der EU-Kommission erteilt, nachdem die EMA eine Empfehlung über das betreffende Arzneimittel ausgesprochen hat. 1. Anwendungsbereich Wie bereits beschrieben, bestehen zwei Kategorien von Arzneimitteln, die im zentralen Verfahren zugelassen werden. Nach Art. 3 Abs. 1 VO 726/2004 müssen zwingend alle Arzneimittel, die unter die Liste im Anhang zur Verordnung fallen, durch die EMA evaluiert und von der EU-Kommission zugelassen werden. Das CHMP hat hierzu eine Auslegungsleitlinie herausgegeben, die insbesondere die im Anhang zur Verordnung genannten Krankheiten näher definiert. Dazu bedient

92

Verordnung über Standardzulassungen von Arzneimitteln vom 03.12.1982, BGBl. I S. 1601, zuletzt geändert durch Art. 1 Elfte ÄndVO vom 19.10.2006, BGBl. I S. 2287. 93 S. dazu Krüger, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 36 Rn. 2 ff.

B. Die Zulassungsverfahren

139

sich das Dokument insbesondere der ICD-10-Codes als Grundlage der Abgrenzung von Krankheitsbildern.94 Alle anderen Arzneimittel, die nicht unter den Katalog im Anhang fallen, können gem. Art. 3 Abs. 2 VO 726/2004 in diesem Verfahren fakultativ zugelassen werden, sofern sie einen neuen Wirkstoff enthalten oder wenn der Antragsteller nachweist, dass das Arzneimittel eine bedeutende Innovation in therapeutischer, wissenschaftlicher oder technischer Hinsicht darstellt, oder wenn er darlegt, dass die zentrale Zulassung im Interesse der Patienten liegt. Nach Erwägungsgrund 9 zur VO 726/2004 soll dies beispielsweise bei nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln der Fall sein, deren sofortige Verfügbarkeit in allen Mitgliedstaaten der EU von Vorteil für die Patienten oder die Gesellschaft wäre.95 Die Begründung des Antragstellers, das zentrale Verfahren nutzen zu dürfen, wird in einer beschleunigten Kurzbewertung durch den zuständigen Ausschuss der EMA, das CHMP, bewertet, indem ein Berichterstatter die Argumentation überprüft und das CHMP daraufhin einen Beschluss über die Statthaftigkeit des zentralen Zulassungsverfahrens für dieses Arzneimittel trifft.96 2. Verfahrensablauf Das zentrale Zulassungsverfahren beginnt in beiden Fällen des Art. 3 VO 726/ 2004 einheitlich mit der Stellung des Antrags auf Erteilung der Genehmigung zum Inverkehrbringen. Für die Bestimmung des Inhalts des Antrags und der erforderlichen Unterlagen verweist Art.  6 Abs.  1 VO  726/2004 auf die Richtlinie 2001/83/EG und die dort genannten Einzelheiten. Das CHMP, das dieses Verfahren koordiniert, ist nach Art. 56 VO 726/2004 ein notwendiges Organ der EMA. Es setzt sich gem. Art. 61 VO 726/2004 aus je einem Mitglied und einem stellvertretenden Mitglied jedes EU-Mitgliedstaates zusammen. Daneben kann der Ausschuss bis zu fünf zusätzliche Mitglieder kooptieren, die auf Grund ihrer spezifischen wissenschaftlichen Kompetenz ausgewählt werden sollen. An den Sitzungen des CHMP dürfen darüber hinaus der Verwaltungsdirekter der EMA bzw. sein Stellvertreter sowie Vertreter der EU-Kommission teilnehmen. Außerdem können sich die Mitglieder des CHMP von Sachverständigen begleiten lassen. Bezüglich der Auswahl der mitgliedstaatlichen Vertreter hat sich die Praxis herausgebildet, dass die Mitgliedstaaten in aller Regel Vertreter ihrer nationalen Zulassungsbehörden als Mitglieder benennen.97 Daher wird das CHMP auch als Netzwerk der Zulassungsbehörden der Mitgliedstaaten charakterisiert.98 94 CHMP, Scientific Aspects and Working Definitions for the Mandatory Scope of the Centralized Procedure, Doc. Ref. EMEA / CHMP/121944/2007. 95 Rummel, Verfahrensrechte im europäischen Arzneimittelzulassungsrecht, 2006, S. 10. 96 Enzmann / Schneider, Bundesgesundheitsblatt 51 (2008), 731 (734). 97 Krapohl, Risk Regulation in the Single Market, 2008, S. 77. 98 Krapohl, Risk Regulation in the Single Market, 2008, S. 77.

140

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Dieses Netzwerk weist insoweit die Eigenschaft auf, eine hohe Fachkompetenz zu versammeln, die durch die Einbeziehung weiterer Sachverständiger in die Beratungsprozesse zusätzlich gesteigert wird. Die Auswahl der Sachkompetenz erfolgt allerdings strikt auf administrativer Seite, da es insoweit keine Prozesse der Öffentlichkeitsbeteiligung gibt. Für die Begutachtung selbst hat das CHMP nach Art. 6 Abs. 3 VO 726/2004 lediglich 210 Tage Zeit. Allerdings besteht nach der sog. „Stop clock“-Regel in Art. 7 lit. c VO 726/2004 die Möglichkeit, den Fristlauf zu hemmen. Diese Regelungen ermöglichen es dem Antragsteller, in Abstimmung mit dem CHMP weitere Unterlagen vorzulegen oder Stellungnahmen abzugeben. Die Begutachtung der Antragsunterlagen wird von einem Berichterstatter (Rappor­teur) und einem Co-Berichterstatter vorgenommen. Die Berichterstatter sind Mitglieder des CHMP und können sich um die Berichterstatterrolle in einem Verfahren bewerben; die Auswahl soll nach dem Grundsatz der besten fachlichen Expertise erfolgen.99 Beide Berichterstatter erstellen innerhalb von 80 Tagen einen Bewertungsbericht über die eingereichten Unterlagen, in dem sie Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels beurteilen. Die Bewertung erfolgt dabei nicht allein durch die Berichterstatter persönlich, sondern durch Bewertungsteams, die von den Berichterstattern selbst zusammengestellt werden. Dazu bedienen sie sich üblicherweise der Ressourcen ihrer nationalen Behörden, von denen sie entsandt worden sind, und können zudem die Unterstützung von ausgewählten Sachverständigen in Anspruch nehmen, die auf einer Sachverständigenliste, der „List of European Experts“, geführt sind.100 Von der EMA wird die Einbindung von externen Sachverständigen als Bestandteil eines netzwerkartigen Ansatzes verstanden und soll der Verbesserung der wissenschaftlichen Qualität der EMA-Tätigkeiten dienen.101 Im Rahmen der Begutachtung können Ermittlungen angestellt und Mängel untersucht werden. Hierzu können die Berichterstatter je nach Fallgestaltung beispielsweise Inspektionen der Herstellungsanlagen gem. Art. 8 Abs. 2 VO 726/2004, die laborchemische Überprüfung der Ausgangssubstanzen oder von Zwischenprodukten gem. Art. 7 lit. b VO 726/2004 sowie weitere Untersuchungsmaßnahmen vorschlagen. Ferner kann angeregt werden, weitere Unterlagen oder Angaben vom Antragsteller anzufordern. Hierüber befindet der CHMP, nachdem dessen Mitglieder die Gutachten überprüft und kommentiert haben. Dieser Verfahrens 99

Enzmann / Schneider, Bundesgesundheitsblatt 51 (2008), 731 (734). Krapohl, Risk Regulation in the Single Market, 2008, S. 92; die Liste findet sich online abrufbar unter: http://www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/about_us/landing/experts. jsp (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 101 So präsentiert die EMA die Expertenbeteiligung auf ihrer Onlinepräsenz: http://www.ema. europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/about_us/general/general_content_000671.jsp&mid= WC0b01ac05809f8ed0 (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 100

B. Die Zulassungsverfahren

141

schritt ist nach 20 weiteren Tagen, also am Tag 100 nach Verfahrensbeginn, abzuschließen.102 Der Berichterstatter führt die Fragen und Kommentare zu beiden Gutachten zusammen und erstellt, nach Konsultation von zuvor ausgewählten CHMP-Mitgliedern als Berater, eine Fragenliste für den Antragsteller, die das CHMP am Tag 120 beschließt. Zu diesem Zeitpunkt besteht daher die Möglichkeit, dass das Bewertungsverfahren zwecks weiterer Rückfragen an den Antragsteller und der Anforderung von Stellungnahmen und Unterlagen ausgesetzt wird („Clock stop“). In dieser Phase erfolgen auch eventuell beschlossene Inspektionen.103 Ab dem Ende dieser Nachforschungsphase geht das Bewertungsverfahren mit Tag 121 der 210-Tages-Frist weiter. Die beiden Berichterstatter verfassen einen gemeinsamen Bewertungsbericht, der wie die beiden getrennten Gutachten vor dem Clock stop behandelt wird: Identifizierung von erheblichen und geringfügigen Mängeln und Einwänden, Beratung durch das CHMP, Erarbeitung einer Fragenliste und Beschlussfassung hierüber. Am Tag 180 des Bewertungsverfahrens findet eine mündliche Anhörung des Antragstellers statt. Parallel sind bereits die formalen Anforderungen an das Arzneimittel überprüft worden, insbesondere die Entwürfe der Verpackung und der Gebrauchs- sowie der Fachinformation.104 Auf der Grundlage dieser Anhörung und der anschließenden Beratung findet am Tag 210 die finale Entscheidung statt, ob der EU-Kommission die Erteilung der Genehmigung zum Inverkehrbringen vorgeschlagen wird. Sollte das CHMP dabei zu dem Ergebnis kommen, dass keine Zulassung erteilt werden darf, wird der Antragsteller von der EMA gem. Art. 9 VO 726/2004 hierüber unterrichtet. Der Antragsteller kann daraufhin binnen 15 Tagen entscheiden, ob er eine Überprüfung des Gutachtens bei der EMA beantragt. Beantragt er eine solche Überprüfung, kann er seinen Antrag binnen 60 Tagen begründen. Das CHMP hat sodann weitere 60 Tage Zeit, um über die Einwände zu beraten. Nach der finalen Entscheidung des CHMP wird das endgültige Gutachten an die EU-Kommission übermittelt, die gem. Art. 10 VO 726/2004 binnen 15 Tagen einen Entscheidungsentwurf erstellt. Dieser ist zu begründen, soweit die Kommission vom Gutachten des CHMP abweichen will. Dieser Entwurf wird den Mitgliedstaaten und dem Antragsteller zugeleitet. Auf der europäischen Ebene wird sodann im Wege des Komitologieverfahrens eine Beteiligung der Mitgliedstaaten an dem Erlass der Entscheidung bewirkt: Die Regelung in Art. 10 Abs. 2 VO 726/2004 besagt, dass das in Art. 87 Abs. 3 VO 726/2004 genannte Verfahren durchzuführen ist. Diese Bestimmung verweist auf Artt. 4 und 7 des Beschlusses 1999/468/ EG, der durch die Verordnung (EU) Nr. 182/2011 mit Wirkung zum 01.03.2011 aufgehoben worden ist. Die Verweise auf den alten Komitologiebeschluss werden durch Art. 13 VO 182/2011 auf die neuen Komitologieregeln übergeleitet. Bereits nach altem Recht war jedoch das sog. Prüfverfahren durchzuführen, das nach wie

102

Enzmann / Schneider, Bundesgesundheitsblatt 51 (2008), 731 (734). Enzmann / Schneider, Bundesgesundheitsblatt 51 (2008), 731 (735). 104 Enzmann / Schneider, Bundesgesundheitsblatt 51 (2008), 731 (735). 103

142

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

vor existiert und nunmehr in Art. 5 VO 182/2011 mit der Maßgabe gem. Art. 13 Abs.  1 lit.  b VO 182/2011 geregelt ist. Danach muss der Komitologieausschuss mit der Mehrheit gem. Art. 16 Abs. 4 und 5 EUV, Art. 238 Abs. 3 AEUV dem Kommissionsvorschlag zustimmen oder untätig bleiben, damit die Kommission die Entscheidung in der vorgeschlagenen Fassung treffen kann. Der Komitologieausschuss kann allerdings dem Vorschlag auch widersprechen, was der Kommission die Möglichkeit eröffnet, von ihrem Vorschlag abzusehen, ihn zu modifizieren oder ihn in unveränderter Fassung dem Berufungsausschuss vorzulegen, der sodann endgültig entscheidet.

3. Rechtswirkungen Mit der erteilten Genehmigung darf das Arzneimittel im gesamten Geltungsbereich der Verordnung in den Verkehr gebracht werden. Die EMA veröffentlicht gem. Art. 13 Abs. 3 VO 726/2004 den Beurteilungsbericht des CHMP über das Arzneimittel, wobei die Verpflichtung besteht, alle „vertraulichen Angaben geschäftlicher Art“ zuvor zu streichen. Zusätzlich wird ein allgemeinverständlicher Bericht, der Europäische Öffentliche Beurteilungsbericht (EPAR), erstellt und gleichfalls öffentlich zugänglich gemacht. Diese Regelung gilt entsprechend für negative Kommissionsentscheidungen, sodass die Beurteilung des CHMP gleichfalls veröffentlicht wird. Noch nach der Erteilung der Genehmigung zum Inverkehrbringen kann die EMA gem. Art. 10a VO 726/2004 Auflagen für die Zukunft erteilen, die weitergehende Studien, andere Unbedenklichkeitsnachweise oder ähnliche Maßnahmen umfassen können. Der Genehmigungsinhaber kann dem widersprechen und eine gegenteilige Stellungnahme abgeben. Die EU-Kommission entscheidet in diesem Fall über die Erteilung der Auflagen.

III. Das dezentrale Zulassungsverfahren Arzneimittel, die nicht zentral zugelassen werden müssen, können nach Wahl des Herstellers entweder unter den weiteren Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 VO 726/2004 optional zentral zugelassen werden, oder der Hersteller entscheidet sich – freiwillig oder mangels Vorliegen der genannten Voraussetzungen obligatorisch  – für eine Zulassung durch die mitgliedstaatlichen Behörden. In diesen Fällen besteht die Möglichkeit, gleichfalls eine europaweite Zulassung zu erlangen. Hierzu müssen aber alle nationalen Zulassungsbehörden beteiligt werden. Besteht bereits in einem Mitgliedstaat eine Zulassung, so kann der Antragsteller das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung in den übrigen Mitgliedstaaten, in denen er eine Zulassung wünscht, betreiben. Handelt es sich dagegen um eine Neuzulassung im Gebiet der EU, ist die Zulassung über das dezentrale Zulassungsverfahren

B. Die Zulassungsverfahren

143

möglich. Dies bedeutet, dass ein Mitgliedstaat als Referenzstaat fungiert und die übrigen Mitgliedstaaten dessen Beurteilungsbericht für die jeweiligen eigenen Verfahren erhalten und als Entscheidungsgrundlage verwenden. 1. Verfahrensablauf Im Detail lassen sich, wie bereits skizziert, zwei unterschiedliche Verfahrensabläufe unterscheiden. Beide finden sich im Vierten Kapitel der Richtlinie 2001/83/ EG. Im dezentralen Verfahren im engeren Sinne hat der Antragsteller gem. Art. 28 Abs. 3 RL 2001/83/EG einen Referenzmitgliedstaat zu benennen, der einen Beurteilungsbericht verfasst, auf deren Grundlage die Mitgliedstaaten, in denen die dezentrale Zulassung ebenfalls beantragt wird, eine Prüfung nach dem Verfahren des Art. 28 Abs. 4 RL 2001/83/EG vornehmen. Im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung wird dieser Beurteilungsbericht auf Antrag nachträglich verfasst, um die Anerkennung der bereits erteilten Zulassung gem. Art. 28 Abs. 2 RL 2001/83/ EG in den übrigen Mitgliedstaaten zu erwirken. Die anderen Mitgliedstaaten, in denen eine Zulassung auf der Grundlage der Beurteilung durch den Referenzmitgliedstaat beantragt wird, haben regelmäßig eine Prüfungsfrist von 90 Tagen für ihre eigene Zulassungsentscheidung. In beiden Verfahren kann ein anderer Mitgliedstaat eine abweichende Entscheidung nur nach Maßgabe des Art.  29 RL 2001/83/EG begründen. Als Rechtfertigung der Ablehnung des Zulassungsantrags kommt lediglich eine „potenzielle schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Gesundheit“ in Betracht. Dieser Rechtsbegriff wird durch eine Kommissionsleitlinie konkretisiert. Danach muss eine Gefahr in einer der Kategorien Wirksamkeit, Sicherheit, Qualität, Nutzen-Risiko-Verhältnis insgesamt sowie Produktinformation vorliegen. Der Gefahrenmaßstab wird dahingehend definiert, dass es sehr wahrscheinlich sein muss, dass im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Verwendung des Arzneimittels eine schwerwiegende Gefahr entsteht, wobei „schwerwiegend“ bedeutet, dass die Gefahr tödlich oder lebensbedrohlich ist, zu bleibender oder schwerwiegender Behinderung oder Invalidität führt oder auch eine stationäre Behandlung verlängert oder erforderlich macht.105 Angesichts der Tatsache, dass die Harmonisierung der arzneimittelrechtlichen Zulassungsvorschriften in allen Mitgliedstaaten zur Anwendung der selben Maßstäbe hinsichtlich der Beurteilung der Wirksamkeit, Sicherheit und Qualität des Arzneimittels führen soll, bedarf es insoweit der Einführung eines Koordinierungsmechanismus, um über den Vorbehalt der schwerwiegenden Gefahren für die öffentliche Gesundheit nicht unterschiedlichen nationalen Beurteilungsmaßstäben Raum zu geben.

105 Leitlinien zur Definition einer potenziellen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Gesundheit im Sinne von Artikel 29 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 2001/83/EG – März 2006, ABl. EU vom 08.06.2006, C 133/5.

144

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

2. Koordinierung der nationalen Behörden Die Notwendigkeit einer Abstimmung der nationalen Behörden bei der Bewertung von Arzneimitteln wurde nach Schaffung der Richtlinie 2001/83/EG ebenfalls vom Unionsnormsetzer gesehen. Durch Art. 27 RL 2001/83/EG wird seit 2004 eine Koordinierungsgruppe vorgesehen, die nach ihrer englischen Bezeichnung „Coordination group for Mutual recognition and Decentralised procedures-Human“ mit CMD(h) abgekürzt wird.106 Diese Koordinierungsgruppe ist die Nachfolgerin einer zuvor rein informell von den Mitgliedstaaten eingesetzten Koordinierungsgruppe, der „Mutual Recognition Facilitation Group“ (MRFG). Diese informelle Gruppe war bereits 1995 entstanden, um die Verfahren der gegenseitigen Anerkennung unter der damaligen Rechtslage zu vereinfachen. Die Mitgliedstaaten hatten nämlich unmittelbar nach dem Beginn der gegenseitigen Anerkennung im Arzneimittelbereich erkannt, dass eine intensive Absprache und Vereinheitlichung von zulassungsbezogenen Prüfungen und Verfahren erforderlich wurde. Daher tagten regelmäßig Vertreter der nationalen Zulassungsbehörden, um diesen Koordinierungsanforderungen gerecht zu werden und Handreichungen für Antragsteller zu erstellen, damit die gegenseitige Anerkennung von Zulassungsentscheidungen vereinfacht werden konnte.107 Die Aufgaben der CMD(h) gehen jedoch weit über die ihrer Vorgängerin, der MRFG, hinaus. Zunächst ist die Koordinierungsgruppe nach Art. 29 Abs. 3 RL 2001/83/EG in das Verfahren zur Beilegung über Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Bewertung von Arzneimitteln eingebunden.108 Macht ein Mitgliedstaat von dem Verfahren nach Art. 29 Abs. 1 RL 2001/83/EG Gebrauch, so soll zunächst in der Koordinierungsgruppe ein Schlichtungsversuch stattfinden. Wird innerhalb dieser Gruppe daraufhin keine Einigung erzielt, wird die EMA beteiligt. Das CHMP erstellt daraufhin gem. Art. 32 RL 2001/83/EG ein Gutachten über die strittigen Fragen. Auf der Grundlage des Gutachtens entscheidet sodann im Verfahren gem. Art. 33 RL 2001/83/EG die EU-Kommission nach Anhörung des Antragstellers und der Mitgliedstaaten im Wege des sog. Prüfverfahrens nach den Komitologieregeln. Diese Entscheidung ist gem. Art. 34 RL 2001/83/EG verbindlich. Insoweit wird berechtigterweise darauf hingewiesen, dass die Einführung dieses Schiedsverfahrens die dezentrale Zulassung maßgeblich der zentralen Zulassung angenähert hat.109

106 Zu Struktur auf Aufgaben s. den Überblick bei Friese, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 5 Rn. 162 ff. 107 Dazu Janse-de Hoog, Pharmaceuticals Policy and Law 9 (2007), 343 (347 ff.). 108 Zum Überblick über das Verfahren s. Roth, EuR 2007, Beiheft 2, 9 (16 f.). 109 Sabel / Zeitlin, European Law Journal 14 (2008), 271 (286); Krapohl, Risk Regulation in the Single Market, 2008, S. 105.

B. Die Zulassungsverfahren

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IV. Ablauf von nationalen Zulassungsverfahren Das nationale Zulassungsverfahren ist als Folge der europarechtlichen Vereinheitlichung und Zentralisierung der Arzneimittelprüfung nach dem oben Gesagten primär für nicht innovative Arzneimittel sowie für deren Generika von Bedeutung. Auch dieses Zulassungsverfahren folgt jedoch den materiellen und teilweise auch den prozeduralen Vorgaben der Richtlinie 2001/83/EG. 1. Verfahrensablauf Das Zulassungsverfahren für Fertigarzneimittel beginnt mit dem schriftlichen Antrag des pharmazeutischen Unternehmers nach § 21 Abs. 3 AMG. Es gibt keine „Zulassung von Amts wegen“. Der vom pharmazeutischen Unternehmer gestellte Antrag begrenzt auch die Anwendungsgebiete, für die eine Zulassung erteilt werden kann. Wird für ein bestimmtes Anwendungsgebiet kein Antrag gestellt, darf spiegelbildlich auch insoweit keine Zulassung erteilt werden.110 Auf Antrag einer Landesbehörde kann die zuständige Bundesoberbehörde lediglich gem. § 21 Abs. 4 AMG feststellen, ob überhaupt ein zulassungspflichtiges Arzneimittel vorliegt, um Rechtsklarheit herzustellen und die Überwachung durch die Landesbehörden gem. § 64 AMG zu vereinheitlichen.111 Die Zulassungsbehörde prüft die Zulassungsfähigkeit eines Arzneimittels gem. § 25 Abs. 5 Satz 1 AMG allein auf der Grundlage der Unterlagen, die der pharmazeutische Unternehmer mit seinem Zulassungsantrag einreicht. Dementsprechend ist die Unvollständigkeit der Unterlagen gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AMG auch ein Versagungsgrund für die Zulassung.112 Die dafür erforderlichen Unterlagen und Nachweise ergeben sich aus §§ 22 bis 24 AMG in Verbindung mit den Arzneimittelprüfrichtlinien und dem CTD.113 Manche Produkte sind dabei von der Pflicht, ein komplettes Dossier vorlegen zu müssen, teilweise befreit. Für Generika oder sog. Biosimilar-Produkte gelten Besonderheiten, ebenso wie für seit langem bekannte und eingeführte Wirkstoffe bzw. für Kombinationen aus diesen.114 Er 110

Winnands, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 21 Rn.  89; Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 21 Anm. 57; Fleischfresser / Fuhrmann, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 7 Rn. 7. 111 Vgl. hierzu und zur verwaltungsverfahrensrechtlichen Einordnung Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 21 Anm. 73 f. einerseits sowie andererseits OVG Münster, PharmR 2010, 607 (608); Winnands, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 21 Rn. 96; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 21 Rn. 13; Heßhaus, in: Spickhoff (Hr.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 21 AMG Rn. 21. 112 Dazu Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm. 21. 113 Zu Einzelheiten s. Wagner, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 6 Rn. 20 ff. und Schraitle, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 67 ff. 114 Übersicht bei Menges / Winnands, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 99.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

gänzend bestimmt die Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 über Kinderarzneimittel ein abweichendes Prüfprogramm.115 Insbesondere muss gem. Art. 7 Abs. 1 lit. a VO 1901/2006 vorbehaltlich einer Ausnahmeregelung im Einzelfall ein sog. pädiatrisches Prüfkonzept umgesetzt werden, mittels dessen ein Nachweis der Qualität, Sicherheit und Unbedenklichkeit erbracht werden soll, der den besonderen Anforderungen an Arzneimittel für Kinder gerecht wird.116 Der allgemeine verwaltungsverfahrensrechtliche Untersuchungsgrundsatz gem. § 24 Abs.  1 VwVfG ist im Zulassungsverfahren durch § 25 Abs.  5 AMG ein­geschränkt. Die Zulassungsbehörde ist daher nicht verpflichtet, bei Vorliegen eines Antrags auf Erteilung einer Zulassung die dafür erforderlichen Tatsachen selbst zu ermitteln.117 Durch § 25a AMG ist jedoch ein regelmäßig durchzuführendes Vorprüfungsverfahren vorgeschaltet worden, in dessen Rahmen Fehler im Zulassungsantrag identifiziert und nachgebessert werden können. Ferner kann die Zulassungsbehörde gem. § 25 Abs. 5 Sätze 2 und 5 AMG nicht nur mittels eigener Expertise, sondern auch durch Sachverständige die eingereichten Unterlagen auf ihre Aussagekraft hin bewerten. Nach § 25 Abs. 5 Satz 3 AMG ist die Zulassungsbehörde berechtigt, Betriebe und Einrichtungen zu begehen, weitere Unterlagen einzusehen und Auskünfte zu verlangen.118 Die Zulassungsbehörde darf die Zulassung nur verweigern, wenn ein Versagungsgrund gem. § 25 Abs.  2 Satz 1 und Abs.  3 AMG vorliegt.119 Die Entscheidung muss gem. § 27 Abs. 1 AMG innerhalb von sieben Monaten getroffen werden. Diese Frist wird nicht als Entscheidungsfrist verstanden, sondern als absolute Höchstfrist, die lediglich gem. § 27 Abs. 2 AMG gehemmt werden kann.120 Anstelle einer Versagung der Zulassung kann die Behörde auch Auflagen erteilen, um den Mangel, der der Erteilung der Zulassung entgegensteht, dadurch zu beheben oder die in § 28 AMG genannten Zwecke zu verfolgen.121

115

Dazu Lehmann, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 7 Rn. 77 ff. Lehmann, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 7 Rn. 35 ff.; Wachenhausen, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 41 Rn. 30. 117 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm.  22; vgl. Blattner, PharmR 2002, 277 (281 f.) für das zentrale Zulassungsverfahren. 118 Dazu s. § 4 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Arzneimittelgesetzes vom 29.03.2006, BAnz. Nr. 63, S. 2287; Heil / Lützeler, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 4 Rn. 176 ff. 119 Kügel, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 25 Rn. 8; Wagner, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 6 Rn. 101; Menges / Winnands, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 88; vgl. BVerwG NVwZ-RR 2004, 180 (181 f.) zum europarechtlichen Zusammenhang. 120 VG Köln, Urteil vom 06.01.2012  – 7 K 6101/11, Rn.  10 bei juris.de; VG Köln, Urteil vom 07.04.2004  – 24 K 6572/03, Rn.  9 bei juris.de; Krüger, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 27 Rn. 5; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 27 Rn. 2 f. 121 Krüger, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 28 Rn. 7. 116

B. Die Zulassungsverfahren

147

2. Rechtswirkungen Eine erteilte Zulassung gilt nicht unbegrenzt. Zunächst einmal muss von ihr Gebrauch gemacht werden, ansonsten erlischt sie gem. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AMG nach Ablauf von drei Jahren, in denen sich das Arzneimittel nicht im Verkehr befunden hat. Diese Regelung wird als „sunset clause“ bezeichnet.122 Auch wenn der pharmazeutische Unternehmer sein Medikament in den Verkehr bringt, ist die erstmalige Zulassung auf fünf Jahre befristet und erlischt nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 oder Nr. 4 AMG, wenn sie nicht verlängert wird. Diese Verlängerung ist antragsbedürftig. Wird die Verlängerung erteilt, kann dies gem. § 31 Abs. 1a AMG befristet auf weitere fünf Jahre oder unbefristet geschehen. Die Entscheidung darüber erfolgt auf der Grundlage eines Berichts des pharmazeutischen Unternehmers nach Maßgabe des § 31 Abs. 2 AMG. Der Bericht hat dabei eine überarbeitete Fassung der Unterlagen über die Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels vorzulegen. Die Zulassung muss auf der Grundlage dieser Angaben verlängert werden, wenn nicht Versagungsgründe für die Zulassung nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AMG oder Rücknahme- und Widerrufsgründe nach § 30 Abs. 1 Satz 2 AMG vorliegen. Die Zulassungsbehörde hat somit – vorbehaltlich eines Antrags des Herstellers – routinemäßig nach fünf Jahren eine Prüfung der vorhandenen Erkenntnisse daraufhin vorzunehmen, ob sich eine neue Beurteilung der Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels ergibt. Soll die Verlängerung der Zulassung wegen des Fehlens der therapeutischen Wirksamkeit verweigert werden, muss die Zulassungsbehörde nachweisen, dass sich mit dem Arzneimittel keine therapeutischen Ergebnisse erzielen lassen.123 Dies entspricht der unterschiedlichen Beweislastverteilung bei der erstmaligen Zulassungsprüfung entsprechend § 25 Abs.  5 Satz 3 AMG, in der der Antragsteller die Beweislast trägt, und der Entscheidung über eine Aufhebung der Zulassung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Satz 3 AMG. Die Zulassung kann schließlich auch gem. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AMG durch schriftlichen Verzicht erlöschen. Nach § 31 Abs. 4 AMG gibt es eine sog. „Aufbrauchfrist“, innerhalb derer das Arzneimittel noch in den Verkehr gebracht werden darf.124 Dies ist insbesondere für den Parallelimport bedeutsam, da nach Ablauf dieser Frist auch der Parallelimport dieses Arzneimittels rechtswidrig ist, soweit für derartige Produkte keine eigene Zulassung besteht.125 Nach ihrer Erteilung kann die Zulassung auch wieder aufgehoben werden. Die Regelung in Art. 116 RL 2001/83/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Zulassung auszusetzen, zurückzunehmen, zu widerrufen oder zu ändern, wenn einer der in dieser Vorschrift genannten Tatbestände erfüllt ist. Diese Tatbestände spiegeln 122

Sickmüller / Knauer / Sander, PharmR 2009, 60 ff.; Linse / Porstner, PharmR 2005, 420 ff. Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 31 Anm. 33, § 30 Anm. 11; VG Köln PharmR 2005, 186 (190). 124 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 31 Anm. 14. 125 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 31 Anm. 14. 123

148

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

die Voraussetzung der Zulassungserteilung. Danach ist eine der in dieser Vorschrift genannten Maßnahmen zulässig, wenn das Arzneimittel im Verdacht steht, schädlich zu sein, keine therapeutische Wirksamkeit zu besitzen oder ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis aufzuweisen. Ferner muss das Arzneimittel auch die angegebene qualitative und quantitative Zusammensetzung aufweisen, da andernfalls ebenso die Maßnahmen nach Art. 116 RL 2001/83/EG zu ergreifen sind. Gleiches gilt für eine Reihe von unrichtigen Angaben im Dossier oder unzureichende Kontrollen, wie Art. 116 Abs. 2 RL 2001/83/EG im Einzelnen regelt. Diese Tatbestände gelten auch für die europäische Zulassung auf Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 726/2004.126 Die zugehörige deutsche Regelung findet sich in § 30 AMG. Lagen bereits bei der Zulassung Versagungsgründe vor, die aber erst nachträglich bekannt werden, hat gem. § 30 Abs. 1 AMG eine Rücknahme der Zulassung zwingend zu erfolgen, die regelhaft ex tunc gelten soll.127 Neben diesen absoluten Rücknahmegründen kennt § 30 Abs. 2 AMG auch relative Rücknahme- und Widerrufsgründe, bei deren Prüfung die Zulassungsbehörde bezüglich der Aufhebung der Zulassung ein Ermessen besitzt. § 30 Abs. 1a AMG verpflichtet die Zulassungsbehörde, eine Zulassung zurückzunehmen oder zu widerrufen, wenn dies erforderlich ist, um eine europarechtliche Entscheidung über ein Arzneimittel umzusetzen. 3. Nachzulassungen Ein letztes Institut, das im Rahmen dieses Überblicks über das nationale Zulassungsverfahren vorgestellt werden soll, ist die sog. Nachzulassung gem. § 105 AMG. Diese Regelung ist anlässlich des Übergangs vom AMG 1961 auf das AMG 1978 als Übergangsregelung geschaffen worden, um die Verkehrsfähigkeit von bereits im Markt befindlichen Produkten solange zu erhalten, bis das Nachzulassungs­ verfahren abgeschlossen worden ist. § 105 Abs.  1 AMG fingiert daher die Zulassung solcher Arzneimittel, die sich am 01.09.1976 im Verkehr befunden haben oder aufgrund eines bis zu diesem Zeitpunkt gestellten Antrags in das Spezialitätenregister des AMG 1961 eingetragen worden sind. Solche Arzneimittel mussten nach § 105 Abs. 2 AMG der Zulassungsbehörde nach neuem Recht angezeigt werden. Insgesamt ist für rund 140.000 Arzneimittel von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht worden.128 Diese Medikamente waren auf der Grundlage des Art.  39 Abs.  2 RL 75/319/EWG binnen 15 Jahren auf ihre Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit hin zu prüfen. War bis zu dem dafür maßgeblichen Zeitpunkt, dem 30.04.1990, ein den formellen Anforderungen des § 22 Abs. 1 Nr. 1–6 AMG 126

Friese, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 5 Rn. 150. Wagner, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 6 Rn. 144; vgl. dagegen Lietz, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 9 Rn. 11 und allg. OVG Bautzen LKV 2002, 417. 128 BT-Drs. 12/5226, S. 10. 127

B. Die Zulassungsverfahren

149

entsprechendes Dossier eingereicht worden, wurde über eine Verlängerung der fiktiven Zulassung gem. § 105 Abs. 3 AMG entschieden. Nach §§ 109, 109a AMG mussten fiktiv zugelassene Medikamente besonders gekennzeichnet werden. In der Folge waren wegen des Umfangs der Zulassungsanträge noch weitere Übergangsregelungen nötig, die sich in § 136 und § 141 AMG finden.129 Das Nachzulassungsverfahren hätte bis zum 31.12.2005 endgültig abgeschlossen sein sollen, ist jedoch durch anhängige Gerichtsverfahren weiterhin verzögert worden.130

V. Besondere Zulassungsverfahren Das Zulassungsrecht kennt in einigen Fällen Abweichungen von den soeben dargestellten, regelhaften Zulassungsverfahren. Damit sind an dieser Stelle nicht die Sonderregelungen für Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen wie Homöopathie gemeint oder Besonderheiten für Arzneimittel, die noch vor Inkrafttreten des AMG 1976 zugelassen worden sind, sondern im Gegenteil bestehen vielfältige Besonderheiten in den Zulassungsverfahren für neuartige, hochinnovative und sehr komplexe Arzneimittel. Zu diesen zählen beispielsweise die „advanced therapy medicinal products“ (ATMP), die im AMG als Arzneimittel für neuartige Therapien bezeichnet werden, monoklonale Antikörper, biotechnologisch hergestellte Medikamente und andere Produktgruppen. Zudem werden im zentralen Zulassungsrecht Abweichungen vom regelhaften Zulassungsverfahren für Arzneimittel zu Behandlung seltener Leiden oder für besondere medizinische Notlagen wie etwa einem akuten Epidemie­ausbruch erlaubt. Produktimmanenten Besonderheiten wird von der EMA unter dem Konzept des „Adaptive Pathways“, was sich sinngemäß als „produktangepasstes Zulassungs­ verfahren“ übersetzen lässt, als neuer Weg des Arzneimittelsicherheitsrechts Rechnung getragen. 1. Conditional Approval Die Regelung in Art. 14 Abs. 7 VO 726/2004 erlaubt es, dass eine zentrale Zulassung abweichend von den regulären Zulassungsvoraussetzungen „vorbehaltlich besonderer Bedingungen“ erteilt wird. In diesem Fall ist die Zulassung lediglich ein Jahr gültig und kann verlängert werden. Hierzu überprüft die EMA nach jedem dieser Zeiträume, ob die besonderen Bedingungen weiterhin erfüllt werden und die Zulassung fortbestehen kann. Diese Form der vorläufigen Zulassung ist nach

129 Für einen kurzen Überblick s. Kügel, in: Terbille, MAH Medizinrecht, 2. Aufl. 2013, § 14 Rn. 131 ff.; Hofmann / Nickel, NJW 2000, 2700 ff. 130 Heßhaus, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 105 Rn. 4.

150

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Erwägungsgrund 33 der VO 726/2004 eingeführt worden, um die schnelle Verfügbarkeit von Arzneimitteln „von hohem therapeutischen Interesse“ zu realisieren. Dies entspreche sowohl „den legitimen Erwartungen der Patienten“ als auch der „immer schnelleren Entwicklung von Wissenschaft und Technik“. Die Verordnung soll daher sowohl der Verbesserung der Versorgungssituation der Patienten als auch den Interessen der Hersteller und Behandler dienen. a) Anwendungsbereich Die näheren Einzelheiten hat die EU-Kommission auf Grund der Ermächtigung in Art. 14 Abs. 7 VO 726/2004 durch eine Kommissionsverordnung geregelt. Die entsprechende Verordnung (EG) Nr. 507/2006 bestimmt, dass bedingte Zulassungen für Arzneimittel erteilt werden können, die unter eine von drei Kategorien fallen. Zunächst ist eine bedingte Zulassung für Arzneimittel möglich, die zur Vorbeugung, Diagnostik oder Behandlung einer lebensbedrohlichen oder zu schwerer Invalidität führenden Krankheit bestimmt sind. Ferner können in diesem Verfahren Arzneimittel zugelassen werden, die in Krisensituationen gegen eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit eingesetzt werden sollen. Hierzu verweist die Verordnung in Art. 2 Nr. 2 auf die entsprechende Liste der WHO oder die Aufnahme in die Entscheidung Nr. 2119/98/EG. Schließlich bilden die sog. Orphan Drugs im Sinne des Art. 3 VO 141/2000 die dritte Kategorie von Arzneimitteln, die eine Zulassung unter besonderen Bedingungen erhalten können.131 Unter Orphan Drugs werden Arzneimittel für seltene Leiden verstanden, die nach Art.  3 Abs.  1 VO 141/2000 der Diagnostik oder Behandlung bestimmter Krankheiten dienen müssen. Hierbei sieht Art. 3 Abs. 1 lit. a VO 141/2000 zwei Alternativen vor: entweder muss die Krankheit lebensbedrohend sein oder zu chronischer Invalidität führen und maximal fünf von 10.000 Personen betreffen, oder die Krankheit ist lebensbedrohend, führt zu schwerer Invalidität oder ist als schweres und chronisches Leiden identifizieren und weist die Besonderheit auf, dass die Erforschung eines Arzneimittels zur Diagnose oder Behandlung dieser Krankheit voraussichtlich nicht genügend Gewinn bringen würde, um die Investitionen zu rechtfertigen. Zusätzlich muss nach Art. 3 Abs. 1 lit. b VO 141/2000 eines von zwei weiteren Kriterien erfüllt sein: entweder darf es für diese Krankheit in der EU noch keine zufriedenstellende Diagnose- bzw. Behandlungsalternative geben, oder das Arzneimittel verspricht einen erheblichen therapeutischen Nutzen. Ist jeweils eine der Voraussetzungen nach den Buchstaben a und b des Art. 3 Abs. 1 VO 141/2000 erfüllt, kann für das Arzneimittel bereits vor der Zulassung die Anerkennung als Orphan Drug bei der EMA beantragt werden. Neben erheblichen Reduzierungen der Gebühren im zentralen Zulassungsverfahren, die sich vorbehaltlich besonderer

131

Baird et al., Clinical Pharmacology & Therapeutics 96 (2014), 559 (564).

B. Die Zulassungsverfahren

151

Gebührenreduktionen auf mehrere hunderttausend Euro belaufen,132 besteht gem. Art. 8 VO 141/2000 ein Anspruch auf zehnjährige Marktexklusivität für das Arzneimittel nach Zulassungserteilung. Fällt ein Arzneimittel unter eine der genannten drei Kategorien im Sinne des Art. 2 VO 507/2006, muss es zusätzlich die Anforderungen des Art. 4 VO 507/2006 erfüllen. Dafür ist es erforderlich, dass trotz der unvollständigen Daten zu Wirksamkeit und Sicherheit das Nutzen-Risiko-Verhältnis positiv erscheint, dass der Antragsteller die fehlenden klinischen Daten voraussichtlich nachliefern kann, durch die bedingte Zulassung eine medizinische Versorgungslücke geschlossen wird und der Nutzen einer bedingten Zulassung für die öffentliche Gesundheit die Gefahr auf Grund noch fehlender Daten überwiegt. Das Merkmal der medizinischen Versorgungslücke wird in Art. 4 Abs. 2 VO 507/2006 dahingehend definiert, dass für eine Erkrankung kein zufriedenstellendes Mittel zur Diagnose, Vorbeugung oder Behandlung in der EU zugelassen ist oder das Arzneimittel einen „bedeutenden therapeutischen Nutzen“ für die Patienten darstellen dürfte. Jedenfalls dieses Merkmal der medizinischen Versorgungslücke ist im Falle der Orphan Drugs stets erfüllt, da die Definition der Orphan Drugs nach Art. 3 Abs. 1 lit. b VO 141/2000 voraussetzt, dass neben der Seltenheit der Erkrankung auch entweder gar keine zufriedenstelle Diagnose- oder Behandlungsoption zugelassen wurde oder das Arzneimittel für die Patienten „von erheblichem Nutzen“ sein wird. Zwar ist diese Terminologie nicht identisch mit der derjenigen in Art. 4 Abs. 2 VO 507/2006, doch wird man bei einem „erheblichen Nutzen“ auch stets von einem „bedeutenden therapeutischen Nutzen“ ausgehen können. b) Besonderheiten im Zulassungsverfahren Die Auflagen, die als Bedingungen für die Zulassung gem. Art. 14 Abs. 7 VO 726/2004 gestellt werden können, beziehen sich gem. Art. 5 Abs. 1 VO 507/2006 auf den Abschluss laufender Studien oder die Durchführung zusätzlicher Studien, um das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis zu bestätigen und die fehlenden Daten zu generieren. Ferner können spezifische Auflagen für die Erhebung von Pharmakovigilanzdaten erteilt werden, damit der Hersteller auf diesem Wege bei Nutzung der bedingten Zulassung weitere klinische Daten generieren kann und der EMA zur Verfügung stellt.

132 Nach Art. 3 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 297/95 des Rates vom 10.02.1995 über die Gebühren der Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln (ABl. L 035 vom 15.02.1995, S. 1) in der Fassung der Verordnung (EU) 2015/490 der Kommission vom 23.03.2015 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr.  297/95 des Rates zwecks Anpassung der Gebühren der Europäischen Arzneimittel-Agentur an die Inflationsrate (ABl. L 78 vom 24.03.2015, S. 9) beträgt die Grundgebühr EUR 278.200 für einen Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen bei vollständigen Unterlagen.

152

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

c) Empirische Bedeutung In der Praxis zeigt sich, dass der Marktzugang auf der Grundlage einer bedingten Zulassung regelmäßig kein vorübergehendes Phänomen ist, das umgehend durch Erteilung oder Versagung einer unbedingten Zulassung abgelöst wird. Eine Auswertung der EMA veranschaulicht diesen Befund.133 Danach ist von den Arzneimitteln, die zwischen 2011 und 2014 eine bedingte Zulassung erhalten haben, bis Anfang 2015 keines in einen unbedingten Zulassungsstatus überführt worden. Von den vier Arzneimitteln, die 2010 eine bedingte Zulassung erhalten haben, befand sich eines im Jahr 2015 noch immer im Stadium der bedingten Zulassung. Von sechs bedingten Zulassungen, die in den Jahren 2007 und 2008 erteilt wurden, war Anfang 2015 über zwei noch immer nicht abschließend entschieden worden, sondern das Verfahren schwebte nach wie vor bei der EMA. Dies bedeutet, dass für Arzneimittel mit einer bedingten Zulassung über Jahre hinweg keine vollständigen Daten über die Wirksamkeit und Sicherheit vorliegen, obgleich sie bereits in den Verkehr gebracht worden sind, und in jährlichen Intervallen einer Überprüfung und Neuausrichtung der Prognoseentscheidung über ihre Unbedenklichkeit unterliegen. Die Einzelheiten zur Antragstellung sowie zum Nachweis der Voraussetzungen für die Erteilung der bedingten Zulassung werden nach Art. 11 VO 507/2006 durch Leitlinien der EMA konkretisiert. Von dieser Ermächtigung hat die EMA Gebrauch gemacht.134 2. Approval under exceptional circumstances Das europäische Zulassungsrecht kennt einen weiteren Fall der bedingten Zulassung. Die Ermächtigungsgrundlage findet sich in Art. 14 Abs. 8 VO 726/2004, die wortgleich auch in Art. 22 RL 2001/83/EG enthalten ist. Danach kann in Ausnahmefällen eine Zulassung unter Bedingungen erteilt werden, die insbesondere (allein) die Sicherheit des Arzneimittels und die Informationen der zuständigen Behörden über Zwischenfälle im Zusammenhang mit seiner Anwendung betreffen. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller nachweist, dass er aus objektiven und nachprüfbaren Gründen keine vollständigen Daten über die Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels zur Verfügung stellen kann. Die Gründe hierzu müssen zu den in Anhang I der RL 2001/83/EG aufgeführten zählen. Ist dies der 133

Ribeiro, Experience with early access tools in centralised procedure, Präsentation vom 27.01.2015, Folie 5 (abrufbar unter http://ec.europa.eu/health/files/committee/stamp/stamp_ stamp_agenda_point_6_c_early_access_tools_in_cp_en.pdf, zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 134 CHMP, Guideline on the scientific application and the practical arrangements necessary to implement Commission Regulation (EC) No 507/2006 on the Conditional Marketing Autho­ risation for medicinal products for human use falling within the scope of Regulation (EC) No 726/2004, EMEA/509951/2006 vom 05.12.2006 (abrufbar unter http://www.ema.europa.eu/ docs/en_GB/document_library/Scientific_guideline/2009/10/WC500004908.pdf, zuletzt abge­ rufen am 30.06.2017).

B. Die Zulassungsverfahren

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Fall, wird die Zulassung auf ein Jahr befristet erteilt. Nach Ablauf des Jahres wird geprüft, ob diese Gründe für die bedingte Zulassung nach wie vor vorliegen. Eine mehrfache Verlängerung ist möglich. a) Anwendungsbereich In Teil II Ziff. 6 des Anhangs I der Richtlinie 2001/83/EG werden drei Fallgruppen genannt, in denen keine vollständigen Angaben zu Wirksamkeit und Sicherheit eines Arzneimittels gemacht werden können. Die erste Fallgruppe ist, dass die Indikation des Arzneimittels so selten vorkommt, dass dem Antragsteller billigerweise nicht zugemutet werden kann, die vollständigen Angaben vorzulegen. Dies ist noch nicht bei Vorliegen der Voraussetzung eines Orphan Drug im Sinne des Art. 3 VO 141/2000 der Fall.135 Vielmehr wird eine weitaus größere Seltenheit gefordert. Ferner müssen die Möglichkeiten ausscheiden, auch bei geringen Fallzahlen zu einer aussagekräftigen Arzneimittelbewertung zu gelangen, etwa durch abweichende Studiendesigns, die der geringen Patientenzahl Rechnung tragen. In einem Fall, in dem das Vorliegen dieser Voraussetzung zur Nichtverfügbarkeit von klinischen Daten bejaht worden ist, war die zu behandelnde Krankheit so selten, dass in 15 Jahren lediglich 90 Fälle bekannt geworden sind.136 Grundsätzlich ist es nämlich auch bei sehr seltenen Krankheiten möglich, klinische Studien durchzuführen. Allerdings kann es aus ethischen Gründen nicht möglich oder nicht praktikabel sein, die Patienten in eine Kontrollgruppe zu randomisieren, wenn die Therapie mit dem Arzneimittel besonders erfolgversprechend ist. Diese Konstellation ist als eine weitere Fallgruppe für eine Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen vorgesehen. Dies entbindet den Antragsteller jedoch nicht von der Pflicht, präklinische Daten vorzulegen.137 Die letzte Fallgruppe besteht schließlich darin, dass es nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft nicht möglich ist, vollständige Daten zu erhalten. b) Besonderheiten im Zulassungsverfahren Liegt einer der genannten Gründe für die Unvollständigkeit der Daten über Wirksamkeit und Sicherheit vor, kann die befristete Zulassung unter bestimmten Auflagen nach Teil II Ziff. 6 des Anhangs I der RL 2001/83/EG erteilt werden. Zum einen kann dem Antragsteller auferlegt werden, innerhalb einer bestimmten 135 CHMP, Guideline on procedures for the granting of  a Marketing Authorisation under exceptional circumstances, pursuant to Article 14 (8) of Regulation (EC) No 726/2004, EMEA/ 357981/2005 vom 15.12.2005, S. 4. 136 EuG, Urteil vom 04.07.2013 – T-301/12, Tz. 60. 137 CHMP, Guideline on procedures for the granting of  a Marketing Authorisation under exceptional circumstances, pursuant to Article 14 (8) of Regulation (EC) No 726/2004, EMEA/ 357981/2005 vom 15.12.2005, S. 5.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Frist ein festgelegtes Versuchsprogramm durchzuführen, um bestimmte Angaben zum Nutzen-Risiko-Profil des Arzneimittels zu erlangen. Ferner können Abgabebeschränkungen erteilt werden. Neben der Verschreibungspflicht kann die Anwendung beispielsweise auf Krankenhäuser oder auf besonders qualifizierte Ärzte eingeschränkt werden. Schließlich besteht die Möglichkeit, besondere Hinweise zur fehlenden Erprobung des Arzneimittels in die Packungsbeilage aufzunehmen. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen möglich ist, wenn die vorhandenen sowie erwarteten klinische Daten unvollständig sind, aber anders als bei der bedingten Zulassung nach Art. 14 Abs. 7 VO 726/2004 nicht zu erwarten ist, dass vollständige Daten erhoben werden können.138 In dem seltenen Ausnahmefall, so das CHMP, in dem noch vollständige Daten für das Arzneimittel erhoben werden können, ist das Zulassungsverfahren mit einem vollständigen Dossier durchzuführen. An dem Ende des Verfahrens steht in diesem Fall die reguläre Entscheidung über die Erteilung einer zentralen Zulassung nach den allgemeinen Kriterien. c) Empirische Bedeutung Aus empirischer Sicht ist die Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen insbesondere für die sog. Orphan Drugs von erheblicher Bedeutung. Von 73 bewilligten Orphan-Drug-Indikationen für 59 Arzneimittel, für die im ersten Jahrzehnt seit Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 eine Zulassung bei der EMA beantragt worden ist, sind 37 % der indikationsbezogenen Zulassungen im Wege der „exceptional circumstances“ erteilt worden.139 Eine bedingte Zulassung nach Art. 14 Abs. 7 VO 726/2004 ist im selben Zeitraum lediglich für drei Orphan Drugs erteilt worden.140 Zum Vergleich: Die Anzahl der Arzneimittel in absoluten Zahlen, die eine Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen erhalten haben, belief sich im Zeitraum von 2001 bis 2014 auf 25 Arzneimittel, von denen 16 Arzneimittel zugleich Orphan Drugs waren.141 Auch dieser Vergleich in absoluten Zahlen verdeutlicht die hohe Bedeutung dieses Zulassungsverfahrens für Orphan Drugs für extrem seltene Erkrankungen. 138 Dies hebt auch die Leitlinie der EMA zur Anwendung des Art. 14 Abs. 8 VO 726/2004 hervor: CHMP, Guideline on procedures for the granting of  a Marketing Authorisation under exceptional circumstances, pursuant to Article 14 (8) of Regulation (EC) No 726/2004, EMEA/357981/2005 vom 15.12.2005, S. 3. 139 Putzeist et al., Drug Discovery Today 17 (2012), 352 (354). 140 Putzeist et al., Drug Discovery Today 17 (2012), 352 (354). 141 S. die Übersicht der EMA auf ihrer Website unter http://www.ema.europa.eu/ema/index. jsp?mid=WC0b01ac058001d124&searchType=name&taxonomyPath=&genericsKeywordSea rch=Submit&searchGenericType=ec&keyword=Enter+keywords&alreadyLoaded=true&curl =pages%2Fmedicines%2Flanding%2Fepar_search.jsp&status=Authorised&status=Withdraw n&status=Suspended&status=Refused&treeNumber=&searchTab=searchByAuthType&page No=1 (zuletzt abgerufen am 30.06.2017).

B. Die Zulassungsverfahren

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3. Konzept der Zulassungspfade und der Einbeziehung von HTA-Agenturen Die oben dargestellten besonderen Zulassungsverfahren werden von der EMA in einen konzeptionellen Ansatz zur Bewertung neuer Arzneimittel eingebettet, der unter dem Stichwort „Adaptive Pathways Approach“ verhandelt wird. Dieser Begriff hat den Terminus „Adaptive Licensing“ abgelöst, der zuvor im Rahmen der Erarbeitung dieses Regulierungsansatzes verwendet worden war.142 Den Begriffen ist gemein, dass sie das Konzept eines Zulassungspfades für ein neues Arzneimittel zum Ausdruck bringen. a) Das Konzept der „Adaptive Pathways“ Dem Ansatz der Zulassungspfade für Arzneimittel liegt die Feststellung der EMA zugrunde, dass sich das vielbeschriebene „regulatorische Dilemma“ entschärfen lassen könnte, wenn die Zulassungsbehörde einen Arzneimittelkandi­ daten bereits ab einem möglichst frühen Entwicklungsstadium begleitet. Unter dem „regulatorischen Dilemma“ wird die Entscheidungssituation verstanden, vor der eine Zulassungsbehörde bei der Bewertung eines neuen Arzneimittels steht: Auf der einen Seite würde es sowohl den Patienten als auch dem Hersteller des Arznei­ mittels dienen, ein wirksames und sicheres Produkt möglichst schnell in den Verkehr zu bringen, während auf der anderen Seite die Gefahr besteht, bei einer zu frühen Zulassung schädliche Wirkungen und damit Gesundheitsgefahren zu übersehen oder die erwünschten Wirkungen zu überschätzen und dadurch ein unwirksames Arzneimittel zuzulassen.143 Diesem regulatorischen Dilemma soll dadurch begegnet werden, dass die Zulassungsbehörde frühzeitig in die Arzneimittel­ entwicklung eingebunden wird und den Prozess der Studiengestaltung und Zulassungsantragstellung begleitet. Diese Überlegung hat Eichler aus der Sicht der EMA in mehreren Publikationen entfaltet, bis sie als offizielle EMA-Politik übernommen worden ist.144 Die neue konzeptionelle Herangehensweise der Zulassungspfade ist primär auf Arzneimittel bezogen, die eine medizinische Versorgungslücke zu schließen versprechen. Durch diese Begriffsverwendung wird an die Voraussetzungen für die Erteilung einer bedingten Zulassung gem. Art. 14 Abs. 7 VO 726/2004 angeknüpft, wie sie in der Kommissionsverordnung Nr. 507/2006 näher konkretisiert worden 142

EMA, Mitteilung „Pilot project on adaptive licensing“, EMA/254350/2012 vom 19.03.2014, sowie die Programmwebsite unter http://www.ema.europa.eu/ema/index.jsp?curl=pages/regula tion/general/general_content_000601.jsp (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 143 Anschaulich beschrieben von Eichler / Pignatti / Flamion / Leufkens / Breckenridge, Nature Reviews Drug Discovery 7 (2008), 818 f. 144 Eichler / Pignatti / Flamion / Leufkens / Breckenridge, Nature Reviews Drug Discovery 7 (2008), 818 (823 ff.); Eichler et al., Clinical Pharmacology & Therapeutics 91 (2012), 426 (427 ff.).

