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German Pages 434 [430] Year 2020
Ansgar Seide Die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze bei Kant
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 144
Ansgar Seide
Die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze bei Kant
ISBN 978-3-11-069713-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069720-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069724-7 ISSN 0344-8142 Library of Congress Control Number: 2020935259 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
„[D]ie Philosophie erscheint immer lächerlich, wenn sie aus eigenem Mittel, ohne ihre Abhängigkeit von der Erfahrung zu gestehen, das Wissen erweitern und der Welt Gesetze geben will.“ (Schiller in einem Brief an Goethe vom 16. Oktober 1795)
Vorwort Diese Arbeit ist eine leicht überarbeitete Version meiner Habilitationsschrift, die im Juli 2018 vom Fachbereich Geschichte/Philosophie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als schriftliche Habilitationsleistung angenommen wurde. Der größte Teil der Arbeit an meinem Habilitationsprojekt fiel in die Zeit meiner Tätigkeit als Akademischer Rat a. Z. am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen dieser Jahre für die tolle Arbeitsatmosphäre und vor allem Oliver R. Scholz für die jahrelange Unterstützung und für die Ermöglichung eines aus meiner Sicht für wissenschaftliche Forschung ganz besonders wertvollen Gutes, nämlich solcher Bedingungen, unter denen ich meinem Projekt mit großer Freiheit nachgehen konnte. Ich danke außerdem allen Studierenden, die in diesen Jahren in meinen Seminaren durch ihre Mitarbeit und ihre kritischen Nachfragen mein Verständnis vieler philosophischer Texte gefördert haben. Für die Begutachtung der Arbeit, ihre wohlwollenden Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge sowie viele hilfreiche Gespräche zu den Themen meiner Arbeit danke ich Dietmar Heidemann, Ulrich Krohs, Peter Rohs und Oliver R. Scholz. Während der gesamten Dauer des Habilitationsprojektes hatte ich die Gelegenheit, regelmäßig Teile der Arbeit im gemeinsam von Ulrich Krohs und Oliver R. Scholz (und anfangs auch Niko Strobach) veranstalteten Kolloquium vorzustellen. Den Veranstaltern sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums möchte ich für die immer wieder wertvollen Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge danken. Dem DAAD danke ich für die Gewährung eines Forschungsstipendiums, das mir die wertvolle Gelegenheit gab, im Jahr 2015 sechs Monate lang als Visiting Scholar an der Stanford University zu verbringen und dort große Teile der Kapitel 3 und 4 dieser Arbeit fertigzustellen. Bei meinem Gastgeber an der Stanford University, Michael Friedman, möchte ich mich für die sehr freundliche Aufnahme und die intensiven Diskussionen meiner Texte bedanken, von denen meine Arbeit erheblich profitiert hat. Letzte Überarbeitungsschritte von Teilen der Arbeit wurden ermöglicht durch eine Förderung im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Induktive Metaphysik“ (FOR 2495/1; Projekt Scho 401/9 – 1). Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Unterstützung. Außerdem möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, mit denen ich über die Jahre hinweg Gelegenheit hatte, über einzelne inhaltliche Punkte oder ganze https://doi.org/10.1515/9783110697209-001
VIII
Vorwort
Teile meines Projektes zu sprechen. Ebenso bedanken möchte ich mich bei all denjenigen, die mein Interesse an dem Thema der Arbeit geweckt haben, und zwar zum Teil schon lange bevor ich geahnt habe, dass es einmal zum Gegenstand meiner Habilitationsschrift werden würde. Viele kurze und lange Gespräche haben mir sehr dabei geholfen, einen Einstieg in das Thema zu bekommen, tiefer in die Materie einzudringen, ein besseres Verständnis von Kants und auch Humes Texten zu gewinnen, interpretatorische Probleme zu lösen oder zumindest in ein klareres Licht zu rücken sowie meine Interpretation zu entwickeln und sie durch die Konfrontation mit alternativen Lesarten immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Zu den Personen, denen hierfür Dank gebührt, gehören R. Lanier Anderson, Jochen Briesen, Andrew Chignell, Graciela de Pierris, Silvia De Toffoli, Timo Dresenkamp, Dina Emundts, Kristina Engelhard, Brigitte Falkenburg, Eckart Förster, Michael Friedman, Gabriele Gava, Franz Gniffke, Erdmann Görg, Arne Grießer, Dietmar Heidemann, Norbert Herold, Andreas Hüttemann, Eva-Maria Jung, Nikola Kompa, Johannes Korbmacher, Ulrich Krohs, Andrea LailachHennrich, Paul Näger, Michael Oberst, Christian Quast, Bernd Prien, Rosemarie Rheinwald, Peter Rohs, Tobias Rosefeldt, Sebastian Schmoranzer, Georg Schöffel, Oliver R. Scholz, Ludwig Siep, Niko Strobach, Christian Suhm, Bernhard Thöle, Daniel Warren, Eric Watkins, Marcus Willaschek, Achim Vesper und Kay Zenker. Meiner Familie, insbesondere meinen Eltern, danke ich dafür, dass sie mich immer in allem, was mir wichtig war, vorbehaltlos unterstützt haben. Mein herzlicher Dank gilt außerdem Irene Buchholz, die mich für den größten Teil der Zeit der Arbeit an diesem Projekt begleitet hat und in vielerlei Hinsicht eine äußerst wertvolle Unterstützung war. Außerdem danke ich den Herausgebern der „Quellen und Studien zur Philosophie“ für die Aufnahme der Schrift in ihre Reihe. Münster, im Februar 2020
Inhalt Einleitung 1 Das Grundproblem: Empirische Naturgesetze und Notwendigkeit Die drei Grundfragen bezüglich der Notwendigkeit empirischer 5 Naturgesetze Der Aufbau der Arbeit 7 17 Allgemeine Vorbemerkungen
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Teil I Die Grundlagen . .
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21 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre Ein vorläufiger Überblick über mögliche Quellen von Kants Hume25 Rezeption Kausalität in Humes Treatise of Human Nature 28 .. Humes empiristische Grundthese 29 .. Die (zunächst vergebliche) Suche nach dem Eindruck der 30 notwendigen Verknüpfung 32 .. Das allgemeine Kausalprinzip .. Die skeptische Stufe des Arguments: Die Unzulänglichkeit vernünftiger Begründungen unserer Kausalschlüsse 33 .. Die naturalistische Stufe des Arguments: Die Grundlage 35 unserer Kausalschlüsse im Vorstellungsvermögen .. Die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung 37 .. Fazit: Drei Fragen und zwei Antworten in Form von psychologischen Erklärungen 39 39 Kausalität in Humes Enquiry concerning Human Understanding .. Die Darstellung der Kausalitätskritik in der Enquiry im Vergleich zum Treatise 40 .. Ein Unterschied zwischen der Enquiry und dem Treatise in Hinblick auf eine Bewertung der Konsequenzen der 41 Kausalitätskritik Kants Rezeption von Humes Kausalitätstheorie 42 .. Der Einfluss der Enquiry auf den vorkritischen Kant 43 48 .. Der allgemeine Kausalsatz und Beatties Essay .. Humes metaphysischer Skeptizismus in Hamanns Übersetzung des Schlussabschnittes des ersten Buches des Treatise 50
X
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Inhalt
Kants Verhältnis zu Humes Skepsis 56 Will Kant einen Humeschen Skeptizismus widerlegen? 57 57 .. Die Neuauflage einer alten Debatte .. Forsters und Guyers Bestimmung der Auseinandersetzung mit der Humeschen Skepsis als ein zentrales Moment der Kritik der reinen Vernunft 60 .. Humes Betrachtungen zum Thema Kausalität als Basis eines 63 allgemeineren Skeptizismus 68 .. Hatfields Analyse der Kritiken und der Prolegomena .. Einschätzung von Hatfields Position und Zwischenfazit 74 .. Der Zusammenhang zwischen Humescher und Pyrrhonischer 76 Skepsis Mögliche Einwände gegen die vorgeschlagene Lesart 84 .. Die analytische und die synthetische Methode 85 89 .. Problematische Textstellen Der Vorrang des Erklärungsprojektes vor dem Projekt der Widerlegung 91 des Humeschen Skeptizismus Kants Vorgehen in der Kritik der reinen Vernunft 95 .. Die in der Kritik der reinen Vernunft zu lösende Aufgabe und die Grundideen der Lösungsschritte 95 .. Fazit – Die Rolle der Frage der Rechtfertigung empirischer 102 Naturgesetze im Rahmen von Kants kritischem Ansatz
Teil II Die Detailanalysen .
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Die zweite Analogie der Erfahrung 107 109 Vorbetrachtungen .. Der Grundgedanke des Beweises 109 113 .. Wahrnehmungen und Objektbezug .. Synthesis in der A-Deduktion – Die Grundidee 115 .. Die dreifache Synthesis 118 .. Wahrnehmungen im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung 125 129 Kausale Verknüpfungen, Kausalgesetze und Notwendigkeit .. Die zweite Analogie der Erfahrung – Die Formulierungen der A- und der B-Auflage 129 .. Die Notwendigkeit empirischer Kausalgesetze 132
Inhalt
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Die Notwendigkeit von Grundsätzen, die Notwendigkeit von empirischen Kausalgesetzen und die Notwendigkeit von kausalen Verknüpfungen 133 138 Der Argumentationsgang .. Das Ausgangsproblem: Objektive Zeitbestimmung 138 141 .. Die Unumkehrbarkeit von Wahrnehmungsfolgen .. Die Unbestimmtheit der Abfolge der subjektiven 146 Wahrnehmungen – ein anderes Problem? .. Die Einführung kausaler Gesetzeshypothesen zur Bestimmung der objektiven Zeitfolge 149 .. Guyers Interpretation: Das Argument für die zweite Analogie 155 als ein epistemologisches Argument .. Mut zum Risiko – Gesetzeshypothesen als erster Schritt in die objektive Welt 158 .. Humes Kausalitätsproblem in den Prolegomena – Ein Problem des Begriffsgehaltes 160 Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung und die Existenz 170 empirischer Naturgesetze .. Notwendigkeit und Nötigung 170 .. Die Notwendigkeit der empirischen Gesetze und der kausalen 174 Verknüpfung 178 .. Die Existenz empirischer Naturgesetze Fazit und Ausblick – Die Aufgabe der Rechtfertigung von empirischen Naturgesetzen 186 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft 188 Das Programm der Metaphysischen Anfangsgründe 189 .. Die metaphysischen Anfangsgründe als reiner Teil der Naturwissenschaft 189 .. Die metaphysischen Anfangsgründe als Teil der Metaphysik 190 der Natur .. Die metaphysischen Anfangsgründe als Bindeglied zwischen Metaphysik und empirischer Wissenschaft 192 Der empirische Begriff der Materie 192 .. Der Begriff der Materie als Grundbegriff der metaphysischen 193 Anfangsgründe der Physik .. Materie als das Bewegliche im Raum 196 .. Die Bestimmung der weiteren Merkmale des Begriffes der Materie: Plaass’ Auslegung 201
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Inhalt
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Ein Hinweis auf den empirischen Ursprung des Begriffes der Materie 204 .. Beweglichkeit als ein durch Erfahrung gegebener 207 Begriff .. Undurchdringlichkeit als ein durch Erfahrung gegebener Begriff 208 .. Die Erklärungen der Metaphysischen Anfangsgründe als 211 analytische Urteile a priori Die Rolle der Mathematik im Rahmen der metaphysischen Anfangsgründe der Physik 216 .. Mathematische Konstruktion und objektive Realität 217 .. Gründe dafür, dass der Begriff der Materie nicht 219 mathematisch konstruierbar ist .. Mathematik und die Teilbegriffe des Begriffes der 221 Materie .. Die Orientierung der Kapitel der Metaphysischen 224 Anfangsgründe an der Kategorien-Tafel .. Empirischer Begriff, transzendentale Grundsätze und mathematische Konstruktion: Die Elemente der metaphysischen Anfangsgründe 225 228 Die ersten Schritte – Die Phoronomie und die Dynamik .. Die Konstruktion des mathematischen Begriffes der Bewegung in der Phoronomie 228 .. Der Übergang zum empirischen Materie-Begriff: Die Einführung der Grundkräfte der Materie in der Dynamik 231 .. Die Verwobenheit der apriorischen und empirischen Elemente 234 im geschichteten Materie-Begriff Die Mechanik 235 235 .. Bewegungsmitteilung und Masse .. Das erste Gesetz der Mechanik: Die Beharrlichkeit der Materie 241 .. Das zweite Gesetz der Mechanik: Die Trägheit der Materie 244 .. Das dritte Gesetz der Mechanik: Die Gleichheit von Wirkung 246 und Gegenwirkung Die Phänomenologie: Der Ort von Kants Begründung des Gravitationsgesetzes? 255 .. Die drei Lehrsätze der Phänomenologie 256
Inhalt
XIII
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Der Ausgangspunkt von Friedmans Auslegung: Die Phänomenologie als Newtonsches Verfahren der Bestimmung wirklicher Bewegung 261 .. Friedmans Rekonstruktion: Kants Newtonsche Herleitung des Gravitationsgesetzes im Rahmen der Konstruktion des absoluten Raumes 263 .. Die Parallelen zwischen Kants Phänomenologie und Newtons 271 Herleitung des Gravitationsgesetzes .. Der Zusammenhang der Phänomenologie mit den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt 275 .. Eine Alternative zu Friedmans Rekonstruktion: Kants 279 Begründung des Gravitationsgesetzes nach Plaass .. Die Überschneidungen zwischen den beiden alternativen Interpretationen von Kants Begründung des Gravitationsgesetzes 284 Die Frage der Vereinbarkeit der Metaphysischen Anfangsgründe mit 289 der Kritik der Urteilskraft Der Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft 292 Das Problem des Verhältnisses des Anhangs zur Transzendentalen 292 Dialektik zu anderen Theorieteilen der kritischen Philosophie Das Prinzip der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik 294 .. Zur Stellung des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik innerhalb der Kritik der reinen Vernunft 295 .. Der immanente Gebrauch der Vernunftideen und des Prinzips 297 der Systematizität .. Logische und transzendentale Prinzipien 300 .. Die Unmöglichkeit einer empirischen Rechtfertigung des 303 Prinzips der Systematiziät .. Das Problem einer transzendentalen Deduktion des Prinzips der Systematizität 308 .. Die indirekte Deduktion der Idee der Systematizität und Kants Abstandnahme von ihr 312 .. Die reale Unmöglichkeit des Objektes der Idee der Systematiziät im Anhang zur Transzendentalen Dialektik 314 Der Zusammenhang des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik mit der Frage nach der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze 320
XIV
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Inhalt
Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft 326 Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft 327 327 .. Bestimmende und reflektierende Urteilskraft 329 .. Die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft .. Die Rolle des Prinzips der Urteilskraft beim Bilden empirischer Begriffe 332 .. Das Prinzip der Urteilskraft als ein Prinzip der Systematizität 335 der Natur 337 .. Die subjektive Notwendigkeit des Prinzips der Urteilskraft .. Der objektive Gehalt des Prinzips der Urteilskraft 342 Das Schöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der 343 Natur .. Die Erfahrung des Schönen als Grundlage des Prinzips der Urteilskraft 344 345 .. Urteile über das Schöne .. Zwei Arten von subjektiver Zweckmäßigkeit 350 353 .. Zweckmäßige Systematizität und reale Möglichkeit .. Reale Möglichkeit und Symbolisierung 356 .. Das Naturschöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur 361 364 Das Prinzip der Systematizität und das Induktionsproblem Das Prinzip der Urteilskraft und die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze 367 .. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft in der zweiten Einleitung: Die Grundlage der Notwendigkeit empirischer Gesetze? 368 .. Das Problem der Vereinbarkeit mit den Metaphysischen 370 Anfangsgründen .. Zwei verschiedene Systeme? Engelhards Vereinbarungsversuch 374 .. Das Prinzip der Urteilskraft und die transzendentalen Gesetze des Verstandes 377 .. Die Verteilung der Aufgaben zwischen Verstand und Urteilskraft nach Friedman 382 .. Die Verwobenheit des Prinzips der Urteilskraft in die Grundlegung der empirischen Naturgesetze durch den 385 Verstand .. Die Fundierung der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze 391 Fazit 396
Inhalt
Bibliographie 402 Primärliteratur 402 402 David Hume 402 Immanuel Kant Isaac Newton 403 403 Sekundärliteratur 410
Personenregister Sachregister
412
XV
Einleitung 1 Das Grundproblem: Empirische Naturgesetze und Notwendigkeit In der Kritik der reinen Vernunft vertritt Kant bekannterweise die These, dass der Verstand der Natur Gesetze vorschreibt. In einer besonders griffigen Formulierung hält Kant diese These in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können fest: [ D ] e r Ve r s t a n d s c h ö p f t s e i n e G e s e t z e a p r i o r i n i c h t a u s d e r N a t u r , s o n d e r n s c h r e i b t s i e d i e s e r v o r. (Prol, AA 4: 320)¹
Hierbei handelt es sich, wie der Zusatz „a priori“ verdeutlicht, zumindest um Kants Position in Bezug auf die transzendentalen Grundsätze des Verstandes. Neben den transzendentalen Grundsätzen gibt es jedoch auch empirische Naturgesetze, bei denen es sich um konkretere Gesetze handelt. Sie sind deshalb empirisch, weil sie „jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen“ (Prol, AA 4: 320). Insbesondere „können empirische Gesetze, als solche, ihren Ursprung keineswegs vom reinen Verstand herleiten“ (KrV, A 127). Zumindest, so heißt es in der B-Auflage etwas vorsichtiger, können sie aus den Kategorien des Verstandes, die die Grundlage der transzendentalen Grundsätze sind, „n i c h t v o l l s t ä n d i g a b g e l e i t e t werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen“ (KrV, B 165).² Aus diesen Äußerungen ergibt sich folgendes Bild: Während der Verstand der Natur die allgemeinen transzendentalen Grundsätze vorschreibt, weshalb diese a priori gelten, bleiben die empirischen Gesetze durch die Struktur des Verstandes unterbestimmt. Aufgrund dieser Unterbestimmtheit ist es für die Er-
Zur Zitierweise, insbesondere zur Wiedergabe der Hervorhebungen in Kants Texten, siehe das Literaturverzeichnis. Was es genau bedeutet, dass die empirischen Gesetze unter den transzendentalen Gesetzen des Verstandes stehen, wird in den Kapiteln 3 – 6 ausführlich untersucht. An dieser Stelle genügt für ein Vorverständnis vielleicht der Hinweis, dass Kant diesen Umstand in der A-Deduktion in einer alternativen Formulierung so ausdrückt, dass die empirischen Gesetze „besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes“ sind (KrV, A 128). Nach der in der vorliegenden Arbeit vertretenen Lesart bedeutet dies, dass die empirischen Gesetze in dem Sinne empirische Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze sind, dass sie unter Hinzufügung von empirisch ermittelten Regularitäten aus letzteren abgeleitet werden können. Empirische Naturgesetze haben also letztlich insofern einen gemischten Status, als sie aus apriorischen und empirischen Anteilen zusammengesetzt sind. https://doi.org/10.1515/9783110697209-002
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Einleitung
kenntnis empirischer Naturgesetze erforderlich, auf Wahrnehmungen zurückzugreifen. Zugleich möchte Kant aber empirische Naturgesetze als Gesetze verstehen, die zumindest mit dem Anspruch einer notwendigen Gültigkeit verbunden sind: Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundsätze des empirischen Verstandesgebrauchs betrachtet werden, führen zumindest einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die Vermutung einer Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sein, bei sich. (KrV, A 159 / B 198)
Es gilt, dass die „Notwendigkeit der Gesetze dem Begriffe der Natur unzertrennlich anhängt und daher durchaus eingesehen sein will“ (MAN, AA 4: 469). Kant erklärt Notwendigkeit zu einem grundlegenden Merkmal von Naturgesetzen, das auch für empirische Naturgesetze charakteristisch ist. Insbesondere handelt es sich hierbei um ein Merkmal, das empirische Naturgesetze von bloßen empirischen Regeln abgrenzt, welchen gerade keine Notwendigkeit zukommt.³ Und Kant betont, dass es sogar für die Möglichkeit von Erfahrung notwendig ist, dass es solche „notwendig gültige Regeln“, also empirische Gesetze, gibt (Prol, AA 4: 312). Wenn die empirischen Naturgesetze wirklich im strengen Sinne „Gesetze heißen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur erfordert)“, dann gilt, dass sie „als notwendig angesehen werden müssen“ (KU, AA 5: 180). Dies führt in Bezug auf die Möglichkeit der Erkenntnis von empirischen Naturgesetzen jedoch zu einem Problem. Denn Kant zufolge können wir die Notwendigkeit eines Satzes nur dann einsehen, wenn dieser a priori gültig ist: Erfahrung lehrt uns zwar, daß etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein könne. Findet sich also […] ein Satz, der zugleich mit seiner N o t w e n d i g k e i t gedacht wird, so ist er ein Urteil a priori […]. (KrV, B 3)
Die notwendige Gültigkeit der transzendentalen Grundsätze des Verstandes erschließt sich auf genau diese Weise: Sie gelten mit transzendentaler Notwendig-
Bei bloßen empirischen Regeln handelt es sich um induktiv ermittelte Regularitäten, die keinen apriorischen Anteil haben und folglich „nur angenommene und komparative A l l g e m e i n h e i t (durch Induktion)“ haben (KrV, B 3). Ein für Kant zentrales Beispiel für die Unterscheidung zwischen bloßen empirischen Regeln und empirischen Gesetzen im strengen Sinne sind die Keplerschen Gesetze über die Umlaufbahnen der Planeten einerseits und das Newtonsche Gravitationsgesetz andererseits. Während es sich bei ersteren um bloße induktive Verallgemeinerungen handelt, ist letzteres Kant zufolge ein strenges empirisches Naturgesetz, das mit Notwendigkeit gilt. Dieses Beispiel wird in Kapitel 4, insbesondere in Abschnitt 4.6, eine zentrale Rolle spielen.
1 Das Grundproblem: Empirische Naturgesetze und Notwendigkeit
3
keit, weil es eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist, dass der Verstand sie der Natur vorschreibt. Deshalb gelten sie a priori. Empirische Naturgesetze werden jedoch, wie gerade gesehen, der Natur Kant zufolge nicht a priori vorgeschrieben. Die Erkenntnis von ihnen müssen wir empirisch erwerben. Zusammenfassend ergibt sich im Rahmen von Kants Erkenntniskonzeption in der Kritik der reinen Vernunft zumindest prima facie, dass es für uns unmöglich ist, empirische Naturgesetze als solche – d. h. als notwendige Gesetze – zu erkennen. Dies scheint sich zumindest aus den drei gerade herausgearbeiteten Thesen zu ergeben, die Kant allesamt explizit vertritt⁴: (1) Empirische Naturgesetze sind mit dem Anspruch auf notwendige Gültigkeit verbunden. (2) Die notwendige Gültigkeit eines Satzes kann nur dann eingesehen werden, wenn der Satz a priori gültig ist. (3) Die Gültigkeit empirischer Naturgesetze ist nicht a priori einsehbar. Es dürfte jedoch jedem aufmerksamen Leser von Kants Schriften klar sein, dass er die aus diesen drei Sätzen zu ziehende skeptische Konsequenz, dass wir empirische Naturgesetze prinzipiell nicht erkennen können, nicht zu ziehen bereit ist. In Kants Konzeption muss es also eine komplexere Geschichte bezüglich der empirischen Naturgesetze geben, als die in den bisher hervorgehobenen Thesen zutage getretene. Es ist diese komplexere Geschichte, die den Hauptgegenstand der vorliegenden Arbeit darstellt. Eine Andeutung für eine solche komplexere Geschichte findet sich denn auch in einem der bereits oben angeführten Zitate: Die Formulierung, dass die empirischen Gesetze von den transzendentalen Gesetzen des Verstandes „n i c h t v o l l s t ä n d i g a b g e l e i t e t werden [können], ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen“ (KrV, B 165), lässt die Vermutung zu, dass die Lösung des geschilderten Problems darin liegt, dass die empirischen Gesetze zumindest teilweise aus den transzendentalen Gesetzen abgeleitet werden können.⁵ Es stellt sich natürlich die Frage, was das genau bedeutet und inwiefern sich hierdurch die Möglichkeit der Erkenntnis empirischer Naturgesetze und ihrer Notwendigkeit ergibt.
In einer ähnlichen Weise wird dieses Problem von Kitcher (1986, 224 f.) und Engelhard (2011, 55) beschrieben. Wie bereits oben in Fn. 2 angedeutet, lässt sich dies in einer ersten Annäherung so verstehen, dass die empirischen Gesetze empirische Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze sind. Sie sind also insofern teilweise aus den transzendentalen Gesetzen abgeleitet, als sie zwar aus diesen nicht allein, aber unter Hinzufügung empirisch ermittelter Regularitäten abgeleitet werden können.
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Einleitung
Eine Interpretation, die einen detaillierten Vorschlag darüber enthält, was Kant hiermit gemeint haben könnte, hat Michael Friedman in zahlreichen Veröffentlichungen entwickelt. Friedman nimmt unter anderem die gerade zitierte Stelle aus der B-Deduktion zum Anlass, Kant eine Position zuzuschreiben, nach der nicht nur die Notwendigkeit der Grundsätze des Verstandes, sondern auch die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze auf Leistungen des Verstandes beruht. Friedman zufolge ergibt sich dies insbesondere anhand einer sorgfältigen Analyse der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, eine Schrift, in der Kant sich das Ziel setzt, der empirischen Physik ein apriorisches Fundament zu legen, das auf den transzendentalen Gesetzen des Verstandes basiert. Dies legt nahe, dass Kant zufolge die Notwendigkeit der empirischen Gesetze der Physik eben gerade darauf zurückzuführen ist, dass diese in einer (genauer zu bestimmenden) Relation zu den Verstandesgrundsätzen stehen. Auf der anderen Seite legen vor allem die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft ein anderes Bild nahe. An einer für den gegenwärtigen Zusammenhang ganz besonders relevanten Stelle, an der Kant erneut auf die Unterbestimmtheit der empirischen Naturgesetze durch die transzendentalen Gesetze des Verstandes aufmerksam macht, weist er explizit darauf hin, dass die empirischen Gesetze „in Ansehung [des Verstandes] zufällig sind“ und dass der Verstand „ihre Notwendigkeit nicht erkennt oder jemals einsehen könnte“ (KU, AA 5: 184). Viele Interpreten, wie beispielsweise Gerd Buchdahl, Philip Kitcher, Henry Allison und Paul Guyer, nehmen Stellen wie diese zum Anlass, Kant eine Position zuzuschreiben, nach der die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze nicht auf Leistungen des Verstandes zurückzuführen ist, also insbesondere auch nicht auf einen herzustellenden Zusammenhang zwischen den transzendentalen Gesetzen des Verstandes und den empirischen Naturgesetzen, der nach Friedmans Interpretation für Kants Konzeption empirischer Naturgesetze zentral ist. Statt dessen sind diese Interpreten der Auffassung, dass Kant die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze darauf zurückführt, dass sie innerhalb eines Systems der empirischen Gesetze miteinander im Zusammenhang stehen. Bei diesem System der empirischen Gesetze handelt es sich um etwas, was im Prozess der Erforschung der Natur von uns erkennenden Subjekten gemäß einem Prinzip der Systematizität hergestellt wird, ein Prinzip, das Kant in der Kritik der reinen Vernunft dem Vermögen der Vernunft zuschreibt und in der Kritik der Urteilskraft, in einer leicht abgewandelten Form, dem Vermögen der Urteilskraft.⁶ Entsprechend basiert
Die Verschiebung dieses Prinzips vom Vermögen der Vernunft zum Vermögen der Urteilskraft, die, wie ich argumentieren werde, in Kants Augen für die Möglichkeit einer Rechtfertigung dieses Prinzips eine bedeutende Rolle spielt, wird in den Kapiteln 5 und 6 ausführlich thematisiert.
2 Die drei Grundfragen bezüglich der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze
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dieser Interpretation zufolge die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze nicht auf Leistungen des Verstandes, sondern der Vernunft beziehungsweise der Urteilskraft. Es gilt also, diese unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden Interpretationsansätze vor dem Hintergrund einer sorgfältigen Analyse der relevanten Textstellen gegeneinander abzuwägen. Dabei wird sich zeigen, dass die Rollen des Verstandes auf der einen und der Vernunft beziehungsweise der Urteilskraft auf der anderen Seite in einer sehr komplexen Weise miteinander verwoben sind. Um diese Verwobenheit, die erst im letzten Kapitel dieser Arbeit voll sichtbar wird, zutage fördern zu können, muss die oben skizzierte Frage nach der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze zunächst noch detaillierter aufgefächert werden.
2 Die drei Grundfragen bezüglich der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze In der obigen Darstellung des in dieser Arbeit behandelten Grundproblems von Kants Konzeption empirischer Naturgesetze stand zunächst eine ganz bestimmte Frage im Vordergrund, nämlich die epistemische Frage, wie sich im Rahmen von Kants Erkenntniskonzeption empirische Naturgesetze rechtfertigen lassen. Im Zusammenhang mit der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze treten jedoch weitere zentrale Fragen auf, die eng mit der epistemischen Frage zusammenhängen. Ich möchte insgesamt drei miteinander zusammenhängende Fragen herausstellen, die als die Leitfragen dieser Arbeit betrachtet werden können: 1)
Die semantische Frage: Was meint Kant, wenn er sagt, dass empirische Naturgesetze mit einem Anspruch auf Notwendigkeit verbunden sind?⁷
Es ist klar, dass es sich hierbei um eine schwächere Form von Notwendigkeit als transzendentale Notwendigkeit handeln muss. Transzendentale Notwendigkeit kann im Sinne einer modernen Analyse von Modalitäten auf der Grundlage möglicher Welten so verstanden werden, dass all dasjenige transzendental notwendig ist, was in allen Welten, in denen Erfahrung möglich ist, gilt. Empirische Naturgesetze sind, wie die obigen Ausführungen deutlich machen dürften, nicht transzendental notwendig, da die transzendentalen Gesetze des Verstandes den genauen Gehalt der empirischen Gesetze unterbestimmt lassen. Die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze lässt sich schlecht durch eine Analyse auf der Grundlage von möglichen Welten erklären. Eine Antwort auf die semantische Frage, die Kants Ansatz angemessen ist, wird sich im Rahmen von Abschnitt 3.4 ergeben.
6
Einleitung
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Die Konstitutionsfrage: Wodurch wird die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze konstituiert?⁸ 3) Die epistemische Frage: Wie lässt sich die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze erkennen? Wie eng diese drei Fragen gerade im Rahmen von Kants transzendentalem Idealismus miteinander zusammenhängen, kann man anhand der Antworten erahnen, die Kant auf die analogen Fragen in Bezug auf die transzendentalen Grundsätze des Verstandes gibt: Dass die transzendentalen Grundsätze mit Notwendigkeit gelten, bedeutet Kant zufolge, dass ihre Gültigkeit eine notwendige Bedingung dafür ist, dass Erkenntnis von der Natur überhaupt möglich ist. Sie gelten also mit transzendentaler Notwendigkeit (Antwort auf die semantische Frage). Die Notwendigkeit dieser Grundsätze wird durch den Verstand konstituiert, der sie der Natur vorschreibt (Antwort auf die Konstitutionsfrage). Genau deshalb lässt sich ihre Notwendigkeit auch von uns erkennen: Wir können Kants Auffassung nach anhand transzendentaler Argumente einsehen, dass diese Grundsätze gelten müssen, weil wir einsehen können, dass es eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Naturerkenntnis ist, dass der Verstand der Natur diese Gesetze aufprägt (Antwort auf die epistemische Frage). Wie wir sehen werden, sind auch in Bezug auf die empirischen Naturgesetze die Antworten der drei Fragen eng miteinander verknüpft. Die entsprechenden Zusammenhänge, die im Verlauf dieser Arbeit untersucht werden, sind allerdings in diesem Fall komplexer, als im Fall der transzendentalen Gesetze. Die Spuren für die Antworten auf die drei Fragen werden im zweiten Teil dieser Arbeit verfolgt, in dem diejenigen Abschnitte von Kants kritischen Schriften, die für seine Konzeption empirischer Naturgesetze besonders zentral sind, auf diese Fragen hin untersucht werden. Dabei werden sich bezüglich der drei Fragestellungen in den einzelnen Kapiteln 3 – 6 unterschiedliche Schwerpunktsetzungen ergeben. So steht beispielsweise in Kapitel 3, in dem der Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft untersucht wird, die semantische
Der Ausdruck „konstituieren“ mag an dieser Stelle noch etwas unterbestimmt sein, wird aber im Laufe des am Ende dieser Einleitung gegebenen Überblicks über die Arbeit und natürlich vor allem im Verlauf der Arbeit selbst an Klarheit gewinnen. Die Grundprämisse dieser Fragestellung besteht darin, dass die Notwendigkeit der empirischen Gesetze im Sinne von Kants transzendentalem Idealismus auf Leistungen eines oder mehrerer unserer Erkenntnisvermögen beruht. Die Frage zielt ab auf eine in der Sekundärliteratur vorhandene und in Abschnitt 1 dieser Einleitung bereits kurz skizzierte Debatte darüber, ob die Notwendigkeit der empirischen Gesetze auf Leistungen des Verstandes zurückzuführen ist oder auf Leistungen der theoretischen Vernunft beziehungsweise der Urteilskraft.