156

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

sind. Eines der zentralen Tatbestandsmerkmale ist die in Art. 4 Abs. 1 lit. c VO 507/2006 geforderte Aussicht, dass eine bestehende medizinische Versorgungslücke geschlossen werden kann. Dadurch wird der Anwendungsbereich des Konzepts der Zulassungspfade auf solche Arzneimittel beschränkt, die besonderes Poten­zial eines Nutzens in der Patientenversorgung versprechen. Die Umsetzung des Konzepts der Zulassungspfade erfolgt unter Einsatz der verwaltungsrechtlich zur Verfügung stehenden Instrumente auf der Grundlage des geltenden Rechts. Die bestehenden rechtlichen Handlungsformen sollen strategisch eingesetzt werden, um die Unsicherheit für die regulatorische Entscheidung so weit wie möglich zu reduzieren.145 Im Rahmen von Pilotprojekten hat die EMA dazu in erster Linie durch eine öffentliche Ausschreibung Arzneimittelkandidaten gesucht, die sich maximal in der Phase II der klinischen Prüfung befinden, bei denen also insbesondere die Planung der konfirmatorischen Studien noch nicht abgeschlossen war. Über das Instrument der wissenschaftlichen Beratung, das die EMA gem. Art. 57 Abs. 1 lit. n VO 726/2004 allen Unternehmen zur Verfügung stellt, die einen Zulassungsantrag bei der EMA stellen wollen, soll die Entwicklung des Studienplans und des weiteren Ablaufs des Zulassungsverfahrens gesteuert werden. Dadurch wird ermöglicht, dass die weiteren Studien zur Erprobung des Arzneimittelkandidaten diejenigen Fragestellungen abbilden, die sich bei der Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses des jeweiligen Arzneimittels stellen werden. Ferner besteht die Möglichkeit, in geeigneten Fällen frühzeitig eine Entscheidung über eine bedingte Zulassung zu treffen. Schließlich können bereits im Zulassungsverfahren Nachmarktbeobachtungsprozesse konzipiert und vorbereitet werden. Das Konzept der Zulassungspfade soll mithin ermöglichen, einzelfallbezogene Zulassungsstrategien zu entwickeln. Nach der Konzeptbeschreibung der EMA wäre es beispielsweise möglich, bereits in einem frühen Stadium der Arzneimittel­ entwicklung Teilpopulationen für das Arzneimittel zu identifizieren, für deren Behandlung das Medikament als erstes erprobt wird. Dazu sollen gemeinsam mit der EMA Studiendesigns entwickelt werden, um rasch zu einer bedingten Zulassung zu gelangen, die in der Phase nach Marktzugang für andere Patientengruppen nach einem vorab entwickelten Forschungsplan erweitert werden kann.146 Die EMA zielt darauf ab, gemeinsam mit dem pharmazeutischen Unternehmer den Weg zu Zulassung zu planen und dabei frühzeitig das größtmögliche Wissen über die Wirkungen und Risiken des neuen Arzneimittelkandidaten zu erlangen.

145

S. Oye et al., Clinical Pharmacology & Therapeutics 94 (2013), 309 ff. S. EMA, Adaptive pathways to patients: report on the initial experience of the pilot project, EMA/758619/2014 vom 15.12.2014, S. 2. 146

B. Die Zulassungsverfahren

157

b) Einbeziehung der nationalen HTA-Agenturen Mit dem Konzept der Zulassungspfade soll nach der Vorstellung der EMA zudem eine Neuerung verbunden werden können, die zentral auf die Verknüpfung des zentralen Zulassungsverfahrens mit nationalen Arzneimittelbewertungen zur Aufnahme in den Leistungskatalog des jeweiligen Gesundheitssystems ausgerichtet ist.147 Eichler stellt fest, dass die Kriterien für Nutzenbewertungen von Arzneimitteln in nationalen Gesundheitsversorgungssystemen noch nicht so weitgehend vereinheitlicht seien, wie dies für die regulatorischen Zulassungskriterien der Fall sei. Daher gebe es ein Bedürfnis, frühzeitig im Prozess der Zulassung die an sich erst später, nach der Zulassung mit der Arzneimittelbewertung befassten nationalen Organisationen einzubinden.148 Insoweit besteht eine Zielkonvergenz mit einem anderen Programm, das die EMA gemeinsam mit der EU-Kommission in Gestalt von EUnetHTA, einem Netzwerk von nationalen HTA-Agenturen, begonnen hat.149 In einem Modellvorhaben erproben EUnetHTA und die EMA gemeinsam eine Verzahnung der Arzneimittelbewertung im Zulassungsverfahren mit der nachgelagerten Arzneimittelbewertung in nationalen Gesundheitssystemen. Zu diesem Zweck hat EUnetHTA in einer ersten Modellphase ein „Core Model“, ein Mindestbewertungsraster, erarbeitet, das in nationalen Entscheidungssituationen modular genutzt werden soll. In diesem Core Model werden Eckdaten des neuen Arzneimittels erhoben und grundlegende Berichte über Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels verfasst, um die sich an die Zulassungserteilung anschließenden nationalen Nutzenbewertungsverfahren zu erleichtern und zu beschleunigen. Der Hintergrund dieser Initiative besteht maßgeblich in dem engen Zeitrahmen, der auf Grund der Regelungen in der Transparenzrichtlinie 89/105/EWG für nationale Marktzugangsregelungen gilt, die zu einer Behinderung des freien Warenverkehrs mit zugelassenen Arzneimitteln in der EU führen können.150 In der Praxis trat vielfach die Schwierigkeit auf, dass die nationalen Entscheidungen unter hohem Zeitdruck getroffen werden mussten, ohne dass bereits vollumfänglich auf die Feststellungen aus dem Zulassungsverfahren zurückgegriffen werden konnte. Das Modellprojekt des EUnetHTA zielt nunmehr darauf ab, die Bewertung im Core Model bereits parallel zum Zulassungsverfahren der EMA zu beginnen. Hierzu sollen kooperationsbereite pharmazeutische Unternehmer nach Antragstellung bei der EMA in deren Prüfphase ein Dossier für die Bewertung des Arzneimittelkandidaten 147 EMA, Adaptive pathways to patients: report on the initial experience of the pilot project, EMA/758619/2014 vom 15.12.2014, S. 2, 4 f.; Eichler et al., Clinical Pharmacology & Therapeutics 97 (2015), 234 (241). 148 Eichler et al., Clinical Pharmacology & Therapeutics 97 (2015), 234 (241). 149 Zu EUnetHTA s. Art.  15 der Richtlinie 2011/24/EU und den Durchführungsbeschluss 2013/329/EU der Kommission vom 26.06.2013; Kristensen et al., International Journal of Technology Assessment in Health Care 25, Supplement 2 (2009), 107 (108 ff.). 150 Zu diesem Problemkreis s. Reese / Stallberg, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn.  50 ff.; Natz, PharmR 2006, 297 (299 ff.); Schaks, PharmR 2011, 305 (307 ff.).

158

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

durch EUnetHTA erstellen, auf dessen Grundlage EUnetHTA einen Prüfplan entwirft. Sobald die erste Empfehlung des CHMP über den Arzneimittelkandidaten veröffentlicht worden ist, werden diese Daten und zusätzliche, vom pharmazeutischen Unternehmer übermittelte Angaben auf der Grundlage dieses Prüfplans einer Bewertung nach dem Schema des Core Model unterzogen. Diese Bewertung wird nach Veröffentlichung der Zulassungsentscheidung angepasst, soweit sich Änderungen in der Bewertung oder der Indikation ergeben haben. Dadurch können die teilnehmenden nationalen Bewertungsorganisationen, so die Hoffnung des Modellvorhabens, ihre spezifisch nationalen Bewertungsschritte an das Core Model anschließen und dadurch die Wissensbasis für ihre Bewertungsentscheidung erweitern. c) Wandel des Zulassungskonzepts Mit dem Konzept der Zulassungspfade entwickelt die EMA eine Art begleitendes Bewertungsverfahren über die Lebensdauer des Arzneimittels hinweg. Es besteht die Möglichkeit eines frühen Marktzugangs, der mit Auflagen wie einer Begrenzung auf bestimmte Patientengruppen oder Anwendungsmodalitäten wie etwa der Anwendung allein in Krankenhäusern verbunden werden kann. Zugleich wird bereits bei der Planung der Zulassungsstudien unter Beteiligung der Zulassungsbehörde die Nachmarktbeobachtung konzipiert, um auch in der Alltagsanwendung Informationen über Wirksamkeit und Sicherheit zu generieren. Ferner soll perspektivisch bereits die Bewertung des Arzneimittels durch Kostenträger in die Zulassungsphase planerisch integriert werden. Insgesamt zeigt sich das Bild eines integrierten, iterativen Wissensgenerierungsprozesses, der sich weniger an formalen Entscheidungen wie der Zulassung oder der Verlängerung der Zulassung nach fünf Jahren, wie es unter dem klassischen Paradigma des Zulassungsrechts der Fall ist, orientiert, sondern einen begleitenden Prozess darstellt, der eine Verpartnerung von Behörde und Antragsteller bewirkt und auf eine lernende Begleitung mit jederzeit revisiblen Regulierungsentscheidungen gerichtet ist.

VI. Off Label Use, Compassionate Use und individuelle Heilversuche Die vorgenannten Zulassungsformen sind von Anwendungen eines Arzneimittels außerhalb der Zulassung oder ganz ohne Zulassung abzugrenzen.

B. Die Zulassungsverfahren

159

1. Off Label Use Mit dem Begriff des „Off Label Use“ wird der Fall bezeichnet, dass ein zugelassenes Arzneimittel in einer Art und Weise eingesetzt wird, die nicht von dem zugelassenen Anwendungsbereich umfasst ist.151 Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass das Arzneimittel in einer anderen Indikation oder für eine andere Patientengruppe eingesetzt oder auf einem anderen Applikationsweg verabreicht wird. Besonders häufig ist der Off Label Use in der Pädiatrie, da es in diesem Bereich vielfach an zugelassenen Arzneimitteln fehlt. Dies ist in erheblichem Maße darauf zurückzuführen, dass klinische Studien an Kindern im Vergleich zu klinischen Studien mit erwachsenen Probanden angesichts stärkerer regulatorischer Beschränkungen und erheblicher praktischer Schwierigkeiten in der Umsetzung seltener durchgeführt werden.152 Aus arzneimittelrechtlicher Sicht bereitet der Off Label Use keine besonderen Schwierigkeiten. Es ist durch § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG lediglich vorgeschrieben, dass Fertigarzneimittel nur in Verkehr gebracht dürfen, wenn sie entweder eine Zulassung haben oder einen Ausnahmetatbestand nach § 21 Abs. 2 AMG erfüllen. Dieser Normbefehl ist an den pharmazeutischen Unternehmer gerichtet und beschränkt seine Möglichkeiten, sein Produkt überhaupt in den Verkehr zu bringen.153 Da das Arzneimittel im Off Label Use dennoch bereits über eine Zulassung verfügt, ist dessen Inverkehrbringen erlaubt. Wie ein insoweit zugelassenes Arzneimittel tatsächlich vom behandelnden Arzt eingesetzt wird, ist durch die Zulassung nicht vorgeschrieben. Die Zulassung wird von der haftungsrechtlichen Rechtsprechung als „Verkehrsfähigkeitsattest“ angesehen, das einen abweichenden Einsatz aus medizinischer Sicht nicht ausschließt.154 Vielmehr wird selbst im Indikationsgebiet durch die Zulassung nach Auffassung des BGH lediglich eine Vermutung für die Verordnungsfähigkeit begründet.155 Diese Auffassung ist insoweit folgerichtig, als die Zulassung nicht für alle Wirkungsweisen und für alle denkbaren Patientengruppen beantragt werden muss, sondern insoweit allein der pharmazeutische Unternehmer als Antragsteller im Zulassungsverfahren entscheidet, für welches Anwendungsgebiet die Zulassung erteilt werden soll.156 Medizinisch kann die Anwendung des Arzneimittels auch in einem ganz anderen Therapiegebiet indiziert sein.157

151 Dierks / Finn, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 7 Rn.  16; Kortland, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, Vorbemerkung zu § 21 Rn. 19. 152 Caldwell / Murphy / Butow / Craig, Lancet 364 (2004), 803 (806 ff.); s. a. Erwägungsgrund 2 der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006. 153 Hart, MedR 1994, 94 (103). 154 BGH NJW 2007, 2767 (2768). 155 BGH NJW 2007, 2767 (2768). 156 Engelmann / Meurer / Verhasselt, NZS 2003, 70 (71). 157 S. Kortland, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 21 Rn. 19.

160

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Haftungsrechtlich kann es in solch einem Fall dann sogar geboten sein, das Arzneimittel außerhalb seiner Zulassung anzuwenden.158 Der Off-Label-Gebrauch eines Arzneimittels wird daher auch vom AMG primär als haftungsrechtliches Problem rekonstruiert. Die hiermit zusammenhängenden Fragen werden vornehmlich im Zusammenhang mit der Gefährdungshaftung des pharmazeutischen Unternehmers nach § 84 AMG diskutiert. Nach dieser Vorschrift haftet der pharmazeutische Unternehmer verschuldensunabhängig für Schäden, die aus dem Einsatz eines Humanarzneimittels an Leben oder Gesundheit des Patienten entstehen, wenn das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen, oder wenn der Schaden infolge einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation eingetreten ist. Insoweit kommt dem Geschädigten eine Kausalitätsvermutung zugute, sofern das Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den konkret eingetretenen Schaden zu verursachen. Kurz gesagt haftet der pharmazeutische Unternehmer für Entwicklungs-, Herstellungs- und Instruktionsfehler bezüglich des Arzneimittels.159 Die Haftung nach § 84 AMG greift somit in der ersten Variante bei einem bestimmungsgemäßen Gebrauch des Arzneimittels. Hierunter wird zunächst das zugelassene Anwendungsgebiet verstanden. Daneben besteht die Möglichkeit, dass sich dieser bestimmungsgemäße Gebrauch auch ohne eine formale Erweiterung der Zulassung auch auf weitere Anwendungsarten erstrecken kann. Die einzelnen Voraussetzungen sind jedoch umstritten. Die extensivste Auslegung umfasst als bestimmungsgemäß alle Verwendungsweisen, die wissenschaftlich allgemein anerkannt sind und die der pharmazeutische Unternehmer kannte oder kennen musste, sofern er sie nicht ausdrücklich ausgeschlossen hat.160 Danach wäre ein Off-Label Use, der medizinisch allgemein empfohlen wird, quasi stets vom Anwendungsbereich des § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG umfasst, wenn der Hersteller nicht ausdrücklich diese Anwendung in der Gebrauchsinformation und auch im allgemeinen Außenauftritt des Arzneimittels ausschließt. Andere Auffassungen verlangen dagegen für die bestimmungsgemäße Anwendung jedenfalls die Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmers bzw. dessen aktive Förderung des zulassungsabweichenden Gebrauchs.161 Dies könnte etwa durch gezielte Informationsverbreitung mit Blick auf den Off-Label-Use geschehen. Die bloße Duldung soll dagegen nicht ausreichen, den bestimmungsgemäßen Gebrauch insoweit zu erweitern, da 158 S. dazu die Aciclovir-Entscheidung des OLG Köln, NJW-RR 1991, 800 (801); Göben, Der „Off-Label-Use“ von Fertigarzneimitteln: Offene Fragen an der Schnittstelle von Standard, Humanität und Wirtschaftlichkeitsgebot, in: Ahrens / Bar / Fischer / Spickhoff / Taupitz (Hr.), FS Deutsch, 2009, S. 179 ff. 159 Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 84 Rn. 1. 160 Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 84 Rn. 1; Kozianka / Hußmann, PharmR 2006, 487 (488 f.). 161 Brock / Stoll, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 84 Rn. 70; Krüger, PharmR 2004, 52 (55).

B. Die Zulassungsverfahren

161

kein Vertrauenstatbestand auf die Unbedenklichkeit der Anwendung, wie sie innerhalb der Zulassung zu erwarten ist, gesetzt werde.162 2. Compassionate Use Neben dem zulassungsüberschreitenden Gebrauch eines Arzneimittels besteht auch die Möglichkeit, dass ein noch gar nicht zugelassenes Arzneimittel zur Behandlung von Patienten eingesetzt wird. Diese Möglichkeit widerspricht für sich genommen den Zielsetzungen des Arzneimittelrechts, die Anwendung neuer Medikamente außerhalb von klinischen Studien, die vor der Zulassung erforderlich sind, unter den Vorbehalt zu stellen, zunächst ein Bewertungsverfahren zu durchlaufen, bevor die Anwendung an einer Vielzahl von Patienten erlaubt ist. Die Fälle des Compassionate Use sind daher auch eng begrenzt und stehen unter bestimmten Voraussetzungen, um einen Ausgleich mit den Zielsetzungen des Zulassungsrechts zu erreichen. Der Compassionate Use ist aus dem Bedürfnis entstanden, aus humanitären Gründen bestimmte Arzneimittel bereits schwerkranken Patienten zum frühestmöglichen Zeitpunkt zugänglich zu machen, um eine Chance zur Therapie zu eröffnen.163 Ferner kann ein Teilnehmer einer klinischen Studie bei einer schweren Krankheit auf das Prüfarzneimittel sehr gut angesprochen haben. Sollte der Proband nun bis zur Zulassung des Arzneimittels auf die Fortsetzung der Behandlung warten müssen, können ethisch und medizinisch schwerlich vertretbare Therapielücken auftreten, sodass auch in solchen Fällen ein Bedürfnis nach Fortsetzung der Studienmedikation entstehen kann.164 a) Europarechtliche Grundlagen Auf europäischer Ebene hat der Compassionate Use seine Rechtsgrundlage in Art. 83 VO 726/2004. Danach dürfen die Mitgliedstaaten gem. Art. 83 Abs. 1 VO 726/2004 für Arzneimittel, die entweder zentral zulassungspflichtig oder zentral zulassungsfähig sind, einen Compassionate Use vorsehen. Die weiteren Voraussetzungen, die von den Mitgliedstaaten zu beachten sind, sind in den Absätzen 2 bis 8 des Art. 83 VO 726/2004 näher spezifiziert. Zunächst ist der Compassionate Use für eine Gruppe von Patienten aus humanen Erwägungen, wie es in Art. 83 Abs.  2 VO 726/2004 heißt, vorzusehen. Ferner muss die Krankheit, an der die Patienten leiden, entweder chronisch oder schwer sein und zu Invalidität führen 162

Brock / Stoll, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 84 Rn. 70. Kortland, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, Vorbemerkung zu § 21 Rn. 22; Göben, Der „Off-Label-Use“ von Fertigarzneimitteln: Offene Fragen an der Schnittstelle von Standard, Humanität und Wirtschaftlichkeitsgebot, in: Ahrens / Bar / Fischer / Spickhoff / Taupitz (Hr.), FS Deutsch, 2009, S. 179 (183). 164 Jäkel, PharmR 2009, 323 (324). 163

162

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

oder als lebensbedrohend gelten. Zudem darf es keine zufriedenstellende Behandlungsalternative mit einem bereits zugelassenen Arzneimittel geben. Schließlich muss das Arzneimittel, das im Wege des Compassionate Use angewendet werden soll, entweder Gegenstand eines Antrags auf Erteilung einer Zulassung bzw. einer Genehmigung zum Inverkehrbringen oder Gegenstand einer noch nicht abgeschlossenen klinischen Prüfung sein. Die Mitgliedstaaten müssen die EMA von jedem Compassionate Use-Programm, das sie genehmigen oder auflegen, in Kenntnis setzen. Die EMA hat sodann die Möglichkeit, ein Gutachten zu dem Compassionate Use zu erstellen, das der Mitgliedstaat gem. Art. 83 Abs. 5 VO 726/2004 zu berücksichtigen hat. Ferner führt die EMA ein Verzeichnis aller Compassionate Use-Programme. In der Richtlinie 2001/83/EG fehlt eine vergleichbare Regelung zum Compassionate Use. Dort besteht lediglich die allgemeine Erlaubnis in Art. 5 RL 2001/83/ EG, dass die Mitgliedstaaten Vorschriften vorsehen können, um in zwei Konstellationen das Inverkehrbringen eines nicht zugelassenen Arzneimittels zu erlauben. In Art. 5 Abs. 1 RL 2001/83/EG wird erlaubt, dass Arzneimittel „in besonderen Bedarfsfällen“ von der Anwendbarkeit der Richtlinie gänzlich ausgenommen werden können, wenn sie „auf eine nach Treu und Glauben aufgegebene Bestellung, für die nicht geworben wurde, geliefert werden und die nach den Angaben eines zugelassenen Angehörigen der Gesundheitsberufe hergestellt werden und zur Verabreichung an einen bestimmten Patienten unter seiner unmittelbaren persönlichen Verantwortung bestimmt sind“. Diese Voraussetzungen sind mit denen des Compassionate Use nicht identisch. Fraglich ist bereits, ob Arzneimittel im Compassionate Use „nach den Angaben eines zugelassenen Angehörigen der Gesundheitsberufe“ hergestellt werden, denn es handelt sich bei ihnen jedenfalls entsprechend der Definition des Art. 83 Abs. 2 VO 726/2004 um Fertigarzneimittel, die routinemäßig hergestellt werden, auch wenn sie sich noch im Erprobungsstadium befinden. Dieses Tatbestandsmerkmal meint jedoch nicht nur Einzelfallrezepturen oder besondere Bestellungen wie etwa Rezepturarzneimittel, denn diese sind nach Art. 3 Nr. 1 und Nr. 2 RL 2001/83/EG von vornherein nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie umfasst. Vielmehr wird der Ausdruck „hergestellt“, in der englischen Sprachfassung „formulated“, generell für die Fertigung eines Arzneimittels verwendet. Dies wird von der Rechtsprechung des EuGH bestätigt, der zwar dieses Tatbestandsmerkmal nicht explizit ausgelegt, aber es in einem Fall der Einfuhr von Fertigarzneimitteln als erfüllt angesehen hat.165 Der entscheidende Unterschied zum Compassionate Use im Sinne des Art. 83 Abs. 2 VO 726/2004 besteht in der Voraussetzung des Art. 5 Abs. 1 RL 2001/83/ EG, dass das Arzneimittel zur Verabreichung an einen bestimmten Patienten bestimmt sein muss. Dies ist im Compassionate Use explizit anders geregelt, da dort 165

EuGH EuZW 2008, 30 (31), Tz. 21–23.

B. Die Zulassungsverfahren

163

eine Gruppe von Patienten mit einer bestimmten Krankheit den Anknüpfungspunkt für die Ausnahme von der Zulassungspflicht vor Arzneimittelanwendung begründet. Daher liegt es näher, unter Art. 5 Abs. 1 RL 2001/83/EG lediglich Fälle des individuellen Heilversuchs fallen zu lassen. Dies würde allerdings bedeuten, dass ein Compassionate Use für Arzneimittel, die nicht von Art. 3 Abs. 1 oder Abs. 2 VO 726/2004 erfasst werden, nicht zulässig ist, denn soweit die VO 726/2004 nicht gilt, verbleibt es bei der Geltung der Richtlinie 2001/83/EG in ihrem Anwendungsbereich. Insoweit gilt der Grundsatz, dass die Ausnahmetatbestände der Richtlinie selbst eng auszulegen sind, um keine Lücken entstehen zu lassen.166 Demnach verbliebe kein Raum für eine Freistellung von der Zulassung durch nationales Recht für Arzneimittel, die europarechtlich zulassungspflichtig sind. b) Nationale Umsetzung Auf nationaler Ebene ist der Compassionate Use in Deutschland auf der Grundlage des § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG möglich. Diese Vorschrift verweist zunächst auf die Voraussetzungen des Art.  83 VO 726/2004, doch wurde der Anwendungsbereich durch die 15. AMG-Novelle auch auf Arzneimittel erweitert, die nicht in den Anwendungsbereich der VO 726/2004 fallen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung begründet dies als eine „Klarstellung“.167 Einzelheiten sollen durch eine Rechtsverordnung nach § 80 AMG geregelt werden, die in Gestalt der Arzneimittel-Härtefall-Verordnung erlassen worden ist. Diese Rechtsverordnung schließt in § 1 Abs. 2 AMHV den individuellen Einsatz eines nicht genehmigten oder nicht zugelassenen Arzneimittels bei nur einem Patienten unter der unmittelbaren Verantwortung des behandelnden Arztes von dem Anwendungsbereich des Compassionate Use ausdrücklich aus. Vor diesem Hintergrund bleibt es folglich in der Tat unklar, worauf sich insoweit die Ausnahme von der Zulassungspflicht durch § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG europarechtlich stützten soll. Nach der AMHV bedürfen Compassionate Use-Programme der Anzeige bei der zuständigen Bundesoberbehörde, die binnen einer Frist, die von der Art des in Rede stehenden Arzneimittels abhängt, widersprechen muss, um den Beginn des Programms zu verhindern. Die Anzeige muss die in § 3 Abs. 2 AMHV genannten Angaben enthalten, die in Art und Umfang ein präzises Bild über das Compassionate Use-Programm vermitteln und die Sicherheit der Anwendung des Arzneimittels beurteilbar machen sollen. Nach § 4 Abs. 3 AMHV kann die Bundesoberbehörde dem Programm nämlich nur widersprechen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für ein Compassionate Use-Programm nicht vorliegen, die vom Antragsteller gemachten Angaben unrichtig sind oder keine sichere Anwendung des Arzneimittels gewährleistet ist. Dies verdeutlicht, dass der Prüfungsschwerpunkt der Behörde 166

Czettritz, PharmR 2013, 372 (374). Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 16.03.2009, BT-Drs. 16/12256, S. 47. 167

164

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

auf der Sicherheit des Arzneimittels liegt. Die einzureichenden Angaben müssen nämlich neben den Nachweisen zur Qualität des Arzneimittels gem. § 3 Abs.  2 Nr. 8 AMHV auch „Belege und Begründungen“ für die Annahme enthalten, dass das Arzneimittel sicher und wirksam bei der vorgesehenen Anwendung ist, wobei dies „in der Regel“ durch Ergebnisse konfirmatorischer klinischer Prüfungen geschehen soll. Dadurch wird der Bundesoberbehörde im Ergebnis eine begrenzte Nutzen-Risiko-Abwägung des Arzneimittels ermöglicht. Das Compassionate Use-Programm ist gem. § 5 Abs. 1 AMHV für die Dauer von einem Jahr, bis zum Abbruch durch die verantwortliche Person oder bis zum Marktzugang des Arzneimittels begrenzt. Nach § 5 Abs. 2 AMHV ist eine erneute Anzeige und damit eine Verlängerung zulässig, wobei der Bundesoberbehörde bei der erneuten Anzeige auch ein erneutes Widerspruchsrecht zusteht. Dies ermöglicht eine Überprüfung der ursprünglichen Entscheidung im Licht neuer Erkenntnisse. Dem entspricht die Verpflichtung nach § 6 Abs. 1 AMHV, dass unter anderem alle Verdachtsfälle einer schwerwiegenden Nebenwirkung von der verantwortlichen Person für das Programm an die Bundesoberbehörde gemeldet werden müssen, ebenso wie jede Veränderung des Programms. Die verantwortliche Person ist auch nach § 6 Abs. 3 Satz 2 AMHV verpflichtet, zur Risikoabwehr erforderliche Maßnahmen unverzüglich zu ergreifen. Insoweit kennt das Compassionate Use-Programm eine Form der Beobachtung des Arzneimittels in der Anwendungsphase mit einem System der Risikoregulierung und einer periodischen behördlichen Kontrolle, deren Effektivität durch Mitteilungs- und Berichtspflichten erhöht wird. 3. Individueller Heilversuch mit nicht zugelassenen Arzneimitteln Ein nicht zugelassenes Arzneimittel kann auch außerhalb eines Compassionate Use-Programms im Einzelfall durch den behandelnden Arzt eingesetzt werden, sofern die arztrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.168 Unter einem individuellen Heilversuch wird, in Abgrenzung von klinischen Prüfungen zur Erlangung einer Zulassung oder von einem sich etablierenden, standardisierten Behandlungsschema, die bewusste Abweichung vom medizinischen Standard verstanden. Über welchen Grad an Gewissheit über die Erfolgsaussichten des individuellen Heilversuchs der behandelnde Arzt verfügen muss, bestimmt sich primär nach arztrechtlichen Grundsätzen, auf die im Rechtssystem im Zusammenhang mit straf- und haftungsrechtlichen Fragestellungen rekurriert wird und die insbesondere Einfluss auf die Anforderungen an die Aufklärung und Einwilligung der Patienten haben.169 Arzneimittelrechtlich wird in diesem Zusammenhang zwischen der Beschaffung, der Abgabe und der Anwendung von Arzneimitteln differenziert. Damit ein Heilversuch arzneimittelrechtlich gestattet sein kann, ist zunächst zu fragen, ob 168

Dazu Hart, MedR 1994, 94 (99 ff.); Hart, MedR 2007, 631 (632 f.). Dazu Hart, MedR 1994, 94 (99 f.); Hart, MedR 2007, 631 (632 f.).

169

B. Die Zulassungsverfahren

165

das jeweilige Arzneimittel rechtmäßig an den behandelnden Arzt abgegeben werden kann. Praktisch bedeutsam ist dabei die Beschaffung eines nicht in Deutschland oder der EU zugelassenen Arzneimittels im Wege des Einzelimports nach § 73 Abs. 3 AMG.170 Ferner dürfen pharmazeutische Unternehmer Arzneimittel im Rahmen der Bestimmungen des § 21 Abs. 2 AMG nach Maßgabe der §§ 43 ff. AMG insbesondere an Apotheken bzw. Kliniken oder Ärzte abgeben. Diese Ausnahmeregelung ist auch für Prüfarzneimittel zur Verwendung in klinischen Studien von Bedeutung. Schließlich kommt im individuellen Heilversuch eine Rechtfertigung etwaiger strafbewehrter Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz und untergesetzlicher Tatbestände über § 34 StGB bzw. § 16 OWiG in Betracht.171 Auf der Ebene des europäischen Rechts sieht Art.  5 Abs.  1 RL 2001/83/EG die Möglichkeit vor, dass die Mitgliedstaaten durch Gesetz vorsehen dürfen, in besonderen Bedarfsfällen Arzneimittel von den Bestimmungen der Richtlinie 2001/83/EG auszunehmen, sofern drei qualifizierte Voraussetzungen erfüllt sind: Zunächst darf für die nach Treu und Glauben aufgegebene Bestellung des Arzneimittels nicht geworben worden sein. Ferner muss das Arzneimittel nach den Angaben eines zugelassenen Angehörigen der Gesundheitsberufe hergestellt werden und zur Verabreichung an einen bestimmten Patienten „unter seiner unmittelbaren persönlichen Verantwortung“ bestimmt sein. Diese Ausnahmeregel ist nach der Rechtsprechung des EuGH eng auszulegen. Der besondere Bedarfsfall als erste Tatbestandvoraussetzung ist demnach als medizinische Notsituation zu verstehen und der behandelnde Arzt muss das Arzneimittel aus therapeutischen Gründen zur Bekämpfung dieser medizinischen Notlage bestellt haben. Dies erfordert, dass es auf dem nationalen Markt keine therapeutische Alternative gibt.172 Ferner muss das Arzneimittel nach den Angaben eines zugelassenen Angehörigen der Gesundheitsberufe hergestellt und „unter seiner unmittelbaren persönlichen Verantwortung“ angewendet werden. Die unmittelbare persönliche Verantwortung kann nur der behandelnde bzw. anwendende Arzt tragen. Daher würde das wörtliche Verständnis dieser Vorschrift dazu führen, dass dieser behandelnde Arzt auch derjenige sein muss, nach dessen Angaben das Arzneimittel hergestellt worden sein muss. Bei dieser Lesart würden lediglich Auftragsfertigungen auf individuelle Anweisung des Behandlers in den Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift fallen. Tatsächlich scheint der EuGH diese Lesart zu vertreten, denn in einem Fall, in dem es um die Abfüllung von Teilmengen eines Fertigarzneimittels als Herstellung eines individuell verordneten Arzneimittels ging, hat der EuGH diese Personenidentität angedeutet.173 Der individuelle Heilversuch mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel stellt sich demnach arzneimittelrechtlich als eine auf notstandsähnliche, medizinisch 170

Dazu Kügel, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 73 Rn. 55. Fehn / Koyuncu / Meyer, PharmR 2014, 91 (96). 172 EuGH, Urteil vom 29.03.2012 – Rs. C-185/10, Tz. 36. 173 EuGH PharmR 2013, 367 (372), Tz. 48. 171

166

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

hochkritische Behandlungssituationen beschränkte Option dar, wodurch der strenge Vorrang des Erprobungs- und Zulassungssystems für Arzneimittel unterstrichen wird.

VII. Pharmakovigilanz In einem erfolgreich abgeschlossenen Zulassungsverfahren eines Arzneimittels ist grundsätzlich eine positive Evaluation des Verhältnisses zwischen Wirksamkeit und Sicherheit des Medikaments erfolgt. Gleichwohl ist diese Bewertung auf der Grundlage von unvollständigen Informationen und unter Zeitdruck getroffen worden, denn der Zulassungsbehörde standen lediglich die ihr vom pharmazeu­ tischen Unternehmer zur Verfügung gestellten Nachweise über das Wirkungsprofil des Arzneimittels zur Verfügung. Die Behörde muss zudem im Zulassungsverfahren binnen der Fristen des Art. 6 Abs. 3 VO 726/2004 bzw. des § 27 AMG zu einer Bewertung des Präparats kommen. Viele Arzneimittelwirkungen zeigen sich jedoch erst in der breiten Anwendung in einer größeren Bevölkerung. Insbesondere schädliche Wirkungen können in den Zulassungsstudien vielfach nicht erfasst werden. Diese Rahmenbedingungen der Zulassungsentscheidung führen dazu, dass ein Bedürfnis für die weitergehende Beobachtung der Effekte des Arzneimittels besteht.174 Die Pharmakovigilanz ist eine der Zulassung ebenbürtige, gleich gewichtige Phase der Arzneimittelregulierung, die dieses Ziel verfolgt.175 1. Begriff und Entwicklung Eine verbreitete Definition von Pharmakovigilanz ist durch die WHO geprägt worden. Dort wird Pharmakovigilanz definiert als „the science and activities relating to the detection, assessment, understanding and prevention of adverse effects and other possible drug-related problems“.176 Diese Definition wird gleichfalls von der ICH bei der Entwicklung ihrer Leitlinien zur Pharmakovigilanz zugrunde gelegt.177 Demgegenüber enthalten weder das europäische noch das deutsche Arzneimittelrecht eine Legaldefinition. Der Bedeutungsgehalt lässt sich vielmehr über die einzelnen Vorschriften erschließen, die einzelne Pharmakovigilanzbestimmun-

174

Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 237. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S.  237; Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 62 Anm. 1. Zur Entwicklung s. Hohm, Arzneimittelsicherheit und Nachmarktkontrolle, 1990, S. 198 ff. Zum Ablauf ausf. Schraitle, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 104 ff. 176 World Health Organization, The Importance of Pharmacovigilance, 2002, S. 7; s. a. Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 56 m. w. N. einschließlich einer deutschen Übersetzung. 177 ICH Harmonised Tripartite Guideline „Pharmacovigilance Planning E2E“, Step 4 Version vom 18.11.2004, Ziff. 1.1. 175

B. Die Zulassungsverfahren

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gen enthalten und damit das allgemeine Konzept zur Identifizierung von und zum Umgang mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen in rechtlich handhabbare Maßnahmen umsetzen.178 Die Pharmakovigilanz ist durch Unionsrecht normiert und, soweit auf Richtlinienrecht beruhend, im AMG umgesetzt.179 Ihre Einführung ist ebenfalls eine Reaktion auf die Arzneimittelschäden durch Contergan und das dadurch offengelegte Defizit an Wissen und Wissensermittlung mit Blick auf die Sicherheit der im Verkehr befindlichen Arzneimittel.180 Dabei sind auf europäischer Ebene erstmals mit der Richtlinie 93/39/EWG Pharmakovigilanzvorschriften eingeführt worden.181 Davor existierten lediglich in den einzelnen Staaten Regelungen über den Umgang mit dem Verdacht unerwünschter Arzneimittelwirkungen. In den USA startete die Arzneimittelzulassungsbehörde FDA direkt 1961 mit der systematischen Sammlung von allen Arten von Verdachtsmeldungen bezüglich der Nebenwirkungen von im Verkehr befindlichen Arzneimitteln, wobei der Großteil der Meldungen von Krankenhäusern gemacht wurde.182 Im Jahr 1968 wurde die Entwicklung von Pharmakovigilanzsystemen zu einer Aufgabe der WHO, indem zehn Staaten begannen, ein Pilotprojekt durchzuführen. Dieses führte schließlich zu einer Resolution der Weltgesundheitsversammlung im Jahr 1971, die zusammen mit einem Bericht, der im Folgejahr erschienen ist, die Grundlage für das WHO-Pharma­ kovigilanzprogramm gelegt hat.183 Die nationalen Pharmakovigilanzprogramme bestanden jedoch überwiegend aus freiwilligen Meldesystemen, an denen Ärzte und Krankenhäuser teilnehmen konnten.184 Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Meldesysteme auf Grund des erforderlichen Zeitaufwands für die Vornahme einer Verdachtsmeldung nicht vollumfänglich angenommen wurden.185 Im AMG von 1976 wurden zunächst Vorschriften über das Pharmakovigilanzsystem der zuständigen Bundesoberbehörde gemacht und der sog. Stufenplan im Wege einer Verwaltungsvorschrift eingeführt.186 Diese Vorschriften wurden im Laufe der Zeit sukzessive erweitert und ergänzt, bis sie schließlich im Wege der Rechtsharmonisierung durch europarechtliche Vorschriften reformiert wurden. Die europäischen Vorschriften wurden zuletzt durch das „Pharmapaket“ 2010/2011 erheblich reformiert und durch Rechtsvorschriften der Kommission zur Durch 178

Hierzu s. a. Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 55 ff. Die unionsrechtlichen Vorgaben sind Artt. 101 ff. RL 2001/83/EG und Artt. 21 ff. VO 726/2004. Zur stetig wachsenden Bedeutung der europäischen Pharmakovigilanz Wittstock /  Thiele, Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 2011, Heft 2 S. 17 ff. 180 Dieners / Heil, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 1 Rn. 58. 181 Schickert, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, Vorbemerkung zu § 62 Rn. 3. 182 van Grootheest, International Journal of Pharmaceutical Medicine 17 (2003), 195 (198). 183 van Grootheest, International Journal of Pharmaceutical Medicine 17 (2003), 195 (198). 184 Meyboom / Egberts / Gribnau / Hekster, Drug Safety 21 (1999), 429 f. 185 Eland et al., British Journal of Clinical Pharmacology 48 (1999), 623 (625 f.). 186 Schickert, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, Vorbemerkung zu § 62 Rn. 2. 179

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

führung und Konkretisierung der zentralen Vorgaben in den Jahren 2012 und 2014 erweitert und vertieft.187 Es sollte zudem nicht übersehen werden, dass sowohl die WHO als auch die ICH gleichfalls an Weiterentwicklungen und Harmonisierungen der unterschiedlichen nationalen und regionalen Pharmakovigilanzsysteme beteiligt sind. 2. Struktur des Pharmakovigilanzsystems Die Ursprünge der Pharmakovigilanz liegen in der Einzelfallbeobachtung von unerwünschten therapeutischen Effekten und dem Verdacht des behandelnden Arztes, dass dieser Effekt auf die Arzneimittelgabe zurückzuführen sein könnte.188 Aus der systematischen Erfassung solcher Einzelfallbeobachtungen kann sich ein begründeter Verdacht ergeben, der sodann wiederum hoheitliche Maßnahmen rechtfertigen kann, um dieser Gefahr zu begegnen. Dieses Instrument der Informationsgewinnung war lange Zeit die einzige Quelle für die Überwachung von Arzneimitteln nach Marktzugang. Daher waren die maßgeblichen Akteure bestrebt, dieses Instrument zu optimieren. Die Selbstverwaltung der Heilberufe spielte hierbei eine bedeutende Rolle. So wurde etwa in die Berufsordnungen der deutschen Ärzte- und Apothekerkammern eine berufsrechtliche Pflicht zur Meldung von Arzneimittelrisiken aufgenommen.189 In ähnlicher Weise haben die Verbände der pharmazeutischen Industrie ebenfalls Meldesysteme für bekannt gewordene Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen eingeführt.190 Vor diesem Hintergrund sehen die maßgeblichen europarechtlichen Vorschriften, die in §§ 62 ff. AMG umgesetzt worden sind, die systematische Sammlung und Auswertung von Informationen vor, die über ein Arzneimittel in dessen Anwendungsphase entstehen, um daran regulatorische Entscheidungen knüpfen zu können. Diese nach der Zulassungserteilung angesiedelte Phase der Arzneimittelregulierung wird als Pharmakovigilanz bezeichnet. Sie gliedert sich in die Phase der Informationsgewinnung und die Phase der Risikoabwehr.191 Die Mitgliedstaaten müssen die Vorschriften der Artt. 101–108 RL 2001/83/EG umsetzen. Im Wege der Verweisung des Art. 21 VO 726/2004 gelten über Art. 106 Abs. 2 RL 2011/83/EG im Kern dieselben Kriterien auch für die Pharmakovigilanz bei zentral zugelassenen Arzneimitteln, die jedoch eigenständig in Art. 22 ff. VO 726/

187

S. Thiele, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 26 Rn. 1. van Grootheest, International Journal of Pharmaceutical Medicine 17 (2003), 195 (196 ff.); Meyboom / Egberts / Gribnau / Hekster, Drug Safety 21 (1999), 429 (430). 189 Schickert, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, Vorbemerkung zu § 62 Rn. 5. 190 Schickert, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, Vorbemerkung zu § 62 Rn. 6. 191 Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 65, 144 ff. 188

B. Die Zulassungsverfahren

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2004 geregelt worden ist.192 Durch die Richtlinie 2010/84/EU zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG und die Verordnung (EG) Nr.  1235/2010 zur Änderung der entsprechenden Verordnung (EG) Nr. 726/2004 wurde das Pharmakovigilanz­ system auf europäischer Ebene grundlegend reformiert.193 a) Adressaten Im System der Pharmakovigilanz werden sowohl den Zulassungsbehörden als auch den pharmazeutischen Herstellern Pflichten auferlegt. Die Umsetzung dieser Vorgaben ist im deutschen Recht vornehmlich durch die §§ 62 ff. AMG geschehen.194 Die Zulassungsinhaber sind gem. § 63c Abs. 2 AMG verpflichtet, Berichte über unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu erfassen und der zuständigen Bundesoberbehörde weiterzuleiten; andere an der Arzneimittelversorgung beteiligte Akteure können der Bundesoberbehörde Meldungen machen, die diese sodann einheitlich zu erfassen hat. Die im Rahmen dieses Systems gesammelten Informationen müssen bei der Beurteilung, ob ein Arzneimittel (noch) unbedenklich ist, berücksichtigt werden. Um auch Informationen aus anderen europäischen Staaten berücksichtigen zu können, existiert die einheitliche europäische Datenbank EudraVigilance, in die Pharmakovigilanzdaten eingespeist werden müssen.195 Ferner ist der im Rahmen der Reform 2010/2012 geschaffene Pharmakovigilanzausschuss der EMA (Pharmacovigilance Risk Assessment Committee, PRAC) an allen, auch den nationalen Pharmakovigilanzverfahren beteiligt.196 b) Der Stufenplan Im deutschen Recht nimmt das Instrument des Stufenplans gem. § 63 AMG eine bedeutende Stellung ein. Dieser wird in der Form einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift197 erlassen und bindet somit lediglich die zuständigen Bundesbehörden. Ferner werden als Beteiligte, mit denen die Bundesoberbehörden zusammenarbeiten sollen, die Landesbehörden und beteiligten Selbstverwaltungskörperschaften wie die Arzneimittelkommissionen der Heilberufskammern sowie eine Vielzahl weiterer öffentlicher Stelle, die in Nr. 2 des Stufenplans aufgezählt werden, benannt.

192

S. a. Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 62 Rn. 1. Kroth, PharmInd 2011, 483 ff. 194 S. ausf. Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 65 ff. 195 Dazu s. Thiele, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 26 Rn. 45 ff.; Friese, PharmInd 2011, 298 (299). 196 Kroth, PharmInd 2011, 483 (484). 197 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken (Stufenplan) nach § 63 des Arzneimittelgesetzes (AMG) vom 09.02.2005, BAnz. S. 2383. 193

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Diesen Beteiligten sowie eventuellen weiteren Akteuren werden dadurch keine zusätzlichen Pflichten auferlegt.198 Der Stufenplan basiert auf der Unterteilung der Nachmarktüberwachung in eine laufende Beobachtungsphase, von der ausgehend bei Bekanntwerden von Verdachtsmeldungen ein behördliches Vorgehen in zwei Stufen erfolgen kann. Diese Gefahrenstufen werden in Ziff. 5 des Stufenplans definiert. Sofern gem. Ziff. 5.1 Unterabs. 1 des Stufenplans Meldungen oder sonstige Informationen vorliegen, die auf die Möglichkeit einer unmittelbaren oder mittelbaren Gefährdung der Gesundheit von Mensch oder Tier hinweisen, richtet sich das behördliche Vorgehen nach den Maßnahmen der Stufe 1.  Die Folge ist ein Informationsaustausch zwischen den beteiligten Behörden und dem pharmazeutischen Hersteller.199 Auf dieser Stufe ist die Informationsgewinnung die verhältnismäßige Maßnahme zur Gefahrenabwehr. Daher zieht Di Fabio eine Parallele zum Anfangsverdacht im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, der ebenfalls zunächst nur zur „Verbreiterung der Informationsbasis“ als erste behördliche Reaktion ermächtigt.200 Sobald dagegen aufgrund der Ergebnisse der Informationssammlung oder durch andere Hinweise der Verdacht auf eine unmittelbare oder mittelbare Gefährdung für die genannten Schutzgüter besteht, kommt es gem. Ziff. 5.1 Unterabs. 3 des Stufenplans zu den gesetzlich vorgesehenen, gefahrenabwehrenden Maßnahmen der zuständigen Behörde, wobei der Stufenplan vorsieht, dass zunächst dem pharmazeutischen Hersteller die Gelegenheit gegeben werden soll, die Gefahr selbst zu beseitigen, sofern dies aus Gründen der Effektivität der Gefahrenabwehr tunlich ist. Die Stufe 2 setzt somit einen begründeten Verdacht für eine Gesundheitsgefahr voraus.201 Dabei soll die Interaktion der beteiligten Akteure intensiviert werden, insbesondere durch die Einbeziehung des pharmazeutischen Herstellers. Dies geschieht durch eine Sondersitzung nach Ziffer 9 des Stufenplans, die einberufen werden kann, um über Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu verhandeln oder für belastende Verwaltungsakte erforderliche Anhörungen des Herstellers durchzuführen.202 Dabei nehmen nicht nur die beiden Bundesoberbehörden, das BfArM und das PEI, sowie die unter Ziffer 2.1 bis 2.6 des Stufenplans bezeichneten Stellen an der Sondersitzung teil, sondern auch geladene Sachverständige, wobei der pharmazeutische Hersteller seinerseits Sachverständige in die Sondersitzung mitnehmen kann.

198 Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 63 Rn. 1; Schickert, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arz­ neimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 63 Rn. 4; Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 106. 199 Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 110. 200 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S.  246; ihm folgend Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 110. 201 Schickert, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 63 Rn. 16. 202 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 247 f.

B. Die Zulassungsverfahren

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c) Risikomanagement beim pharmazeutischen Unternehmer Die pharmazeutischen Unternehmer sind gleichfalls Adressaten von Pharmakovigilanzpflichten. Sie müssen ihren Geschäftsbetrieb entsprechend den regula­ torischen Pharmakovigilanzvorgaben organisieren.203 Eine zentrale Funktion nimmt insoweit die Pflicht ein, ein Pharmakovigilanzsystem einzuführen und zu betreiben. Für das Pharmakovigilanzsystem hat jeder pharmazeutische Unternehmer, der Fertigarzneimittel in den Verkehr bringt, gem. § 63a Abs. 1 AMG einen Stufenplanbeauftragten zu benennen, der zum einen für die Durchführung dieses Systems verantwortlich ist und zum anderen den Behörden als Ansprechpartner zur Verfügung steht. Diese Verpflichtung ist inhaltsgleich mit der Bestimmung des Art. 104 Abs. 3 Unterabs. 1 lit. a RL 2001/83/EG, eine qualifizierte Person für die Pharmakovigilanz zu benennen. Allerdings tritt eine seltsame Doppelung mit der Verpflichtung nach Art.  21 Abs.  1 VO 726/2004 auf, wonach Inhaber einer zentralen Zulassung eine qualifizierte Person für die Pharmakovigilanz zu benennen haben.204 Da diese Verordnungsbestimmung unmittelbar anwendbar ist, kann sie nicht durch § 63a Abs. 1 AMG umgesetzt werden. Insoweit müssten pharmazeutische Unternehmer, die sowohl zentral als auch nicht zentral zugelassene Arzneimittel in den Verkehr bringen, die Vorschriften für beide Rechtskreise erfüllen, also an sich einen Stufenplanbeauftragten für die nicht zentral zugelassenen Arzneimittel sowie eine qualifizierte Person für die zentral zugelassenen Medikamente benennen. Insoweit dürfte es sich jedoch um einen Umsetzungsfehler der Richtlinie 2001/83/EG handeln, da es nach Sinn und Zweck des § 63a AMG angesichts der identischen Qualifikationsvorgaben für die jeweiligen verantwortlichen Personen keiner Doppelung der Rollen bedarf, die zudem zu kompetenziellen Abgrenzungsschwierigkeiten führen würden. Bei anderen verantwortlichen Personen wie dem Informationsbeauftragten hat der Gesetzgeber jedoch in § 63c Abs.  5 Satz 1 AMG die Inhaber einer zentralen Zulassung ausdrücklich ausgenommen.205 Ein wesentliches Element der Pharmakovigilanz ist der sogenannte „periodic safety update report“ (PSUR) des Herstellers gem. § 63d AMG, in dem auf der Grundlage von allen verfügbaren Informationen und Meldungen wissenschaftliche Beurteilungen der Risiken und auch des Nutzens abgegeben werden müssen.206 Die Intervalle, in denen der PSUR zu erstatten ist, werden mit der Zulassung festgesetzt. Dabei sollen nach Art. 107c RL 2001/83/EG die Intervalle für dieselben Wirkstoffe,

203

Zu den Herstellerpflichten s. ausf. Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 118 ff. Dazu Schickert, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2.  Aufl. 2016, § 63a Rn. 6, 67. 205 Darauf weist Schickert, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 63a Rn. 6, hin. 206 S. Thiele / Sickmüller, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 26 Rn. 46 ff.; Kroth, PharmInd 2011, 483 (486). 204

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

die auf Grund unterschiedlicher Zulassung vertrieben werden, so harmonisiert werden, dass die Berichte zum selben Stichtag fällig werden.207 Zusätzlich zu dem Pharmakovigilanzsystem, das nach der Legaldefinition in § 4 Abs. 38 AMG dazu bestimmt ist, die Pharmakovigilanzpflichten des Unternehmens zu erfüllen, muss gem. § 63b Abs. 2 Nr. 4 für jedes Arzneimittel ein spezielles Risikomanagement-System eingerichtet werden. Diese produktbezogene Verpflichtung ist eine der Fortentwicklungen der Pharmakovigilanz durch das „Pharmapaket“. Die Beschreibung des Risikomanagement-Systems für das zuzulassende Arzneimittel ist gem. § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5a AMG Bestandteil der einzureichenden Zulassungsunterlagen. Dadurch sollen die speziell von dem jeweiligen Arzneimittel ausgehenden, potenziellen Gefahren erfasst und kontrolliert werden.208 Auf diesem Wege werden arzneimittelspezifische Maßnahmen etabliert und koordiniert. Die EMA hat nähere Leitlinien zur Aufstellung und Durchführung eines Risikomanagement-Systems erlassen, die insbesondere den Inhalt und Umfang dieses Plans zur Risikosteuerung spezifizieren.209 Dabei können die Maßnahmen auch einzelne Teilindikationen oder Subgruppen der gesamten Patientenpopulation betreffen. In Art. 21a Unterabs. 1 lit. a RL 2001/83/EG ist vorgesehen, dass die Erteilung der Zulassung mit der Auflage verbunden werden kann, bestimmte Maßnahmen, die im Risikomanagement-System enthalten sind, zur Gewährleistung der sicheren Anwendung des Arzneimittels zu ergreifen. Es zeigt sich dadurch, dass das Risiko­ management-System den Wechsel von einer reinen Nachmarktbeobachtung mit Reaktionsmöglichkeiten der Zulassungsbehörde  – gleichsam einem repressiven System – zu einer eigenständigen Arzneimittelregulierungsphase mit verstärkten Handlungspflichten des Zulassungsinhabers und einer engen Vernetzung privater und öffentlicher Risikoreduzierungsstrategien markiert. Eine besondere Vernetzung der Informationen über potenzielle Arzneimittelnebenwirkungen wird dabei auf europäischer Ebene geschaffen. Durch Art. 24 VO 726/2004 ist eine zentrale Datenbank zur Meldung von Verdachtsfällen namens EudraVigilance geschaffen worden. Die Zulassungsinhaber sind nach § 63c Abs. 2 Nr.  1 AMG verpflichtet, Verdachtsfälle einer schwerwiegenden Arzneimittelnebenwirkung im Inland der zuständigen Bundesoberbehörde auf elektronischem Wege zu melden. Die Bundesoberbehörde meldet diese Verdachtsfälle wiederum gem. § 62 Abs. 3 AMG an die Datenbank EudraVigilance. Erhält ein Zulassungsinhaber von solchen Verdachtsfällen aus einem anderen Mitgliedstaat Kenntnis, ist er gem. § 63c Abs. 2 Nr. 2 AMG zur direkten Meldung an EudraVigilance verpflichtet. Auf der Grundlage dieser Meldungen können die Arzneimittelbehörden anderer Mitgliedstaaten sowie die EMA weitere Maßnahmen koordinieren.

207

Kroth, PharmInd 2011, 483 (488). Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 4 Rn. 43. 209 EMA, Guideline on pharmacovigilance practices (GVP), Module V: Risk management system (Rev 2), EMA/838713/2011 Rev 2 vom 28.03.2017. 208

B. Die Zulassungsverfahren

173

3. Wissensgenerierung durch Pharmakovigilanz Neben der Meldung von Verdachtsfällen von Arzneimittelnebenwirkungen bestehen im Rahmen der Pharmakovigilanz weitere Instrumente zur Generierung von Wissen über Arzneimittelwirkungen. a) Publikationsbeobachtung Zunächst wird Wissen durch die Beobachtung der wissenschaftlichen Publikationsaktivitäten und sonstiger veröffentlichter Meldungen produziert. Die Pflicht hierzu trifft die Arzneimittelbehörden und den Zulassungsinhaber gleichermaßen. Nach Art. 27 VO 726/2004 sucht die EMA auf diesem Wege nach relevanten Berichten über vermutete Nebenwirkungen von Arzneimitteln und pflegt diese Informationen in EudraVigilance ein. Nach § 63b Abs. 2 Nr. 1 AMG ist der Zulassungsinhaber ebenfalls dazu verpflichtet, sämtliche Informationen, die verfügbar sind, wissenschaftlich auszuwerten und auf Risikohinweise zu überprüfen. Dies muss Bestandteil des Pharmakovigilanzsystems des Unternehmens sein. Angesichts des Umstands, dass in der medizinischen Wissenschaft fortlaufend neue Erkenntnisse über Arzneimittelwirkungen generiert werden, insbesondere da die Durchführung klinischer Studien mit bereits zugelassenen Arzneimitteln in ihrer Indikation für wissenschaftliche Einrichtungen realisierbar ist, kommt es zu einem stetigen Strom an potenziell sicherheitsrelevanten Erkenntnissen. Es lassen sich somit Verfahren der passiven Wissensgenerierung nach Marktzugang identifizieren. Sowohl Behörden als auch pharmazeutische Unternehmen beobachten die Produktion von Informationen und Daten über das Arzneimittel durch andere Akteure, sammeln die ihnen übermittelten Informationen und verarbeiten sie in hierfür eingerichteten Prozessen. b) Wirksamkeitsstudien in Phase IV In der Phase nach Marktzugang kann die Pharmakovigilanz auch durch aktive Forschung ergänzt werden. In Art. 21a Unterabs. 1 lit. b und lit. f RL 2001/83/ EG wird die Möglichkeit eröffnet, die Zulassung mit den Auflagen zu versehen, Unbedenklichkeitsstudien oder Wirksamkeitsstudien nach Erteilung der Zulassung durchzuführen. Solche Studien nach Zulassungserteilung werden üblicherweise als Studien der Phase IV bezeichnet.210 Diese Phase IV-Studien können als interventionelle oder nicht-interventionelle Studien durchgeführt werden.211 In der 210

Heil / Lützeler, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 4 Rn. 112 ff. Dazu s. die entsprechende Leitlinie der EMA; Guideline on Good Pharmacovigilance Practices (GVP), Module VIII – Post-authorisation safety studies (Rev 1), EMA/813938/2011 Rev 2 Corr vom 09.08.2016, S. 4. 211

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Gestalt der nicht-interventionellen Studie handelt es sich mithin um Beobachtungsstudien, die nicht den Vorschriften der §§ 40 ff. AMG in Verbindung mit den EUVorschriften über interventionelle klinische Studien unterliegen.212 Für sie besteht lediglich eine Anzeigepflicht nach § 67 Abs.  6 AMG. Das Format, in dem die Ergebnisse der Beobachtungsstudien der zuständigen Behörde gem. § 67 Abs. 6 Sätze 7–10 AMG zu übermitteln sind, beruht ebenso wie die Anzeigepflicht selbst auf Art. 36 der Durchführungsverordnung der EU-Kommission Nr. 520/2012 sowie deren Annex III. Sobald die Studie jedoch das Behandlungsgeschehen nicht bloß beobachtet, sondern durch das Studienprotokoll in die ärztliche Therapieentscheidung eingegriffen wird, greifen die Vorschriften über klinische Prüfungen am Menschen ein.213 Von besonderem Interesse ist die Möglichkeit, Wirksamkeitsstudien zu verlangen. Nach Art. 21a Unterabs. 1 lit. f RL 2001/83/EG, umgesetzt in § 28 Abs. 3a AMG, steht diese Auflage jedoch unter der Bedingung, dass Bedenken bezüglich einzelner Aspekte der Wirksamkeit bestehen und diese Bedenken erst nach dem Inverkehrbringen beseitigt werden können. Die englische Sprachfassung verwendet insoweit den Begriff „efficacy“, auch wenn der Sache nach gleichfalls an „effectiveness“ gedacht werden könnte. Die Verwendung des Begriffs der „efficacy“, der nach gängiger Terminologie die Wirksamkeit unter idealisierten Studienbedingungen bezeichnet, indiziert somit, dass diese Auflagenermächtigung dazu intendiert ist, um Wissensmängel zu beseitigen, die sich aus den Zulassungsstudien ergeben. Die gleichen Befugnisse zur Anordnung von Sicherheits- und Wirksamkeitsstudien besteht für die Zulassungsbehörde auch in der Phase der Pharmakovigilanz, also nach Zulassungserteilung. Diese Möglichkeit ist durch Art. 22a Abs. 1 RL 2001/83/ EG vorgesehen und in § 28 Abs. 3b AMG im deutschen Recht umgesetzt worden. c) Wirksamkeitsstudien als Pharmakovigilanzauflage Durch die Delegierte Verordnung (EU) Nr. 357/2014 hat die EU-Kommission die Voraussetzungen zum Gebrauch der Befugnis, ergänzende Wirksamkeitsstudien als Auflage zu verlangen, näher konkretisiert. Wirksamkeitsstudien können nach Art. 1 Abs. 3 VO 357/2014 dem Zulassungsinhaber ohne weitere Voraussetzungen auferlegt werden, wenn es sich um eine bedingte Zulassung oder eine Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen handelt. Gleiches gilt für besondere pädiatrische Zulassungen gem. Art. 34 Abs. 2 VO 1901/2006 oder für die Zulassung eines Arzneimittels für neuartige Therapien (ATMP) nach Art. 14 VO 1394/2007. Außerhalb dieser Fallgruppen bedarf es eines besonderen Grundes, um eine Wirksamkeitsstudie nach Zulassungserteilung zu verlangen. Die Kommission benennt insoweit zwei Gruppen von Konstellationen, in denen solche weiteren Wirk 212

Hierzu Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 168 ff. Heil / Lützeler, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 4 Rn. 25.

213

B. Die Zulassungsverfahren

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samkeitsinformationen erforderlich sein können. Die erste Gruppe betrifft Fälle, in denen auf der Grundlage der Zulassungsstudien ein Wissensdefizit verbleibt, das erst nach Inverkehrbringen des Arzneimittels geschlossen werden kann. In diesen Konstellationen soll die nachträgliche Auflagenmöglichkeit, anders als in den Konstellationen des Art. 1 Abs. 3 VO 357/2014, nicht zu einer vorzeitigen Erteilung der Zulassung führen, wie Erwägungsgrund 3 ausspricht. Daher sollen durch die nachträglichen Wirksamkeitsstudien nicht die Anforderungen an die Vollständigkeit und Aussagekraft der Zulassungsunterlagen sinken. Es wäre daher primär an medizinische oder statistische Gründe zu denken, aus denen Bedenken mit Blick auf die Wirksamkeit offenbleiben. Erwägungsgrund 5 nennt als Beispiele die Verwendung von Surrogatendpunkten wie Biomarker oder, im Bereich der Onkologie, die Schrumpfung des Tumorgewebes. Allerdings dürften Graubereiche verbleiben, in denen die Anordnung von Wirksamkeitsstudien nach Inverkehrbringen als Lösungsansatz für das regulatorische Dilemma im Einzelfall verwendet werden könnte, ohne dass die Zulassung bedingt oder unter außergewöhnlichen Umständen erfolgt. d) Wandel des klinischen Standards in der Phase IV Bemerkenswert ist insoweit, dass die Möglichkeit der nachträglichen Wirksamkeitsstudien auch als Instrument verwendet werden soll, um auf den Wandel des medizinischen Standards zu reagieren. Nach Art. 1 Abs. 2 lit. f VO 357/2014 sind ergänzende Wirksamkeitsstudien auch dann statthaft, wenn ein geändertes Verständnis der Standardversorgung einer Krankheit oder der Pharmakologie weitere Wirksamkeitsbelege erfordert. Nach Erwägungsgrund 10 ist diese Fallgruppe zur Umsetzung der Artegodan-Entscheidung des EuGH gedacht, wonach die nachträgliche Entscheidung über die Änderung oder Aufhebung einer Zulassung auf konkrete und objektive Gesichtspunkte gestützt werden muss.214 Der EuGH hat insoweit aber auch die Weiterentwicklung des Konsenses in den medizinischen Fachkreisen bezüglich der Kriterien zur Beurteilung der therapeutischen Wirksamkeit als geeignet angesehen, um die erforderlichen konkreten und objektiven Gesichtspunkte zu begründen.215 Somit kann sich nach Zulassungserteilung die medizinische Beurteilung der Therapieoptionen einer Krankheit oder auch der Wirkmechanismen des Arzneimittels derartig ändern, dass das Nutzen-RisikoVerhältnis als negativ bewertet werden muss. Das Instrument der Wirksamkeitsstudien ist jedoch nicht dazu eingeführt worden, um Daten über die Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen, also die „effectiveness“, zu sammeln. Nach Erwägungsgrund 9 sollen solche Studien unter Alltagsbedingungen nur „in Ausnahmesituationen“ verlangt werden. In Art. 1 Abs. 2 lit. e 214 215

EuGH, Urteil vom 19.04.2012 – Rs. C-221/10 P (Artegodan GmbH ./. Kommission), Tz. 102. EuGH, Urteil vom 19.04.2012 – Rs. C-221/10 P (Artegodan GmbH ./. Kommission), Tz. 103.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

VO 357/2014 ist geregelt, dass Wirksamkeitsnachweise unter Alltagsbedingungen nur gefordert werden können, wenn die unter Studienbedingungen gezeigte Wirksamkeit durch die Verwendung des Arzneimittels unter tatsächlichen Bedingungen erheblich beeinträchtigt wird. Es bedarf daher eines zureichenden Grundes, um Wirksamkeitsnachweise unter Alltagsbedingungen zu fordern. Die Formulierung in der Delegierten Verordnung legt nahe, dass insoweit besondere Divergenzen zwischen den Studienbedingungen und den Alltagsbedingungen erforderlich sind, die erhebliche Zweifel an der externen Validität der Studiendaten wecken. 4. Sicherheitsrechtliche Reaktionen auf neues Wissen Auf der Grundlage der Informationen aus der Pharmakovigilanz können die Zulassungsbehörden mit interventionellen Instrumenten reagieren. Die Erkenntnisse aus der Pharmakovigilanz werden von der zuständigen Bundesoberbehörde gesammelt und als Grundlage für behördliche Maßnahmen verwendet. Die gewonnenen Informationen können die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses verändern und dadurch zu Auflagen (§ 30 Abs. 2a Satz 2 AMG) oder zu einem Ruhen (§ 30 Abs. 1 Satz 4 AMG) oder gar einem Widerruf der Zulassung (§ 30 Abs. 1 AMG) führen. Daneben kann sich in der Nachmarktbeobachtung auch herausstellen, dass die therapeutische Wirksamkeit fehlt oder unzureichend begründet ist. In diesen Fällen kann die Zulassung ebenfalls zurückgenommen oder widerrufen werden. Die Bundesoberbehörde kann in diesem Fall gem. § 30 Abs. 4 Satz 3 AMG die Rückgabe des Arzneimittels an den pharmazeutischen Hersteller anordnen. Gleichzeitig können die zuständigen Landesbehörden gem. § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 bzw. Nr. 4 AMG einen Rückruf anordnen, das weitere Inverkehrbringen untersagen und die betroffenen Chargen sicherstellen.216 Auf europäischer Ebene ist insbesondere das sog. Dringlichkeitsverfahren nach Art. 107i RL 2001/83/EG von Bedeutung. Nach dieser Vorschrift können Mitgliedstaaten auf Grund von neuen Informationen, die sie durch die Pharmakovigilanz gewonnen haben, Eilmaßnahmen einleiten. Dazu dürfen sie die Zulassung eines Arzneimittels aussetzen oder ändern sowie widerrufen, müssen dabei jedoch die EMA umgehend über die Maßnahme informieren. Der PRAC prüft die Informationen und die daraus resultierenden Bedenken an der Sicherheit des Arzneimittels und erstattet binnen 60 Tagen einen Bericht. Eine endgültige Entscheidung über die Konsequenzen aus den neuen Informationen über die Arzneimittelsicherheit treffen gem. Art. 107k RL 2001/83/EG entweder im Falle der dezentralen Zulassung die Mitgliedstaaten in Gestalt der Koordinierungsgruppe oder, falls sich die Mitgliedstaaten nicht einigen oder ein Fall der zentralen Zulassung vorliegt, auf Vorschlag der EMA die Kommission. 216 Zum Verhältnis der unterschiedlichen aufsichtsrechtlichen Maßnahmen im (nationalen) Mehrebenensystem Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S 144 ff.; Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 186 ff.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht Das Arzneimittelzulassungsrecht stellt die Unbedenklichkeit der im Verkehr befindlichen Arzneimittel in den Vordergrund. Dies schlägt sich in dem Verbot des § 5 Abs. 1 AMG nieder, dass bedenkliche Arzneimittel nicht in den Verkehr gebracht oder an Menschen angewendet werden dürfen. Die Unbedenklichkeit wird in einem rechtsförmigen Verfahren, dem Zulassungsverfahren, auf europäischer oder nationaler Ebene überprüft. Bereits daraus folgt, dass die Entscheidung über die Unbedenklichkeit auch auf der Grundlage optimalen Wissens über das Arzneimittel lediglich eine Momentaufnahme sein kann, die zudem entscheidend von dem im Entscheidungsprozess verfügbaren, nicht optimalen Wissen abhängt.

I. Inhalt und Methodik der Nutzenbewertung Die Struktur der Nutzenbewertung von Arzneimitteln unterscheidet sich nicht wesentlich zwischen den unterschiedlichen Ebenen im europäischen Arzneimittelregulierungsverbund.217 Auf jeder Ebene sind dieselben Kriterien anzulegen, da die Zulassungsentscheidung stets nach den Vorgaben der Richtlinie 2001/83/EG erteilt wird. Ferner sind die vorzulegenden Unterlagen und Nachweise nicht nur durch europäisches Recht, sondern auch durch transnationales Recht harmonisiert. Die Koppelung zwischen den nationalen Rechtsordnungen und den transnationalen Vorgaben erfolgt durch die Richtlinie 2001/83/EG sowie die von der EMA erlassenen Leitlinien zur Planung und Durchführung von klinischen Studien. 1. Die Nutzenbewertung als Element der Unbedenklichkeitsentscheidung Nach § 5 Abs. 1 AMG ist es verboten, bedenkliche Arzneimittel in den Verkehr zu bringen. Der Begriff der Bedenklichkeit ist in § 5 Abs. 2 AMG definiert. Danach ist ein Arzneimittel bedenklich, wenn nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht besteht, dass bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen eintreten, die über ein vertretbares Maß hinausgehen. Ob die schädlichen Wirkungen über ein vertretbares Maß hinausgehen, ist nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft zu bestimmen. Das aus der Bewertung eines Arzneimittels als bedenklich resultierende Verkehrsverbot wird als tragendes Prinzip des AMG und als Ausfluss des Gedankens der Risikoabwehr verstanden.218 Das AMG knüpft dementsprechend die speziellen Ermächti 217

Zum Verbundbegriff vgl. Britz, EuR 2006, 46 (57 f.); Bullinger, DVBl. 2003, 1355 (1360 f.). Bericht der Bundesregierung vom 12.02.1982 über die Erfahrungen mit dem Arzneimittelgesetz, BT-Drs. 9/1355 S. 8; Räpple, Das Verbot bedenklicher Arzneimittel, 1991, S. 41; Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 109. 218

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

gungsgrundlagen für regulatorisches Handeln an das Merkmal der Bedenklichkeit eines Arzneimittels. Seit dem Inkrafttreten der 14. AMG-Novelle findet sich der Begriff der Bedenklichkeit nicht mehr wörtlich als Tatbestandsmerkmal in der Zulassungsversagungsregelung des § 25 Abs. 2 AMG, sondern ist durch das Tatbestandsmerkmal des Vorliegens eines ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses ersetzt worden.219 Der Wortlaut des § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG enthielt vor der 14. AMG-Novelle den Versagungsgrund des begründeten Verdachts, dass das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Diese Formulierung entsprach der Definition der Bedenklichkeit nach § 5 Abs. 2 AMG. Die Neufassung des § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG sollte den Wortlaut dieses Versagungsgrundes an die geänderte Fassung der Richtlinie 2001/83/EG anpassen.220 Eine inhaltliche Änderung war dadurch nicht beabsichtigt.221 Dies bedeutet, dass die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vom Gesetzgeber als Kerninhalt der Unbedenklichkeitsprüfung angesehen wird und dann eine Versagung der Zulassung rechtfertigt, wenn die erwartbaren schädlichen Wirkungen nicht (mehr) als vertretbar angesehen werden können.222 Der Schwerpunkt der Arzneimittelprüfung liegt diesem Begriffsverständnis nach auf der Risikoseite. Die Unbedenklichkeitsprüfung ist eine Vertretbarkeitsentscheidung, denn es ist bei pharmakologisch aktiven Substanzen vielfach unvermeidbar, dass sie auch unerwünschte Wirkungen haben.223 Diese regulatorische Entscheidung ist jedoch auf der Grundlage von dem Wortlaut nach weitgehend unbestimmten Kriterien vorzunehmen. Die Definition des § 5 Abs. 2 AMG enthält mehrere unbestimmte Rechtsbegriffe.224 Die Bestimmung der Vertretbarkeit der unerwünschten im Vergleich zu den erwünschten Wirkungen des Arzneimittels erfordert einen wertenden Vergleich.225 Der Begriff der schädlichen Wirkungen umfasst dabei im Rahmen der Unbedenklichkeitsbewertung nur diejenigen Folgen des Arzneimittels, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch auftreten.226 Dabei müssen diese negativen 219 Zum Zusammenhang der alten Textfassung mit der Unbedenklichkeitsprüfung s. Räpple, Das Verbot bedenklicher Arzneimittel, 1991, S. 41; Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 109; Ramsauer, Die staatliche Ordnung der Arzneimittelversorgung, 1988, S. 45. 220 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm.  71; Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 318. 221 Gesetzentwurf zur 14. AMG-Novelle, BT-Drs. 15/5316 S. 38 zu Nr. 22 Buchstabe a. 222 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 5 Anm. 31. 223 Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 213; Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 5 AMG Anm. 31. 224 Dazu exemplarisch Wolz, Bedenkliche Arzneimittel als Rechtsbegriff, 1988, S.  50 ff.; Räpple, Das Verbot bedenklicher Arzneimittel, 1991, S. 42 ff.; Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 110 ff. 225 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 5 Anm. 31. 226 Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 111.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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Folgen nicht tatsächlich in jedem Anwendungsfall eintreten, sondern es genügt gem. § 5 Abs. 2 AMG der begründete Verdacht. Tatsächlich lassen sich unerwünschte Wirkungen eines Arzneimittels nie ausschließen.227 Daher ist eine abwägende Bewertung der zu erwartenden negativen mit den positiven Wirkungen des Arzneimittels erforderlich. Es können somit nur solche Arzneimittel unbedenklich sein, deren erwünschte Wirkungen die unerwünschten Wirkungen bei wertender Betrachtung überwiegen, die also  – anders gesagt  – eine positive Nutzen-RisikoBilanz aufweisen.228 2. Der Nutzenbegriff im Zulassungsrecht Nach der Regel des § 5 Abs. 2 AMG ist ein Arzneimittel mithin nicht bereits dann bedenklich, wenn es überhaupt schädliche Wirkungen aufweist, sondern sie müssen das Maß des medizinisch Vertretbaren überschreiten. Für die medizinische Vertretbarkeit des Einsatzes eines Arzneimittels ist daher der erwartete Nutzen von entscheidender Bedeutung. Der Begriff des Nutzens ist im AMG nicht explizit definiert. Aus dem systematischen Zusammenhang des Unbedenklichkeitsbegriffs gem. § 5 Abs. 2 AMG mit den Zulassungsversagungstatbeständen in § 25 Abs. 2 Satz 1 AMG, insbesondere der dortigen Nr. 5, lässt sich jedoch die Verwendungsweise des Nutzenbegriffs im AMG erschließen. Er bezeichnet kein Urteil über die therapeutische Eignung eines Arzneimittels aus ärztlicher Sicht, sondern bezieht sich lediglich auf die eine Seite der Abwägungsentscheidung, die dem Unbedenklichkeitsurteil zugrunde liegt. Der Nutzen wird also mit den aus medizinischer Sicht positiven Wirkungen des Arzneimittels gleichgesetzt, unabhängig von der ärztlichen Gesamteinschätzung des Arzneimittels.229 Diesen indikationsbezogen positiven Wirkungen stehen jedoch die negativ bewerteten Wirkungen, nämlich der Schaden durch die Arzneimittelanwendung, gegenüber. Diese Seite des Unbedenklichkeitsurteils wird demnach als Risiko bezeichnet. Diese Begriffsverwendungsweise hat in der Legaldefinition des Nutzen-RisikoVerhältnisses in § 4 Abs. 28 AMG ihren Niederschlag gefunden. Dabei handelt es sich dieser Legaldefinition zufolge um eine Bewertung der positiven therapeutischen Wirkungen eines Arzneimittels im Verhältnis zum Risiko gem. § 4 Abs. 27 lit. a AMG.

227

Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 5 Rn. 2; Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 213. 228 Hart, Bundesgesundheitsblatt 48 (2005), 204 ff. 229 Francke / Hart, MedR 2008, 2 (6); Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 319.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

a) Therapeutische Wirksamkeit Das AMG enthält selbst keine Definition des Begriffs der Wirksamkeit, sondern setzt diesen vielmehr voraus.230 Aus dem soeben dargestellten Begriffssystem des AMG folgt, dass die Wirksamkeit vom Begriff der Wirkung unterschieden wird.231 Unter einer Wirkung wird grundlegend jede messbare Reaktion auf die Arzneimittelgabe verstanden, also jeder kausale Effekt.232 Ist diese Wirkung therapeutisch erwünscht, wird von Wirksamkeit gesprochen.233 Somit ist die Wirksamkeit im Hinblick auf die therapeutische Zielsetzung des Arzneimittels zu bestimmen und bezieht sich dadurch stets auf die medizinische Indikation des Präparats.234 Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich bei der Wirksamkeit des Arzneimittels um eine beanspruchte Wirksamkeit handelt.235 Dies bedeutet zum einen, dass die Wirksamkeitsbehauptung im Zulassungsverfahren nach den gesetzlichen Maßstäben nachgewiesen werden muss. In diesem Rahmen kann der Hersteller des Arzneimittels die Anforderungen an den Nachweis der Wirksamkeit dadurch steuern, dass er die Indikation entsprechend auswählt und gem. § 22 Abs. 1 Nr. 6 AMG in dem Zulassungsantrag bezeichnet.236 Zum anderen kann sich jedoch in der medizinischen Praxis, sei es durch systematische klinische Studien oder durch Anwendungsbeobachtungen, erweisen, dass das Medikament auch hinsichtlich anderer Indikationen wirksam oder die in der Zulassung beanspruchte Wirksamkeit tatsächlich nicht in dieser Weise vorhanden ist. Wenn das Arzneimittel nach Zulassungserteilung von der medizinischen Praxis für andere Indikationen verwendet wird, als es zugelassen worden ist, liegt ein Off-Label-Use vor. Fehlt es dagegen an dem Nachweis einer therapeutischen Wirksamkeit, ist die Zulassung gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Var. 1 AMG zu versagen. Dies kann etwa der Fall sein, wenn die Wirkungen des Arzneimittels, die vom Antragsteller nachgewiesen werden, keinen Therapieerfolg versprechen, etwa weil sie für die gewählte Indikation medizinisch ohne Bedeutung sind oder weil ein gesicherter Erkenntnisstand besteht, der die Wirksamkeit ausschließt.237

230

Fuhrmann / Tehrani, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 153. Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm. 46. 232 Schuster, PharmR 1981, 57; Räpple, Das Verbot bedenklicher Arzneimittel, 1991, S. 42; Wolz, Bedenkliche Arzneimittel als Rechtsbegriff, 1988, S. 53; Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 214; Fuhrmann / Tehrani, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 150. 233 Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 214; Fuhrmann / Tehrani, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 150. 234 Fuhrmann / Tehrani, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 150; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 25 Rn. 7; Meier, in: Meier / von Czettritz / Gabriel / Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 3 Rn. 80 Fn. 256; Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 32 m. w. N. 235 Fuhrmann / Tehrani, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 150. 236 Fuhrmann / Tehrani, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 151. 237 Vgl. Kügel, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 25 Rn. 40 f. 231

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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b) Wahrscheinlichkeitsaussage Der Wirksamkeitsnachweis muss nach der gesetzlichen Regelung vom Zulassungsantragsteller nicht positiv geführt werden. Nach § 25 Abs.  2 Satz  1 Nr.  4 AMG wird die Zulassung versagt, wenn feststeht, dass die therapeutische Wirksamkeit fehlt oder sie nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse unzureichend begründet ist. Indem das Gesetz auf die unzureichende Begründung abstellt und zu deren inhaltlicher Beurteilung auf den jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse verweist, wird eine Verweisung in die Fachwissenschaft vorgenommen. Es kommt somit nicht auf den Beleg der Wirksamkeit an, sondern auf die nach den Standards der Fachwissenschaft überzeugende Begründung. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Wirksamkeit nur als Wahrscheinlichkeitsaussage fassbar ist.238 Dies ergibt sich grundlegend aus den Erkenntnismöglichkeiten über die Wirkungen von Arzneimitteln im menschlichen Körper und korrespondiert mit den Nachweismethoden für die Wirksamkeit, die sich aus § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AMG sowie den entsprechenden Abschnitten der Arzneimittelprüfrichtlinien bzw. des Anhangs I zur Richtlinie 2001/83/EG ergeben. Es sind klinische Prüfungen vorzulegen, die stets nur statistische Ergebnisse zur Wirksamkeit liefern können.239 Das Wahrscheinlichkeitsmaß, das erforderlich ist, um den Nachweis der Wirksamkeit zu begründen, hängt von den Umständen der Entscheidungssituation ab.240 Ob ein statistischer Beleg den Nachweis der Wirksamkeit führen kann, richtet sich nach den Anforderungen, die vom Entscheider an die Überzeugungskraft der Nachweise gestellt werden. Das gängige Maß für das Überschreiten der Nachweisschwelle im Rahmen von klinischen Studien, die statistische Signifikanz, ist kontingent.241 Dies bedeutet, dass die Konvention, mit welchen statistischen Ergebnissen ein Wirksamkeitsnachweis als geführt angesehen wird, in einzelnen Entscheidungssituationen auch anders getroffen oder abweichend festgelegt werden kann. Tatsächlich finden sich im Zulassungsrecht entsprechende Ansätze. Die EMA hat beispielsweise in einer Leitlinie zu statistischen Elementen von klinischen Studien ausgeführt, dass von dem konventionellen Signifikanzmaß von p=0,05 in „Extremsituationen“ mit Begründung abgewichen werden dürfe.242 Solche „Extremsituationen“ können sich nach der Leitlinie aus medizinischen Bedarfen oder ethischen Gründen, etwa in der Studiendurchführung, ergeben.243 238 BVerwG, Urteil vom 14.10.1993 – 3 C 46/91, Rn. 36 bei juris.de; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 25 Rn. 7. 239 Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 222 f. 240 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S.  174 f.; Fries, Nutzen / RisikoAbwägung, 2009, S. 222 f. 241 S. o. Kap. 3 B. III. 5. b). 242 EMA, CHMP Guideline on the Choice of the Non-Inferiority Margin vom 27.07.2005, EMEA / CPMP / EWP/2158/99, S. 10. 243 EMA, CHMP Guideline on the Choice of the Non-Inferiority Margin vom 27.07.2005, EMEA /  CPMP / EWP/2158/99, S. 10.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Es liegt daher nahe, den variablen Wahrscheinlichkeitsmaßstab des Wirksamkeitsbegriffs entsprechend der Prognoseentscheidung des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts zu konzipieren.244 Danach variiert der geforderte Grad der Wahrscheinlichkeit für die Wirksamkeit mit dem zu erwartenden therapeutischen Nutzen und dem Bedürfnis, das konkrete Arzneimittel zuzulassen.245 An dieser dogmatischen Konstruktion ist zu begrüßen, dass sie Erwägungen, die in die Bestimmung des geforderten Wahrscheinlichkeitsmaßstabes einfließen können, erfasst und transparent macht. Allerdings dient die Prognoseentscheidung im Gefahrenabwehrrecht dem Schutz diverser Rechtsgüter. Im Zulassungsrecht kommen derartige Erwägungen auch in Betracht, der Wirksamkeitsnachweis stellt jedoch speziell lediglich einen Zusammenhang zwischen dem Arzneimittel und dem Therapieerfolg in der jeweiligen Indikation her. Gleichzeitig dient die Bestimmung des akzeptablen Maßes der Wahrscheinlichkeit für den Nachweis der Wirksamkeit nicht dazu, eine „Bedürfnisprüfung“ in die Zulassungsentscheidung einzuführen, wie Fuhrmann ausführt.246 Zwar kann in Fällen eines hohen medizinischen Bedarfs für eine Behandlungsalternative das erforderliche Wahrscheinlichkeitsmaß herabgesenkt werden, doch führt dies nicht dazu, dass in Konstellationen, in denen bereits vielfältige Behandlungsalternativen in einer Indikation verfügbar sind, höhere Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit für eine Wirksamkeit zu stellen sind.247 Dies wäre bereits deswegen nicht überzeugend, weil sich der Vergleich zweier Arzneimittel mit Blick auf ihre Wirksamkeit nicht aus dem erreichten Signifikanzlevel in klinischen Studien ergibt, sondern nur in einem direkten oder indirekten Vergleich untersucht werden kann. Ferner bezeichnet die Wirksamkeit die Eignung des Arzneimittels, einen therapeutischen Effekt zu erreichen; dieser Maßstab ist unabhängig von den Effekten, die andere Therapien zu erzielen vermögen. Schließlich verweist § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AMG auf den außerrechtlichen Maßstab des jeweiligen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse für das gebotene Nachweisniveau. Das Gesetz intendiert demnach eine wissenschaftlich belegte Wirksamkeitsbehauptung, deren regulatorische Prüfung in weiteren Schritten wie der Nutzen-Risiko-Bewertung realisiert wird. 3. Der Risikobegriff im Zulassungsrecht Der Begriff des Risikos ist im AMG nicht definiert. In § 4 Abs. 27 AMG sind die Bezugspunkte des Risikobegriffs bezeichnet, nämlich Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit eines Arzneimittels für die individuelle und öffentliche Gesundheit

244

Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 175 f. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 176. 246 Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 216 f. 247 Dazu Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 217 f. 245

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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sowie – nach § 4 Abs. 28 AMG nur bei Tierarzneimitteln von Bedeutung248 – für die Umwelt. Was der Begriff des Risikos dagegen selbst bedeutet, wird im AMG vorausgesetzt. Nach allgemeiner Begriffsverwendung wird unter Risiko im Unterschied zur Gefahr bereits die Möglichkeit des Eintritts eines Schadens verstanden.249 In der arzneimittelrechtlichen Literatur wird mit dem Risikobegriff die Möglichkeit des Eintritts von negativ bewerteten Wirkungen im Zusammenhang mit Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels bezeichnet.250 Im Technik- und Sicherheitsrecht ist für die Ermittlung des Risikos die Formel „R = S x W“ gebräuchlich, mit der die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts mit dem Ausmaß des Schadens multipliziert wird, um das Risiko zu erhalten.251 Diese formelhafte Betrachtung ist jedoch irreführend, da hierfür die Faktoren quantifiziert und prognostiziert werden müssen. Dieser Vorgang ist zum einen mit großer Unsicherheit verbunden, da die Kategorie des Risikos gerade durch das Fehlen von erkennbaren Kausalzusammenhängen geprägt ist,252 und bedarf zum anderen wertender Elemente, da nicht jedes formal gleich große Schadenspotenzial sozial auch gleich gewichtet wird. Insbesondere können hochsubjektive Beeinträchtigungen, aber auch Gesundheitsschäden nicht kohärent quantifiziert werden. So fällt es auch der Gesundheitsökonomie schwer, beispielsweise ungleichartige Güter zu quantifizieren und zu verrechnen, Folgen für Dritte wie etwa abhängige Familienangehörige einzukalkulieren oder auch die Lebensrettung gegenüber einer vollständigen Heilung in Nutzwerten abzugrenzen.253 Treffender erscheint dagegen die Unterscheidung in Risikoermittlung und Risikobewertung, wie sie im neueren Risikoregulierungsdiskurs vorgenommen wird.254 Auch wenn die Risikoermittlung nicht frei von impliziten Wertungen ist, wird sie als ein fachwissenschaftlich geprägter Prozess verstanden, um das konkrete Risikopotenzial zu erfassen.255 An die Risikoermittlung schließt sich die Risikobewertung an, die insoweit die ureigene Aufgabe der entscheidenden Behörde darstellt. Dabei ist das Risikowissen dadurch gekennzeichnet, dass es angesichts der immanenten Unsicherheit stets vorläufig ist. Die Verschleifung durch den Rekurs auf den „Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“, der insoweit auch für den Risikobegriff maßgeblich ist, erlaubt die Änderung der Bewertung bei Vorliegen 248 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 4 Anm. 83; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 4 Rn. 30. 249 Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 146. 250 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 4 Anm. 81; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 4 Rn. 30. 251 So auch in diesem Zusammenhang Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 232. 252 Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 42 Rn. 176. 253 Vgl. Brazier / Ratcliffe / Tsuchiya / Salomon, Measuring and Valuing Health Benefits for Economic Evaluation, 2007, S. 291 ff. 254 Appel / Mielke, Strategien der Risikoregulierung, 2014, S. 102 ff. 255 Appel / Mielke, Strategien der Risikoregulierung, 2014, S. 103.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

neuer Erkenntnisse.256 Diese Verschleifung und immanente Vorläufigkeit der Risikoermittlung leitet über zum Risikomanagement.257 Im Arzneimittelzulassungsrecht werden die entsprechenden Instrumente für die Zulassungsbehörde durch die Möglichkeit zur Erteilung von Auflagen, Widerrufsmöglichkeiten und die Beobachtung im Rahmen der Pharmakovigilanz geschaffen. Die Risikobewertung im Zeitpunkt der Zulassung ist demgegenüber durch große Unsicherheit geprägt, sodass die Wissensdefizite durch umfangreiche Dokumentationsanforderungen und ein gestuftes Nutzenbewertungsverfahren kompensiert werden. 4. Die Struktur der Nutzen-Risiko-Abwägung Der Vorgang der Nutzen-Risiko-Abwägung ist seiner Struktur nach äußerst komplex. Die gesetzliche Regelung in § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG spricht lediglich von einem ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnis, das die Versagung der Zulassung rechtfertigt. In der allgemeineren Vorschrift § 5 Abs. 2 AMG ist von dem begründeten Verdacht die Rede, dass schädlichen Wirkungen den Nutzen des Arzneimittels überwiegen. Wie allerdings die Zulassungsbehörde zu dieser Bewertung gelangt, ist im Gesetz nicht näher vorgeschrieben.258 Es wird dementsprechend verschiedentlich die Schlussfolgerung gezogen, dass nur Einzelentscheidungen ohne verallgemeinerungsfähige Entscheidungsgrundsätze möglich seien.259 Die Nutzen-Risiko-Abwägung im Sinne des § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG, die der Unbedenklichkeitsbewertung nach § 5 Abs. 2 AMG entspricht, kann aus rechtlicher Perspektive in zwei Schritte gegliedert werden.260 In einem ersten Schritt müssen Nutzen und Risiko ermittelt und in eine Relation zueinander gesetzt werden. Dieser erste Schritt, der einem „Risk Assessment“ entspricht, ist im Kern ein naturwissenschaftlicher Erkenntnis- und Bewertungsprozess.261 Im zweiten Schritt wird dieses Ergebnis bewertet, d. h. der festgestellte Nutzen und die ermittelten Risiken werden vor dem Hintergrund des Schutzzwecks nach § 1 AMG in einen Abwägungsprozess eingestellt, in dem auch das Therapiepotenzial des Arzneimittels und die verbleibenden Wissenslücken wertend berücksichtigt werden.262 In 256 Ladeur, Kommunikation über Risiken im Rechtssystem. Das Beispiel Nanotechnologie, in: Büscher / Japp (Hr.), Ökologische Aufklärung, 2010, S. 131 (141 f.). 257 S.  Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem  /  Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hr.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 42 Rn. 189 ff. 258 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm. 71. 259 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm. 71; Kügel, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 25 Rn. 63. 260 Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 211 f., 244 f.; allg. hierzu für Risikobewertungen Wahl / Appel, Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Wahl (Hr.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 (109). 261 Wahl / Appel, Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Wahl (Hr.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 (110). 262 Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 245.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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diesem Schritt wird zugleich entschieden, welche Risiken als hinnehmbar bewertet und damit den Anwendern des Arzneimittels als zumutbar aufgebürdet werden. Für die Abwägung des Nutzens mit den Risiken eines Produkts wird ganz überwiegend auf einen naturwissenschaftlichen Maßstab abgestellt. So ist es die Aufgabe der Zulassungsbehörde, die Erkenntnissicherheit über Nutzen und Risiko zu beurteilen, die kumulierten Unsicherheiten abzuschätzen und mit Blick auf die beantragte Indikation eine Abwägung zu treffen.263 Hinzu tritt als weiteres Element eine relative Nutzen-Risiko-Bewertung.264 Darunter wird der Vergleich mit bereits am Markt befindlichen Therapiealternativen verstanden. Schlagwortartig wird die Für-sich-Bewertung oder auch absolute Nutzen-Risiko-Bewertung mit der Formel „mindestens so gut wie der Standard zum Zeitpunkt der Prüfung“ zusammengefasst. Für die relative Nutzen-Risiko-Bewertung lautet die Formel dementsprechend: „mindestens so gut wie der Standard auf dem Markt bzw. ihm nicht unterlegen“.265 Zur Operationalisierung der relativen Nutzen-Risiko-Bewertung werden von einigen Autoren Entscheidungspfade konstruiert, um die Abwägungsentscheidung über Nutzen und Risiko transparenter und objektivierbarer zu machen.266 Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie Fallgruppen bilden, in denen bestimmte Relationen von Nutzen und Risiko gebildet werden. Der Komplexitätsgrad dieser Fallgruppenbildung ist dem Grunde nach beliebig steigerbar.267 Fries unterscheidet neun Konstellationen, indem sie sowohl den Nutzen als auch das Risiko im Vergleich zum gleichen Element der anderen Therapieoption als höher, gleich oder niedriger klassifiziert.268 Für diese differenzierte relative Nutzen-Risiko-Entscheidung spricht mit Blick auf § 5 Abs.  1 AMG, dass das medizinische Urteil über die Vertretbarkeit von Nebenwirkungen im Verhältnis zur therapeutischen Wirksamkeit maßgeblich von dem bereits erreichten therapeutischen Standard abhängt. So mag in einem Therapiegebiet, das bereits über hochwirksame Arzneimittel verfügt, ein schlechter wirksames Arzneimittel mit einem bestimmten Nebenwirkungsprofil nicht vertretbar sein, während dies in einem Indikationsbereich, in dem es eine Bandbreite an Therapieoptionen mit unterschiedlichen und mitunter auch ungesicherten Wirksamkeitsprofilen gibt, anders beurteilt werden kann. Die relative Nutzen-Risiko-Bewertung als festes Element der Nutzen-RisikoAbwägung für ein neues Arzneimittel begegnet jedoch Bedenken. Sie ist mit dem 263

Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 355. Hart, Bundesgesundheitsblatt 48 (2005), 204 (207); Fuhrmann, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 227; Kügel, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 25 Rn. 57; Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm. 77; wohl auch Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 5 Rn. 2. 265 Hart, Bundesgesundheitsblatt 48 (2005), 204 (207). 266 Hart, Bundesgesundheitsblatt 48 (2005), 204 (208 ff.); Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 369 ff.; in Ansätzen auch Fuhrmann, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 223 ff. 267 Hart, Bundesgesundheitsblatt 48 (2005), 204 (208). 268 Fries, Nutzen / Risiko-Abwägung, 2009, S. 370 f. 264

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Risikomanagement-Ansatz, der dem arzneimittelrechtlichen Regulierungssystem zugrunde liegt, schwerlich in Einklang zu bringen. Nach der gesetzlichen Systematik kann die Zulassungsbehörde nämlich durch Auflagen, insbesondere ergänzende Sicherheits- oder Wirksamkeitsstudien der Phase IV, sowie durch Vorgaben für die Anwendung des Arzneimittels im Alltag und die Nebenwirkungsbeobachtung bestehenden Zweifeln am Nutzen-Risiko-Verhältnis Rechnung tragen. Dies liegt insbesondere daran, dass die Zulassungsentscheidung binär über den Marktzugang entscheidet: Wird die Zulassung wegen eines ungünstigen Nutzen-RisikoVerhältnisses versagt, kann das Arzneimittel nicht in Verkehr gebracht werden. Die Konsequenz daraus ist, dass das vorhandene Wissen über das Wirkungsprofil des Arzneimittels nicht mehr verändert werden kann. Dies mag aus Sicht der Befürworter einer relativen Unbedenklichkeitsprüfung als logische Konsequenz erscheinen, doch tatsächlich ist die Prämisse der relativen Unbedenklichkeit nicht regelmäßig zum Zeitpunkt der Zulassungsentscheidung erfüllt. Die Beurteilung, ob ein Arzneimittel besser wirkt als ein anderes oder geringere Nebenwirkungen verursacht, kann nur auf der Grundlage des verfügbaren Wissens getroffen werden. Solange also der Wirkstoff nicht bereits bekannt ist oder in der klinischen Prüfung gegen den Therapiestandard getestet worden ist, gibt es kein Wissen über den Vergleich der beiden Arzneimittel, der das Gewissheitsniveau erreicht, das für die Versagung der Zulassung nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AMG erforderlich ist. Insoweit kann auf den Maßstab abgestellt werden, der für die Ermittlung des Nutzens und des Risikos selbst erforderlich ist. Es wäre inkonsequent, für den Vergleich des Nutzens oder des Risikos zweier Arzneimittel einen niedrigeren Gewissheitsstandard anzulegen. Somit bedarf es statistisch zuverlässiger Aussagen nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Diese liegen außer in Sonderfällen jedoch regelmäßig nicht vor, sofern nicht die Zulassungsstudien einen entsprechenden Nachweis enthalten. Ein zweiter gesundheitsschutzbezogener Grund spricht gleichfalls gegen eine relative Unbedenklichkeitsprüfung. Dieser Grund reflektiert das Dilemma, dass eine Entscheidung gegen die Zulassung eines Arzneimittels stets das Risiko birgt, dass ein wirksames Arzneimittel der Patientenversorgung vorenthalten wird. Aus dem Umstand, dass das Wissen über Arzneimittel statistischer Natur ist, folgt zugleich, dass es immanent unbekannt ist, ob das Arzneimittel bei einem konkreten Patienten wirksam sein wird, ob er also ein sog. „Responder“ ist. Die zugrunde liegenden Faktoren sind medizinisch in vielen Fällen unbekannt und werden für Arzneimittel regelmäßig bereits vor der Zulassung sowie im weiteren Verlauf nach dem Marktzugang erforscht, doch solange die Responder-Eigenschaft nicht zuverlässig vorausgesagt werden kann, besteht das Risiko, dass ein Arzneimittel in einer Indikation nach der Studienlage nur schwächer wirksam ist als ein Bestandsarzneimittel und deswegen in der relativen Unbedenklichkeitsprüfung unterlegen ist, aber tatsächlich in einer Subgruppe der Patientenpopulation bedeutend besser wirkt als Konkurrenzprodukte. Dass solche Fälle tatsächlich vorkommen, illustriert das Beispiel des Wirkstoffs Cetuximab zur Behandlung des fortgeschrittenen

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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Kolonkarzinoms. Die Wirksamkeit von Cetuximab hängt davon ab, ob der Tumor des Patienten eine Mutation des KRAS-Gens aufweist, das zu den Onkogenen gehört und damit die Krebsentstehung im Falle einer Mutation erheblich begünstigt.269 Eine solche tumorwachstumsfördernde Mutation des KRAS-Gens kommt bei ca. 40 % aller Kolonkarzinome vor.270 Bei Patienten mit dieser Mutation hat der Wirkstoff keinen therapeutischen Effekt, während er im Falle der fehlenden Mutation zu einer Verdoppelung der Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten führt.271 Das Beispiel zeigt somit, dass die Ermittlung der Responder-Eigenschaft nicht nur für die Therapie des einzelnen Patienten von erheblicher Bedeutung ist,272 sondern auch für die Nutzenbewertung eines neuen Arzneimittels. Sowohl das begrenzte Wissens über den Vergleich von Arzneimitteln zum Zulassungszeitpunkt als auch über die Wirksamkeit in Subgruppen der Patientenpopulation in der Indikation sprechen dafür, keine relative Nutzen-Risiko-Prüfung als Element der Nutzen-Risiko-Abwägung nach § 25 Abs.  2 Satz  1 Nr.  5 AMG durchzuführen. Dem berechtigten Anliegen der Befürworter der relativen Unbedenklichkeitsprüfung, dem medizinischen Fortschritt bei der Arzneimittelzulassung Rechnung zu tragen, kann jedoch auf andere Wege abgeholfen werden. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Anliegen nämlich um eine medizinische Frage über die Angemessenheit des Verhältnisses der Wirksamkeit des neuen Arzneimittels zu den Risiken vor dem Hintergrund des bereits bekannten Nutzenprofils anderer Thera­ peutika. Der Kern der relativen Bewertung des neuen Arzneimittels liegt somit in der medizinischen Bewertung des Nutzen-Risiko-Profils, die notwendig an den bereits erreichten Stand des Nutzen-Risiko-Verhältnisses anzuknüpfen hat. Diese Verortung ermöglicht es auch, den oben dargestellten Bedenken Rechnung zu tragen, dass Non-Respondern eine Therapieoption vorenthalten werden könnte, weil in den bisherigen Studien kein Vergleich zwischen den Respondern der Bestandstherapie und des neuen Arzneimittels vorgenommen worden ist. Die Frage, inwieweit für ein Arzneimittel eine relative Nutzen-Risiko-Abwägung durchzuführen ist und welche Kriterien hierbei anzulegen sind, hängt folglich von dem Wissen der Zulassungsbehörde über das Arzneimittel, über die Indikation und die alternativen Behandlungsoptionen ab.

269

Karapetis et al., NEJM 359 (2008), 1757 (1762 f.). Alberts et al., Molecular Biology of the Cell, 6. Aufl. 2015, S. 1123. 271 Karapetis et al., NEJM 359 (2008), 1757 (1760). 272 S. dazu Weiss et al., Nature Reviews Drug Discovery 7 (2008), 568 ff. 270

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

II. Wissensquellen für die Zulassungsentscheidung Die arzneimittelrechtliche Zulassung ist gem. § 25 Abs. 2 AMG eine gebundene Entscheidung. Die Zulassungsbehörde darf die Zulassung nur versagen, wenn einer der gesetzlichen Versagungsgründe vorliegt. Diese finden sich im Wesentlichen im Katalog des § 25 Abs. 2 Satz 1 AMG. Dabei ist die Zulassungsbehörde auf die Prüfung der ihr vorgelegten Unterlagen beschränkt, der Amtsermittlungsgrundsatz ist eingeschränkt.273 Dies ist gleichsam eine Notwendigkeit für neue Wirkstoffe, da im Falle einer Neuentwicklung lediglich der Hersteller über umfangreiche Erkenntnisse hinsichtlich der Wirkungen des Wirkstoffs verfügt. Auf der anderen Seite kann die Zulassungsbehörde bereits aus Gründen der Praktikabilität keine eigenen Untersuchungen des neuen Wirkstoffs durchführen. Somit verlagert sich die gebotene Beurteilung der Unbedenklichkeit eines Wirkstoffs auf die Ebene der Beurteilung der verfügbaren Unterlagen und Berichte des Herstellers. Das Gesetz sieht dabei in § 22 AMG ausführliche Vorgaben hinsichtlich des Umfangs der vorzulegenden Unterlagen vor. Die Unterlagen bzw. die in ihnen dokumentierten Prüfungen müssen nach dem „gesicherten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ durchgeführt worden sein. Andernfalls ist die Zulassung gem. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AMG wegen unzureichender Prüfung zu versagen. Es handelt sich hierbei um einen Wissenschaftsverweis, der den gesicherten Stand der medizinischen Erkenntnisse zum Inhalt hat und insoweit einer Bestimmung dieses Standes der fachwissenschaftlichen Erkenntnisse bedarf.274 1. Nachweise und Nachweisbewertung im Zulassungsverfahren Die Anforderungen an den Nachweis der Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels, für das die Zulassung beantragt wird, richten sich auf europäischer Ebene nach Art. 8 Abs. 3 Richtlinie 2001/83/EG, der in § 22 AMG umgesetzt worden ist.275 Ergänzende Vorschriften finden sich in § 24 AMG, wonach einige der in § 22 AMG genannten Unterlagen von Sachverständigen bewertet werden müssen. Die gesetzlichen Anforderungen an die einzureichenden Unterlagen und Nachweise werden durch untergesetzliche Rechtsnormen und Leitlinien konkretisiert. Hierzu zählen neben den Vorgaben und Anforderungen des Anhangs I der Richtlinie 2001/83/EG die Vorschriften über die Form der Einreichung, die auf Grund der AMG-Befugnisverordnung in Verbindung mit § 80 AMG von der zuständigen Bundesoberbehörde festgesetzt werden, die pharmazeutischen Anforderungen an die Qualität von Arzneimitteln, die im deutschen oder europäischen Arzneibuch 273

S. dazu Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 186. Dazu Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 195 f. 275 Heßhaus, in: Spickhoff (Hr.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 22 AMG Rn. 1. 274

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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geführt werden, sowie die Leitlinien der EMA über Methodik der Arzneimittelprüfung und Einzelheiten zur qualitätsgesicherten Herstellung.276 a) Nachweise des pharmazeutischen Unternehmers Neben den formalen Angaben zum Arzneimittel, die etwa den Namen und die Anschrift des Antragstellers sowie des Arzneimittelherstellers, die Indikation, Darreichungsform und weitere Angaben umfassen, hat der Antragsteller insbesondere die Ergebnisse von analytischen Untersuchungen sowie der präklinischen und klinischen Prüfungen des Arzneimittels vorzulegen. Die präklinischen Prüfungen gliedern sich in die pharmakologische und toxikologische Prüfung. Auf der Grundlage der Ergebnisse der präklinischen Prüfphase dürfen erst klinische Studien am Menschen durchgeführt werden.277 Die Anforderungen an die analytische Prüfung des Arzneimittels ergeben sich im Wesentlichen aus dem Modul 3 des Anhangs I Richtlinie 2001/83/EG.278 Die präklinischen Prüfungen sind durch das Modul 4 des Anhangs I Richtlinie 2001/83/ EG sowie wissenschaftliche Leitlinien des CHMP der EMA standardisiert, die ICH-Guidelines umsetzen.279 Die klinischen Prüfungen wiederum richten sich in inhaltlicher Hinsicht nach den Vorgaben des Moduls 5 des Anhangs I Richtlinie 2001/83/EG. Die einzuhaltenden Anforderungen an die Aufklärung der Teilnehmer, die Gewährleistung der Probandensicherheit, die Qualifikation der Prüfer sowie die Genehmigung und Überwachung der Studiendurchführung ergeben sich jedoch aus der Richtlinie 2001/20/EG und den entsprechenden nationalen Umsetzungen, im deutschen Recht den §§ 40 ff. AMG in Verbindung mit der GCP-Verordnung.280 Auf die Planung und Durchführung klinischer Studien sind zudem weitere Leitlinien und Standards wie insbesondere die Deklaration von Helsinki anwendbar, wobei das genaue Verhältnis der unterschiedlichen ethischen und rechtlichen Vorschriften für klinische Studien in Einzelfällen schwierig zu bestimmen sein kann. Die Unterlagen zum Nachweis der Qualität des Arzneimittels sowie die Ergebnisse der präklinischen und klinischen Prüfungen müssen gem. § 24 Abs. 1 Satz 1 AMG in Sachverständigengutachten zusammengefasst und bewertet werden. Diese Vorschrift setzt Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 2 und Art. 12 Richtlinie 2001/83/EG um, 276

S. Winnands, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 22 Rn. 5 ff. Ziff. 5.2 lit. b Teil I Anhang I der Richtlinie 2001/83/EG; vgl. Franken, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 12 Rn. 2, 9. 278 Schraitle, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 118. 279 Schraitle, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 120. 280 Dieses Regelungsgefüge wird sich ab dem Geltungszeitpunkt der Vorschriften der neuen Verordnung (EU) Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln ändern, wobei dieser nach Art. 99 Unterabs. 2 Verordnung 536/2014 zu bestimmende Zeitpunkt bei Drucklegung noch unbekannt war. 277

190

4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

nach denen detaillierte Zusammenfassungen der pharmazeutischen, präklinischen und klinischen Ergebnisse als Bestandteil des Zulassungsantrags einzureichen sind. Die Vorschriften enthalten keine spezifischen Anforderungen an die Person des Sachverständigen. Nach Art. 12 Abs. 1 Richtlinie 2001/83/EG müssen die Sachverständigen über „die erforderlichen fachlichen oder beruflichen Qualifikationen“ verfügen, um die geforderten Gutachten erstellen zu können. Nach Ziff. 1.4 des Moduls 1 in Anhang I der Richtlinie 2001/83/EG müssen sich die Sachverständigen mit den „kritischen Fragen“ bezüglich der Qualität des Arzneimittels und der präklinischen und klinischen Studien befassen und alle für die Bewertung relevanten Daten aufzeigen. In § 24 Abs. 1 Satz 2 AMG werden die inhaltlichen Anforderungen an die Gutachten stärker präzisiert. Die Gliederung der Gutachten ergibt sich aus Ziff. 2.6 und 2.7 des Moduls 2 in Anhang I der Richtlinie 2001/83/EG.281 Sofern das Sachverständigengutachten unvollständig oder inhaltlich unrichtig ist, bestehen keine speziellen Sanktionen. Die Erstellung eines solchen Gutachtens verwirklicht keinen Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand nach §§ 95–97 AMG. Allerdings kommt bei Vorlage eines unvollständigen oder unrichtigen Gutachtens im Rahmen der Antragstellung bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Begehung eine Strafbarkeit des Antragstellers nach § 96 Nr. 6 AMG in Betracht, zu deren Begehung der Sachverständige Beihilfe leisten könnte.282 Im Falle einer vorsätzlichen Begehung zwecks Inverkehrbringen eines bedenklichen Arzneimittels kommt sogar eine Straftat nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG in Betracht, deren Versuch nach § 5 Abs. 2 AMG gleichfalls strafbar ist.283 Die entsprechende Arzneimittelzulassung kann nach § 30 AMG zurückgenommen oder widerrufen werden; ferner kann das Ruhen der Zulassung angeordnet werden.284 Der Bewertung des Zulassungsdossiers durch Sachverständige wird eine wichtige Funktion für den Entscheidungsfindungsprozess der Zulassungsbehörde zugeschrieben. Die Zulassungsbehörde sei auf die Materialaufbereitung zu Beginn des Zulassungsverfahrens angewiesen, um eine sachgemäße Prüfung des Dossiers vornehmen zu können.285 Angesichts des großen Datenumfangs im Zulassungsantrag, der nach § 22 Abs. 2 Satz 4 AMG auch abgebrochene oder unvollständige präklinische und klinische Prüfungen umfassen muss, ist die Syntheseleistung der Sachverständigen für die Beurteilung des Zulassungsantrags in der Tat von erheblicher Bedeutung.286 Vor dem Hintergrund der kurzen Fristen, in denen im Zulassungsverfahren nach § 27 Abs. 1 AMG sowie im Genehmigungsverfahren nach der Verordnung 726/2004 Entscheidungen getroffen werden müssen, ist die wissenschaftliche Aufbereitung und Bewertung der eingereichten Unterlagen eine 281

Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 24 Anm. 17. Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 24 Rn. 8. 283 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 24 Anm. 5. 284 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 24 Anm. 5. 285 Di Fabio, VerwArch 81 (1990), 193 (201); ebenso Schraitle, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 123. 286 Schraitle, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 123. 282

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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wichtige Entscheidungshilfe für die Zulassungsbehörde. Zugleich dient die Erstellung der Gutachten der Kontrolle des Zulassungsantrags durch den Antragsteller, der auf Lücken oder Defizite in dem Beleg der Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit aufmerksam gemacht werden kann.287 b) Wissensgenerierung durch die Zulassungsbehörde Die Zulassungsbehörde verfügt im Verfahren über die Erteilung der Arzneimittelzulassung über eigene Instrumente der Wissensgenerierung. Diese Instrumente knüpfen jedoch an die Zulassungsunterlagen des Antragstellers an, da eine eigenständige Prüfung des neuen Arzneimittels nicht möglich ist. Ausganspunkt ist hierfür § 25 Abs. 5 Satz 1 AMG, wonach die Zulassung auf Grund der Prüfung der eingereichten Unterlagen und auf der Grundlage der Sachverständigengutachten zu erteilen ist. Dadurch wird der Amtsermittlungsgrundsatz gem. § 24 Abs. 1 VwVfG für das Verwaltungsverfahren zur Erteilung einer Arzneimittelzulassung weitgehend ausgeschlossen.288 Die Folge hieraus ist, dass es detaillierter Regelungen über die Amtsermittlungsbefugnisse der Behörde bedarf. Die entsprechenden Handlungsoptionen der Zulassungsbehörde zur Gewinnung von Wissen über das Arzneimittel sind differenziert in § 25 Abs. 5 AMG dargestellt. Die Zulassungsbehörde darf gemäß der Ermächtigung in § 25 Abs. 5 Satz 2 AMG eigene wissenschaftliche Erkenntnisse verwerten, Sachverständige beiziehen oder Gutachten anfordern. Die Gutachten des Antragstellers können zudem durch Gegengutachten überprüft werden. Die Zulassungsentscheidung kann nach § 25 Abs. 5 Satz 5 AMG auf die Gegengutachten gestützt werden. Ferner kann die Zulassungsbehörde Inspektionen der Herstellungsstätten vornehmen, um die Arzneimittelqualität zu beurteilen. Nach § 25a Abs. 1 AMG kann die Zulassungsbehörde die eingereichten Unterlagen vorab von Sachverständigen auf Vollständigkeit überprüfen lassen. Dazu zählt auch die sachverständige Stellungnahme, ob das Arzneimittel ausreichend geprüft worden ist. Ist nämlich die Prüfung des Arzneimittels unzureichend gewesen, kann nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AMG ein Versagungsgrund vorliegen. Bis 2012 war die Vorprüfung in § 25a Abs. 1 AMG noch als Soll-Regelung ausgestaltet, doch angesichts des engen Zeitrahmens des Zulassungsverfahrens hat der Gesetzgeber diese Vorschrift in eine Kann-Regelung geändert, damit der Zulassungsantrag ohne Nachbesserungen des Antragstellers von der Zulassungsbehörde bearbeitet werden kann.289 Ob eine Vorprüfung durchgeführt wird, entscheidet demnach die Zulas-