3 Der Aufbau der Arbeit
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Frage im Vordergrund, während sich gerade herausstellen wird, dass die epistemische Frage der Rechtfertigung konkreter empirischer Gesetze von Kant in diesem Abschnitt zurückgestellt wird. In den Kapiteln 4– 6, in denen die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, der Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft sowie die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft behandelt werden, stehen hingegen vor allem die epistemische Frage und die Konstitutionsfrage im Vordergrund. Erst im Fazit des sechsten und letzten Kapitels dieser Arbeit, in dem die Ergebnisse der Kapitel des zweiten Teils zusammenlaufen, wird eine Beantwortung der drei Fragen im Gesamtzusammenhang möglich sein. Es folgt im nächsten Abschnitt ein etwas ausführlicherer Überblick über den Aufbau der Arbeit und den Inhalt der einzelnen Kapitel. Eilige Leser können diesen Abschnitt überspringen und über den kurzen Abschnitt 4 dieser Einleitung, der noch ein paar allgemeine Vorbemerkungen enthält, zum ersten Hauptteil der Arbeit übergehen.
3 Der Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil, der aus den Kapiteln 1 und 2 besteht, stellt eine Erarbeitung der Grundlagen von Kants Konzeption empirischer Naturgesetze dar. Im zweiten Teil, der die Kapitel 3 bis 6 umfasst, werden Schlüsselstellen aus Kants kritischen Schriften, an denen er sich mit dem Thema der empirischen Naturgesetze auseinandergesetzt hat, einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Die Erarbeitung der Grundlagen im ersten Teil dieser Arbeit orientiert sich in erster Linie an Kants Auseinandersetzung mit Hume. Der Grund hierfür besteht darin, dass Kants Konzeption empirischer Naturgesetze sehr eng mit seiner Kausalitätskonzeption verknüpft ist, die er in Auseinandersetzung mit Humes Kausalitätskritik entwickelt.⁹ Der enge Zusammenhang mit der Konzeption empirischer Naturgesetze besteht darin, dass es sich bei den empirischen Naturge-
Es ist in neuerer Zeit von einigen Interpreten mit Nachdruck darauf hingewiesen worden, dass Kants Kausalitätskonzeption bezüglich ihrer ontologischen Grundannahmen ihre Wurzeln in der Kausalitäts-Debatte innerhalb der rationalistischen Tradition hat. Siehe hierzu vor allem Watkins (2005), der diese Position vor dem Hintergrund einer eingehenden Untersuchung dieser Tradition entwickelt. Auch wenn ich in der vorliegenden Arbeit diesen Wurzeln von Kants Kausalitätskonzeption nicht nachgehe, wird sich an einigen Stellen zeigen, dass die Ergebnisse dieser Arbeit mit Watkins’ Analyse im Wesentlichen im Einklang stehen. Siehe hierzu insbesondere Kap. 1, Fn. 24, Kap. 2, Fn. 7, sowie Kap. 3, Fn. 74.
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setzen, die Kant zufolge mit dem Anspruch auf Notwendigkeit verbunden sind, um konkrete Kausal- und Wechselwirkungsgesetze handelt. Diese konkreten Kausal- und Wechselwirkungsgesetze, die unter die Kategorien der Kausalität beziehungsweise der Gemeinschaft fallen, enthalten Kant zufolge den Begriff einer objektiven notwendigen Verknüpfung. ¹⁰ Dies bedeutet, dass die empirischen Kausal- und Wechselwirkungsgesetze notwendige Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen beziehungsweise zwischen Objekten, die in Wechselwirkung miteinander stehen, beschreiben. Ein zentraler Punkt von Humes Kausalitätskritik besteht in der These, dass es generell unmöglich ist, eine notwendige Verknüpfung zwischen den Objekten unserer Erfahrung zu erkennen. Hierbei handelt es sich um ein Ergebnis, mit dem Kant sich nicht abfinden möchte. Eine (auch von Kant an zentralen Stellen gewählte¹¹) Art, die Entstehung der kritischen Philosophie zu erzählen, besteht darin, die kritische Wende als eine Reaktion auf Humes Kausalitätskritik zu beschreiben, die unter anderem zum Ziel hat, zu erklären, wie eben doch notwendige Verknüpfungen zwischen den Objekten unserer Erfahrung erkennbar sind. Insofern dies für Kant zugleich verbunden ist mit der Erkenntnis von empirischen Kausal- und Wechselwirkungsgesetzen, denen diese notwendigen Verknüpfungen der Objekte unterliegen, gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Kants Auseinandersetzung mit Humes Kausalitätskritik und dem Thema dieser Arbeit. Im ersten Kapitel gehe ich der Frage nach, aus welchen Schriften Humes Kant sich sein Bild von Humes Kausalitätskritik geformt hat. Wie sich zeigen wird, sprechen die Belege deutlich dafür, dass Kant zunächst über Humes Enquiry concerning Human Understanding einen Zugang zu Humes Position erhalten hat. Die Enquiry lag, im Gegensatz zum Treatise of Human Nature, in deutscher Übersetzung lange vor der Veröffentlichung der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft vor. Kant hatte in der Entwicklungsphase der Kritik der reinen Vernunft den Treatise zwar nicht in Gänze zur Verfügung, doch waren ihm zumindest Teile des Treatise aus indirekten Quellen zugänglich. Nach einer Rekonstruktion der in diesen Schriften Humes enthaltenen Kausalitätskonzeption und seiner Kausalitätskritik werde ich untersuchen, welche Aspekte der Darstellung in der Enquiry für Kants frühe Auffassung von Humes Position prägend waren. Wie sich zeigen wird, war Kants eigene Kausalitätskonzeption in der Mitte der 1760er Jahre stark durch Humes Konzeption in der Enquiry geprägt. Kants spätere Abwendung Dass dieser Begriff der objektiven notwendigen Verknüpfung in den Kategorien der Kausalität und der Wechselwirkung (wie auch in der Kategorie der Subsistenz) enthalten ist, macht Kant in den Prolegomena im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Humes Kausalitätskritik (Prol, AA 4: 310 f.) explizit. Siehe hierzu unten den Beginn von Kapitel 1.
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von dieser Position lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass ihm die Tragweite der skeptischen Konsequenzen von Humes Position, die in der Darstellung des Treatise offener zutage treten als in der Enquiry, durch eine spätere indirekte Bekanntschaft mit Inhalten des Treatise bewusst wurde. Aufbauend auf dem ersten Kapitel arbeite ich im zweiten Kapitel heraus, in welches Verhältnis sich Kant zu Humes Kausalitätsskepsis setzt und worin genau die Zielsetzung seiner Entgegnung auf Hume besteht. Dieser in der Kant-Literatur vieldiskutierten Frage nähere ich mich in einer Auseinandersetzung mit neueren Arbeiten zu dem Thema von Michael Forster, Paul Guyer und Gary Hatfield. Während Forster und Guyer die Position vertreten, dass eines der Hauptziele in der Kritik der reinen Vernunft darin besteht, Humes Kausalitätsskepsis zu widerlegen, bestreitet Hatfield, dass eine Auseinandersetzung mit Humes Kausalitätsskeptizismus im Zentrum von Kants kritischer Position steht. Nach einer ausführlichen Abwägung der Argumente und Textbelege gelange ich zu folgender Zwischenposition: Kants Ziel besteht nicht, wie von Forster und Guyer behauptet, darin, Humes Kausalitätsskepsis zu widerlegen – die Falschheit dieses Skeptizismus ist nach Kants eigener Auskunft vielmehr offenkundig. Dennoch ist eine Auseinandersetzung mit Humes Skepsis – entgegen Hatfields Ansicht – für die Entwicklung von Kants kritischer Position zentral: Eines der Hauptanliegen Kants in der Kritik der reinen Vernunft ist eine kritische Zurückweisung der Erkenntnisansprüche der dogmatischen Metaphysik. Kant betrachtet Hume in der Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik als einen Verbündeten, der es – ebenso wie Kant selbst – mit seinem Ansatz darauf abgesehen hat, die Unhaltbarkeit der Erkenntnisansprüche der dogmatischen Metaphysiker im Bereich jenseits möglicher Erfahrung aufzuzeigen. Allerdings gerät diese Kritik an der dogmatischen Metaphysik Kant zufolge dadurch in eine Schieflage, dass Humes Position – wenn auch, wie Kant offenbar meint, von Hume nicht beabsichtigt – allgemeinere skeptische Konsequenzen zur Folge hat, die auch den Gebrauch des Kausalitätsbegriffes in den Wissenschaften und im Alltag betreffen. Diese letzteren skeptischen Konsequenzen hält Kant jedoch für derart absurd, dass er durch sie den Humeschen Ansatz insgesamt für untergraben hält. Insofern ist es aus Kants Sicht ein bedeutender Teilschritt in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik, dass er zeigen kann, dass sein eigener Ansatz nicht dieselben skeptischen Konsequenzen zur Folge hat, die seiner Meinung nach aus Humes Ansatz folgen. Dies muss er deshalb zeigen, weil die entsprechenden skeptischen Konsequenzen seinen Ansatz ebenso ad absurdum führen und damit als Argumentationsgrundlage gegen die dogmatische Metaphysik unwirksam machen würden, wie Humes. Kants Interesse in der Kritik der reinen Vernunft gilt primär der Metaphysik. Aus der gerade angedeuteten Verwicklung seiner Kritik an der dogmatischen
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Metaphysik mit Humes Kausalitätskritik lässt sich jedoch ableiten, dass er indirekt darauf festgelegt ist, auch die Möglichkeit von Alltagserfahrung und empirischer Naturwissenschaft im Rahmen seines Ansatzes erklären zu können. Dies beinhaltet Kants eigener Auffassung nach insbesondere die Erklärung der Möglichkeit notwendiger empirischer Naturgesetze und unserer Erkenntnis von ihnen. Die im zweiten Teil der Arbeit einsetzenden Detailanalysen von Schlüsselstellen aus Kants Werk zu diesem Thema sollen klären, wie Kant sich diese Erklärung im Detail vorgestellt hat. Die Reihenfolge der in den Kapiteln 3 – 6 analysierten Schlüsselstellen ist nicht (ganz) chronologisch, sondern orientiert sich in erster Linie an systematischen Gesichtspunkten. Das im dritten Kapitel analysierte Argument für die zweite Analogie der Erfahrung verdeutlicht zunächst relativ allgemeine Ansichten Kants über Kausalität und empirische Naturgesetze und liefert auch eine erste Antwort auf die semantische Frage danach, was Kant meint, wenn er im Zusammenhang von empirischen Gesetzen von Notwendigkeit spricht.¹² Die in Kapitel 4 analysierten Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft legen solche Antworten auf die Konstitutions- und auf die epistemische Frage nahe, nach denen es in erster Linie das Verstandesvermögen ist, das die Notwendigkeit der empirischen Gesetze sowohl konstituiert, als auch die Erkenntnis dieser Notwendigkeit ermöglicht. In den Kapiteln 5 und 6 werden auf der anderen Seite Theoriestücke Kants beleuchtet, die auf den ersten Blick nahelegen, dass sowohl die Konstitution als auch die Erkenntnis der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze auf ein Prinzip der Systematizität zurückgeführt wird. Das Prinzip der Systematizität wird im Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft (Kapitel 5) dem Vermögen der Vernunft zugeordnet, in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft (Kapitel 6) dem Vermögen der Urteilskraft. Der im dritten Kapitel eingehend untersuchte Abschnitt zur zweiten Analogie der Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft wird in der Kant-Literatur häufig als der für Kants Antwort auf Hume zentrale Abschnitt betrachtet. Dieser Abschnitt beinhaltet Kants Argument für die Gültigkeit des allgemeinen Kausalsatzes, dem zufolge jedes Ereignis eine Ursache hat. Es ist jedoch in der aktuellen Kant-Literatur äußerst umstritten, inwieweit die Ergebnisse dieses Abschnitts außerdem eine Relevanz für die Frage nach der Existenz und Notwendigkeit konkreter empirischer Naturgesetze haben. Im Anschluss an Arbeiten Gerd Buchdahls vertreten viele Interpreten die Auffassung, dass Kant im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung nicht
Zur Unterscheidung zwischen der semantischen, der Konstitutions- und der epistemischen Frage siehe oben, Abschnitt 2 dieser Einleitung.
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den Anspruch erhebt, die Existenz von notwendigen empirischen Naturgesetzen aufzuzeigen. Statt dessen geht es diesen Interpreten zufolge Kant in der zweiten Analogie der Erfahrung um einen schwächeren Kausalitätsbegriff, dem gemäß Kausalrelationen nicht darin bestehen, dass die Relata durch ein notwendiges Kausalgesetz verknüpft sind. Kants zweite Analogie der Erfahrung besagt nach dieser Auslegung also lediglich, dass jedes Ereignis eine Ursache haben muss, ohne dass dadurch bereits feststehen würde, dass die Ursache die Wirkung gemäß einem allgemeinen und notwendigen Gesetz hervorbringt. Auf der anderen Seite vertritt Michael Friedman die Position, dass Kant in der zweiten Analogie der Erfahrung durchaus beansprucht, die Existenz notwendiger empirischer Naturgesetze nachzuweisen. Wie Friedmans Analyse von zentralen Aussagen Kants zum Kausalitätsbegriff zeigt, legt sich Kant tatsächlich explizit darauf fest, dass Ursachen ihre Wirkungen stets nach einem allgemeinen und notwendigen Kausalgesetz hervorbringen. Die zweite Analogie der Erfahrung beinhaltet also, entgegen der von Buchdahl begründeten Interpretationslinie, die These der Existenz von notwendigen empirischen Naturgesetzen. Entsprechend stellt sich die Frage, wie Kant diese These begründet. Die im dritten Kapitel vorgenommene ausführliche Analyse des Arguments für die zweite Analogie der Erfahrung hat daher zum Ziel, Kants Argument für die Existenz notwendiger und allgemeiner empirischer Kausalgesetze nachzuvollziehen. Hierbei wird außerdem herauszuarbeiten sein, was Kant im Zusammenhang mit empirischen Gesetzen unter Notwendigkeit versteht. Eines der Ergebnisse in Bezug auf Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung besteht darin, dass es in diesem Argument nicht um die Rechtfertigung von Urteilen über objektive Zeitfolgen geht, wie dies etwa Paul Guyer im Rahmen seiner epistemologischen Lesart des Arguments für die zweite Analogie vertritt. Statt dessen geht es Kant in erster Linie darum zu zeigen, dass die Gültigkeit der zweiten Analogie der Erfahrung eine notwendige Bedingung unserer Fähigkeit ist, unsere subjektiven Vorstellungen überhaupt auf Objekte zu beziehen. Es geht ihm also im Wesentlichen um eine Analyse des Phänomens der Intentionalität. Kant beansprucht durch sein Argument unter anderem zu zeigen, dass wir, um unsere Wahrnehmungen auf Objekte beziehen zu können, sie anhand von Gesetzeshypothesen interpretieren müssen. Der Grund hierfür besteht darin, dass es nur durch eine Anwendung von Gesetzeshypothesen möglich ist, den Objekten der Wahrnehmungen eine objektive Zeitstruktur aufzuerlegen. Die Frage, ob unsere Bezugnahmen im konkreten Fall auch gerechtfertigt sind, also insbesondere ob die von uns für diese Bezugnahme vorausgesetzten empirischen Gesetzeshypothesen gerechtfertigt sind, tritt hingegen, wie ich ausführlich zeigen werde, im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung in den Hintergrund. Aus dem Argument für die zweite Analogie geht lediglich hervor, dass irgendwelche em-
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pirischen Gesetze existieren müssen. Um die unterschiedlichen Facetten von Kants Antwort auf die Frage der Auffindung und der Rechtfertigung bestimmter empirischer Naturgesetze geht es in den Kapiteln 4 bis 6. Die in Kapitel 4 thematisierten Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft sind für die vorliegende Thematik ein besonders wichtiger Text, da Kant in diesem Werk den Versuch unternimmt, zumindest einer empirischen Naturwissenschaft, nämlich der Physik, eine apriorische Grundlage zu verschaffen. Er begründet dieses Anliegen explizit damit, dass nur auf diese Weise den in dieser empirischen Wissenschaft enthaltenen Gesetzen Notwendigkeit zugesprochen werden kann (MAN, AA 4: 468). Die apriorische Grundlage, die Kant der Physik verschaffen möchte, soll auf den Kategorien und transzendentalen Grundsätzen des Verstandes aufbauen. Insofern stellt das gesamte Projekt der Metaphysischen Anfangsgründe schon von seiner programmatischen Ausrichtung her einen gewichtigen Anhaltspunkt für die Hypothese dar, dass die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze Kant zufolge wesentlich auf Leistungen des Verstandes zurückzuführen ist. Die in den Metaphysischen Anfangsgründen abgehandelten metaphysischen Anfangsgründe der Physik nehmen eine interessante Mittelstellung zwischen den transzendentalen Grundsätzen des Verstandes und den empirischen Gesetzen der Physik ein. Die sogenannten metaphysischen Gesetze der metaphysischen Anfangsgründe sollen eine Verbindung herstellen zwischen den transzendentalen Gesetzen des Verstandes und der empirischen Physik. Dies soll dadurch möglich werden, dass die metaphysischen Gesetze durch eine Anwendung der transzendentalen Gesetze auf einen empirischen Begriff, nämlich den Begriff der Materie, hervorgehen. Bei dem Begriff der Materie handelt es sich Kant zufolge um den grundlegendsten Begriff in Bezug auf die Gegenstände der äußeren Sinne und insofern um den ausgewiesenen Grundbegriff der Physik. Dadurch, dass die Gesetze der metaphysischen Anfangsgründe das Resultat einer Spezifizierung der transzendentalen Grundsätze anhand des grundlegendsten Begriffes der Physik sind, sollen sie also einen Übergang schaffen zwischen der Sphäre des reinen Verstandes und der empirischen Wissenschaft der Physik. Ein Hauptpunkt der Rekonstruktion des Gedankenganges der Metaphysischen Anfangsgründe stellt daher eine Untersuchung des Status des zentralen Begriffes der Materie dar. Ausgehend von einer Arbeit von Peter Plaass¹³ wird häufig die These vertreten, dass der Begriff der Materie Kant zufolge nicht empirisch entstanden ist, sondern dass er, trotz eines apriorischen Ursprungs, deshalb von Kant als empirischer Begriff bezeichnet wird, weil seine objektive Realität durch Er-
Plaass (1965).
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fahrung gesichert werden muss. Die Überlegung hinter dieser Lesart besteht darin, dass es sich bei den metaphysischen Anfangsgründen der Physik Kant zufolge um eine reine Wissenschaft, genau genommen um den reinen Teil der Physik, handeln soll. Nur eine Reinheit dieser Wissenschaft im Sinne einer vollkommenen Abwesenheit von empirisch hervorgegangenem Gehalt, so die Vertreter der besagten Lesart, sichere, dass es sich bei den in den metaphysischen Anfangsgründen enthaltenen Gesetzen auch wirklich um notwendige Gesetze handelt. Eine Analyse von zentralen Aussagen Kants zum Begriff der Materie zeigt jedoch, dass Kant den Begriff der Materie tatsächlich für einen empirisch entstandenen Begriff hält.¹⁴ Anhand einer Analogie mit Kants Konzeption analytischer Urteile wird sich außerdem ergeben, dass dies, entgegen der Annahme von Plaass und anderen, nach Kants Konzeption mit der Notwendigkeit der auf diesem Begriff basierenden metaphysischen Gesetze vereinbar ist. Interessant für das Thema der gegenwärtigen Arbeit ist dann vor allem die Frage, in welcher Weise die Fundierungsfunktion der metaphysischen Gesetze für die empirischen Gesetze der Physik zu denken ist. Kant geht auf diese Frage in den Metaphysischen Anfangsgründen jedoch kaum ein. Michael Friedman und Peter Plaass haben in unterschiedlicher Weise versucht zu rekonstruieren, wie die Fundierung zumindest eines besonders zentralen Gesetzes der Newtonschen Physik, nämlich des Gravitationsgesetzes, durch die metaphysischen Anfangsgründe von Kant gedacht wird. Eine ausführliche Analyse dieser beiden Rekonstruktionen zeigt, dass beiden eine gewisse Plausibilität zukommt. Friedmans Rekonstruktion basiert auf zahlreichen indirekten Belegen und vermag außerdem zu zeigen, wie Kant durch eine an Newtons Principia orientierte Herleitung des Gravitationsgesetzes zentrale Probleme zu lösen imstande ist, die sich für seinen transzendentalen Idealismus stellen. Insbesondere ergibt sich im Rahmen dieser Rekonstruktion eine schlüssige Antwort auf die Frage, was Kant im Rahmen seiner Konzeption, die geprägt ist von einer Ablehnung der These von der Existenz eines absoluten Raumes, unter wirklichen Bewegungen (im Unterschied zu bloß scheinbaren Bewegungen) versteht. Dadurch ist Friedmans Rekonstruktion auf eine interessante Art eingebettet in eine Gesamtsicht auf Kants Programm in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und Kants Auseinandersetzung mit Newton. Plaass’ Rekonstruktion von Kants Herleitung des Gravitationsgesetzes hingegen ist eher skizzenhaft, kann aber stärker als Friedmans durch direkte Textbelege motiviert werden. Beiden Lesarten gemeinsam ist jedoch, dass sie zeigen, wie man sich im Rahmen von Kants Ansatz eine Verbindung zwischen den Gesetzen der metaphysischen Anfangsgründe und dem Gravitationsgesetz
Dies arbeitet Friedman (2001) heraus.
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derart vorstellen kann, dass letzteres als empirische Spezifizierung ersterer verstanden werden kann. Hier zeigt sich also zumindest anhand des Beispiels eines konkreten empirischen Naturgesetzes, wie es nach Kant zu verstehen ist, dass, vermittelt durch die Gesetze der metaphysischen Anfangsgründe, empirische Naturgesetze als „besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes“ (KrV, A 128) aufgefasst werden können. Im fünften Kapitel wende ich mich dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft zu. In diesem Abschnitt, der etwas abseits der Hauptpfade der Kritik der reinen Vernunft liegt und deshalb lange Zeit nicht viel Beachtung gefunden hat, haben in letzter Zeit einige Kant-Interpreten zentrale Gedanken Kants zur Methodologie der Naturwissenschaft und zum Status von empirischen Naturgesetzen ausgemacht. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist dieser Abschnitt deshalb besonders relevant, weil er Gedanken vorwegnimmt, die in den beiden Einleitungen der Kritik der Urteilskraft in veränderter Form wiederkehren und die dort von Kant explizit in einen Zusammenhang mit dem Thema der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze gestellt werden. Kant entwickelt im Anhang zur Transzendentalen Dialektik die Idee, dass es für wissenschaftliche Forschung wesentlich ist, dass wir anstreben, unsere Erkenntnis in eine systematische Einheit zu bringen. Er weist die Tendenz, unsere empirische Erkenntnis zu systematisieren, dem Vermögen der Vernunft zu: Die Vernunft bezieht sich nicht unmittelbar auf Gegenstände, sondern auf den Verstand und seine Begriffe und Erkenntnisse (KrV, A 643 / B 671). Nach einem Prinzip der systematischen Einheit ordnet sie die Verstandeserkenntnisse so, als ob die Gegenstände der Natur und die empirischen Gesetze, unter denen sie stehen, eine systematische Einheit darstellen. In Bezug auf eine Rechtfertigung dieses Prinzips stößt Kant jedoch auf ein Problem, das er, wie ich zeigen werde, im Rahmen seiner Konzeption dieses Prinzips in der Kritik der reinen Vernunft nicht lösen kann. Das Problem besteht darin, dass er dieses Prinzip einerseits für unverzichtbar hält. Es ist Kant zufolge notwendig, die Erforschung der Natur am Prinzip der Systematizität auszurichten. Andererseits ist es, wie Kant ebenfalls festhält, äußerst problematisch, die Naturerkenntnis unter eine Maxime der Systematisierung zu stellen, wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass dies dem Erkenntnisgegenstand, der Natur, überhaupt angemessen ist. Es muss also die Annahme, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist, in irgendeiner Form gerechtfertigt werden. Das Prinzip erfordert also eine transzendentale Deduktion. Wie sich zeigen wird, lassen sich einige miteinander unvereinbare Textstellen im Anhang zur Transzendentalen Dialektik dadurch erklären, dass Kant eine solche transzendentale Deduktion des Prinzips der Systematizität für unbedingt erforderlich hält, jedoch sich nicht dazu in der Lage sieht, eine transzendentale De-
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duktion, die seinen eigenen Ansprüchen genügt, zu vollbringen. Ich werde genauer herausarbeiten, wie sich dieses Problem aus den immanenten Vorgaben von Kants Ansatz ergibt. Meine These lautet, dass Kant das Problem in der Kritik der reinen Vernunft nicht löst und dass er es auch im Rahmen der Konzeption der Kritik der reinen Vernunft gar nicht lösen kann. Erst in der Kritik der Urteilskraft, so möchte ich dann im folgenden Kapitel zeigen, erweitert Kant seinen Ansatz um wichtige Ressourcen, die ihm eine solche Lösung zumindest dem eigenen Anspruch nach ermöglichen. In den in Kapitel 6 behandelten Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft greift Kant den im Anhang zur Transzendentalen Dialektik entwickelten Gedanken der Systematisierung unserer Erkenntnisse wieder auf. Während er jedoch im Anhang zur Transzendentalen Dialektik die Aufgabe der Systematisierung dem Vermögen der Vernunft zugesprochen hat, kommt diese Aufgabe in der Kritik der Urteilskraft dem dort neu eingeführten Vermögen der reflektierenden Urteilskraft zu. Das Verhältnis der Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft zu den zuvor erschienenen Werken der kritischen Phase ist gleich in doppelter Hinsicht schwer zu bestimmen. So ist zum einen unklar, wie sich die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft zum Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft verhalten. Zum anderen gibt es, zumindest auf den ersten Blick, gewisse Spannungen zwischen den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft. Beide Verhältnisse werden in diesem Kapitel ausführlich analysiert. In Bezug auf das Verhältnis zum Anhang zur Transzendentalen Dialektik stellt sich die Frage, ob Kant durch die Umwidmung des Prinzips der systematischen Einheit von einem Prinzip der Vernunft zu einem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft eine konzeptionelle Änderung dieses Prinzips vollzieht. Ich möchte herausarbeiten, dass Kant das in Kapitel 5 herausgestellte Problem einer transzendentalen Deduktion des Prinzips der systematischen Verfasstheit der Natur durch die Verortung in den Kontext der Kritik der Urteilskraft zumindest in einem gewissen Maße einer Lösung zuführen kann. Kant erklärt in der Kritik der Urteilskraft, dass dieses Prinzip dadurch gestützt wird, dass wir in der Erfahrung schöner Naturgegenstände die Natur als für unsere Erkenntniskräfte zweckmäßig eingerichtet erfahren (KU, AA 5: 246). Diesen freilich erklärungsbedürftigen Zusammenhang möchte ich genau ausleuchten, indem ich zeige, dass für Kant das Naturschöne in einer Symbolisierungsrelation zu der Idee einer systematisch verfassten Natur steht.¹⁵ Die hieraus resultierende Begründung des Prinzips ist
Auf diese Symbolisierungsrelation zwischen dem Naturschönen und der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur haben auch Rueger / Evren (2005) und Chignell (2006) hingewie-
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zwar nur eine sehr schwache, aber aus Kants Sicht reicht sie aus, um zumindest eine rationale Hoffnung auf die tatsächliche systematische Verfasstheit der Natur zu begründen und damit das Argument, das er in den Einleitungen in die dritte Kritik die transzendentale Deduktion des Prinzips der Urteilskraft nennt, zu vervollständigen. In Bezug auf das Verhältnis zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft stellt sich die Frage, ob Kant in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft eine Konzeption der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze entwickelt, die im Widerspruch zur Konzeption der Metaphysischen Anfangsgründe (und auch bestimmter Stellen der ersten Kritik) steht.Während der Konzeption der Metaphysischen Anfangsgründe zufolge die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze auf einer Fundierung der empirischen Gesetze durch die transzendentalen Gesetze des Verstandes basiert, scheint Kant, wie einige Interpreten vertreten, in den beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze durch das Systematizitätsprinzip der reflektierenden Urteilskraft zu fundieren. Wie sich durch einige Textstellen der Kritik der Urteilskraft jedoch belegen lässt, strebt Kant in der dritten Kritik nicht an, die Ergebnisse der Metaphysischen Anfangsgründe zu revidieren. Es stellt sich also die Frage, inwiefern sich diese Ergebnisse mit den entsprechenden Textstellen in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft vereinbaren lassen, in denen Kant der Urteilskraft eine Rolle im Zusammenhang mit der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze zuschreibt. In diesem Zusammenhang greife ich Friedmans Vorschlag auf, dem zufolge die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze zwar vom Verstand fundiert wird, der Urteilskraft jedoch eine wichtige Hilfsfunktion zukommt. Diese besteht Friedman zufolge darin, diejenigen empirischen Gesetzesannahmen, deren Verbindung zu den Verstandesgrundsätzen noch nicht eingesehen werden konnte, im Rahmen eines Systems so weit zu entwickeln, dass sie auf lange Sicht mit den Grundsätzen des Verstandes in Verbindung gebracht werden können. Während ich der Meinung bin, dass sich die Grundzüge dieses Vorschlags als richtig erweisen lassen, wird sich zeigen, dass die Rolle der Urteilskraft in Bezug auf die Rechtfertigung empirischer Naturgesetze tiefer reicht, als von Friedman im Rahmen seiner Interpretation vertreten. Zum einen spielt die Urteilskraft im Rahmen der Herleitung des Gravitationsgesetzes, das Friedman als das Paradebeispiel eines durch den Verstand gerechtfertigten empirischen Naturgesetzes anführt, eine unverzichtbare Rolle. Zum anderen ist die Urteilskraft mit ihrem
sen, jedoch ohne dies in einen Zusammenhang mit der transzendentalen Deduktion des Prinzips der Systematizität zu stellen.
4 Allgemeine Vorbemerkungen
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Prinzip der Systematizität sogar involviert in die Grundlegung der Physik im Rahmen der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, da letztere, wie in Kapitel 4 gezeigt, mit dem Begriff der Materie einen empirisch entstandenen Begriff enthalten. Die Bildung empirischer Begriffe und die Rechtfertigung von induktiven Verallgemeinerungen, die in diese Bildung eingehen, ist eine der Aufgaben, für die das Prinzip der Systematizität Kant zufolge unverzichtbar ist. Zum Abschluss werde ich dafür argumentieren, dass sich diese Ergebnisse, die Friedmans Lesart gegenüber eine Stärkung der Relevanz der Urteilskraft in Bezug auf die Rechtfertigung empirischer Naturgesetze darstellen, dennoch mit Friedmans These vereinbaren lassen, dass es letztlich der Verstand ist, der die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze konstituiert.
4 Allgemeine Vorbemerkungen Vor dem Einstieg in den ersten Teil der Arbeit sind noch ein paar allgemeine Vorbemerkungen zur Ausrichtung dieser Arbeit nötig. Wie der oben dargestellte Problemaufriss und die Vorschau auf die einzelnen Kapitel möglicherweise bereits verdeutlicht haben, liegt der Fokus der Arbeit auf einer möglichst genauen Rekonstruktion von Kants Position. Eine Bewertung von Kants Position aus systematischer Perspektive sowie eine Beurteilung der Anschlussfähigkeit an aktuelle Debatten bezüglich der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze bleiben hier außen vor. Die Frage, inwiefern und inwieweit Kants Konzeption auch im Rahmen heutiger systematischer Debatten verwertet werden kann, ist natürlich eine interessante Frage, der es nachzugehen lohnt. Ich plädiere jedoch dafür, zunächst die Frage, welche Position Kant tatsächlich vertreten hat, isoliert davon zu betrachten. In einem zweiten Schritt, den ich in der vorliegenden Arbeit nicht mehr vollziehen werde, kann dann die Frage der systematischen Verwertbarkeit der so erarbeiteten Position Kants gestellt werden. Der Grund dafür, die Interpretation zunächst von der Frage der systematischen Verwertbarkeit isoliert zu behandeln, besteht darin, dass ansonsten die Gefahr besteht, dass die Interpretation von vornherein (bemerkt oder unbemerkt) durch systematische Interessen gefärbt ist. Dies ist meines Erachtens in der Sekundärliteratur zu Kant nicht selten der Fall. So werden wir in Abschnitt 6.4.2 beispielhaft sehen, dass eine an systematischen Interessen ausgerichtete Interpretation manche Interpreten dazu verleitet, eine Lesart zu vertreten, die bestimmte Textstellen oder sogar ganze Werke Kants (im vorliegenden Beispiel die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft) vollständig ausblenden muss. Mir liegt in dieser Arbeit vor allem daran, aus den Werken Kants zumindest einer bestimmten Phase eine
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möglichst in sich stimmige Position herauszudestillieren, die vor dem Hintergrund von Kants allgemeiner Position nachvollziehbar ist. Der Auswahl der in dieser Arbeit behandelten Schriften Kants liegt eine Fokussierung auf die kritische Phase seines Schaffens, insbesondere der Zeit von der Veröffentlichung der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) bis zur Veröffentlichung der Kritik der Urteilskraft (1790), zugrunde. Eine der Hauptthesen dieser Arbeit lautet, dass Kant zumindest in dieser Phase eine relativ einheitliche Konzeption empirischer Naturgesetze vertreten hat. Auf vorherige Entwicklungsstufen dieser Konzeption in der vorkritischen Phase wird nur an solchen Stellen eingegangen, an denen dies das Verständnis der kritischen Position in besonderer Weise befördert. Eine Einbeziehung des Opus postumum, in dem Kant vor allem zu Beginn unter dem Arbeitstitel „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik“ erneut verstärkt auf den Zusammenhang zwischen der apriorischen Struktur des Verstandes und der empirischen Naturwissenschaft eingeht, wäre aus inhaltlichen Gründen selbstverständlich interessant und insofern wünschenswert gewesen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Opus postumum aufgrund seines Zustands als Fragment ganz besondere interpretatorische Probleme aufwirft, die entsprechend in der inzwischen stark angewachsenen Sekundärliteratur zu Kontroversen geführt haben¹⁶, musste eine Berücksichtigung dieses Nachlasswerkes in der vorliegenden Arbeit aus Gründen des Umfanges, die diese Einbeziehung angenommen hätte, unterbleiben.
Für eine umfangreiche Dokumentation der Rezeption des Opus postumum siehe Basile (2013).
1 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre Der große Einfluss David Humes auf die Entwicklung von Immanuel Kants kritischer Philosophie ist offenkundig und wird von Kant selbst in einer berühmten und häufig zitierten Passage seiner Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können hervorgehoben: Ich gestehe frei: Die Erinnerung des D a v i d H u m e war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab. (Prol, AA 4: 260)
Die Frage, welchen Inhalt die erwähnte Erinnerung Humes¹ hatte und somit zugleich die Frage, welches Thema den Anstoß für die Entwicklung der kritischen
Kreimendahl (1990, 18) weist darauf hin, dass Kants Formulierung „Erinnerung David Humes“ häufig missverstanden wurde und stellt klar, was auch frühere Kant-Forscher schon festgestellt hatten: „Der Genitiv darin darf […] nicht im Sinne eines genitivus objectivus als Erinnerung an David Hume verstanden werden. Gemeint ist vielmehr der genitivus subjectivus und damit das von Hume in Erinnerung gebrachte.“ (Hervorhebung im Original) Er verweist auf entsprechende Feststellungen in der Kant-Literatur, beispielsweise auf Vaihinger (1895, 439), der in Bezug auf einen Aufsatz des dänischen Philosophen Harald Höffding anmerkt: „Höffding verwechselt hier die beiden Bedeutungen von ,Erinnerung‘ – recordatio (Rückerinnerung an etwas Früheres) und admonitio (Mahnerinnerung an etwas Uebersehenes); bei einem Ausländer ist diese Verwechslung entschuldbar; einem deutschen Leser braucht nicht erst bewiesen zu werden, dass dem stilistischen Zusammenhang nach ,Erinnerung‘ in jener Stelle Kants nur im zweiten Sinne gebraucht sein kann.“ Diese Bemerkung scheint mir eine besonders griffige Begriffsbestimmung zu enthalten. Dieses Missverständnis hat unter anderem zu Fehlern bei Übersetzungen ins Englische geführt. Neben Norman Kemp Smith wird Lewis White Beck von Kreimendahl als Beispiel für jemanden genannt, dem dieser Fehler unterlaufen ist. Beck hat diesen Fehler später selbst berichtigt: „In my edition of the Prolegomena (New York, 1951) I translated Erinnerung as if it referred to Kant’s recollection of what Hume had said, not to Hume’s suggestion or hint […]. [N]ow I wish to renounce that translation not merely on grammatical grounds (the 1951 reading was strained) but on the grounds that Kant could not, in 1772, have ,recollected‘ what Hume had said.“ Beck (1978, 118 f., Fn. 22). Kreimendahl (1990, 19), fügt kommentierend hinzu, dass die grammatischen Gründe schlagend sind, auch wenn man sich Becks aus interpretatorischen Gesichtspunkten heraus gegebener Begründung nicht anschließt. Brandt (1992, 105 f.) widerspricht in diesem Punkt jedoch: „Kant erinnert sich dessen, was er schon in der Mitte der sechziger Jahre verstanden, aber nicht im Hinblick auf die neue Metaphysik der Dissertation durchdacht hatte (,… die Erinnerung des David Hume‘ kann eben ambivalent sein).“ https://doi.org/10.1515/9783110697209-003
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1 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre
Philosophie gegeben hat, scheint Kant in der Folge relativ eindeutig zu beantworten. So führt er wenige Zeilen später aus: Ich versuchte also zuerst, ob sich nicht Humes Einwurf allgemein vorstellen ließe, und fand bald: daß der Begriff der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige sei, durch den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, daß Metaphysik ganz und gar daraus bestehe. (Prol, AA 4: 260)
Wir erfahren an dieser Stelle zumindest so viel, dass die auf Hume zurückgehende Erweckung mit dessen Angriff auf den Begriff der Kausalität, einem zentralen Begriff der Metaphysik, im Zusammenhang steht. Kant betrachtet diesen Angriff unter anderem dadurch als bedrohlich, dass er sich auf andere Begriffe der Metaphysik und somit zu einem Angriff auf die Metaphysik insgesamt ausweiten lässt. In § 27 der Prolegomena fügt Kant hinzu: Hier ist nun der Ort, den Humeschen Zweifel aus dem Grunde zu heben. Er behauptete mit Recht: daß wir die Möglichkeit der Kausalität, d. i. der Beziehung des Daseins eines Dinges auf das Dasein von irgendetwas anderem, was durch jenes notwendig gesetzt werde, durch Vernunft auf keine Weise einsehen. (Prol, AA 4: 310)
Es liegt aufgrund dieser Textlage äußerst nahe, Humes Ausführungen zum Thema Kausalität als Ausgangspunkt der Überlegungen Kants zu betrachten, die zur Entwicklung seiner kritischen Philosophie geführt haben.² Trotz dieser scheinbar eindeutigen Hinweise zur Genese der kritischen Philosophie aus Kants eigener Feder hat sich eine umfangreiche Debatte über die Frage ergeben, wodurch genau Kants Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer ausgelöst wurde. Insbesondere werden in dieser Debatte andere Zitate Kants angeführt, die den Einfluss Humes auf den ersten Blick als nebensächlich erscheinen lassen. In diesen anderen Zitaten äußert sich Kant dahingehend, dass es die Entdeckung der Antinomie der reinen Vernunft war, die zur Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer geführt hat. So schreibt Kant in § 50 der Prolegomena mit Bezug auf die kosmologischen Ideen und ihre Verstrickung in die Antinomie der reinen Vernunft:
So halten etwa De Pierris / Friedman (2013, Abschnitt 1) nach einer Betrachtung dieser und anderer Stellen aus den Prolegomena, mit Bestimmtheit fest: „Thus, it was Hume’s ,attack‘ on metaphysics (and in particular, on the concept of cause and effect) which first provoked Kant himself to undertake a fundamental reconsideration of this (supposed) science.“
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Dieses Produkt der reinen Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauch ist das merkwürdigste Phänomen derselben, welches auch unter allen am kräftigsten wirkt, die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und sie zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft selbst zu bewegen. (Prol, AA 4: 338).
Diese zunächst recht allgemein gehaltene Bemerkung wird in einem berühmten Brief Kants an Christian Garve vom 21. September 1798 noch deutlicher auf die tatsächliche Genese der kritischen Philosophie Kants bezogen: Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V. [reinen Vernunft] […]; diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben. (Br, AA 12: 257 f.)³
Auf der Grundlage der Spannung zwischen den hier zitierten Stellen hat sich ein Streit darüber ergeben, worin genau die Erweckung Kants bestanden hat. War es, wie Kant zu Beginn der Prolegomena bekennt, Humes Kritik am Kausalitätsbegriff, die den ersten Anstoß gab, oder, wie aus anderen Stellen zu entnehmen zu sein scheint, die Entdeckung der Antinomie der reinen Vernunft? Neben Positionen, die eine dieser beiden Möglichkeiten auf Kosten der anderen als richtig ausweisen und somit bestimmte Äußerungen Kants über die Entwicklung seines eigenen Denkens als falsch betrachten müssen, wurden auch Interpretationen vorgeschlagen, in denen der Versuch unternommen wurde, beide Möglichkeiten miteinander zu vermitteln.⁴
Für weitere Angaben von Stellen, die für die Antinomienproblematik als Auslöser sprechen, siehe Kuehn (1983, 182 f.) sowie Gawlick / Kreimendahl (1987, 189 f.). Einen schönen Überblick über diese Debatte inklusive reichhaltiger Literaturangaben bietet Kuehn (1983). Kreimendahl (1990, 15 – 82) leuchtet die komplexe Debatte beeindruckend detailliert in ihrer gesamten historischen Tiefe aus. Die Annahme einer Erweckung durch die Antinomienproblematik scheint zunächst dafür zu sprechen, dass Hume, entgegen Kants expliziter Erwähnung, bei der Erweckung gar keine bedeutende Rolle gespielt hat. Siehe jedoch Kuehn (1983, 186 – 191). Kuehn versucht, einen Zusammenhang zwischen der Antinomienproblematik und dem von Hume aufgeworfenen Kausalitätsproblem aufzuzeigen und gelangt somit zu der These einer möglichen Vermittlung zwischen den beiden genannten Theorien über Kants Erweckung. Ähnlich sehen es auch Gawlick / Kreimendahl (1987) sowie daran anschließend Kreimendahl (1990): „Beide Momente [Hume und die Antinomie] müssen und können aufeinander bezogen und als die zwei Seiten des einen Erweckungsprozesses verstanden werden.“ (Kreimendahl 1990, 4) Kuehn und Kreimendahl sind allerdings uneins über den Zeitpunkt bzw. -raum der Erweckung. Kreimendahl (1990, 5) setzt die Erweckung im Jahr 1769 an; Kuehn (1983, 185) argumentiert für einen zeitlich ausgedehnten Prozess in den Jahren 1769 – 1772 mit dem entscheidenden Erweckungserlebnis im Jahre 1771.
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1 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre
Es wird in dieser Arbeit nicht mein Ziel sein, diese komplexe Debatte vollständig aufzuarbeiten, auch wenn einzelne der in der Debatte zusammengetragenen Belege für eine Beleuchtung des Verhältnisses zwischen Kant und Hume herangezogen werden. Im Vordergrund der vorliegenden Untersuchung soll Kants Konzeption empirischer Naturgesetze stehen. Diese steht, wie sich vor allem in Kapitel 3 zeigen wird, in einem engen Zusammenhang mit Kants Kausalitätskonzeption, so dass eine vorgängige Beschäftigung mit der Kausalitätskonzeption unerlässlich ist. Was auch immer genau der erste Auslöser für Kants kritische Wende war, eines geht aus Kants Schriften deutlich hervor: Kants Betrachtungen zum Thema Kausalität knüpfen an Humes Betrachtungen zum selben Thema an. Eine Untersuchung von Kants Konzeption empirischer Naturgesetze lässt sich insofern am besten von Hume aus entwickeln. Hinweise aus der Debatte um den Auslöser für Kants kritische Wende, die im Folgenden eine wichtige Rolle spielen werden, sind vor allem wertvolle Informationen und Anhaltspunkte darüber, welche Teile von Humes Werk Kant gekannt hat beziehungsweise haben könnte. Diese sind interessant im Zusammenhang mit der Frage, wie Kant das von Hume aufgeworfene Kausalitätsproblem aufgefasst hat. Bevor wir uns in einem Überblick Humes Betrachtungen zum Thema Kausalität anschauen, sind daher ein paar Bemerkungen zu möglichen Quellen von Kants Hume-Rezeption angebracht.
Eine interessante Stellungnahme zu den Unterschieden zwischen seiner eigenen Position und der von Gawlick und Kreimendahl gibt Kuehn (2001), 472 f., Fn. 42) [dt.: Kühn (2003, 554 f., Fn. 42)] ab. Umgekehrt setzt sich Kreimendahl in (1990, 79 ff.) mit Kuehns Position auseinander. Gegen die Vermittlungsversuche zwischen den beiden Positionen bezüglich der Frage des Erweckungserlebnisses von Kuehn (1983) und vor allem von Kreimendahl (1990) argumentieren beispielsweise Brandt (1992) und Falkenburg (im Erscheinen). Beide argumentieren ausführlich dafür, dass es sich bei den Widersprüchen, die Kant im fraglichen Zeitraum im Zusammenhang mit Hume beschäftigen, nicht um die Antinomienproblematik handeln kann. Für zahlreiche weitere Hinweise siehe Kuehn (2001, 472 f., Fn. 42) [dt.: Kühn (2003, 554 f., Fn. 42)]. In diesem Kapitel wird es mir nicht darum gehen, die in der Sekundärliteratur viel diskutierte Frage nach der genauen Datierung des Erweckungserlebnisses zu beantworten. Mein Ziel besteht darin, zu klären, durch welche Texte Kant einen Zugang zu Humes Ansatz gefunden hat. Wie sich vor allem in Abschnitt 1.4 zeigen wird, spricht einiges dafür, dass Kant in den 1760er Jahren durch die Lektüre einer Übersetzung von Humes Enquiry beeinflusst war und dass er später, wahrscheinlich durch eine Bekanntschaft mit Auszügen aus dem Treatise, zu einer Neueinschätzung von Humes Position kam, die zu einer stärkeren Abgrenzung von Hume führte. Ich halte beides für wichtige Entwicklungsschritte von Kants Position und enthalte mich bezüglich der Frage, welches von beidem wann genau „die Erweckung“ initiiert hat.
1.1 Ein vorläufiger Überblick über mögliche Quellen von Kants Hume-Rezeption
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1.1 Ein vorläufiger Überblick über mögliche Quellen von Kants Hume-Rezeption Sowohl das erste Buch von Humes Treatise of Human Nature (erstmals erschienen 1739)⁵ als auch seine Enquiry concerning Human Understanding (erstmals erschienen 1748)⁶, die beiden Texte, in denen Hume sich am ausführlichsten mit dem Thema Kausalität befasst hat, waren im Jahre 1781, als Kant mit der ersten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft zum ersten Mal seine kritische Philosophie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte, bereits seit langer Zeit im Umlauf.⁷ Es gilt jedoch als ziemlich sicher, dass Kants Englischkenntnisse nicht ausreichten, um englischsprachige Fachliteratur im Original zu lesen.⁸ Er war daher bei seiner Hume-Lektüre sehr wahrscheinlich auf deutsche Übersetzungen angewiesen. Im Fall der Enquiry stellte dies, was die Zugänglichkeit betrifft, keine bedeutende Einschränkung dar. Eine deutsche Übersetzung der Enquiry erschien erstmals im Jahre 1755.⁹ Es ist bekannt, dass Kant ein Exemplar dieser Übersetzung besessen hat¹⁰ und vieles deutet darauf hin, dass er sich schon sehr früh intensiv mit dem Inhalt auseinandergesetzt hat.¹¹ Deutliche Hinweise für eine Hume veröffentlichte im Jahre 1739 zunächst die ersten beiden Bücher des Treatise und ließ das dritte Buch zusammen mit einem Anhang zum ersten Buch im Jahre 1740 folgen. Vgl. Norton (2000, I11 f.). Der Titel lautete zur ersten Veröffentlichung Philosophical Essays concerning Human Understanding und wurde im Jahre 1756 in An Enquiry concerning Human Understanding geändert. Siehe Beauchamp (1999, 9, Fn. 8). Hierher rührt die auch heute zum Teil noch übliche Bezeichnung einzelner Kapitel der Enquiry als Essays. Kreimendahl (1990, 50) weist darauf hin, dass andere Texte Humes wie etwa An Abstract of a Book lately Published, entituled, A Treatise of Human Nature, &c. und A Letter from a Gentleman to his Friend in Edingburgh als Quellen für Kants Hume-Verständnis nicht in Frage kommen, weil es „schon aus editionsgeschichtlichen Gründen so gut wie ausgeschlossen“ sei, dass Kant diese Texte kannte. Siehe Kreimendahl (1990, 53 f.) und Wolff (1960, 122 f.) mit Hinweisen auf entsprechende Belege. Siehe Kuehn (1983, 179) sowie Gawlick / Kreimendahl (1987, 20). Die Übersetzung der Enquiry wurde als zweiter Teil der Vermischten Schriften von Johann Georg Sulzer herausgegeben. Der Übersetzer blieb in dieser Ausgabe ungenannt. In der Literatur wird manchmal Hermann Andreas Pistorius als mutmaßlicher Übersetzer genannt (siehe beispielsweise Pollok (2001a, 191) sowie Wiesing (2007, 415, Fn. 14)), was aber zum Teil auch bestritten wird (siehe Gawlick / Kreimendahl (1987, 20 f., Fn. 35) mit entsprechenden Gegenbelegen). Siehe Warda (1922, 50). (Kreimendahl (1990, 52, Fn. 167) verweist fälschlicherweise auf Warda (1922, 30).) Kuehn (1983, 180) zählt mehrere Anhaltspunkte auf, die zum Teil sogar nahelegen, dass Kant sich vermutlich schon ab ca. 1755 mit Hume beschäftigt hat.
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Beschäftigung mit der Enquiry spätestens ab den 1760er Jahren stellen insbesondere Textstellen aus den beiden Schriften Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) und Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) dar, in denen Kant Hume zwar nicht explizit erwähnt, deren Ähnlichkeit mit entsprechenden Passagen aus der Enquiry jedoch äußerst auffällig ist.¹² Auf der Grundlage dieser Belege gehen viele Forscher davon aus, dass Kant die ihm zugängliche deutsche Übersetzung von Humes Enquiry schon zu Beginn der 1760er Jahre und somit deutlich vor dem Abfassen der Kritik der reinen Vernunft gelesen hat. Anders verhält es sich jedoch im Fall des Treatise: Eine deutsche Übersetzung des ersten Bandes lag erstmals im Jahre 1790 vor, Übersetzungen des zweiten und dritten Bandes folgten in den Jahren 1791 und 1792.¹³ Damit lag eine deutsche Übersetzung erst nach der Veröffentlichung der beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) und auch nach der Veröffentlichung der Prolegomena (1783) vor. Somit deutet zunächst einiges darauf hin, dass Kant den Zugang zu Hume in erster Linie über die Enquiry gefunden hat. Wir werden jedoch im Folgenden sehen, dass ein Vergleich der Darstellungen im Treatise und in der Enquiry mit Kants Behandlung des Kausalitätsproblems in der Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena darauf hindeutet, dass Kant zumindest zu einigen Stellen aus dem Treatise direkten oder indirekten Zugang hatte. Hierfür gibt es außerdem konkrete Anhaltspunkte: Erstens hat Johann Georg Hamann im Juli 1771 eine selbst angefertigte Übersetzung des Schlussabschnittes des ersten Buches des Treatise (Treatise, 1.4.7) in der Königsbergschen gelehrten und politischen Zeitung unter dem Namen „Nachtgedanken eines Zweiflers“¹⁴ anonym veröffentlicht.¹⁵ Zumindest der Inhalt dieses Abschnittes, auf den wir unten im Rahmen einer Darstellung von Humes
Wir werden uns, nachdem wir uns mit dem Inhalt von Humes Kausalitätskritik auseinandergesetzt haben, in Abschnitt 1.4.1 die entsprechenden Textstellen im Vergleich anschauen. Dort wird sich zeigen, dass ein bereits in den 1760er Jahren stattgefundener Einfluss Humes auf Kant mit gutem Grund angenommen werden kann. Vgl. Gawlick / Kreimendahl (1987, 15). Der Übersetzer war jeweils Ludwig Heinrich Jakob. Da Josef Nadler, der Herausgeber von Hamanns gesammelten Werken, offenbar davon ausgegangen ist, dass es sich um einen von Hamanns eigenen Texten handelt, ist er in Hamann (1949 – 1957, Band IV, 364– 370) verfügbar. Vgl. Kuehn (2001, 471, Fn. 38) [dt: Kühn (2003, 553, Fn. 38)]. Siehe hierzu auch Kreimendahl (1990, 87). Bei Kuehn (2001, 198) [dt.: Kühn (2003, 233)] heißt es „Nachtgedanken eines Skeptikers“, was eine fehlerhafte Rückübersetzung aus dem Englischen („Night Thoughts of a Skeptic“) sein dürfte. Vgl. Gawlick / Kreimendahl (1987, 190).
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Behandlung des Themas Kausalität noch genauer eingehen werden, dürfte Kant bekannt gewesen sein.¹⁶ Zweitens besteht die Möglichkeit, dass Kant indirekten Zugang zu Teilen des Treatise durch Rezensionen in deutschen Zeitschriften und durch Auseinandersetzungen mit dem Treatise in anderen Monographien hatte.¹⁷ Insbesondere ist schon früh die Hypothese aufgestellt worden, dass Kant eine deutsche Übersetzung von James Beatties Essay on the Nature and Immutability of Truth gelesen hat, die im Jahre 1772 unter dem Titel Versuch über die Natur und Unveränderlichkeit der Wahrheit erschienen ist.¹⁸ Beattie setzt sich in diesem Werk kritisch mit dem Treatise auseinander und zitiert Humes Werk für diesen Zweck in langen Auszügen. Da diese Auszüge im Rahmen von Beatties Essay mitübersetzt wurden, lagen sie auf deutsch vor. In den Prolegomena hat sich Kant im Rahmen einer kritischen Betrachtung von bisherigen Reaktionen auf Hume unter anderem auf Beatties Kritik an Hume bezogen (Prol, AA 4: 258 f.). Es ist daher davon auszugehen, dass Kant die im Rahmen von Beatties Werk mitübersetzten Stellen aus Humes Treatise gekannt hat. Auch auf den Inhalt dieser Stellen werden wir daher unten eingehen. Drittens ist es sehr wahrscheinlich, dass Kant in Gesprächen sowohl mit Hamann als auch mit seinem Schüler Christian Jakob Kraus über zentrale Gedanken des Treatise informiert wurde. Beide waren des Englischen mächtig, haben sich intensiv mit Humes Werken auseinandergesetzt und standen in engem Kontakt mit Kant.¹⁹ Es ist bekannt, dass Hamann und Kraus Mitte der 1770er Jahre
Kuehn (2001, 198) [dt.: Kühn (2003, 233)] geht aufgrund der engen Bekanntschaft von Hamann und Kant davon aus, dass Kant gewusst hat, dass der Text von Hamann stammt und eine Übersetzung einer Textstelle von Hume ist. Gawlick / Kreimendahl (1987, 191 ff.) sowie ausführlicher Kreimendahl (1990) versuchen sogar zu belegen, dass Hamann diese Übersetzung bereits Anfang 1768 abgeschlossen und Kant privat zugänglich gemacht hat. Siehe zu letzterer These kritisch Brandt (1992). Vgl. Gawlick / Kreimendahl (1987, 187 f.). Die Hypothese, dass Kant durch Beatties Essay on the Nature and Immutability of Truth einen indirekten Zugang zu Teilen des Treatise hatte, wird heute häufig mit Wolff (1960) verbunden. Kreimendahl (1990, 48 f.) weist darauf hin, dass diese Hypothese bereits viel früher von Hans Vaihinger und im Anschluss daran auch von Norman Kemp Smith vertreten wurde und merkt kritisch an, dass „Robert P. Wolff […] nicht nur Vaihinger, sondern auch Kemp Smith schon keine Reverenz mehr erweist und diese Hypothese unter der Überschrift Kant’s Debt to Hume via Beattie in einem von manifesten Fehlern nur so strotzenden Aufsatz gewissermaßen als letzte Erkenntnis der Kant-Forschung präsentierte.“ Zum Verhältnis zwischen Hamann und Kant siehe Kuehn (2001, 118 – 125) [dt.: Kühn (2003, 144– 153)]. Hier wird auch deutlich, dass philosophische Auseinandersetzungen zwischen Hamann und Kant schon um das Jahr 1759 herum Hume zum Gegenstand hatten. Zum engen Ver-
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gemeinsam Humes Treatise gelesen haben, von dem sich vor allem Kraus stark beeindruckt gezeigt hat. Kraus, der „Lieblingsschüler, Tischgenosse und Freund Kants“²⁰ war, hat außerdem ab 1774 in demselben Haus wie Kant gewohnt, so dass es für die beiden genügend Gelegenheit gegeben haben dürfte, sich über Humes Philosophie auszutauschen.²¹ Vorläufig kann also festgehalten werden, dass Kant Humes Enquiry höchstwahrscheinlich in deutscher Übersetzung lange vor der Veröffentlichung der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft kannte und dass ihm vermutlich zumindest Teile des Treatise als Übersetzung von Hamann beziehungsweise durch Zitate in einer deutschen Übersetzung von Beatties Essay on the Nature and Immutability of Truth zugänglich waren. Ideen aus anderen Teilen des Treatise kann er durch Gespräche mit Hamann und Kraus gekannt haben. Wir werden diesen Punkten im Folgenden nachgehen. Im nächsten Abschnitt wird es zunächst darum gehen, die zentralen Punkte von Humes Behandlung des Themas Kausalität sowohl im Treatise als auch in der Enquiry herauszuarbeiten. Am Ende dieses Überblicks wird die Frage angeschlossen, welche dieser zentralen Punkte in den Texten beziehungsweise Textstellen enthalten sind, die Kant zur Zeit der Abfassung der ersten Kritik bekannt waren beziehungsweise gewesen sein könnten.
1.2 Kausalität in Humes Treatise of Human Nature Im dritten Teil des ersten Buches des Treatise of Human Nature behandelt Hume über mehrere Abschnitte hinweg das Thema Kausalität. Seine dort formulierte Kritik an gängigen Auffassungen über Kausalität, die er später in der Enquiry concerning Human Understanding in leicht modifizierter Form erneut aufgreift, ist nicht nur historisch bedeutend, sondern stellt auch heute noch einen zentralen Ansatzpunkt für Debatten über Kausalität dar. Im Vordergrund soll im Folgenden vor allem die Frage stehen, wie Kant Humes Kausalitätskritik gelesen hat und welche Impulse ihm dies für die Entwicklung seiner kritischen Philosophie gegeben hat. Hierfür müssen wir uns zunächst einen Überblick über die entsprechenden Stellen im Treatise und in der Enquiry verschaffen. Dieser Überblick beginnt aus chronologischen Gründen mit Humes Erstlingswerk, dem Treatise.
hältnis von Kraus und Kant zu Beginn der 1770er Jahre siehe Kuehn (2001, 208 – 211) [dt.: Kühn (2003, 244– 247)]. Gawlick / Kreimendahl (1987, 188). Siehe Gawlick / Kreimendahl (1987, 188) mit Hinweisen auf entsprechende Belege.
1.2 Kausalität in Humes Treatise of Human Nature
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1.2.1 Humes empiristische Grundthese Ausgangspunkt von Humes Behandlung des Themas Kausalität ist seine im ersten Teil des ersten Buches des Treatise dargestellte Theorie des menschlichen Verstandes.²² Dort unterteilt Hume alle Geistesinhalte, für die er den Oberbegriff „Perzeptionen“ [perceptions] verwendet, in Eindrücke [impressions] und Vorstellungen [ideas]. Die Eindrücke umfassen alle unsere Wahrnehmungen, Leidenschaften und Emotionen, wenn sie das erste mal in unserem Geist auftreten. Vorstellungen hingegen sind schwache Abbilder von Eindrücken in unserem Denken (Treatise, 1.1.1.1). Sowohl Eindrücke als auch Vorstellungen sind entweder einfach oder komplex. Komplexe Perzeptionen sind aus einfachen Perzeptionen zusammengesetzt, während einfache Perzeptionen nicht in kleinere Einheiten zerteilt werden können. Ein Beispiel einer komplexen Perzeption, das Hume angibt, ist eine Perzeption eines Apfels, die zusammengesetzt ist aus Perzeptionen einer bestimmten Farbe, eines bestimmten Geschmacks und eines bestimmten Geruches (Treatise, 1.1.1.2). Auf der Grundlage dieser Unterscheidungen formuliert Hume eine empiristische These, die für das Verständnis seiner Behandlung des Themas Kausalität zentral ist: Alle einfachen Vorstellungen sind Hume zufolge bei ihrem ersten Auftreten abgeleitet aus einfachen Eindrücken, die ihnen korrespondieren (Treatise, 1.1.1.7). Dies bedeutet beispielsweise, dass wir die Vorstellung eines bestimmten Geschmacks, etwa des Geschmacks einer Ananas, nur dann haben können, wenn wir zuvor durch eine Sinneswahrnehmung zu einem entsprechenden Eindruck dieses Geschmacks gelangt sind (Treatise, 1.1.1.9).²³ Während
Sowohl Stroud (1977, 17) als auch Fogelin (1985, 2 f.) weisen darauf hin, dass Hume die Grundthesen dieser gemeinhin als „Theory of Ideas“ bezeichneten Position aus der empiristischen Tradition übernommen hat, ohne sie je einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Trotz seines ansonsten sehr ausgeprägten kritischen Bewusstseins hat er an den Grundlagen dieser Theorie offenbar nie gezweifelt, ja er ist offenbar noch nicht einmal auf die Idee gekommen, sie überhaupt infrage zu stellen. Eine interessante Ausnahme, die für viel Diskussion gesorgt hat, lässt Hume jedoch zu: Jemand, der in der Erfahrung mit allen Farben, abgesehen von einer bestimmten Blauschattierung, Bekanntschaft gemacht hat, ist Hume zufolge in der Lage, die Erfahrungslücke auszugleichen: Er kann die Vorstellung der entsprechenden Blauschattierung ohne einen entsprechenden Eindruck ausbilden. Hume gesteht sogar unmittelbar zu, dass das von ihm aufgestellte allgemeine Prinzip, demzufolge einfache Vorstellungen immer auf ihnen korrespondierende einfache Eindrücke zurückgehen, somit offenbar falsch ist (Treatise, 1.1.1.10). Das Überraschende an dieser Stelle ist, dass Hume sich an dieser Widerlegung seines Prinzips nicht weiter zu stören scheint und in der Folge weiterhin von diesem Prinzip ausgeht. Siehe hierzu die interessante Diskussion von Stroud (1977, 33 ff.).
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es zwar komplexe Vorstellungen gibt, die nicht unmittelbar auf entsprechende Eindrücke zurückgehen, müssen die einfachen Bestandteile dieser Vorstellungen Hume zufolge stets auf einfache Eindrücke zurückführbar sein: Einen rosa Elefanten kann ich mir nur deshalb vorstellen, weil ich einmal einen Eindruck der Farbe Rosa und einen (wiederum aus einfachen Eindrücken zusammengesetzten) Eindruck eines Elefanten gehabt habe.
1.2.2 Die (zunächst vergebliche) Suche nach dem Eindruck der notwendigen Verknüpfung Vor dem Hintergrund der im letzten Abschnitt dargelegten empiristischen These wirft Hume die Frage nach dem Ursprung der Vorstellung von Verursachung auf. Offenbar gehen wir davon aus, dass bestimmte Objekte beziehungsweise Zustände von Objekten deshalb auftreten, weil bestimmte andere Objekte beziehungsweise Zustände von Objekten vorhergegangen sind und sie verursacht haben.²⁴ Hume möchte die in solch einer Überzeugung beinhaltete Vorstellung von
Hume spricht tatsächlich in der Regel von Objekten als Ursachen und Wirkungen. Wie seine eigenen Beispiele zeigen, dürfte er damit aber meinen, dass die Tatsache, dass ein Objekt zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Eigenschaft hat, die Ursache dafür ist, dass ein anderes Objekt zu einem späteren Zeitpunkt eine bestimmte Eigenschaft hat. So untersucht Hume etwa das Beispiel des Kausalurteiles, dass eine Billardkugel eine Bewegung aufweist, weil sie von einer anderen angestoßen wurde (Enquiry, 4.10). Hier wird also die Tatsache, dass eine Kugel zu einem Zeitpunkt eine Bewegung aufweist (oder die Tatsache, dass sie die zweite Kugel anstößt), als Ursache für die Tatsache betrachtet, dass die zweite Kugel zu einem späteren Zeitpunkt eine Bewegung aufweist. Watkins bezeichnet diese Tatsachen, die für Hume die Relata von Kausalrelationen darstellen, als Ereignisse: „[F]or Hume events are instantaneous states of affairs at particular moments in time.“ (Watkins 2005, 233) Vor diesem Hintergrund schreibt er Hume eine EreignisKonzeption von Kausalität zu, der zufolge Kausalität stets eine Relation zwischen zwei Ereignissen ist. Im Rahmen der Analyse von Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung wird allerdings wichtig werden, dass Kants Ereignis-Begriff ein anderer ist, als der, den Watkins Hume zuschreibt (worauf Watkins (2005, 236) ebenfalls aufmerksam macht): Für Kant ist ein Ereignis nicht die Tatsache, dass ein Objekt zu einem Zeitpunkt eine bestimmte Eigenschaft aufweist, sondern der Wechsel von einem Eigenschaftszustand eines Objektes in einen anderen. Siehe hierzu insbesondere Abschnitt 3.2.1. In Abschnitt 3.3.4 wird sich außerdem zeigen, dass, wie wiederum Watkins (2005) betont und überzeugend herausarbeitet, Kans Kausalitätskonzeption sich auf der ontologischen Ebene von Humes Konzeption grundlegend unterscheidet. Nach Kant ist Kausalität nicht eine Relation zwischen zwei Ereignissen in Humes Sinne. Statt dessen handelt es sich ihm zufolge bei einer Ursache um die kausalen Kräfte einer Substanz, die auf eine andere
1.2 Kausalität in Humes Treatise of Human Nature
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Verursachung auf ihren Ursprung in Eindrücken zurückführen. Von diesem Vorgehen verspricht er sich eine Klärung des Gehalts dieser Vorstellung (Treatise, 1.3.2.4). Zunächst stellt Hume eine Analyse an, um zu sehen, welche Teilvorstellungen in der Vorstellung von Kausalität enthalten sind. Dabei hebt er erstens hervor, dass Objekte, die wir als Ursache und Wirkung bezeichnen, stets in einem raumzeitlichen Zusammenhang miteinander stehen. Zweitens hält er es für wesentlich, dass die Ursache eine zeitliche Priorität vor der Wirkung hat. Offenbar sind diese beiden Bedingungen jedoch noch nicht hinreichend für das Vorliegen von Kausalität, da zwei Ereignisse auch nur zufälligerweise in diesen beiden Relationen zueinander stehen können, ohne dass es sich dabei um einen kausalen Zusammenhang handelt. Daher hält Hume fest, dass wir zwischen Ursache und Wirkung eine notwendige Verknüpfung in Betracht ziehen müssen, der gemäß die Wirkung mit Notwendigkeit auf die Ursache folgt (Treatise, 1.3.2.6 – 11). Es handelt sich bei der Vorstellung von Kausalität also um eine komplexe Vorstellung, die in drei Teilvorstellungen aufgespalten werden kann: Die Vorstellung des raum-zeitlichen Zusammenhangs, die Vorstellung der zeitlichen Priorität und die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung. Während Hume es offenbar für unproblematisch hält, die ersten beiden Teilvorstellungen auf entsprechende Eindrücke zurückzuführen (Treatise, 1.3.2.9), bereitet die Teilvorstellung der notwendigen Verknüpfung, die Hume für die wichtigste der drei Teilvorstellungen hält und mit der er sich im Folgenden in erster Linie beschäftigt, in dieser Hinsicht größere Probleme: Wenn wir uns konkrete Ursache-WirkungsVerhältnisse genau anschauen, dann können wir zwar beobachten, dass die Ursache und die Wirkung in einem raum-zeitlichen Zusammenhang miteinander stehen und die Ursache der Wirkung zeitlich vorangeht, aber es kann auch bei einer genauesten Betrachtung nicht der Eindruck einer notwendigen Verknüpfung gewonnen werden. Dass das Auftreten der Ursache das Auftreten der Wirkung mit Notwendigkeit nach sich zieht, kann nicht am konkreten Fall wahrgenommen werden (Treatise, 1.3.2.12).