287

Schraitle, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 124; Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 24 Anm. 1. 288 Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm. 22. 289 Regierungsentwurf zum Zweiten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, BT-Drs. 17/9341, S. 52.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

sungsbehörde selbst, wobei sie sich an der voraussichtlichen Komplexität des Verfahrens orientieren soll.290 Ein weiteres Instrument zur Generierung von zulassungsrelevantem Wissen besteht in der Beteiligung von Kommissionen. Derartige Kommissionen sind nach den Absätzen 6, 7 und 7a des § 25 AMG vorgesehen. Sie werden für verschreibungspflichtige Arzneimittel der Therapierichtungen Phytotherapie, Homöopathie und Anthroposophie, für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel in bestimmten Anwendungsgebieten sowie für Arzneimittel zur Anwendung bei Kindern und Jugendlichen gebildet. Die Kommissionen bestehen aus Mitgliedern, die vom Bundesministerium für Gesundheit auf drei Jahre berufen werden. Hierfür können die Kammern der Heilberufe sowie Fachgesellschaften und Spitzenverbände der betroffenen Gruppen Vorschläge unterbreiten. Die Beteiligung der Kommission für die Therapierichtungen Phytotherapie, Homöopathie und Anthroposophie ist in Zulassungsverfahren vorgeschrieben, wenn das entsprechende Produkt im Vollzulassungsverfahren beurteilt wird und der Verschreibungspflicht nach § 48 Abs. 2 Nr. 1 AMG unterliegt. Dies sind jedoch nur wenige Produkte, da die Mehrzahl der entsprechenden Arzneimittel unter die Registrierungsvorschriften nach §§ 39 ff. AMG fällt.291 Sofern die Kommission demnach zu beteiligen ist, muss sie zu den gesamten Antragsunterlagen einschließlich der zusammenfassenden Gutachten nach § 24 AMG gehört werden. Eine Abweichung vom Votum der Kommission ist zu begründen. Ferner ist die Kommission für Kinderarzneimittel nach § 25 Abs. 7a AMG zu beteiligen, wenn ein Arzneimittel auch für Kinder und Jugendliche zugelassen werden soll. Die übrigen Kommissionen für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel können im Verfahren beteiligt werden. Sofern über eine Verlängerung der Zulassung eines solchen Arzneimittels nach § 105 Abs. 3 Satz 1 AMG entschieden wird, muss die Zulassungsbehörde auch hier eine Abweichung vom Kommissionsvotum begründen. Die Arbeit der Kommissionen wird durch eine vom BfArM erlassene Geschäftsordnung geregelt.292 Die Kommissionen fungieren durch ihre interessenplurale Zusammensetzung und ihre formalisierte Beteiligung im Zulassungsverfahren als zusätzliche Wissensquelle neben den Antragsunterlagen und der eigenen Wissensbasis der Zulassungsbehörde. Sie können zusätzliches Hintergrundwissen für die Entscheidungsfindung vermitteln und dieses besondere fachgebietsbezogene Hintergrundwissen zudem zur Bewertung des Zulassungsantrags anwenden. Dadurch können spezifische Wissensdefizite, die bei der Zulassungsbehörde bestehen, kompensiert werden. 290

Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 25a Rn. 1. Ambrosius, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 240. 292 Geschäftsordnung der nach § 25 Abs. 6, Abs. 7 und Abs. 7a Satz 8 des Arzneimittelgesetzes zu hörenden Kommissionen am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vom 02.02.2009, abrufbar unter: http://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/ Zulassung/zulassungsarten/besTherap/amAnthropo/geschaeftordnung_Komm_CDE.pdf?__ blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 291

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

193

Eine weitere, wenn auch spezielle Wissensquelle steht nach § 25 Abs. 8 AMG dem PEI in einem Teil seines Zuständigkeitsbereichs zur Verfügung. Danach kann das PEI nämlich für von ihm zugelassene Produkte, die keine ATMP im Sinne des § 4 Abs. 9 AMG sind, die Zulassung entweder auf Grund der Prüfung der eingereichten Unterlagen oder auf Grund von eigenen Untersuchungen des Produkts oder der Beobachtung von Prüfungen des Herstellers zulassen. Dies bedeutet, dass das PEI eigenes Wissen über das Produkt generieren kann, das auf derselben Stufe wie das vom Hersteller generierte Wissen steht. Dieses Instrument stellt somit eine Ermächtigung zur Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen direkt an der Quelle des Wissens, nämlich dem Arzneimittel, dar. Diese Ermächtigungsgrundlage ist dementsprechend auf Produktgruppen beschränkt, bei denen eine solche Art der Wissensgenerierung möglich und auch erforderlich ist. Die in § 25 Abs. 8 Satz 1 AMG aufgeführten Produktgruppen wie Sera, Blutzubereitungen und Gewebezubereitungen weisen eine besondere Individualisierung bei gleichzeitiger Schwierigkeit einer standardisierten Herstellung auf.293 Daher ist allein die Vorlage von Unterlagen teilweise wenig aussagekräftig, um die Qualität und Unbedenklichkeit beurteilen zu können. Das PEI kann daher die entsprechenden Untersuchungen am Produkt selbst vornehmen oder die Prüfungen durch den Hersteller beobachten. 2. Europarechtliche Harmonisierung der Zulassungsunterlagen Der Inhalt der einzureichenden Zulassungsunterlagen ist, wie oben ausgeführt, in Art. 8 Abs. 3 Richtlinie 2001/83/EG und § 22 AMG, jeweils in Verbindung mit Anhang I der Richtlinie 2001/83/EG, geregelt. Anhang I der Richtlinie 2001/83/ EG enthält ein grundlegendes Modell für die Präsentation der einzureichenden Unterlagen im Zulassungsverfahren. Dieses Modell gliedert sich für den Regelfall des Zulassungsantrags in fünf Module. Modul 1 enthält dabei allgemeine Angaben zum Arzneimittel, für das eine Zulassung beantragt wird. Dabei sind auch bereits an dieser frühen Stelle im Antrag die Angaben hinsichtlich der Packungsbeilage zu machen, wie sie in § 22 Abs. 7 AMG auch für den Zulassungsantrag im deutschen Recht gefordert werden. Das Modul 2 des Zulassungsantrags nach dem Modell des Anhangs I bildet die Zusammenfassung der Prüfergebnisse für das Arzneimittel. Es sollen die Ergebnisse der Prüfung der pharmazeutischen Qualität, der präklinischen sowie klinischen Prüfungen zunächst als Übersicht und sodann in einer Zusammenfassung dargestellt werden. Die präklinischen Prüfungen sind dabei pharmakologische und toxikologische Untersuchungen einschließlich der Ergebnisse aus Tierversuchen, wie die Erläuterung zur Ziffer 2.4 im Anhang I beschreibt. Die klinischen Angaben umfassen dabei die Studien der Phasen I – III am Menschen. Die Untersuchungs 293 Vgl. Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm. 176 ff.; Rehmann, AMG, 4. Aufl. 2014, § 25 Rn. 23.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

und Studienergebnisse selbst werden in den Modulen 4 und 5 ausführlich als Berichte dargestellt, die als Sachverständigengutachten Bestandteil der Zulassungsunterlagen werden. Das Modul 3 enthält schließlich die ausführlichen Angaben zur chemischen und pharmazeutischen Prüfung und Analyse der biologischen oder chemischen Wirkstoffe des Arzneimittels. Für besondere Klassen von Arzneimitteln enthalten die Teile II – IV des Anhangs I zudem spezielle Vorschriften. Das europäische Zulassungsantragsformat ist die Umsetzung der transnationalen Harmonisierungsbemühungen bezüglich der Zulassungsanträge zwischen den Mitgliedsregionen der ICH: Das Common Technical Document, das die genannten Module bündelt, ist von der ICH entwickelt worden und wird über den Umsetzungsweg des Anhangs I der Richtlinie 2001/83/EG und die korrespondierenden Ausführungsbestimmungen der EMA in der EU verbindlich.294 Diese Harmonisierung betrifft nicht nur die Form und das Format der Antragsunterlagen, sondern insbesondere die inhaltlichen Anforderungen an die Nachweise und Unterlagen, die der Zulassungsentscheidung zugrunde gelegt werden. 3. Transnationalisierung der Anforderungen an Zulassungsunterlagen Der Aufbau des Zulassungsantrags nach dem Muster des Anhangs I entspricht dem Modell, das auf transnationaler Ebene im Rahmen des ICH für die Zuständigkeitsbereiche der EMA, der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA sowie des japanischen Gesundheitsministeriums vereinbart worden ist. Darüber hinaus harmonisiert der ICH jedoch auch die inhaltlichen Anforderungen an die Zulassungsunterlagen, insbesondere an die präklinischen und klinischen Prüfungen. a) Inhaltliche Gestaltung des Studiendesigns Der ICH hat in seiner mittlerweile über zwanzigjährigen Geschichte nicht nur die Formate zur Erstellung von Zulassungsanträgen vereinheitlicht, sondern darüber hinaus auch die Nachweisanforderungen für die materiellen Kriterien der Zulassungsentscheidung in Teilbereichen harmonisiert. Im Folgenden werden die Inhalte einiger insoweit bedeutender Guidelines des ICH in Auszügen dargestellt.295 Eine der ersten Guidelines, die die damalige ICH verabschiedet hat, betrifft die Anzahl an Probanden für eine klinische Studie und den Zeitraum, den die Pro 294 Zur Umsetzung von ICH-Guidelines durch das Common Technical Document in formaler und inhaltlicher Hinsicht s. EudraLex, Volume 2B Notice to Applicants: Presentation and format of the dossier Common Technical Document (CTD), Stand: Mai 2008, S. 3, 8. 295 S.a. den Überblick bei Franken, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 12 Rn. 84.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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banden mit dem experimentellen Wirkstoff behandelt werden sollten. Die Guide­ line E1 regelt die klinische Prüfung von Wirkstoffen, die zur längerfristigen Anwendung, das heißt für mehr als sechs Monate, bestimmt sind. In diesen Fällen besteht die Gefahr, dass sich unerwünschte Effekte des neuen Wirkstoffs erst nach einem längeren Zeitraum manifestieren oder lediglich in der Langzeitanwendung auftreten. Die Guideline adressiert die Ermittlung von Risiken in derartigen Langzeitanwendungen von Arzneimitteln und entwickelt ein gestuftes Studiendesign, in dem die Mehrzahl der Probanden nur für sechs Monate an der Studie teilnimmt, eine kleinere Probandengruppe dagegen für bis zu einem Jahr. Dadurch sollen, so die Begründung der Guideline, unerwünschte Arzneimittelwirkungen identifiziert und im Zeitverlauf beobachtet werden, um dadurch auf Patientengefahren schließen zu können. Gleichzeitig schlägt die Guideline Probandenzahlen für die unterschiedlichen Phasen vor, die insgesamt und je nach Praxis der Zulassungsbehörden 500 bis 1500 Probanden betragen können. Die ICH selbst geht dagegen von einem regelhaften Wert von insgesamt 1500 Studienteilnehmern aus, von denen 600 bis 800 nur für einen Sechsmonatszeitraum an der Studie teilnehmen sollen.296 Nach der Grundannahme der Guideline E1 ist es nicht Ziel der klinischen Erprobung, unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu identifizieren, die selten oder in noch geringerem Umfang auftreten.297 Gleichsam spiegelbildlich zur Guideline E1 behandelt die Guideline E10 die Wirksamkeitsseite in klinischen Studien. Die Guideline diskutiert zunächst grundlegende Anforderungen an das Studiendesign wie das Erfordernis einer Kontrollgruppe, der Randomisierung und der Verblindung sowie der Komparatorauswahl in der Kontrollgruppe. Der besondere Schwerpunkt der Guideline liegt auf der AssaySensitivität, d. h. auf der Eignung der klinischen Studie, wirksame und unwirksame Arzneimittel sicher zu identifizieren.298 Der „Goldstandard“ hierzu besteht grundsätzlich in der Placebo-Kontrolle,299 doch differenziert die Guideline in mehrerlei Hinsicht. Zunächst wird das Studiendesign betrachtet. Es können sowohl Nichtunterlegenheits- und Gleichwertigkeits- als auch Überlegenheitsstudien zweckmäßig sein. Im Falle einer Nichtunterlegenheits- oder Gleichwertigkeitsstudie ist jedoch ein Nachweis gegenüber Placebo nicht ausreichend. Die Kontrollbehandlung muss sich vielmehr ihrerseits als überlegen gegenüber einem Placebo erwiesen

296 ICH, Guideline E1 „The Extent of Population Exposure to Assess Clinical Safety for Drugs Intended for Long-term Treatment of Non-Life-Threating Conditions“ Step 4 Version, vom 27.10.1994. 297 ICH, Guideline E1 „The Extent of Population Exposure to Assess Clinical Safety for Drugs Intended for Long-term Treatment of Non-Life-Threating Conditions“ Step 4 Version, vom 27.10.1994, S. 1. 298 ICH, Guideline E10 „Choice of Control Group and Related Issues in Clinical Trials“ Step 4 Version vom 20.07.2000, S. 7. 299 ICH, Guideline E10 „Choice of Control Group and Related Issues in Clinical Trials“ Step 4 Version vom 20.07.2000, S. 18 f.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

haben. Dies muss sich aus historischen Vergleichsstudien ergeben.300 Die Hauptschwierigkeit bei der Beurteilung von Nichtunterlegenheits- und Gleichwertigkeitsstudien besteht in der Bemessung der akzeptablen statistischen Schwankungsbreite um das Ergebnis der Kontrollbehandlung, um von einer Nichtunterlegenheit oder Gleichwertigkeit sprechen zu können.301 Für Überlegenheitsstudien werden demgegenüber grundsätzlich placebokontrollierte Studien bevorzugt, wobei die ICH-Guideline auch in dieser Hinsicht differenziert. Da es aus ethischen Gründen teilweise nicht hinnehmbar sein kann, der Kontrollgruppe eine reine Placebo-Behandlung zukommen zu lassen, sollten die Gesundheitsfolgen betrachtet werden. Sind die Folgen der Placebobehandlung als nicht schwerwiegend einzustufen, was der Regelfall sei, könne der Kontrollgruppe die Gabe eines Placebos zugemutet werden, insbesondere da es sich bei dem zu prüfenden Präparat in den meisten Fällen um eine Add-on-Therapie handle.302 Im Falle von Überlegenheitsstudien bestehe das bevorzugte Studiendesign jedoch in einer dreiarmigen Studie, die neben dem Placebo-Arm auch einen Arm mit einer Standardtherapie umfasst.303 Die Guidelines E2A bis E2F betreffen die Klassifizierung und Meldung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen und Schäden, die Probanden erlitten haben, und vereinheitlichen die Terminologie sowie die Definitionen der Begrifflichkeiten, die dabei verwendet werden. Dadurch soll die Vergleichbarkeit der Meldungen zwischen den Regionen des ICH erhöht werden. Gleichzeitig wird das Wahrscheinlichkeitsniveau für die Bestimmung eines Zusammenhangs zwischen Prüfmedikamentengabe und Auftreten einer unerwünschten Reaktion definiert.304 In den Guidelines E2C bis E2F werden zudem spezielle Meldepflichten im Rahmen von Studien, die nach Markteinführung in einer der Regionen mit dem zugelassenen Arzneimittel durchgeführt werden, sowie für die Nachmarktbeobachtung aufgestellt und Kriterien für die Berichterstattung über Verdachtsfälle von unerwünschten Arzneimittelwirkungen definiert. Einen bedeutenden Problembereich bei der Gestaltung klinischer Studien adressieren die Guidelines E4 und E5. Sie behandeln den Zusammenhang zwischen der Dosierung des zu prüfenden Medikaments und der Bewertung der Wirksamkeit und der Risiken. In der Arzneimittelprüfung ist es von großer Bedeutung, den Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung des Präparats möglichst genau zu ermitteln, um das Nutzen-Risiko-Verhältnis bewerten zu können. Dabei sind auch unabsichtliche wie absichtliche Überdosierungen, Stoffwechselunterschiede bei 300

ICH, Guideline E10 „Choice of Control Group and Related Issues in Clinical Trials“ Step 4 Version vom 20.07.2000, S. 8. 301 ICH, Guideline E10 „Choice of Control Group and Related Issues in Clinical Trials“ Step 4 Version vom 20.07.2000, S. 9 f. 302 ICH, Guideline E10 „Choice of Control Group and Related Issues in Clinical Trials“ Step 4 Version vom 20.07.2000, S. 13 f. 303 ICH, Guideline E10 „Choice of Control Group and Related Issues in Clinical Trials“ Step 4 Version vom 20.07.2000, S. 15. 304 Dazu s. Ziff. II der Guideline E2A.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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Patienten und andere Einflussfaktoren zu berücksichtigen, die jedoch erst durch die klinischen Studien ermittelt werden müssen, um in die Zulassungsentscheidung einfließen zu können. Die Guideline E4 erörtert diese Zusammenhänge und diskutiert unterschiedliche Studiendesigns, die pharmazeutische Unternehmer in der klinischen Prüfung wählen können. Die Guideline E5 regelt dagegen das Problem der Vergleichbarkeit bestimmter Patientengruppen, um in anderen Zulassungsregionen der ICH keine erneuten klinischen Studien durchführen zu müssen. Beispielsweise existieren mehrere Klassen an Medikamenten, die über Enzyme abgebaut werden, deren Ausprägung nach geographischen Herkunftsregionen der Probanden variiert.305 Besonders ausgeprägt sind diese Effekte bei Arzneimitteln, die über ein Enzym der Enzymklasse Cytochrom P450 im Körper verstoffwechselt werden. Auf Grund des statistischen Zusammenhangs zwischen der geographischen Herkunft eines Probanden und seiner genetisch bedingten Fähigkeit, die Stoffwechselenzyme in einer bestimmten Menge zu bilden, können klinische Studien nicht ohne weiteres aus einer Studienregion in eine andere Region übertragen werden, ohne dass die Aussagekraft der klinischen Studie für die Versorgung der Patienten in der Zielregion litte. Dieser Effekt wird von der ICH-Guideline diskutiert und es werden Handlungsoptionen für die Zulassungsbehörden vorgeschlagen, die ergänzende Studien in der Zielregion, bestimmte Anforderungen an das Studiendesign oder die Durchführung von Vergleichbarkeits- oder sog. „Brückenstudien“ umfassen können. Dabei adressiert die Guideline auch das Problem, dass in einigen Fällen die Substanz, die der Kontrollgruppe verabreicht wird, nach Regionen variieren kann, z. B. weil in einer Region ein Alternativmedikament zugelassen ist, das in anderen Regionen nicht zur Verfügung steht. Somit enthalten die Guidelines E4 und E5 tiefgreifende Anforderungen an die inhaltliche Gestaltung von klinischen Studien für die Zulassungsprüfung. Der Guideline E5 verwandte Themen werden seit 2007 in den Guidelines E15 und E16 geregelt, die sich gleichfalls mit unterschiedlichen Patientenreaktionen auf ein Arzneimittel befassen. Sie behandeln Fragen der Pharmakogenetik, also des Umstandes, dass je nach genetischer Ausstattung des Patienten seine Reaktion auf ein Arzneimittel unterschiedlich ausfallen kann.306 Die Guideline E15 regelt dabei auch datenschutzrechtliche Aspekte der Forschung mit genetischem Material, da die Proben von Probanden zum einen hochsensible Informationen enthalten und zum anderen nach der Guideline E15 in einigen Fällen mit vollem Personenbezug über die Verwendung einer Schlüsselnummer wie der Sozialversicherungsnummer gespeichert werden können, um den Verlauf eines Probanden zu beobachten.307 Die Guideline E16 beschreibt, wie Biomarker, die für die Arzneimittelforschung 305 ICH, Guideline E5(R1) „Ethnic Factors in the Acceptability of Foreign Clinical Data“, Step 4 Version vom 05.02.1998 mit Änderungen vom 11.03.1998, Ziff. 3.1. 306 ICH, Guideline E15 „Definitions for Genomic Biomarkers, Pharmacogenomics, Pharmacogenetics, Genomic Data and Sample Coding Categories“, Step 4 Version vom 01.11.2007, Ziff. 2.2.1.1; vgl. a. Gassner, PharmR 2003, 40 ff. 307 S. ICH, Guideline E15 Ziff. 2.3.1.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

verwendet werden sollen, im Rahmen des CTD dargestellt werden können, sofern dies im Einzelfall erforderlich ist.308 Die Guidelines E7 und E12 betreffen weitere Einzelfragen der Gestaltung klinischen Studien. Die Guideline E7, die bereits 1993 beschlossen worden ist, adressiert die Besonderheiten älterer Probanden in der Durchführung klinischer Studien, da im Alter typischerweise auch Medikamente anders wirken als bei jüngeren Probanden. Die Guideline E12 behandelt dagegen nicht eine besondere Patientengruppe, sondern eine besondere Arzneimittelgruppe. Diese Guideline adressiert Fragen bei der Durchführung von klinischen Studien mit blutdrucksenkenden Mitteln. Die Guidelines E8 bis E11 behandeln allgemeinere Fragen der Studiengestaltung. Die Guideline E8 diskutiert unterschiedliche Studientypen und Grundfragen des Studiendesigns, während die Guideline E9 gewissermaßen als ein Leitfaden für die Studiengestaltung gelesen werden kann.309 Diese Guideline erörtert eine Vielzahl biostatistischer Einzelfragen, so zum Beispiel die richtige Auswahl der Probandengruppen, Parameter für die Messung der Wirkungen des Prüfarzneimittels, worunter auch die Frage der Endpunktdefinition fällt, sowie die Frage der Verwendung von Placebos in der Kontrollgruppe und die Methodik der Datenauswertung. Die Guideline E9 regelt dadurch sehr umfassend die Rahmenbedingung der Gestaltung einer Zulassungsstudie und lenkt die Entscheidungsfreiheit des pharmazeutischen Unternehmers, aber auch die Möglichkeiten der Zulassungsbehörden zur eigenen Beurteilung der Zulassungsstudien in enge Bahnen. b) Harmonisierung der Guten Klinischen Praxis Einen besonderen Stellenwert hat die Guideline E6, die die Gute Klinische Praxis bei der Durchführung von klinischen Studien am Menschen regelt. Während der Entwicklung eines neuen Medikaments führt der pharmazeutische Hersteller eine Reihe unterschiedlicher Versuche mit dem neuen Wirkstoff durch. Die klinischen Studien am Menschen, die vor der Zulassungsentscheidung erfolgen, werden traditionell in drei Phasen eingeteilt. Studien der Phase I betreffen die Sicherheit des neuen Wirkstoffs und werden an einer kleinen Zahl gesunder Probanden, die üblicherweise nicht zur Zielgruppe des Medikaments gehören, durchgeführt, nachdem zuvor im Labor die Toxikologie der neuen Substanz untersucht worden ist. In der Phase I steht die Frage im Vordergrund, ob das Medikament überhaupt für den Menschen geeignet ist. In der anschließenden Phase II geht es dem Entwickler gleichfalls um die Sicherheit des Wirkstoffs, allerdings mit der Zielrichtung auf die 308

ICH, Guideline E 16 „Biomarkers Related to Drug or Biotechnology Product Development: Context, Structure and Format of Qualification Submissions“, Step 4 Version vom 20.08.2010. 309 ICH, Guideline E9 „Statistical Principles for Clinical Trials“, Step 4 Version vom 05.02.1998.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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Dosisfindung und Verstoffwechselung der Substanz. Zudem sollen Phase II-Studien auch grundlegende Erkenntnisse über die Wirksamkeit des Wirkstoffs erbringen. Auch in dieser Phase werden zumeist wenige Probanden rekrutiert, allerdings mehr als in der Phase I, um Hinweise auf seltenere Wirkungen des Wirkstoffs zu erhalten. Typische Probandenzahlen bewegen sich in der Größenordnung von 100 bis 500 Teilnehmern.310 Erst in der Phase III wird der Wirkstoff schließlich an einer größeren Anzahl von Probanden erprobt, die an der zu therapierenden Erkrankung leiden, um die Wirksamkeit des Präparats zu belegen. An Studien der Phase III nehmen mehrere hundert bis wenige tausend Probanden teil. Abweichungen von dieser idealtypischen Einteilung sind jedoch immer möglich, beispielsweise bei seltenen Erkrankungen oder Arzneimitteln mit bekannterweise schweren Nebenwirkungen wie zum Beispiel Chemotherapeutika. Auf der Ebene des deutschen Rechts ist die Durchführung von klinischen Studien am Menschen in den §§ 40 bis 42b AMG normiert. § 40 Abs. 1 Satz 1 AMG verweist dazu auf die Anforderungen der Guten Klinischen Praxis (Good Clinical Practice – GCP) gemäß der Richtlinie 2001/20/EG. Diese Richtlinie ist im deutschen Recht durch die GCP-Verordnung umgesetzt worden. In der GCP-Verordnung werden grundlegende Voraussetzungen für klinische Versuche am Menschen definiert. Dazu zählen bestimmte Anforderungen an die Prüfpräparate, Dokumentations- und Mitteilungspflichten sowie die zentralen Vorschriften über die Genehmigungspflicht von klinischen Studien. Nach § 40 Abs. 1 Satz 2 AMG dürfen klinische Studien am Menschen nur durchgeführt werden, wenn eine Ethikkommission die Studie befürwortet hat und die Genehmigung der zuständigen Bundesoberbehörde vorliegt. Die weiteren Voraussetzungen für die Zustimmung der Ethikkommission und die Genehmigung durch die Bundesoberbehörde ergeben sich aus § 42 AMG sowie §§ 7 ff. GCP-V. Die Vorschrift des § 40 Abs. 1 Satz 1 AMG verpflichtet die an der klinischen Studie beteiligten Personen, die Anforderungen der Guten Klinischen Praxis einzuhalten, wie sie sich aus Art.  1 Abs.  3 Richtlinie 2001/20/EG ergeben. Diese Vorschrift wiederum verweist auf die Befugnis der Kommission zur inhaltlichen Bestimmung der GCP durch Leitlinien. Diese Leitlinien sind im Volume 10 der Sammlung EudraLex veröffentlicht worden. Es handelt sich dabei um die Umsetzung der Guideline ICH E6. Dass das Verhältnis der unterschiedlichen transnationalen Standards nicht konfliktfrei ist, hat sich anhand der Kommissionsrichtlinie 2005/28/EG gezeigt. Die Richtlinie 2005/28/EG gibt weitergehende Grundsätze vor, die bei der Interpretation und Anwendung der GCP beachtet werden sollen. Die Richtlinie bestimmt in ihrem Art. 3 Unterabs. 2, dass klinische Studien den Regeln der Deklaration von Helsinki in der Fassung von 1996 entsprechen müssen. Die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes enthält ethische Normen für die medizinische Forschung 310

Aigner et al., in: Fischer / Breitenbach, Die Pharmaindustrie, 2013, S. 53 (109).

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

am Menschen. Allerdings besteht ein Spannungsverhältnis zwischen den ethischen Normen der Helsinki-Deklaration und den biostatistischen Anforderungen an klinische Studien, die sich aus den einschlägigen Guidelines der ICH ergeben.311 Dies betrifft hauptsächlich den Kontrollarm in einem RCT. Die Helsinki-Deklaration untersagte nach einer verbreiteten Lesart in Ziffer II.3 der 1996 geltenden Fassung die Verwendung eines Placebo-Arms, wenn eine anerkannte Behandlungsmethode existiert.312 Diese ethische Position wurde im Kern bis heute beibehalten, jedoch mittlerweile bedeutend aufgeweicht. Die ICH-Guideline E6 erlaubt dagegen in weit größerem Umfang placebokontrollierte Studien. Da allerdings die Richtlinie 2005/28/EG ihrem Wortlaut nach eine statische Verweisung auf die Fassung der Helsinki-Deklaration von 1996 enthält, erscheint eine dynamische Lesart dieser Verweisung kaum vertretbar.313 Es ist fraglich, inwieweit die Bestimmungen der Kommissionsrichtlinie 2005/28/ EG anwendbar sind. Die Richtlinie der Kommission hat ihre Rechtsgrundlage in Art. 1 Abs. 3, Art. 13 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 5 Richtlinie 2001/20/EG, wonach die Kommission bestimmte Standards erlässt, die bei der Anwendung der GCP-Vorschriften zu beachten sind. Im deutschen Recht ist dagegen eine Umsetzung ohne Verweisungen auf europäische Leitlinien, Standards oder weitere Bestimmungen gewählt worden, ohne dass auf die Deklaration von Helsinki verwiesen werden würde. Auch die in § 42 Abs.  1 und Abs.  2 AMG genannten Gründe, weshalb die zuständige Ethikkommission oder Bundesoberbehörde die Genehmigung der klinischen Prüfung versagen dürfte, enthalten keinen Verweis auf die HelsinkiDeklaration. Mangels Umsetzung in deutsches Recht stellt sich folglich der Konflikt zwischen der Helsinki-Deklaration von 1996 und den ICH-Guidelines insoweit nicht.314 Anders wäre dies für Entscheidungen europäischer Agenturen wie der EMA zu beurteilen, da diese unmittelbar an Sekundärrecht gebunden sind, was die Richtlinien der Kommission einschließt. Tatsächlich haben, soweit erkennbar, sowohl die medizinische als auch die regulatorische Praxis die in Konflikt zur ICH-Guideline E6 stehenden Vorgaben aus Ziffer II.3 der Helsinki-Deklaration von 1996 bislang ignoriert. Eine entsprechende Umsetzung in den Leitlinien des CHMP ist ebenso wenig erfolgt. Durch die jüngsten Revisionen der Helsinki-Deklaration hat auch der Weltärztebund selbst den Konflikt in der Sache entschärft.

311 Dazu Lewis / Jonsson / Kreutz / Sampaio / Zwieten-Boot, Lancet 359 (2002), 1337 ff.; Krüger, MedR 2009, 33 (34). 312 EMEA / CPMP position statement on the use of placebo in clinical trials with regard to the revised Declaration of Helsinki, 28.06.2001, EMEA/17424/01, S. 1. 313 Krüger, MedR 2009, 33 (36). 314 Eine Rezeptionskette für das deutsche AMG schlägt Krüger, MedR 2009, 33 (35) vor, die er jedoch wegen Unbestimmtheit ablehnt. Ebenso Achtmann, Der Schutz des Probanden bei der klinischen Arzneimittelprüfung, 2013, S. 7. Für eine Verbindlichkeit der Helsinki-Deklaration in der Fassung von 1996 dagegen Mehlitz, Die rechtliche Zulässigkeit placebokontrollierter klinischer Prüfungen nach der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes, 2007, S. 80.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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c) Harmonisierung der Nachweise über die Qualität Im Zulassungsverfahren müssen pharmazeutische Unternehmer nachweisen, dass die Produktion des Wirkstoffs dem pharmazeutischen Standard entspricht. Dabei findet sich ein Geflecht an internationalen und transnationalen Standardbestimmungen für die Herstellung von pharmazeutischen Substanzen, an dem nicht nur der ICH beteiligt ist. Auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts wird der Antragsteller durch § 22 Abs. 2 Nr. 8 AMG verpflichtet, eine Bestätigung über ein Audit der Einhaltung der Guten Herstellungspraxis bei der Wirkstoffherstellung vorzulegen. Nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AMG ist die Nichteinhaltung der anerkannten pharmazeutischen Regeln zur Herstellung von Arzneimitteln oder der angemessenen Qualität zudem ein Zulassungsversagungsgrund. Der Begriff der Qualität eines Arzneimittels ist in § 4 Abs. 15 AMG legaldefiniert und stellt auf die Beschaffenheit des Arzneimittels als Folge der Ausgangsstoffe und des Herstellungsprozesses ab.315 Die Gute Herstellungspraxis (Good Manufacturing Practice – GMP) ist in der pharmazeutischen Wissenschaft und Praxis ein Begriff für bestimmte Standards der Arzneimittelherstellung. Im deutschen Recht wird der Begriff insbesondere über die AMWHV mit Inhalt gefüllt. Die AMWHV gilt gemäß ihrem § 1 Abs. 1 grundlegend für alle Betriebe und Einrichtungen, die Arzneimittel oder deren Wirkstoffe herstellen. Die Regelung des § 11 AMWHV verpflichtet diese Einrichtungen zur Durchführung von Selbstinspektionen, sog. Audits, die insbesondere die Einhaltung der Qualitätsstandards nach § 3 AMWHV sicherstellen sollen. Dazu gehören die Regeln der Guten Herstellungspraxis im Sinne des EG-GMP-Leitfadens im Sinne des § 2 Nr. 3 AMWHV. Dabei handelt es sich um eine im deutschen Recht im Bundesanzeiger verkündete, von der EU-Kommission erlassene Leitlinie. Diese Leitlinie beruht auf Artt. 46 lit. f, 47 RL 2001/83/EG und wird im sog. Komitologieverfahren erlassen.316 Speziell im Fall der GMP-Regelungen handelt es sich gem. der Verweisungskette aus Artt. 47 Unterabs. 1, 121 Abs. 2a RL 2001/83/EG zunächst um das Regelungsverfahren mit Kontrolle gem. Art. 5a des Beschlusses 1999/468/EG. Obgleich dieser Rechtsakt unter Geltung des alten EG-Vertrags erlassen worden ist und nicht mehr den Vorgaben des neuen Komitologieverfahrens gem. Artt. 290, 291 AEUV entspricht, bleiben die alten sekundärrechtlichen Grundlagen für bestimmte Komitologierechtsakte nach der Übergangsregelung in Art. 12 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 182/2011 vorläufig weiterhin in Kraft bleibt. Die Kommission hat, auf diese Ermächtigungsgrundlage aus der Richtlinie 2001/83/EG gestützt, den GMP-Leitfaden erlassen, der als Band 4 der Vorschriftensammlung EudraLex veröffentlicht worden ist.317 315

Dazu s.VG Köln, Urteil vom 30.08.2006 – 24 K 1803/06, Rn. 22 bei juris.de. Zum Komitologieverfahren allgemein Möllers / Achenbach, EuR 2011, 39 ff.; Mensching, EuZW 2000, 268 ff.; Haltern, Europarecht Bd. I, 3. Aufl. 2017, Rn. 519 ff., 895 ff. 317 Kügel, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, Einführung Rn. 40 f. 316

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Dieser Leitfaden dient zugleich der Umsetzung von ICH-Guidelines in euro­ päisches Recht. Im Bereich der Qualität von Arzneimitteln hat der ICH eine Reihe von Guidelines verabschiedet, die unterschiedliche Probleme bei der Arzneimittelherstellung adressieren. Dazu zählen beispielsweise Verunreinigungen der Wirkstoffsubstanzen, die chemische Stabilität des Wirkstoffs oder auch die Qualitätssicherungsanforderungen, denen der Herstellungsprozess unterliegen sollte.318 Das erste Kapitel aus Band 4 der Sammlung EudraLex nimmt mehrfach Bezug auf die ICH-Guideline Q10, deren Übernahme durch den GMP-Leitfaden bezweckt wird. Dazu ist die Guideline Q10 im Abschnitt 3 des GMP-Leitfadens zum Bestandteil des Leitfadens gemacht worden und soll gem. Ziffer 1.2 des Kapitels 1 des Leitfadens zur Ergänzung der dort getroffenen Regelungen herangezogen werden.319 Auch die ICH-Guideline Q9, die gleichfalls im Abschnitt 3 als Bestandteil des GMP-Leitfadens gelistet ist, soll zur Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des Leitfadens gemäß dessen Ziffer 1.13 herangezogen werden. Weitere qualitätsbezogene Vorgaben ergeben sich u. a. aus den Arzneibüchern gem. § 55 AMG. Dabei handelt es sich um Sammlungen von anerkannten pharmazeutischen Regeln für die Qualitätsprüfung von Arzneimitteln und den bei ihrer Herstellung verwendeten Stoffen. Zu den Arzneibüchern im Sinne dieser Vorschrift zählen das Deutsche Arzneibuch, das Europäische Arzneibuch und das Homöopathische Arzneibuch.320 Daneben ergeben sich weitere Vorgaben aus den Regeln der Pharmaceutical Inspection Convention, einem völkerrechtlichen Vertrag von 1970, der die gegenseitige Anerkennung von Zertifizierungen der Arzneimittelherstellung zum Inhalt hat und mittlerweile jedoch auf ein Koordinierungsverfahren zwischen Arznei­ mittelaufsichtsbehörden aus 30 Staaten umgestellt worden ist.321 Ein Zertifizierungsprogramm für die Qualität der Herstellung eines Arzneimittels besteht ebenfalls auf Ebene der WHO, das gem. § 72a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AMG für den Verkehr mit Nicht-EU-Staaten, die nicht durch andere Übereinkommen privilegiert sind, von Bedeutung ist.322 Die oben bezeichneten Anforderungen gelten für den sog. Vollantrag, also einen Zulassungsantrag, der auf den Ergebnissen der pharmakologischen und toxikologi-

318 Die einzelnen Q-Guidelines können auf der Website des ICH (www.ich.org) eingesehen werden. Einen Überblick bietet zudem Branch, Journal of Pharmaceutical and Biomedical Analysis 38 (2005), 798 (801). 319 EU-Kommission, EudraLex Volume 4 Chapter 1: Pharmaceutical Quality System. 320 OVG Münster PharmR 2009, 89 (90); VG Köln, Urteil vom 21.02.2006 – 7 K 850/03, Rn. 22 bei juris.de. 321 S. Gutmans / Vonzun, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 23 Rn. 42; Anhalt / Lützeler, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 8 Rn. 11 ff. 322 Anhalt / Lützeler, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 8 Rn. 8; Kügel, in: Kügel / Müller / Hofmann, Arzneimittelgesetz, 2. Aufl. 2016, § 72a Rn. 15 ff.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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schen Prüfungen sowie der klinischen Studien beruht.323 Daneben bestehen andere Zulassungsantragsarten, insbesondere für Generika. Ferner besteht die Möglichkeit einer sog. bibliographischen Zulassung für Arzneimittel mit bereits bekannten Wirkstoffen, die allgemein verwendet werden und für die es hinreichende Dokumente und wissenschaftliche Erkenntnisse außerhalb des Zulassungsverfahrens gibt.324 In diesem Fall bedarf es in Abweichung von den Vorschriften über einen Vollantrag der Vorlage von klinischen Studien sowie einiger weiterer Unterlagen nicht. 4. Verbindlichkeit der ICH-Guidelines im deutschen Zulassungsverfahren Die ICH-Guidelines erlangen ihre Verbindlichkeit durch die Umsetzungsmaßnahmen der Mitglieder des ICH, also seitens der Zulassungsbehörden.325 In der EU erfolgt die Umsetzung durch Akte der EU-Kommission. Im Wesentlichen existieren zwei Wege der Guideline-Umsetzung: Das CTD des ICH ist als Anhang zur Richtlinie 2001/83/EG eingeführt worden, und die GCP-Guideline des ICH wurde in wesentlichen Teilen durch die Richtlinie 2001/20/EG umgesetzt. Dieser Weg der Rezeption von ICH-Guidelines durch Richtlinienbestimmungen ist jedoch die Ausnahme. Im Regelfall erlässt die Europäische Arzneimittelagentur EMA eine Leitlinie, in der die Guidelines ihre Umsetzung erfahren. a) Umsetzung durch Richtlinienrecht Der Umsetzungsweg von ICH-Guidelines durch Richtlinienrecht der EU erfordert, dass die Mitgliedstaaten die Richtlinienbestimmungen ihrerseits umsetzen. In den oben genannten Beispielsfällen wirft dabei die GCP-Richtlinie 2001/20/EG insoweit keine größeren Probleme auf, denn ihre Inhalte wurden durch Änderungen des AMG und durch den Erlass einer Rechtsverordnung, der GCP-Verordnung, in das deutsche Recht übernommen. Weitaus zweifelhafter war jedoch die Umsetzung der Richtlinie 2001/83/EG insoweit, als das CTD im Anhang der Richtlinie lediglich durch die Arzneimittelprüfrichtlinien, eine allgemeine Verwaltungsvorschrift, in das Arzneimittelzulassungsrecht übernommen wurde.326 Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Anwendung der Arzneimittelprüfrichtlinien setzte die Module des CTD um, indem 323

Ambrosius, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 165. Ambrosius, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 6 Rn. 168. 325 Die nachfolgenden Ausführungen folgen im Wesentlichen Engelke, MedR 2010, 619 und Engelke, GesR 2011, 463. 326 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Anwendung der Arzneimittelprüfrichtlinien vom 05.03.1995, BAnz. Nr. 96a Beil S. 3, zuletzt geändert durch Art. 1 und 2 der 2. ÄndVwV vom 11.10.2004, BAnz. Nr. 197 S. 22037. 324

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

sie den Text des entsprechenden Richtlinienanhangs im Wortlaut übernahm. Da durch diese Rezeptionstechnik die Richtlinie 2001/83/EG umgesetzt werden sollte, war dieser im deutschen Recht beschrittene Weg nicht mit der Judikatur des EuGH vereinbar.327 Dieser europarechtlich bedenkliche Zustand ist durch die Umsetzung der Richtlinienbestimmungen im Wege der Arzneimittelprüfrichtlinien-Verordnung beseitigt worden. b) Umsetzung durch Leitlinien der EMA Die Guidelines der ICH, die nicht im Richtlinientext selbst oder im Komitologieverfahren umgesetzt werden, erlässt die EMA in Gestalt von eigenen Leitlinien. Diese Aufgabe hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP, früher CPMP) übernommen. Die zugehörige Vorgehensweise hat die EMA auch in ihrer Verfahrensordnung niedergelegt.328 Das CHMP hat sowohl im zentralen Zulassungsverfahren gem. Art. 5 Abs. 2 VO 726/2004 als auch in den Verfahren nach Artt. 27 ff. RL 2001/83/EG die Aufgabe, wissenschaftliche Stellungnahmen abzugeben. Zudem kann der Ausschuss nach Artt. 31 ff. RL 2001/83/EG in Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten über Voraussetzungen von Arzneimitteln für die dezentrale Zulassung oder das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung für eine Entscheidung angerufen werden.329 Zu den wissenschaftlichen Stellungnahmen, die das CHMP abgibt, gehören insbesondere Grundsätze für die Beurteilung der Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln.330 Dadurch sollen diese unbestimmten Rechtsbegriffe für alle Zulassungsverfahren einheitlich ausgelegt und im Einklang mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen angewendet werden.331 Das CHMP nimmt dabei für sich eine besonders hohe Fachkompetenz in Anspruch, die insbesondere mit der weiten Vernetzung des Ausschusses begründet wird.332 Die Stellungnahmen des CHMP werden überwiegend als nicht bindend angesehen.333 Im Sekundärrecht fehlt 327

S. dazu ausf. Kap. 4 A. II. EMA, Procedure for European Union guidelines and related documents within the pharmaceutical legislative framework (EMEA / P/24143/2004 Rev. 1 corr.), Nr. 4.1.3. 329 Dazu Enzmann / Schneider, Bundesgesundheitsblatt 51 (2008), 731 (734 ff.). 330 Enzmann / Schneider, Bundesgesundheitsblatt 51 (2008), 731 (732); Lorenz, Das gemeinschaftliche Arzneimittelzulassungsrecht, 2006, S. 135. 331 Cuvillier, The role of the European Medicines Evaluation Agency in the harmonisation of pharmaceutical regulation, in: Goldberg / Lonbay (Hr.), Pharmaceutical Medicine, Biotechnology and European Law, 2001, S. 137 (151). 332 Cuvillier, The role of the European Medicines Evaluation Agency in the harmonisation of pharmaceutical regulation, in: Goldberg / Lonbay (Hr.), Pharmaceutical Medicine, Biotechnology and European Law, 2001, S. 137 (146): Vernetzung zu etwa 2.300 Fachwissenschaftlern. 333 Dieners / Heil, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 1 Rn. 174; Krapohl, in: Gehring / Krapohl / Kerler / Stefanova (Hr.), Rationalität durch Verfahren in der Europäischen Union, 2005, S. 133 (141). 328

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage, um eine Kompetenz des CHMP zur Ausgestaltung unbestimmter Rechtsbegriffe anzunehmen; eine solche ließe sich allenfalls indirekt dem Abs. 4 der Einleitung zum Anhang I der RL 2001/83/EG entnehmen. In anderen Kontexten, insbesondere in Art 5 und Art. 56 VO 726/2004, wird dem CHMP explizit die Aufgabe zugewiesen, wissenschaftliche Stellungnahmen abzugeben. Fehlt eine solche ausdrückliche Zuweisung für andere Regelungszusammenhänge, ist im ersten Schritt daher nicht von einer solchen Kompetenz auszugehen. Somit handelt es sich in deutscher Terminologie um Empfehlungen bzw. Richtlinien im ursprünglichen Sinne. c) Verbindlichkeit der Leitlinien über einen Beurteilungsspielraum Die Frage, inwieweit Leitlinien der EMA für die Rechtsanwender bindend sind, stellt sich für unterschiedliche Leitlinien sowie für die verschiedenen Normadressaten. Die deutschen Bundesoberbehörden werden über § 1 AMPV unmittelbar durch den Verordnungsrang des Anhangs I der Richtlinie 2001/83/EG gebunden. In Abs. 1 der Einführung des Anhangs I werden die Leitlinien der Kommission, die als Band 2B in EudraLex publiziert werden, für die Zulassungsantragstellung als verbindlich erklärt. Über diese Verweisungskette gelten somit die entsprechenden Leitlinien der EMA im Range einer Rechtsverordnung verbindlich für das Zulassungsverfahren. Diese Anordnung bindet daher die deutschen Zulassungsbehörden. Anders ist dies bezüglich der Leitlinien der EMA, die nicht in diesem Verfahren erlassen und Bestandteil des Bandes 2B in EudraLex werden. Dies sind insbesondere die wissenschaftlichen Leitlinien der EMA, die in Band 3 von EudraLex aufgenommen werden. Insoweit fehlt es an der Anordnung einer Verbindlichkeit dieser Leitlinien für die deutschen Zulassungsbehörden. In Abs. 4 der Einführung des Anhangs I der Richtlinie 2001/83/EG heißt es diesbezüglich nur, dass diese wissenschaftlichen Leitlinien von den Zulassungsantragstellern berücksichtigt werden „sollten“. Eine verbindliche Anordnung der Beachtlichkeit ist hierin nicht zu sehen. Die EMA ihrerseits hat grundsätzlich die Möglichkeit, von ihren eigenen Leitlinien abzuweichen, allerdings bindet sie sich jedenfalls faktisch selbst durch ihre Leitlinienpraxis.334 Soweit die EMA die Bewertung eines Arzneimittels vornimmt, werden solche Bewertungen seitens des EuG als wissenschaftliche Expertengutachten angesehen werden, die weder die EU-Kommission noch ein Gericht inhaltlich prüfen können. Dadurch verlagert sich deren Kontrolle auf die Kriterien der Vollständigkeit, Neutralität und Widerspruchsfreiheit des Gutachtens.335 Würde 334

Dieners / Heil, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 1 Rn. 174; Krapohl, in: Gehring / Krapohl / Kerler / Stefanova (Hr.), Rationalität durch Verfahren in der Europäischen Union, 2005, S. 133 (142 f.). 335 EuG, Urteil vom 26.11.2002  – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00, T-84/00 T-85/00, T-132/00, T-137/00, Tz. 200 (Artegodan u. a. ./. Kommission); EuG, Urteil vom 07.03.2013 – Rs. T-539/10, Tz. 93 (Acino AG ./. Kommission).

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

das CHMP dabei von den eigenen Leitlinien abweichen, wäre eine explizite, vertiefte Begründung erforderlich. Die Frage nach der Bindungswirkung der EMA-Leitlinien, aber auch der EudraLex-Leitlinien ist in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bei der Anwendung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale der §§ 21 ff. AMG durch deutsche Behörden diskutiert worden. Eine solche Bindungswirkung käme nach der Rechtsprechung in Betracht, wenn der Zulassungsbehörde ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Ermittlung des „jeweiligen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ zustehen würde. Für die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums wird auf die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Fallgruppen zurückgegriffen: beamtenrechtliche Beurteilungen sowie Prüfungsentscheidungen, komplexe Entscheidungen mit wertenden und prognostischen Elementen, Risikobewertungen und Planungsentscheidungen sowie Entscheidungen wertender Art durch weisungsfreie, mit Sachverständigen oder Interessenvertretern besetzte Ausschüsse.336 In der Rechtsprechung war die Frage eines Beurteilungsspielraums der Verwaltung vor dem Hintergrund der ehemaligen Arzneimittelprüfrichtlinien im Range einer Verwaltungsvorschrift erörtert worden. Streitig war und ist, inwieweit die Auslegung der Tatbestandsmerkmale für die Erteilung bzw. Versagung der Arzneimittelzulassung ein planerisches Konzept erfordert. Ob komplexe Sicherheitsentscheidungen diese Anforderungen erfüllen, wird für die Tatbestandsmerkmale in § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 und 5 AMG kontrovers diskutiert.337 Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung vertritt in dieser Hinsicht eine eindeutige Auffassung, indem sie einen Beurteilungsspielraum ablehnt. Der Stand der Technik in den Referenzgebieten Atomrecht und Immissionsschutzrecht erfordere regelmäßig eine Prognose- und Bewertungsentscheidung im Komplexzusammenhang von technischer Leistungsfähigkeit bestimmter Maßnahmen und deren Folgen für unmittelbar Betroffene und Dritte. Davon unterscheide sich der im AMG für die Zulassung von Arzneimitteln maßgebliche Begriffe des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse jedoch kategorial: Die gesetzlichen Tatbestände sehen insoweit kein planerisches Element und keine Vorsorge vor, sondern verpflichten zur Feststellung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse.338 Es sei keine Wertung oder Abwägung erforderlich, um diesen Stand festzustellen, sondern die Behörde müsse ermitteln, welche medizinisch-fachlichen Erkenntnisse in Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung in der Fachwissenschaft als objektiv 336

S. o. Kap. 2 B. V. 3. b) bb). Beurteilungsspielraum verneinend: OVG Nordrhein-Westfalen PharmR 2011, 55 (59); OVG Berlin, Urteil vom 25.11.1999 – 5 B 11.98, Rn. 27 bei juris.de; VG Köln, Urteil vom 20.05.2014  – 7  K 2128/12, Rn.  95 bei juris.de; Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 25 Anm. 19. Beurteilungsspielraum bejahend dagegen Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 287 f. 338 OVG Berlin, Urteil vom 25.11.1999 – 5 B 11.98, Rn. 27 bei juris.de; OVG Nordrhein-Westfalen PharmR 2011, 55 (59). 337

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

207

richtig angesehen werden.339 Es geht der Rechtsprechung zufolge um die Ermittlung eines objektiven Umstandes, der nach der gesetzlichen Konzeption keinen subjektiven Beurteilungen zugänglich sein soll.340 Folglich wird eine Bindungswirkung der damaligen Arzneimittelprüfrichtlinien, aber auch der Leitlinien der EMA über den Weg eines Beurteilungsspielraums in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung abgelehnt.341 An dieser Auffassung der Rechtsprechung ist in einem ersten Schritt zunächst zutreffend, dass die Figur des Beurteilungsspielraums nicht geeignet erscheint, um die Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs des „jeweils gesicherten Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ zu erfassen. Ein Beurteilungsspielraum kommt auf der Ebene der Konkretisierung gesetzlicher Tatbestandsmerkmale für eine Verwaltungsentscheidung in Betracht. Die Feststellung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse fällt in keine der anerkannten Fallgruppen und ist auch nicht als eine zusätzliche Fallkonstellation anzuerkennen. Der Hauptgrund hierfür liegt in dem Umstand, dass die Leitlinien der EMA und des ICH nicht über den rechtlichen Bedeutungsgehalt der Tatbestandsmerkmale der Zulassungsentscheidung entscheiden, sondern außerrechtlich verortet sind und determinieren, welche Informationen aus dem Medizinsystem rechtlich als Bestandteil des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse zu behandeln sind. Die Leitlinien bilden somit das Programm, nach dem im Einzelfall durch die Zulassungsbehörde medizinische Informationen selektiert und herangezogen oder als unbeachtlich verworfen werden. Dieses „Wissen zweiter Ordnung“, das in den Leitlinien zum Ausdruck kommt und die Tatsachengrundlage für die Beurteilung des Zulassungsantrags erzeugt, entspricht mit Blick auf die rechtliche Einordnung des Verwaltungshandelns dem allgemein geteilten Wissen, das als Hintergrundwissen für die sachgerechte Verwaltungsentscheidung erforderlich ist. Dieses Hintergrundwissen ist jedoch nicht als allein von der Behörde erkennbar zu klassifizieren, sodass ein Beurteilungsspielraum nicht gerechtfertigt wäre. Ebenso wenig ist dieses Hintergrundwissen Teil eines besonderen planerischen Auftrags an die Behörde. Vor diesem Hintergrund bestünde die Möglichkeit, unter dem Gesichtspunkt der Funktionsgrenzen der Judikative einen Beurteilungsspielraum bei der Feststellung 339

OVG Berlin, Urteil vom 25.11.1999 – 5 B 11.98, Rn. 27 bei juris.de. Außer Betracht bleibt insofern freilich das Problem, dass scheinbar objektive fachwissenschaftliche Erkenntnisse häufig Werturteile in ihnen kaschieren, die bei bloßer Rezeption durch die Zulassungsbehörde nicht entdeckt oder korrigiert werden können; s. dazu Kelly / Heath / Howick / Greenhalgh, BMC Medical Ethics 16 (2015), 69, S. 1 ff. 341 Hinsichtlich der Arzneimittelprüfrichtlinien: OVG Münster PharmR 2011, 55 (59); OVG Münster PharmR 2010, 75 (78); OVG Münster PharmR 2009, 297 (299); OVG Berlin, Beschluss vom 04.04.2001 – 5 N 13.00, Rn. 4 bei juris.de; OVG Berlin, Urteil vom 25.11.1999 – 5 B 11.98, Rn. 28 bei juris.de. Hinsichtlich der EMA-Leitlinien: BVerwG, Urteil vom 09.04.2014 – 3 C 10/13, Rn. 12 bei juris.de; OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.05.2013 – 13 LA 160/12, Rn. 12 bei juris.de; OVG Münster, Urteil vom 05.07.2012 – 13 A 1637/10, Rn. 58 bei juris.de; OVG Münster PharmR 2011, 55 (59); OVG Münster PharmR 2010, 75 (78); OVG Münster PharmR 2009, 297 (299). 340

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse anzuerkennen und insoweit die Anwendung der EMA-Leitlinien einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen. Es ist allerdings typisch für das Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative, dass die Exekutive hohen eigenen Sachverstand versammelt und in umfangreichen Verfahren fachlich begründete Entscheidungen trifft, die von den Gerichten vollumfänglich überprüft werden.342 Die gerichtliche Kontrolle wird durch die Dokumentation und Begründung der Verwaltungsentscheidung sowie die Beiziehung von Sachverständigen ermöglicht. Dieser Weg ist auch im Falle der Ermittlung des jeweils gesicherten Standes der medizinischen Erkenntnisse möglich und schließt nicht die durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierte gerichtliche Kontrolle der Exekutive aus.343 Die Zulassungsbehörde hat nämlich strukturell dasselbe Vorgehen zu beachten wie das sie kontrollierende Gericht. Solange nämlich keine qualifizierenden Verfahrensschritte hinzukommen wie etwa die Beteiligung von sachverständigen Expertengremien, wie es einer Fallgruppe des Beurteilungsspielraums entspricht, kann das Gericht die Ermittlung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse nachvollziehen und ebenso prüfen wie die Behörde selbst. Ein solches Verfahren zu Ermittlung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist jedoch nicht vorgesehen; zwar werden die Leitlinien des CHMP in einem umfangreichen und sachverständig ausgestatteten Gremienberatungsprozess erstellt, doch beruht die Heranziehung der Leitlinien für die eigene Entscheidungspraxis der Zulassungsbehörde nicht auf einem solchen Prozess. Folglich ist kein Beurteilungsspielraum anzuerkennen. d) Leitlinien als antizipiertes Sachverständigengutachten Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hat den Leitlinien der EMA auf einem anderen dogmatischen Weg faktische Verbindlichkeit zugesprochen. Sie werden als antizipierte Sachverständigengutachten angesehen, die über allgemeine Tatsachen oder Verhältnisse Auskunft geben und der Normanwendung zugrunde liegen.344 Für die Beachtlichkeit von antizipierten Sachverständigengutachten bedarf es keines Beurteilungsspielraums, denn es handelt sich um eine Darstellung von rechtssystemexternem Wissen durch Experten. Die Beweiswirkung als antizipiertes Sachverständigengutachten unterliegt nur einer eingeschränkten gerichtlichen Nachprüfbarkeit. Im Verwaltungsgerichts­ verfahren werden antizipierte Sachverständigengutachten daraufhin überprüft, ob 342

Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 206. Fuhrmann, Sicherheitsentscheidungen im Arzneimittelrecht, 2005, S. 207. 344 Dazu OVG Berlin, Urteil vom 25.11.1999 – 5 B 11.98, Rn. 28 bei juris.de und bereits die Begründung zum § 26 AMG 1976, BT-Drs. 7/3060 S. 50 zu § 24; OVG Nordrhein-Westfalen PharmR 2009, 297 (299) m. w. N.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. vom 22.06.2009 – 13 A 3604/07, Rn. 13 bei juris.de; Kloesel / Cyran, AMG, 132. EL 2017, § 26 Anm. 13; Anker, in: Deutsch / Lippert, AMG, 3. Aufl. 2010, § 26 Rn. 3. 343

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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sie mit dem materiellen Recht in Einklang stehen, ob die verwendete wissenschaftliche Methodik vertretbar ist und der aktuelle Kenntnisstand Berücksichtigung gefunden hat. Ferner darf kein atypischer Sonderfall vorliegen, der von dem antizipierten Sachverständigengutachten nicht umfasst ist.345 Dieser an gängigen Sachverständigengutachten ausgerichtete Prüfungsmaßstab der antizipierten Sachverständigengutachten vermag jedoch den Umstand nicht präzise zu erfassen, dass die Bildung der Leitlinien durch die EMA und den ICH nicht schlicht den aktuellen Sachstand zur Methodik von klinischen Studien und der Arzneimittelbewertung erfasst und wiedergibt. Vielmehr findet in dem ICH ein komplexer Verhandlungsprozess zwischen Vertretern von Zulassungsbehörden und Repräsentanten der pharmazeutischen Unternehmen statt, der sich zudem über mehrere Verfahrensschritte erstreckt und unterschiedliche Interessen zu erfassen versucht. Wie sich am Beispiel des Verhältnisses von ICH-Leitlinien zur Deklaration von Helsinki gezeigt hat, geben die ICH-Leitlinien nicht zwangsläufig einen allgemein anerkannten Wissens- oder Erkenntnisstand wieder, widersprechen jedoch auch nicht dem allgemein anerkannten Stand der Erkenntnisse. Vielmehr gibt es in weiten Bereichen der Methodik der evidenzbasierten Medizin keinen allgemein anerkannten Erkenntnisstand, sondern es wird ein Konsens durch die Repräsentanten unterschiedlicher Akteure in den maßgeblichen Gremien erst erzeugt. Diese Konsensusdokumente können in der Folge weitreichende Anerkennung, Ablehnung oder Korrekturen erfahren. Ähnliches geschieht mit anderen Standards wie den GRADE-Leitlinien und weiteren Instrumenten zur Bewertung klinischer Studien.346 Angesichts der Dynamik und der Vielfältigkeit der Stimmen in der Diskussion um die evidenzbasierte Medizin kommt solchen Standardisierungsprozessen zugleich eine wichtige Rolle für die Handhabbarkeit der medizinischen Methodik zu. Sofern ein Gremium nämlich interessenplural besetzt ist, eine hohe wissenschaftliche Fachkunde versammelt und durch seine Verfahrensregeln sowie gelebte Entscheidungsprozeduren gewährleistet, dass bis auf unerhebliche Mindermeinungen alle Positionen der fachwissenschaftlichen Diskussion einbezogen und in angemessener Weise gewürdigt werden, besteht die größtmögliche Aussicht auf ein Ergebnis, das dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse im Rechtssinne entspricht. Diese Kriterien sind aus der verwaltungsrechtlichen Dogmatik der administrativen Entscheidungsgremien bekannt.347 In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird den Beschlüssen solcher Gremien eine gesteigerte Verbindlichkeit zugesprochen, wenn sie durch ihre Zusammensetzung und ihre internen Verfahren eine besondere Gewähr dafür bieten, dass subjektive Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Positionen in einem ge­ eigneten Prozess zu einem Ausgleich gebracht werden. Ist dies der Fall, so sind die 345

Zu den Kriterien s. o. Kap. 2 B. IV. 3. Dazu s. o. Kap. 3 C. II. 347 S. o. Kap. 2 B. VI. 2. 346

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Beschlüsse wie antizipierte Sachverständigengutachten zu behandeln und können nur eingeschränkt gerichtlich überprüft werden. Um dies festzustellen, bedarf es einer Beurteilung der Zusammensetzung und der Prozeduren dieses Beschlussgremiums.348 Dadurch verlagert sich die gerichtliche Kontrolle auf die Verfahren und Prozeduren des jeweiligen Gremiums und begibt sich somit auf die Ebene einer „Beobachtung zweiter Ordnung“: nicht die materiellen Inhalte der Leitlinien werden überprüft, sondern deren Entstehungsprozess. Dieses Prüfprogramm entspricht zudem den spezifischen Kompetenzen der Judikative, denn die plurale Zusammensetzung und die Beachtung von Verfahrensvorschriften und Diskursregeln sind für Gerichte erkennbar und vollumfänglich überprüfbar. Demgegenüber wird die komplexe Beurteilung des jeweiligen Standes der medizinischen Erkenntnisse, der seinerseits stets im Fluss ist, an die Fachwissenschaft selbst bzw. an die Kopplungsinstitution Leitliniengremium – sei es das CHMP oder den ICH – zurückgegeben. Daraus resultiert eine zweckmäßige Allokation der spezifischen Aufgaben zur Feststellung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse innerhalb des Rechtssystems. 5. Rezeption transnationaler Standards zur Wissensgenerierung Zusammenfassend zeigt sich, dass die materiellen Kriterien der Arzneimittelzulassung in erheblichem Umfang durch transnational gebildete Standards näher konkretisiert werden. Diese Standards werden überwiegend von dem ICH gesetzt, doch kommen auch andere Standardsetzer wie das EDQM in Betracht. Die rechtliche Rezeption wird von den Verwaltungsgerichten über das Instrument des antizipierten Sachverständigengutachtens geleistet. Diese dogmatische Figur bringt trotz aller Kritik, die an dem Kunstgriff der Schaffung einer solchen Figur angebracht ist, den Vorzug mit sich, dass eine mittlere Ebene zwischen Tatsachenbestimmung und Rechtsnormanwendung geschaffen wird, die einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle überwiegend unter prozeduralen Gesichtspunkten zugänglich ist. Diese Konstruktion reflektiert die Besonderheit der transnationalen Standardsetzung, dass es sich nicht um rein fachwissenschaftliche Tatsachenfeststellung handelt, sondern um einen wertenden und kontingenten Akt, der aus der Vielfalt der möglichen Methodenfestlegungen eine Variante auswählt. Dies entspricht, wie gesehen, strukturell bekannten Wertungsmustern in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, insbesondere aus dem Bereich der administrativen Entscheidungsgremien. Somit bietet es sich an, die Kontrollmaßstäbe dieser beiden Figuren zu kombinieren, um die besondere Vorgehensweise der Methodenstandardsetzer im transnationalen Raum zu erfassen und die Verwendung dieser Standards einer gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen. Eine solche Kontrolle ist möglich, da anders als bei der Anwendung der methodischen Standards auf den Einzelfall die 348

S. o. Kap. 2 B. VI. 2.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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Überprüfung der Auswahl und Formulierung der methodischen Standards nicht an den Funktionsgrenzen der Rechtsprechung scheitert, sofern der Prüfungsschwerpunkt auf der Aktualität der Standards, der Vereinbarkeit mit materiellem Recht und der Wahrung eines transparenten und partizipativen Verfahrens liegt. Ohne die Einhaltung dieser Vorgaben besteht kein hinreichender Anhaltspunkt, um den methodischen Standards einen gesteigerten Stellenwert zuzubilligen. Vielmehr entsprechen sie, wenn die genannten Kriterien nicht erfüllt werden, nicht den Anforderungen an anzuerkennendes „Wissen zweiter Ordnung“ zur Determinierung der Einzelfallentscheidungen.