Substanz derart einwirken, dass sich an dieser ein Wechsel von Eigenschaften (und somit ein Ereignis in Kants Sinne) vollzieht. (Siehe hierzu insbesondere Kap. 3, Fn. 74.) Im Rahmen dieses Kapitels werde ich mich bei der Darstellung von Humes Position der Einfachheit halber an Humes Wortwahl halten und von Objekten als den Relata von Kausalrelationen sprechen, wobei die Erläuterung zu Beginn dieser Anmerkung immer mitgedacht sein soll.
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1.2.3 Das allgemeine Kausalprinzip Um die bis hierhin vergeblich gebliebene Suche nach dem ursprünglichen Eindruck der notwendigen Verknüpfung auf einem Umweg doch noch zum Ziel zu führen,verfolgt Hume im Folgenden zunächst zwei Fragen, die mit der Vorstellung der notwendigen Verknüpfung im Zusammenhang stehen:²⁵ First, For what reason we pronounce it necessary, that every thing whose existence has a beginning, shou’d also have a cause? Secondly, Why we conclude, that such particular causes must necessarily have such particular effects; and what is the nature of that inference we draw from the one to the other, and of the belief we repose in it? (Treatise, 1.3.2.14– 15; Hervorhebungen im Original)
Bei der ersten Frage handelt es sich um die Frage nach dem Grund²⁶ für unseren Glauben an ein allgemeines Kausalprinzip, dem zufolge jedes Ereignis eine Ursache hat. In der zweiten Frage geht es hingegen um den Grund für unseren Glauben an das Vorliegen konkreter Kausalrelationen beziehungsweise für unsere Schlüsse von bestimmten Ursachen auf bestimmte Wirkungen. Die Untersuchung der ersten Frage verläuft ähnlich erfolglos wie die zuvor durchgeführte Suche nach dem ursprünglichen Eindruck der notwendigen Verknüpfung. Die Vorstellung einer Ursache ist Hume zufolge logisch unabhängig von der Vorstellung der Wirkung: Es ist stets ohne Widerspruch möglich, sich die Wirkung ohne die Ursache vorzustellen. Hume kommt daher zu dem Ergebnis, dass nicht demonstrativ gezeigt werden kann, dass jedes Ereignis eine Ursache
„’Tis necessary for us to leave the direct survey of this question concerning the nature of that necessary connexion, which enters into our idea of cause and effect; and endeavour to find some other questions, the examination of which will perhaps afford a hint, that may serve to clear up the present difficulty.“ (Treatise, 1.3.2.13) Für das Verständnis der Struktur von Humes Argumentation ist es wichtig, das hier beschriebene indirekte Vorgehen im Hinterkopf zu behalten. Erst wesentlich später (Treatise, 1.3.14.1 ff.) kehrt Hume von dem hier beginnenden Exkurs zu der ursprünglichen Frage nach dem Eindruck der notwendigen Verknüpfung zurück. Eine wichtige Frage ist, was Hume in dem vorangegangenen Zitat mit „reason“ meint: Geht es darum, welchen Rechtfertigungsgrund wir für die Annahme des allgemeinen Kausalprinzips haben, oder geht es um die Frage, welcher Realgrund dazu führt, dass wir diese Annahme machen? Ich schließe mich Stroud an, der Hume im zweiten Sinne auslegt: „As a student of the human mind, he wants to know how that ,opinion‘ arises. What is it about human nature and human experience that leads people to belive that every event must have a cause?“ Stroud (1977, 50 f.). Die Gründe, die für diese Auslegung sprechen, werden im Folgenden deutlich, wenn wir uns anschauen, wie Hume bei der Untersuchung der zweiten im Zitat genannten Frage vorgeht. (In Bezug auf die erste im Zitat genannte Frage tritt dieser Punkt nicht so deutlich hervor, da Hume hier eine Antwort schuldig bleibt.) Siehe hierzu auch unten, Fn. 28 in diesem Kapitel.
1.2 Kausalität in Humes Treatise of Human Nature
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hat. Der Glaube an das in der ersten Frage ausgedrückte allgemeine Kausalprinzip ist nach seiner Ansicht daher auf Erfahrung zurückzuführen. Wie aus Erfahrung der Glaube an dieses Prinzip entsteht, klärt Hume nicht, sondern zieht es vor, sich zunächst der zweiten Frage nach dem Grund unseres Glaubens an konkrete Kausalverknüpfungen zuzuwenden.²⁷
1.2.4 Die skeptische Stufe des Arguments: Die Unzulänglichkeit vernünftiger Begründungen unserer Kausalschlüsse²⁸ Humes Untersuchung unserer Schlüsse von Ursachen auf Wirkungen (beziehungsweise von Wirkungen auf Ursachen)²⁹ beginnt mit der bereits zuvor her Wie Lewis White Beck anmerkt, lässt Hume die Frage, wie wir durch Erfahrung zu unserem Glauben an das allgemeine Kausalprinzip gelangen, nicht nur an dieser Stelle unbeantwortet, sondern kommt auch im weiteren Verlauf überhaupt nicht mehr auf diese Frage zurück.Vgl. Beck (1978, 120 f.). Zwar wiederholt Hume in einem späteren Abschnitt (Treatise 1.3.14.35) die These, dass dieser Glaube auf Erfahrung zurückzuführen ist, jedoch ohne genauer zu erläutern, wie. Stroud (1977, 254, Fn. 5) meint, dass sich, wie auch von Hume nahegelegt, die Antwort auf die Frage nach der Entstehung unseres Glaubens an das allgemeine Kausalprinzip aus Humes Erklärung der Entstehung unseres Glaubens an konkrete Kausalrelationen ergibt. Jedoch erläutert er ebensowenig wie Hume den dafür nötigen Schritt. Guyer (2008, 83 ff.) ist hingegen der Auffassung, dass Hume zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es keine Möglichkeit gibt, die Grundlage unseres Glaubens an das allgemeine Kausalprinzip zu klären. Ich schließe mich hier der weit verbreiteten Auffassung an, dass Humes Argument in Bezug auf konkrete Kausalschlüsse in zwei Stufen zergliedert werden kann: Eine negative Stufe, die dazu dient, mit skeptischen Argumenten unser Vermögen, konkrete Kausalurteile durch Vernunft zu rechtfertigen, in Zweifel zu ziehen, und eine positive, naturalistische Stufe, die dem Nachweis dafür dient, dass unsere Kausalurteile auf der Beschaffenheit unseres Vorstellungsvermögens basieren. Diese Interpretation wird beispielsweise von Stroud (1977) und Fogelin (1983 und 1985) vertreten. Stroud ordnet sich selbst der von Norman Kemp Smith (1905 und 1941) initiierten Tradition der naturalistischen Interpretation Humes zu, der zufolge die skeptische Stufe des Arguments die naturalistische Stufe vorbereitet. Humes skeptische Argumente haben demnach die Aufgabe, die zu seiner Zeit vorherrschende Auffassung, Kausalurteile könnten auf der Grundlage der Vernunft gerechtfertigt werden, zu überwinden. Dieser Interpretation zufolge ist der Skeptizismus Humes nur eine argumentative Zwischenstufe und die skeptische Argumentstufe dient dem eigentlichen Zweck, Humes positiven Ansatz, seine an Newtons Physik angelehnte „science of man“ und die in ihrem Rahmen entfaltete naturalistische Erklärung unserer kausalen Schlusspraxis, vorzubereiten. Siehe hierzu Stroud (1977), vor allem Kap. I, III und IV. Fogelin (1983 und 1985) hingegen betont den skeptischen Zug der Humeschen Position stärker. Zwar geht auch er von der Zweiteilung des Arguments in eine skeptische und eine naturalistische Stufe aus, doch gilt ihm zufolge die skeptische Stufe nicht lediglich zur Überwindung der traditionellen Auffassung der Vernunftbasiertheit unserer Kausalurteile. Vielmehr ist Hume
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ausgestrichenen Einsicht, dass wir aus dem Vorliegen der Ursache die Wirkung nicht deduktiv erschließen können: Da die Vorstellungen der Ursache und der Wirkung logisch unabhängig voneinander sind, enthält die Vorstellung, dass die Wirkung nicht auf die Ursache folgt, keinen logischen Widerspruch (Treatise, 1.3.6.1). Hieraus folgt für Hume, dass wir, um aus dem Bestehen einer Ursache auf das Auftreten der Wirkung schließen zu können, auf Erfahrung zurückgreifen müssen. So haben wir beispielsweise in der Vergangenheit häufiger festgestellt, dass auf das Brennen einer Flamme das Entstehen von Hitze folgte. Ein solcher in der Vergangenheit beobachteter konstanter Zusammenhang führt dazu, dass wir kausales Vokabular anwenden und in der Zukunft eine entsprechende Verknüpfung erwarten: Aus dem Brennen einer Flamme schließen wir darauf, dass Hitze auftreten wird und wir nennen das eine die Ursache und das andere die Wirkung (Treatise, 1.3.6.2). Es entsteht allerdings nun das Problem, dass erklärt werden muss, inwiefern ein beobachteter konstanter Zusammenhang zwischen bestimmten Arten von Objekten eigentlich die Grundlage für einen Schluss von dem Vorliegen eines bestimmten Objektes auf eine vermeintliche Wirkung sein kann. Um von einem in
Fogelin zufolge tatsächlich ein Skeptiker. Entsprechend macht Fogelin es sich zur Aufgabe, zu zeigen, wie sich dieser Skeptizismus damit vereinbaren lässt, dass Hume außerdem eine positive naturalistische Theorie unseres Geistes aufstellt. Neueren Interpretationen (z. B. Garrett 1997) zufolge kann Hume der skeptische Impetus sogar ganz abgesprochen werden: Nicht einmal die erste Stufe des Arguments ist demnach als ein skeptischer Angriff auf die Rechtfertigung unserer kausalen Schlusspraxis zu verstehen, sondern dient lediglich der Klärung der rein deskriptiv verstandenen Frage, ob Vernunft die kausale Grundlage dieser Praxis ist. Überblicke über (diese und weitere) Hume-Interpretationen bieten Garrett (1997, Kap. 4) und Wiesing (2007, Abschnitte 4 und 5). Gegen Garrett und andere schließe ich mich der nach wie vor weit verbreiteten Auffassung an, dass die erste Stufe von Humes Argument als skeptisch gelesen werden muss. Die Frage, ob Hume sich letzten Endes in erster Linie als Skeptiker oder als Naturalist verstanden hat, ist schwer zu beantworten und erfordert eine ausführliche Abwägung, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann, aber auch nicht geleistet werden muss: Entscheidend für die in dieser Arbeit verfolgte Fragestellung ist, wie Kant Hume gelesen hat. Eine genauere Analyse von Kants Verständnis von Humes Skeptizismus werde ich in Kapitel 2 vornehmen. Dort werden wir sehen, dass Kant Humes Argumente als gefährlichen skeptischen Angriff auf die Metaphysik aufgefasst hat, wobei er der Meinung war, dass Hume selbst die verhängnisvollen Ausmaße dieses Angriffes unterschätzt hat (Prol, AA 4: 257 f. und 310). Manche Formulierungen Humes legen nahe, dass er lediglich Schlüsse von Ursachen auf Wirkungen im Auge hat. Es wird jedoch an vielen Stellen deutlich, dass Schlüsse von Wirkungen auf Ursachen von ihm ebenfalls berücksichtigt werden und parallel zu Schlüssen von Ursachen auf Wirkungen behandelt werden. Siehe beispielsweise Treatise, 1.3.5.1.
1.2 Kausalität in Humes Treatise of Human Nature
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der Vergangenheit beobachteten konstanten Zusammenhang auf eine entsprechende Abfolge in einem neuen Fall schließen zu können, müssten wir uns auf ein allgemeines Prinzip berufen, dem zufolge der Lauf der Natur sich nicht ändert (Treatise, 1.3.6.4). Hume sieht jedoch keine Möglichkeit der Begründung eines solchen Gleichförmigkeitsprinzips. Die Gültigkeit kann einerseits nicht durch ein demonstratives Argument erwiesen werden, weil es stets vorstellbar ist, dass der Lauf der Natur sich ändert, was Hume zufolge zeigt, dass eine solche Änderung zumindest nicht vollkommen unmöglich ist (Treatise, 1.3.6.5). Andererseits kann die Gültigkeit des Prinzips auch nicht empirisch begründet werden, weil eine empirische Begründung des Prinzips von der Beobachtung ausgehen müsste, dass der Lauf der Natur sich in den bisher beobachteten Fällen nicht geändert hat, um damit die Überzeugung zu stützen, dass sie dies auch in Zukunft nicht tun wird. Um solch einen Schluss ziehen zu können, müsste man sich jedoch, wie bei allen Schlüssen von der Vergangenheit auf die Zukunft, auf eben das Gleichförmigkeitsprinzip berufen, das es gerade zu begründen gilt. Eine empirische Begründung des Gleichförmigkeitsprinzips wäre also stets zirkulär (Treatise, 1.3.6.7).³⁰
1.2.5 Die naturalistische Stufe des Arguments: Die Grundlage unserer Kausalschlüsse im Vorstellungsvermögen Nachdem somit alle Möglichkeiten einer vernünftigen Begründung unserer Kausalschlüsse ausgeschlossen zu sein scheinen, strebt Hume in einem positiven Ansatz eine Erklärung dafür an, warum wir in der Praxis dennoch stets kausale Schlüsse vollziehen. Der Hintergrund für diesen positiven Ansatz ist Humes Theorie des Glaubens beziehungsweise Fürwahrhaltens. Hume stellt fest, dass manche unserer Vorstellungen von einem Fürwahrhalten begleitet sind, während dies für andere Vorstellungen nicht gilt. Insbesondere werden die Vorstellungen, die aus einem Kausalschluss resultieren, in der Regel von einem Fürwahrhalten begleitet (Treatise, 1.3.7.2). Wenn ich Rauch am Horizont entdecke, dann bildet sich in meinem Geist nicht nur die Vorstellung eines Feuers, sondern ich glaube auch, dass ein Feuer existiert, das den Rauch verursacht. Wenn ich hingegen in meiner Fantasie die Vorstellung eines rosa Guyer (2008, 88) ist der Meinung, dass die Überlegung, dass eine empirische Begründung des Gleichförmigkeitsprinzips zirkulär wäre, erst in der Enquiry zum Ausdruck kommt und im Treatise noch fehlt. Ich glaube jedoch, dass diese Überlegung im zugestandenermaßen leider etwas kryptisch geratenen Absatz 1.3.6.7 des Treatise bereits zum Ausdruck kommt. Siehe auch Fogelin (1985, 45), der dies offenbar ebenso einschätzt.
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1 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre
Elefanten ausbilde oder mir die Lüge überlege, dass ein Pferd auf dem Flur steht, wird die jeweilige Vorstellung nicht von einem Glauben an die Existenz eines entsprechenden Wesens begleitet. Der Unterschied zwischen Vorstellungen, die von einem Fürwahrhalten begleitet werden, und solchen, für die das nicht gilt, besteht Hume zufolge darin, dass erstere eine größere Kraft beziehungsweise Lebhaftigkeit aufweisen (Treatise, 1.3.7.5).³¹ Hume entwickelt außerdem eine Theorie darüber, wie es dazu kommt, dass manche Vorstellungen lebhafter sind als andere: Zunächst gilt Hume zufolge allgemein, dass sich Eindrücke von Vorstellungen im Wesentlichen dadurch unterscheiden, dass sie besonders lebhaft sind (Treatise, 1.1.1.1). Wenn ich den Sinneseindruck des Geschmacks eines Apfels habe, dann ist dieser besonders lebhaft im Vergleich zu der Vorstellung, die ich aufgrund meiner Erinnerung am nächsten Tag von diesem Geschmack habe. Diese Lebhaftigkeit der Eindrücke ist Hume zufolge zu einem gewissen Grad übertragbar auf bestimmte Vorstellungen, die mit den Eindrücken assoziiert sind (Treatise, 1.3.8.2). Eine solche Assoziation entsteht durch das Beobachten eines konstanten Zusammenhanges: Wir beobachten in zahlreichen Fällen, dass Objekte der Art B immer auf Objekte der Art A folgen. Hierdurch entsteht eine Gewohnheit des Geistes, von einem Eindruck eines Objektes der Art A zu einer Vorstellung eines Objektes der Art B überzugehen beziehungsweise von einem Eindruck eines Objektes der Art B zu einer Vorstellung eines Objektes der Art A überzugehen (Treatise, 1.3.8.14). Wenn ich beispielsweise häufig beobachtet habe, dass das Brennen eines Feuers die Entwicklung von
In der Enquiry gesteht Hume, dass diese Beschreibung des Unterschiedes nicht besonders aussagekräftig ist und beruft sich darauf, dass wir alle in etwa einen Eindruck davon haben, wie es sich anfühlt, eine Überzeugung zu haben: „I confess, that it is impossible perfectly to explain this feeling or manner of conception.We make use of words, which express something near it. But its true and proper name, as we observed before, is belief; which is a term, that every one sufficiently understands in common life. And in philosophy, we can go no farther than assert, that belief is something felt by the mind, which distinguishes the ideas of the judgment from the fictions of the imagination.“ (Enquiry, 5.12) (Hervorhebungen im Original) Für eine ähnliche Stelle im Treatise siehe Treatise, 1.3.7.7. (Dieser Absatz des Treatise befand sich in der ursprünglichen Ausgabe des Treatise im Appendix, einem Anhang, der neun kurze Textpassagen umfasste und den Hume mit Anweisungen zur Einordnung dieser Textpassagen an verschiedene Stellen des Haupttextes versehen hatte. In der Ausgabe von David Fate Norton and Mary J. Norton, nach der ich hier zitiere, sind die Textstellen Humes Anweisungen entsprechend in den Haupttext verschoben.) Stroud (1977, 69 ff.) geht ausführlich auf die Probleme ein, die mit dem von Hume gegebenen Kriterium für die Unterscheidung zwischen Überzeugungen und Vorstellungen, die nicht von einem Fürwahrhalten begleitet werden, ergeben. Stroud versucht zu zeigen, dass Hume sich von den Grundprinzipien seiner Theorie zur Aufstellung dieses Kriteriums genötigt fühlt, obwohl er (Hume) es selbst nicht überzeugend findet.
1.2 Kausalität in Humes Treatise of Human Nature
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Rauch nach sich gezogen hat, dann bilde ich eine Disposition aus, die dazu führt, dass ich in Zukunft von einem Eindruck von Feuer zu einer Vorstellung von Rauch beziehungsweise von einem Eindruck von Rauch zu einer Vorstellung von Feuer übergehe. Die durch diese Disposition veranlasste Assoziation der Vorstellung mit dem Eindruck hat dabei zur Folge, dass der Vorstellung ein gewisses Maß an Lebhaftigkeit des Eindruckes mitgeteilt wird. Hierdurch entsteht Humes Theorie des Glaubens zufolge also ein Glaube an die Existenz des Objektes der von dem Eindruck veranlassten Vorstellung, auch wenn kein unmittelbarer Eindruck dieses Objektes vorliegt: Ich sehe Rauch am Horizont, was mich daran glauben lässt, dass es irgendwo in dieser Richtung ein Feuer gibt.
1.2.6 Die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung Somit ist für Hume geklärt, weshalb wir bestimmte Kausalurteile fällen. Wenn wir die beiden Stufen von Humes Argument zusammenfassen, ergibt sich insgesamt, dass nicht die Vernunft die Grundlage unserer Kausalschlüsse ist, sondern dass diese Schlüsse auf der Beschaffenheit unseres Einbildungsvermögens beruhen. Die Beobachtung eines konstanten Zusammenhanges führt aufgrund der Beschaffenheit unseres Einbildungsvermögens zu einer Assoziation, die zur Folge hat, dass wir in Zukunft einen den gemachten Beobachtungen entsprechenden Zusammenhang erwarten. Es ist jedoch nach wie vor die Frage offen, weshalb wir den Eindruck haben, dass Ursache und Wirkung notwendig miteinander verknüpft sind. Ebenso wie für unsere Praxis des kausalen Schließens gibt Hume hierauf eine psychologische Antwort: Die durch die Beobachtung eines konstanten Zusammenhanges entstandene Disposition, von bestimmten Eindrücken zu bestimmten Vorstellungen überzugehen, macht sich durch einen Zwang bemerkbar, den entsprechenden Übergang zu vollziehen. Der Eindruck dieses im Geist verspürten Zwanges ist die Quelle der Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung. Bei dem Eindruck einer notwendigen Verknüpfung handelt es sich somit um das, was Hume als einen Reflexionseindruck (im Gegensatz zu einem Sinneseindruck) bezeichnet. Er entsteht dadurch, dass der Geist seine Aufmerksamkeit nach innen richtet, und zwar auf den Zwang, der durch die Beobachtung des konstanten Zusammenhanges zweier Arten von Objekten entsteht (Treatise, 1.3.14.20 – 22). Das Ergebnis der Untersuchung besteht Hume zufolge darin, dass es sich bei der notwendigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung lediglich um eine Projektion des menschlichen Geistes auf die Welt handelt:
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1 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre
Upon the whole, necessity is something, that exists in the mind, not in objects; nor is it possible for us ever to form the most distant idea of it, considere’d as a quality in bodies. (Treatise, 1.3.14.22) ’Tis a common observation, that the mind has a great propensity to spread itself on external objects, and to conjoin with them any internal impressions, which they occasion, and which always make their appearance at the same time that these objects discover themselves to the senses. […] [T]he same propensity is the reason, why we suppose necessity and power to lie in the objects we consider, not in our mind, that considers them; notwithstanding it is not possible for us to form the most distant idea of that quality, when it is not taken for the determination of the mind, to pass from the idea of an object to that of its usual attendant. (Treatise, 1.3.14.25)³²
Wir haben es hier im Prinzip mit einer Irrtumstheorie kausalen Schließens zu tun: Während wir annehmen, dass die Relation der notwendigen Verknüpfung, deren Vorhandensein wir in Kausalschlüssen unterstellen, eine Relation zwischen Objekten in der Welt ist, handelt es sich dem Hume des Treatise zufolge lediglich um eine Projektion des Geistes auf die Welt. Streng genommen können wir Hume zufolge noch nicht einmal die Vorstellung einer objektiven notwendigen Verknüpfung bilden. Der Versuch, diese Vorstellung auf einen Eindruck einer notwendigen Verknüpfung zwischen Objekten herzuleiten, ist Hume zufolge zum Scheitern verurteilt. Die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung führt er auf einen Eindruck einer subjektiven notwendigen Verknüpfung zwischen Perzeptionen zurück. Unsere Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung ist also stets die einer subjektiven notwendigen Verknüpfung, die wir dann illegitimerweise auf Objekte projizieren. Wie wir unten, in Abschnitt 1.4.3, sehen werden, handelt sich hierbei um einen Aspekt von Humes Position, der für Kants Ablehnung dieser Position entscheidend ist: Eine Position, nach der wir streng genommen nicht einmal eine Vorstellung einer objektiven notwendigen Verknüpfung haben können, ist für Kant unannehmbar, weil diese Konklusion aus seiner Sicht die Möglichkeit von Metaphysik generell infrage stellt.
Eine ähnliche Textstelle findet sich auch in Treatise, 1.4.7.5. Auf diese Stelle, die in Hamanns „Nachtgedanken eines Zweiflers“ übersetzt enthalten ist, gehe ich unten in Abschnitt 1.4.3 ein.
1.3 Kausalität in Humes Enquiry concerning Human Understanding
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1.2.7 Fazit: Drei Fragen und zwei Antworten in Form von psychologischen Erklärungen Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Hume im Treatise drei zentrale Fragen zum Thema Kausalität aufwirft, die alle mit der Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung zusammenhängen: 1.) Auf welchen unmittelbaren Eindruck lässt sich die Vorstellung der Kausalität (und insbesondere die in ihr enthaltene Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung) zurückführen? 2.) Welches ist der Grund für unseren Glauben an ein allgemeines Kausalprinzip, dem zufolge jedes Ereignis eine Ursache hat? 3.) Welches ist der Grund für unseren Glauben an das Vorliegen konkreter Kausalrelationen beziehungsweise für unsere Schlüsse von bestimmten Ursachen auf bestimmte Wirkungen? Während Hume die zweite Frage nicht beantwortet, legt er für die erste und die dritte Frage Antworten in Form von psychologischen Erklärungen vor: Der Eindruck der notwendigen Verknüpfung ist ein Reflexionseindruck, der daraus entsteht, dass der Geist sich bei Auftreten bestimmter Eindrücke dazu genötigt sieht, zu bestimmten Vorstellungen überzugehen. Unser Glauben an das Vorliegen bestimmter Kausalrelationen beruht darauf, dass wir Objekte bestimmter Arten, die häufig gemeinsam aufgetreten sind, miteinander assoziieren und aufgrund von Gewohnheit ein entsprechendes gemeinsames Auftreten in der Zukunft erwarten.
1.3 Kausalität in Humes Enquiry concerning Human Understanding Humes Behandlung des Themas Kausalität in der Enquiry ist in vielen Punkten parallel zu der Behandlung im Treatise. ³³ Dennoch lassen sich auch Unterschiede zwischen den beiden Darstellungen ausmachen, die sich auch im Hinblick auf Kants Verständnis von Humes Position als relevant erweisen werden.
Es ist allerdings hervorzuheben, dass Hume in der Enquiry eine wesentlich übersichtlichere Darstellung gelungen ist.
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1 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre
1.3.1 Die Darstellung der Kausalitätskritik in der Enquiry im Vergleich zum Treatise Ein Unterschied der Darstellung der Kausalitätskritik in der Enquiry zu der im Treatise, der besonders auffällig ist, besteht darin, dass Hume die Frage nach dem Grund für den Glauben an das allgemeine Kausalprinzip (Frage 2), die er im Treatise aufgeworfen und unbeantwortet gelassen hat, in der Enquiry gar nicht erst erwähnt.³⁴ In der Enquiry konzentriert sich Hume in erster Linie auf die Frage nach einer möglichen Rechtfertigung einzelner Kausalschlüsse und kommt, im Wesentlichen auf der Grundlage desselben Argumentes wie im Treatise, zu dem Ergebnis, dass sich solche Schlüsse weder a priori (Enquiry, section 4, part 1) noch auf der Grundlage eines beobachteten konstanten Zusammenhanges zwischen dem Auftreten von Objekten bestimmter Arten (Enquiry, section 4, part 2) rechtfertigen lassen. In der Enquiry (section 4, part 2) nimmt die im Treatise vorhandene, aber dort nicht besonders ausführlich behandelte allgemeine Problematik der Rechtfertigung induktiver Schlüsse einen größeren Raum ein. In induktiven Schlüssen wird von einer endlichen Menge von beobachteten Fällen auf das Auftreten gleichartiger Fälle in der Zukunft geschlossen. Die von Hume betrachteten kausalen Schlüsse, in denen auf der Grundlage eines beobachteten konstanten Zusammenhanges zweier Arten von Objekten auf einen entsprechenden Zusammenhang zukünftiger Objekte geschlossen wird, sind induktive Schlüsse.³⁵ Wie oben bereits dargestellt, lassen sich Hume zufolge solche Schlüsse deshalb nicht rechtfertigen, weil die Rechtfertigung ein Prinzip der Gleichförmigkeit der Natur voraussetzen müsste, das selbst wiederum nicht zirkelfrei gerechtfertigt werden kann. Die Beantwortung der oben aufgelisteten Fragen 1) und 3) fällt in der Enquiry ebenso aus, wie im Treatise: Auch hier liefert Hume die bereits geschilderte psychologische Erklärung unserer Praxis des kausalen Schließens (Enquiry, section 5, part 1) und die sich daraus ergebende psychologische Erklärung des Entstehens unserer Vorstellung der notwendigen Verknüpfung zwischen Objekten (Enquiry, section 7).
Auf diesen Punkt wird in der Sekundärliteratur sehr häufig hingewiesen. Siehe etwa Vaihinger (1881, 347), Wolff (1960, 119), Beck (1978, 117 ff.), Guyer (2008, 91) und De Pierris / Friedman (2013, Abschnitt 2, Fn. 8). Genau genommen geht Hume offenbar davon aus, dass alle Induktionsschlüsse Kausalschlüsse sind: „All reasoning concerning matter of fact seem to be founded on the relation of Cause and Effect. By means of that relation alone we can go beyond the evidence of our memory and senses.“ (Enquiry 4.4; Hervorhebungen im Original) Die Parallelstelle im Treatise ist 1.3.2.3.
1.3 Kausalität in Humes Enquiry concerning Human Understanding
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Abgesehen von der Auslassung der Diskussion des allgemeinen Kausalsatzes finden sich also alle zentralen Elemente von Humes Kausalitätskritik aus dem Treatise auch in der Enquiry. Interessanterweise scheint Hume in der Enquiry jedoch zu einer anderen Bewertung der Konsequenzen seines Ansatzes zu gelangen. Hierbei handelt es sich um einen Punkt, der sich in Hinblick auf Kants Aufnahme von Humes Position im Folgenden als interessant erweisen wird.
1.3.2 Ein Unterschied zwischen der Enquiry und dem Treatise in Hinblick auf eine Bewertung der Konsequenzen der Kausalitätskritik Wie wir in Abschnitt 1.2.6 gesehen haben, vertritt Hume im Treatise, dass es sich bei der notwendigen Verknüpfung zwischen Objekten lediglich um eine Projektion des menschlichen Geistes handelt. Hierbei hebt er sogar hervor, dass der Begriff einer objektiven notwendigen Verknüpfung streng genommen leer ist, weil wir nur einen Eindruck einer subjektiven notwendigen Verknüpfung haben können. Interessanterweise trägt seine Konklusion in der Enquiry jedoch eine andere Note: Here, then, is a kind of pre-established harmony between the course of nature and the succession of our ideas; and though the powers and forces, by which the former is governed, be wholly unknown to us; yet our thoughts and conceptions have still, we find, gone on in the same train with the other works of nature. Custom is that principle, by which this correspondence has been effected; so necessary to the subsistence of our species, and the regulation of our conduct, in every circumstance and occurence of human life. (Enquiry, 5.21) As nature has taught us the use of our limbs, without giving us the knowledge of the muscles and nerves, by which they are actuated; so has she implanted in us an instinct, which carries forward the thought in a correspondent course to that which she has established among external objects; though we are ignorant of those powers and forces, on which this regular course and succession of objects totally depends. (Enquiry, 5.22)
Obwohl wir unseren Glauben an das Vorliegen von notwendigen Verknüpfungen zwischen Objekten in der Welt nicht auf der Grundlage unserer Vernunft rechtfertigen können und dieser Glaube lediglich psychologisch erklärt werden kann, geht Hume dieser Äußerung zufolge offenbar dennoch davon aus, dass es verborgene Kräfte in der Welt gibt, die für eine Parallelität der Abläufe in der Welt zu den Verknüpfungen in unserem Geist sorgen.³⁶ Im Treatise, so haben wir oben in
Vgl. Guyer (2008, 92 f.). Floyd (2003, 25 f.) hingegen hält diese Äußerung für einen Fall von typischer Humescher Ironie.
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1 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre
Abschnitt 1.2.6 gesehen, formuliert Hume eine skeptische Konsequenz seiner Position, die eine solche Redeweise streng genommen für sinnlos erklärt. Denn nach der dort gegebenen Darstellung folgt aus Humes Position, dass wir eine Vorstellung von objektiven notwendigen Verknüpfungen gar nicht haben können, so dass der Begriff einer objektiven notwendigen Verknüpfung streng genommen leer ist. Wie wir in Abschnitt 1.4.3 sehen werden, ist dieser Unterschied zwischen Humes Position im Treatise und in der Enquiry ein Anhaltspunkt dafür, dass Kant nach seiner Bekanntschaft mit Humes Enquiry auch Zugang zu Teilen des Treatise gehabt hat. Denn während Kant in den 1760er Jahren, als er unter dem Einfluss der Enquiry stand, eine Position vertreten hat, die der von Hume sehr nahe kam (siehe unten, Abschnitt 1.4.1), grenzt er sich später von Humes Position ab. Dies tut er häufig gerade mit dem Hinweis darauf, dass eine (von Hume nur im Treatise, nicht in der Enquiry explizit vertretene) Position, nach der wir noch nicht einmal einen Begriff einer objektiven notwendigen Verknüpfung haben können, das Projekt der Metaphysik generell gefährdet, wobei es sich um ein Ergebnis handelt, mit dem Kant sich nicht abfinden möchte.
1.4 Kants Rezeption von Humes Kausalitätstheorie Wie wir bereits oben in Abschnitt 1.1.2 gesehen haben, liegt die Annahme nahe, dass Kant den Zugang zu Humes Kausalitätstheorie in erster Linie über eine Lektüre einer deutschen Übersetzung der Enquiry gefunden hat. Nun, da wir den Inhalt von Humes Kausalitätskonzeption grob vor Augen haben, lässt sich diese Hypothese im folgenden Abschnitt anhand eines Vergleiches von Textstellen aus vorkritischen Schriften Kants mit Textstellen aus der ihm zugänglichen EnquiryÜbersetzung gut erhärten. In weiteren Abschnitten werde ich darauf eingehen, inwiefern indirekte Quellen später vermutlich dazu geführt haben, dass Kant zu der von Hume im Treatise vertretenen, in manchen Punkten skeptischeren Position Zugang gehabt hat.
Wie sich in den Abschnitten 1.4.1 und 1.4.3 zeigen wird, hat Kant Humes Skeptizismus in den 1760er Jahren, als er unter dem Einfluss der Lektüre der Enquiry stand, offenbar moderater eingeschätzt als in späteren Zeiten, in denen er auch Zugang zu Teilen des Treatise hatte. Dies spricht meines Erachtens dafür, dass zumindest Kant die gerade zitierten Stellen nicht als ironisch aufgefasst hat.
1.4 Kants Rezeption von Humes Kausalitätstheorie
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1.4.1 Der Einfluss der Enquiry auf den vorkritischen Kant Es sind insbesondere zwei Textstellen aus vorkritischen Schriften, die die Annahme erhärten, dass Kant einen ersten Zugang zu Humes Kausalitätskonzeption in den 1760er Jahren durch die Lektüre der ihm damals zugänglichen deutschen Übersetzung der Enquiry gefunden hat. Die erste Textstelle entstammt der Schrift Versuch, den Begriff der negativen Größen in der Weltweisheit einzuführen von 1763, die zweite der Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik von 1766.³⁷ Diese Textstellen weisen deutliche inhaltliche Parallelen zu Humes Behandlung des Kausalitätsproblems auf. Teilweise deutet sogar die Wortwahl und die Wahl der veranschaulichenden Beispiele stark darauf hin, dass Kant die entsprechenden Stellen in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der zu diesem Zeitpunkt vorhandenen deutschen Übersetzung von Humes Enquiry geschrieben hat. In der ersten Textstelle aus der Schrift Versuch, den Begriff der negativen Größen in der Weltweisheit einzuführen von 1763 führt Kant die Unterscheidung zwischen logischen Gründen und Realgründen ein, vor deren Hintergrund er dann ein Problem bezüglich des Verständnisses von Kausalrelationen formuliert: Ich verstehe sehr wohl, wie eine Folge durch einen Grund nach der Regel der Identität gesetzt werde, darum weil sie durch die Zergliederung der Begriffe in ihm enthalten befunden wird. […] [U]nd diese Verknüpfung des Grundes mit der Folge kann ich deutlich einsehen, weil die Folge wirklich einerlei ist mit einem Theilbegriffe des Grundes und, indem sie schon in ihm befaßt wird, durch denselben nach der Regel der Einstimmung gesetzt wird. Wie aber etwas aus etwas anderm, aber nicht nach der Regel der Identität fließe, das ist etwas, welches ich
Vgl. Kreimendahl (1990, 28 ff.) und De Pierris / Friedman (2013, Abschnitt 1), die die Stellen jeweils ebenfalls zitieren und mit Textstellen aus der Enquiry vergleichen. Kreimendahl führt die Zitate im Rahmen einer Darstellung der Argumentation Kuno Fischers für die Hypothese, dass die Erweckung Kants durch Hume zeitlich in den Jahren 1762/1763 anzusiedeln ist, an. Die Hypothese Fischers bezüglich der zeitlichen Verortung der Erweckung macht sich Kreimendahl allerdings nicht zu eigen. Siehe hierzu auch unten, Fn. 45 in diesem Kapitel. Erdmann (1888, 216 ff.) hingegen argumentiert ausführlich für die These, dass die Parallelen zwischen den Textstellen nicht auf einen Einfluss Humes auf Kants Auffassung des Kausalitätsproblems bereits um 1762 zurückzuführen sind. Ihm zufolge hat Kant Humes Essays zwar „höchstwahrscheinlich schon Ende der fünfziger Jahre […] gekannt, seine Schätzung des Philosophen trifft jedoch in den sechziger Jahren den moralistischen Essayisten, nicht den metaphysischen Skeptiker und nicht den Religionsphilosophen.“ Erdmann (1888, 77; Hervorhebung im Original als Sperrschrift). Beck (1978, 113 ff.) hält es zwar für wahrscheinlich, dass Kant die Enquiry-Übersetzung zum fraglichen Zeitpunkt gelesen hatte, hält die Textstellen jedoch ebenfalls nicht für ausreichende Belege für einen Einfluss Humes auf Kants Denken in diesem frühen Zeitraum. Er hält einen Einfluss von Crusius auf Kant für wahrscheinlicher.
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1 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre
mir gerne möchte deutlich machen lassen. Ich nenne die erstere Art eines Grundes den logischen Grund, weil seine Beziehung auf die Folge logisch, nämlich deutlich nach der Regel der Identität, kann eingesehen werden, den Grund aber der zweiten Art nenne ich den Realgrund, weil diese Beziehung wohl zu meinen wahren Begriffen gehört, aber die Art derselben auf keinerlei Weise kann beurtheilt werden. Was nun diesen Realgrund und dessen Beziehung auf die Folge anlangt, so stellt sich meine Frage in dieser einfachen Gestalt dar: wie soll ich es verstehen, daß, weil Etwas ist, etwas anderes sei? Eine logische Folge wird eigentlich nur darum gesetzt, weil sie einerlei ist mit dem Grunde. (NG, AA 2: 202)
Die Unterscheidung zwischen logischen Gründen und Realgründen entspricht der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen, wie Kant sie in der Kritik der reinen Vernunft (KrV, A 6 f. / B 10 f.) und auch in den Prolegomena (Prol, AA 4: 266 f.) einführt. Analytische Urteile sind solche, in denen „das Prädikat B […] zum Subjekt A als etwas, was in diesem Begriffe A (versteckter Weise) enthalten ist“ (KrV, A 6 / B 10), gehört. Synthetische Urteile sind hingegen solche, in denen das Prädikat nicht im Subjektbegriff enthalten ist. Die in analytischen Urteilen ausgedrückten Zusammenhänge sind also die zwischen logischen Gründen und ihren Folgen. Das von Kant in diesem Zusammenhang als Beispiel angeführte analytische Urteil „Alle Körper sind ausgedehnt“ drückt eine logische Beziehung zwischen den Begriffen „Körper“ und „Ausgedehntheit“ aus, die darin besteht, dass „Ausgedehntheit“ ein Teilbegriff des Begriffes „Körper“ ist. Der Zusammenhang zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung hingegen ist der zwischen einem Realgrund und seiner Folge. Dieser Zusammenhang ist – anders als der zwischen einem logischen Grund und seiner Folge – kein analytischer Zusammenhang: Aus dem Begriff einer Ursache allein lässt sich die Wirkung nicht erschließen. Entsprechend ist ein Satz, der einen solchen Zusammenhang ausdrückt, ein synthetischer Satz. Kants Frage am Ende der zitierten Passage ist die Frage, wie der Zusammenhang zwischen einem Realgrund und seiner Folge, also der zwischen einer Ursache und ihrer Wirkung, der ja kein logischer Zusammenhang ist, verstanden werden soll. Die Schwierigkeit des Verständnisses dieser Beziehung, die darin besteht, dass Ursache und Wirkung logisch gesehen vollkommen unterschiedlich sind, drückt er durch folgendes Beispiel aus: Ein Körper A ist in Bewegung, ein anderer B in der geraden Linie derselben in Ruhe. Die Bewegung von A ist etwas, die von B ist etwas anderes, und doch wird durch die eine die andere gesetzt. (NG, AA 2: 202)
Spätestens an dieser Stelle fühlt man sich stark an Humes Behandlung des Kausalitätsproblems in der Enquiry erinnert. Eine Stelle, die insbesondere durch
1.4 Kants Rezeption von Humes Kausalitätstheorie
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die Wahl des veranschaulichenden Beispiels eine deutliche Parallele aufweist, lautet in der zu diesem Zeitpunkt zugänglichen Übersetzung: [D]ie Wirkung ist von der Ursache gänzlich unterschieden, und folglich kann sie in derselben nicht entdecket werden. Bewegung in der andern Billiardkugel ist eine vollkommen unterschiedene Begebenheit von Bewegung in der ersten; und es ist im geringsten nichts in der einen, das uns auch nur den kleinsten Wink von der andern geben könnte. (Versuche, 72)³⁸
Ein paar Zeilen später greift Hume das Beispiel erneut auf: Wenn ich zum Exempel sehe, daß sich eine Billardkugel gegen eine andere in gerader Linie beweget, gesetzt auch, die Bewegung in der andern Kugel fiele mir von ohngefähr, als dem Erfolge ihrer Berührung oder ihres Anstoßes ein; kann ich denn nicht begreifen, daß hundert verschiedene Erfolge eben sowol aus dieser Ursache kommen können? […] Alle diese Vermuthungen sind begreiflich und sich selbst nicht widersprechend. (Versuche, 72 f.)³⁹
Hume betont mit beinahe denselben Worten wie später Kant die Tatsache, dass es für die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung charakteristisch ist, dass die Wirkung nicht allein aus der Ursache erkannt werden kann, weil beide sich vollkommen voneinander unterscheiden. Auch die Wahl und die Beschreibung des Beispiels gleichen sich auffällig. Es kommt hinzu, dass Kant später, in seinen kritischen Schriften, eben dieses Problem des Verständnisses des Zusammenhanges zwischen Ursache und Wirkung wieder aufgreift, die entsprechende Fragestellung explizit Hume zuschreibt und dabei Formulierungen verwendet, die denen aus seinem Versuch, den Begriff der negativen Größen in der Weltweisheit einzuführen gleichen.⁴⁰ So schreibt er in den Prolegomena Hume die Frage zu, wie es sich denken lässt, „daß etwas so beschaffen sein könne, daß, wenn es gesetzt ist, dadurch auch etwas Anderes notwendig gesetzt werden müsse“ (Prol, AA 4: 257), und in der Kritik der praktischen Vernunft die Frage, „wie darum, weil etwas A gesetzt wird, etwas anderes B auch notwendig gesetzt werden müsse“ (KpV, AA 5: 53).
Im Original lautet die Stelle: „[T]he effect is totally different from the cause, and consequently can never be discovered in it. Motion in the second billiard-ball is a quite distinct event from motion in the first; nor is there any thing in the one to suggest the smallest hint of the other.“ (Enquiry, 4.9) „When I see, for instance, a billiard-ball moving in a straight line towards another; even suppose motion in the second ball should by accident be suggested to me, as the result of their contact or impulse; may I not conceive, that a hundred different events might as well follow from the cause? […] All these suppositions are consistent and conceivable.“ (Enquiry, 4.10) Vgl. Kreimendahl (1990, 31).
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1 Humes Kausalitätskritik und Kants Hume-Lektüre
Die Annahme, dass Kant bereits zu diesem frühen Zeitpunkt durch eine Lektüre der Übersetzung der Enquiry beeinflusst war, wird erhärtet durch eine weitere Textstelle aus seiner Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, die 1766 erschien: [W]ie etwas könne eine Ursache sein oder eine Kraft haben, ist unmöglich jemals durch Vernunft einzusehen, sondern diese Verhältnisse müssen lediglich aus der Erfahrung genommen werden. Denn unsere Vernunftregel geht nur auf die Vergleichung nach der I d e n t i t ä t und dem W i d e r s p r u c h e . Sofern aber etwas eine Ursache ist, so wird durch E t w a s etwas A n d e r e s gesetzt, und es ist also kein Zusammenhang vermöge der Einstimmung anzutreffen; wie denn auch, wenn ich ebendasselbe nicht als eine Ursache ansehen will, niemals ein Widerspruch entspringt, weil es sich nicht kontradiziert, wenn etwas gesetzt ist, etwas Anderes aufzuheben. Daher die Grundbegriffe der Dinge als Ursachen, die der Kräfte und Handlungen, wenn sie nicht aus der Erfahrung hergenommen sind, gänzlich willkürlich sind und weder bewiesen noch widerlegt werden können. (TG, AA 2: 370)
Interessant ist an dieser Textstelle nicht nur, dass Kant erneut das Kausalitätsproblem mit Formulierungen beschreibt, die deutlich an Humes Enquiry erinnern. Es deutet sich hier darüber hinaus an, dass Kant Mitte der 1760er Jahre offenbar sogar zweitweise eine der Humeschen Kausalitätskonzeption ähnliche Position vertreten hat⁴¹: Kant weist im ersten Satz der zitierten Stelle darauf hin, dass unsere Kenntnis von Kausalrelationen ausschließlich auf Erfahrung basiert und im letzten Satz ergänzt er, dass der Begriff der Ursache seinen Ursprung nur in der Erfahrung haben kann. Ersteres entspricht Humes Antwort auf die dritte von ihm formulierte Frage, letzteres entspricht Humes Antwort auf die erste von ihm formulierte Frage bezüglich Kausalität.⁴² Interessanterweise handelt es sich hierbei gerade um die beiden Fragen, die Hume (im Gegensatz zur zweiten von ihm formulierten Frage, die nur im Treatise Erwähnung findet) in der Enquiry thematisiert. In der Fortführung der gerade zitierten Passage geht Kant dann speziell auf das Thema der mentalen Verursachung ein, indem er darauf hinweist, dass auch bei dieser Form von Kausalität eine Einsicht in den notwendigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht möglich ist: Ich weiß wohl, daß das Denken und Wollen meinen Körper bewege, aber ich kann diese Erscheinung, als eine einfache Erfahrung, niemals durch Zergliederung auf eine andere bringen und sie daher wohl erkennen, aber nicht einsehen. Daß mein Wille meinen Arm
Ähnlich schätzen dies auch Kuehn (1983, 181) und De Pierris / Friedman (2013, Abschnitt 1) ein. Auch Beck (1978, 114) hält fest: „[I]n the Träume eines Geistersehers, Kant writes in an ironic, semi-skeptical manner strongly reminiscent of Hume.“ Zu den drei Fragen siehe oben, Abschnitt 1.2.7.
1.4 Kants Rezeption von Humes Kausalitätstheorie
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bewegt, ist mir nicht verständlicher, als wenn jemand sagte, daß derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurückhalten könnte; der Unterschied ist nur dieser, daß ich jenes erfahre, dieses aber niemals in meine Sinne gekommen ist. (TG, AA 2: 370)
Diese Thematik des Kausalzusammenhangs zwischen willentlichen Entscheidungen und körperlichen Bewegungen wird auch von Hume in der Enquiry in ganz ähnlicher Form thematisiert. Und wieder fällt dabei auf, dass Kant ein Beispiel gewählt hat, das auch Hume im selben Zusammenhang verwendet⁴³: Ich behaupte also, daß der Einfluß des Willens über die Werkzeuge und Gliedmaßen des Leibes eine Begebenheit sey, welche, gleich allen andern natürlichen Wirkungen, einzig durch die Erfahrung erkannt, und niemals aus irgend einiger sich zeigenden Kraft oder Wirksamkeit in der Ursache vorher gesehen werden könnte, welche dieselbe mit der Wirkung verknüpfe, und die eine zu der nothwendigen Folge der andern machte. Dessen sind wir uns jeden Augenblick bewußt: aber die Mittel, durch welche dieses ins Werk gesetzt wird; die Kraft, durch welche der Wille eine so außerordentliche Wirkung verrichtet; dessen sind wir uns so wenig unmittelbar selbst bewußt, daß es vielmehr unserm allerfleißigsten Untersuchen und Nachforschen für immer entgehen muß. […] Wenn wir, durch einen geheimen Wunsch, die Macht bekämen, Berge aus dem Wege zu räumen, oder den Planeten in ihren Kreisen Einhalt zu thun: so wäre diese sich so weit erstreckende Gewalt nicht außerordentlicher, noch mehr über unsere Begreifungskraft. (Versuche, 157 f.)⁴⁴
Insgesamt zeigen die zitierten Passagen meines Erachtens sehr deutlich, dass Kant bereits in der ersten Hälfte der 1760er Jahre durch die Lektüre der Übersetzung der Enquiry einem Einfluss Humes ausgesetzt war, der sich insbesondere auf die Entwicklung von Kants Position bezüglich Kausalität niedergeschlagen hat. Wie wir gleich sehen werden, ist anzunehmen, dass Kant zusätzlich zu späteren Zeitpunkten durch indirekte Quellen einen Zugang zu Inhalten des Treatise er-
Vgl. Kreimendahl (1990, 31). „This influence [of volition over the organs of the body], we may observe, is a fact, which, like all other natural events, can be known only by experience, and can never be foreseen from any apparent energy or power in the cause, which connects it with the effect, and renders the one an infallible consequence of the other. The motion of our body follows upon the command of our will. Of this we are every moment conscious. But the means, by which this is effected; the energy, by which the will performs so extraordinary an operation; of this we are so far from being immediately conscious, that it must for ever escape our most diligent enquiry. […] Were we empowered, by a secret wish, to remove mountains, or controul the planets in their orbit; this extensive authority would not be more extraordinary, nor more beyond our comprehension.“ (Enquiry, 7.10 – 11)
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hielt.⁴⁵ Die erste Grundlage seiner Auseinandersetzung mit Humes Kausalitätskonzeption dürfte aber die Darstellung in den Enquiry gewesen sein.
1.4.2 Der allgemeine Kausalsatz und Beatties Essay Beim Abgleich der Darstellungen der Kausalitätsproblematik des Treatise und der Enquiry mit Kants Behandlung des Themas Kausalität fällt auf, dass Kant im Rahmen der Analytik der Kritik der reinen Vernunft einem Thema relativ großen Raum einräumt, das Hume nur im Treatise und nicht in der Enquiry behandelt hat. Denn bei dem als „zweite Analogie der Erfahrung“ bezeichneten transzendentalen Grundsatz, der der Kategorie der Kausalität zugeordnet ist, handelt es sich um das allgemeine Kausalprinzip, dem zufolge jedes Ereignis eine Ursache hat.⁴⁶ Kant führt einen aufwendigen Beweis für dieses Prinzip ins Feld.⁴⁷ Und wie eine Stelle aus der Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft unmissverständlich zeigt, hat die Frage der Rechtfertigung dieses Prinzips für ihn nicht nur eine große Bedeutung, sondern wird von ihm auch explizit auf Hume zurückgeführt.⁴⁸ Kant unterscheidet an dieser Stelle zwischen dem allgemeinen Kausalprinzip, nämlich dem „allgemein anerkannten Grundsatz von dem Verhältnis der Ursache zur Wirkung“ (KrV, A 765 / B 793), und konkreten Kausalurteilen. Er erläutert, dass wir den Ergebnissen der transzendentalen Logik zufolge zwar nicht Urteile über konkrete Kausalverbindungen a priori rechtfertigen können, dass dies aber nicht bedeute, dass der allgemeine Kausalsatz nicht a priori gültig sei. Hierbei wirft er Hume einen entsprechenden Fehlschluss vor: Dagegen haben wir in der transzendentalen Logik gesehen: daß, ob wir zwar niemals u n m i t t e l b a r über den Inhalt des Begriffs, der uns gegeben ist, hinausgehen können, wir doch völlig a priori, aber in Beziehung auf ein drittes, nämlich m ö g l i c h e Erfahrung, also
Kreimendahl (1990, 35), der einen Einfluss der Enquiry auf Kant in der ersten Hälfte der 1760er Jahre durchaus zugesteht, vertritt jedoch die Position, dass dieser Einfluss noch nicht als dasjenige zu betrachten ist, was das in den Prolegomena beschriebene große Erweckungserlebnis initiiert hat. Wie bereits oben angemerkt, möchte ich an dieser Stelle keine These bezüglich einer genauen Datierung des Erweckungserlebnisses vertreten, sondern nur Klarheit darüber erlangen, durch welche Schriften Humes die Entwicklung von Kants Kausalitätskonzeption maßgeblich beeinflusst wurde. Die Frage, ob der Einfluss Humes auf Kant in der ersten Hälfte der 1760er Jahre das Erweckungserlebnis initiiert hat, kann ich hier also außen vor lassen. Siehe hierzu unten, Abschnitt 3.2.1. Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung werde ich ausführlich in Kapitel 3 analysieren. Vgl. Beck (1978, 119 f.).
1.4 Kants Rezeption von Humes Kausalitätstheorie
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doch a priori, das Gesetz der Verknüpfung mit anderen Dingen erkennen können. Wenn also vorher festgewesenes Wachs schmilzt, so kann ich a priori erkennen, daß etwas vorausgegangen sein müsse, (z. B. Sonnenwärme,) worauf dieses nach einem beständigen Gesetz gefolgt ist, ob ich zwar, ohne Erfahrung aus der Wirkung weder die Ursache, noch aus der Ursache die Wirkung, a priori und ohne Belehrung der Erfahrung b e s t i m m t erkennen könnte. Er [Hume] schloß also fälschlich aus der Zufälligkeit unserer Bestimmung n a c h d e m G e s e t z e , auf die Zufälligkeit d e s G e s e t z e s selbst […]. (KrV, A 766 / B 794)
Kant unterstellt Hume an dieser Stelle, dass er die Möglichkeit einer apriorischen Rechtfertigung des allgemeinen Kausalsatzes auf der Grundlage der (auch von Kant akzeptierten) Tatsache in Frage gestellt hat, dass konkrete Kausalurteile nicht a priori gerechtfertigt werden können. Wie bereits oben angemerkt, taucht das allgemeine Kausalprinzip jedoch in der Enquiry, die Kant kannte, gar nicht auf. Nur im Treatise spielt die Frage, wie dieses Prinzip gerechtfertigt werden kann, eine (wenn auch nicht besonders zentrale) Rolle. Der Umstand, dass Kant die Frage nach der Rechtfertigung des allgemeinen Kausalprinzips im Zusammenhang mit Hume behandelt, lässt sich erklären, auch ohne dass man Kant dafür eine genaue Kenntnis des Treatise zuschreiben müsste.⁴⁹ Es ist anzunehmen, dass Kant durch die Lektüre der 1772 erschienenen Übersetzung von Beatties Essay on the Nature and Immutability of Truth darüber unterrichtet war, dass Hume im Treatise die Frage der Rechtfertigung des allgemeinen Kausalprinzips diskutiert hat.⁵⁰ Im fünften Abschnitt des zweiten Hauptstückes des ersten Teiles seines Essays thematisiert Beattie zunächst allgemein die in seinen Augen unmittelbare Evidenz des allgemeinen Kausalsatzes.⁵¹ Von dort geht er dann zu einer ausführlichen Kritik an den von Hume im Treatise Es wurde auch die Position vertreten, dass es gar nicht nötig ist, Kants Kenntnis von Humes Behandlung des allgemeinen Kausalsatzes im Treatise anzunehmen. So ist etwa Brandt (1992, 105) der festen Überzeugung, dass Kant allein aus Humes Enquiry die gesamte Breite der im Treatise ausgebreiteten Fragen zum Thema Kausalität erkannt haben kann: „Man […] kann darauf vertrauen, daß ein philosophisch interessierter Leser aus der Behandlung des besonderen Kausalgesetzes in der Enquiry sofort sieht, daß Hume eine Kenntnis des allgemeinen Kausalgesetzes für ebenso unmöglich hält wie die Anwendung des Kausalbegriffs auf die Gegenstände der metaphysica specialis – für wie borniert müssen die Historiker Kant halten, um ihm diese SeminarEinsicht zu verweigern! wo soll denn die Erkenntnis des allgemeinen Kausalsatzes lokalisiert sein, in der Relation der Ideen oder bei den matters of fact? den einzigen beiden Erkenntnisformen der Enquiry.“ Siehe oben, Abschnitt 1.1. Die entsprechende Annahme der Vermittlung dieser Kenntnis von Humes Behandlung des allgemeinen Kausalsatzes durch Beatties Essay vertreten etwa Vaihinger (1881, 347), Wolff (1960, 119) und Beck (1978, 117 f.). Plausibel wird dies vor allem durch eine kritische Bemerkung gegen Beattie in den Prolegomena, die zeigt, dass Kant mit Beatties Kritik an Hume vertraut war (Prol, AA 4: 258 f.). Siehe Beattie (1772, 78 ff.).
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vorgebrachten Argumenten gegen verschiedentlich vorgebrachte Vorschläge zur Rechtfertigung des allgemeinen Kausalsatzes über. Dabei lässt er Hume in mehreren Zitaten aus dem Treatise ausführlich selbst zu Wort kommen. So heißt es etwa an einer Stelle in der deutschen Übersetzung von 1772: Ferner sucht unser Verfasser [Hume], daß der vorhergehende Satz [das allgemeine Kausalprinzip] weder anschauend, noch erweisbar gewiß sey, aus dem Grunde darzuthun, weil wir die Unmöglichkeit des Gegentheils, nicht zu beweisen im Stande wären. Ja, das Gegentheil, sagt er, ist nicht unbegreiflich: „Denn wir können uns ein Objekt denken, das in diesem Augenblicke noch nicht, aber in dem nächstfolgenden existiert, ohne die Idee von einer Ursache, als welches eine ganz andere und verschiedene Idee seyn würde, damit zu verbinden.“ Aber dies, darf ich sagen, ist nicht die wahre Seite der Sache. (Beattie 1772, 83)
Hier wird in jedem Fall deutlich, dass Hume im Treatise neben dem Gehalt des Begriffes der Kausalität und der Rechtfertigung von einzelnen Kausalschlüssen auch den allgemeinen Kausalsatz einer Untersuchung unterzogen hat, mit dem Ergebnis, dass dieser Satz nicht gerechtfertigt werden kann. Hierbei handelt es sich also um eine mögliche Quelle für Kants Kenntnis dieses Unterschiedes zwischen der Enquiry und dem Treatise. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, kann darüber hinaus davon ausgegangen werden, dass Kant seine Kenntnis von Inhalten des Treatise durch (mindestens) eine weitere Gelegenheit erweitern konnte.
1.4.3 Humes metaphysischer Skeptizismus in Hamanns Übersetzung des Schlussabschnittes des ersten Buches des Treatise Wie wir oben in Abschnitt 1.3 gesehen haben, hält sich Humes Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit der Erkenntnis von Kausalverbindungen in der Enquiry in gewissen Grenzen. Zwar führt er auch dort die im Begriff der Kausalität enthaltene Vorstellung der notwendigen Verknüpfung auf einen Reflexionseindruck zurück, der auf einem subjektiven Erlebnis eines Zwanges basiert. Er äußert sich zugleich aber recht zuversichtlich in Bezug auf die Frage, ob dem subjektiven Eindruck auch eine notwendige Verknüpfung zwischen den Objekten entspricht: Offenbar, so lässt er den Leser wissen, habe die Natur eine Art prästabilierte Harmonie zwischen den Kräften in der Natur und den durch die Einbildungskraft hervorgebrachten subjektiven Verknüpfungen in unserem Geist eingerichtet (Enquiry, 5.21). Obwohl der Eindruck der notwendigen Verknüpfung ein subjektiver Eindruck ist, geht Hume in der Enquiry also recht optimistisch von einer Entsprechung auf der Seite der Objekte aus, auch wenn er vorsichtshalber anmerkt, dass wir von den Kräften der Objekte keine Erkenntnis erwerben können (Enquiry,
1.4 Kants Rezeption von Humes Kausalitätstheorie
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5.22). Hier wird der Skeptizismus bezüglich kausaler Verknüpfungen, der sich aus Humes Position ergibt, in gewisser Weise durch eine Portion Common Sense abgefedert. Im Treatise stellt sich die Situation in Bezug auf diesen Punkt hingegen ganz anders dar, und dies tritt insbesondere im von Hamann übersetzten Schlussabschnitt des ersten Buches des Treatise explizit hervor.⁵² So heißt es dort: Wir möchten nicht gerne eher stehen bleiben, als bis wir mit der Kraft selbst in der Ursache, die eine Würkung erzeugt, und mit der thätigen Eigenschaft bekannt geworden, worauf das Band zwischen beiden eigentlich beruht. Dieses ist das Ziel von allem unserm Studiren und Nachdenken; und in was für Verlegenheit müssen wir gerathen, wenn wir lernen, daß diese Verbindung, dies Band oder diese Wirksamkeit schlechterdings in uns selbst liegt, und nichts als eine Bestimmung der Seele ist, welche wir uns durch Gewohnheit erwerben, und die den Übergang von einem Gegenstand zu seinem gewöhnlichen Gefährten, und von dem Eindruck des einen zur lebhaften Idee des andern veranlaßte? Eine solche Entdeckung benimmt uns nicht nur alle Hoffnung einer jemals zu erreichenden Zufriedenheit, sondern hebt selbst unsere Wünsche darnach auf; weil es offenbar, daß wenn wir den letzten wirkenden Grund als etwas, so in dem äußerlichen Gegenstand seinen Sitz hat, zu entdecken verlangen, wir uns entweder selbst wiedersprechen, oder ohne Sinn reden. (Nachtgedanken, 365 f.)⁵³
Interessant ist vor allem das Ende dieser Passage, in der die Konklusion zum Ausdruck kommt, dass wir, wenn wir von Kräften in den Objekten sprechen, streng genommen ohne Sinn reden. Dies ist im Rahmen von Humes Position durchaus konsequent gedacht, denn Hume zufolge können Begriffe nur dadurch
Auf diesen Unterschied zwischen der Darstellung in der Enquiry und im Schlussabschnitt des ersten Buches des Treatise weist auch Kuehn (1983, 186) hin. Wie bereits oben in Fn. 4 in diesem Kapitel erwähnt, stellen sowohl Kuehn (1983) als auch Kreimendahl (1990) über den Schlussabschnitt des ersten Buches des Treatise eine Verbindung zwischen Humes Kausalitätskritik und der Antinomienproblematik her. Diese Überlegung, die Brandt (1992) in seiner Auseinandersetzung mit Kreimendahl (1990) kritisiert, werde ich hier nicht verfolgen, da sie eine intensive Beschäftigung mit der Frage erfordert, was Kant genau unter einer Antinomie versteht und wie sich sein Verständnis der Antinomienproblematik in der vorkritischen Zeit entwickelt hat (siehe die ausführliche Darstellung von Kreimendahl 1990, Kap. VI). Im Original lautet die Stelle: „We wou’d not willingly stop before we are acquainted with that energy in the cause, by which it operates on its effect; that tie, which connects them together; and that efficacious quality, on which the tie depends. This is our aim in all our studies and reflections: And how must we be disappointed, when we learn, that this connexion, tie, or energy lies merely in ourselves, and is nothing but that determination of the mind, which is acquir’d by custom, and causes us to make a transition from an object to its usual attendant, and from the impression of one to the lively idea of the other? Such a discovery not only cuts off all hope of ever attaining satisfaction, but even prevents our very wishes; since it appears, that when we say we desire to know the ultimate and operating principle, as something, which resides in the external object, we either contradict ourselves, or talk without a meaning.“ (Treatise, 1.4.7.5)
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als gehaltvoll ausgezeichnet werden, dass man nachweist, dass eine ihnen entsprechende Vorstellung auf einen Eindruck zurückgeführt werden kann. Zwar führt Hume die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung auf einen Eindruck zurück, aber eben auf einen Eindruck einer subjektiven notwendigen Verknüpfung zwischen Perzeptionen. Einen Eindruck einer objektiven notwendigen Verknüpfung können wir Humes Argumentation zufolge gar nicht haben. Entsprechend ist es eigentlich nur konsequent, wenn Hume im Treatise folgert, dass der Begriff einer objektiven notwendigen Verknüpfung leer ist – ein diesem Begriff entsprechender Eindruck lässt sich ja gerade nicht nachweisen. Insofern ist die Rede von Kräften in den Objekten beziehungsweise von objektiven notwendigen Verknüpfungen streng genommen nicht nur ungerechtfertigt, sondern sogar sinnlos. Dieser Unterschied zwischen dem Treatise und der Enquiry ist nun deshalb besonders interessant, weil Kant in seinen kritischen Schriften häufiger zum Ausdruck bringt, dass Humes Position die Konsequenz hat, dass wir über gar keinen Begriff einer objektiven notwendigen Verknüpfung verfügen. Für Kant ist dies eine nicht hinnehmbare Konsequenz aus Humes Ansatz, und zwar insbesondere deshalb, weil hierdurch die Möglichkeit von Metaphysik bestritten wird. Dies hebt Kant an einer Stelle in den Prolegomena deutlich hervor: H u m e ging hauptsächlich von einem einzigen, aber wichtigen Begriffe der Metaphysik, nämlich dem der Ve r k n ü p f u n g d e r U r s a c h e u n d W i r k u n g […] aus. […] Er bewies unwidersprechlich, daß es der Vernunft gänzlich unmöglich sei, a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken, denn diese enthält Notwendigkeit; es ist aber gar nicht abzusehen, wie darum, weil Etwas ist, etwas Anderes notwendigerweise auch sein müsse, und wie sich also der Begriff von einer solchen Verknüpfung a priori einführen lasse. Hieraus schloß er, daß die Vernunft sich mit diesem Begriffe ganz und gar betrüge, daß sie ihn fälschlich für ihr eigen Kind halte, da er doch nichts anderes als ein Bastard der Einbildungskraft sei, die […] eine […] subjektive Notwendigkeit […] für eine objektive aus Einsicht unterschiebt. Hieraus schloß er, die Vernunft habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen, auch selbst im Allgemeinen, zu denken, weil ihre Begriffe alsdann bloße Erdichtungen sein würden, […] welches ebensoviel sagt als: es gebe überall keine Metaphysik und könne auch keine geben. (Prol, AA 4: 257 f.)⁵⁴
Im Rahmen der Analyse von Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung in Kapitel 3 wird diese Kritik Kants an Humes Ansatz eine zentrale Rolle spielen. Die hier zitierte Stelle aus den Prolegomena, in der Kant den Unterschied zwischen den Vorstellungen einer subjektiven notwendigen Verknüpfung und einer objektiven notwendigen Verknüpfung hervorhebt, werde ich in Abschnitt 3.3.7 ausführlich analysieren. Zu der Bedeutung dieser Unterscheidung für Kants Abgrenzung seines Ansatzes von Humes siehe außerdem Abschnitt 3.4.1.