III. Limitierungen des Wissens über Arzneimittel zum Zeitpunkt der Zulassung Das Wissen über den Nutzen eines Arzneimittels ist zum Zeitpunkt der Zulassung stets unsicher. Im Regelfall bilden die präklinischen und klinischen Studien des pharmazeutischen Unternehmers die einzig verfügbare, spezifische Wissensquelle für die Zulassungsbehörde. Die Aussagekraft einer kontrollierten, randomisierten klinischen Studie hängt jedoch maßgeblich von Einzelheiten des Studiendesigns ab. Da es sich bei dem Nutzen wie bei dem Risiko, die für die Unbedenklichkeitsentscheidung in ein Verhältnis gesetzt werden, um Wahrscheinlichkeitsaussagen handelt, sind die Anforderungen maßgeblich, die an die Nachweise gestellt werden. Aus eben diesem Anforderungsniveau an klinische Studien für die Zulassungsentscheidung resultiert letztlich das oben beschriebene regulatorische Dilemma. Die Zulassungsbehörden haben in unterschiedlichem Maße Antworten auf dieses Entscheidungsdilemma entwickelt, die sich in den oben dargestellten methodischen und inhaltlichen Anforderungen an die Wissensquellen niedergeschlagen haben, insbesondere in den Leitlinien des ICH und des CHMP. Diese Anforderungen sind jedoch in dem Sinne kontingent, dass sie wissenschaftlich nicht zwingend vorgegeben sind, sondern auch gänzlich anders getroffen werden könnten. Die Leitlinien dienen vielmehr dem Ausgleich der widerstreitenden Interessen im Vorfeld einer Arzneimittelzulassung. Vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses am Umgang mit den Wissensquellen über den Arzneimittelnutzen werden daher im Folgenden diese Wertentscheidungen in der Arzneimittelzulassung bezüglich der wichtigsten Parameter des Nutzenbegriffs mit den korrespondierenden Elementen der medizinischen Nutzenbewertung, wie sie im 3. Kapitel entwickelt worden ist, verglichen. Aus biometrischer Sicht konnten dabei vor allem folgende Problemkreise identifiziert werden: die Auswahlkriterien für Probanden, die Endpunktauswahl sowie die Wahl des Komparators im anderen Studienarm.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

1. Auswahl des Komparators Bei der Gestaltung von klinischen Studien besteht der grundlegende Zielkonflikt, ob die interne oder die externe Validität der Studie maximiert werden soll. Bezweckt die klinische Studie einen möglichst eindeutigen Nachweis der Überlegenheit oder – je nach Fallgestaltung – der Nichtunterlegenheit der Intervention gegenüber einer Kontrollbehandlung, so ist es notwendig, möglichst die bereits beschriebenen Anforderungen an die strukturelle Gleichheit der Studienarmpopulationen einzuhalten.349 Daraus resultiert jedoch regelmäßig eine künstliche Homogenisierung der Probanden durch enge Ein- und Ausschlusskriterien, um die Anzahl der variablen Eigenschaften, in denen sich die einzelnen Probanden unterscheiden und die Einfluss auf das Studienergebnis nehmen können, möglichst gering zu halten. Typischerweise werden Altersgrenzen gesetzt sowie Frauen im gebärfähigen Alter und Teilnehmer mit weiteren Begleiterkrankungen ausgeschlossen. Dies hat zur Folge, dass die Studienergebnisse weniger repräsentativ für die Patienten im klinischen Alltag nach der Zulassungserteilung sind. Eine Erhöhung der externen Validität, also der Aussagekraft über die Wirkungen des Arzneimittels unter Alltagsbedingungen in einer für die Alltagsbehandlung repräsentativen Probandengruppe, reduziert bei gleichbleibender Probandenzahl regelmäßig die statistische Aussagefähigkeit der Studie hinsichtlich der Unterschiede zwischen den beiden Studienarmen und erfordert daher eine größere Probandenzahl als im Falle von strukturgleichen Studienarmen, um denselben Effekt nachzuweisen, da mehr variable Faktoren statistisch ausgeglichen werden müssen.350 Dieser Zielkonflikt bezüglich des Studiendesigns wird auch im Arzneimittelzulassungsrecht reflektiert. Dabei ist auf einer ersten Ebene festzustellen, dass sowohl im AMG als auch im europäische Zulassungsrecht spezielle Vorschriften zu dieser Problematik fehlen. Aus dem Schutzzweck des AMG lässt sich jedoch entnehmen, dass Gesundheitsgefahren für die Anwender der Arzneimittel verhütet werden sollen, sodass eine Perspektive unter Alltagsbedingungen geboten erscheint. Diese Perspektive provoziert jedoch den oben genannten Zielkonflikt zwischen möglichst hoher Arzneimittelsicherheit, der Realisierbarkeit von klinischen Studien und einem raschen Marktzugang. Die arzneimittelrechtliche Rechtsprechung verlangt im Regelfall klinische Studien, die jedenfalls einen Placebo-Arm enthalten.351 Dies wird in der Rechtsprechung für erforderlich gehalten, um den Einfluss von Spontanheilungen und den Placeboeffekt selbst auszuschließen.352 Dementsprechend favorisiert das Zulassungsrecht deutlich die Placebokontrolle. Eine statistische Auswertung der Neuzulassungen der EMA im Zeitraum von 1999 bis 2005 hat ergeben, dass für lediglich 58 von insgesamt 122 neuen Wirkstoffen 349

S. o. Kap. 3 B. III. 3. Dazu im Einzelnen s. o. Kap. 3 B. III. 3. 351 VG Köln PharmR 2013, 504 (507 f,); Fuhrmann / Therani, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 10 Rn. 169b. 352 VG Köln PharmR 2013, 504 (506). 350

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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klinische Studien vorlagen, die den neuen Wirkstoff im direkten Vergleich gegen ein bereits eingeführtes Arzneimittel getestet haben.353 Diese empirisch gefundene Tendenz harmoniert mit der Schwerpunktsetzung in den Leitlinien der EMA und des ICH. Die ICH-Guideline E10 hebt besonders deutlich die Vorzüge einer Placebo-Kontrolle hervor. Diese bestehen insbesondere darin, dass durch den Placebo-Vergleich die Wirksamkeit des Arzneimittels unmittelbar belegt werden könne, also die gesonderte Bewertung der Kontrolltherapie nicht erforderlich sei. Ferner könne die „absolute Wirksamkeit“ gemessen werden, d. h. der gesamte arzneimittelbezogene Behandlungseffekt. Zudem könne die Probandenzahl geringer ausfallen als in aktiv kontrollierten Studien.354 Die Guideline diskutiert auch ethische Bedenken und die Frage der externen Validität. Allerdings werden die Zweifel an der externen Validität als rein theoretisch dargestellt, da es an einem Beleg fehle, dass die Placebokontrolle tatsächlich zu Interpretationsschwierigkeiten der Ergebnisse mit Blick auf den Behandlungsalltag führe.355 Gleichzeitig zieht sich die Forderung nach nicht zu großen klinischen Studien durch die Guidelines der ICH. Besonders plastisch wird dies in der Guideline E1, die explizit auf die Untersuchung auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen, die selten und somit im Umfang von bis zu 1:1000 auftreten, verzichtet. Dadurch sind nach der sog. „Dreier-Regel“ klinische Studien mit Probandenanzahlen unter 3000 möglich. In der breiten Anwendung eines Arzneimittels können jedoch auch seltene Wirkungen von erheblicher Bedeutung sein, beispielsweise bei häufigen chronischen Erkrankungen. Diese Wertentscheidungen tragen zu einer Reduzierung der externen Validität bei, da sie durch Stopp-Regeln die für die externe Validität bedeutsamen Fragestellungen nicht vertiefen. Der CHMP hat zur Umsetzung der ICH-Guidelines verstärkt indikationsspezifische Leitlinien erlassen, die unterschiedlich mit der Frage der externen Validität umgehen. Eine dieser Leitlinien zu chronischen Konstipationen und ähnlichen Darmerkrankungen verlangt als regelhaften Komparator nur Placebo, empfiehlt jedoch zugleich eine Nichtunterlegenheitsstudie gegenüber einem etablierten aktiven Komparator.356 Demgegenüber soll in der Indikationsgruppe der Blutdrucksenker zweiphasig vorgegangen werden: Zunächst sollen neue Arzneimittel in exploratorischen Studien gegen Placebo getestet werden, bevor in den eigentlichen konfirmatorischen Zulassungsstudien gegen einen aktiven Komparator getestet wird.357 353

van Luijn / Gribnau / Leufkens, Eur J Clin Pharmacol 66 (2010), 445 (446). ICH, Guideline E10 „Choice of Control Group and Related Issues in Clinical Trials“ Step 4 Version vom 20.07.2000, S. 18. 355 ICH, Guideline E10 „Choice of Control Group and Related Issues in Clinical Trials“ Step 4 Version vom 20.07.2000, S. 19. 356 EMA; Guideline on the evaluation of medicinal products for the treatment of chronic constipation (including opioid induced constipation) and for bowel cleansing, EMA / CHMP/336243/2013 vom 25.06.2015, S. 14. 357 EMA, Guideline on clinical investigation of medicinal products in the treatment of hypertension, EMA / CHMP/29947/2013/Rev. 4 vom 23.06.2016, S. 9 f. 354

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

Zusammenfassend zeigt sich somit im Zulassungsrecht ein differenzierter Umgang mit dem Ausgleich zwischen interner und externer Validität. Die Grundentscheidung im Zulassungsrecht besteht darin, den Wirksamkeitsnachweis möglichst eindeutig durchzuführen, auch wenn dies zu Lasten der externen Validität geht. Die Leitlinienpraxis des CHMP, aber auch die neueren Guidelines des ICH korrigieren die daraus entstehenden Folgen indikationsspezifisch durch präzisere Anforderungen, um auch der externen Validität angemessen Rechnung zu tragen. Dabei lässt sich auch eine Fortentwicklung der Anforderungen im Zeitverlauf erkennen, wodurch einem gewandelten Wissensstand in einer Indikation Rechnung getragen wird. 2. Auswahl der Endpunkte Im AMG finden sich keine expliziten Vorgaben für die Auswahl der Endpunkte in klinischen Studien. Vielmehr bestimmt § 25 Abs. 1 Satz 1 AMG im Katalog der Zulassungsversagungstatbestände, dass die Zulassung zu versagen ist, wenn das Arzneimittel gem. Nr. 2 „nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ nicht ausreichend geprüft worden oder die Wirksamkeit „nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ unzureichend begründet ist. Gleiches gilt selbstverständlich, wenn vom Antragsteller nicht nach „dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ nachgewiesen wird, dass sich mit dem Arzneimittel überhaupt therapeutische Ergebnisse erzielen lassen. Dem AMG zufolge ist es somit erforderlich, dass Nachweise über die Wirksamkeit in der Form, die nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse geboten ist, erbracht werden. In § 1 AMPV i. V. m. Anhang I Teil I Ziffer 5.2.5.1 der Richtlinie 2001/83/EG wird lediglich die Art der Nachweise dahingehend konkretisiert, dass die vorzulegenden klinischen Prüfungen im Regelfall randomisierte kontrollierte klinische Prüfungen gegen Placebo oder ein eingeführtes Arzneimittel mit nachgewiesenem therapeutischen Wert sein sollen. Hinsichtlich des Unbedenklichkeitsnachweises wird zudem auf die von der EU-Kommission veröffentlichten Leitlinien verwiesen, sodass auch auf diesem Wege die Leitlinien der EMA die Anforderungen an die klinischen Wirksamkeitsnachweise konkretisieren. In den Guidelines des ICH wird die Frage der geeigneten Endpunkte dahingehend beantwortet, dass der primäre Endpunkt einer Studie klinisch relevant und validiert sein soll.358 Dabei gilt eine Präferenz zugunsten von direkten patientenrelevanten Endpunkten, doch sind ebenso gängige Surrogatendpunkte als primäre 358

ICH Guideline E9 „Statistical Principles for Clinical Trials“ Step 4 Version vom 05.02.1998, S.  5; ICH Guideline E8 „General Considerations for Clinical Trials“ Step 4 Version vom 17.07.1997, S. 10 f.

C. Die Nutzenbewertung im Zulassungsrecht

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Endpunkte geeignet.359 Der CHMP fordert beispielsweise für Arzneimittel zur Behandlung bedeutender chronischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus und Bluthochdruck allein die positive Beeinflussung von Surrogatparametern, ohne dass ein Nachweis der Beeinflussung direkter patientenrelevanter Endpunkte wie Mortalität oder Morbidität erforderlich wäre.360 Diese Auffassung steht im Einklang mit der medizinischen Perspektive auf die Endpunktbestimmung, die gleichfalls validierte und damit als klinisch relevant bewertete Surrogatendpunkte für den Nutzennachweis genügen lässt. 3. Auswahl der Probanden Auch der Aspekt der Probandenauswahl ist für die Aussagekraft klinischer Studien von erheblicher Bedeutung. Die Wirksamkeit eines Arzneimittels im Sinne eines therapeutischen Effekts lässt sich am besten an hochhomogenen Studienpopulationen belegen. Diese Studienpopulationen sind jedoch nicht für den Behandlungsalltag repräsentativ. Die ICH-Guidelines sind in dieser Hinsicht vergleichsweise ambivalent. Die Guideline E9 betont gleichrangig sowohl das Ziel der Homogenität der Studienpopulation als auch die Forderung nach einer Repräsentativität der Studienteilnehmer für die Zielpatienten des Arzneimittels.361 Die Guideline E7, die sich speziell mit geriatrischen Studienteilnehmern befasst, fordert lediglich die Aufnahme einer „bedeutsamen Anzahl“ an geriatrischen Probanden in klinische Studien für Arzneimittel, die nicht allein für geriatrische Patienten bestimmt sind. Die erforderliche Anzahl soll 100 Probanden betragen, um klinisch bedeutsame Unterschiede erkennen zu können.362 Mit solchen Probandenzahlen lassen sich jedoch nach der sog. „Dreier-Regel“ nur in sehr geringem Umfang spezifische Nebenwirkungen entdecken, die etwa aus einem anderen Körperfettanteil oder einer verringerten Stoffwechselaktivität in der geriatrischen Bevölkerung auftreten können. Auf der Ebene der EMA-Leitlinien findet sich auch in dieser Hinsicht ein indikationsspezifischer Ansatz. In Indikationen, die in erheblichem Umfang alte und sehr alte Menschen betreffen, heben die Leitlinien hervor, dass die konfirmatorischen Studien die tatsächliche Zielpopulation enthalten sollen. Für Antihyper 359

ICH Guideline E9 „Statistical Principles for Clinical Trials“ Step 4 Version vom 05.02.1998, S. 7. 360 EMA, Guideline on clinical investigation of medicinal products in the treatment or prevention of diabetes mellitus, CPMP / EWP/1080/00 Rev.  1 vom 14.05.2012, S.  10; EMA, Guideline on clinical investigation of medicinal products in the treatment of hypertension, EMA / CHMP/29947/2013/Rev. 4 vom 23.06.2016, S. 5 f. 361 ICH Guideline E9 „Statistical Principles for Clinical Trials“ Step 4 Version vom 05.02.1998, S. 4 f. 362 ICH Guideline E7 „Studies in Support of Special Populations: Geriatrics“ Step 4 Version vom 24.06.1993, S. 2.

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4. Kap.: Nutzenbewertung in der Arzneimittelzulassung

tonika sollen demnach Probanden mit allen Schweregraden der Hypertonie und aus unterschiedlichen Altersgruppen einschließlich sehr alter Probanden über 85 Jahren in den Studien „in angemessener Zahl“ vertreten sein.363 Bei der Behandlung des Diabetes mellitus müssen gleichfalls alle Altersgruppen so vertreten sein, dass Arzneimittelwirkungen entdeckt werden können. Ferner sollen gesonderte Studien in spezifischen Patientenpopulationen erwogen werden.364 Dieser differenzierende Ansatz auf der Ebene der EMA hat explizit zum Ziel, die Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf Patientengruppen zu verbessern, die im Behandlungsalltag entweder besonders häufig betroffen sind oder aus medizinischer Sicht Besonderheiten aufweisen, die eigener Studien bedürfen. Entsprechend wird mit der Übertragbarkeit von Studienergebnissen auf Kinder und Jugendliche verfahren, für die es jedoch mittlerweile die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 über das pädiatrische Prüfkonzept gibt.365

D. Zwischenergebnis Das Zulassungsrecht ist im Kern Gefahrenabwehrrecht. Aus dem Begriff der Unbedenklichkeit nach § 5 Abs. 2 AMG kann das Arzneimittelrecht dem Grunde nach auch darauf programmiert werden, den Versorgungskontext zu berücksichtigen und eine vergleichende Nutzenbewertung im Rahmen des Zulassungsverfahrens durchzuführen. Dieser Ansatz versagt jedoch spätestens im Rahmen der zentralen Zulassung, da in der Entscheidung der EMA nicht automatisch jeder nationale Versorgungskontext reflektiert ist. Das Zulassungsrecht stellt vielmehr die Arzneimittelsicherheit in den Vordergrund und sichert sie durch Instrumente, die nach Zulassungserteilung ansetzen. Im Rahmen der Pharmakovigilanz können auch ergänzende Studien gefordert werden, um bestehende Zweifel über die Wirksamkeit des Arzneimittels auszuräumen. Ferner können die Zulassungsbehörden zunehmend flexibler das Arzneimittel über Sonderprogramme befristet zulassen, wenn das Nutzenversprechen hinreichend gewichtig erscheint. Diese Flexibilisierungsmöglichkeiten erlauben es der Zulassungsbehörde, Versorgungslücken zu schließen und gleichzeitig mittels der Instrumente des Zulassungsrechts für Arzneimittelsicherheit zu sorgen. Parallel muss sich das Zulassungsrecht jedoch mit dem Wandel des Wissens beschäftigen und diesen Umstand in seinen Entscheidungen reflektieren. Das Arzneimittelrecht war schon immer ein Hochrisikogebiet, da die zu regulierenden

363 EMA, Guideline on clinical investigation of medicinal products in the treatment of hypertension, EMA / CHMP/29947/2013/Rev. 4 vom 23.06.2016, S. 10. 364 EMA, Guideline on clinical investigation of medicinal products in the treatment or prevention of diabetes mellitus, CPMP / EWP/1080/00 Rev. 1 vom 14.05.2012, S. 9. 365 Dazu s. o. B. IV. 1.

D. Zwischenergebnis

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Produkte regelmäßig unbekannt und schwer kontrollierbar sind. Vor diesem Hintergrund können transnationale Standards zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln auch Entlastungsfunktion haben. Die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung hat den transnationalen Standards beweisrechtlich weitgehende Geltung verschafft, die um eine prozedurale Kontrolle der Entstehung der Standards ergänzt werden sollte.

5. Kapitel

Nutzenbewertung im Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung

GKV

Das 5. Kapitel ist der Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln der Gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V gewidmet. Im ersten Abschnitt des Kapitels wird die Grundstruktur der Arzneimittelregulierung in der GKV überblicksartig dargestellt, um die Verfahren der Nutzenbewertung des SGB V zu identifizieren. Es zeigt sich, dass der Gesetzgeber die Aufgabe, Arzneimittelbewertungen im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit für die Versorgung der Versicherten vorzunehmen, auf unterschiedliche Organisationen verteilt hat. Daraus werden im zweiten Abschnitt die inhaltlichen Merkmale des Nutzenbegriffs entwickelt. Den Abschluss des Kapitels bildet der Abschnitt C, der die Methodik der Nutzenbewertung in der GKV darstellt und daraus das Verhältnis zwischen der Nutzenbewertung im Rahmen der Arzneimittelzulassung und den Anforderungen an den Nutzennachweis im GKV-System herleitet.

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung Der Gesetzgeber hat im SGB V ein Geflecht an Regulierungsinstrumenten der Arzneimittelversorgung geschaffen.1 Grundlegend lassen sich die gesetzlichen Regulierungsinstrumente auf mehrere Arten unterscheiden: Auf der Zeitachse kann zwischen vor und nach Marktzugang wirkenden Instrumenten unterschieden werden; letztere werden als nachlaufend bezeichnet. In Hinblick auf den Zwangscharakter können imperative und influenzierende Instrumente unterschieden werden.2 Imperative Regulierung limitiert die Verordnung von Arzneimitteln durch Verbote mit Zwangscharakter. Influenzierende Instrumente setzen dagegen nur Anreize zu einem bestimmten Verordnungsverhalten, z. B. durch Therapiehinweise oder Zielvereinbarungen für die Arzneimittelversorgung. Aus Systemperspektive sind auch solche Instrumente, die im Wege der Wirtschaftlichkeitsprüfung durchgesetzt werden, influenzierend, da sie allein über wirtschaftliche Anreize beim Vertragsarzt wirken und nicht unmittelbar hoheitlich die Verordnungsfähigkeit beschränken.3 1

Dazu umfassend Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 134 ff. 2 Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 136 f. 3 Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 138.

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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I. Anspruch auf die Versorgung mit Arzneimitteln Das SGB  V regelt in den §§ 27, 31 ff. SGB  V die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln. Nach dem Wortlaut des § 27 Abs. 1 SGB V haben Versicherte in der GKV Anspruch auf Arzneimittel als Bestandteil der Leistungen zur Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eines der genannten Leistungsziele der GKV zu erreichen. Dies ist die Diagnostik, die Heilung oder die Linderung einer Krankheit. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Krankenbehandlungsanspruchs ergeben sich nicht vollständig aus dem SGB V. Zunächst bedarf es einer Definition des Versicherungsfalls der Krankheit, denn das SGB V enthält eine solche nicht. Der Inhalt des Anspruchs auf Krankenbehandlung ist seinerseits maßgeblich medizinisch geprägt, sodass er eine Feststellung bzw. Konkretisierung innerhalb des Behandlungsverhältnisses voraussetzt. Schließlich sind die näheren Leistungsvoraussetzungen, die sich aus den §§ 31 ff. SGB V ergeben, in vielen Fällen von Entscheidungen untergesetzlicher Normgeber über einzelne Behandlungsmethoden oder Leistungen abhängig. Aus diesen Gründen hat sich in der Rechtsprechung bezüglich des Krankenbehandlungsanspruchs das Konzept des konkretisierungsbedürftigen Rahmenrechts durchgesetzt. 1. Versicherungsfall der Krankenbehandlung Der Begriff der Krankheit als eigenständiger Versicherungsfall der GKV wird als ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand definiert, der Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.4 Das Merkmal der Regelwidrigkeit ist dabei nicht deskriptiver, sondern normativer Natur. Die GKV vollzieht durch die Anknüpfung von Leistungsansprüchen an den Krankheitsbegriff nicht medizinische Wertungen über das Vorliegen einer Krankheit nach, sondern konstruiert ihrerseits einen eigenen Krankheitsbegriff. Dieser ist mit dem medizinischen Krankheitsbegriff im Regelfall deckungsgleich. Allerdings gibt es in Randbereichen des Begriffsspektrums Unterschiede. Der Krankheitsbegriff der GKV setzt an einem eigenständigen Leitbild an, sodass eine Krankheit im Sinne der GKV vorliegt, wenn von diesem Leitbild negativ abgewichen wird. Dieses Leitbild wird als dasjenige eines gesunden Menschen, der zur Ausübung normaler körperlicher und geistiger Funktionen imstande ist, definiert.5 Da sich dieses Leitbild nicht streng an den empirisch vorhandenen Funktionen und 4 BSG, Urteil vom 11.09.2012 – B 1 KR 9/12 R, Rn. 10 bei juris.de; BSG SozR 4–2500 § 27 Nr. 20 Rn. 10; Fahlbusch, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 27 Rn. 22; Lang, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 27 Rn. 14; Nolte, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 27 SGB V Rn. 9. 5 Nebendahl, in: Spickhoff (Hr.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 27 Rn. 17.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Fertigkeiten von Menschen in bestimmten Lebensumständen orientiert, können auch manche Alterungsprozesse als Krankheit anzusehen sein.6 Es verbleibt ein weiter Raum für Unklarheiten und Dezisionismus seitens der Rechtsprechung.7 2. Ausgestaltung als Rahmenrecht Die Feststellung des Behandlungsbedarfs eines Versicherten ist im Kern eine medizinische Entscheidung, die der behandelnde Vertragsarzt zu treffen hat. Gleichzeitig ist die Behandlungsentscheidung des Vertragsarztes jedoch auch mit dem Leistungsanspruch des Versicherten gegenüber seiner Krankenkasse verknüpft. Die nähere Bestimmung dieses Verhältnis zwischen der medizinischen Behandlungsentscheidung und dem damit verbundenen Leistungsanspruch bereitet einige Schwierigkeiten. Das Bundessozialgericht hat dieses Verhältnis grundlegend in einer Entscheidung zum Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V im Falle einer Heilmittelbehandlung ausgearbeitet. Dabei war zu entscheiden, ob ein Anspruch auf die konkrete Behandlungsleistung entstanden war. Das BSG stellte zunächst fest, dass Tatbestände wie §§ 27 Abs. 1, 31 Abs. 1, 32 Abs. 1 oder § 33 Abs. 1 SGB V bei wörtlicher Lesart einen einklagbaren Anspruch auf jedwede therapeutische Leistung und jedes Arzneimittel, Heilmittel oder Hilfsmittel gewährten, der jedoch aus finanziellen und praktischen Gründen in diesem Umfang von den Krankenkassen nicht erfüllbar wäre.8 Die Vorschriften der §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 33 Abs. 1 SGB  V im Zusammenhang mit Grundnormen des Leistungsrechts in der GKV wie dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V oder den Bestimmungen des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V enthalten nach der Auffassung des BSG jedoch keine vollständig subsumtionsfähigen Tatbestände.9 Die einzelnen Vorgaben und Inhalte der unterschiedlichen Bestimmungen bedürften weiterer Konkretisierungsschritte, um einen konkreten Leistungsanspruch zu begründen. Es handle sich bei den Leistungsvorschriften des § 27 Abs. 1 i. V. m. §§ 31 ff. SGB V stattdessen um Zweckprogramme, die lediglich abstrakt die Leistungsgattung bezeichneten und Anforderungen an die Konkretisierung statuierten.10 Diese Zweckprogramme seien auch gesetzgebungstechnisch erforderlich, um die Vorgabe des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V einzulösen, dass die Leistungen der GKV dem jeweils anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Angesichts der medizinischwissenschaftlichen Komplexität der Regelungsmaterie wäre es dem parlamentari-

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BSG NZA 1989, 287 (288); BSGE 85, 36 (38 f.). Huster, NJW 2009, 1713 (1716); Lang, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 27 Rn. 17 ff.; s. a. Nolte, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 27 SGB V Rn. 12a ff. 8 BSGE 73, 271 (279). 9 BSGE 73, 271 (279). 10 BSGE 73, 271 (280). 7

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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schen Gesetzgeber faktisch gar nicht möglich, konkrete Leistungsansprüche in Anspruchsgrundlagen zu fixieren.11 Stattdessen identifizierte das Bundessozialgericht in den maßgeblichen leistungsrechtlichen Tatbeständen ein verfahrensrechtliches Konzept, um die Leistungsansprüche der Versicherten zu bestimmen, indem die Akteure des Vertragsarztsystems Konkretisierungsleistungen erbringen.12 Zu diesen Akteuren zählen der GBA, der durch Richtlinien die Leistungsansprüche abstrakt-generell konkretisiert, die Kassenärztlichen Vereinigungen, die unterschiedliche vertragliche Vereinbarungen mit den Krankenkassen und deren Verbänden schließen, sowie schließlich der behandelnde Vertragsarzt, der aus dem Leistungskatalog auf der Basis der gestellten Diagnose die konkrete Behandlungsleistung auswählt.13 Insbesondere den Richtlinien des GBA wurde durch ihre Deutung als untergesetzliche Rechtsnormen die bedeutendste Rolle für die Konkretisierung des Leistungsanspruchs der Versicherten zugewiesen.14 Das SGB V enthält somit nach Ansicht des Bundessozialgerichts ein eigenständiges Verfahren, um konkrete Leistungsansprüche des Versicherten zu begründen und dadurch das Rahmenrecht des Versicherten zu konkretisieren. Dadurch wurde der Inhalt des Leistungsanspruchs des Versicherten von dem Handeln der Krankenkasse losgelöst.15 Im zuvor vom BSG vertretenen Modell der Erfüllung des Leistungsanspruchs richtete sich der Behandlungsanspruch noch unmittelbar gegen die Krankenkasse, die ihn mittels des Vertragsarztsystems als Naturalleistung erfüllt.16 Dabei blieb den Krankenkassen jedoch in der ambulanten Versorgung tatsächlich keine Möglichkeit, den Naturalleistungsanspruch selbst im Einzelfall zu konkretisieren. Vielmehr erfolgt dieser Schritt durch den Vertragsarzt.17 Nach Auffassung des BSG sei der Vertragsarzt durch die Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung diesbezüglich mit der „erforderlichen Rechtsmacht beliehen“.18 An diese Rechtsprechung wurde in der Folge angeknüpft, um die Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit einer stationären Behandlung, die regelmäßig der Genehmigung der Krankenkasse bedarf, zu überprüfen. Der 3. Senat des BSG hatte diesbezüglich unter Berufung auf das Rahmenrechtskonzept die Auffassung vertreten, dass der Anspruch auf Krankenhausbehandlung entstehe, sobald der aufnehmende Krankenhausarzt deren Notwendigkeit festgestellt hat. Die Kranken­ kasse könne lediglich ex post eine Überprüfung vornehmen und den Arzt bzw. das

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BSGE 73, 271 (280). BSGE 73, 271 (280 f.). 13 BSGE 73, 271 (280 f.). 14 BSGE 78, 70 (75); st. Rspr., s. etwa BSGE 107, 287 (297); Überblick bei Zimmermann, Der Gemeinsame Bundesausschuss, 2012, S. 51 ff. 15 Neumann, SGb 1998, 609 (610). 16 BSGE 59, 172 (177). 17 Neumann, SGb 1998, 609 (610). 18 BSGE 73, 271 (281). 12

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Krankenhaus in Regress nehmen.19 Diese Rechtsprechung wurde dahingehend weiterentwickelt, dass allein die Beurteilung der Behandlungsbedürftigkeit im Krankenhaus durch den aufnehmenden Krankenhausarzt maßgeblich für den Behandlungsanspruch sei, nicht dagegen die Genehmigung durch die Krankenkasse.20 Die Krankenkasse habe zwar das Letztentscheidungsrecht über die Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung, jedoch bestehe der Entscheidungsmaßstab hierfür in der fachlich einwandfreien Einschätzung des Krankenhausarztes zum Aufnahmezeitpunkt.21 Diese einer Einschätzungsprärogative gleichkommende Auffassung ist jedoch durch einen Beschluss des Großen Senats des Bundessozialgerichts hinfällig geworden.22 Während der Schwerpunkt des Rahmenrechtskonzepts des Bundessozialgerichts zunächst auf der Konkretisierungsbefugnis des Vertragsarztes im Verhältnis zum Versicherten und der betroffenen Krankenkasse lag, ist in der Folge in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts verstärkt die Struktur des Leistungserbringerrechts und ihrer Bindungswirkung gegenüber dem Versicherten in den Vordergrund getreten. Insbesondere die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses sind auf diesem Wege auch gegenüber den Versicherten als verbindlich erklärt worden, obgleich sie ursprünglich keine Adressaten der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses waren. Der Vertragsarzt bestimme nämlich den konkreten Leistungsanspruch des Versicherten erst durch seine Verordnung und sei dabei vertragsarztrechtlich an die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gebunden.23 Somit wurde über den Umweg des Rahmenrechts die Verbindlichkeit der Beschlüsse und Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses begründet, noch bevor eine Geltung für die nicht im Gemeinsamen Bundesausschuss vertretenen Systembeteiligten in § 91 Abs. 6 SGB V gesetzlich normiert worden war. Das Rahmenrechtskonzept ist in der Folge von allen zuständigen Senaten des BSG anerkannt worden.24 Das Rahmenrechtskonzept ist im Schrifttum sowohl zustimmend als auch skeptisch aufgenommen worden.25 Die Kritik entzündet sich insbesondere am Wortlaut der §§ 27 ff. SGB V, der jeweils von einem „Anspruch“ des Versicherten spricht, und erstreckt sich auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung einer effektiven 19 BSGE 82, 158 (161); vgl. Gamperl, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 39 SGB V Rn. 73. 20 BSGE 89, 104 (106). 21 BSG, Beschluss vom 03.08.2006 – B 3 KR 1/06 S, Rn. 10 bei juris.de. 22 BSGE 99, 111 (121 f.). 23 BSGE 81, 54 (61). 24 BSGE 81, 54 (61) [1. Senat]; BSGE 89, 86 (88) [1. Senat]; BSGE 105, 157 (163) [3. Senat]; BSGE 103, 106 (121) [6. Senat]; im Ergebnis ebenso BSG, Beschluss vom 09.11.2006 – B 10 KR 3/06 B, Rn. 7 f. bei juris.de [10. Senat]. 25 Zustimmend Engelmann, Das Rechtskonkretisierungskonzept des SGB V und seine dogmatische Einordnung durch das Bundessozialgericht, in: Hart (Hr.), Das Rechtskonkretisierungskonzept des SGB V und seine dogmatische Einordnung durch das Bundessozialgericht, 2000, S. 199 (216 f.); Ebsen, Der Behandlungsanspruch des Versicherten in der gesetzlichen Kranken-

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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gerichtlichen Kontrolle der entsprechenden Konkretisierungsakte.26 Ferner wird der Ausgangspunkt, dass die Leistungsvorschriften der §§ 27 ff. SGB V keine Konditional-, sondern Zweckprogramme enthalten, bezweifelt. Der 1.  Senat des BSG hat mittlerweile in jüngeren Entscheidungen das Rahmenrechtskonzept wieder aufgegeben und einen konkreten Individualanspruch angenommen, dessen Reichweite und Gestalt sich aus dem Zusammenspiel mit weiteren gesetzlichen und untergesetzlichen Rechtsnormen ergebe.27 Die Krankenkassen hätten Sorge zu tragen, dass die Leistungsansprüche im Rahmen des Naturalleistungssystems des SGB V erbracht werden können; fehle es hieran, etwa weil eine Abrechnungsmöglichkeit über den Einheitlichen Bewertungsmaßstab nicht besteht, müsse die Krankenkasse eine sachleistungsersetzende Geldleistung erbringen.28 Die dogmatische Begründung des konkreten Leistungsanspruchs des Versicherten wird damit von einer Konkretisierungshandlung des Vertragsarztes nach Maßgabe der Leistungserbringungsregelungen der Selbstverwaltungsparteien auf eine gesetzliche Anspruchsgrundlage im Verhältnis von Versichertem und Krankenkasse zurückgeführt. Ferner können bislang außerhalb des Leistungserbringungssystems angesiedelte Ansprüche wie die Leistung im Falle des Systemversagens dogmatisch einheitlich aus dem individuellen Leistungsanspruch heraus erklärt werden, wie es der 1. Senat des BSG in seiner Entscheidung aufzeigt.29 Allerdings bleibt fraglich, ob sich darüber hinaus ein materieller Unterschied aus dem Rechtsprechungswechsel ergibt und ob die anderen Senate des BSG folgen werden.

II. Voraussetzungen der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln Die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln richtet sich im Ausgangspunkt nach §§ 31, 34 SGB V. Diese Vorschriften regeln, welche Arzneimittel überhaupt zum Leistungsumfang der GKV gehören. Arzneimittel, die den dort genannten Anforderungen nicht entsprechen, sind nicht bzw. nach § 34 Abs. 1 Sätze 2, 4 und 5 SGB V nur in Ausnahmefällen verordnungsfähig. Darüber hinaus bestehen Vorschriften, die den Preis regulieren, den die Krankenkassen für die verordneten Arzneimittel übernehmen. Diese Vorschriften schließen zwar die betroffenen Arzneimittel nicht von der Verordnungsfähigkeit aus, doch wirken die Preisregulierungsmechanismen gleichfalls intensiv auf die Verordnungspraxis ein. Ferner versicherung und das Leistungserbringungsrecht, in: Gitter / Schulin / Zacher (Hr.), FS Krasney, 1997, S. 81 (95 f.); im Ergebnis ebenso, aber mit Kritik an dogmatischer Ausarbeitung Francke, SGb 1999, 5 (6 ff.). Ablehnend Neumann, SGb 1998, 609 (611 ff.); Axer, GesR 2015, 641 f. 26 Neumann, SGb 1998, 609 (613 f.). 27 BSG, Urteil vom 02.09.2014 – B 1 KR 11/13 R, Rn. 8 bei juris.de; gleichlautend BSG, Urteil vom 02.09.2014 – B 1 KR 3/13 R, Rn. 14 bei juris.de. 28 BSG, Urteil vom 02.09.2014 – B 1 KR 3/13 R, Rn. 15 bei juris.de. 29 BSG, Urteil vom 02.09.2014 – B 1 KR 11/13 R, Rn. 19 ff. bei juris.de.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

finden sich auf der Ebene der einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen vertragsbasierte Modelle mit den Krankenkassen, die ebenfalls das Verordnungsverhalten der Vertragsärzte steuern sollen. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Instrumente kurz dargestellt und es wird analysiert, inwiefern der Nutzen von Arzneimitteln bewertet oder auch in der jeweiligen Entscheidungsfindung berücksichtigt wird. 1. Apothekenpflicht § 31 Abs. 1 SGB V stellt die Anspruchsgrundlage für die Versorgung mit Arzneimitteln dar.30 Diese Vorschrift beschränkt den Anspruch der Versicherten grundsätzlich auf apothekenpflichtige Arzneimittel. Der Arzneimittelbegriff des SGB V ist nach der Rechtsprechung des BSG nicht identisch mit dem Arzneimittelbegriff des AMG, doch im Wesentlichen deckungsgleich.31 Durch die Anknüpfung an die Apothekenpflicht verknüpft diese Norm den Leistungsanspruch mit der arzneimittelrechtlichen Einordnung der Produkte. In §§ 43 ff. AMG sind regelmäßig alle Arzneimittel apothekenpflichtig, sofern sie nicht einem Ausnahmetatbestand unterfallen. § 44 Abs. 1 AMG nimmt solche Arzneimittel aus, die vom pharmazeutischen Unternehmer für andere Zwecke als zur Heilung oder Linderung von Krankheiten und Körperschäden bestimmt sind. Damit dienen diese Arzneimittel gleichzeitig keinem der Zwecke, für die § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V Versicherungsleistungen in der GKV vorsieht. § 44 Abs. 2 AMG erfasst für die Freistellung von der Apothekenpflicht eine Reihe von pflanzlichen Präparaten, Heilerden etc. § 45 AMG ermächtigt den Verordnungsgeber, bestimmte Arzneimittel, die der Behandlung von Krankheiten dienen, von der Apothekenpflicht auszunehmen. Im Unterschied zur Regelung des § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V sieht § 31 Abs. 1 AMG keine Ausnahmemöglichkeiten von der Apothekenpflicht für die Verordnungsfähigkeit vor. Lediglich für arzneimittelähnliche Medizin­ produkte kann der GBA in der Arzneimittelrichtlinie die Leistungspflicht der GKV vorsehen. 2. Verschreibungspflicht Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V müssen Arzneimittel verschreibungspflichtig sein, um zu Lasten der GKV verordnet werden zu können. Von dieser Grundregel sieht § 34 Abs. 1 Satz 5 SGB V eine Ausnahme vor. Danach gilt die Beschränkung 30

Nolte, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 31 SGB V Rn. 3. BSGE 87,95 (101); SG Marburg, Urteil vom 01.02.2012 – S 12 KA 16/11, Rn. 24 bei juris.de; Hessisches LSG, Urteil vom 23.01.2013 – L 4 KA 17/12, Rn. 27 bei juris.de; Beck, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 31 Rn. 22, 31; a. A. Pflugmacher, in: Eichenhofer / Wenner, SGB V, 2013, § 31 Rn. 5. 31

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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auf verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht für Kinder bis zum Alter von 12 Jahren sowie Jugendliche mit Entwicklungsstörungen. In § 34 Abs.  1 Sätze 6–8 sind verschreibungspflichtige Arzneimittel für bestimmte Anwendungsgebiete generell von dem Leistungsumfang der GKV ausgeschlossen. Diese ausgeschlossenen Anwendungsgebiete werden unter den Oberbegriffen „Bagatellerkrankungen“ und „Lifestyle-Therapie“ zusammengefasst.32 Es handelt sich dabei um eine gesetzgeberische Entscheidung, die Behandlung bestimmter Erkrankungen der Eigenverantwortung des Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V zuzuordnen.33 Dieser gesetzlichen Regelungsstruktur liegt die Annahme zugrunde, dass die ausgeschlossenen Arzneimittel regelmäßig nicht geeignet sind, einem Therapieziel zu dienen.34 Der Ausschlusstatbestand des § 34 Abs.  1 Satz  6 SGB  V gilt dagegen nicht für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Der GBA hat nach § 34 Abs.  1 Satz  9 SGB  V die Aufgabe, das Nähere zu diesen Ausschlüssen in seiner Arzneimittelrichtlinie zu regeln. Diese Regelungsermächtigung wird vom BSG so verstanden, dass sie nicht konstitutiv erst den Ausschluss eines bestimmten Arzneimittels nach § 34 Abs. 1 Sätze 6–8 SGB  V begründet, sondern dass dieser Ausschluss bereits kraft Gesetzes eintrete.35 Dem Richtlinienbeschluss komme lediglich deklaratorische Bedeutung zu. Der GBA hat somit keine eigene Bewertung des Arzneimittels vorzunehmen. Dadurch können freilich Rechtsunsicherheiten entstehen, wenn nicht eindeutig bestimmbar ist, ob ein Arzneimittel unter einen der Ausschlusstatbestände fällt. In diesem Fall soll der Arzneimittelrichtlinie diesbezüglich eine indizielle Wirkung zukommen, da der GBA insoweit als ein „sachverständiges Gremium“ in einem formalisierten Verfahren eine „Präzisierung“ des gesetzlichen Tatbestands vornehme.36 Nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V können nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel dennoch von der Leistungspflicht der GKV umfasst sein, wenn sie nämlich bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten. Die entsprechenden Arzneimittel sind vom GBA in die Arzneimittelrichtlinie aufzunehmen. Zur Umsetzung hat der GBA die sog. OTC-Liste geschaffen, die die betreffenden nichtverschreibungspflichtigen Arzneimittel auflistet. Nach § 34 Abs. 6 SGB V kann der pharmazeutische Unternehmer die Aufnahme seines Präparats auf die OTC-Liste beantragen. Das entsprechende Antragsverfahren fällt in den 32 Hess, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 34 SGB V Rn. 11 f.; Axer, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 5, 11; Joussen, in: Knickrehm / Kreikebohm / Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 5. Aufl. 2017, § 34 SGB V Rn. 6 f. 33 BT-Drs. 15/1525, S. 87; Wagner, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, 96. EL 2017, § 34 SGB V Rn. 8. 34 Sehr kritisch zu dem Zusammenhang von Verschreibungspflicht und Nutzen Gassner, Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel aus der Erstattungspflicht, in: Mummenhoff (Hr.), Machtzuwachs der Krankenkassen, 2004, S. 170 (173 f.). 35 BSGE 112, 251 (254). 36 BSGE 112, 251 (256).

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Anwendungsbereich der EG-Transparenzrichtlinie 89/105/EWG.37 Die materiellen Kriterien ergeben sich zwar aus § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V, sind jedoch im Einzelnen umstritten. Insbesondere ist unklar, wie die unbestimmten Rechtsbegriffe „schwerwiegende Erkrankung“ und der Therapiestandard zu bestimmen sind. Der GBA hat in § 12 Abs. 3 der Arzneimittelrichtlinie eine Definition der schwerwiegenden Erkrankung gewählt, die terminologisch an den Off-Label-Use anknüpft und lebensbedrohliche oder schwere, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankungen umfasst. Diese Definition ist jedoch enger als eine am Wortlaut des § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V orientierte Auslegung, da die Definition des GBA zusätzlich zur Schwere der Krankheit eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität erfordert. Dies dürfte im Wesentlichen lang andauernde oder chronische Erkrankungen umfassen. Die Rechtsprechung billigt dem GBA insoweit eine eingeschränkt überprüfbare Konkretisierungsbefugnis kraft Normgebung zu.38 Hinsichtlich des Therapiestandards ermittelt der GBA nach § 12 Abs. 4 der Arzneimittelrichtlinie, ob der therapeutische Nutzen zur Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Bewertung erfolgt nach dem Verfahren, das der GBA auch an anderer Stelle anwendet, um den Nutzen einer Therapie zu ermitteln. Das BSG formuliert insoweit, dass es „zuverlässige wissenschaftliche nachprüfbare Aussagen in dem Sinne geben [muss], dass der Erfolg der Behandlungsmethode in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist“.39 Insoweit führt der GBA für die Prüfung der Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V eine Nutzenbewertung des Arzneimittels durch. 3. Frühe Nutzenbewertung Für in der GKV erstattungsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen sieht § 35a SGB V ein spezielles Nutzenbewertungsverfahren vor, das nach spätestens sechs Monaten mit einem Nutzenbewertungsbeschluss nach § 35a Abs. 3 SGB V endet.40 Mit diesem Beschluss wird das bewertete Arzneimittel einer Festbetragsgruppe zugeordnet, wenn hierfür die weiteren Voraussetzungen gegeben sind, oder es wird nach Maßgabe des § 130b SGB V zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem GKV-Spitzenverband ein Erstattungsbetrag verhandelt. Der Erstattungsbetrag gilt spätestens ab dem 13. Monat nach Beginn des Verfahrens nach § 35a SGB V. Da das Nutzenbewertungsverfahren gem. § 35a Abs. 1 Satz 3 SGB V 37

Dazu Axer, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 18. BSGE 110, 183 (189). 39 BSGE 110,183 (191); das BSG deutet an, dass ein engerer Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift auf „unverzichtbare Standardwirkstoffe“ geboten sein könnte. 40 Eine Gesamtdarstellung bietet Stadelhoff, Rechtsprobleme des AMNOG-Verfahrens, 2016, S. 105 ff. 38

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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mit dem Zeitpunkt des erstmaligen Inverkehrbringens des betroffenen Wirkstoffs oder vier Wochen nach Zulassung eines neuen Anwendungsgebiets für einen bereits in Verkehr gebrachten Wirkstoff beginnt, wird es als „frühe Nutzenbewertung“ bezeichnet.41 a) Anwendungsbereich Die gesetzlichen Vorgaben zum Anwendungsbereich und zur Durchführung der frühen Nutzenbewertung sind auf Grund der Ermächtigungsgrundlage des § 35a Abs. 1 Satz 6 SGB V durch die Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung (AM-NutzenV) näher konkretisiert worden.42 Der GBA hat die Durchführung der frühen Nutzenbewertung im 5. Kapitel seiner Verfahrensordnung geregelt. Der Anwendungsbereich der frühen Nutzenbewertung ist für erstattungsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen eröffnet, die gem. § 3 Nr. 1 oder Nr. 2 AMNutzenV ab dem 01.01.2011 erstmals in den Verkehr gebracht worden sind. Das Inverkehrbringen bestimmt sich gem. § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VerfO-5 nach der Veröffentlichung des Arzneimittels in dem Verzeichnisdienst nach § 131 Abs. 4 SGB V, der gegenwärtig identisch mit der Lauer-Taxe ist.43 Die vor dem Stichtag 01.01.2011 in den Verkehr gebrachten Arzneimittel werden als „Bestandsmarktarzneimittel“ bezeichnet. Für sie galt § 35a Abs. 6 SGB V, wonach eine Nutzenbewertung auch für diese Arzneimittel möglich war, sofern sie mit Arzneimitteln im Wettbewerb stehen, die der frühen Nutzenbewertung unterfallen, oder sie für die Versorgung von Bedeutung sind. Diese Regelung ist jedoch mit dem 14. SGB VÄnderungsgesetz mit Wirkung zum 01.01.2014 ersatzlos gestrichen worden. Diese Gesetzesänderung wurde mit dem „hohen methodischen und administrativen Aufwand“ der Nutzenbewertung von Bestandsmarktarzneimitteln begründet.44 Der GBA hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein Nutzenbewertungsverfahren für Bestandsmarktarzneimittel abgeschlossen und für mehrere Wirkstoffe begonnen.45 Die nicht beendeten Verfahren wurden nach der Aufhebung des § 35 Abs. 6 SGB V eingestellt, während für die anderen Bestandsmarktarzneimittel, deren Nutzenbewertungsverfahren abgeschlossen waren, Erstattungsbetragsverhandlungen durch 41

Axer, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 35a Rn. 3; Pflugmacher, in: Eichenhofer / Wenner, SGB V, 2013, § 35a Rn. 2. 42 Verordnung über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a Absatz 1 SGB V für Erstattungsvereinbarungen nach § 130b SGB V vom 28.12.2010 (BGBl. I S. 2324), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes vom 04.05.2017 (BGBl. I S. 261). 43 Krasney, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 46 Rn. 160. 44 Begründung zum Gesetzentwurf des 14. SGB V-Änderungsgesetzes, BT-Drs. 18/201 S. 6. 45 Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 07.06.2012 zur Nutzenbewertung für die Wirkstoffe Sitagliptin, Vildagliptin und Saxagliptin sowie für die Wirkstoffkombinationen Metformin / Sitagliptin und Metformin / Vildagliptin, Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 18.04.2013 über die Nutzenbewertung für mehrere Wirkstoffe aus dem Bestandsmarkt.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

geführt wurden. Es ist unklar, wie der weitere Status dieser Arzneimittel mit Blick auf die fortdauernde Anwendbarkeit des § 35a SGB V zu beurteilen ist.46 Der Bestandsmarktaufruf war gesundheitspolitisch hoch umstritten und wurde erfolglos gerichtlich angegriffen.47 Nach Maßgabe des § 3 Nr. 1 und Nr. 2 AM-NutzenV unterliegen solche Arzneimittel dem Anwendungsbereich des § 35a Abs. 1 SGB V, die erstattungsfähig sind und einen neuen Wirkstoff enthalten. Der Begriff der Erstattungsfähigkeit wird teilweise so verstanden, dass sie auch Kosten in der stationären Versorgung umfasst.48 Allerdings spricht die systematische Stellung des § 35a SGB  V dafür, dass nur Arzneimittel in der ambulanten Versorgung vom Anwendungsbereich der frühen Nutzenbewertung umfasst werden. Die §§ 31, 34 SGB V konkretisieren nämlich den Leistungsanspruch des Versicherten nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V auf Versorgung mit Arzneimitteln.49 Die Krankenhausbehandlung, die gem. § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V eine eigenständige Leistungsart bildet, schließt gem. § 39 Abs. 1 Satz 3 SGB V die Versorgung mit Arzneimitteln im Rahmen der Krankenhausversorgung ein. Folglich gelten weder § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V noch §§ 31, 34 SGB V für den stationären Sektor. Demnach sind Arzneimittel, die nur stationär abgegeben werden können, nicht erstattungsfähig im Sinne des § 35a Abs. 1 SGB V. Allerdings wird diese Auslegungsfrage in der Praxis dadurch vermieden, dass nach § 35a Abs.  1a SGB  V solche Arzneimittel von der frühen Nutzenbewertung freigestellt werden, die den gesetzlichen Krankenkassen nur geringfügige Ausgaben entstehen lassen werden. Die Geringfügigkeitsschwelle liegt nach § 15 Abs. 1 Satz 3 VerfO-5 bei EUR 1.000.000 im Jahr. Die Datenbasis ist nach § 15 Abs. 4 Satz 2 VerfO-5 die Ausgabenerfassung gem. § 84 Abs. 5 SGB V, die nur die Arzneimittelausgaben in der ambulanten Versorgung umfasst, sodass Arzneimittelkosten in der stationären Versorgung für das Erreichen der Geringfügigkeitsschwelle außer Betracht bleiben. Demnach werden Arzneimittel, die allein im stationären Sektor abgegeben werden, von der frühen Nutzenbewertung freigestellt.50 Ein Wirkstoff ist im Sinne des § 35a Abs. 1 SGB V nach der Definition in § 2 Abs. 1 Satz 1 AM-NutzenV neu, wenn dessen Wirkungen bei der erstmaligen Zulassung des betreffenden Arzneimittels in der medizinischen Wissenschaft nicht allgemein bekannt sind. Diese Regelung entspricht für sich genommen der Verschreibungspflicht für neue Wirkstoffe nach § 48 AMG. Allerdings eignet sich dieser Verweis nicht für eine präzise Bestimmung des Zeitpunkts, ab wann ein Wirkstoff nicht mehr als neu gilt.51 In § 2 Abs. 1 Satz 2 AM-NutzenV wird daher

46 Vgl. hierzu die Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrats zum 14. SGB V-Änderungsgesetz, BR-Drs. 62/1/14 S. 2 f. 47 LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.05.2013 – L 7 KA 105/12 KL. 48 Schickert / Schmitz, PharmR 2011, 217 (220). 49 Kraftberger, in: Hänlein / Schuler, LPK-SGB V, 5. Aufl. 2016, § 31 Rn. 1, § 34 Rn. 2. 50 So auch Schickert / Schmitz, PharmR 2011, 217 (220). 51 Krasney, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 46 Rn. 143.