1.4 Kants Rezeption von Humes Kausalitätstheorie
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Ganz anders als etwa noch in den durch Humes Enquiry beeinflussten Träumen eines Geistersehers ⁵⁵ zeigt sich hier, dass Kant das Ergebnis von Humes Kausalitätsanalyse, nach der der Begriff der Kausalität ausschließlich empirisch gewonnen werden kann, für vollkommen unannehmbar hält. Der von ihm angegebene Grund hierfür besteht gerade in dem von Hume im Schlussabschnitt des ersten Buches des Treatise hervorgehobenen Punkt, dass wir nach Humes Analyse nicht über einen gehaltvollen Begriff von objektiven kausalen Kräften beziehungsweise objektiven notwendigen Verknüpfungen verfügen können. Es ist eine Konsequenz von Humes empiristischer Konzeption, dass ein solcher Begriff nur auf einer Täuschung beruhen kann.⁵⁶ Es liegt also nahe, dass Kants Begegnung mit diesem Abschnitt in der Übersetzung von Hamann dazu geführt hat, dass er Humes Position neu bewertet hat. Interessant ist außerdem der am Ende der gerade zitierten Stelle von Kant gegebene Hinweis darauf, dass diese Konsequenz von Humes Ansatz die Unmöglichkeit von Metaphysik zur Folge hätte.⁵⁷ Auf diesen Punkt kommt Hume ebenfalls im Schlussabschnitt des ersten Buches des Treatise zu sprechen.⁵⁸ Hume hält zunächst fest, dass der durch seine Position genährte Zweifel sich in alltäglichen Situationen in der Regel nicht bemerkbar macht: Dieser Mangel in unsern Begriffen ist freylich nicht im gemeinen Leben sichtbar ohngeachtet wir bey den allergewöhnlichsten Verbindungen von Ursache und Wirkung eben so unwis-
Siehe hierzu oben, Abschnitt 1.4.1. Dieser Punkt tritt auch an einer Stelle in der Kritik der praktischen Vernunft hervor: „Nun ist es, sagt [Hume], unmöglich, die Verbindung, die zwischen einem Dinge und einem a n d e r e n […], wenn sie nicht in der Wahrnehmung gegeben werden, a priori und als notwendig zu erkennen. Also ist der Begriff einer Ursache selbst lügenhaft und betrügerisch und ist, am gelindesten davon zu reden, eine sofern noch zu entschuldigende Täuschung, da die G e w o h n h e i t (eine s u b j e k t i v e Notwendigkeit) […] unvermerkt für eine o b j e k t i v e Notwendigkeit […] genommen, und so der Begriff einer Ursache erschlichen und nicht rechtmäßig erworben ist, ja auch niemals erworben oder beglaubigt werden kann […].“ (KpV, AA 5: 51) Was dies aus Kants Sicht genau bedeutet, wird in Kapitel 2 zu klären sein.Wie sich dort zeigen wird, ist Kant selbst natürlich auch an einer Kritik an der klassischen Metaphysik interessiert, die Anspruch auf theoretische Erkenntnisse im Bereich des Erfahrungstranszendenten beansprucht. In diesem Zusammenhang einer Kritik der transzendenten Metaphysik betrachtet Kant Hume sogar in gewisser Weise als einen Verbündeten. Aber die Konsequenzen von Humes Skepsis in Bezug auf den Begriff der Kausalität, die Kant sieht, gehen ihm zu weit, da Humes Position, wenn auch von diesem nicht intendiert, die Legitimität der Verwendung des Begriffes der Kausalität in den Wissenschaften und im Alltag untergräbt. Dies wird auch von Thöle (1991, 27 ff.) mit Verweis auf dieselben Zitatstellen hervorgehoben.
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send in Ansehung des letzten Grundes ihrer Vereinigung sind, als bey den seltensten und außerordentlichsten. (Nachtgedanken, 366)⁵⁹
Relevant wird die Einsicht darin, dass ein objektiver Kausalitätsbegriff leer sein muss, für den zweifelnden Hume vor allem in Bezug auf metaphysische Fragestellungen: Der angestrengte Anblick dieser mannigfaltigen Widersprüche und Unvollkommenheiten in der menschlichen Vernunft hat mich so benommen und mein Gehirn erhitzt, daß ich geneigt bin, allen Glauben, alle Beweise und alle Grade der Wahrscheinlichkeit aufzugeben.Wo oder was bin ich? Von welchen Ursachen leite ich mein Daseyn, und wohin geht meine künftige Bestimmung? Wessen Gunst soll ich suchen und vor wessen Zorn mich fürchten? Was für Wesen umgeben mich? Auf welche habe ich Einfluß und welche auf mich? Alle diese Fragen stürzen mich in die größte Verwirrung […]. (Nachtgedanken, 367)⁶⁰
Hier tritt hervor, dass es vor allem die Anwendung des Kausalitätsbegriffes im Rahmen von metaphysischen Themenstellungen ist, die von Hume vor dem Hintergrund seiner eigenen Ergebnisse als problematisch erachtet wird. Wenn der Kausalitätsbegriff, sobald er als ein objektiver Begriff verstanden wird, streng genommen leer ist, dann stellt dies insbesondere die Möglichkeit solcher metaphysischen Untersuchungen infrage, die auf einen solchen Begriff angewiesen sind. Und tatsächlich zeigt sich auch in den Prolegomena, dass diese von Hume im Schlussabschnitt des ersten Buches des Treatise geäußerte Einschätzung der Konsequenzen seiner eigenen Analyse des Kausalitätsbegriffes von Kant geteilt wird⁶¹: Es war nicht die Frage, ob der Begriff der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung der ganzen Naturerkenntnis unentbehrlich sei, denn dies hatte H u m e niemals in Zweifel gezogen; sondern ob er durch die Vernunft a priori gedacht werde und auf solche Weise eine von aller Erfahrung unabhängige innere Wahrheit und daher auch wohl weiter ausgedehnte
„This deficiency in our ideas is not, indeed, perceiv’d in common life, nor are we sensible, that in the most usual conjunctions of cause and effect we are as ignorant of the ultimate principle, which binds them together, as in the most unusual and extraordinary.“ (Treatise, 1.4.7.6) „The intense view of these manifold contradictions and imperfections in human reason has so wrought upon me, and heated my brain, that I am ready to reject all belief and reasoning, and can look upon no opinion even as more probable or likely than another. Where am I, or what? From what causes do I derive my existence, and to what condition shall I return? Whose favour shall I court, and whose anger must I dread? What beings surround me? and on whom have I any influence, or who have any influence on me? I am confounded with all these questions […].“ (Treatise, 1.4.7.8; Hervorhebung im Original) Vgl. Thöle (1991, 28 f.).
1.4 Kants Rezeption von Humes Kausalitätstheorie
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Brauchbarkeit habe, die nicht bloß auf Gegenstände der Erfahrung ausgedehnt sei: hierüber erwartete H u m e Eröffnung. (Prol, AA 4: 258 f.)
Wir sehen also, dass Hamanns Übersetzung Kant den Zugang zu Aspekten von Humes Ansatz ermöglicht hat, die für das Verständnis des kritischen Kants von Humes Position zentral sind. Wie ich im nächsten Kapitel ausführlich erarbeiten möchte, ist es tatsächlich Humes Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit von Metaphysik, der für Kant im Zentrum des Interesses stand. In Bezug auf das Thema der vorliegenden Untersuchung wirft dies eine wichtige Frage auf: Wenn es Humes Skeptizismus in Bezug auf die Metaphysik war, der Kant besonders interessiert hat, welche Rolle spielt in Kants Ansatz dann eigentlich eine Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung von empirischen Naturgesetzen? Tatsächlich mag es zunächst so erscheinen, als träte diese Frage für Kant vollkommen in den Hintergrund, da er in erster Linie an einer Beantwortung der Frage, wie Metaphysik möglich ist, interessiert ist. Wie wir jedoch im nächsten Kapitel sehen werden, spielt die Frage nach der Rechtfertigung empirischer Naturgesetze für Kants kritische Auseinandersetzung mit Metaphysik eine zwar indirekte, aber dennoch äußerst bedeutende Rolle.
2 Kants Verhältnis zu Humes Skepsis Die Frage nach Kants Verhältnis zu Humes Skepsis, die in diesem Kapitel beantwortet werden soll, möchte ich als eine doppelte Frage verstehen: Erstens wird genauer zu klären sein, welche Art von Skeptizismus in Bezug auf Kausalität Kant Hume genau zuschreibt. Wir haben am Ende des letzten Kapitels bereits gesehen, dass nach Kants eigener Auskunft in den Prolegomena ein Skeptizismus in Bezug auf die Metaphysik für Kant im Vordergrund steht. Diese meines Erachtens für das Verständnis von Kants Verhältnis zu Humes Ansatz zentrale Feststellung gilt es weiter zu beleuchten. Die zweite Teilfrage besteht darin, wie Kant Humes Skeptizismus bewertet. Es wird sich in diesem Kapitel zeigen, dass Kants Bewertung zweischneidig ausfällt: Einerseits schätzt er Hume als jemanden, der mit seinen skeptischen Angriffen die transzendente Metaphysik in ihre Schranken zu weisen bemüht ist. Andererseits ist Kant der Meinung, dass Humes Skeptizismus zu weit geht, da Humes Kritik am Kausalitätsbegriff nicht nur die transzendente Metaphysik bedroht, sondern ungewollt auch die Legitimität unserer alltäglichen kausalen Schlusspraxis und vor allem die Grundlage der Wissenschaften untergräbt. Die in Abschnitt 2.1 vorgenommene Untersuchung der Frage nach Kants Verhältnis zu Humes Skepsis orientiert sich zunächst an einer Gegenüberstellung und Analyse von konträren Lesarten, die in den letzten Jahren hierzu vertreten wurden. Auf der einen Seite legen Michael Forster und Paul Guyer Kant so aus, dass eines seiner Hauptziele in der Kritik der reinen Vernunft eine Widerlegung eines Humeschen Kausalitätsskeptizismus ist. Auf der anderen Seite vertritt Gary Hatfield die Position, dass ein Humescher Kausalitätsskeptizismus nicht im Zentrum von Kants Überlegungen steht. Meine Untersuchung dieser Lesarten dient allerdings nicht in erster Linie dem Zweck, eine Debatte zwischen gegenwärtigen Kant-Exegeten zu bewerten. Vielmehr lässt sich feststellen, dass analoge Debatten in der Kant-Literatur in der Vergangenheit immer wieder aufgetreten sind. So berichtet Hans Vaihinger im ersten Band seines Kommentars zur Kritik der reinen Vernunft ausführlich von einer entsprechenden Debatte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum stattgefunden hat und zur Zeit der Abfassung von Vaihingers Kommentar noch aktuell war.¹ Er fügt außerdem hinzu, dass in etwa zur gleichen Zeit auch in England eine analoge Debatte geführt wurde.² Vaihinger sieht dies als ein deutliches Indiz dafür, dass die „Controverse nicht aus zufälligen Siehe Vaihinger (1881, 385 ff.). Siehe Vaihinger (1881, 422 ff.). https://doi.org/10.1515/9783110697209-004
2.1 Will Kant einen Humeschen Skeptizismus widerlegen?
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Missverständnissen entstand, sondern durch die Natur der Vorlage nothwendig hervorgerufen wird“ (Vaihinger 1881, 422), dass also Kants eigene Darstellung entsprechende Unklarheiten enthält und daher zu unterschiedlichen Interpretationen Anlass gibt. Wie sich im Verlauf dieses Kapitels zeigen wird, ist dies tatsächlich der Fall. Es lässt sich meines Erachtens allerdings trotzdem rekonstruieren, welche Einstellung zu Humes Kausalitätsskepsis diejenige ist, die mit Kants hauptsächlichen Zielen in der Kritik der reinen Vernunft am ehesten zusammenfällt. Wie sich zeigen wird, handelt es sich hierbei um eine Einstellung, die zwischen denen liegt, die Kant auf der einen Seite von Forster und Guyer und auf der anderen Seite von Hatfield zugeschrieben wird. Wenn ich im Folgenden mit den Lesarten von Forster, Guyer und Hatfield hier konkrete und relativ aktuelle Lesarten vorstelle, dann also mit dem allgemeineren Ziel, mich hierdurch einem exegetischen Problemkomplex anzunähern, der in der Gegenüberstellung dieser Lesarten repräsentativ zum Ausdruck kommt. Mein eigener Vermittlungsvorschlag zwischen den konträren Lesarten, den ich ab Abschnitt 2.1.6 im Anschluss an Robert Stern erarbeite und ab Abschnitt 2.2 gegen mögliche Einwände verteidige, soll daher auch insgesamt zu einem besseren Verständnis von Punkten beitragen, die in der Kant-Literatur seit langer Zeit immer wieder umstritten sind.
2.1 Will Kant einen Humeschen Skeptizismus widerlegen? 2.1.1 Die Neuauflage einer alten Debatte In seinem Aufsatz „The Prolegomena and the Critiques of Pure Reason“ (2001) untersucht Gary Hatfield die in der Kant-Literatur weit verbreitete These, dass eine Auseinandersetzung mit einem von Hume initiierten Skeptizismus in Bezug auf Kausalität im Zentrum von Kants kritischer Philosophie steht.³ Auf der Grundlage einer sorgfältigen Analyse des Textes der beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft sowie der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können gelangt Hatfield zu der Konklusion, dass Kant anfänglich überhaupt keine Ambitionen hatte, mit der Kritik der reinen Vernunft eine Entgegnung auf ein von Hume aufgeworfenes skeptisches Problem vorzulegen. Vielmehr habe Kant in der A-Auflage Hume als einen Verbündeten in der
Hatfield (2001, 186, Fn. 3) nennt als Vertreter dieser These beispielhaft Robert Paul Wolff, Ralph Walker, Jonathan Bennett, Richard Rorty, Barry Stroud, Reinhold Aschenberg, Hansgeorg Hoppe und Dieter Henrich.
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Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik betrachtet. Erst in den Prolegomena und in der B-Auflage der Kritik habe Kant sich, als Reaktion auf Einwände gegen die A-Auflage, von Humes Position deutlicher abgegrenzt.⁴ Auf der anderen Seite wurden in jüngerer Zeit mit den Büchern Kant and Skepticism von Michael Forster und Knowledge, Reason, and Taste – Kant’s Response to Hume von Paul Guyer erneut Interpretationen vorgelegt, denen zufolge eine Auseinandersetzung mit Humes Skepsis ein zentraler Aspekt von Kants kritischer Philosophie ist.⁵ Forster und Guyer zufolge drückt sich dies insbesondere dadurch aus, dass Kant sich nicht nur an zentralen Stellen der Kritik der reinen Vernunft mit Humes skeptischen Argumenten auseinandersetzt, sondern diese Auseinandersetzung sogar einer derjenigen Aspekte ist, die die Struktur der Kritik der reinen Vernunft grundlegend geprägt haben. In diesem Kapitel möchte ich zum einen zeigen, dass Forsters und Guyers These, eine Auseinandersetzung mit Humes Kausalitätsskepsis stehe im Zentrum der kritischen Philosophie Kants, gegen Hatfields Argumente in einem gewissen Sinn aufrechterhalten werden kann. Um dies zu belegen, werde ich unter anderem die Relevanz von Humes Angriff auf den Begriff der Kausalität für Kants primäres positives Ziel in der Kritik der reinen Vernunft, der Bewahrung des praktischen Vernunftgebrauchs vor einer Einschränkung durch die theoretische Vernunft, herausarbeiten. Es muss von Kant seinem eigenen Anspruch nach gezeigt werden, dass im Rahmen seiner kritischen Philosophie Humes Argumente ihre Wirksamkeit nicht entfalten können, damit sein Ansatz das ausgerufene positive Hauptziel der Kritik erreichen kann: Das Abhalten eines schädlichen Übergriffes von schlechter dogmatischer Metaphysik auf den Bereich der Moral. Zum anderen wird sich im Verlaufe der Argumentation herausstellen, dass Hatfields Analyse in Hinsicht auf eine genaue Bestimmung der Relation zwischen Kants kritischer Philosophie und dem Humeschen Skeptizismus sehr viel Erhellendes beiträgt. Insbesondere möchte ich zeigen, dass die Auseinandersetzung mit Humes Zweifeln zwar zentral für Kant ist, dass Kants Ziel aber nicht, wie von Guyer behauptet und von Forster mindestens nahegelegt, darin besteht, den Humeschen Skeptizismus zu widerlegen. Unter einer Widerlegung verstehe ich dabei ein Argument, das zeigt, dass eine bestimmte These oder Position falsch ist. Meines Erachtens weist Hatfield vollkommen zu Recht darauf hin, dass aus Kants Sicht die Falschheit eines Skeptizismus in Bezug auf den apriorischen Ursprung und die Gültigkeit des Kausalitätsbegriffs im Bereich der Wissenschaften und der Alltagserfahrung nicht nachgewiesen werden muss. Die Falschheit eines solchen
Hatfield (2001, 188 f.). Forster (2008); Guyer (2008, insbesondere Kap. 1).
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Skeptizismus wird von Kant stets vorausgesetzt.⁶ Sein Ziel besteht vielmehr darin aufzuzeigen, dass sich die – in seinen Augen absurden – skeptischen Konsequenzen, die aus Humes empiristischer Position folgen, im Rahmen des transzendentalen Idealismus nicht ergeben.⁷ In den folgenden Abschnitten werden zunächst die Interpretationen von Forster und Guyer vorgestellt, die einige Belege für eine zentrale Rolle der Humeschen Skepsis vorbringen. Hierbei soll insbesondere herausgearbeitet werden, wogegen sich Humes Skepsis aus Kants Sicht genau gerichtet hat und welche Rolle dies für die Struktur der Kritik der reinen Vernunft spielt. Im Anschluss daran folgt eine Konfrontation mit den Einwänden, die Hatfield gegen solche Interpretationen vorgelegt hat, bevor ich eine vermittelnde Lesart entwickle und verteidige. Dies mag zunächst wie eine unberechtigte Übertragung der in den Prolegomena eingeführten analytischen Methode auf die Kritik der reinen Vernunft erscheinen. Im Rahmen dieser Methode setzt Kant die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori in der reinen Naturwissenschaft und der Mathematik voraus und forscht nach den Bedingungen dieser Gültigkeit (Prol, AA 4: 274 f.). Demgegenüber, so könnte eingewandt werden, scheint es für die synthetische Methode der Kritik der reinen Vernunft doch gerade charakteristisch zu sein, dass die Gültigkeit dieser Urteile erst erwiesen wird. In Abschnitt 2.2.1 werde ich auf diesen Einwand genauer eingehen und zeigen, dass die Voraussetzung der Gültigkeit synthetischer Urteile a priori in der Mathematik und der reinen Naturwissenschaft mit der synthetischen Methode der Kritik verträglich ist. Die Interpretation, die ich hier im Anschluss an die Interpretation von Robert Stern entwickeln werde, weist außerdem Parallelen zu einer von Stephen P. Engstrom vertretenen Auslegung auf. Siehe Engstrom (1994). Während Engstrom seine Interpretation vor allem in Bezug auf die transzendentale Deduktion der Kategorien der B-Auflage und aufbauend auf Kants direkte Äußerungen zu den Zielen der Deduktion entwickelt, erarbeite ich meine Position in der Auseinandersetzung mit den neueren Arbeiten von Forster, Guyer, Hatfield und Stern, die sich dem Thema eher über allgemeinere Überlegungen zur Gesamtstrategie der Kritik der reinen Vernunft nähern und dabei insbesondere auch den Zusammenhang zwischen der Transzendentalen Analytik und der Transzendentalen Dialektik im Auge haben. In einem gewissen Sinne kann das vorliegende Kapitel daher als Bestätigung von Engstroms Ergebnissen aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung von Kants Verhältnis zu Hume kommt, von einer anderen Perspektive aus argumentierend, auch Eric Watkins (2005).Watkins arbeitet heraus, dass Kant eine Kausalitätskonzeption vertritt, die sich aus seiner vorkritischen Position heraus entwickelt hat und entsprechend stark von der Kausalitäts-Debatte innerhalb der rationalistischen Tradition geprägt ist. Daher unterscheide sie sich insbesondere auf einer sehr grundlegenden, ontologischen Ebene deutlich von Humes Kausalitätskonzeption. (Siehe hierzu auch unten, Kap. 3, Fn. 74.) Vor diesem Hintergrund vertritt Watkins die These, dass Kants Argumente in der Analytik der Kritik der reinen Vernunft nicht als ein direkter Versuch der Widerlegung von Humes Kausalitätsskepsis verstanden werden können, da sie auf ontologischen Grundannahmen basieren, die Hume nicht teilt, sondern dass es Kant darum ging, eine Position zu entwickeln, die eine Alternative zu Humes Position darstellen soll (Watkins 2005, 362).
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2.1.2 Forsters und Guyers Bestimmung der Auseinandersetzung mit der Humeschen Skepsis als ein zentrales Moment der Kritik der reinen Vernunft Michael Forster und Paul Guyer haben, vermutlich voneinander unbeeinflusst⁸, in den letzten Jahren relativ ähnliche Darstellungen des Verhältnisses von Kants kritischer Philosophie zu verschiedenen Formen des Skeptizismus vorgelegt. Ihnen zufolge hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft auf drei Arten von Skeptizismus geantwortet, wobei nur zwei davon aus Kants Sicht zentral gewesen seien. Eine erste Form des Skeptizismus, mit der Kant sich in der Kritik auseinandersetzt, ist der Cartesische Außenweltskeptizismus⁹, ein Skeptizismus bezüglich unseres Wissens über die Existenz und Beschaffenheit externer Gegenstände. Sowohl Forster als auch Guyer legen mit meines Erachtens überzeugenden Argumenten dar, dass Kant dieser Form des Skeptizismus nur am Rande seine Aufmerksamkeit geschenkt hat.¹⁰ Insbesondere fügen sich die Abschnitte, in denen sich Kant mit dem Cartesischen Skeptizismus beschäftigt¹¹, nicht besonders gut in den Gesamttext der Kritik ein, sondern wirken eher wie aufgesetztes Beiwerk.¹² Es lässt sich nicht erkennen, dass die Auseinandersetzung mit dem
Guyers hier vorgestellte Darstellung des Verhältnisses von Kant zu verschiedenen Formen des Skeptizismus erschien erstmals in Form des Aufsatzes „Kant on Common Sense and Skepticism“ (Guyer 2003a). Das erste Kapitel von Guyer (2008), auf das ich mich hier beziehe, ist eine leicht veränderte beziehungsweise ergänzte Version dieses Artikels. Forster gibt an, dass Versionen seines 2008 erschienenen Essays Kant and Skepticism bereits etwa 20 Jahre vor der Veröffentlichung existiert haben. Siehe Forster (2008, ix). Guyer glaubt daher nicht, dass seine Darstellung Forsters beeinflusst hat. Über die Möglichkeit eines umgekehrten Einflusses äußerst sich Guyer wie folgt: „Forster presented a paper that might have been an early version of this work at a conference at the University of Chicago that I attended in 1988, but I certainly did not consciously remember the contents of that paper when I wrote mine in 2001. Of course I cannot speak for my subconscious.“ Guyer (2009, 385, Fn. 2). Forster (2008, 4) bezeichnet diese Form von Skeptizismus als „,veil of perception‘ skepticism“, während Guyer (2008, 28) die Bezeichnung „Cartesian Skepticism“ wählt. Der Sache nach läuft beides auf dasselbe hinaus. Vgl. Forster (2008, 6 ff.) sowie Guyer (2008, 30 ff.). Diese Position bezüglich der Bedeutung des Cartesischen Außenweltskeptizismus für Kant ist in der Literatur nicht unumstritten. Zu einer anderen Einschätzung, der zufolge der Cartesische Außenweltskeptizismus für Kant durchaus von zentraler Bedeutung ist, kommt etwa Heidemann (1998, 5 f.). Hierbei handelt es sich um den Abschnitt über den vierten Paralogismus in der A-Auflage, den „Paralogism der Idealität (des äußeren Verhältnisses)“ (KrV, A 366), sowie den in der B-Auflage neu eingefügten Abschnitt „Widerlegung des Idealismus“ (KrV, B 274 ff.). Vgl. Forster (2008, 10).
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Cartesischen Skeptizismus in bedeutender Weise einen Einfluss auf die Struktur der Kritik der reinen Vernunft gehabt hat.¹³ Anders sieht dies mit einer zweiten Form von Skeptizismus aus, die Forster und Guyer übereinstimmend als „Pyrrhonischen Skeptizismus“ bezeichnen. Hierbei handelt es sich um einen Skeptizismus, der sich Kant zufolge aus einer natürlichen Dialektik der Vernunft ergibt¹⁴ und der durch eine Gegenüberstellung von entgegengesetzten Argumenten eine Urteilsenthaltung nahelegt¹⁵. Dass diese Form des Skeptizismus eine sehr große Rolle für die Konzeption der Kritik der reinen Vernunft spielt, wird bereits dadurch deutlich, dass sie von Kant selbst in der Vorrede zur ersten Auflage in den Mittelpunkt des kritischen Projekts gerückt wird. Bei dieser Form der Skepsis handelt es sich um die „Verlegenheit“, in die die Vernunft „ohne ihre Schuld“ gerät (KrV, A VII), um die „Dunkelheit und Widersprüche“, in die sie sich stürzt (KrV, A VIII). Kant bezieht sich hier auf die später, in der Transzendentalen Dialektik behandelten Probleme, und zwar insbesondere auf die Antinomien. Die Struktur der Antinomien kann so beschrieben werden, dass es sich um Paare von gegensätzlichen Behauptungen (These und Antithese) handelt, die jeweils durch Argumente gleicher Stärke gestützt werden. Das Themenspektrum der Antinomien deckt wichtige Bereiche der Metaphysik ab.¹⁶ Es kann also festgehalten werden, dass der sich aus der Antinomienproblematik ergebende Skeptizismus im Wesentlichen ein Skeptizismus in Bezug auf die Metaphysik ist. Die Antinomien sind Kant zufolge dadurch unausweichlich, dass es in der Natur der menschlichen Vernunft liegt, diejenigen Fragen aufzuwerfen, auf die die jeweiligen Thesen und Antithesen der Antinomien Antworten darstellen sollen. Die Bedrohlichkeit der Antinomien ergibt sich daraus, dass es für These und Antithese jeweils eine überzeugende Argumentation zu geben scheint, was im Ergebnis zu einem Widerspruch führt. Eines der Hauptanliegen der Kritik der reinen Vernunft besteht darin, die sich aus den Antinomien ergebenden Widersprüche aufzulösen, um die Metaphysik, den „Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten“ Vgl. Guyer (2008, 31 f.). Vgl. Guyer (2008, 27). Vgl. Forster (2008, 4). Vgl. Forster (2008, 16). Forster zufolge handeln sie von der Welt als Ganzer, der menschlichen Seele und Gott. Es ist umstritten, ob es in den Antinomien tatsächlich um Gott und die menschliche Seele geht, über die in den anderen Abschnitten der Transzendentalen Dialektik (den Abschnitten über die Paralogismen und über das Ideal der Vernunft) gehandelt wird. Forster weist in der zugehörigen Fn. 2 auf S. 99 entsprechend darauf hin, dass Kant es manchmal auch so darstellt, dass es in allen Antinomien um die Welt als Ganze geht. Entscheidend ist für unseren Zusammenhang jedoch die Tatsache, dass die Antinomien in jedem Fall Themen der Metaphysik aufgreifen.
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(KrV, A VIII), nachhaltig zu befrieden. Diesem Anliegen widmet sich Kant in der Transzendentalen Dialektik. Eine dritte Form von Skeptizismus, mit der Kant sich auseinandersetzt, ist der Humesche Skeptizismus, der eng verknüpft ist mit Humes Betrachtungen zum Thema Kausalität. Sowohl Forster als auch Guyer arbeiten drei Punkte als diejenigen heraus, die in Humes Betrachtungen zum Thema Kausalität zentral sind, von denen vor allem zwei in der Kritik der reinen Vernunft große Beachtung finden.¹⁷ Der erste von Hume hervorgehobene Punkt bezieht sich auf unsere Vorstellung von Kausalität. Hume legt dar, dass es unmöglich ist, in der Wahrnehmung einzelner Abfolgen von Objekten, die wir als kausale Abfolgen einstufen, einen unmittelbaren Eindruck aufzuspüren, der uns die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der beobachteten aufeinander folgenden Objekte vermittelt.¹⁸ Letztlich führt er die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung auf einen Eindruck einer subjektiven notwendigen Verknüpfung zwischen Perzeptionen zurück und gelangt somit zu dem Ergebnis, dass es sich bei dieser Vorstellung um ein Produkt des Vermögens der Einbildungskraft handelt.¹⁹ Ein zweiter von Hume hervorgehobener Punkt betrifft das allgemeine Kausalprinzip, dem zufolge jedes Ereignis eine Ursache hat. Hume argumentiert insbesondere für die These, dass das allgemeine Kausalprinzip nicht a priori einzusehen ist.²⁰ Ein dritter Punkt ist Humes These, dass konkrete Kausalverknüpfungen nicht a priori eingesehen werden können, sondern von uns stets auf der Grundlage von Erfahrung angenommen werden. Konkrete Kausalschlüsse basieren Hume zufolge auf einer Gewohnheit, die durch die häufige Beobachtung ähnlicher Abfolgen entsteht. Das Vermögen, das für Kausalschlüsse verantwortlich zeichnet, ist also die Einbildungskraft und nicht die Vernunft.²¹ Obwohl der dritte Punkt vor allem in Humes Enquiry sehr weit im Vordergrund steht, ist es offenkundig derjenige, der am wenigsten Spuren in der Kritik der reinen Vernunft hinterlassen hat. Während zu den ersten beiden genannten Punkten jeweils Stellen in der Kritik ausgemacht werden können, an denen Kant auf Humes Argumente eingeht, liegt in Bezug auf Humes Behandlung konkreter Kausalurteile keine entsprechende Stelle in der Kritik vor.²²
Vgl. Forster (2008, 21 ff.) sowie Guyer (2008, 75 ff.). Zu Humes Rede von Objekten als Ursachen und Wirkungen siehe oben, Kapitel 1, Fn. 24. Siehe oben, Abschnitt 1.2.6. Siehe oben, Abschnitt 1.2.3. Siehe oben, Abschnitt 1.2.4– 5. Forsters und Guyers Ansichten gehen in diesem Zusammenhang in Hinsicht auf einen interessanten Aspekt auseinander: Während Forster (2008, 22) die These vertritt, dass Kant Humes
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Schauen wir uns nun zunächst einmal an, worin für Kant die problematischen Aspekte der ersten beiden von Hume aufgeworfenen Punkte bestehen, um dann diejenigen Stellen der Kritik zuordnen zu können, an denen Kant sich mit den entsprechenden Problemen auseinandersetzt.
2.1.3 Humes Betrachtungen zum Thema Kausalität als Basis eines allgemeineren Skeptizismus In diesem Abschnitt geht es darum, das Verhältnis von Kant zu Humes Position genauer zu klären. Wie Forster und Guyer zeigen, kann man dieses Verhältnis dadurch beleuchten, dass man einen genaueren Blick auf Passagen verschiedener Werke der kritischen Periode wirft, in denen sich Kant explizit zu Hume äußert. In der Kritik der praktischen Vernunft beschreibt Kant Humes Position wie folgt²³: D a v i d H u m e , von dem man sagen kann, daß er alle Anfechtung der Rechte einer reinen Vernunft, welche eine gänzliche Untersuchung derselben notwendig machten, eigentlich anfing, schloß so: Der Begriff der U r s a c h e ist ein Begriff, der die N o t w e n d i g k e i t der Verknüpfung der Existenz des Verschiedenen und zwar, sofern es verschieden ist, enthält, sodaß, wenn A gesetzt ist, ich erkenne, daß etwas davon ganz verschiedenes, B, notwendig auch existieren müsse. Notwendigkeit kann aber auch nur einer Verknüpfung beigelegt werden, sofern sie a priori erkannt wird; denn die Erfahrung würde von einer Verbindung nur zu erkennen geben, daß sie sei, aber nicht, daß sie notwendigerweise sei. Nun ist es, sagt er, unmöglich, die Verbindung, die zwischen einem Dinge und einem a n d e r e n […], wenn sie nicht in der Wahrnehmung gegeben werden, a priori und als notwendig zu erkennen. Also ist der Begriff einer Ursache selbst lügenhaft und betrügerisch und ist, am gelindesten davon zu reden, eine sofern noch zu entschuldigende Täuschung, da die G e w o h n h e i t (eine s u b j e k t i v e Notwendigkeit) […] unvermerkt für eine o b j e k t i v e Notwendigkeit […] genommen, und so der Begriff einer Ursache erschlichen und nicht rechtmäßig erworben ist, ja auch niemals erworben oder beglaubigt werden kann […]. (KpV, AA 5: 50 f.)