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

229

fingiert, dass der Wirkstoff solange als neu gilt, wie für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit diesem Wirkstoff Unterlagenschutz besteht.52 Der Unterlagenschutz richtet sich nach § 24b Abs. 1 AMG.53 b) Verfahren der frühen Nutzenbewertung Fällt ein Arzneimittel in den Anwendungsbereich des § 35a Abs. 1 SGB V und erfolgt keine Freistellung nach § 35a Abs. 1a SGB V, wird eine Nutzenbewertung des Arzneimittels durchgeführt. Die Nutzenbewertung erfolgt auf der Grundlage eines Dossiers, das der pharmazeutische Unternehmer zum maßgeblichen Zeitpunkt nach § 35a Abs. 1 Satz 3 SGB V beim GBA einzureichen hat. Den GBA trifft keine Amtsermittlungspflicht, wie § 5 Abs. 1 Satz 2 AM-NutzenV klarstellt. Ein verkürztes Dossier ist nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AM-NutzenV für Arzneimittel, die zur Behandlung eines seltenen Leidens nach der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 zugelassen sind, vorzulegen. Im Falle solcher „orphan drugs“ gilt ein Zusatznutzen gem. § 35a Abs. 1 Satz 10 SGB V als belegt, weshalb im Nutzenbewertungsverfahren lediglich das Ausmaß des Zusatznutzens und ergänzende Angaben wie die erwarteten Fallzahlen und Kosten bewertet bzw. ermittelt werden. Dies gilt jedoch nur, solange das Orphan-Arzneimittel nicht die Umsatzgrenze nach § 35a Abs. 1 Satz 11 SGB V überschreitet. Diese Umsatzgrenze liegt bei EUR 50 Millionen in den letzten zwölf Kalendermonaten zu Lasten der GKV auf der Ebene des Apothekenverkaufspreises. Wird diese Umsatzgrenze überschritten, entfällt die Privilegierung des § 35a Abs. 1 Satz 10 SGB V und es wird ein erneutes Nutzen­ bewertungsverfahren nach § 35a Abs. 1 SGB V auf der Grundlage des vollständigen Dossiers durchgeführt. Die reguläre Nutzenbewertung erfolgt auf der Grundlage des vollständigen Dossiers des pharmazeutischen Unternehmers. Sie kann an das IQWiG delegiert werden. Dies ist für alle Arzneimittel außer privilegierte orphan drugs, die vom GBA selbst bewertet werden, der Regelfall. Die Nutzenbewertung erfolgt stets als vergleichende Nutzenbewertung gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie. Die zweckmäßige Vergleichstherapie wird nach Maßgabe des § 6 AMNutzenV bestimmt. Es muss sich um eine nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zweckmäßige Therapie im Anwendungsgebiet des neuen Arzneimittels handeln. Dabei kann es sich um medikamentöse wie nichtmedikamentöse Therapien handeln. Die zweckmäßige Vergleichstherapie wird erst mit dem Nutzenbewertungsbeschluss nach § 35a Abs. 3 Satz 1 SGB V festgesetzt, also weit nach Dossiererstellung, denn erst zu diesem Zeitpunkt trifft der GBA erstmalig eine Entscheidung in der frühen Nutzenbewertung. Die zuvor erstellte Nutzenbewertung ist noch nicht verbindlich. Zwar besteht die Möglich 52

Axer, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 35a Rn. 11. Krasney, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 46 Rn. 144.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

keit, dass sich der pharmazeutische Unternehmer vor Dossiererstellung vom GBA nach § 8 AM-NutzenV beraten lässt. Die Beratung umfasst nach § 8 Abs. 2 Satz 3 AM-NutzenV insbesondere auch die zweckmäßige Vergleichstherapie. Zwar sieht § 8 Abs. 2 Satz 4 AM-NutzenV explizit vor, dass der GBA über die Inhalte der Beratung eine Vereinbarung mit dem pharmazeutischen Unternehmer treffen kann, die dazu dienen soll, das Verfahren der frühen Nutzenbewertung effizienter und schneller zu gestalten.54 Allerdings bestimmt die Verfahrensordnung des GBA in § 7 Abs. 2 Satz 4 VerfO-5, dass die im Rahmen einer Beratung erteilten Auskünfte nicht verbindlich sind. Dies ist vor dem Hintergrund der Binnenstruktur des GBA folgerichtig, da die Beratungen durch die Geschäftsstelle des GBA erfolgen, die nach § 22 Abs. 3 Satz 1 der Geschäftsordnung des GBA neutral sein muss und insbesondere nicht der Entscheidung des Beschlussgremiums nach § 91 Abs. 2 SGB V vorgreifen kann. Die Nutzenbewertung wird spätestens drei Monate nach Verfahrensbeginn veröffentlicht und zur schriftlichen und mündlichen Anhörung gestellt. Auf der Grundlage der Anhörungsergebnisse fasst der GBA gem. § 35a Abs. 3 SGB V einen Beschluss über die Nutzenbewertung, der Bestandteil der Arzneimittelrichtlinie ist. Diese Nutzenbewertung bildet die Grundlage für die Entscheidung, auf welchem Wege eine Preisregulierung für das Arzneimittel stattfindet. Hat die Nutzenbewertung keinen Zusatznutzen ergeben, so ist es nach § 35a Abs. 4 SGB V in eine Festbetragsgruppe einzuordnen, wenn es im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 4 SGB V pharmakologisch-therapeutisch vergleichbar mit Festbetragsarzneimitteln ist. Andernfalls wird zwischen dem pharmazeutischen Unternehmer und dem GKVSpitzenverband gem. § 130b SGB V ein Erstattungsbetrag vereinbart. Die Nutzenbewertung des GBA kann nach § 35a Abs. 3 Satz 4 SGB V befristet werden. In diesem Fall beginnt mit dem Ende der Befristung ein neues Nutzenbewertungsverfahren, in dem erneut ein Dossier eingereicht werden muss. Auf eigene Initiative kann der pharmazeutische Unternehmer gem. § 35a Abs. 5 Satz 1 SGB V erst nach einem Jahr eine erneute Nutzenbewertung beantragen, wenn er die Erforderlichkeit der erneuten Bewertung wegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse nachweist. Die Behauptung einer Fehlbewertung genügt hierfür nicht. In diesem Fall bleibt die Möglichkeit, nach § 35a Abs. 5a SGB V eine Kosten-Nutzen-Bewertung gem. § 35b SGB V zu beantragen und die Kosten dafür zu übernehmen. Ob der GBA selbst eine Neubewertung eines Arzneimittels einleiten kann oder hierzu gar verpflichtet ist, ergibt sich aus dem Wortlaut des § 35a Abs. 5 SGB V nicht. Gegen eine solche Befugnis spricht der Schutz des pharmazeutischen Unternehmers, denn die Nutzenbewertung ist regelmäßig auf die Bewertung des Dossiers beschränkt, sodass der pharmazeutische Unternehmer stets ein neues Dossier zu er-

54 Entwurf der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung, Stand: 06.12.2010 11:52  Uhr, S.  20, abrufbar unter http://www.dkgev.de/media/file/8769.RS432-10_Anlage-Abschluss_ GesetzgebungsverfNutzenRVO.pdf (zuletzt abgerufen am 30.06.2017).

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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stellen hätte, dessen Kosten auf EUR 450.000 bis EUR 600.000 geschätzt werden.55 Dieser Schutz der wirtschaftlichen Interessen des pharmazeutischen Unternehmers und des Vertrauens in den Fortbestand der Nutzenbewertung könnte jedoch dann zurücktreten, wenn der GBA aus überwiegenden Gründen des Gemeinwohls eine Neubewertung vornimmt, etwa im Zuge seiner Beobachtungspflicht bezüglich der medizinisch-fachlichen Richtigkeit seiner Richtlinienbeschlüsse.56 Eine Verletzung schutzwürdiger Interessen besteht ferner nicht, wenn die Neubewertung im Einvernehmen mit dem pharmazeutischen Unternehmer vorgenommen wird. 4. Festbeträge Neben der frühen Nutzenbewertung sind die Festbeträge ein weiteres Instrument, um die Arzneimittelpreise, die die Krankenkassen für verordnete Arzneimittel zahlen müssen, zu regulieren. Die Festbeträge gem. § 35 SGB V sind erstmals mit dem GRG bei der Schaffung des SGB V in das deutsche Krankenversicherungssystem eingeführt worden.57 Die Festbetragsfestsetzung hat zur Folge, dass die Kosten für das entsprechende Arzneimittel gem. § 31 Abs. 2 Satz 1 SGB V nur bis zur Höhe des Festbetrags übernommen werden. Dadurch gilt der Sachleistungsanspruch des Versicherten als erfüllt. Einen verbleibenden Differenzbetrag zwischen Abgabepreis und Festbetrag müsste der Versicherte somit selbst tragen. Die Verordnungsfähigkeit der betroffenen Arzneimittel wird daher durch eine Festbetragsfest­setzung nicht berührt. Die regelmäßige Folge eines Festbetrags ist allerdings, dass die Arzneimittelabgabepreise in der GKV auf das Niveau des Festbetrags gesenkt werden, damit das Präparat weiterhin verordnet wird.58 Das Instrument der Festbeträge hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Die Regelung wurde vor dem Hintergrund eines rapiden Anstiegs der Arzneimittelausgaben eingeführt. Die Gesetzesbegründung spricht vom Faktor 4,2 in einem Zeitraum von 16 Jahren, mit einer anhaltenden Prognose.59 Das erhoffte Einsparvolumen konnte aber nicht erreicht werden, weswegen durch das GSG 1992 nachgesteuert wurde.60 Ziel war es, mehr Arzneimittel in Festbetragsgruppen aufzunehmen. Gleichzeitig wurden jedoch gegenläufige Modifizierungen der Festbetragsregelung Gesetz, wie insbesondere die Festbetragsfreiheit für alle patentgeschützten Arzneimittel unabhängig von ihrer Neuheit oder einer durch sie 55

Krasney, in: Fuhrmann (Hr.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl. 2014, § 46 Rn. 163. S. BSGE 107, 261 (284); BSG, Urteil vom 13.05.2015 – B 6 KA 14/14 R, Rn. 43, 74 f. bei juris.de. 57 GRG-Entwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 11/2237 S. 19 (§ 35) und die Begründung dazu, S. 175 f. Zur Gesetzgebungsgeschichte Schulin, Patentschutz und Festbeträge für Arzneimittel, 1993, S. 31 ff.; Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 237 ff. 58 Stargardt / Schreyögg / Busse, Gesundheitswesen 67 (2005), 468 (473 f.). 59 BT-Drs. 11/2237 S. 138. 60 Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 237. 56

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

bewirkten Verbesserung der Patientenversorgung.61 Als jedoch verfassungsrechtliche und EG-kartellrechtliche Zweifel an der Festbetragsgruppenbildung im Rahmen der Gemeinsamen Selbstverwaltung aufkamen,62 wurde mit dem damaligen § 35a SGB V a. F. eine Verordnungsermächtigung für die Bildung von Festbetragsgruppen eingeführt, von der 2001 Gebrauch gemacht worden ist.63 Erst als die verfassungsrechtlichen und kartellrechtlichen Bedenken ausgeräumt worden waren, konnte die Festbetragsgruppenbildung wieder nach der Regelung des § 35 SGB V erfolgen. In der Folge ist die Rechtsverordnungsermächtigung nach § 35a SGB V a. F. gegenstandslos geworden, sodass die frühe Nutzenbewertung unter derselben Paragraphennummer eingeführt werden konnte.64 Seit dem GKV-WSG 2007 bis zur Abschaffung durch das AMNOG existierte in § 31 Abs.  2a SGB  V eine der Festbetragsbildung verwandte Regelung. Nach dieser Vorschrift sollte der GKV-Spitzenverband die Befugnis erhalten, Höchstbeträge für Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen festzusetzen, für die eine Festbetragsbildung ausgeschlossen war. Grundlage sollte gem. § 31 Abs. 2a Satz 3 SGB V a. F. eine Bewertung des Arzneimittels durch das IQWiG sein. Zu einer Höchstbetragsfestsetzung ist es jedoch nie gekommen. a) Stufen der Festbetragsgruppenbildung Die Regelung zur Bildung von Festbeträgen ist im § 35 SGB V recht detailliert ausgestaltet. Die Festbetragsfestsetzung erfolgt in einem gestuften Verfahren. Zunächst beschließt der GBA in seiner Arzneimittelrichtlinie, welche Gruppen von Arzneimitteln zum Zwecke einer Festbetragsgruppenbildung zusammengefasst werden sollen. Die Kriterien dafür sind in § 35 Abs. 1 und Abs. 1b SGB V gesetzlich umschrieben. Im zweiten Schritt setzt der GKV-Spitzenverband den konkreten Festbetrag für eine Gruppe von Arzneimitteln nach einem Verfahren fest, dessen Berechnungsgrundlagen in § 35 Abs. 5 SGB V geregelt worden sind.

61

Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 238. BSG NZS 1995, 502 (504 ff.); OLG Düsseldorf NZS 1998, 567 ff.; Schelp, NZS 1997, 155 ff.; Wigge, PharmInd 2000, 580 (581 ff.); Knispel, NZS 2000, 379 (381 ff.); Axer, NZS 2002, 57 (60 ff.). Die Fragen wurden zugunsten der Festbetragsregelung geklärt: BVerfGE 106, 275 (297 ff.); EuGH Slg. 2004, I-2493 Rn. 45 ff. Zur verfassungsrechtlichen Dimension exemplarisch Beck, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 35 Rn. 14; Wagner, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, 96. EL 2017, § 35 SGB V Rn. 4; Barth, in: Spickhoff (Hr.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 35 SGB V Rn. 2; Hänlein, SGb 2003, 301 (302), (309); Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 266; Fuerst, GesR 2010, 183 (186 f.); zur kartellrechtlichen Seite Schenke, VersR 2004, 1360 ff.; Koenig / Engelmann, EuZW 2004, 682 ff.; Krajewski, EWS 2004, 256 ff.; Sodan, GesR 2005, 145 ff. 63 Festbetrags-Anpassungsverordnung (FAVO) v. 01.11.2001, BGBl. I S. 2897. 64 Begründung zum Gesetzentwurf des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes, BT-Drs. 17/2413 S. 19. 62

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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Grundvoraussetzung ist dem Normtext zufolge eine Nutzenbewertung, auf deren Basis zunächst die Festbetragsgruppen gebildet werden sollen. Der dabei zugrunde zu legende Nutzenbegriff ist in § 35 Abs. 1 Satz 3, Abs. 1b SGB V detailliert geregelt worden. Dadurch konkretisiert die Festbetragsregelung zugleich das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot.65 In der nach § 35 Abs. 1 Satz 3, Abs. 1b SGB V vorzunehmenden Bewertung der Arzneimittel ist zu ermitteln, ob die betrachteten Arzneimittel entsprechend den Kriterien der jeweiligen Festbetragsstufe nach § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–3 SGB V vergleichbar sind. Auf der ersten Stufe werden gem. § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V nur identische Wirkstoffe zu einer Festbetragsgruppe zusammengefasst. Die weiteren beiden Stufen basieren auf einer Vergleichbarkeit der Wirkstoffe unter jeweils unterschiedlichen Gesichtspunkten. Auf der zweiten Stufe ist die pharmakologischtherapeutische Vergleichbarkeit der Wirkstoffe nach § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB V erforderlich, während auf der dritten Stufe gem. § 35 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V solche Wirkstoffe zusammengeschlossen werden können, die lediglich therapeutisch vergleichbar sind. Kommt es bei der Gruppenbildung auf eine Vergleichbarkeit der Wirkstoffe an, folgt hieraus, dass die Wirkstoffe nicht in jeder Hinsicht identisch sind, denn dies wäre nur auf Stufe  1 der Fall. Bei lediglich vergleichbaren Wirkstoffen besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Medikamente in unterschiedlichen Patientengruppen leicht anders wirken. Daher sieht § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB V vor, dass solche Wirkstoffe vor ihrer Zusammenfassung in einer Festbetragsgruppe daraufhin geprüft werden müssen, ob in der Folge Therapiemöglichkeiten eingeschränkt werden oder medizinisch notwendige Verordnungsalternativen verschwinden würden. Damit setzt die Regelung des § 35 SGB V eine grundlegende normative Entscheidung der GKV um, dass aus wirtschaftlichen Gründen keine medizinisch erforderlichen Therapieoptionen ausgeschlossen werden dürfen.66 b) Ausnahmen von der Einbeziehung in die Festbetragsgruppe Die Festbetragsgruppenbildung kennt, über diese Ausnahme hinaus, Privilegierungen für Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, die nicht in eine Festbetragsgruppe nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB V einbezogen werden dürfen, wenn ihre Wirkungsweise neuartig ist oder sie eine therapeutische Verbesserung bedeuten. Der Begriff der neuartigen Wirkungsweise ist in § 35 Abs. 1 Satz 4 SGB V definiert, während sich die therapeutische Verbesserung aus § 35 Abs. 1b SGB V ergibt. Das Merkmal der Neuartigkeit setzt nach § 35 Abs.  1 Satz  4 SGB  V voraus, dass derjenige Wirkstoff, der als erster dieser Gruppe in Verkehr gebracht worden 65

Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung (GRG), BT-Drs. 11/2237 S. 148. Vgl. Roters, NZS 2010, 612 (617).

66

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

ist, noch unter Patentschutz steht. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Arzneimittel trotz noch laufenden eigenen Patentschutzes als nicht mehr neuartig angesehen wird, wenn das Patent für den ersten Wirkstoff derselben Gruppe ausgelaufen ist.

c) Nutzenbewertung in der Festbetragsgruppenbildung In § 35 Abs. 1b SGB V wird das Merkmal der therapeutischen Verbesserung definiert und dabei mit dem Begriff des therapierelevanten höheren Nutzens verknüpft. Dieser soll vorliegen, wenn das Arzneimittel im Vergleich mit den übrigen zusammengruppierten Arzneimitteln zweckmäßiger für die Therapie im Regelfall oder auch nur für einzelne, bedeutsame Patientengruppen bzw. Indikationsbereiche ist. Ein solcher höherer Nutzen kann auch in der Verringerung der Häufigkeit oder des Schweregrades von therapierelevanten Nebenwirkungen liegen. Wenn Festbeträge infolge der frühen Nutzenbewertung gem. § 35a Abs. 4 SGB V festzusetzen sind, geschieht dies ebenfalls nach § 35 Abs. 1 und Abs. 1b SGB V. Die spezielleren Vorgaben in § 35a Abs. 4 Sätze 2 und 3 sehen nur noch Abweichungen im Verfahren vor, die Anhörungspflichten betreffen. Nach § 35a Abs. 1 Satz 4 SGB V hat die Bewertung des Zusatznutzens für Arzneimittel, die einer Festbetragsgruppe der Stufe 2 zugeordnet werden könnten, anhand der Maßstäbe des § 35 Abs. 1b Sätze 1–5 SGB V zu erfolgen.

5. Verordnungsbeschränkungen und -ausschlüsse des GBA Nach § 92 Abs.  1 Satz  1 SGB  V hat der GBA die Befugnis, die Erbringung oder Verordnung von Leistungen oder Maßnahmen der Krankenbehandlung einzuschränken oder auszuschließen, wenn nach allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind. Diese Ermächtigungsgrundlage ermöglicht demnach weitreichende Entscheidungen über den Leistungsanspruch des Versicherten, denn es können wegen eines nicht erbrachten Nutzennachweises einzelne Leistungen komplett aus dem Versorgungsumfang gestrichen werden. Galt diese weitreichende Befugnis zunächst auch für Arzneimittel, ist mit dem AMNOG insoweit eine Spezialregelung eingefügt worden. Danach kann der GBA die Verordnung von Arzneimitteln nur einschränken oder ausschließen, wenn die Unzweckmäßigkeit des Arzneimittels erwiesen oder eine andere, wirtschaftlichere Behandlungsmöglichkeit mit einem vergleichbaren diagnostischen oder therapeutischen Nutzen verfügbar ist. Im Vergleich zur früheren Rechtslage ist somit die Beweislast für den Nutzennachweis umgekehrt: Während nach der früheren Rechtslage bei Zweifeln über den Nutzen eine Beschränkung der Verordnungsfähigkeit

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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zulässig war, muss nach der neuen Gesetzesfassung feststehen, dass das Arzneimittel unzweckmäßig ist.67 a) Nachweis der Unzweckmäßigkeit eines Arzneimittels Die Regelung des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V über den Ausschluss von Arzneimitteln wird dafür kritisiert, dass sie, für sich genommen, den Effekt haben könnte, die Verordnungsfähigkeit unwirtschaftlicher Arzneimittel zu erhalten, da der Nachweis eines nicht vorhandenen Nutzens methodisch äußerst schwierig ist.68 Darüber hinaus wird eingewendet, dass eine wörtliche Lesart des Begriffs der Unzweckmäßigkeit als Gegenbegriff zur Zweckmäßigkeit im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfordern würde, dass ein Arzneimittel überhaupt nicht geeignet ist, die Therapieziele des § 27 Abs. 1 SGB V für Leistungen der Krankenbehandlung zu erreichen. Da die Eignung zur Herbeiführung eines diagnostischen oder therapeutischen Erfolgs jedoch Bestandteil der Zulassungsprüfung ist und der GBA nach § 92 Abs. 2 Satz 13 SGB V an die Feststellungen der Zulassungsbehörde über Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels gebunden ist,69 wäre eine Feststellung der fehlenden Zweckmäßigkeit faktisch kaum möglich.70 Daher wird im Schrifttum teilweise eine Auslegung des Begriffs der Unzweckmäßigkeit als „Optimierungsprinzip“ vertreten, das einen Zusatznutzen des Arzneimittels gegenüber vergleichbaren Therapien der GKV erfordere. Fehle dieser Zusatznutzen, sei die Unzweckmäßigkeit erwiesen.71 Der GBA hat den Begriff der Unzweckmäßigkeit in § 12 Abs. 1 Satz 1 VerfO-4 in diesem Sinne konkretisiert. Demnach ist ein Arzneimittel unzweckmäßig, wenn eine andere Behandlungsmöglichkeit einen therapierelevanten höheren Nutzen hat und deswegen regelmäßig dem unterlegenen Arzneimittel vorzuziehen ist. Die Auslegung des Begriffs der Unzweckmäßigkeit in der Verfahrensordnung des GBA hat den Vorzug, dass sie dem Zweck der Neuregelung in § 92 Abs.  1 Satz 1 SGB V insoweit Wirksamkeit verleiht, dass ein Verordnungsausschluss für Arzneimittel noch möglich ist.72 Allerdings überdehnt der GBA den Begriff der Unzweckmäßigkeit, indem nach dem Wortlaut des § 12 Abs. 1 Satz 1 VerfO-4 die Unzweckmäßigkeit erwiesen sein soll, wenn die Vergleichstherapien einen höheren 67 In diesem Sinne LSG Berlin-Brandenburg, PharmR 2015, 515 (519 f.); gegen eine Beurteilung als Beweislastregelung Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 92 SGB V Rn. 8d; offen gelassen in BSG, Urteil vom 28.09.2016 – B 6 KA 25/15 R, Rn. 51 bei juris.de. 68 Hauck, GesR 2011, 69 (70 f.); Huster, GesR 2011, 76 (79); hierzu jüngst BSG, Urteil vom 28.09.2016 – B 6 KA 25/15 R, Rn. 51 bei juris.de. 69 Vgl. Hauck, GesR 2011, 69 (71) mit Hinweis zur diesbezüglichen älteren BSG-Rechtsprechung in Fn. 29. 70 Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 92 SGB V Rn. 8c. 71 Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 92 SGB V Rn. 8c. 72 S.  Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss), BT-Drs. 17/3698 S. 75.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Zusatznutzen haben. Diese Auslegung entspricht nur dann dem Gesetzeszweck, wenn ein Vergleich gegenüber allen verfügbaren Vergleichstherapien vorgenommen worden ist und sämtliche einen höheren Zusatznutzen haben. Die Gesetzesbegründung geht nämlich davon aus, dass ein fehlender Zusatznutzennachweis nur zu einem Verordnungsausschluss führen soll, wenn das Arzneimittel höhere Kosten als die Vergleichstherapien verursacht, da die Zweckmäßigkeit des Arzneimittels an sich durch die Zulassung erwiesen sei.73 Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Unzweckmäßigkeit erfordern muss, dass das Arzneimittel allen Vergleichs­ therapien unterlegen ist. Dieser Aspekt werde nämlich mit der Zulassungsentscheidung nicht beurteilt.74 Folglich müsste der GBA für die Feststellung der Unzweckmäßigkeit einen Zusatznutzenvergleich mit allen anderen in Betracht kommenden Vergleichstherapien durchführen. Dies dürfte methodisch zu einer Zusatznutzenbewertung entsprechend den Anforderungen des § 35a SGB V führen, wobei anders als im Falle des § 35a SGB V Zweifel über den Zusatznutzen dazu führen, dass kein Verordnungsausschluss erfolgen darf. In diesem Falle kann jedoch über den Kostenvergleich ein Verordnungsausschluss wegen verfügbarer wirtschaftlicherer Therapieoptionen erfolgen. Dabei ist jedoch gem. § 92 Abs. 2 Satz 11 SGB V der Vorrang von Instrumenten zur Arzneimittelpreisregulierung zu beachten. b) Unzweckmäßigkeitsnachweis durch Versorgungsstudien Ferner kann ein Verordnungsausschluss über den Weg des § 92 Abs. 2a SGB V erfolgen. Diese gleichfalls mit dem AMNOG eingeführte Bestimmung ermächtigt den GBA, vom pharmazeutischen Unternehmer ergänzende versorgungsrelevante Studien fordern. Hierzu muss der GBA das Benehmen mit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und der zuständigen Bundesoberbehörde herstellen und eine angemessene Frist bestimmen. Die Beschlussfassung nach § 92 Abs.  2a SGB  V erfolgt unter entsprechender Anwendung der formellen Anforderungen des § 92 Abs. 3a SGB V, sodass ein vorheriges Stellungnahmeverfahren durchzuführen ist. Werden die ergänzenden Studien nicht oder nicht rechtzeitig vorgelegt, kann der GBA das Arzneimittel unabhängig von der Beweislastverteilung des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V von der Verordnung ausschließen oder insoweit Beschränkungen anordnen. Ferner wird vertreten, dass im Falle einer ordnungsgemäß durchgeführten Studie nach § 92 Abs. 2a SGB V eine Verordnungsbeschränkung auch dann möglich ist, wenn die Studie keinen Nutzen belegt.75 Diese Rechts-

73 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14.  Ausschuss), ­BT-Drs. 17/3698 S. 75. 74 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14.  Ausschuss), ­BT-Drs. 17/3698 S. 75. 75 Hauck, GesR 2011, 69 (71); Huster, GesR 2011, 76 (79); Schmidt-De Caluwe, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 92 Rn. 26; Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 92 SGB V Rn. 39a.

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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folge widerspricht der Regelung in § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V zur Darlegungslast für Verordnungsbeschränkungen. Sie wird jedoch mit dem Argument begründet, dass § 92 Abs. 2a SGB V insoweit eine Spezialregelung darstelle.76 Die vom GBA geforderten Studien dienen nach § 92 Abs. 2a Satz 1 a. E. SGB V in der Tat zur Bewertung der Zweckmäßigkeit des Arzneimittels. Somit wird nach dieser Auffassung lediglich die Rechtsfolge des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V beibehalten, während die Tatbestandsvoraussetzungen im Wege der teleologischen Auslegung dem § 92 Abs. 2a SGB V entnommen werden. 6. Therapiehinweise, Preisvergleiche Therapiehinweise sind Empfehlungen über die wirtschaftliche Verordnungsweise von Arzneimitteln. Sie betreffen somit nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ der Arzneimittelverordnung und beschränken nicht die generelle Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels.77 Sie werden nach § 92 Abs. 2 SGB V vom GBA erlassen. Nach § 73 Abs. 8 Satz 1 SGB V sind auch Hinweise über die wirtschaftliche Verordnungsweise und den therapeutischen Nutzen von Arzneimitteln auf regionaler Ebene durch die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen vorgeschrieben, die gleichfalls die Funktion von Therapiehinweisen erfüllen können. a) Therapiehinweise des Gemeinsamen Bundesausschusses Die Regelung des § 92 Abs. 2 SGB V sieht vor, dass der GBA in seiner Arzneimittelrichtlinie Therapiehinweise zu geben hat. Die ursprüngliche Fassung der Ermächtigungsgrundlage für Therapiehinweise gab dem GBA auf, eine Preisvergleichsliste für Festbetragsarzneimittel zu führen, die zusätzlich die therapie­ gerechten Verordnungsmengen angibt und besondere Hinweise zur wirtschaftlichen Verordnungsweise sowie zum Nutzenprofil des Arzneimittels auf der Grundlage der Bewertung im Rahmen der Festbetragsgruppenbildung enthalten sollte. In der Gesetzesbegründung zum GRG 1989 wurde ausdrücklich klargestellt, dass die Therapiehinweise keine eigenständige Nutzenbewertung enthalten, sondern das bereits vorhandene Wissen zur Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots aufbereiten sollten.78 Die Therapiehinweise sollen nach Indikationsgebieten und Stoffgruppen gegliedert werden. Sie dürfen zudem nach § 92 Abs. 2 Satz 4 SGB V die Arzneimittel in Gruppen gliedern, die danach unterscheiden, ob ein Arzneimittel 76

Hauck, GesR 2011, 69 (71). Wiegand, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 92 Rn. 44; Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 92 SGB V Rn. 33 f. Zu den mit ihnen verbundenen Problemen, insb. die Frage der Grundrechtsrelevanz für Hersteller, s. BSGE 96, 261 ff.; Schmidt-De Caluwe, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 92 Rn. 22 f.; Fuerst, GesR 2010, 183 (187 f.). 78 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) zum GRG, BT-Drs. 11/3480 S. 59 (zu § 100 Abs. 2). 77

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

allgemein zur Behandlung geeignet ist, nur einem Teil der Patienten oder bestimmten Behandlungsfällen vorbehalten bleiben sollte oder einer besonderen Aufmerksamkeit auf Grund von bekannten Risiken oder einer zweifelhaften therapeutischen Zweckmäßigkeit bedarf. Die Preisvergleichsliste ist durch die mittlerweile flächendeckend verbreitete Informationstechnologie in den Arztpraxen überflüssig geworden. Die Regelung des § 73 Abs. 9 Satz 1 SGB V sieht vor, dass Vertragsärzte für ihre Arzneimittelverordnungen nur speziell lizensierte Praxissoftware verwenden dürfen. Programme, die diesen Anforderungen genügen, müssen die Informationen über eine wirtschaftliche Verordnungsweise, die sich aus den Therapiehinweisen des GBA und den Vereinbarungen auf der Ebene der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung ergeben, enthalten und auch über bestehende Rabattverträge Auskunft geben. Deswegen hat der Gesetzgeber des AMNOG die Preisvergleichsliste abgeschafft.79 Über die Therapiehinweise in den Zusammenstellungen nach § 92 Abs. 2 Satz 1 SGB V hinaus hat sich die Befugnis des GBA zu Therapiehinweisen für einzelne ausgewählte Arzneimittel entwickelt, die mit dem AVWG durch Schaffung des § 92 Abs. 2 Satz 7 SGB V gesetzlich kodifiziert worden ist.80 Für diese Therapiehinweise gelten die Vorschriften zu den Therapiehinweisen nach § 92 Abs. 2 Satz 1 SGB  V entsprechend. Zwischen beiden Arten von Therapiehinweisen bestehen daher kaum Unterschiede. Das einzuhaltende Verfahren zur Beschlussfassung über Therapiehinweise nach § 92 Abs.  3a SGB  V gilt ebenfalls für beide Arten von Therapiehinweisen. Lediglich im Rechtsschutz gegen Therapiehinweise bestehen Unterschiede, da nach § 92 Abs. 3 SGB V die Vorschriften über die Anfechtungsklage nur für Klagen gegen die „Zusammenstellungen der Arzneimittel nach Absatz 2“ entsprechend gelten. Das BSG folgert hieraus, dass die Therapiehinweise nach § 92 Abs. 2 Satz 7 SGB V mit einer Feststellungsklage anzugreifen sind.81 Die Therapiehinweise begründen für sich genommen keine Verbote oder Pflichten für den Vertragsarzt. Er darf daher auch Verordnungsentscheidungen treffen, die den Therapiehinweisen widersprechen. Allerdings ist der Vertragsarzt dennoch gem. § 70 Abs. 1 Satz 2 SGB V an das Wirtschaftlichkeitsgebot aus § 12 Abs. 1 SGB V gebunden, das durch die Therapiehinweise konkretisiert wird. Daher wird in der Rechtsprechung eine Verpflichtung des Vertragsarztes angenommen, den Therapiehinweisen im Regelfall zu folgen, da ansonsten ein Regress im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung in Betracht kommt.82 Will der Vertragsarzt von einem Therapiehinweis abweichen, muss er dies medizinisch begründen können 79

Begründung zum Gesetzentwurf des AMNOG, BT-Drs. 17/2413 S. 27. Wiegand, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 92 Rn. 46; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zum AVWG, BT-Drs. 16/691 S. 17. 81 BSGE 96, 261 (264). 82 BSG, Beschluss vom 06.08.2015 – B 6 KA 6/15 B, Rn. 11 bei juris.de; Sächsisches LSG, Urteil vom 10.12.2014 – L 8 KA 15/13, Rn. 35, 39 f. bei juris.de. 80

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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und die entsprechenden Tatsachen hinreichend dokumentieren, um im Prüfverfahren nach § 106 Abs. 2 SGB V die entsprechende medizinische Notwendigkeit darlegen zu können. Die Rechtsprechung tendiert für die Begründung der medizinischen Notwendigkeit zu einer entsprechenden Anwendung der Maßstäbe des § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V.83 b) Verordnungshinweise auf regionaler Ebene Auf der Ebene der einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen existieren gleichfalls Instrumente der Arzneimittelsteuerung, die an den Nutzen von Arzneimitteln anknüpfen. Auf der regionalen Ebene erfolgen nach der gesetzgeberischen Konzeption nicht nur umsetzende Akte der Bundesmantelverträge, sondern auch eigenständig gestaltende Vereinbarungen zwischen den Akteuren. Die Vertragsparteien der dortigen Kollektivverträge sind die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung und die Landesverbände der Krankenkassen. Ihr Hauptinstrument ist der Gesamt­vertrag für den Bezirk einer Kassenärztlichen Vereinigung gem. § 83 SGB V, wodurch im Rahmen des Bundesmantelvertrags die leistungserbringerrechtlichen Einzelheiten über die Versorgung der Versicherten festgelegt werden. Ihre Regelungsinhalte sind die Durchführung und die Vergütung der vertragsärztlichen Versorgung.84 Neben den Therapiehinweisen des GBA können auf der Ebene der einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen Hinweise zur wirtschaftlichen Verordnungsweise und insbesondere zum therapeutischen Nutzen von Arzneimitteln erlassen werden. Die Rechtsgrundlage für diese Form der Therapiehinweise findet sich in § 73 Abs. 8 Satz 1 SGB V. Danach haben u. a. die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen die Vertragsärzte auch über preisgünstige verordnungsfähige Leistungen zu informieren sowie nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse Hinweise zu Indikation und therapeutischem Nutzen zu geben. Diese Hinweise sind Teil eines Regulierungsinstrumentariums im Bereich der Arzneimittelvereinbarungen, das auf regionaler Ebene verhandelt und beschlossen wird. Anders als im Falle der Therapiehinweise des GBA sieht das Gesetz für die Therapiehinweise auf regionaler Ebene kein spezielles Verfahren für ihre Erarbeitung und ihren Erlass vor. Insbesondere können externe Sachverständige eingebunden werden, wodurch zusätzliches Wissen einbezogen werden kann, aber gleichzeitig die Gefahr eines Widerspruchs zu den bundeseinheitlichen Therapiehinweisen und

83 Sächsisches LSG, Urteil vom 10.12.2014 – L 8 KA 15/13, Rn. 46 bei juris.de; vgl. Francke, MedR 2006, 683 (688). 84 S. dazu Freudenberg, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 83 Rn. 38 ff.; Sproll, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, 96. EL 2017, § 83 SGB V Rn. 7 ff.; Scholz, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 83 Rn.  7; Hess, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 83 SGB V Rn. 3 ff.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Verordnungsanforderungen entsteht.85 Insoweit haben die regionalen Akteure die Verbindlichkeit der Richtlinien des GBA gem. § 91 Abs. 6 SGB V zu beachten. Eine entsprechende Regelung sieht § 81 Abs. 3 Nr. 2 SGB V vor.86 Dies bedeutet, dass die Therapiehinweise des GBA als Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots insoweit Bindungswirkung für die regionalen Therapiehinweise entfalten. Allerdings fehlt es nach wie vor an einer Dogmatik zum Verhältnis dieser Steuerungsinstrumente zueinander sowie zu dem Vorrangverhältnis im Falle neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse oder einer Veränderung des Versorgungsstandards.87 Den GBA trifft zwar insoweit als Normsetzer eine Beobachtungspflicht, da die Therapiehinweise als Rechtsnormen wirken,88 doch könnten regionale Therapiehinweise in Einzelfällen schneller angepasst werden. Insoweit sprechen jedoch die Rechtssicherheit durch eine bundeseinheitliche Beurteilung der Arzneimittel durch den GBA sowie der Gedanke eines prozeduralen Individualrechtsschutzes der Betroffenen durch die Verfahrensvorschrift des § 92 Abs. 3a SGB V für einen Vorbehalt des Therapiehinweises durch den GBA. Den regionalen Parteien verbleibt insoweit eine Konkretisierung der bundeseinheitlichen Therapiehinweise anhand regionaler Steuerungsbedürfnisse, aber keine eigenständige Beurteilung des Nutzens oder der Wirtschaftlichkeit eines Arzneimittels. 7. Arzneimittelvereinbarungen Nach § 84 SGB V haben die Landesverbände der Krankenkassen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen auf regionaler Ebene Arzneimittelvereinbarungen abzuschließen. Arzneimittelvereinbarungen umfassen nach § 84 Abs. 1 Satz 2 SGB V ein Ausgabenvolumen für die Arzneimittelverordnungen, die Festlegung von Versorgungs- und Wirtschaftlichkeitszielen sowie konkrete Maßnahmen, um diese Ziele zu erreichen, und schließlich Kriterien für Sofortmaßnahmen, um die Einhaltung der Versorgungsziele innerhalb des laufenden Kalenderjahres zu erreichen. Die Versorgungs- und Wirtschaftlichkeitsziele sollen nach der gesetzlichen Regelung insbesondere durch Verordnungsanteile von bestimmten Wirkstoffen und Wirkstoffgruppen erreicht werden, wozu auch Generikaquoten zählen können. Dies bedeutet, dass in bestimmten Anwendungsgebieten eine bestimmte Anzahl von Verordnungen auf Wirkstoffe entfallen soll, die generisch verfügbar sind. Zu den Versorgungszielen kann ferner die Vermeidung der Verordnung von Arzneimitteln, deren therapeutischer Nutzen fragwürdig ist, zählen.89 Die Arzneimittelvereinbarungen zählen zum Bereich der Regulierung der GKVLeistungen durch die Selbstverwaltung von Kassenärztlichen Vereinigungen und 85

Vgl. Koch / Tschammler, PharmR 2014, 445 (447 f.). Koch / Tschammler, PharmR 2014, 445 (450). 87 S. Koch / Tschammler, PharmR 2014, 445 (450). 88 BSGE 96, 261 (264). 89 Freudenberg, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 84 Rn. 33. 86

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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Krankenkassenverbänden. Sie werden kollektivvertraglich vereinbart,90 unterliegen aber einem Kontrahierungszwang. Nach § 84 Abs. 1 Satz 1 SGB V besteht eine Abschlusspflicht für das Folgejahr bis zum 30. November eines jeden Kalenderjahres. Kommt eine Arzneimittelvereinbarung bis dahin nicht zustande, gilt die Vereinbarung des Vorjahres im Folgejahr fort, bis sich die Parteien entweder geeinigt haben oder eine Schiedsstelle entschieden hat. Mit den Arzneimittelvereinbarungen soll ein wirtschaftliches Verordnungsverhalten bei den Vertragsärzten bewirkt werden. Insoweit wird das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V auch durch dieses Steuerungsinstrument konkretisiert.91 Die Arzneimittelvereinbarungen haben dementsprechend, so wie andere vertragsarztrechtliche Steuerungsinstrumente wie die Verordnungshinweise nach § 73 Abs. 8 Satz 1 SGB V auch, einen zunehmenden Fokus auf der Nutzendimension des Wirtschaftlichkeitsprinzips, da die Verordnung eines Arzneimittels mit fragwürdigem oder fehlendem therapeutischen Nutzen als unwirtschaftlich angesehen wird. Dementsprechend werden den Arzneimittelvereinbarungen zunehmend Bewertungen des Nutzens von Arzneimitteln zugrunde gelegt. In den Arzneimittelvereinbarungen werden dabei auch andere Quellen als die Beschlüsse des GBA oder Empfehlungen des IQWiG für die Beurteilung des Nutzens eines Arzneimittels verwendet. Ein bekanntes Beispiel ist die Klassifizierung von Arzneimitteln als Analog- bzw. Me-too-Präparat, die sich auf den jährlichen erscheinenden Arzneiverordnungsreport von Schwabe und Paffrath stützt.92 Die Klassifizierung nach Schwabe und Paffrath wird prominent von der KV Nordrhein verwendet, in anderen KV-Bezirken gelten ähnliche Regelungen, die gleichfalls Quoten für „innovative Arzneimittel“ sowie für Analogpräparate vorsehen.93 Die für mehrere Arzneimittelvereinbarungen relevante Klassifizierung als Analog- bzw. Metoo-Präparate erfolgt dabei anhand der Methodik von Fricke und Klaus.94 Unter 90 S. Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 345 ff., 395; Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 60 ff.; Scholz, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 84 Rn. 3; Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 268. 91 S. LSG Nordrhein-Westfalen PharmR 2007, 434 (437); Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 269. 92 LSG Nordrhein-Westfalen MedR 2008, 108 (109), (112); vgl. Hess, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 84 SGB V Rn. 12; Schneider, Jahrbuch des Sozialrechts 24 (2002), 243 (251 f.). 93 § 4 Abs. 2 der Arznei- und Verbandmittelvereinbarung 2015 der KV Nordrhein i. V. m. der Liste der patentgeschützten Analogpräparate 2015; ähnliche Regelungen beispielsweise in § 4 der Arzneimittelvereinbarung für das Jahr 2015 der KV Hamburg, Anlage 2 zur Arzneimittelvereinbarung der KV Schleswig-Holstein; in anderen KV-Bezirken wurde früher die Me-too-Liste der KV Nordrhein verwendet, mittlerweile jedoch wieder aufgegeben: vgl. § 3 Satz 2 Nr. 5 der Vereinbarung zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung der KV Bremen im Jahr 2011, aber modifiziert durch das Bremer Institut für Klinische Pharmakologie am Klinikum Bremen-Mitte; § 2 Abs. 1 Punkt 3 der Arzneimittelvereinbarung 2011 der KV Sachsen-Anhalt i. V. m. Anlage 2. 94 Dietrich, DÄBl 2001, A 2230 (A 2231); zur Methodik s. den Überblick bei Schröder et al., Report oder Atlas, 2007, S. 121 f.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Analogpräparaten werden patentgeschützte Arzneimittel verstanden, die keinen therapeutischen Zusatznutzen gegenüber bereits am Markt verfügbaren Arzneimitteln aufweisen.95 Die Klassifizierung als Analogpräparat erfordert demnach eine Nutzenbewertung. Diese wird in der Klassifizierung, die den Arzneimittelvereinbarungen zugrunde gelegt wird, somit durch andere Akteure als den GBA oder das IQWiG durchgeführt. Die Gewinnung von Wissen über den Nutzen von Arzneimitteln aus Bewertungsverfahren jenseits der Verfahren des SGB V wirft die Frage auf, inwieweit ergänzende oder abweichende Bewertungsergebnisse zu Beschränkungen des Verordnungsverhaltens der Vertragsärzte verwendet werden können. Gerade vor dem Hintergrund der gesetzlichen Systematik zur Nutzenbewertung wird einer Basierung von Verordnungszielgrößen in Arzneimittelvereinbarungen auf extern generierten Informationsquellen entgegengehalten, dass ein Kompetenzkonflikt zu den Organisationen der Arzneimittelnutzenbewertung nach dem SGB V, d. h. dem GBA und dem IQWiG, entstehe.96 Die Bewertung, ob ein Arzneimittel einen therapeutischen Zusatznutzen besitzt, ist dem GBA oder dem IQWiG zugewiesen. Die §§ 35, 35a SGB V sehen dafür ein ausdifferenziertes Verfahren mit Anhörungs- und Beteiligungsrechten vor. Ferner weist § 139a Abs. 3 SGB V entsprechende Bewertungen außerhalb der Steuerungsinstrumente nach §§ 35, 35a, 92 SGB V dem IQWiG zu, das nach der gesetzgeberischen Konzeption über organisatorische Unabhängigkeit und einen besonders hohen Sachverstand verfügt. Im Übrigen beschließt der GBA Therapiehinweise, nachdem auch dafür ein entsprechendes Verfahren durchlaufen worden ist, und kann nach § 41 der Arzneimittelrichtlinie auch selbst Analogpräparate in Anlage VIII zur Arzneimittelrichtlinie benennen.97 Werden vergleichbare Bewertungen von einer KV bekannt gegeben und von anderen Forschungseinrichtungen oder einzelnen Wissenschaftlern erarbeitet, ist fraglich, wie die Ergebnisqualität gesichert werden kann. Trotz dieser praktischen Schwierigkeiten im Umgang mit dem extern generierten Wissen wäre jedoch die Annahme einer Sperrwirkung für andere Wissensquellen nicht überzeugend.98 Die Arzneimittelvereinbarungen einschließlich derartiger Me-too-Listen sollen der Verwirklichung des allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebots in der vertragsärztlichen Versorgung mit Arzneimitteln dienen. Das Gesetz sieht insoweit ein Nebeneinander von aggregiertem Wissen auf Bundesebene und auf regionaler Ebene vor. Besonders deutlich wird diese Systematik an der Regelung des § 73 Abs. 8 Satz 2 SGB V, wonach die Informationen über die Wirtschaftlichkeit und den therapeutischen Nutzen von verordnungsfähigen Arzneimitteln „ins 95

Dietrich, DÄBl 2001, A 2230 (A 2231); Reese / Stallberg, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn. 268. 96 Reese / Stallberg, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn. 269. 97 S. Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 92 SGB V Rn. 39 mit Hinweis auf die Wissensdefizite des GBA über zu berücksichtigende Rabatte, wodurch die Aufstellung entsprechender Verordnungshinweise erheblich erschwert werde. 98 S. LSG Bayern, Beschluss vom 28.02.2007, Az. L 12 B 450/06 KA ER, Rn. 53 bei juris.de.

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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besondere“ auf der Grundlage der Hinweise des GBA, der kollektivvertraglichen Rahmenvorgaben gem. § 84 Abs. 7 SGB V sowie der Arzneimittelvereinbarungen nach § 84 Abs. 1 SGB V zu erfolgen haben. Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass die Arzneimittelvereinbarungen eine eigenständige Wissensquelle bilden, die ihrerseits auch eigenständig generiertes Wissen wiedergeben kann. Entsprechend wird § 84 Abs. 1 SGB V auch als eigenständige Ermächtigungsgrundlage für die Durchführung von Bewertungen des Arzneimittelnutzens gesehen.99 Diese Auslegung des § 84 Abs. 1 SGB V dehnt jedoch den Wortlaut und den Sinn und Zweck der Vorschrift sehr weit aus und läuft dadurch Gefahr, zu Verordnungsbeschränkungen Anlass zu geben, die nach § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V dem GBA unter engen materiell-rechtlichen Vorgaben vorbehalten sind. Es spricht daher viel dafür, die Vorschrift in entsprechender Weise zu § 73 Abs. 8 Satz 2 SGB V auszulegen und als ein Instrument zu verstehen, das ergänzende Informationen über Arzneimittel für spezifisch regionale Steuerungsziele heranziehen kann, nicht jedoch als ein zusätzliches Instrument der Nutzenbewertung, da andernfalls ein Wertungswiderspruch zu den differenzierten Regelungen der §§ 35, 35a, 92 SGB V entstehen würde. 8. Aut-idem-Regelung Schließlich besteht auch auf der Ebene der Abgabe eines verordneten Arzneimittels durch die Apotheke eine Form der vergleichenden Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln. Nach § 129 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V sind Apotheker verpflichtet, bei einer Arzneimittelverordnung das preisgünstigste Arzneimittel abzugeben, wenn der Vertragsarzt die Verordnung nur unter dem Wirkstoffnamen getroffen oder die Ersetzung des verordneten Arzneimittels durch ein wirkstoffgleiches Arzneimittel nicht ausgeschlossen hat. Diese Verordnung wird als „aut idem“ bezeichnet, da sich die Verordnung kraft gesetzlicher Anordnung auch auf andere, vergleichbare Arzneimittel mit demselben Wirkstoff erstreckt.100 Nach § 129 Abs. 1 Satz 2 SGB V hat der Apotheker im Falle der aut-idem-Ersetzung ein preisgünstigeres Arzneimittel abzugeben, das mit dem verordneten Wirkstoff in Wirkstärke und Packungsgröße identisch ist und die gleiche oder eine austauschbare Darreichungsform besitzt. Die Austauschbarkeit der Darreichungsform ist gem. § 129 Abs. 1a SGB V durch den GBA zu regeln. Die Einzelheiten zum aut-idem-Austausch werden in einem Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Abs. 2 SGB V zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem Deutschen Apothekerverband e. V. als Spitzenorganisation 99

LSG Nordrhein-Westfalen PharmR 2007, 434 (437); SG Düsseldorf, Urteil vom 28.07.2010, Az. S 14 KA 60/07, Rn. 16 bei juris.de; a. A. Reese / Stallberg, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn. 269. 100 Schneider, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 129 Rn. 27; Axer, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 129 Rn. 17; Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, S. 334 ff.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

der Apotheker vereinbart. Für die aut-idem-Ersetzung von verordneten Arzneimitteln sieht der Rahmenvertrag in § 4 Abs. 1 lit. a vor, dass als „gleicher Wirkstoff“ auch bestimmte chemisch verwandte Substanzen gelten, sofern sich dadurch nicht nach wissenschaftlichen Erkenntnissen ihre Eigenschaften hinsichtlich der Qualität und Wirksamkeit des Stoffes verändern. Die als identisch definierten chemischen Formen des Wirkstoffs entsprechen denjenigen, die in § 16 Abs. 3 VerfO-4 für die Festbetragsgruppenbildung gleichfalls als identisch definiert werden. Auch diese Zusammenfassung unterschiedlicher chemischer Formen als ein Wirkstoff im Rechtssinne steht unter dem Vorbehalt, dass keine therapierelevanten Unterschiede zwischen den chemischen Formen bestehen. Die Regelung zum aut-idem-Austausch von Arzneimitteln erfordert somit eine „umgekehrte Zusatznutzenbewertung“, indem das Fehlen therapierelevanter Unterschiede Tatbestandsvoraussetzung für die Austauschverpflichtung des Apothekers ist. Allerdings erfolgt diese Form der Zusatznutzenbewertung nicht durch eine bestimmte Organisation der GKV, sondern erfordert externes professionelles Wissen, das durch die Apotheker zu generieren und anzuwenden ist. 9. Bewertung eines Arzneimittels nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V Nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V steht die Erbringbarkeit von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der ambulanten Versorgung der Versicherten unter dem Vorbehalt einer positiven Bewertung des diagnostischen bzw. therapeutischen Nutzens durch den GBA. Der Begriff der Untersuchungs- und Behandlungsmethode bezeichnet „eine medizinische Vorgehensweise, der ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zugrunde liegt, das sie von anderen Therapieverfahren unterscheidet, und das ihre systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll“.101 Die Neuheit einer Methode liegt vor, wenn sie bislang nicht als abrechnungsfähige Leistung im Einheitlichen Bewertungsmaßstab für die vertragsärztliche Versorgung enthalten ist bzw. nach dem 01.01.1989 erstmalig als Behandlungsmethode praktiziert wurde.102 Die Definition der Methode als medizinische Vorgehensweise erlaubt es für sich genommen auch, Arzneimittel unter diesen Begriff zu fassen.103 Somit würde sich

101

BSGE 82, 233 (237), BSGE 86, 54 (58); BSGE 88, 51 (60); BSG SozR 4-2500 § 106 Nr. 26 Rn. 31; BSG, Urteil vom 08.07.2015 – B 3 KR 5/14 R, Rn. 32 bei juris.de; Ihle, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 135 Rn. 21; Schmidt-De Caluwe, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 135 Rn. 3; Hauck, NZS 2007, 461 (463). 102 BSG SozR 4-2500 § 106 Nr. 30 Rn. 26; BSG, Urteil vom 08.07.2015 – B 3 KR 5/14 R, Rn. 32 bei juris.de. 103 BSGE 89, 184 (190 f.); Ulmer, in: Eichenhofer / Wenner, SGB V, 2013, § 135 SGB V Rn. 25; Orlowski, in: Orlowski, GKV-Kommentar, 22. Aktualisierung 2011, § 135 SGB V Rn. 4; Fuhrmann / Zimmermann, NZS 2005, 352 (354).