Kant betont in dieser Beschreibung von Humes Position, dass es sich um eine Irrtumstheorie in Bezug auf Kausalität handelt: Während wir glauben, dass das Kausalverhältnis, welches wir zwei Ereignissen zuschreiben, ein Verhältnis ist, Position in Bezug auf konkrete Kausalurteile im Wesentlichen akzeptiert hat, glaubt Guyer (2008, Kap. 5; 2009, 386), dass die Entgegnung auf Hume in Bezug auf diesen Punkt zwar nicht in der Kritik der reinen Vernunft erfolgt, aber in der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft gleichsam nachgereicht wird. Meine eigene Antwort auf die Frage, wie Kant sich die Rechtfertigung empirischer Kausalgesetze und damit auch konkreter Kausalurteile vorstellt, werde ich ausführlich in den Kapiteln 3 – 6 entwickeln. Vgl. Guyer (2008, 37).
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das eine notwendige Verknüpfung enthält, die zwischen den Objekten selbst besteht, ist es nach Humes Theorie so, dass die notwendige Verknüpfung lediglich eine rein subjektive Angelegenheit ist: Aufgrund von Gewohnheit sind Vorstellungen von bestimmten Objekten in unserem Geist miteinander verknüpft, wobei es sich lediglich um eine subjektive, nicht um eine objektive Verknüpfung handelt. Wie Kant in den Prolegomena, und zwar an eben der Stelle, an der „nun der Ort [ist], den Humeschen Zweifel aus dem Grunde zu heben“ (Prol, AA 4: 310), hervorhebt, lässt sich dieser Punkt in ähnlicher Form auch auf andere zentrale Begriffe der Metaphysik, nämlich auf die Begriffe der Subsistenz und der Gemeinschaft ausweiten. Zugleich weist Kant jedoch entschieden darauf hin, dass er die Konsequenz, die aus Humes Theorie für diese Begriffe und die mit ihnen verbundenen Prinzipien folgt, nicht mitzutragen bereit ist: Gleichwohl bin ich weit davon entfernt, diese Begriffe als bloß aus der Erfahrung entlehnt und die Notwendigkeit, die in ihnen vorgestellt wird, als angedichtet und für bloßen Schein zu halten, den uns eine lange Gewohnheit vorspiegelt; vielmehr habe ich [in der Kritik der reinen Vernunft] hinreichend gezeigt, daß sie und die Grundsätze aus denselben a priori vor aller Erfahrung feststehen und ihre ungezweifelte objektive Richtigkeit, aber freilich nur in Ansehung der Erfahrung, haben. (Prol, AA 4: 310 f.)
Dies ist als expliziter Kommentar in Bezug auf die nur zwei Jahre vor den Prolegomena in erster Auflage erschienene Kritik der reinen Vernunft zu verstehen.²⁴ Dort, genauer in den beiden Teilen der Transzendentalen Analytik, beansprucht Kant, den apriorischen Ursprung und die apriorische Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe (Analytik der Begriffe) sowie der Grundsätze des reinen Verstandes (Analytik der Grundsätze) zu beweisen, wovon der Begriff der Kausalität und das allgemeine Kausalprinzip jeweils die zentralen Beispiele sind.²⁵ Forster und Guyer sind der Ansicht, dass diese Abschnitte als Entgegnungen auf Problemstellungen verstanden werden sollten, bei denen es sich um Verallgemeinerungen der ersten beiden oben herausgearbeiteten Punkte Humes, nämlich in Bezug auf unsere Vorstellung von Kausalität und in Bezug auf das allgemeine Kausalprinzip, handelt.
Vgl. Guyer (2008, 16). Wir werden in Abschnitt 2.1.6 sehen, dass diese interpretatorische These, der zufolge Kant den apriorischen Ursprung und die Gültigkeit der Kategorien und Prinzipien beweisen wollte, zugunsten der These, dass er lediglich erklären wollte, wie die (von ihm stets vorausgesetzte) Gültigkeit der Kategorien und Prinzipien möglich ist, zurückgenommen werden muss.
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Das durchaus aufwendige Programm der Transzendentalen Analytik ist nach Kants eigener Auskunft in erster Linie deshalb erforderlich, weil Humes Argumente in Bezug auf Kausalität, wenn man sie verallgemeinert, letztlich sogar alle zentralen Begriffe der Metaphysik zu diskreditieren und damit Metaphysik insgesamt unmöglich zu machen scheinen.²⁶ Eine Entgegnung auf Humes Argumente war nach Kant also vonnöten, um „zuerst die Möglichkeit einer Metaphysik“ (Prol, AA 4: 14) auszumachen – Kant hat den Humeschen Skeptizismus offenbar in erster Linie als metaphysischen Skeptizismus aufgefasst.²⁷ Forster liest Kant dementsprechend so, dass dieser in der Transzendentalen Analytik beansprucht, eine bestimmte Form von Metaphysik zu etablieren und gegen Humes Zweifel durch Argumente abzusichern.²⁸ Zwar stimmt Kant mit Hume dahingehend überein, dass es nicht möglich ist, eine transzendente Metaphysik zu verteidigen: Die reinen Verstandesbegriffe und die Prinzipien des Verstandes können nach Kant nicht dazu verwendet werden, Erkenntnisse zu erlangen, die sich auf den Bereich jenseits möglicher Erfahrung erstrecken. Damit entfernt sich Kant von dem Anspruch der traditionellen Metaphysik, theoretische Erkenntnis in Bezug auf klassische Themen der Metaphysik, wie etwa Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu erlangen. Doch beansprucht Kant Forster zufolge auf der anderen Seite, die Gültigkeit der Kategorien und Verstandesprinzipien zumindest für den Bereich möglicher Erfahrung zu beweisen und somit eine Metaphysik der Erfahrung zu etablieren. Guyer äußert sich ganz ähnlich, wenn er feststellt, dass Kants Projekt, synthetische Erkenntnis a priori zu etablieren, grundlegend darauf abzielt, Humes Skeptizismus in Bezug auf das allgemeine Kausalprinzip (sowie die Erweiterung dieses Skeptizismus auf weitere Begriffe und Prinzipien der Metaphysik) zu widerlegen.²⁹ Dieses Projekt verortet Guyer hauptsächlich in der Transzendentalen Analytik und zu einem gewissen Teil auch in der vorhergehenden Transzendentalen Ästhetik.³⁰ Ein Unterschied zwischen Forsters und Guyers Interpretation lässt sich jedoch in folgendem Punkt ausmachen: Forster betont, dass Kant sich für den Humeschen Skeptizismus deshalb interessiert hat, weil dieser sich auf die Metaphysik bezieht.³¹ Dieser Punkt spielt auch aus Guyers Sicht eine bedeutende Rolle. Guyer
Vgl. Prol, AA 4: 13 f. Vgl. Forster (2008, 4). Vgl. Forster (2008, 34). Vgl. Guyer (2008, 36). Vgl. Guyer (2008, 39 ff.). „The types of skepticism which really originated and motivate the critical philosophy are types of skepticism that mainly threaten metaphysics […].“ Forster (2008, 3; Hervorhebung im Original).
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weist jedoch darauf hin, dass Humes Skeptizismus aus Kants Sicht eine noch viel größere Tragweite gehabt habe.³² Kant selbst hebt das skeptische Potential von Humes Argumenten für weitere Bereiche deutlich hervor.³³ So führt er in der Kritik der praktischen Vernunft aus: So ward nun [durch Hume] zuerst in Ansehung aller Erkenntnis, die die Existenz der Dinge betrifft (die Mathematik blieb also davon noch ausgenommen) der E m p i r i s m u s als die einzige Quelle der Prinzipien eingeführt, mit ihm aber zugleich der härteste S k e p t i z i s m u s selbst in Ansehung der ganzen Naturwissenschaft (als Philosophie). (KpV, AA 5: 51)
Humes Kausalitätskritik untergräbt nach Kant also nicht nur die Metaphysik, sondern auch die Naturwissenschaft, die, wie Kant in den folgenden Sätzen darlegt, auf der Anwendung des Kausalitätsbegriffs und des allgemeinen Kausalprinzips beruht. Schlimmer noch, Kant sieht in der Folge sogar die in dem letzten Zitat noch ausgenommene Mathematik durch Humes Empirismus in Mitleidenschaft gezogen³⁴ und gelangt zu der nüchternen Erkenntnis: Auf diese Weise führt H u m e s Empirismus in Grundsätzen auch unvermeidlich auf den Skeptizismus, selbst in Ansehung der Mathematik, folglich in allem w i s s e n s c h a f t l i c h e n theoretischen Gebrauche der Vernunft (denn dieser gehört entweder zur Philosophie oder zur Mathematik). Ob der gemeine Vernunftgebrauch (bei einem so schrecklichen Umsturz, als man den Häuptern der Erkenntnis begegnen sieht) besser durchkommen und nicht vielmehr noch unwiederbringlicher in ebendiese Zerstörung alles Wissens werde verwickelt werden, mithin ein allgemeiner Skeptizismus nicht aus denselben Grundsätzen folgen müsse (der freilich aber nur die Gelehrten treffen würde), das will ich jeden selbst beurteilen lassen. (KpV, AA 5: 52)
Während Kant also in den Prolegomena den mit Humes Position verbundenen metaphysischen Skeptizismus hervorhebt, geht er in der Kritik der praktischen Vernunft weiter und schreibt Humes Position skeptische Konsequenzen in einem
„Humean Skepticism [played] an important role in originating the critical philosophy, in virtue of its special bearing on the tenability of metaphysics […].“ (Ebd., 4) Die heutzutage vieldiskutierte Frage, ob Hume tatsächlich als Skeptiker oder nicht vielmehr als Naturalist zu interpretieren ist, umgehe ich hier, indem ich die Fragestellung auf Kants Perspektive einschränke. Siehe hierzu auch Kap. 1, Fn. 28. Kant hat, wie wir sehen werden, Hume zweifellos als Skeptiker verstanden. Die Frage ist, in Bezug auf welche Bereiche. Vgl. Guyer (2008, 37). Dieser Zusammenhang ist etwas indirekt und beruht darauf, dass Kant, entgegen Humes Ansicht, mathematische Sätze nicht für analytisch, sondern für synthetisch hält. Da sie außerdem a priori gelten, ist auf der Grundlage von Humes Empirismus, in dessen Rahmen die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori nicht gegeben ist, ihre Gültigkeit nicht einsehbar.
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viel größeren Ausmaß zu: Der gesamte Bereich der Wissenschaft (Naturwissenschaft und Mathematik) ist betroffen; möglicherweise, so stellt Kant unserem Urteil frei, sogar die Anwendung zentraler Begriffe, beispielsweise des Begriffs der Kausalität, im Alltag.³⁵ Guyer ist der Überzeugung, dass auch dieser über die Metaphysik hinaus erweiterte Skeptizismus in Bezug auf den Common Sense Kant ein Dorn im Auge und das Ziel seiner gegen Hume gerichteten Argumente war: In Kant’s view, to attack the apriority of a fundamental concept of human thought, one used by common sense at every turn even if common sense itself would not call it a priori, is a form of skepticism, and the critical philosophy certainly aims to refute this form of skepticism. (Guyer 2008, 37; meine Hervorhebung)
Auf die Frage, ob Kants Argumente tatsächlich auf eine Verteidigung des Common Sense gegen den Humeschen Skeptizismus abzielen, werden wir in Abschnitt 2.1.6 zurückkommen. Insgesamt betrachtet zeigt sich, dass Forsters und Guyers Interpretationen weitgehend übereinstimmen und in vielerlei Hinsicht äußerst attraktiv sind. Insbesondere fangen sie viele Äußerungen Kants zu seinem eigenen Verhältnis sowohl zu Hume als auch zur Antinomienproblematik ein. Außerdem liefern sie ein klares Bild von der Struktur der Hauptteile der Kritik der reinen Vernunft: Während Kant dieser Interpretation zufolge vor allem in der Transzendentalen Analytik die Auseinandersetzung mit der Humeschen Skepsis verfolgt und gegen Hume durch positive Argumente zu beweisen versucht, dass eine Metaphysik zumindest als Metaphysik der Erfahrung möglich ist, geht es anschließend in der Transzendentalen Dialektik darum, die Ansprüche der transzendenten Metaphysik einer vernichtenden Kritik zu unterziehen und dadurch insbesondere die Antinomienproblematik aufzulösen.³⁶ Im folgenden Abschnitt betrachten wir Hatfields Auslegung der beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft sowie der Prolegomena, die in einer bedeutenden Hinsicht im Widerspruch zu den Interpretationen Forsters und Guyers steht.
Der eingeklammerte Zusatz, nach dem der allgemeine Skeptizismus „freilich aber nur die Gelehrten treffen würde“, zeigt allerdings an, dass Kant offenbar, ähnlich wie Hume, der Auffassung ist, dass skeptische Argumente dieser Art keinen Einfluss auf die gewöhnliche Alltagspraxis haben. Vgl. Guyer (2008, 30).
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2.1.4 Hatfields Analyse der Kritiken und der Prolegomena Gary Hatfield vertritt in seinem Aufsatz „The Prolegomena and the Critiques of Pure Reason“ die These, dass eine Entgegnung auf eine skeptische Bedrohung durch Humes Argumente nie im Zentrum von Kants Zielsetzung gestanden habe. Diese These überrascht insbesondere dadurch, dass sie in einer deutlichen Spannung zu den bereits zu Beginn des ersten Kapitels zitierten Textstellen zu stehen scheint, in denen Kant Auskunft über sein Verhältnis zu Humes Position gibt und „[d]ie Erinnerung des D a v i d H u m e “ als einen zentralen Auslöser seiner kritischen Wende auszeichnet (Prol, AA 4: 260). Hatfield versucht, seine These durch eine sehr sorgfältige Analyse der beiden Auflagen der Kritik und der Prolegomena zu belegen. Dabei geht er chronologisch vor und untersucht nacheinander die A-Auflage der Kritik der reinen Vernunft, die Prolegomena und schließlich die in der B-Auflage der Kritik neu hinzugekommenen oder überarbeiteten Passagen. Dies hängt damit zusammen, dass er die These erhärten möchte, dass anti-skeptische Tendenzen, die in einem gewissen Maße in Kants Schriften aufgespürt werden können, erst ab den Prolegomena und in der Folge auch in der B-Auflage der Kritik auftreten, was durch einen äußeren Umstand erklärt werden könne: Es handele sich um Reaktionen auf Einwände, die in kritischen Rezensionen gegen die A-Auflage der Kritik erhoben wurden. Zunächst hält Hatfield, ebenso wie Forster und Guyer, fest, dass der Cartesische Außenweltskeptizismus in der Kritik der reinen Vernunft weder mit Hume in Verbindung gebracht wird, noch ein zentrales Thema ist, das in bedeutender Weise die Struktur des Werkes bestimmt.³⁷ Die Frage, welche Art von Skeptizismus Kant in der A-Auflage Hume zuschreibt, beantwortet Hatfield folgendermaßen: I think [Kant] took Hume to be challenging the causal principle as used within metaphysics, and especially as used to infer the existence of God. That is, Hume’s skepticism was, in Kant’s mind, first and foremost a skepticism about metaphysics and natural theology. (Hatfield 2001, 192)
Ebenso wie Forster und Guyer ist Hatfield also der Überzeugung, dass Kant Hume in erster Linie als einen metaphysischen Skeptiker aufgefasst hat. Interessant ist jedoch, dass Hatfield diejenigen Bereiche der Metaphysik heraushebt, die nicht nur Hume, sondern auch Kant für unhaltbar erklärt hat: Eine erkenntnisgewinnende Anwendung der Kategorie der Kausalität im Bereich des Transzendenten und eine theoretische Erkenntnis bezüglich der Existenz Gottes hält auch Kant für unmöglich. Hatfields These kann also so verstanden werden, dass Kant in der A Vgl. Hatfield (2001, 192).
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Auflage der Kritik noch im Wesentlichen diejenigen Aspekte von Humes Skeptizismus im Auge hatte, die Hume zu einem Verbündeten Kants in der Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik machen. Zunächst arbeitet Hatfield heraus, dass Kant in der A-Auflage der Kritik bei genauerem Hinsehen Skeptizismus durchaus in einem positiven Licht darstellt und auf der anderen Seite vor allem die dogmatischen Metaphysiker als die eigentlichen Gegner Kants ausgemacht werden können. Die Skeptiker erscheinen Hatfield zufolge in der A-Vorrede sogar als Geburtshelfer der Kritik der reinen Vernunft: In dem dort niedergelegten historischen Abriss der Geschichte der Metaphysik (KrV, A IX f.) sind sie diejenigen, die regelmäßig die dogmatische Metaphysik angreifen und ihre Schwächen aufzeigen, was schließlich dazu führt, dass die Notwendigkeit einer Kritik der Ansprüche der dogmatischen Metaphysik offenkundig wird.³⁸ Dieses positive Bild des Skeptikers als Verbündeten im Kampf gegen die dogmatische Metaphysik und als Geburtshelfer einer Kritik der reinen Vernunft prägt nun Hatfield zufolge ebenfalls eine Passage in der Transzendentalen Methodenlehre der A-Auflage der Kritik, in der Hume erstmals explizit mit einer Form von Skeptizismus in Verbindung gebracht wird.³⁹ Nachdem Kant festgehalten hat, dass es unmöglich ist, die Existenz Gottes zu beweisen, aber ebenso unmöglich, seine Nicht-Existenz zu beweisen (KrV, A 742 / B 770), führt er Hume als jemanden ein, der ebenfalls vertreten hat, dass eine derartige theoretische Vernunfteinsicht in Bezug auf den Bereich des Übersinnlichen unmöglich ist (KrV, A 745 / B 773). Der Skeptizismus, der Hume an dieser Stelle zugeschrieben wird, ist also offenbar ein metaphysischer Skeptizismus in Bezug auf die Möglichkeit, Vernunfterkenntnis im Bereich des Erfahrungstranszendenten zu erlangen. Wie Hatfield hervorhebt, wird von Kant der Nutzen eines solchen Skeptizismus deutlich herausgestrichen: Hume, so Kant anerkennend, habe mit seinen Argumenten gegen eine vermeintliche transzendente Vernunfteinsicht den Zweck verfolgt, die Selbsterkenntnis der Vernunft zu steigern. Wie Kant in der Folge deutlich macht, zeigt die Unmöglichkeit einer Erkenntnis des Übersinnlichen, dass es nötig ist, durch eine kritische Betrachtung eine scharfe Grenze um den Bereich zu ziehen, in dem die Vernunft berechtigte Erkenntnisansprüche stellen kann (KrV, A 768 f. / B 796 f.). Der Vorwurf gegenüber Hume besteht an dieser Stelle offenbar nicht darin, dass er eine Form von Skeptizismus vertreten hat, die schädlich ist und widerlegt werden muss. Insbesondere, so betont Hatfield, ist nicht die Rede davon, dass Humes Skeptizismus in Bezug auf Kausalität eine ernsthafte Bedrohung
Vgl. Hatfield (2001, 193). Vgl. Hatfield (2001, 194).
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für die Naturwissenschaft oder unser Alltagswissen darstellt.⁴⁰ Kant kritisiert Hume lediglich dafür, dass er „unsern Verstand nur einschränkt, ohne ihn zu begrenzen“ (KrV, A 767 / B 796), dass er also lediglich einzelne dogmatische Behauptungen durch skeptische Einwände angreift, ohne in Form einer systematischen Kritik zu untersuchen, wie weit der Bereich, in dem reine Erkenntnis möglich ist, genau reicht. Dieses kritische Grenzziehungsprojekt ist Hatfield zufolge auch das zentrale Anliegen Kants in der Transzendentalen Analytik: Häufig, so hält Hatfield fest, werde vor allem die Transzendentale Deduktion der Kategorien und der Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung als der Versuch einer Beantwortung eines skeptischen Angriffs Humes auf die Gültigkeit des allgemeinen Kausalprinzips gelesen.⁴¹ Hatfield plädiert jedoch dagegen, diese Teile der Kritik als Entgegnung auf eine Form von Skeptizismus zu lesen. Zwar möchte er keineswegs bestreiten, dass Kant in der Transzendentalen Deduktion darauf abzielt, die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori zu erklären.⁴² Doch sei das Hauptanliegen Kants ein negatives, nämlich das der Beschränkung des Gebrauchs der Kategorien und Verstandesprinzipien. Als Beleg für seine Lesart verweist er unter anderem auf eine Stelle in der Analytik der Grundsätze, in der sich Kant über das Ziel der Transzendentalen Analytik wie folgt äußert: Wenn wir also durch diese kritische Untersuchung nichts mehreres lernen, als was wir im bloß empirischen Gebrauche des Verstandes, auch ohne so subtile Nachforschung, von selbst wohl würden ausgeübt haben, so scheint es, sei der Vorteil, den man aus ihr zieht, den Aufwand und die Zurüstung nicht wert. […] Allein es gibt doch einen Vorteil […]: daß der bloß
Wir haben bereits oben in Abschnitt 2.1.3 gesehen, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft Humes Skeptizismus ganz klar auch mit einer Bedrohung der Wissenschaften in Verbindung bringt. Hatfield beschränkt seine These zwar auf die Zeit der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Wir werden jedoch in Abschnitt 2.1.6 sehen, dass es offenbar auch zu dieser Zeit bereits zu Kants Grundverständnis von Humes Position gehört, dass diese die Gültigkeit der Wissenschaften (wenn auch von Hume unbeabsichtigt) untergräbt. Insbesondere in der Transzendentalen Methodenlehre, etwa an der Stelle (KrV, A 764 f. / B 792 f.), schreibt Kant Hume die Position zu, dass synthetische Urteile a priori generell unmöglich sind, was Kants Verständnis nach natürlich auch die Mathematik und die reine Naturwissenschaft untergraben würde. (Für einen entsprechenden Hinweis danke ich Oliver R. Scholz.) Insofern kann ich Hatfield in diesem Punkt nicht folgen. Hatfield (2001, 195, Fn. 22) nennt Robert Paul Wolff und Henry Allison als Vertreter einer solchen Interpretation.Wie wir oben gesehen haben, ist dies auch die Interpration von Forster und Guyer. „[T]he direct aim of the Deduction, to explain the possibility of synthetic a priori cognition that employs the categories, is clear. It is the strategic aim that is in question.“ (Hatfield 2001, 195)
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mit seinem empirischen Gebrauch beschäftigte Verstand, der über die Quellen seiner eigenen Erkenntnis nicht nachsinnt, zwar sehr gut fortkommen, eines aber nicht leisten könne, nämlich, sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen […]. (KrV, A 237 f. / B 295 f.)⁴³
Dieser Aussage zufolge geht es in der Transzendentalen Analytik nicht darum, den empirischen Gebrauch der Kategorien und der Verstandesprinzipien zu legitimieren, sondern lediglich darum, die Grundlagen der Legitimität herauszuarbeiten, um die Grenzen des legitimen Gebrauchs zu bestimmen. Demnach ist also die Erklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori nicht dazu bestimmt, einen Skeptizismus zu beantworten, sondern dazu, von innen die Grenze des Bereichs, in dem reine Erkenntnis möglich ist, exakt zu ziehen. Die Analytik ist nach Hatfields Lesart also im Wesentlichen eine Vorbereitung der Dialektik.⁴⁴ Hatfields Zusammenfassung der Befunde aus der A-Auflage der Kritik bringt seine Lesart schließlich wie folgt auf den Punkt: Given that Kant does not mention any skeptical threat to ordinary experience, mathematics, or natural science in the A Critique, that he evaluates the skeptical method positively, that he describes the one crucial function of the Deduction and Analytic of Principles as preparatory to limiting the understanding to experience, and that he singles out the possibility (or impossibility) of transcendent metaphysics as his main quarry, there seems little basis for arguing that instead Kant was really out to refute the skeptic and save ordinary knowledge. (Hatfield 2001, 199)
In den Prolegomena stellt Hatfield dann im Vergleich zur A-Auflage der Kritik eine Verschiebung des Fokus fest: Hume tritt als Thema viel deutlicher in den Vordergrund, als dies in der A-Auflage der Kritik der Fall gewesen ist. Dies führt Hatfield, gestützt auf Arbeiten von Benno Erdmann, auf biographische Gründe zurück: Insbesondere der enge Kontakt zu Hamann in der Zeit der Abfassung der Prolegomena, der die Nähe von Kants Position zu Humes stark hervorgehoben hat, habe in Kant das Bestreben erweckt, sich inhaltlich stärker von Hume abzugrenzen.⁴⁵ In ähnlicher Form habe sich Kants Interesse durch die Göttinger Rezension, in der seine Position in der Kritik als eine Variante des Berkleyschen
Ganz ähnlich äußert sich Kant auch später, in der Einleitung seiner Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (FM, AA 20: 260). „The essential function of the Deduction and Analytic of Principles is to limit the categories of experience. […] [T]heir main function is to support the ultimately negative verdict of the tribunal of reason, elaborated in the Dialectic, that traditional, transcendent metaphysics is impossible.“ (Hatfield 2001, 199). Vgl. Hatfield (2001, 199).
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Idealismus kritisiert wurde, dahingehend verschoben, dass er nun an einer deutlicheren Abgrenzung vom Idealismus Berkeleys interessiert war.⁴⁶ Doch trotz dieser Verschiebungen ist nach Hatfield festzuhalten, dass Humes Skeptizismus von Kant auch in den Prolegomena ausschließlich als ein Skeptizismus in Bezug auf die transzendente Metaphysik aufgefasst wird.⁴⁷ Interessant ist besonders eine Textstelle in der Vorrede der Prolegomena, in der Kant sich darüber auslässt, dass die Kritiker Humes aus der schottischen Common-SenseSchule die Position Humes gänzlich falsch verstanden hätten: Es war nicht die Frage, ob der Begriff der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung der ganzen Naturerkenntnis unentbehrlich sei, denn dies hatte H u m e niemals in Zweifel gezogen; sondern ob er durch die Vernunft a priori gedacht werde und auf solche Weise eine von aller Erfahrung unabhängige innere Wahrheit und daher auch wohl weiter ausgedehnte Brauchbarkeit habe, die nicht bloß auf Gegenstände der Erfahrung ausgedehnt sei: hierüber erwartete H u m e Eröffnung. (Prol, AA 4: 258 f.)
Kant bestreitet also offenbar, dass Humes skeptische Einwände einen Angriff auf den Gebrauch des Kausalbegriffs im Bereich der Erfahrung darstellten. Vielmehr „war ja nur die Rede von dem Ursprunge des Begriffs, nicht von der Unentbehrlichkeit desselben im Gebrauche“ (Prol, AA 4: 259). Die Ermittlung des Ursprungs des Begriffs der Kausalität ist aus Kants Sicht deshalb von Relevanz, weil hierdurch die Frage der Legitimität des Gebrauchs dieses Begriffs außerhalb des Bereichs der Erfahrung (negativ) beantwortet werden kann.⁴⁸ Kant schreibt Hume hier also ein Ziel zu, dass er, Kant, selber auch verfolgt. Obwohl Kant sich in den Prolegomena rhetorisch stärker von Hume abgrenzt, schließt Hatfield, dass sich Kants Verhältnis zu Humes Position im Vergleich zur A-Auflage der Kritik nicht wesentlich verändert hat. Hatfield zufolge geht es Kant in den Prolegomena also nicht darum, gegen Hume die Möglichkeit einer Metaphysik der Erfahrung zu erweisen, sondern Humes Skeptizismus in Bezug auf transzendente Metaphysik durch eine kritische Position zu überwinden, die die Grenzen des legitimen Vernunftgebrauchs exakt bestimmt.
Vgl. Hatfield (2001, 200). Die Auseinandersetzung mit dieser Art der Humeschen Skepsis ist besonders im dritten Teil der Prolegomena vorherrschend, in dem sich Kant mit Humes Dialogues concerning Natural Religion auseinandersetzt. Vgl. Hatfield (2001, 200). Eine überzeugende Argumentation dafür, dass Kant sich auch schon in der A-Auflage der Kritik der reinen Vernunft mit den erst kurz vor der Fertigstellung der Kritik erstmals auf Deutsch erschienenen Dialogues auseinandersetzt, bietet Löwisch (1964). Vgl. Hatfield (2001, 201).
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In der B-Auflage der Kritik hingegen finden sich einige neu hinzugefügte Passagen über Hume, die Humes Skeptizismus nun auch auf Alltagserfahrung beziehen und Kants Deduktion als einen Ausweg aus diesem Skeptizismus darstellen.⁴⁹Interessant ist besonders eine Passage, in der Kant darauf hinweist, dass Humes Position durch das Faktum der Wissenschaften widerlegt wird: Die e m p i r i s c h e Ableitung [der Kategorien], worauf beide [Locke und Hume] verfielen, läßt sich mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse a priori, die wir haben, nämlich der r e i n e n M a t h e m a t i k und a l l g e m e i n e n N a t u r w i s s e n s c h a f t , nicht vereinigen, und wird also durch das Factum widerlegt. (KrV, B 127 f.)
In ähnlicher Form argumentiert Kant auch schon in der B-Vorrede dafür, dass Humes Empirismus nicht mit dem Faktum der Erfahrung vereinbar ist: Denn wo wollte selbst Erfahrung ihre Gewißheit hernehmen, wenn alle Regeln, nach denen sie fortgeht, immer wieder empirisch, mithin zufällig wären […]. (KrV, B 5)
In einer weiteren Passage wird die transzendentale Deduktion der Kategorien als einzige Möglichkeit dargestellt, durch die verhindert werden kann, dass eintritt, „was der Skeptiker am meisten wünscht“, nämlich dass wir „nicht sagen können: die Wirkung ist mit der Ursache im Objekte (d. i. notwendig) verbunden“ (KrV, B 168).⁵⁰ Hier wird also die Deduktion als eine Alternative zu einer skeptischen Position in Bezug auf gewöhnliche Erfahrungsurteile eingeführt. Interessant sind diese Textstellen deshalb, weil sie in einer Spannung zueinander zu stehen scheinen. Die ersten beiden Passagen stärken Hatfields Position, weil sie verdeutlichen, dass Kant es offenbar gar nicht für nötig befand, die Legitimität der Anwendung des Kausalitätsbegriffs im Bereich der Erfahrung durch eine ausführliche Argumentation zu stützen – eine diesbezügliche skeptische Position muss nicht widerlegt werden, weil sie offenkundig falsch ist! Die letzte Passage hingegen scheint nahezulegen, dass die Deduktion der Kategorien Vgl. Hatfield (2001, 203 f.). Wir haben bereits oben am Ende von Abschnitt 2.1.3 gesehen, dass es entsprechende Passagen auch in der ein Jahr nach der B-Auflage der ersten Kritik erschienenen Kritik der praktischen Vernunft gibt. Vgl. Hatfield (2001, 204). Hatfield erklärt, dass Kant die Position, von der er sich an dieser Stelle abgrenzt, nicht explizit Hume zuschreibt. Es handelt sich um „eine Art von P r ä f o r m a t i o n s s y s t e m der reinen Vernunft“ (KrV, B 167), dem zufolge uns durch einen weisen Schöpfer Anlagen zum Denken eingepflanzt wurden, die genau auf die Naturgesetze abgestimmt sind. Hatfield weist darauf hin, dass Kant diese Position in den Prolegomena (AA 4: 319, Fn.) Crusius zuschreibt. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es allerdings Passagen in Humes Enquiry gibt, in denen Hume genau eine solche Position zu beziehen scheint. Siehe Enquiry, 5.22– 23. Siehe hierzu auch oben, Abschnitt 1.3.2.
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gerade als ein solches anti-skeptisches Argument intendiert ist. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären? Hatfield zufolge ist Kants anti-skeptische Äußerung in der letzten Passage abermals dadurch zu begründen, dass Kant sich gegen öffentliche Kritik zur Wehr setzten wollte. Auch nach der Veröffentlichung der Prolegomena ist ihm zahlreich der Vorwurf begegnet, seine eigene Position sei, ebenso wie Humes, eine skeptische.⁵¹ Als Reaktion hierauf habe Kant die anti-skeptische Tendenz seiner Position stärker herausstreichen wollen. Hatfield kommt daher zu folgendem Ergebnis: The attempt to „answer the sceptic“ arose from the initial responses to the critical philosophy, but were not part of its original motivation. (Hatfield 2001, 205)
Wir werden jedoch in Abschnitt 2.1.6 sehen, dass es eine bessere Erklärung für den anti-skeptischen Ton von Kants Äußerung gibt und sich diese Passage gut mit Kants anderen Äußerungen, denen zufolge die Kausalitätsskepsis nicht widerlegt werden muss, vereinbaren lässt.
2.1.5 Einschätzung von Hatfields Position und Zwischenfazit Hatfields sorgfältige Analyse zeigt meines Erachtens auf, dass Forsters und Guyers Interpretation durchaus einigen Schwierigkeiten ausgesetzt ist. Gegen Forsters und Guyers Interpretation sprechen die Textstellen, an denen Kant der Naturwissenschaft, der Mathematik und der Alltagserfahrung die Bedürftigkeit abspricht, durch metaphysische Beweise gestützt zu werden.⁵² Besonders pikant ist auch die von Hatfield hervorgehobene Textstelle aus der B-Auflage der Kritik, an der Kant gar Humes empirische Ableitung der Kategorien dadurch für widerlegt hält, dass sie dem Faktum der Mathematik und der Naturwissenschaft widerspricht (KrV, B 127 f.) – ein klares Zeichen dafür, dass Kant den Humeschen Skeptizismus gar nicht als haltbare These betrachtet, die man ernsthaft als Gegenposition in Betracht ziehen müsste, um sie schließlich zu widerlegen. Dies wird meines Erachtens auch besonders deutlich durch Kants Bemerkung, er sei
Hatfield hebt die von Johann Schultz verfasste Rezension von J. A. H. Ulrichs Institutiones logicae et metaphysicae hervor, in der Kant der Vorwurf des Skeptizismus gemacht wird. Vgl. Hatfield (2001, 204). Für weitere kritische Veröffentlichungen, die in dieselbe Kerbe schlagen, siehe (ebd., 205, Fn. 30). Siehe beispielsweise KrV A 237 f. / B 296 f., KrV A 710 f. / B 738 und Prol, AA 4: 327. Vaihinger (1881, 388 ff.) hat zahlreiche weitere solcher Textstellen zusammengetragen.