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die Neuheit von Arzneimitteln als Behandlungsmethode nach der erstmaligen Anwendung in Deutschland richten. Nach der Rechtsprechung des BSG fallen zugelassene Fertigarzneimittel nicht in den Anwendungsbereich des § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V. Der Grund hierfür liegt allerdings nach der Rechtsprechung nicht in der Neuheitsdefinition, sondern in der systematischen Auslegung der Vorschriften zur Arzneimittelversorgung in der GKV.104 Die Anwendbarkeit des § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V hat zur Folge, dass die betreffende Methode erst eine positive Nutzenbewertung durch den GBA durchlaufen muss, bevor sie erbracht werden darf. Die Bewertung des therapeutischen Nutzens sowie der Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit der Methode erfolgt nach § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V auf Antrag einer Mitgliedsorganisation des GBA, eines Unparteiischen Mitglieds oder einer Kassenärztlichen Vereinigung. Vor der positiven Bewertung durch den GBA darf die Methode nicht zu Lasten der GKV erbracht werden. Ein Arzneimittel müsste somit bei Anwendbarkeit des § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V neben der Genehmigung zum Inverkehrbringen nach arzneimittelrechtlichen Vorschriften eine weitere Hürde auf dem Weg zur Verordnungsfähigkeit nehmen, um an Versicherte im Rahmen der GKV-Leistungen abgegeben werden zu können. Arzneimittel sind nach §§ 31, 34 SGB V jedoch verordnungsfähig, sofern sie zugelassen und im Regelfall verschreibungspflichtig sowie nicht spezialgesetzlich vom Leistungskatalog ausgeschlossen sind. Hieraus hat das BSG gefolgert, dass eine Anwendbarkeit der Regelung des § 135 Abs.  1 Satz  1 Nr.  1 SGB V nicht gesetzgeberisch intendiert ist, da ansonsten alle neuen Arzneimittel neben der arzneimittelrechtlichen einer zusätzlichen krankenversicherungsrechtlichen „Zulassung“ unterfallen würden, die dieselben Maßstäbe anlegen würde.105 Ferner bestünde eine Doppelung der Nutzenbewertung für Arzneimittel in der GKV. Die Nutzenbewertung für neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erfolgt nach § 11 VerfO-2 auf der Grundlage möglichst hochwertiger Evidenz, namentlich randomisierter kontrollierter klinischer Studien mit patientenrelevanten Endpunkten, die im Versorgungskontext der GKV bewertet werden, wie § 13 VerfO-2 vorsieht. Speziell für Arzneimittel sieht das Gesetz mit §§ 35, 35a, 92 SGB V eigenständige Nutzenbewertungstatbestände vor. Die Anwendbarkeit sowohl des § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V als auch der speziellen Arzneimittelnutzenbewertungstatbestände erschiene demnach redundant. Die Rechtsprechung des BSG hat jedoch zwei Fallkonstellationen entwickelt, in denen dennoch die Anwendbarkeit des § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V auf Arzneimittel bejaht wird. Dies ist zum einen der Fall, wenn ein Fertigarzneimittel Bestandteil eines neuen Behandlungsverfahrens ist, das seinerseits eine Methode darstellt. In diesem Fall wird die Anwendung des Fertigarzneimittels von § 135

104

BSGE 89, 184 (191). BSGE 86, 54 (58); BSGE 89, 184 (191); BSGE 93, 236 (240); noch offengelassen in BSGE 82, 233 (238). 105

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V erfasst. Es benötigt dann kumulativ die arzneimittelrechtliche Zulassung und die positive Bewertung der Anwendung des Arzneimittels als Methode.106 Die zweite Fallgruppe betrifft Rezepturarzneimittel. Diese Arzneimittelgruppe ist nach § 21 Abs. 1 AMG nicht zulassungspflichtig, sondern wird über den Weg der Herstellungserlaubnis nach § 13 AMG reguliert. Das BSG hat entschieden, dass diese Arzneimittel in den Anwendungsbereich des § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V fallen müssen, da andernfalls deren Qualitätskontrolle angesichts der fehlenden Zulassungsprüfung lückenhaft bliebe.107 Hierfür ist jedoch erforderlich, dass dem Arzneimittel tatsächlich ein neues theoretisch-wissenschaftliches Konzept zugrunde liegt.108 Nach der Rechtsprechung des BSG ist die Definition eines neuen therapeutisch-wissenschaftlichen Konzepts jedoch wesentlich am Schutzzweck des § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V ausgerichtet, der darin bestehe, dass keine neuen medizinischen Verfahren ohne hinreichende Prüfung ihres therapeutischen Nutzens und etwaiger gesundheitlicher Risiken in der vertragsärztlichen Versorgung angewendet werden.109 Somit ist das Vorhandensein eines eigenständigen theoretisch-wissenschaftlichen Konzepts dann zu bejahen, wenn die Methode solche Unterschiede in ihrer Wirkungsweise oder Anwendung aufweist, die vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der Norm eine eigene Nutzenbewertung erfordern. Der Begriff der Neuheit, der vom BSG in diesem Zusammenhang ebenfalls keine spezielle Definition erfahren hat, würde jedenfalls solche Rezepturarzneimittel umfassen, die erstmals in Verkehr gebracht werden. Soweit ersichtlich ist es jedoch bislang noch zu keinem Nutzenbewertungsverfahren für ein Rezepturarzneimittel nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V gekommen. 10. Verordnungsfähigkeit in Sonderfällen: Off-label-Use, Systemversagen und Nikolaus-Ausnahme Arzneimittel sind schließlich zu Lasten der GKV in bestimmten Sonderfällen verordnungsfähig, ohne dass die zuvor dargestellten Voraussetzungen der Verordnungsfähigkeit eingehalten sein müssen. Diese Sonderfälle lassen sich in drei Fallgruppen einteilen: Dies sind der Off-Label-Use und Fälle der verfassungskonformen Auslegung des Leistungsrechts der GKV sowie Fälle des Systemversagens.

106

Vgl. BSGE 117, 10 (17). BSGE 82, 233 (238). 108 BSGE 82, 233 (237). 109 BSGE 81, 54 (58); BSG, Urteil vom 08.07.2015 – B 3 KR 5/14 R, Rn. 33 bei juris.de; Vießmann, in: Spickhoff (Hr.), Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 135 SGB V Rn. 6 mit Hinweis auf BSGE 88, 51 (60). 107

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

247

a) Off-Label-Use Als Off-Label-Use wird der zulassungsüberschreitende Gebrauch eines Arzneimittels bezeichnet.110 In der Zulassung werden neben der Beschreibung des Anwendungsgebiets insbesondere die Patientengruppen, die zulassungskonform behandelt werden können, sowie das Therapieschema einschließlich der Dosierung des Arzneimittels bezeichnet. Der Umfang der Zulassung kann schwierig zu ermitteln sein,111 ergibt sich sozialrechtlich jedoch regelmäßig durch Auslegung der gesamten Fachinformation.112 Wie sich aus § 31 Abs. 1 SGB V durch die Vorgabe ergibt, dass ein verordnungsfähiges Arzneimittel apothekenpflichtig sein muss, muss ein Arzneimittel auch zugelassen sein, um zum Leistungsumfang der GKV zu gehören. Arzthaftungsrechtlich ist der Einsatz von Arzneimitteln außerhalb der zugelassenen Indikation erlaubt, in einzelnen Fällen bei Weiterentwicklung des Standes der medizinischen Erkenntnisse sogar geboten.113 Die Leistungspflicht der GKV ist jedoch nach der Rechtsprechung des BSG auf zugelassene Arzneimittel in ihrem Anwendungsgebiet beschränkt.114 Diese Auffassung wird damit begründet, dass es ohne eine Zulassung in der Indikation, in der das Arzneimittel angewendet wird, an der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistung fehle.115 Diese strenge Rechtsprechungslinie hätte jedoch zur Folge, dass in bestimmten medizinischen Therapiegebieten keine Arzneimittelbehandlung zu Lasten der GKV möglich wäre. Dies betrifft insbesondere die Pädiatrie und die Onkologie, in denen es vielfach an für die jeweilige Indikation zugelassenen Arzneimitteln fehlt.116 Daher kann nach der Rechtsprechung des BSG ein zugelassenes Arzneimittel auch außerhalb seiner Zulassung angewendet werden, wenn bestimmte Anforderungen zur Sicherung der Qualität, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit des Off-Label-Use erfüllt werden. Zunächst muss der Einsatz des Arzneimittels zur Behandlung einer schwerwiegenden, d. h. lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankungen dienen. Ferner darf keine andere Therapie im Leistungsumfang der GKV verfügbar sein. Schließlich muss auf Grund der Datenlage zum Einsatz des Arzneimittels in dieser nicht zugelassenen Anwendung die begründete Aussicht bestehen, dass mit dem Arzneimittel ein kurativer oder pallia-

110

Dierks / Finn, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 7 Rn. 16. Dierks / Finn, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 7 Rn. 17. 112 LSG Hamburg, Urteil vom 03.12.2014 – L 5 KA 28/12, Rn. 24 bei juris.de. 113 OLG Köln NJW-RR 1991, 800 (801); OLG Naumburg, Urteil vom 11.07.2006 – 1 U 1/06, BeckRS 2007, 03103, Tz. 2.3; Schroeder-Printzen / Tadayon, SGb 2002, 664 (667). 114 BSG SozR 4–2500 § 106 Nr. 30 Rn. 14; BSGE 109, 211 (213). 115 BSGE 96, 153 (157 f.); BSGE 109, 211 (213); dazu im Einzelnen s. u. C. I. 2. b). 116 Hart, in: Rieger / Dahm / Steinhilper, HK-AKM, 61. Aktualisierung 2015, Nr. 3910 Rn. 5 ff.; Conroy et al., BMJ 2000, 79 (80); Schweim / Behles, Bundesgesundheitsblatt 46 (2003), 499 f.; Tolle / Meyer-Sabellek, Bundesgesundheitsblatt 46 (2003), 504 (506); Niederauer, Gesundheitswesen 72 (2010), 116 (117). 111

248

5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

tiver Behandlungserfolg erzielt werden kann.117 Die begründeten Erfolgsaussichten der Behandlung erfordern nach der Rechtsprechung des BSG entweder die bereits erfolgte Antragstellung bei der Zulassungsbehörde zur Erteilung der Zulassung für das neue Anwendungsgebiet oder gleichwertige Erkenntnisse, die außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind. In inhaltlicher Hinsicht verlangt das BSG, dass klinische Prüfungsergebnisse der Phase III veröffentlicht worden sind, die nach der Beurteilung durch die Sozialgerichte einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen.118 Diese Anforderungen entsprechen im Wesentlichen der Zulassungsreife des Arzneimittels in der Off-Label-Anwendung.119 Eine Ausnahme von diesen Anforderungen an den Nachweis des Nutzens der Off-Label-Anwendung des Arzneimittels besteht jedoch dann, wenn ein sog. Seltenheitsfall vorliegt. Dies ist nach der Rechtsprechung des BSG dann der Fall, wenn die zu therapierende Krankheit so selten ist, dass sie einer systematischen Erforschung von Therapiemöglichkeiten nicht zugänglich ist.120 In diesem Fall genügt es für die Leistungspflicht, dass die ersten beiden Voraussetzungen des Off-Label-Use erfüllt sind, d. h. das Kriterium der Schwere der Krankheit und des Fehlens von Therapiemöglichkeiten. Auch eine subsidiäre Anwendung des § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V als Ersatz für das Fehlen einer Prüfung nach arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards käme nicht in Betracht, da eine Nutzenbewertung nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V gleichfalls voraussetzt, dass die betreffende Methode einer systematischen Erforschung zugänglich ist.121 Mit dem GKV-WSG wurde 2007 in dem früheren § 35b Abs. 3 SGB V a. F. eine gesetzliche Regelung zur Anerkennung des Off-Label-Use eingeführt, die nunmehr in § 35c Abs. 1 SGB V zu finden ist. Danach kann der GBA auf der Grundlage der Empfehlung einer Expertengruppe für den Off-Label-Use beim BfArM in der Arzneimittelrichtlinie den Off-Label-Use bestimmter Arzneimittel zu Lasten der GKV erlauben. Nach § 35c Abs. 1 Satz 1 SGB V können mehrere Expertengruppen berufen werden, mindestens jedoch eine ständige Expertengruppe, die fachgebietsbezogen ergänzt werden kann. Das BMG hat diese Vorgaben durch einen Einrichtungserlass umgesetzt, der unter anderem die Mitgliedschaft in den Expertengruppen regelt. Demnach setzt sich eine Expertengruppe aus mindestens vier, jedoch höchstens acht Experten für das jeweilige Fachgebiet, einem Biostatistiker oder Biometriker sowie zwei Vertretern des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen zusammen.122 Ferner sind jeweils ein Vertreter der Patientenselbsthilfe 117

BSGE 109, 211 (215). BSGE 89, 184 (191 f.); BSGE 97, 112 (117); BSGE 109, 211 (215). 119 BSGE 109, 211 (215). 120 BSGE 93, 236 (243 f.); BSG, Urteil vom 27.03.2007 – B 1 KR 17/06 R, Rn. 17 bei juris. de. 121 BSGE 93, 236 (244 f.). 122 § 2 des Einrichtungserlasses vom 21.10.2009 mit eingearbeitetem Änderungserlass vom 17.10.2013, verfügbar unter http://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/zul/BereitsZugelAM/off Label/Konsolidierter_Erlass.html (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 118

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

249

gruppen und ein Vertreter der pharmazeutischen Industrie nicht stimmberechtigte Mitglieder der Expertengruppen. Die Berufung der Mitglieder durch das BMG erfolgt für drei Jahre. Die Beschlussfassung der Expertengruppen erfolgt auf der Grundlage einer Geschäftsordnung des BfArM mit Zustimmung des BMG und wird durch eine Geschäftsstelle beim BfArM unterstützt.123 Antragsberechtigt für eine Bewertung sind nach § 1 Abs. 3 des konsolidierten Einrichtungserlasses der GBA und das BMG. Die Expertengruppe trifft ihre Bewertungen auf der Grundlage von Aufbereitungen der wissenschaftlichen Erkenntnisse durch externe Sachverständige. Nur in Ausnahmefällen sollen nach § 6 Abs. 2 der Geschäftsordnung stimmberechtigte Mitglieder der Expertengruppe als Sachverständige fungieren. Die methodischen Grundlagen der Aufbereitung erfolgen gemäß einem Methodenpapier der jeweiligen Expertengruppe, das zwischen der Geschäftsstelle, den Expertengruppen und dem GBA abgestimmt sein soll. Die jeweilige Aufbereitung dient der Expertengruppe als Grundlage für die Entwicklung eines Bewertungsvorschlags, der nach § 6 Abs. 5 der Geschäftsordnung zur öffentlichen Stellungnahme gestellt wird. Auf der Grundlage der Stellungnahmen trifft die Expertengruppe ihre Bewertung, ob der Off-Label-Use dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Anwendung des Arzneimittels entspricht. Die genauen Entscheidungsgrundlagen der Expertengruppen sind nicht veröffentlicht. Aus einem älteren Methodenpapier der Expertengruppe Onkologie lässt sich jedoch entnehmen, dass die wissenschaftliche Aufbereitung entsprechend den Vorgaben einschlägiger Leitlinien der FDA, der EMA sowie wissenschaftlicher Fachgesellschaften erfolgen soll. Es soll eine aussagefähige Studie mit positivem Ergebnis über die Anwendung in der Off-Label-Indikation genügen, sofern dem nicht negative Studienergebnisse entgegenstehen.124 Auf der Grundlage des Bewertungsvorschlags der Expertengruppe beschließt der GBA über die Anerkennung des Off-Label-Use. Nach § 47 VerfO-4 übernimmt der GBA die Empfehlungen der Expertengruppen nach einer Plausibilitätsprüfung hinsichtlich der sachgerechten Bearbeitung des Auftrags. Eine positive Entscheidung soll nach § 35c Abs. 1 Satz 7 SGB V nur mit Zustimmung des betroffenen pharmazeutischen Unternehmers erfolgen. Nach § 44 Nr. 1 VerfO-4 ist die Zustimmung des pharmazeutischen Unternehmers jedoch zwingende Voraussetzung für eine positive Beschlussfassung des GBA über die Anerkennung des Off-Label-Use. An der Regelungssystematik, eine Expertengruppe beim BfArM mit der Anerkennung eines sozialrechtlichen Off-Label-Use zu betrauen, wird kritisiert, dass 123

Die Geschäftsordnung ist auf der Website des BfArM unter http://www.bfarm.de/DE/Arz­ neimittel/zul/BereitsZugelAM/offLabel/geschaeftsordnung.html (zuletzt abgerufen am 30.06.2017) verfügbar. 124 Methodenpapier zur Erarbeitung von Bewertungen der Expertengruppe Off-Label für den Fachbereich Onkologie, Stand: 25.01.2011, S. 5 (verfügbar unter http://www.bfarm.de/Shared Docs/Downloads/DE/Arzneimittel/Zulassung/BereitsZugelAM/offlabel/Methoden papierStand_25012011.pdf?__blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgerufen am 30.06.2017).

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

eine Vermischung von zulassungsrechtlichen und krankenversicherungsrechtlichen Elementen der Arzneimittelbewertung erfolge.125 Tatsächlich ist es bedenklich, dass der GBA die Bewertungen der Expertengruppen inhaltlich nicht prüft, sondern nur die sachgerechte Bearbeitung der Anfrage im Wege einer Plausibilitätsprüfung kontrolliert. Dadurch wird die Sachentscheidung auf die Expertengruppe delegiert. Diese arbeitet zwar nach einem pluralen, partizipativen und sachverständig beratenen Entscheidungsmodus, der sich auf internationale methodische Standards stützt, doch erfolgt keine Bindung an die methodischen Standards des SGB V. Somit wird der Leistungsumfang der GKV in diesem Bereich der Off-Label-Verordnung durch systemfremde Akteure mit eigenständigen methodischen Entscheidungsgrundlagen getroffen. Durch die Anknüpfung an Bewertungsstandards der Arzneimittelzulassungsbehörden Europas und der USA wird jedoch gewährleistet, dass eine Prüfung des Off-Label-Use anhand der Kriterien des Zulassungsrechts erfolgt, wie es das BSG im Kern gleichfalls verlangt. Im Unterschied zum sozialgerichtlichen Erkenntnisverfahren ist das gestufte Verfahren mit einer Aufbereitung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes durch externe Sachverständige, dem öffentlichen Stellungnahmeverfahren sowie der pluralen Besetzung der die Bewertung treffenden Expertengruppe aus der Perspektive der wissenschaftlichen Sachrichtigkeit als überlegen einzuschätzen. Vor dem Hintergrund der Entscheidungszuständigkeiten im GKV-Recht wäre eine Letztverantwortung des GBA, ähnlich dem Umgang mit Empfehlungen des IQWiG, wünschenswert. Nach § 35c Abs. 2 SGB V ist es schließlich möglich, dass die Kosten für zugelassene Arzneimittel im Rahmen einer klinischen Prüfung für ein anderes Anwendungsgebiet von der GKV übernommen werden. Die Regelung gilt nicht für klinische Studien mit noch gar nicht in Deutschland oder zentral zugelassenen Arzneimittel. Der Gesetzgeber hat die Vorschrift eingeführt, um die klinische Erprobung von Arzneimitteln in Anwendungsgebieten zu fördern, in denen es typischerweise an zugelassenen Arzneimitteln fehlt.126 Auch in diesem Fall des Off-Label-Use ist die Therapie einer schwerwiegenden Erkrankung Tatbestandsvoraussetzung, wobei es im Gegensatz zu dem richterrechtlichen Off-Label-Use ausreicht, dass eine therapierelevante Verbesserung durch das sich in Erprobung befindliche Anwendungsgebiet zu erwarten ist. Das gänzliche Fehlen von Behandlungsalternativen ist somit weder in § 35c Abs. 1 noch in Abs. 2 SGB V Voraussetzung für den gesetzlich geregelten Off-Label-Use. Nach den Verfahrensvorschriften des § 35c Abs. 2 SGB V muss der GBA mindestens zehn Wochen vor Beginn der Arzneimittelversorgung zu Lasten der GKV benachrichtigt werden. Der GBA kann der Arzneimittelversorgung binnen acht Wochen nach Eingang der Mitteilung widersprechen. Sofern die klinische Prüfung einen entscheidenden Beitrag für die Erweiterung der Zulassung des Arzneimittels leistet, hat der pharmazeutische Unternehmer den Krankenkassen die Verordnungskosten zu erstatten. 125

Beck, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 35c Rn. 14. Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zum Gesetzentwurf des GKVWSG, BT-Drs. 16/4247, S. 33. 126

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

251

b) Systemversagen Mit der Figur des Systemversagens wird die Konstellation in der GKV bezeichnet, dass der Leistungsanspruch eines Versicherten wegen eines Mangels im Leistungssystem der GKV nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden kann.127 Es handelt sich hierbei beispielsweise um willkürlich nicht eingeleitete Verfahren oder Verzögerungen bei der Bewertung neuer Methoden gem. § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V oder der Schaffung von erforderlichen Gebührenordnungspositionen im EBM.128 Die Rechtsgrundlage des Kostenerstattungsanspruchs im Falle des System­ versagens findet sich in § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Der Versicherte hat in diesem Fall unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V einen sachleistungsersetzenden Anspruch auf Kostenerstattung oder Freistellung von den Kosten für die selbstbeschaffte Leistung.129 Hierzu ist es erforderlich, dass ein entsprechender Primärleistungsanspruch auf die Leistung besteht, die Leistung notwendig war und dem Versicherten eine Kostenbelastung wegen der Selbstbeschaffung der Leistung entstanden ist. Ferner muss die Leistung entweder medizinisch unaufschiebbar gewesen sein oder die Krankenkasse muss einen Antrag des Versicherten auf die Leistung zu Unrecht abgelehnt haben.130 Die Anwendbarkeit der Regelung des Systemversagens gem. § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V auf Fertigarzneimittel wird vom BSG jedoch verneint.131 Ein Anspruch komme lediglich in Betracht, wenn es sich um nicht um ein Fertigarzneimittel handle oder die Arzneimittelanwendung mit einer Methode verknüpft ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass im Regelfall für die Versorgung mit Arzneimitteln Spezialregelungen bestehen, die die Kostenübernahme durch die GKV regeln. Die Versorgung mit Arzneimitteln bedarf somit regelmäßig keiner Entscheidung oder Bewertung eines Systemakteurs, die Anlass für ein Systemversagen geben könnte. Allerdings besteht insoweit eine Ausnahme in § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V, denn der GBA hat nach dieser Regelung darüber zu entscheiden, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel als Therapiestandard bei schwerwiegenden Erkrankungen verordnungsfähig sind. Insoweit kommt eine willkürliche oder stark verzögerte Beschlussfassung in Betracht, sodass auch die Grundsätze des Systemversagens anwendbar sein können. In den Fällen des Systemversagens findet eine Nutzenbewertung inzident innerhalb der Prüfung des Primärleistungsanspruchs statt, indem die Sozialgerichts­ barkeit zu prüfen hat, ob das Arzneimittel den Leistungsvoraussetzungen entspricht, insbesondere § 12 Abs. 1 SGB V. Insoweit gelten dieselben Maßstäbe, die für den Leistungsanspruch außerhalb des Systemversagensfalles anzuwenden wären. 127

Schifferdecker, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 13 SGB V Rn. 66. BSGE 81, 54 (65); BSGE 109, 211 (218); BSGE 113, 241 (245). 129 BSG, Urteil vom 02.09.2014 – B 1 KR 11/13 R, Rn. 16 bei juris.de. 130 Schifferdecker, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 13 SGB V Rn. 64, 73 ff.; Helbig, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 13 Rn. 36, 46. 131 BSGE 109, 211 (218). 128

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

c) Verfassungskonforme Auslegung der Leistungsvorschriften Schließlich können Arzneimittel im Wege des § 2 Abs. 1a SGB V verordnungsfähig sein. Diese Vorschrift setzt den sog. Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 um. Demnach erfordern die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip sowie aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass die GKV im Falle einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, jede medizinische Leistung erbringen muss, die eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bietet.132 Diese nicht ganz entfernt liegende Aussicht ist im Streitfall durch Sachverständige zu ermitteln. Es genügt dabei, wenn sich ernsthafte Hinweise auf einen Therapieerfolg im Sinne der Heilung oder spürbaren positiven Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im Einzelfall ergeben. Insbesondere der Veränderung des Gesundheitszustands des konkreten Versicherten kommt dabei Bedeutung zu, ferner Fallserien oder Vergleiche auch des einzelnen Versicherten mit historischen Kohorten oder in der Literatur berichteten Verlaufsformen.133 Diese Anforderungen an einen Nutzennachweis im einzelnen Behandlungsfall weichen erheblich von den Kriterien des Nutzennachweises gemäß den international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin ab. Insbesondere hat das BVerfG für den entschiedenen Fall einem statistischen Nachweis des Nutzens eine Absage erteilt und auf den konkreten Einzelfall, zu beurteilen durch Sachverständige, verwiesen. Mit dem GKV-VStG ist in Gestalt des § 2 Abs. 1a SGB V eine gesetzliche Umsetzung des Nikolaus-Beschlusses erfolgt. Im Unterschied zum Tenor des BVerfG sind von § 2 Abs. 1a SGB V nicht nur lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankungen umfasst, sondern auch „zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankungen“. Mit dieser Erweiterung sollen nach der Gesetzesbegründung schwerwiegende körperliche Beeinträchtigungen wie der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion erfasst werden.134 Sind die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V erfüllt, erteilt die Krankenkasse dem Versicherten gem. § 2 Abs. 1a Satz 3 SGB V auf Antrag des Versicherten selbst oder des Leistungserbringers eine Kostenübernahmeerklärung. Im Rahmen des § 2 Abs. 1a SGB V ist eine Abwägung zu leisten zwischen der Schwere der Erkrankung und den Anforderungen an die Ergebnissicherheit der Nutzenbelege.135 Demnach ist eine umso größere Unsicherheit hinzunehmen, je schwerer der Erkrankungsverlauf ist. Aus diesem Abwägungsprinzip könnte zu fol 132

BVerfGE 115, 25 Ls. 1. BVerfGE 115, 25 (50). 134 Gesetzentwurf der Bundesregierung zum GKV-VStG, BT-Drs. 17/6906, S. 53. 135 Gesetzentwurf der Bundesregierung zum GKV-VStG, BT-Drs. 17/6906, S. 53. 133

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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gern sein, dass auch die weiteren leistungsrechtlichen Voraussetzungen für die jeweilige Behandlung suspendiert werden können, wenn die Schwere der Erkrankung dies erfordert. Demgegenüber hat das BSG in einer Entscheidung zum Off-LabelUse jedoch Grenzen gezogen und die Auffassung vertreten, dass bestimmte Leistungsanforderungen der GKV ihrerseits dem Gesundheitsschutz des Versicherten dienen und damit die Schutzdimension des Grundrechts aus Art.  2 Abs.  2 Satz  1 GG wahren.136 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsprechung gebilligt und ausgesprochen, dass auch im Anwendungsbereich des § 2 Abs.  1a SGB V leistungsrechtliche Anforderungen zur Wahrung des Wirtschaftlichkeitsgebots Geltung beanspruchen können.137 Zugleich stehen die Aussagen des BSG zum Gesundheitsschutz durch das Zulassungsverfahren im Zusammenhang mit einer Abwägungsentscheidung. So ist der Verzicht auf die Schutzfunktion der Zulassung gerade für den Patienten in Verhältnis zu dem Krankheitsverlauf zu setzen. Das BSG geht somit in notstandsähnlichen Situationen, wenn dem Patienten also angesichts des unmittelbaren Bevorstehens eines schwerwiegenden Gesundheitsschadens keine Zeit zum Abwarten verbleibt, davon aus, dass auch nicht zugelassene Arzneimittel angewendet werden können.138 Aus der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG in Verbindung mit der Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V ergibt sich somit ein rechtsgüterschutzorientierter Ansatz zum Umgang mit den methodischen Anforderungen der evidenzbasierten Medizin in der Nutzenbewertung. Während eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne der Off-Label-Use-Rechtsprechung für die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels die Einhaltung des Zulassungsstandards erfordert, sind die qualifiziert schwerwiegenden Erkrankungen im Sinne des § 2 Abs.  1a SGB V von diesem Nutzennachweisniveau befreit. Es ist in diesem Falle lediglich der Nachweis einer Aussicht auf einen Therapieerfolg im Einzelfall erforderlich, doch es verbleibt bei der institutionellen Sicherung des Erfordernisses einer Zulassung mit Geltung für das Inland. Von diesem Erfordernis wiederum kann in besonders dringlichen, notstandsähnlichen Situationen aus Gründen des Rechtsgüterschutzes weitergehend abgewichen werden. Insgesamt zeigt sich somit das Bild eines dynamischen, abwägungsorientierten Umgangs mit den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin im institutionellen Gespräch zwischen BVerfG, BSG und dem parlamentarischen Gesetzgeber.

III. Das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V müssen die Leistungen der GKV ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Ferner dürfen sie das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Dieses allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot, das seit der 136

BSG SozR 4–2500 § 31 Nr. 8 Rn. 19. BVerfG NJW 2008, 3556 (3557). 138 BSG SozR 4–2500 § 31 Nr. 8 Rn. 20. 137

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Erstfassung des SGB V im Kern unverändert besteht, ist eine Kombination aus zwei Vorläufervorschriften, die Wirtschaftlichkeitsanforderungen jeweils für einen Leistungsbereich definiert haben: § 182 Abs.  2 RVO für die Krankenhilfe und § 368e RVO für die wirtschaftliche Verordnungsweise durch Kassenärzte.139 Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist durch das SGB V an den Anfang des Gesetzes gestellt worden und gilt nunmehr für alle Leistungsbereiche der GKV. Der Gesetzgeber des SGB V hat die Begriffselemente des Wirtschaftlichkeitsgebots bereits aus den Vorläufervorschriften übernommen. Es handelt sich tatbestandlich um vier Anforderungen an GKV-Leistungen: sie müssen ausreichend sein und den Kriterien der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit genügen, und sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. 1. Die Tatbestandsmerkmale des Wirtschaftlichkeitsgebots a) „ausreichend“ Eine Leistung ist ausreichend, wenn Art und Umfang genügen, um die jeweilige Zielsetzung der Leistung zu erreichen. Dies wird ex ante beurteilt. Es handelt sich bei der Frage, ob ein medizinischer Behandlungserfolg durch die Leistung in ihrer konkreten Erbringung erreicht werden kann, um eine allein medizinische Entscheidung, ohne dass medizinexterne Werturteile Einfluss nehmen würden.140 Dadurch definiert eine ausreichende Leistung die Untergrenze der Krankenbehandlung, mit anderen Worten einen Mindeststandard.141 b) „Maß des Notwendigen“ Die Leistung darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Dieses Tatbestandsmerkmal beschreibt eine Obergrenze der Krankenbehandlung, einen Maximalstandard. Das BSG umschreibt die Notwendigkeit durch „unentbehrlich, unvermeidlich oder unverzichtbar“. Somit kann der Versicherte nicht jede Leistung, die möglich und wünschenswert wäre, verlangen, sondern muss sich auf nicht verzichtbare Leistungen beschränken lassen.142 Mit dem Merkmal der Notwendigkeit ist begriffsimmanent die Möglichkeit einer Wertung über medizinische Fakten verbunden: Handelt es sich um die Definition eines Maximalstandards, muss es 139 S. Entwurf zum GRG in BT-Drs. 11/2237 S. 163; Wagner, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, 96. EL 2017, § 12 SGB V Rn. 2; Engelhard, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 12 Rn. 3. 140 S. Joussen, in: Rolfs / Giesen / Kreikebohm / Udsching, BeckOK SGB V, 45. Edition 2017, § 12 Rn. 4; Roters, Die gebotene Kontrolldichte, 2003, S. 204. 141 Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 12 SGB V Rn. 26. 142 S. BSG SozR 4–2500 § 27 Nr. 2 Rn. 8; BSG SozR 3–2500 § 33 Nr. 45 S. 255 f.

A. Regulierungsinstrumente der Arzneimittelversorgung

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darüber hinausgehende Leistungen geben, die medizinisch sinnvoll wären, die aber aus bestimmten Gründen als verzichtbar bewertet werden.143 Teilweise werden unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit auch die Kosten einer Leistung diskutiert: Eine Leistung sei nur notwendig, wenn sie unter den ausreichenden und zweckmäßigen die kostengünstigste sei.144 Diese Bewertung ist jedoch dem Merkmal der Wirtschaftlichkeit vorbehalten. c) „zweckmäßig“ Damit eine Leistung zweckmäßig ist, muss sie in Hinblick auf eines der Thera­ pieziele der GKV hinreichend wirksam sein.145 Zweckmäßigkeit wird auch mit Eignung zur Erreichung der in § 27 Abs.  1 Satz  1 SGB  V genannten Ziele der Krankenbehandlung gleichgesetzt.146 Das Merkmal der Zweckmäßigkeit weist eine besondere Differenzierung auf: Wird es auf eine konkrete Leistung im Einzelfall bezogen, dann ist die nicht zweckmäßige Leistung weder notwendig noch wirtschaftlich. Bezieht es sich dagegen auf eine Leistung in ihrer allgemeinen Anwendung, also ob sie nicht nur im Einzelfall, sondern generell hinreichend wirksam ist, gewinnt das Merkmal der Zweckmäßigkeit einen eigenständigen Bedeutungsgehalt. Eine Leistung könnte dann zwar generell zweckmäßig, aber im konkreten Behandlungsfall nicht notwendig oder unwirtschaftlich sein. Die Bewertung, ob eine Leistung generell zweckmäßig ist, ist im SGB V speziell geregelt.147 Das Gesetz unterscheidet zwischen verschiedenen Leistungsarten und sieht jeweils eigene Prüfungs- und Evaluationssysteme vor. Daher wird die Zweckmäßigkeit außer in Ausnahmesituationen wie dem Systemversagen nicht unmittelbar anhand des § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V geprüft, sondern anhand der speziellen, konkretisierenden Zweckmäßigkeitsregelung.148 d) „wirtschaftlich“ Als Tatbestandsmerkmal des Wirtschaftlichkeitsgebots nennt § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V auch die Wirtschaftlichkeit einer Leistung selbst. Sie wird daher auch als „Wirtschaftlichkeit im engeren Sinne“ bezeichnet. Wirtschaftlich ist eine Leistung, 143

Dazu Francke / Hart, MedR 2008, 2 (22). Joussen, in: Rolfs / Giesen / Kreikebohm / Udsching, BeckOK SGB V, 45. Edition 2017, § 12 Rn. 9; Fastabend, NZS 2002, 299 (302). 145 BSGE 73, 271 (279); Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 12 SGB V Rn. 28; Engelhard, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 12 Rn. 53; Roters, Die gebotene Kontrolldichte, 2003, S. 205, 211. 146 Engelhard, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 12 Rn. 53. 147 Francke / Hart, MedR 2008, 2 (22). 148 Vgl. Engelhard, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 12 Rn. 55. 144

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

wenn ihr Ertrag in einem angemessenen Verhältnis zu ihren Kosten steht. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn sie die günstigste von ansonsten gleich wirksamen Leistungen ist. Ebenso ist eine Leistung unwirtschaftlich, wenn sie nicht ausreichend, notwendig oder zweckmäßig ist. Umstritten ist, ob darüber hinaus die Kosten in ein Verhältnis zur Wirksamkeit gesetzt werden können mit der Folge, dass bestimmte Behandlungserfolge als zu teuer angesehen werden, um sie überhaupt zu erbringen. Fraglich ist also, ob die Prüfung der Wirtschaftlichkeit zu Leistungsausschlüssen aus Kostengründen, zu einer Rationierung ermächtigt. Bisher bestand Einigkeit, dass eine Betrachtung der Kosten nur bei der Auswahl unter mehreren, gleich wirksamen Leistungen zulässig ist.149 Einige Stimmen halten es darüber hinaus für zulässig, nicht nur bei mehreren gleich wirksamen, sondern bei mehreren überhaupt wirksamen Leistungen die Kosteneffektivität zu prüfen: Die Kosten pro Quantität einer Leistung sind in ein Verhältnis zum voraussichtlichen Behandlungserfolg zu setzen, und nur die kosteneffektivste Leistung ist dann wirtschaftlich.150 Dies kann dazu führen, dass ein zusätzlicher Gewinn an Heilerfolg in Verhältnis zu den Kosten deutlich teurer ist als bei einer weniger wirksamen, aber sehr viel preiswerteren Behandlung. Der zusätzliche Heilerfolg wäre dann sprichwörtlich zu teuer erkauft und daher unwirtschaftlich. 2. Verhältnis der Tatbestandsmerkmale zueinander und zum Nutzenbegriff Die einzelnen Merkmale des Wirtschaftlichkeitsgebots erlauben nicht stets eine trennscharfe Abgrenzung voneinander, sondern ergänzen und überschneiden sich gegenseitig. Maßgeblich ist die Gesamtschau:151 ist eine Leistung nicht zweckmäßig, ist sie auch nicht notwendig; ist eine Leistung mehr als ausreichend, ist sie ebenfalls nicht notwendig.152 Gleichwohl kommen ihnen auch eigene Bedeutungsgehalte zu. Das Merkmal „ausreichend“ markiert eine untere Grenze für die Ausgestaltung des Leistungskatalogs: zumindest ausreichende medizinische Leistungen müssen von der GKV finanziert werden. Gleichzeitig dürfen die Leistungen aber das Maß des Notwendigen nicht überschreiten, sind somit nach oben hin be 149

Dafür Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 12 SGB V Rn. 41; Wagner, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, 96. EL 2017, § 12 SGB V Rn. 8; Joussen, in: Rolfs / Giesen / Kreikebohm / Udsching, BeckOK SGB V, 45. Edition 2017, § 12 Rn. 8; Hellkötter-Backes, in: Hänlein / Schuler, LPK-SGB V, 5. Aufl. 2016, § 12 Rn. 9. 150 Vgl. BSG SozR 3-2500 § 31 Nr.  18 S.  94; Roters, Die gebotene Kontrolldichte, 2003, S. 205; ebenso formuliert Roters, in: Kasseler Kommentar, 96. EL 2017, § 12 SGB V Rn. 41. 151 BSGE 17, 79 (84); BSGE 52, 134 (137); Fastabend, NZS 2002, 299 (300). Dagegen finden sich nach wie vor Versuche, den Begriffen eigene Inhalte zuzuweisen: exemplarisch Neugebauer, Das Wirtschaftlichkeitsgebot in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1996, S. 64 ff.; Spiolek, ZSR 38 (1992), 209 (210 ff.). 152 S.  Fastabend, NZS 2002, 299 (300); Engelhard, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 12 Rn. 51.

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

257

grenzt. Dies alles wird verbunden durch das Merkmal der Wirtschaftlichkeit: nicht ausreichende Leistungen sind genauso unwirtschaftlich wie mehr als notwendige Leistungen.153 Der Begriff der Zweckmäßigkeit verdient ein besonderes Augenmerk: Er wird mit dem Begriff der Eignung identifiziert. Dies bedeutet, dass eine Leistung auf die Therapieziele der GKV orientiert und zu deren Erreichung hinreichend wirksam sein muss.154 Dadurch wird der Begriff der Wirksamkeit in die leistungsrechtlichen Bestimmungen der GKV eingeführt, und zwar in dem Sinne, dass eine Leistung in Hinblick auf die Therapieziele wirksam sein muss. Dieser Inhalt des Zweckmäßigkeitsbegriffs lässt sich in neuerer Terminologie auch als Nutzen bezeichnen.155 Wenn eine Leistung dazu dient, ein Therapieziel zu erreichen, hat sie einen Nutzen. Freilich sagt diese sprachliche Äquivalenz noch nichts darüber aus, welchen Inhalt der so verstandene Nutzenbegriff hat. Nutzen mit Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit zu identifizieren, lässt noch keine Aussage darüber zu, ob darunter ein Nutzenbegriff im Sinne einer Abwägung zu verstehen ist, wie der Nutzen inhaltlich bestimmt wird, welche Endpunkte maßgeblich sind, welches Nachweisniveau gilt, sowie ob eine vergleichende Bewertung geboten ist. Sowohl der Zweckmäßigkeits- wie der Wirksamkeitsbegriff sind in dieser Hinsicht auf Basis des § 12 Abs.  1 SGB  V offen. Unter Berücksichtigung der Zielsetzung der GKV folgt jedoch für § 12 Abs.  1 SGB  V eine Auslegung, die den Zweckmäßigkeitsbegriff in dieser Vorschrift mit dem Nutzenbegriff, wie er oben entwickelt worden ist, identifiziert. Da die GKV die Aufgabe hat, bei ihren Versicherten einen Therapieerfolg zu erzielen, sind die Begriffe des gesamten Wirtschaftlichkeitsprinzips in diesem Sinne zu verstehen.

B. Der Nutzenbegriff im SGB V Der Begriff des Nutzens wird im SGB V an verschiedenen Stellen verwendet. Er ergibt sich grundlegend aus den allgemeinen Bestimmungen der § 12 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V und wird in den leistungsrechtlichen Vorschriften über die Arzneimittelversorgung näher ausgestaltet. Es lassen sich somit mehrere Ebenen der Konkretisierung des Nutzenbegriffs unterscheiden. Nach der allgemeinen Umschreibung in § 12 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V erfolgen Konkretisierungen durch das SGB V selbst sowie durch den GBA und das IQWiG. Insbesondere bei den untergesetzlichen Konkretisierungsleistungen stellt sich die Frage 153

Vgl. Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, 2001, S. 58 f. Engelhard, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 12 Rn. 53; Spiolek, ZSR 38 (1992), 209 (211); vgl. dazu BSGE 52, 70 (74 f.). 155 Zur terminologischen Verwandtschaft Becker, Die Steuerung der Arzneimittelversorgung im Recht der GKV, 2006, 93 f. Für eine solche Begriffsverwendung Francke / Hart, MedR 2006, 131 (133); Francke / Hart, MedR 2008, 2 (8 f.); wohl auch Roters, NZS 2010, 612 (616). 154

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

der Außenrechtsverbindlichkeit. Auf der Grundlage der inhaltlichen Bestimmung des Nutzen­begriffs im SGB V wird in der Folge die Methodik des Nutzennachweises analysiert.

I. Der Stand der medizinischen Erkenntnisse in § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V § 2 Abs. 1 SGB V stellt allgemeine Grundsätze für die Leistungen der GKV auf, an denen sich auch Arzneimittel messen lassen müssen.156 Gleichwohl ist zunächst klärungsbedürftig, inwiefern § 2 Abs. 1 SGB V anwendbare Rechtsregeln enthält. Die Vorschrift könnte auch als reine Programmnorm oder „Grundsatznorm“157 zu verstehen sein. In dem Fall wären die zur Umsetzung des § 2 Abs. 1 SGB V erlassenen, speziellen Normen in den weiteren Abschnitten des SGB V allein maßgeblich, wenn nach Anforderungen gefragt wird, denen Arzneimittel für ihre Verordnungsfähigkeit genügen müssen. Die Systematik des SGB V basiert darauf, dass die Ziele und Programmnormen des ersten Abschnitts an späteren Stellen konkretisiert und operationalisiert werden.158 Dennoch enthält gerade § 2 Abs.  1 Satz  3 SGB  V hierfür materielle Vorgaben. Die Bindung an den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse gibt einen Maßstab vor, der bei jeder Evaluation konkreter Leistungen beachtet werden muss.159 Auch wenn es sich bei § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V nicht um eine Anspruchsgrundlage handelt, müssen dessen Grundsätze bei der Anwendung der speziellen Leistungs- und Leistungserbringungsvorschriften beachtet werden. Dies geschieht durch die enge Verbindung mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot, das an den zentralen Stellen des Leistungs- wie Leistungserbringerrechts in § 12 und § 70 SGB V normiert ist. Indem § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V vorschreibt, dass Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen müssen, bindet es insoweit die Auslegung des Wirtschaftlichkeitsgebots und der konkretisierenden speziellen Vorschriften.160

156

Axer, in: Eichenhofer / Wenner, SGB V, 2013, § 2 SGB V Rn. 1. So Plagemann, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 2 Rn. 16. 158 S. Fahlbusch, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 27 Rn. 11; Gamperl, Die Absicherung gegen Krankheitskosten durch Sozialhilfe und Gesetzliche Krankenversicherung als Mittel zur Lebensstandardsicherung, 2010, S. 118. 159 BSGE 97, 190 (192 f.). 160 S. Roters, Die gebotene Kontrolldichte, 2003, S. 210 f.; Engelhard, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 12 Rn. 49. 157

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

259

1. Das Verhältnis von Qualität, Wirksamkeit und Nutzen Mit der Nennung von Qualität und Wirksamkeit in dem Tatbestand des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V wird dem Wortlaut nach nicht nur die Qualität der einzelnen Leistung, sondern auch die Qualität des Behandlungsprozesses angesprochen. Das SGB V greift den Gedanken der Qualitätsverbesserung in verschiedenen weiteren Vorschriften auf: Die Qualität der Leistungserbringung gliedert sich systematisch in – Strukturqualität, worunter besondere personelle und sächliche Anforderungen an die Leistungserbringer verstanden werden, die das Gesetz in einer Reihe von Normen anspricht, insbesondere §§ 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2, 135a, 135b, 137d, 139a SGB V, – Prozessqualität, die sich auf die Durchführung des Behandlungsprozesses bezieht und die in §§ 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 137, 137 f., 138, 139 SGB V geregelt wird, sowie – Ergebnisqualität, die das Maß der Zielerreichung der Leistung betrifft; diese Qualitätskategorie schlägt sich insbesondere in §§ 135a Abs. 2 Nr. 1, 137, 137 f SGB V ausdrücklich nieder.161 Zur Ergebnisqualität gehört an sich auch die Wirksamkeit einer Leistung. Sie ist im Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V allerdings von dem Begriff der Qualität geschieden. Wirksamkeit wird in § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V als die ex ante zu bestimmende Fähigkeit einer Leistung verstanden, bei bestimmten Indikationen ursächlich für bestimmte, klinisch relevante diagnostische oder therapeutische Wirkungen zu sein.162 Nach dieser Auffassung unterscheiden sich der Nutzenbegriff und der Wirksamkeitsbegriff erheblich, da unter Wirksamkeit wie im AMG nur die therapeutisch erwünschten Wirkungen verstanden werden. Der Nutzen wird dadurch als ein Element der Ergebnisqualität definiert.163 Das SGB V verwendet den Begriff der Wirksamkeit auch an anderen Stellen. Nach § 137b Satz 1 SGB V sind Qualitätssicherungsmaßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin zu bewerten. Die Trias Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit findet sich in § 92 Abs. 2 Satz 12 SGB V in der Regelung zu Verordnungsausschlüssen für Arzneimittel durch den Gemeinsamen Bundesausschuss sowie in § 140a Abs. 2 SGB V, wonach Verträge der integrierten Versorgung darauf gerichtet sein müssen, die Qualität, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu verbessern. 161

Noftz, in: Hauck / Noftz, SGB V, EL 8/17, 2017, § 2 Rn.  55; Plagemann, in: Schlegel /  Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 2 Rn. 47; Ulmer, in: Eichenhofer / Wenner, SGB V, 2013, Vorbem. zu §§ 135 ff SGB V Rn. 17 ff. 162 Noftz, in: Hauck / Noftz, SGB V, EL 8/17, 2017, § 2 Rn.  57; Plagemann, in: Schlegel /  Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 2 Rn. 48; Scholz, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 2 Rn. 3. Diese Definition entspricht dem Begriff der therapeutischen Wirksamkeit in § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AMG nach der Rspr. des BVerwG: BVerwGE 94, 215 (219 f.). 163 S. Plagemann, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 2 Rn. 47.

260

5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Ferner wird der Begriff der Wirksamkeit im Sinne von Geltung bzw. Geltungsbeginn verwendet, etwa in § 256a Abs. 4 SGB V. Insgesamt zeigt sich ein uneinheitliches Bild der Begriffsverwendung. Der Bedeutungsgehalt der Wirksamkeit changiert zwischen dem des AMG und einem Konzept der Effektivität von therapeutischen Leistungskomplexen. In der Verwendung zusammen mit der Qualität und Wirtschaftlichkeit sprechen jedoch der systematische Zusammenhang innerhalb der Vorschrift sowie der Vergleich mit der Begriffsverwendung insbesondere in § 137b Satz 1 SGB V dafür, die Wirksamkeit im Sinne einer Eignung zur Zweckerreichung zu verstehen, entsprechend der Zweckmäßigkeit im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V. Die Beurteilung der Qualität einer Leistung setzt ein Ziel voraus, anhand dessen die Qualität bestimmt werden kann. Dieser Zusammenhang wird mit der Wirksamkeit als Eignung zur Zweckerreichung beschrieben. Da die Wirksamkeit der Leistungen der GKV gesichert sein muss, erfordert die Wirksamkeitsbeurteilung in diesem Sinne die Betrachtung sowohl der therapeutisch erwünschten wie der unerwünschten Effekte, also gleichsam den Nutzen der Leistung. Der Nutzen einer Leistung der GKV muss somit nach § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen.

2. Stand der medizinischen Erkenntnisse und Nutzenbegriff Der Rechtsbegriff des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse lässt sich in zwei Richtungen verstehen: zum einen könnte er ein Kriterium für den Umfang des Leistungskatalogs darstellen und dadurch den kran­ kenversicherungsrechtlichen Behandlungsstandard bestimmen; zum anderen könnte er das Bewertungsverfahren für den Nutzen von Leistungen beschreiben, das dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen muss. Nach § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V müssen terminologisch nicht die Leistungen der GKV, sondern deren Qualität und Wirksamkeit diesem Stand entsprechen. Die Forderung, dass die GKV ihren Versicherten alle solche Behandlungsverfahren für die jeweilige Indikation anbieten muss, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts entsprechen, ergibt sich daher nicht aus § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, sondern aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V, wonach die GKV einen ausreichenden und zweckmäßigen Leistungsumfang zur Verfügung zu stellen hat. Somit resultieren aus § 2 Abs.  1 Satz  3 SGB  V, wenn der Stand der medizinischen Erkenntnisse auf Qualität und Wirksamkeit und damit den Nutzen bezogen wird, Anforderungen an das Verfahren der Evaluation von GKV-Leistungen. Die Anforderungen des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V sind dabei keine spezifisch medizinischen Inhalte. Sie legen vielmehr das Niveau der Erkenntnisse fest, welche über

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

261

die Qualität und Wirksamkeit einer Leistung vorliegen müssen, um sie in den GKVLeistungskatalog aufnehmen zu können. Dieser Erkenntnisstand ist der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse. Dabei handelt es sich um ein spezifisches Nachweisniveau, eine rechtliche Beschreibung für einen bestimmten Erkenntnisstand.164 Die Nutzenbewertung muss zudem nach § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V dem allgemein anerkannten Stand der Erkenntnisse entsprechen. Dadurch wird der Maßstab des Nutzens dynamisiert und trägt dem Umstand Rechnung, dass der Stand der medizinischen Erkenntnisse einem Wandel durch Erkenntnisfortschritte unterworfen ist.165 Die Regelung des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V verpflichtet dazu, den medizinischen Fortschritt fortlaufend zu berücksichtigen und Anpassungen der GKVLeistungen auf Grund von neuen medizinischen Erkenntnissen und Behandlungsmöglichkeiten vorzunehmen. Die allgemeine Anerkennung des Standes der medizinischen Erkenntnisse bedeutet wiederum, dass diejenigen Therapieformen anzuwenden sind, die in der Praxis erprobt und bewährt sind und die fachwissenschaftliche Anerkennung gefunden haben.166 Nach den medizininternen Verfahren bestimmt sich die Anerkennung einer Behandlung anhand der Kriterien der evidenzbasierten Medizin und durch anerkannte Verfahren der Wissensselektion, etwa in Gestalt von systematischen Review-Publikationen, Leitlinien etc.167 Diese Methodik der Evaluation in der Medizin hat beinahe allgemeine Anerkennung erfahren und fungiert als sicherste Methode, um Gewissheit über die Ursächlichkeit einer medizinischen Intervention für einen Heilerfolg zu erlangen. Der Begriff der evidenzbasierten Medizin ist zum Rechtsbegriff geworden.168 Das SGB V verwendet ihn in einer Reihe neuerer Vorschriften. Seit dem GKVWSG werden Institutionen, die Arzneimittel und andere Behandlungsleistungen evaluieren, verpflichtet, sich dazu der Methoden und Standards der evidenzbasierten Medizin zu bedienen. Dieser Rechtsbegriff findet sich in § 35 Abs. 1b Satz 4, § 35a Abs. 1 Satz 7 Nr. 2 und § 35b Abs. 1 Satz 5 SGB V sowie in § 139a Abs. 3 Nr. 7 und Abs. 4 Satz 1. In den Gesetzesbegründungen heißt es dazu jeweils, dass die

164 Vgl. zu anderen Erkenntnisstandbestimmungen im Risikoregulierungsrecht Ekardt et al., Rechtliche Risikosteuerung, 2000, S. 215 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, 81. EL 2017, Art. 19 Abs. 4 Rn. 203 ff. 165 Dazu s. o. Kap. 3 C. 166 Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, 81. EL 2017, Art. 19 Abs. 4 Rn. 203 zum allgemein anerkannten Stand der Technik. 167 Zur Bedeutung der evidenzbasierten Medizin für die Auslegung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse s. Plagemann, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 2 Rn. 49; Roters, NZS 2007, 176 (177); Stallberg, PharmR 2010, 5 (9); zur medizinischen Methodik der Feststellung des anerkannten Standes ausf. dazu bereits oben Kap. 3 C. 168 Treffend Stallberg, PharmR 2010, 5 ff.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Bewertungsentscheidungen den international anerkannten Standards entsprechen und von hoher fachlicher Qualität sein sollen.169 Dieser Blick auf mit § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V systematisch zusammenhängende, dessen Evaluationsziel konkretisierende und explizierende Normen zeigt, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass die evidenzbasierte Medizin das dem international allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Verfahren zur Bewertung medizinischer Leistungen darstellt. Der Inhalt der evidenzbasierten Medizin als Methode und die darauf basierende Bewertung wird als erprobt, etabliert und als „Routine“ angesehen.170 Was die Verweisung auf die evidenzbasierte Medizin konkret bedeutet, wird später bei der Erörterung der Nachweisverfahren diskutiert.

II. Konkretisierung des Nutzenbegriffs Der Begriff des Nutzens findet sich mittlerweile in einer Reihe von Normen des SGB V als Tatbestandsmerkmal. Dies ist Ergebnis einer längeren gesetzgeberischen Entwicklung. Bei Erlass des SGB V kam der Nutzenbegriff lediglich in § 34 Abs. 3, 4 (a. F.) sowie in § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 138 und § 139 Abs. 2 Satz 1 SGB V (a. F.) als „therapeutischer Nutzen“ vor, auf dessen Fehlen Leistungsausschlüsse durch Rechtsverordnung oder Richtlinien des GBA gestützt werden konnten. Mittlerweile findet sich der Nutzenbegriff nicht mehr nur als „therapeutischer Nutzen“171, sondern als „medizinischer Nutzen“172, „Zusatznutzen“173, „Patienten-Nutzen“174, sowie als „Nutzen“ allein175 oder als Bestandteil einer „Kosten-Nutzen-Bewertung“176. Diese Entwicklung ist über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren zu verfolgen und zieht sich durch mehrere „Schichten“ der Gesetzgebung im SGB V. Dies führt zu der Gefahr der Inkongruenz zwischen den chronologisch aufeinander folgenden Gesetzesänderungen. Gleichzeitig ist die Bedeutung untergesetzlicher Normsetzung für die Nutzenbewertung von Arzneimitteln stark gestiegen. Die Rolle der Richtlinien des GBA für die Steuerung der Arzneimittelversorgung in der GKV ist Schritt für Schritt gesteigert worden, bis hin zur Abschaffung der Verordnungsermächtigung für den Ausschluss unwirksamer Arzneimittel im alten § 34 Abs. 2, 3 SGB V durch das AMNOG zugunsten der Konkretisierung durch Richtlinien des GBA. Anders als bei Hilfsmitteln, die nach § 34 Abs. 4 SGB V nach wie vor durch 169

Z. B. BT-Drs. 16/3100 S. 151. Weiterführend Raspe / Sawicki, ZEFQ 2010, 653 ff. Koch / Sawicki, MedR 2010, 240 (242). 171 Dieser Begriff ist nach Inkrafttreten des SGB V in den folgenden Vorschriften neu eingeführt worden: § 73 Abs. 8 Satz 1, § 92 Abs. 2 Satz 3, § 116b Abs. 4 Satz 2 SGB V. 172 § 139 Abs. 4, § 139a Abs. 4 Satz 1 SGB V. 173 § 35a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 3, § 35b Abs. 1 Satz 3, § 35c Satz 1 SGB V. 174 § 35b Abs. 1 Satz 4 SGB V. 175 § 35a Abs. 1 Satz 1, § 91 Abs. 4 Nr. 1, § 139a Abs. 3 Nr. 5 SGB V. 176 § 35b Abs. 1 Satz 1, § 139a Abs. 3 Nr. 5 SGB V. 170

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

263

den Verordnungsgeber ausgeschlossen werden können, wenn sie ohne hinreichenden Nutzen oder unwirtschaftlich sind, erfolgt dies für Arzneimittel nun allein durch den GBA. Die Stärkung der Institution des GBA wird von der immer weiter wachsenden Bedeutung des IQWiG als medizinisch-fachlicher Bewertungsinstanz im Recht der GKV begleitet. Wie der Name des Instituts treffend ausdrückt, soll diese privatrechtlich organisierte Institution die Qualität und Wirtschaftlichkeit von medizinischen Leistungen bewerten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Arzneimittelbewertung. Im Zusammenwirken von GBA und IQWiG entsteht dabei ein Bewertungsverfahren für hochkomplexe, riskante Produkte, das nach der gesetzgeberischen Konzeption eine besonders hohe fachliche Güte sicherstellen soll. Die Nutzenbewertung in der GKV findet primär in diesem institutionellen Arrangement statt. Das Bewertungsverfahren wird durch unterschiedliche gesetzliche Bestimmungen des SGB V sowie durch untergesetzliche Normen der Bewertungsinstitutionen selbst gesteuert, woraus sich zugleich eine Konkretisierung des Nutzenbegriffs ergibt. 1. Konkretisierung auf gesetzlicher Ebene Der Nutzenbegriff ist im SGB V selbst nicht definiert. Allerdings gibt § 2 Abs. 3 AM-NutzenV eine Definition des Nutzenbegriffs im Sinne der AM-NutzenV. Danach ist unter dem Nutzen eines Arzneimittels der „patientenrelevante therapeutische Effekt insbesondere hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustands, der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens, der Verringerung von Nebenwirkungen oder einer Verbesserung der Lebensqualität“ zu verstehen. Nutzen wird demnach als patientenrelevanter therapeutischer Effekt begriffen, der sich insbesondere in den Endpunkten Morbidität (Verbesserung des Gesundheitszustandes und Verkürzung der Krankheitsdauer), Mortalität (Verlängerung des Überlebens), Reduzierung von Nebenwirkungen und der Verbesserung der Lebensqualität zeigt. Dieser Nutzenbegriff entspricht hinsichtlich der Endpunktbestimmung dem Wortlaut des § 35b Abs. 1 Satz 4 SGB V. a) Nutzen als Abwägungsergebnis Unter dem Merkmal des „therapeutischen Effekts“ ist ein Nutzen im Sinne eines Abwägungsergebnisses von Wirksamkeit und Risiko des Arzneimittels zu verstehen, denn ein Nutzen im Sinne dieser Definition kann auch bei einer Reduzierung der Nebenwirkungen gegeben sein. Da die Nebenwirkungen jedoch nicht Bestandteil der Wirksamkeitsprüfung sind, sondern zur Risikoseite gehören, erfordert die Bestimmung des Nutzens eine Abwägung der therapeutisch erwünschten mit den therapeutisch unerwünschten Wirkungen.

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Auch in § 35 Abs. 1b SGB V wird der Nutzenbegriff im Sinne eines Abwägungsergebnisses verwendet. Nach § 35 Abs. 1b Satz 1 SGB V bedeutet ein Arzneimittel eine therapeutische Verbesserung im Sinne der Festbetragsregelung, wenn es einen therapierelevanten höheren Nutzen als andere Arzneimittel der Wirkstoffgruppe hat und deshalb als zweckmäßige Therapie den anderen Arzneimitteln vorzuziehen ist. Ein solcher höherer Nutzen kann nach § 35 Abs. 1b Satz 3 SGB V auch in der Verringerung der Häufigkeit oder des Schweregrads therapierelevanter Nebenwirkungen liegen. Folglich wird auch an dieser Stelle die Risikoseite in die Bestimmung des Nutzens einbezogen. Der Nutzenbegriff des SGB V ist nach der gesetzlichen Konzeption ein aggregierender Begriff, der die Wirksamkeit und die Risiken einer Arzneimitteltherapie bündelt und vor dem Hintergrund des Therapieziels bewertet. Überwiegt die Wirksamkeit aus therapeutischer Perspektive die Risiken mit Blick auf die betrachtete Indikation, hat das Arzneimittel einen Nutzen.177 b) Nutzenmaß und Endpunktbestimmung Das SGB V geht von patientenrelevanten Endpunkten als Maßeinheit des Nutzens aus. In § 35 Abs. 1b Satz 5 SGB V wird dieser Begriff explizit verwendet und es werden beispielhaft Mortalität, Morbidität und Lebensqualität genannt. Diese Endpunkttrias wird in § 35b Abs. 1 Satz 4 SGB V ebenfalls aufgegriffen und um die Verringerung von Nebenwirkungen ergänzt, die sich bereits in § 35 Abs. 1b Satz 3 SGB V findet. Auf Grund dieser gesetzlichen Regelungen stellt sich für den Nachweis des Nutzens von Arzneimitteln die Frage, ob das SGB V einen abgeschlossenen Endpunktkatalog verwendet oder auch andere Messgrößen für den Nutzen akzeptiert. Für sich genommen wäre es vorteilhaft, nur harte Endpunkte zu verwenden, da diese ohne weiteres mit den Therapiezielen der Heilbehandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V korrelieren. So begründet eine Reduzierung der Morbidität oder Mortalität ohne Weiteres eine Verhütung der Verschlimmerung der Krankheit, eventuell zugleich der Heilung. Allerdings kann es im Einzelfall für bestimmte Medikamente schwierig sein, entsprechende Studien durchzuführen. Insbesondere wenn die Zulassungsstudien keine harten Endpunkte vorsehen, sondern Surrogatparameter als Endpunkt genügen lassen, drohen der Nutzennachweis in der Zulassung und der Nutzennachweis in der GKV auseinander zu laufen. Die Zweckbestimmung für Leistungen der Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V impliziert, dass die Endpunkte zur Nutzenbewertung ebenfalls diesem Zweck dienen müssen, also dazu geeignet sein müssen, die Erreichung eines 177 Stadelhoff, Rechtsprobleme des AMNOG-Verfahrens, 2016, S. 136 f.; Roters, NZS 2010, 612 (615).

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

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Therapieziels zu belegen. Aus medizinischer Sicht sind jedoch sowohl die harten Endpunkte als auch Surrogatendpunkte geeignet, die Zweckmäßigkeit einer Therapie zu belegen.178 Surrogatendpunkte bedürfen lediglich eines zusätzlichen Nachweises, dass sie tatsächlich mit harten Endpunkten bzw. den Therapiezielen der Krankenbehandlung korrelieren, dass also ihre Veränderung auch gleichzeitig eine Verbesserung in Hinblick auf das Therapieziel bedeutet. Die Tatbestände, die Endpunkte in ihrem Wortlaut bezeichnen, definieren keinen abschließenden Endpunktkatalog. § 35 Abs. 1b Satz 5 SGB V spricht lediglich von einem Vorrang für klinische Studien, die sich der harten Endpunkte bedienen. In § 35b Abs. 1 Satz 4 SGB V findet sich eine Soll-Regelung für die Berücksichtigung der nicht abschließend aufgezählten harten Endpunkte. Die Regelungen der AM-NutzenV differenzieren dem Wortlaut nach zwischen Nutzenbewertungen für festbetragsgruppenfähige Arzneimittel und solche Arzneimittel, die nicht in eine Festbetragsgruppe eingeschlossen werden können. Im erstgenannten Fall wiederholt § 5 Abs. 2 Satz 3 AM-NutzenV die Regelung in § 35 Abs. 1b Satz 5 SGB V und benennt als Regelbeispiele die genannten harten Endpunkte. Die Regelung für die nicht festbetragsgruppenfähigen Arzneimittel in § 5 Abs. 5 Satz 1 AM-NutzenV spricht dagegen nur von patientenrelevanten Endpunkten als Maßstab, ohne dass bestimmte Endpunkte beispielhaft genannt werden würden. Als patientenrelevante Endpunkte kommen demnach auch andere Endpunkte als Mortalität, Morbidität und Lebensqualität in Betracht. In der Rechtsprechung ist die Auffassung vertreten worden, dass Surrogatendpunkte nicht als patientenrelevante Endpunkte anzuerkennen seien.179 Dieses Normverständnis wird damit begründet, dass unter den Begriff der patientenrelevanten Endpunkte nur harte Endpunkte fallen können. Allerdings lässt sich bezweifeln, ob dem Gesetz ein solches enges Verständnis des Begriffs der patientenrelevanten Endpunkte zu entnehmen ist. Das Merkmal der Patientenrelevanz verweist auf die therapeutische Bedeutung des Endpunkts. Therapeutische Entscheidungen werden auch auf der Grundlage von Laborparametern getroffen. Insbesondere bei chronischen Erkrankungen, die keine raschen Veränderungen des Gesundheitszustands mit sich bringen, sind Surrogatparameter vielfach die einzige Möglichkeit, um eine Veränderung der Krankheitssituation oder ein Anschlagen der Therapie zu diagnostizieren. Mit therapeutischen Erfolgen, die einst binnen weniger Jahre tödliche Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 oder die HIV-Infektion in eine chronische, aber lebenslange Krankheit verwandeln, ist die medizinische Praxis zunehmend auf solche Surrogatparameter angewiesen, sodass auch therapeutische Erfolge an der Veränderung dieser Surrogatparameter gemessen werden.180 Diese

178

S. o. Kap. 3 B. III. 2. BSGE 107, 261 (282); BSGE 107, 287 (306); dazu Schickert, PharmR 2010, 452 (456). 180 Saad / Buyse, Journal of Clinical Oncology 30 (2012), 1750 (1751) mit Beispielen aus der Onkologie. 179

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Surrogatparameter, die in diesem Sinne validiert sind, sind demnach gleichfalls patientenrelevant und erfüllen daher das gesetzliche Tatbestandsmerkmal. Die übrigen Nutzenbewertungstatbestände im SGB V enthalten demgegenüber keine bestimmten Vorschriften über Endpunkte. Weder § 92 noch § 135 SGB V treffen Aussagen zum Maßstab der Nutzenbewertung. Es bleibt insoweit bei der allgemeinen Anforderung, dass der Nutzen nach den Kriterien des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse zu bestimmen ist.181 c) Nutzen im Behandlungsalltag Die Rückbindung des krankenversicherungsrechtlichen Nutzenbegriffs an den Zweckmäßigkeitsbegriff des § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V impliziert, dass der Nutzen unter Alltagsbedingungen als Maßstab der Nutzenbewertung dient. Die Zweckmäßigkeit einer Leistung bedeutet nämlich, dass das therapeutische Ziel erreicht werden kann.182 Daher genügt es nicht, dass ein Arzneimittel unter Studienbedingungen einen hohen Nutzen zeigt, sondern dieser Nutzen muss sich auch in der Behandlungswirklichkeit realisieren. Kann dieses Nutzenpotenzial in der therapeutischen Anwendung nicht realisiert werden, beispielsweise weil das Arzneimittel in der Handhabung zu kompliziert ist oder aus anderen Gründen nicht entsprechend verabreicht werden kann, um den Nutzen auch zu erweisen, ist es in diesem Sinne weniger zweckmäßig bzw., wenn es unter Alltagsbedingungen gar nicht verwendbar ist, unzweckmäßig. Die Regelung des § 92 Abs. 2a SGB V spricht für diese Auslegung des Nutzenbegriffs. Nach § 92 Abs. 2a Satz 1 SGB V kann der GBA unter den dort genannten Voraussetzungen ergänzende „versorgungsrelevante Studien“ vom pharmazeutischen Unternehmer fordern. Auf der Grundlage dieser Studien kann der GBA über eine Verordnungsbeschränkung nach § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V entscheiden.183 Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass diese Studien erhebliche Informationen für die Entscheidung über die Verordnungsbeschränkung geben können. Insbesondere da sich aus Zulassungsstudien häufig nur begrenzt Rückschlüsse auf den Nutzen unter Alltagsbedingungen ableiten lassen, da sie mit dem Ziel einer möglichst hohen internen Validität konzipiert werden, besteht ein Bedarf an ergänzenden versorgungsrelevanten Studien. Dies bedeutet, dass der Nutzen eines Arzneimittels von dem Wissen über die Effekte in der Versorgungsrealität abhängt.

181

Vgl. insoweit die Verordnungsbeschränkungsermächtigung für andere Leistungen als Arzneimittel in § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V. 182 S. o. Kap. 5 B. II. 1. c). 183 S. o. Kap. 5 A. II. 5.

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

267

d) Zusatznutzenbegriff Der Begriff des Zusatznutzens ist im Verfahren nach § 35a SGB V von besonderer Bedeutung. Dennoch wurde er bereits vor dem AMNOG in den §§ 35b, 35c SGB V a. F. verwendet. Dort bezeichnete er stets den höheren Nutzen eines Arzneimittels im Vergleich zu anderen medikamentösen und nichtmedikamentösen Behandlungsformen. In § 2 Abs. 4 AM-NutzenV findet sich eine speziell auf die frühe Nutzenbewertung zugeschnittene Definition. Danach handelt es sich beim Zusatznutzen um einen Nutzen im Sinne der allgemeinen Definition, der qualitativ oder quantitativ höher ist als der Nutzen der zweckmäßigen Vergleichstherapie. Die Nutzenbewertung im SGB V ist demnach zweigeteilt. Sie kann mit oder ohne Vergleich zu anderen Leistungen der Krankenbehandlung erfolgen. Sowohl § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V als auch § 35a Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB V sehen in ihrem jeweiligen Wortlaut beide Varianten vor. Die Nutzenbewertung ohne Vergleichstherapie erfolgt demnach „absolut“, also losgelöst von einem Komparator, allein anhand der gesetzlichen Maßstäbe. Hierzu muss ein therapeutischer Effekt der Leistung im Sinne eines Überwiegens der erwünschten über die unerwünschten Wirkungen anhand von patientenrelevanten Endpunkten unter Alltagsbedingungen nachgewiesen werden. Die Zusatznutzenbewertung erfolgt anhand derselben Maßstäbe, doch mit der Besonderheit, dass es sich um eine relative Bewertung handelt, d. h. um einen Vergleich zu einer anderen Therapieoption. Die dahinterstehenden Wertungs- und Abwägungsentscheidungen sind sehr komplex.184 Sie werden durch die Verfahrensvorschriften der mit den Bewertungsentscheidungen betrauten Organisationen GBA und IQWiG näher ausgestaltet. e) Nutzennachweis Die gesetzlichen Nutzenbewertungstatbestände für Arzneimittel enthalten in unterschiedlichem Umfang Vorgaben zum Nachweis des Nutzens. Die Regelung des § 34 Abs.  1 Satz  2 SGB  V stellt auf den Therapiestandard ab, ohne dessen Ermittlung zu regeln. Insoweit ist auf die allgemeine Regel des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V zum Nachweis der Qualität und Wirksamkeit einer Leistung der Krankenbehandlung nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse abzustellen.185 Derselbe Maßstab wird auch in § 35c Abs. 1 Satz 1 SGB V, § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V sowie in § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V dem Nutzennachweis zugrunde gelegt.

184

S. nur Roters, NZS 2010, 612 (613 ff.); Stadelhoff, Rechtsprobleme des AMNOG-Verfah­ rens, 2016, S. 138 ff. 185 Beck, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 34 Rn. 14; ebenso § 12 Abs. 4 der Arzneimittelrichtlinie des GBA.

268

5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Genauere Vorgaben zum Nutzennachweis enthalten demgegenüber die Tatbestände der §§ 35, 35a und 35b SGB V. Nach § 35 Abs. 1b Satz 4 SGB V wird der Zusatznutzen im Sinne der Festbetragsgruppenbildung durch die Fachinformationen der verglichenen Arzneimittel und die Bewertung klinischer Studien nach methodischen Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin ermittelt. Die klinischen Studien müssen nach dieser Vorschrift allgemein verfügbar sein oder allgemein verfügbar gemacht werden und eine Methodik nach internationalen Standards verwenden. Die verwertbaren Studien werden in § 35 Abs. 1b Satz 5 SGB V weiter qualifiziert. Das Gesetz ordnet einen Vorrang für klinische Studien an. Diese Vorrangregelung wird weiter dadurch spezifiziert, dass insbesondere direkte Vergleichsstudien mit patientenrelevanten Endpunkten berücksichtigt werden sollen. Als patientenrelevante Endpunkte werden „insbesondere Mortalität, Morbidität und Lebensqualität“ im Wortlaut der gesetzlichen Vorschrift benannt. Für das Verfahren der frühen Nutzenbewertung sieht § 35a SGB V dagegen keine vergleichbar detaillierte Regelung zum Nutzennachweis vor. Die Vorschrift bestimmt lediglich, dass der Nutzen auf der Grundlage des Dossiers des pharmazeutischen Unternehmers und der vom pharmazeutischen Unternehmer in Auftrag gegebenen klinischen Studien, die nach § 35a Abs. 1 Satz 3 SGB V vorzulegen sind, bewertet wird. Die Angaben, die das Dossier enthalten muss, sind gleichfalls in § 35a Abs. 1 Satz 3 Nr. 1–6 SGB V aufgelistet. Werden diese Angaben im Dossier nicht gemacht oder werden die vorzulegenden klinischen Studien nicht vollständig eingereicht, sieht § 35a Abs. 1 Satz 5 SGB V vor, dass der Zusatznutzen als nicht belegt gilt. Die Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben erfolgt nach § 35a SGB  V in einem gestuften Verfahren. Zunächst enthalten § 35a Abs. 1 Sätze 6 und 7 SGB V eine Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung, durch die das Nähere zur Nutzenbewertung geregelt werden soll. Von dieser Verordnungsermächtigung ist mit der AM-NutzenV Gebrauch gemacht worden. Ferner wird der GBA durch § 35a Abs. 1 Satz 8 SGB V ermächtigt, weitere Einzelheiten in seiner Verfahrensordnung zu regeln. In § 4 Abs. 6 AM-NutzenV werden zunächst die einzureichenden Nachweise für den Nutzen des Arzneimittels näher konkretisiert. Demnach müssen als Bestandteil der klinischen Studien die Studienberichte, Studienprotokolle und die Auswertungen der Zulassungsbehörden übermittelt werden, damit die eingereichten Unter­ lagen vollständig sind. Gleiches gilt nach § 4 Abs. 7 AM-NutzenV im Rahmen des Möglichen für die Studienergebnisse zur zweckmäßigen Vergleichstherapie. Nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AM-NutzenV sind diese klinischen Studien nach den internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin zu bewerten. Es finden sich im Gesetz keine Angaben zu einem Vorrangverhältnis oder der Berücksichtigungsfähigkeit nur bestimmter Studientypen. Lediglich für Arzneimittel, die bei fehlendem Zusatznutzen in eine Festbetragsgruppe eingeordnet werden könnten, erfolgt gem. § 35a Abs. 1 Satz 4 SGB V die Nutzenbewertung entsprechend den Kriterien des § 35 Abs. 1b Sätze 1–5 SGB V.

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

269

In der AM-NutzenV wird hinsichtlich der Nachweise, die der Nutzenbewertung zugrunde zu legen sind, zwischen der erstmaligen Bewertung nach Markteintritt des Arzneimittels und Folgebewertungen differenziert. Nach § 5 Abs. 3 Satz 3 AMNutzenV sind die Zulassungsstudien Teil des Informationsbestandes, aufgrund dessen die erstmalige Bewertung des Arzneimittels nach § 35a SGB V erfolgt. Reichen diese Zulassungsstudien für eine sichere Nutzenbewertung nicht aus, kann der GBA nach § 5 Abs. 3 Satz 4 AM-NutzenV ergänzende Studien fordern, die in einer Folgebewertung beurteilt werden.186 Diese ergänzenden Studien sollen nach § 5 Abs. 3 Satz 5 AM-NutzenV regelmäßig auf der höchsten Evidenzstufe angesiedelt sein. Nur sofern es unmöglich oder unangemessen ist, solche Studien höchster Evidenzstufe durchzuführen oder zu fordern, können Nachweise der höchsten verfügbaren Evidenzstufe eingereicht werden. Die Evidenzstufen sind in § 5 Abs. 6 Satz 3 SGB V angegeben und entsprechen dem in der evidenzbasierten Medizin üblichen Einteilungsschema.187 Ferner sieht die Vorschrift die Bewertung der Aussagekraft der Studien anhand der Maßstäbe des § 5 Abs. 6 AM-NutzenV vor, die in ihrer Struktur den GRADE-Kriterien folgen. Die Kriterien der Bewertung bilden die Studienqualität, die Validität der Endpunkte sowie die Evidenzstufe selbst. Entsprechend den Kriterien des § 5 Abs. 7 AM-NutzenV erfolgt eine Bewertung des Ausmaßes des Zusatznutzens als erheblich, beträchtlich, gering, nicht quantifizierbar, als nicht belegt oder gar als geringer als der Nutzen der zweckmäßigen Vergleichstherapie. Weitergehende Vorgaben zur Durchführung der Nutzenbewertung enthält § 7 AM-NutzenV. Es zeigt sich somit ähnlich wie im Falle des § 35 Abs. 1b SGB V ein dichtes Normenprogramm für die Bewertung des Zusatznutzens von Arzneimitteln nach § 35a SGB V. Dieses ergibt sich jedoch anders als bei § 35 Abs. 1b SGB V nicht unmittelbar aus dem Gesetz, sondern wird erst durch Rechtsverordnung geschaffen. Demgegenüber sind Nutzenbewertungen nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V oder nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V gesetzlich weniger stark vorgeprägt. Ähnliches gilt für § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V, der zwar gleichfalls einen Entscheidungsmaßstab für den GBA enthält, aber das Verfahren der Nutzenbewertung und insbesondere die heranzuziehenden Nutzenbelege nicht näher vorgibt.

186

S. Verordnungsentwurf des BMG für die Verordnung über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a Absatz 1 SGB V für Erstattungsbetragsvereinbarungen nach § 130b SGB V (Bearbeitungsstand: 06.12.2010 11:52 Uhr), S. 17, verfügbar unter http://www.dkgev.de/media/ file/8769.RS432-10_Anlage-Abschluss_GesetzgebungsverfNutzenRVO.pdf (zuletzt abgerufen am 30.06.2017). 187 S. o. Kap. 3 B. III. 1. c).

270

5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

2. Konkretisierung durch den GBA Der GBA hat sich nach § 91 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB V eine Verfahrensordnung zu geben, in der unter anderem methodische Anforderungen an die wissenschaftliche sektorenübergreifende Bewertung des Nutzens von Leistungen einschließlich der Bewertungen nach §§ 35a, 35b SGB V zu regeln sind. Die Verfahrensordnung bedarf gem. § 91 Abs. 4 Satz 2 SGB V der Genehmigung durch das BMG. Aufgrund dieser Ermächtigungsgrundlage hat der GBA in seiner Verfahrensordnung neben den Einzelheiten zum Nutzenbewertungsverfahren auch Näheres zum Nutzenbegriff und zur Evidenzbasis der Nutzenbewertungen geregelt. Die Verfahrensordnung des GBA ist in fünf Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel enthält den allgemeinen Teil  der Verfahrensordnung, in dem Vorschriften zum Entscheidungsverfahren innerhalb des GBA, zu Beteiligungsrechten sowie zur Zusammenarbeit mit dem IQWiG und anderen fachlich unabhängigen, wissenschaftlichen Instituten enthalten sind. Die Kapitel 2 - 7 betreffen die einzelnen Entscheidungsverfahren des GBA im Anwendungsbereich des § 91 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB V. Im 2. Kapitel wird die Bewertung medizinischer Methoden geregelt. Das 3.  Kapitel betrifft Verfahren für Richtlinienbeschlüsse nach § 116b Abs.  4 SGB V. Spezielle Bewertungsvorschriften für Arzneimittel finden sich in den Kapiteln 4 und 5. Das 4. Kapitel regelt allgemein die Bewertung von Arzneimitteln und Medizin­produkten mit speziellen Vorschriften für die einzelnen Bewertungsverfahren in den Abschnitten des 4. Kapitels, wohingegen das 5. Kapitel ausschließlich für die Bewertungen nach §§ 35a, 35b SGB V gilt. Kapitel 6 gilt für Richtlinienbeschlüsse nach § 137f SGB V, während Kapitel 7 nähere Vorgaben zu den Beschlüssen nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 15 SGB V i. V. m. § 20d SGB V enthält. a) Der Nutzenbegriff in der Verfahrensordnung Die Verfahrensordnung des GBA verwendet den Begriff des Nutzens an verschiedenen Stellen, gibt jedoch keine allgemeine Definition. Die Unterscheidung zwischen Nutzen- und Zusatznutzenbewertung findet sich besonders anschaulich in § 6 Abs. 1 VerfO-4. Im Zusammenhang mit der Bewertung von medizinischen Methoden wird in § 10 Abs. 2 Nr. 1 lit. c VerfO-2 der Nutzen den Risiken der Methode gegenübergestellt. Eine vergleichbare Gegenüberstellung findet sich in § 13 Abs.  2 Satz  6 VerfO-2. Nach § 13 Abs. 2 Satz 2 VerfO-2 soll der Nutzen, soweit möglich, durch Nachweise mit patientenbezogenen Endpunkten, die beispielsweise Mortalität, Morbidität und Lebensqualität sein können, nachgewiesen werden. Diese Regelung indiziert, dass qualitativ hochwertige Nachweise für den Nutzenbeleg zu verwenden sind, soweit es möglich ist, diese zu erlangen. Die Endpunkte hingegen sind nicht als Regelbeispiele („insbesondere“), sondern als bloße Beispiele aufgeführt. Somit kommen dem Wortlaut nach alle patientenbezogenen Endpunkte gleichermaßen für

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

271

einen Nutzennachweis in Betracht. Eine Definition dieses unbestimmten Rechtsbegriffs wird nicht gegeben. Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln kann nach den Kapiteln 4 und 5 der Verfahrensordnung des GBA erfolgen. In Kapitel 4 sind allgemeine Vorschriften zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln sowie die Regelungen zur Festbetragsgruppenbildung, zur Bewertung von Arzneimitteln nach § 34 SGB V, zum OffLabel-Use nach § 35c Abs. 1 SGB V sowie zur Bewertung der Austauschbarkeit von Arzneimitteln nach der aut-idem-Regelung in § 129 Abs. 1a SGB V enthalten. Die Regelungen zur Zusatznutzenbewertung nach § 35a SGB V sowie zur KostenNutzen-Bewertung gem. § 35b SGB V finden sich im 5. Kapitel.

aa) Nutzenbewertung nach § 92 SGB V Die Verfahrensordnung des GBA kennt verschiedene Nutzenbewertungsverfahren. In § 7 VerfO-4 sind allgemeine Grundsätze zur Nutzenbewertung von Arzneimitteln geregelt, die im Rahmen des § 92 SGB V Anwendung finden. Die Nutzenbewertung nach dieser Vorschrift erfolgt auf der Grundlage der arzneimittelrechtlichen Zulassung, der Fachinformationen und anderer Feststellungen der Zulassungsbehörde sowie von Bewertungen der klinischen Studien nach den methodischen Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin. Die Bewertung der Studien besteht nach § 7 Abs. 3 VerfO-4 aus einer Evidenzklassifizierung und einer Qualitätsbewertung. Die Evidenzstufen des § 7 Abs. 4 VerfO-4 entsprechen der Klassifizierung, wie sie auch in § 5 Abs. 6 Satz 3 AM-NutzenV wiedergegeben ist. Die Qualitätsbewertung umfasst die Planungs-, Durchführungs- und Auswertungsqualität der Studien, die Konsistenz der Ergebnisse und die Übertragbarkeit auf den Versorgungskontext. Dabei gilt gem. § 7 Abs. 5 Satz 3 VerfO-4 ein Vorrang für randomisierte, kontrollierte klinische Studien, insbesondere Vergleichsstudien mit anderen Arzneimitteln oder Behandlungsformen.

bb) Nutzenbewertung zur Festbetragsgruppenbildung Speziell für die Festbetragsgruppenbildung erfolgt eine Nutzenbewertung nach Maßgabe der §§ 25 ff. VerfO-4. Ausgehend von dem Begriff der therapeutischen Verbesserung gem. § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB V werden die Fallgruppen einer therapeutischen Verbesserung sowie der Begriff der geringeren Nebenwirkungen definiert, der unter Verweis auf Klassifizierungsstandards der WHO näher bestimmt wird. In § 27 VerfO-4 sind die Anforderungen an den Nachweis der therapeutischen Verbesserung näher ausgestaltet. Demnach ist die therapeutische Verbesserung nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu bestimmen. Dies ist nach der Regelung in § 27 Abs. 2 VerfO-4 im Ausgangspunkt die Anwendung des Arzneimittels gemäß der Zulassung und den darin enthaltenen

272

5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Angaben. Darüber hinaus kann sich der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse über die Therapie auch aus der medizinischen Praxis ergeben. Damit eine solche Verwendung in der Praxis im Unterschied zur Lage nach der Zulassung anerkannt wird, bedarf es der Befürwortung durch die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute, wie § 27 Abs. 2 Satz 2 VerfO-4 formuliert. Hierfür soll im Regelfall erforderlich sein, dass sich die von der Zulassung abweichende Anwendung aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Statistiken über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der therapeutischen Verbesserung in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erwiesen hat. Diese Kriterien entsprechen denjenigen, die das BSG in seiner Rechtsprechung zur Aufnahme neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in Auslegung des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V entwickelt hat.188 Die erforderlichen Studien sollen, damit sie den vorstehend genannten Anforderungen an die wissenschaftliche Aussagekraft genügen, direkte Vergleichsstudien der Evidenzklasse I sein. Sie sollen zudem nach § 27 Abs. 4 Satz 2 VerfO-4 an Studienpopulationen und unter Bedingungen durchgeführt worden sein, die für die Behandlungsrealität repräsentativ sind. Ferner sollten in der Kontrollgruppe Standardtherapien verwendet worden sein. Sofern direkte Vergleichsstudien nicht vorliegen, soll nach § 27 Abs. 5 VerfO-4 geprüft werden, ob placebokontrollierte Studien derselben Qualität verfügbar sind, um einen indirekten Vergleich durchzuführen. Es besteht demgegenüber keine Regelung für den Fall, dass keine Studien der Evidenzstufe I verfügbar sind. Dieses Schweigen könnte entweder als Ausschluss der Berücksichtigungsfähigkeit niederrangigerer Evidenz oder als Lücke, die durch die gesetzlichen Vorschriften zu füllen ist, ausgelegt werden. Hieraus würde folgen, dass zwar die Bedeutung des Nutzenbegriffs einheitlich für alle Formen der Nutzenbewertung definiert ist, hingegen die Nachweisanforderungen variieren. cc) Konkretisierung der frühen Nutzenbewertung Die Vorschriften zur frühen Nutzenbewertung werden in der Verfahrensordnung im 5. Kapitel konkretisiert. Die in § 3 VerfO-5 enthaltenen Nutzen- und Zusatznutzendefinitionen entsprechen denen in § 2 Abs. 3 und 4 AM-NutzenV. Ebenso werden die Vorschriften der AM-NutzenV zur Evidenzklassifizierung und zur Studienbewertung in § 5 VerfO-5 wiedergegeben. Angesichts der hohen Dichte der gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben zur Zusatznutzenbewertung nach § 35a SGB V besteht für den GBA kaum Spielraum zur Konkretisierung der ihn bindenden Rechtsnormen.189

188

BSGE 76, 194 Ls. 2. Zu diesen Kriterien vgl. BVerfG NJW 2016, 1505 (1507).

189

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

273

dd) Nutzenbewertung zur Ermittlung des Therapiestandards Die Nutzenbewertung nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V erfordert die Prüfung, ob ein nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel als Therapiestandard bei einer schwerwiegenden Erkrankung gilt. Der Begriff des Therapiestandards wird durch § 34 Abs. 1 VerfO-4 näher bestimmt. Demnach gilt ein Arzneimittel als Therapiestandard, wenn der therapeutische Nutzen zur Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Anders als in § 27 Abs. 2 VerfO-4 wird insoweit jedoch nicht primär auf die Zulassung abgestellt, sondern nach § 34 Abs. 2 VerfO-4 auf den durch wissenschaftliche Studien untermauerten Konsens in den einschlägigen Fachkreisen. Dabei sind vorrangig klinische Studien zu berücksichtigen, insbesondere direkt vergleichende Studien mit patientenrelevanten Endpunkten wie Mortalität, Morbidität und Lebensqualität. Die Nutzenbewertungsvorschrift enthält an dieser Stelle keinen Verweis auf eine bestimmte Evidenzhierarchie und schließt ihrem Wortlaut nach insbesondere keine bestimmte Evidenzstufe aus. Klinische Studien finden sich bis zur Evidenzstufe III. Es wird jedoch, wie in den anderen Nutzenbewertungsvorschriften der Verfahrensordnung auch, ein Vorrang für direkt vergleichende klinische Studien statuiert. Da jedoch eine Qualifizierung als randomisierte, kontrollierte klinische Studie fehlt, erfüllen auch direkt vergleichende, nicht verblindete Kohortenstudien der Evidenzstufe II die Vorrangklausel, insbesondere wenn sie patientenrelevante Endpunkte messen.

ee) Nutzenbewertung bei arzneimittelähnlichen Medizinprodukten Die Bewertung der medizinischen Notwendigkeit eines arzneimittelähnlichen Medizinprodukts gem. § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V erfordert nach § 39 Abs. 1 Nr. 3 VerfO-4 unter anderem, dass der diagnostische oder therapeutische Nutzen des Medizinprodukts dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Ebenso wie in § 27 Abs. 2 und § 34 Abs. 2 VerfO-4 wird dieses Tatbestandsmerkmal in § 40 Abs. 2 VerfO-4 als ein durch wissenschaftliche Studien hinreichend untermauerter Konsens in den einschlägigen Fachkreisen definiert. Die wissenschaftlichen Studien müssen nach § 40 Abs. 1 VerfO-4 von höchstmöglicher Evidenz sein, ggf. kann weitere Literatur berücksichtigt werden.

ff) Bewertung vergleichbarer Darreichungsformen Im Rahmen der Bewertung der therapeutischen Vergleichbarkeit von unterschiedlichen Darreichungsformen nach § 129 Abs. 1a SGB V ist gem. § 51 Abs. 1 VerfO-4 vorrangig von den Fachinformationen sowie weiteren Feststellungen

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

der Zulassungsbehörden auszugehen. Darüber hinaus können klinische Studien berücksichtigt werden, die eine Bewertung nach den methodischen Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin erfordern. Diese Bewertung umfasst die Planungs-, Durchführungs- und Auswertungsqualität der Studien sowie ihre Aussagekraft hinsichtlich der therapeutischen Vergleichbarkeit. Diese Formulierung entspricht der Regelung in § 27 Abs. 6 VerfO-4.

gg) Der Nutzenbegriff nach der Verfahrensordnung des GBA Trotz der verschiedenen Regelungen zu den Nutzenbewertungen nach den unterschiedlichen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, die einen einheitlichen Nutzenbegriff und harmonisierte Nachweisanforderungen ergeben. Der Nutzenbegriff nach der Verfahrensordnung des GBA bezieht sich auf den Nutzen unter Alltagsbedingungen, wie sich insbesondere aus § 27 Abs. 4 Satz 2 VerfO-4 sowie den Vorschriften zur Bestimmung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse anhand eines Konsenses in den maßgeblichen Fachkreisen ergibt. Er ist anhand von patientenrelevanten Endpunkten nachzuweisen, insbesondere anhand von Mortalität, Morbidität und gesundheitsbezogener Lebensqualität, ohne jedoch andere Endpunkte auszuschließen. Der Nutzennachweis nach der Verfahrensordnung legt gleichfalls eine Evidenzhierarchie entsprechend dem Klassifizierungsschema der evidenzbasierten Medizin zugrunde. Die Verfahrensordnung geht ferner von einem Vorrang der höherrangigen Evidenz aus. Es ist nicht definiert, ob der Vorrang schlicht die typischerweise vorhandene größere Aussagesicherheit solcher Evidenzen bezeichnet oder die Berücksichtigung niederrangigerer Evidenz bei Vorliegen höherrangiger Evidenz ausschließt. Die Berücksichtigungsfähigkeit anderer Evidenzen ist nicht explizit geregelt und wird bei Bewertungen nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V zu bejahen sein, bei Bewertungen nach § 35 Abs. 1b SGB V ist dies jedoch fraglich. In diesem Fall sind die Vorgaben zum Bewertungsverfahren dermaßen umfassend und explizit, dass das Schweigen zu niederrangigerer Evidenz als Stufe I auch als Ausschluss niederrangigerer Evidenz verstanden werden kann, soweit höherrangige Evidenz verfügbar ist bzw. verfügbar sein könnte.

b) Außenverbindlichkeit der Konkretisierung des Nutzenbegriffs Nach dem Wortlaut der Ermächtigungsgrundlage des § 91 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB V „regelt“ der GBA unter anderem die methodischen Anforderungen an die Bewertung des Nutzens von Arzneimitteln. Zugleich sind die auf der Grundlage der Verfahrensordnung erlassenen Richtlinien und Beschlüsse des GBA gem. § 91 Abs. 6 SGB V für alle Systembeteiligten verbindlich. Aus dieser Vorschrift könnte

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

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demnach zu folgern sein, dass dem GBA die Befugnis zur nach außen verbindlichen Konkretisierung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale mit Blick auf die Methodik der Nutzenbewertung zukommt. Im Schrifttum werden dagegen grundsätzliche Bedenken gegen die Befugnis des GBA vorgebracht, außenverbindliche Entscheidungen zu treffen, die nicht gerichtlich überprüfbar sind. Ausgehend von der Konzeption der Richtlinien des GBA als untergesetzliche Rechtsnormen wird eine demokratische Legitimation des GBA als Rechtsetzungsorgan entsprechend den Maßstäben des Art. 20 Abs. 2 GG gefordert und in diesem Falle als nicht hinreichend angesehen.190 Die Kritik entzündet sich trotz aller Unterschiede im Detail im Kern daran, dass die Richtlinienbeschlüsse zum einen Grundrechte der Leistungserbringer und Versicherten im GKV-System betreffen, die im GBA selbst repräsentiert sind, als auch Entscheidungen über den Leistungsumfang der GKV umfassen, die Rechte von Leistungserbringern wie Physiotherapeuten sowie von Unternehmen der pharmazeutischen und der Medizinprodukteindustrie, die allesamt nicht im GBA repräsentiert sind, beeinträchtigen. Unter Anwendung des klassischen „Legitimationskettenmodells“ oder des Konzepts des hinreichenden demokratischen Legitimationsniveaus werden die Repräsentation der Betroffenen, die Einflussmöglichkeiten auf die Beschlüsse des GBA sowie der Rechtsschutz abgewogen.191 Nach diesen Kriterien lässt sich ein hinreichendes demokratisches Legitimationsniveau allerdings begründen.192 Entscheidend ist im Unterschied hierzu jedoch, dass die Fokussierung auf Mitentscheidungsrechte und Repräsentanz an der besonderen Funktion des GBA im GKV-System vorbeizielt. Es handelt sich vielmehr um eine Einrichtung, die in das Gesamtsystem der Selbstverwaltung durch die Systembeteiligten unter gesetzlicher Steuerung und ministerieller Rechtsaufsicht nach § 94 SGB V eingebettet ist, um eine besondere Sachkunde in der Entscheidungsfindung mit der Verantwortung der für die Leistungserbringung und deren Finanzierung zuständigen Akteure zu verknüpfen.193 Die gesetzgeberische Entscheidung, die Konkretisierung der Leistungsansprüche in der GKV auf diesem Wege zu vollziehen und gesetzlich zu programmieren sowie mit Aufsichtsinstrumenten zu versehen, wird insoweit als entscheidendes Argument für die hinreichende demokratische Legitimation des GBA gesehen.194 In der Rechtsprechung des BSG

190 Schmidt-De Caluwe, in: Becker / Kingreen, SGB V, 5. Aufl. 2017, § 92 Rn. 9 m. w. N.; Butzer / Kaltenborn, MedR 2001, 333 (335 ff.); Kingreen, NZS 2007, 113 (115); Saalfrank / Wesser, NZS 2008, 17 (22 f.); Wolff, NZS 2009, 184 (187). 191 Butzer / Kaltenborn, MedR 2001, 333 (338 ff.); Kingreen, NZS 2007, 113 (115 ff.); zweifelnd Neumann, NZS 2010, 593 (597 ff.). 192 Zimmermann, Der Gemeinsame Bundesausschuss, 2012, S. 114 ff., 150 ff.; Sodan, NZS 2000, 581 (582 ff.); Hauck, NZS 2010, 600 (601 ff.). 193 Dazu Hase, MedR 2005, 391 (393 ff.). 194 Hase, MedR 2005, 391  (394); Hauck, NZS 2010, 600  (605); Neumann, NZS 2010, 593 (598 ff.).

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5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

ist die hinreichende demokratische Legitimation entsprechend anerkannt.195 Das BVerfG hat bislang jede Positionierung konsequent vermieden und trotz vereinzelt geäußerter Zweifel an der demokratischen Legitimation des GBA jede Sachentscheidung bislang abgelehnt.196 Die Rechtsprechung des BSG wendet auf die Richtlinien und Beschlüsse des GBA den Maßstab an, der bei einem Erlass entsprechender Regelungen durch den Bundesgesetzgeber als untergesetzliche Rechtsnormen gelten würde.197 Dies bedeutet, dass der GBA lediglich dann über einen eigenen Gestaltungs- und Konkretisierungsspielraum verfügen kann, wenn ihm dieser gesetzlich eröffnet worden ist. Dies hat das BSG für mehrere Konstellationen verneint. So ist der GBA nicht befugt, die Tatbestandsmerkmale der Mindestmengenregelung des § 137 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB V selbst auszugestalten, sondern kann lediglich nach rechtlich zutreffender und gerichtlich voll nachprüfbarer Auslegung der Tatbestandsmerkmale als Normgeber entscheiden.198 Im Rahmen der Festbetragsgruppenbildung nach § 35 Abs. 1, 1b SGB V darf der GBA auf der Grundlage des zutreffend ermittelten Standes der Studienlage entscheiden, welche Konsequenzen er aus dieser Tatsachengrundlage zieht.199 Die Ermittlung des Standes der Studienlage selbst bleibt dagegen voll gerichtlich überprüfbar. In entsprechender Weise sind im Regelfall medizinisch-pharmakologische Einschätzungen des GBA gleichfalls nicht von einem Beurteilungsspielraum umfasst.200 Das BSG nimmt insoweit ein gesetzlich vorgegebenes Prüfprogramm bezüglich der anzuwendenden Methodik und der heranzuziehenden klinischen Studien an, das dem GBA keinen Gestaltungsspielraum eröffnet.201 Demgegenüber hat das BSG dem Grunde nach einen Gestaltungsspielraum bei der Auslegung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale der ausreichenden, zweckmäßigen, notwendigen und wirtschaftlichen Leistungen anerkannt.202 Für den Fall der Aufnahme eines arzneimittelähnlichen Medizinprodukts in die Verordnungsfähigkeit gem. § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB V hat das BSG festgestellt, dass der GBA im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben die Anforderungen u. a. an den Nutzennachweis konkretisierend ausgestalten und damit die im Bewertungsverfahren zu erfüllenden Anforderungen mit dem gesetzlichen Regelungskonzept aus den allgemeinen Vorschriften der §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 12 Abs. 1 SGB V in Einklang bringen darf.203 195

BSGE 96, 261 (276 f.); BSGE 97, 190 (193 f.); BSGE 103, 106 (121 f.); BSGE 107, 287 (295); BSGE 112, 257 (263); BSG NZS 2015, 617 (621); BSG, Urteil vom 17.11.2015 – B 1 KR 15/15 R, Rn. 17 bei juris.de. 196 BVerfGE 115, 25 (47); BVerfG NJW 2013, 1220 (1222) Rn. 27; BVerfG NJW 2016, 1505 (1507), Rn. 22; BVerfG, Kammerbeschluss vom 06.10.2016 – 1 BvR 292/16, Rn. 24 bei juris.de. 197 BSGE 107, 287 (297). 198 BSG, Urteil vom 17.11.2015 – B 1 KR 15/15 R, Rn. 16 bei juris.de. 199 BSGE 107, 287 (297). 200 BSGE 96, 261 (280). 201 BSGE 107, 287 (297). 202 BSGE 96, 261 (280). 203 BSGE 111, 155 (166).

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

277

Aus der Rechtsprechung des BSG ergibt sich somit eine differenzierende Antwort auf die Frage, ob dem GBA ein Gestaltungsspielraum bei dem gesetzlichen Nutzenbegriff zusteht: Je nach Regelungsdichte des einzelnen Tatbestandsmerkmals ist zu prüfen, ob dem GBA ein eigener Gestaltungsspielraum eingeräumt wird. Dies entspricht dem Ausgangspunkt der Lehre vom administrativen Beurteilungsspielraum. Wann dies der Fall ist, hat das BSG ebenfalls näher ausgeführt. So darf der GBA grundsätzlich die unbestimmten Rechtsbegriffe des Wirtschaftlichkeitsgebots sowie die Anforderungen an den Nachweis des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse näher ausgestalten, sofern nicht der konkrete Nutzenbewertungstatbestand spezielle Regelungen enthält. Diese haben Vorrang und bedürfen ihrerseits der Auslegung, inwieweit sie einen Gestaltungsspielraum des GBA eröffnen. Für § 35 Abs. 1b SGB V hat das BSG dies weitestgehend verneint. Anders dürfte dies jedoch für die vergleichbaren Nutzenbewertungstatbestände der §§ 35a, 35b SGB V sein, denn § 91 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB V sieht seinem Wortlaut nach ausdrücklich einen Regelungsauftrag des GBA in seiner Verfahrensordnung hinsichtlich der §§ 35a, 35b SGB V vor. Die Regelungsdichte des gesetzlichen Normprogramms ist im Falle der Bewertungen nach § 35a SGB V auf Grund der Vorgaben zu Bewertungskriterien und verfahren in der AM-NutzenV jedoch sehr hoch, sodass kaum ein Gestaltungsspielraum mit Blick auf die Methoden der Zusatznutzenbewertung verbleiben kann. Das Bestehen eines Gestaltungsspielraums hinsichtlich der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale der Nutzenbewertung wird dagegen im Schrifttum kritisch bewertet. So wird zwischen der abstrakten Auslegung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale und ihrer Subsumtion unterschieden: die Definition des medizinischen Nutzens sei gesetzlich bestimmt und eröffne keinen Beurteilungsspielraum, während die Klassifizierung der im Einzelfall vorhandenen Evidenz anhand der Kriterien des medizinischen Nutzenbegriffs einem Beurteilungsspielraum unterliege.204 Auf der Grundlage dieser Abgrenzung der Gestaltungsbefugnisse des GBA wäre eine Konkretisierungsbefugnis hinsichtlich der methodischen Grundlagen der Nutzenbewertung nicht anzunehmen. An dieser Stelle hilft erneut eine Rückversicherung anhand der allgemeinen Methoden zur Wissensgenerierung in administrativen Entscheidungsverfahren, wie es Francke und Hart mit ihrer Anknüpfung an den Beurteilungsspielraum ebenfalls vorschlagen.205 Ein Beurteilungsspielraum ist mit Blick auf die Anwendung der Kriterien der Nutzenbewertung auf den zu entscheidenden Einzelfall tatsächlich anzunehmen. Insoweit entspricht der GBA einem administrativen Entscheidungsgremium wie der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Allerdings besteht zwischen der Auslegung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale und der Subsumtion in Gestalt der Einzelfallentscheidung ein weiterer Zwischenschritt, der eine Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe, die den Tatbestand der 204

Francke / Hart, MedR 2008, 2 (4 f.). Francke / Hart, MedR 2008, 2 (4).

205

278

5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Nutzenbewertung bilden, erfordert.206 Es handelt sich um den Erkenntnisschritt, anhand welcher Methoden die Erfüllung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale nachgewiesen werden kann. Dieser Zwischenschritt in der Ermittlung des Nutzens einer konkreten Leistung der GKV auf der Grundlage einzelner Evidenzen entspricht der Gewinnung des „Wissens zweiter Ordnung“, das erforderlich ist, um die Quellen des Wissens erster Ordnung gewichten und würdigen zu können. Ein Beispiel für diesen Erkenntnisschritt, der seine Umsetzung in formeller Hinsicht in der Verfahrensordnung des GBA erfahren hat, ist die Klassifizierung der Evidenzhierarchie und die Festlegung von Kriterien, um etwa den Aussagegehalt einer klinischen Studie zu bewerten. In der Klassifikation der Wissensquellen der Verwaltung entsprechen diese Festlegungen einem antizipierten Sachverständigengutachten über die Berücksichtigungsfähigkeit bzw. den Grad der Aussagesicherheit eines konkreten Nachweismittels für die Einzelfallentscheidung. Es werden nämlich unabhängig vom Einzelfall abstrakt geltende, fachwissenschaftliche „Tatsachen“ ermittelt und rezipiert, die die Grundlage für nachfolgende Einzelfallentscheidungen bilden. Insoweit entspricht diese Situation dem Erlass von Leitlinien durch die EMA, die gleichfalls diese Zwischenstufe im Prozess der Wissensbewertung für eine Einzelfallentscheidung adressieren. Dementsprechend sollte sich auch der Rechtsschutz gegen die diesbezüglichen Vorschriften der Verfahrensordnung an dem Kontrollschema der EMA-Leitlinien orientieren, wie es vorstehend entwickelt worden ist, und nicht auf die Vereinbarkeit mit den konkreten Vorgaben des jeweiligen gesetzlichen Nutzen­bewertungstatbestandes, die wissenschaftliche Vertretbarkeit der Methode sowie die Überholung durch einen neueren wissenschaftlichen Erkenntnisstand beschränken. Es bedarf vielmehr zusätzlich einer gerichtlichen Überprüfung auch der Quellen des festgestellten Erkenntnisstandes sowie der bei deren Auswahl und Bewertung angewendeten methodischen Standards. Dies erfordert, dass der GBA offenlegt, welche der vielfältigen Standards in der Diskussion der evidenzbasierten Medizin er herangezogen hat und inwieweit diese Standards in der Medizin interessenplural und wissenschaftlich valide zustande gekommen sind. Nur anhand dieser Kriterien kann gerichtlich überprüft werden, ob ihre Rezeption im Rechtssystem der Anforderung entspricht, dass sie den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse wiedergeben, wie es § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V für den Nachweis des Nutzens verlangt. 3. Konkretisierung durch das IQWiG Nach § 139a Abs. 1 Satz 1 SGB V hat der GBA ein fachlich unabhängiges, rechtsfähiges, wissenschaftliches Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zu gründen, dessen Aufgaben in § 139a Abs. 3 SGB V gesetzlich be 206

S. Hase, MedR 2005, 391 (396).

B. Der Nutzenbegriff im SGB V

279

stimmt sind. Diesen gesetzlichen Auftrag hat der GBA im Jahr 2004 durch die Gründung einer Stiftung als Trägerin des IQWiG, das die Aufgaben des Instituts nach § 139a Abs. 1 SGB V wahrnimmt, erfüllt.207 Zu diesen Aufgaben des IQWiG zählen unter anderem die „Recherche, Darstellung und Bewertung des aktuellen medizinischen Wissensstandes zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren bei ausgewählten Krankheiten“, die Erstellung von wissenschaftlichen Gutachten und Stellungnahmen zur Qualität und Wirtschaftlichkeit von Leistungen der GKV und insbesondere die Bewertung des Nutzens und der Kosten von Arzneimitteln. Nach § 139a Abs. 4 Satz 1 SGB V hat das IQWiG zu gewährleisten, „dass die Bewertung des medizinischen Nutzens nach den international anerkannten Standards der evidenzbasierten Medizin und die ökonomische Bewertung nach den hierfür maßgeblichen international anerkannten Standards, insbesondere der Gesundheitsökonomie erfolgt“. An den Bewertungsverfahren hat es Sachverständige, den betroffenen Arzneimittelhersteller sowie weitere Interessenvertreter zu beteiligen. a) Der Nutzenbegriff in den Allgemeinen Methoden des IQWiG Das IQWiG definiert den Nutzenbegriff in seinen Allgemeinen Methoden als „kausal begründete positive Effekte“ und stellt diesem den Schadensbegriff gegenüber, der „kausal begründete negative Effekte einer medizinischen Intervention“ meint.208 Die Begriffe des Nutzens und des Schadens sollen allerdings nur dann Verwendung finden, wenn ein Vergleich der therapeutischen Intervention gegenüber Placebo oder keiner Behandlung erfolgt; andernfalls benutzt das IQWiG eine komparative Terminologie wie Zusatznutzen, geringer oder kein Nutzen bzw. höherer, vergleichbarer oder geringerer Schaden.209 Auch diese einen Vergleich ausdrückenden Begriffe beruhen jedoch darauf, dass mit dem Nutzen nur therapeutisch positive Effekte bezeichnet werden. Damit bezeichnet der Begriff des Nutzens in der Terminologie des IQWiG die Wirksamkeit der Intervention, wie sie in dieser Arbeit definiert ist. Demgegenüber wird auch beim IQWiG die Abwägung des Nutzens mit dem Schaden der Intervention als „Nutzenbewertung“ bezeichnet, die in der Feststellung eines Zusatznutzens münden kann.210 Somit verwendet das IQWiG nicht gänzlich stringent einen Nutzenbegriff im Sinne von Wirksamkeit, bezeichnet die Bilanzierung mit dem Schadenspotenzial der Intervention jedoch als Nutzenbewertung bzw. im Falle des Vergleichs mit anderen Interventionen als Zusatznutzenbewertung. Überwiegt die Wirksamkeit das Schadenspotenzial, hat die Intervention einen (Zusatz-)Nutzen. 207 Für einen Überblick s. etwa Dierks, Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 11 (2006), 374 (375); Francke / Hart, Bundesgesundheitsblatt 49 (2006), 241 (242); Reese / Stallberg, in: Dieners / Reese, Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn.  85 ff.; Engelmann, in: Schlegel / Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 139a Rn. 8 ff. 208 IQWiG, Allgemeine Methoden Version 5.0 vom 10.07.2017, S. 42. 209 IQWiG, Allgemeine Methoden Version 5.0 vom 10.07.2017, S. 42. 210 IQWiG, Allgemeine Methoden Version 5.0 vom 10.07.2017, S. 44.

280

5. Kap.: Nutzenbewertung im Recht der GKV

Ein Nutzen kann sich nach den Allgemeinen Methoden des IQWiG nur durch die Beeinflussung patientenrelevanter Endpunkte ergeben. Ein abschließender Katalog wird nicht definiert, doch werden lediglich die Endpunkte Mortalität, Morbidität und gesundheitsbezogene Lebensqualität explizit als geeignet benannt. Morbidität wird dabei durch die beiden Elemente der Krankheitsbeschwerden und Komplikationen definiert. Das Methodenpapier bezeichnet demgegenüber zwei weitere Endpunkte, die nicht als patientenrelevant definiert werden, nämlich der interventions- und erkrankungsbezogene Aufwand sowie die Patientenzufriedenheit. Diese Endpunkte können zwar in die Bewertung des Nutzens einbezogen werden, für sich genommen jedoch nach der Sicht des IQWiG keinen Nutzen begründen.211 Dies steht im Einklang mit der gesetzgeberischen Definition des Nutzens als Zweckmäßigkeit zur Erreichung eines Therapieziels nach § 27 Abs. 1 SGB V. Für jeden der Endpunkte in einer Nutzenbewertung erfolgt nach der Methodik des IQWiG eine Bewertung der Aussagesicherheit in den Graden Beleg, Hinweis, Anhaltspunkt oder keine Bewertung. Um zu dieser Bewertung zu gelangen, wird die Aussagesicherheit in qualitativer und quantitativer Hinsicht bewertet. Die qualitative Bewertung orientiert sich primär an dem Studientyp und der Methodik der einzelnen Studie. Randomisierte Studien erhalten je nach studienspezifischem Verzerrungspotenzial die Bewertung mit hoher oder mäßiger qualitativer Ergebnissicherheit, während nicht randomisierte Studien maximal zu einer geringen qualitativen Ergebnissicherheit führen können. Die quantitative Bewertung umfasst den Stichprobenumfang, die Anzahl der vorhandenen klinischen Studien sowie das Vorhandensein von Meta-Analysen, die bevorzugt herangezogen werden.212 Das IQWiG verlangt im Regelfall das Vorliegen einer Meta-Analyse (mit gleichgerichteten Effekten aus den Einzelstudien) oder mindestens zwei voneinander unabhängige, im Ergebnis übereinstimmende Studien mit hoher qualitativer Ergebnissicherheit, deren Resultate nicht durch andere Studien wieder in Frage gestellt werden, um eine hinreichend sichere Aussage über den Nutzen einer Intervention treffen zu können.213 Aus einer einzelnen Studie lässt das IQWiG nur im Ausnahmefall einen Nutzennachweis zu, wenn es sich um eine methodisch hochwertige, multizentrische, randomisierte Studie handelt, die zu sehr homogenen Ergebnissen mit einem sehr kleinen p-Wert (p