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„weit entfernt [gewesen], ihm [Hume] in Ansehung seiner Folgerungen Gehör zu geben“ (Prol, AA 4: 260) – die skeptischen Konsequenzen von Humes Position stellen aus Kants Sicht offenbar eine reductio ad absurdum dieser Position dar. All dies sind in meinen Augen starke Belege dafür, dass Forsters und Guyers Interpretation nicht vollständig adäquat ist. Auf der anderen Seite kann auch Hatfields eigene Auslegung nicht vollständig überzeugen. Es sei hier noch einmal auf Kants Bemerkungen aus den Prolegomena verwiesen, die bereits im ersten Kapitel im Vordergrund standen und die eine Auseinandersetzung mit Humes Kausalitätsskepsis deutlich in den Mittelpunkt des kritischen Projektes stellen. Insbesondere scheint mir Hatfield keine gute Erklärung für Kants Äußerungen in § 27 der Prolegomena zu haben: Hier ist nun der Ort, den Humeschen Zweifel aus dem Grunde zu heben. Er behauptete mit Recht: daß wir die Möglichkeit der Kausalität […] durch Vernunft auf keine Weise einsehen. Ich setze noch hinzu, daß wir ebensowenig den Begriff der Subsistenz […] einsehen […], imgleichen, daß eben diese Unbegreiflichkeit auch die Gemeinschaft der Dinge betreffe […]. Gleichwohl bin ich weit davon entfernt, diese Begriffe als bloß aus der Erfahrung entlehnt und die Notwendigkeit, die in ihnen vorgestellt wird, als angedichtet und für bloßen Schein zu halten, den uns eine lange Gewohnheit vorspiegelt; vielmehr habe ich hinreichend gezeigt, daß sie und die Grundsätze aus denselben a priori vor aller Erfahrung feststehen und ihre ungezweifelte objektive Richtigkeit, aber freilich nur in Ansehung der Erfahrung, haben. (Prol, AA 4: 311)
Das Thema dieser Passage ist offenkundig ein Humescher Zweifel in Bezug auf eine Metaphysik der Erfahrung. Zwar kommt auch hier zumindest in einem Nebensatz das Grenzziehungsprojekt zur Sprache („aber freilich nur in Ansehung der Erfahrung“), doch geht es Kant offenbar hauptsächlich darum, eine aus Humes Empirismus folgende skeptische These in Bezug auf die Metaphysik der Erfahrung zu bestreiten, nämlich dass die in den Kategorien vorgestellte Notwendigkeit bloßer Schein ist.⁵³ Hinzu kommt, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft nicht nur in der Deduktion, sondern in der gesamten Transzendentalen Analytik einen erheblichen Aufwand betreibt, um sich Klarheit über die Legitimität des Gebrauchs der Ka-
An dieser Stelle steht Hatfield noch eine Rückfalloption offen: Er könnte zugestehen, dass Kant nicht erst in der B-Auflage der Kritik, sondern bereits in den Prolegomena Humes Skepsis als eine Skepsis bezüglich einer Metaphysik der Erfahrung charakterisiert. Dies lässt die Möglichkeit offen, zu bestreiten, dass dies auch schon in der A-Auflage der Kritik der Fall war. Spätestens im nächsten Abschnitt werden wir jedoch deutlich sehen, dass Kant von Anfang an einen aus Humes Position folgenden Skeptizismus in Bezug auf eine Metaphysik der Erfahrung im Auge hatte.
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tegorien und Grundsätze im Bereich der Erfahrung zu verschaffen. Es ist eigentlich gar nicht vorstellbar, dass er dies nur in dem Ansinnen tut, die Grenzen des legitimen Gebrauchs der Kategorien und Grundsätze aufzuzeigen.⁵⁴ Kant verfolgt hier offenbar nicht nur ein negatives, sondern auch ein positives Projekt, dessen Ausrichtung wir noch genauer zu bestimmen haben. Weder die Interpretation von Hatfield, noch die von Forster und Guyer scheint mir also mit allen Textbelegen vereinbar zu sein. Auch wenn es zunächst so erscheinen mag, als wäre es nicht möglich, eine Interpretation zu liefern, die mit allen hier betrachteten Textbelegen vereinbar ist, möchte ich im Folgenden eine solche Position erarbeiten. Um uns einer solchen vermittelnden Zwischenposition zu nähern, müssen wir nun noch einen kleinen Umweg gehen und uns deutlich machen, in welchem Zusammenhang Humes Skepsis in Bezug auf eine Metaphysik der Erfahrung mit der Skepsis in Bezug auf eine transzendente Metaphysik steht.
2.1.6 Der Zusammenhang zwischen Humescher und Pyrrhonischer Skepsis Robert Stern vertritt in mehreren Veröffentlichungen die These, dass die strikte Unterscheidung zwischen Kants Antworten auf die Humesche und auf die Pyrrhonische Skepsis bei genauerem Hinsehen nicht aufrechtzuerhalten ist.⁵⁵ Stern argumentiert dafür, dass beide Arten von Skeptizismus sehr eng miteinander verzahnt sind. Diese meines Erachtens überzeugende Argumentation ist für uns hier deshalb von Belang, weil sie uns die Stelle, die Kants Auseinandersetzung mit Humes Skepsis in der Gesamtkonzeption der Kritik der reinen Vernunft einnimmt, genauer anzeigt und eine bessere Einschätzung von Kants Motiven in dieser Auseinandersetzung ermöglicht. Wie wir bereits in der Betrachtung der oben dargestellten Analyse Hatfields gesehen haben, ist es durchaus plausibel, in einem gewissen Sinne ein gemeinsames Interesse Humes und Kants zu unterstellen: Beide sind darin vereint, dass sie sich mit ihren Argumenten gegen die dogmatische Metaphysik gerichtet ha-
So liest denn auch Guyer die von Hatfield zitierten Passagen, in denen Kant den negativen Teil seines Projekts derart stark in den Vordergrund rückt, schlicht als Übertreibungen Kants. Vgl. Guyer (2008, 12 f.). Siehe Stern (2006), (2008) und (2009). Stern (2006) stellt eine kritische Auseinandersetzung mit Guyers Aufsatz „Kant on Common Sense and Skepticism“ aus dem Jahre 2003 dar, der in leicht veränderter Form als erstes Kapitel in Guyer (2008) eingegangen ist (s.o., Fn. 8 in diesem Kapitel). Insbesondere hat Guyer dort den Aufsatz um Anmerkungen zu Sterns Kritik ergänzt (Guyer 2008, 28, Fn. 10; 51 f.).
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ben. Stern zufolge sieht Kant in Humes Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik nun einen deutlichen pyrrhonischen Zug: […] Kant took Hume to be not just an empiricist sceptic, but an empiricist sceptic motivated in his empiricism by the Pyrrhonist hope that as a result the ceaseless debates in metaphysics can be brought to an end, by showing them to be unresolvable by us, in a way that will bring us tranquillity. (Stern 2006, 104)
Nach Sterns Lesart sieht Kant also in Hume jemanden, der ebenfalls das Ziel verfolgt, die Metaphysik, den „Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten“ (KrV, A VIII), zu befrieden. Dies wird auch durch verschiedene Äußerungen Kants belegt. So haben wir oben in Abschnitt 2.1.4 gesehen, dass Kant vor allem in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft Hume als einen Verbündeten im Kampf gegen die dogmatische Metaphysik betrachtet. Dort spricht Kant auch vom „kaltblütigen, zum Gleichgewichte des Urteils eigentlich geschaffenen D a v i d H u m e “ (KrV, A 745 / B 773), was als Zuschreibung der pyrrhonischen Methode der Gegenüberstellung von entgegengesetzten Argumenten gelesen werden kann. Außerdem weist Kant in den Prolegomena im Zusammenhang mit Humes Kausalitätskritik in einer Fußnote darauf hin, dass Hume, ebenso wie Kant selbst, darauf aus war, die Streitigkeiten der Metaphysik zu beenden⁵⁶: Der scharfsinnige Mann [Hume] sah aber hier bloß auf den negativen Nutzen, den die Mäßigung der übertriebenen Ansprüche der spekulativen Vernunft haben würde, um soviel endlose und verfolgende Streitigkeiten, die das Menschengeschlecht verwirren, gänzlich aufzuheben […]. (Prol, AA 4: 258, Fn.)
Humes skeptische Auseinandersetzung mit dem Kausalitätsbegriff bekommt unter dieser Lesart eine instrumentelle Ausrichtung: Stern zufolge ist Kant der Meinung, dass es Hume darum geht, die Unzulänglichkeit von Kausalschlüssen für den Bereich jenseits möglicher Erfahrung aufzuzeigen und so auf eine Urteilsenthaltung in Bezug auf Fragen der transzendenten Metaphysik zu drängen: Indeed, it seems to me, Kant fundamentally thought that this Pyrrhonism was what underpinned Hume’s empiricist scepticism regarding our notion of cause: for, this account of cause as ,a bastard of the imagination impregnated by experience‘ has the advantage, Hume might claim, of making us see that metaphysical inquiries of the dogmatic kind are very unlikely to be successful […]. (Stern 2006, 107)
Vgl. Stern (2008, 283, Fn. 32).
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Diese Argumentationsfigur wird auch tatsächlich von Hume in seiner Enquiry concerning Human Understanding angedeutet.⁵⁷ Dort heißt es: Those who have a propensity to philosophy, will still continue their researches; because they reflect, that […] philosophical decisions are nothing but the reflections of common life, methodized and corrected. But they will never be tempted to go beyond common life, so long as they consider the imperfection of those faculties which they employ, their narrow reach, and their inaccurate operations.While we cannot give a satisfactory reason, why we believe, after a thousand experiments, that stone will fall, or fire burn; can we ever satisfy ourselves concerning any determination, which we may form, with regard to the origin of worlds, and the situation of nature, from, and to eternity? (Enquiry, 12.25; Hervorhebung von mir).
Humes Gedanke besteht offenbar darin, die Defizite unseres Vermögens, kausal zu schließen, aufzuzeigen, um damit den dogmatischen Metaphysikern das entscheidende Werkzeug ihrer Argumentation zu nehmen. Das Problem, das Kant in Bezug auf diese Argumentation ausmacht, liegt darin, dass Humes Argumente den dogmatischen Metaphysiker kaum zu überzeugen vermögen, weil sie zu weit reichen und dadurch ihre eigene Plausibilität untergraben. Stern verweist in diesem Zusammenhang auf Kants eigene Darstellung der Entstehung der Widersprüche, die aus der dogmatischen Metaphysik erwachsen⁵⁸: In diese Verlegenheit gerät sie [die Vernunft] ohne ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bedingungen. Da sie aber gewahr wird, daß auf diese Art ihr Geschäfte jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht sie sich genötigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig scheinen, daß auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse stehet. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche […]. (KrV, A VII f.)
Kant hält die Grundsätze, die den Ausgangspunkt der transzendenten Metaphysik darstellen, beispielsweise das allgemeine Kausalprinzip, für „unvermeidlich“ und durch die Erfahrung „hinreichend bewährt“. Problematisch wird es erst, wenn diese Grundsätze in einem Bereich eingesetzt werden, in dem es „keinen Probierstein der Erfahrung“ (KrV, A VIII) mehr gibt. Eine Position wie die Humes hingegen, die in Kants Augen die Gültigkeit des Kausalprinzips insgesamt untergräbt, ist von vornherein unplausibel. Humes
Vgl. Stern (2006, 115 f., Fn. 19). Vgl. Stern (2006, 108 f.)
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Skeptizismus geht nach Kants Verständnis so weit, dass durch ihn letztlich sogar grundsätzlich die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori untergraben wird: Allein wir glauben auch a priori aus unserem Begriffe hinausgehen und unsere Erkenntnis erweitern zu können. Dieses versuchen wir entweder durch den reinen Verstand, in Ansehung desjenigen, was wenigstens ein O b j e k t d e r E r f a h r u n g sein kann, oder sogar durch reine Vernunft, in Ansehung solcher Eigenschaften der Dinge, oder auch wohl des Daseins solcher Gegenstände, die in der Erfahrung niemals vorkommen können. Unser Skeptiker [Hume] unterschied diese beide Arten der Urteile nicht, wie er es doch hätte tun sollen, und hielt geradezu diese Vermehrung der Begriffe aus sich selbst, und, so zu sagen, die Selbstgebärung unseres Verstandes (samt der Vernunft), ohne durch Erfahrung geschwängert zu sein, für unmöglich, mithin alle veremeintliche Prinzipien derselben a priori für eingebildet […]. (KrV, A 764 f. / B 792 f.)
Hier wird deutlich, dass Kant Humes Position so versteht, dass aus dieser folgt, dass synthetische Urteile a priori nicht nur im Bereich des Transzendenten, sondern auch im Bereich der Erfahrung generell unmöglich sind. Hierdurch wird nach Kants Verständnis insbesondere die Möglichkeit der Mathematik und der reinen Naturwissenschaft untergraben. Dies ist der Grund, warum Kant „weit entfernt [war], ihm [Hume] in Ansehung seiner Folgerungen Gehör zu geben“ (Prol, AA 4: 260). Zugleich ist dies der Grund, warum Humes Versuch, die Metaphysik durch seine Argumentation zu befrieden, misslingt: Die dogmatischen Metaphysiker werden in Kants Augen zu Recht darauf verweisen, dass die Position Humes, die die Legitimität unseres Gebrauchs des Kausalitätsbegriffs (und indirekt auch aller anderen Kategorien) insgesamt untergräbt, sich damit selbst ins Abseits stellt. Eine Position mit derart offensichtlich absurden Konsequenzen kann von den Dogmatikern ohne eine ernsthafte Auseinandersetzung beiseite gelegt werden: Sie können sich einfach auf den Erfolg der Wissenschaften berufen, in denen dieselben Begriffe und Prinzipien angewendet werden, die auch in der Metaphysik zum Zuge kommen. Aus Kants Sicht kann die Lösung der Problemlage daher nur darin bestehen, eine scharfe und durch die eigene Theorie fundierte Linie zwischen dem Bereich, in dem die Prinzipien des Verstandes Gültigkeit besitzen, und dem, in dem sie dies nicht tun, zu ziehen.⁵⁹ Nur durch diesen kritischen Weg, den Kant einschlägt, kann er verhindern, dass die Dogmatiker allzu leicht entgegnen können, dass die an ihren metaphysischen Schlüssen geäußerte Kritik offenkundig absurd ist. Sowohl Forster und Guyer auf der einen, als auch Hatfield auf der anderen Seite geben zu erkennen, dass sie diesen engen Zusammenhang zwischen Hu-
Vgl. Stern (2006, 111).
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mescher und Pyrrhonischer Skepsis gesehen haben. Mir scheint jedoch, dass keiner von ihnen im vollen Maße die richtigen Konsequenzen daraus gezogen hat. Guyer äußert sich über diesen Zusammenhang interessanterweise in einer Passage, die als Antwort auf Hatfields Interpretation intendiert ist. Nachdem er Hatfields oben dargestellte Argumentation für die These, dass Kant nicht an einer Widerlegung des Humeschen Skeptizismus interessiert war, zusammengefasst hat, entgegnet er auf Hatfield mit folgender Beschreibung von Kants Verhältnis zu Hume: Nevertheless, Kant also thought that in the absence of a precise way of demarcating the domain of ordinary experience and normal science where our ordinary practices of causal inferences are reliable from the disputable domain of metaphysics where they are not, Hume had no way of preventing his skeptical doubts about the metaphysical use of causal inference from undermining our ordinary use of causal inference. Thus, in Kant’s view, Hume was inevitably led into skepticism about the concept and principle of causation in ordinary life and natural science even though he had no intention of being skeptical in those domains. (Guyer 2008, 12)
Diese Zusammenfassung von Sterns Punkt scheint mir für sich genommen vollkommen zutreffend zu sein. Der Kontext dieser Äußerung macht jedoch deutlich, dass Guyer den geschilderten Zusammenhang als ein Argument dafür betrachtet, dass Kant eben doch an einer Widerlegung des Humeschen Skeptizismus interessiert war – und genau dies scheint mir diese Passage gerade nicht zu belegen. Hume ist nach dieser Schilderung in Kants Augen quasi unabsichtlich – als Nebenresultat seiner Argumentation gegen die dogmatische Metaphysik – zu einem Skeptiker in Bezug auf die Gültigkeit des Kausalitätsbegriffs im Bereich der Erfahrung geworden, wodurch er seine eigene Argumentation gegen den dogmatischen Metaphysiker unterlaufen hat. Wenn Kant nun seinerseits mehr Erfolg in der Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik einfahren möchte, muss er zeigen, dass sein eigener Ansatz nicht ebenfalls unbeabsichtigte skeptische Konsequenzen mit sich führt. Dies entspricht aber gerade keiner Widerlegung des Skeptizismus, denn die skeptischen Konsequenzen gelten Kant ja gerade deshalb als unwillkommen, weil sie in seinen Augen offenkundig absurd sind! Auch Forster verweist auf einen Punkt, der dem von Stern zumindest sehr ähnlich ist: Indeed, I would suggest that for Kant the importance of the Hume-influenced problems ultimately lay at least as much in the fact that their complete solution promised also to make possible a solution to the Pyrrhonian problem as in the intrinsic force that he saw in them. (Forster 2008, 44).
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Die Lösung der von Hume aufgeworfenen Probleme steht Forster zufolge also in gewisser Weise im Dienste der Auflösung der Pyrrhonischen Skepsis – in beiden Fällen ist es nach Forster die von Kant entwickelte Position des transzendentalen Idealismus, die die Grundlage für die Problembewältigung darstellt. Allerdings scheint mir Forster einen wichtigen Aspekt übersehen zu haben, der die Problemlösungen für Kant eng miteinander verknüpft: Kant sieht seine Antwort auf die Pyrrhonische Skepsis als eine Alternative zu Humes gescheitertem Versuch, mit demselben Problem umzugehen. Das Scheitern von Humes Versuch, so haben wir mit Stern gesehen, ist aus Kants Sicht darin begründet, dass Humes Position zu einem unplausiblen Skeptizismus führt. Forster scheint mir also das Verhältnis Kants zur Humeschen Skepsis falsch zu bestimmen, wenn er schreibt: [Kant’s solution to the Hume-influenced problems] pursues a dual strategy. One side of the strategy undertakes to prove that specific metaphysical a priori concepts refer and specific metaphysical synthetic a priori principles are true. The other side undertakes to explain the possibility of their referring and being known. (Forster 2008, 40; Hervorhebungen im Original)
Wie wir oben gesehen haben, ist Kant gerade nicht der Meinung, die Gültigkeit der Kategorien und Grundsätze für den Bereich der Erfahrung nachweisen zu müssen.⁶⁰ Das Problem von Humes Entgegnung auf die dogmatischen Metaphysiker besteht ja für Kant gerade darin, dass Humes Position diese Gültigkeit unbeabsichtigterweise untergräbt und die Dogmatiker sich als Reaktion darauf schlicht auf die offenkundige Gültigkeit der Kategorien und Prinzipien im Bereich der Erfahrung berufen könnten.Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass Kant sein Projekt auf den zweiten Teil der von Forster beschriebenen Strategie reduziert:
Wir werden unten in Abschnitt 2.2.2 sehen, dass es durchaus Passagen gibt, die Forsters Lesart einer Doppelstrategie – einerseits Nachweis der Gültigkeit, andererseits Erklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori – zu stützen scheinen. Ich bin jedoch der Meinung, dass die bisher und auch in den folgenden Abschnitten präsentierten Belege deutlich machen, dass diese Passagen den Blick auf Kants eigentliche Intention eher verstellen und dass sein hauptsächliches Anliegen nicht darin bestand, die Gültigkeit der Kategorien und Grundsätze nachzuweisen. Wenn Lockes und Humes empirische Ableitung der Kategorien durch das Faktum der Wissenschaften widerlegt wird (KrV, B 127 f.), dann bedeutet dies, dass aus dem Faktum der Wissenschaft folgt, dass die Kategorien nicht nur apriorischen Ursprungs, sondern auch im Bereich der Erfahrung gültig sind. Siehe hierzu auch die folgende Fn. 61.
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2 Kants Verhältnis zu Humes Skepsis
Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist nun in der Frage enthalten: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? (KrV, B 19)⁶¹
Die Erklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori mit den Ressourcen des transzendentalen Idealismus entspricht der oben bereits hervorgehobenen Anforderung, zu zeigen, dass der transzendentale Idealismus nicht zu den ab-
Es mag auf den ersten Blick vielleicht plausibel erscheinen, dass diese Formulierung der Hauptaufgabe der Kritik der reinen Vernunft ein spezifischer Zug der B-Auflage ist, ein Zug, den die B-Auflage von den zwischen den beiden Auflagen der Kritik erschienenen Prolegomena geerbt hat. Dort, in den Prolegomena, wo diese Formulierung zum ersten mal auftaucht (Prol, AA 4: 276), verfährt Kant nach eigener Auskunft gemäß einer anderen Methode als in der (A‐)Kritik, nämlich nach einer analytischen Methode, im Rahmen derer er die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori in der reinen Naturwissenschaft und der Mathematik voraussetzt und nach den Bedingungen dieser Gültigkeit forscht (Prol, AA 4: 274 f.). In Abschnitt 2.2.1 wird sich jedoch zeigen, dass die hier vorgeschlagene Interpretation mit der synthetischen Methode der Kritik verträglich ist. An dieser Stelle möchte ich zunächst nur auf zwei Textstellen aus der A-Einleitung der Kritik der reinen Vernunft verweisen, in denen Kant zum Ausdruck bringt, dass er die Gültigkeit der Kategorien und Grundsätze im Bereich der Erfahrung für gegeben hält und sich lediglich um die Bestimmung der Quelle und der genauen Grenzen dieser Gültigkeit sorgt (siehe hierzu auch Vaihinger 1881, 415, der auf weitere Stellen verweist): „Nun scheint es zwar natürlich, daß, sobald man den Boden der Erfahrung verlassen hat, man doch nicht mit Erkenntnissen, die man besitzt, ohne zu wissen woher, und auf den Kredit der Grundsätze, deren Ursprung man nicht kennt, so fort ein Gebäude errichten werde, ohne der Grundlegung desselben durch sorgfältige Untersuchungen vorher versichert zu sein, daß man also die Frage vorlängst werde aufgeworfen haben, wie denn der Verstand zu allen diesen Erkenntnissen a priori kommen könne, und welchen Umfang, Gültigkeit und Wert sie haben mögen.“ (KrV, A 3; meine Hervorhebungen) „Man nehme den Satz: Alles, was geschieht, hat seine Ursache. […] Wie komme ich denn dazu, von dem, was überhaupt geschiehet, etwas davon ganz Verschiedenes zu sagen, und den Begriff der Ursachen, obzwar in jenen nicht enthalten, dennoch, als dazu gehörig, zu erkennen. Was ist hier das X, worauf sich der Verstand stützt, wenn er außer dem Begriff von A ein demselben fremdes Prädikat aufzufinden glaubt, das gleichwohl damit verknüpft sei. […] Es liegt also hier ein gewisses Geheimnis verborgen, dessen Aufschluß allein den Fortschritt in dem grenzenlosen Felde der reinen Verstandeserkenntnis sicher und zuverlässig machen kann: nämlich mit gehöriger Allgemeinheit den Grund der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aufzudecken, die Bedingungen, die eine jede Art derselben möglich machen, einzusehen, und diese ganze Erkenntnis […] in einem System nach ihren ursprünglichen Quellen, Abteilungen, Umfang und Grenzen, nicht durch einen flüchtigen Umkreis zu bezeichnen, sondern vollständig und zu jedem Gebrauch hinreichend zu bestimmen.“ (KrV, A 9 f.; meine Hervorhebungen) In beiden Zitaten wird meines Erachtens deutlich, dass Kant die Gültigkeit der Kategorien und Grundsätze im Bereich der Erfahrung für gegeben hält und er lediglich die Übertragung der Annahme der Gültigkeit auf den Bereich der transzendenten Metaphysik als problematisch auszeichnet. Er legt dar, dass eine Bestimmung der Quelle der als gegeben angenommenen Gültigkeit der Kategorien und Grundsätze zugleich die Grenzen dieser Gültigkeit sichtbar machen wird.
2.1 Will Kant einen Humeschen Skeptizismus widerlegen?
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surden skeptischen Konsequenzen führt, die Humes Position für eine Entgegnung auf die dogmatische Metaphysik unbrauchbar machen: Wenn Kant erklären kann, wie synthetische Urteile a priori unter den Prämissen des transzendentalen Idealismus möglich sind, zeigt er damit, dass seine Position – im Gegensatz zu Humes – mit dem Faktum der Wissenschaft vereinbar ist. Hatfield, auf der anderen Seite, hält den von Stern herausgestellten Zusammenhang unter Verweis auf eine Stelle aus der Methodenlehre der Kritik wie folgt fest: [S]ince, as Kant saw it, Hume’s empiricist account was incorrect for causal cognition within the domain of experience, Hume was unable to fix the boundary of human cognition and so to end the disputes of pure reason (A 763 – 8 / B 791– 6). […] The problem with Hume was that he could not make his challenge to dogmatism stick and so was unable to rein in the pretensions of reason. (Hatfield 2001, 194)
Auch Hatfield hat den engen Zusammenhang zwischen Humescher und Pyrrhonischer Skepsis meines Erachtens richtig eingefangen. Hatfield scheint diesen Zusammenhang jedoch als einen Beleg für seine oben bereits genauer betrachtete These aufzufassen, dass Kant in der Transzendentalen Analytik in erster Linie am Grenzziehungsprojekt interessiert war und ein Humescher Skeptizismus von ihm nicht als Gegenstand der Auseinandersetzung interessant erschien, weil Hume von Kant in erster Linie als ein Skeptiker in Bezug auf transzendente Metaphysik aufgefasst wurde. Dagegen muss gesagt werden, dass eine Auseinandersetzung mit der Skepsis, die sich Kant zufolge aus Humes empiristischer Theorie für die Gültigkeit des Kausalbegriffs im Bereich der Erfahrung ergibt, mit dem von Stern hervorgehobenen Zusammenhang unweigerlich ins Zentrum der Konzeption der Kritik der reinen Vernunft rückt. Wie bereits dargelegt, besteht Kants Anspruch zwar nicht darin, einen entsprechenden Skeptizismus zu widerlegen. Aber er hat klarerweise eine seiner Hauptaufgaben darin gesehen, zu zeigen, dass aus seiner eigenen Position, dem transzendentalen Idealismus, nicht die entsprechenden skeptischen Konsequenzen folgen. Insofern liegt Hatfield meines Erachtens zumindest teilweise falsch, wenn er festhält: „Skepticism and the Humean doubt were certainly not the explicit target or organizing theme of the A Critique, and so cannot be regarded as the primary motivating factor of Kant’s critical philosophy in general.“ (Hatfield 2001, 192) Richtig hieran ist, dass eine Auseinandersetzung mit Humes Kausalitätsskepsis nicht das primäre Ziel der kritischen Bemühungen ist. Es ist aber ein bedeutender Teilschritt in Kants Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik, dass er zeigen kann, dass sein eigener Ansatz nicht dieselben skeptischen Konsequenzen zur Folge hat, die seiner Meinung nach aus Humes Ansatz folgen. Daher wird es für ihn zu einem zentralen Anliegen, zu
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2 Kants Verhältnis zu Humes Skepsis
erklären, wie synthetische Urteile a priori möglich sind – nicht jedoch, dass sie es sind, denn dies wird durch das Faktum der wissenschaftlichen Erkenntnis belegt. In diesem Sinne ist eine Auseinandersetzung mit Humes Kausalitätsskepsis eben doch ein Faktor, der wesentlich die Struktur der Kritik der reinen Vernunft mitbestimmt – und dies erklärt die von Guyer hervorgehobene Tatsache, dass die konstruktiven Kapitel über die Transzendentale Ästhetik und die Transzendentale Analytik zusammen genommen in etwa genau so lang sind, wie das eher destruktiv ausgerichtete Kapitel über die Transzendentale Dialektik.⁶² Im nun anschließenden Abschnitt 2.2 wird es zunächst darum gehen, mögliche Einwände gegen die hier vorgestellte Lesart zurückzuweisen. Der darauf folgende Abschnitt 2.3 ist der Aufgabe gewidmet, die vorgeschlagene Lesart durch eine weitere Überlegung zu stützen. Abschließend werde ich in Abschnitt 2.4 einen aus dieser Lesart resultierenden knappen Überblick über Kants Vorgehen in der Kritik der reinen Vernunft geben und vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieses Kapitels die für die vorliegende Arbeit zentrale Frage klären, welche Rolle die Rechtfertigung konkreter empirischer Naturgesetze im Rahmen von Kants kritischem Ansatz spielt.
2.2 Mögliche Einwände gegen die vorgeschlagene Lesart In diesem Abschnitt möchte ich zwei mögliche Einwände gegen die vorgeschlagene Lesart diskutieren. Der erste, in Abschnitt 2.2.1 behandelte Einwand besteht darin, dass die hier vorgeschlagene Lesart Kant in der Kritik der reinen Vernunft die explizit auf die Prolegomena beschränkte analytische Methode zuschreibt. Dieser Einwand lässt sich als ein Missverständnis zurückweisen. Der zweite, in Abschnitt 2.2.2 behandelte Einwand basiert auf einigen Textstellen aus der Kritik der reinen Vernunft, die entgegen der bisherigen Darstellung nahelegen, dass Kant eben doch an einer Widerlegung eines Humeschen Skeptizismus gelegen war. Es wird zu klären sein, ob es möglich ist, dass Kant beide Projekte – das Projekt der Erklärung der (im Vorfeld angenommenen) Gültigkeit synthetischer Urteile a priori und das gegen den Skeptismus gerichtete Projekt des Nachweises dieser Gültigkeit – mit seiner Darstellung in der Kritik der reinen Vernunft zugleich abdecken wollte. Dabei wird sich zeigen, dass es zwar möglich ist, dass Kant auch eine an skeptisch gesinnte Leser gerichtete Lesart, nach der Kants Argumente die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori nachweisen sollen, zulassen möchte. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels (ab Abschnitt 2.3) werde ich jedoch weitere
Vgl. (Guyer 2008, 13).
2.2 Mögliche Einwände gegen die vorgeschlagene Lesart
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Gründe für die These liefern, dass es sich hierbei um eine Lesart handelt, die für Kant weit im Hintergrund des Interesses stand. Sein Hauptinteresse bestand in einer Erklärung der Gültigkeit synthetischer Urteile a priori, eine Gültigkeit, an der zu zweifeln er für absurd hielt.
2.2.1 Die analytische und die synthetische Methode Ein Einwand gegen die hier vorgestellte Interpretation liegt möglicherweise besonders nahe: Handelt es sich bei der Lesart, nach der Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Gültigkeit der Kategorien und Grundsätze für den Bereich der Erfahrung voraussetzt, nicht um eine illegitime Übertragung der analytischen Methode der Prolegomena auf die Kritik der reinen Vernunft? In diesem Abschnitt möchte ich zeigen, dass dieser Einwand auf einem Missverständnis beruht. Die Unterscheidung zwischen der synthetischen Methode der Kritik der reinen Vernunft und der analytischen Methode der Prolegomena wird in § 4 der Prolegomena erläutert, wo Kant zunächst festhält: In der K r i t i k d e r r e i n e n Ve r n u n f t bin ich […] synthetisch zu Werke gegangen, nämlich so, daß ich in der reinen Vernunft selbst forschte und in dieser Quelle selbst die Elemente sowohl als auch die Gesetze ihres reinen Gebrauchs nach Prinzipien zu bestimmen suchte. (Prol, AA 4: 274)
Der Kontrastfall hierzu ist das Verfahren der Prolegomena, die analytische Methode, bei der vorausgesetzt wird, „daß gewisse reine synthetische Erkenntnis a priori wirklich und gegeben sei, nämlich r e i n e M a t h e m a t i k und r e i n e N a t u r w i s s e n s c h a f t “ (Prol, AA 4: 275); es geht in diesem Fall nicht darum, zu fragen, „ob sie [die synthetische Erkenntnis a priori] möglich sei (denn sie ist wirklich), sondern nur: wie sie möglich sei, um aus dem Prinzip der Möglichkeit der gegebenen auch die Möglichkeit der übrigen ableiten zu können.“ (ebd.)⁶³ Man könnte an dieser Stelle den Eindruck gewinnen, Kant wolle hiermit sagen, die Methode der Prolegomena unterscheide sich von der Methode der Kritik der reinen Vernunft dadurch, dass in den Prolegomena die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori vorausgesetzt wird, während diese Gültigkeit in der Kritik bewiesen
Siehe zu dieser Unterscheidung auch Prol, AA 4: 276, Fn. Dort merkt Kant auch an, dass die „[a]nalytische Methode, sofern sie der synthetischen entgegengesetzt ist, […] ganz was anderes als ein Inbegriff analytischer Sätze“ ist, dass also die Benennungen der beiden Methoden nicht auf die ganz anders geartete Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen verweisen soll.
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2 Kants Verhältnis zu Humes Skepsis
werden soll. Dies würde gerade bedeuten, dass die Position, die ich Kant oben zugeschrieben habe, eben nur in den Prolegomena zu finden ist und somit auch gar nicht Kants eigentlichem Argumentationsziel entspricht, da Kant die analytische Methode in den Prolegomena lediglich aus didaktischen Gründen eingeführt hat. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass der Unterschied der Methoden nicht eine Frage dessen ist, was als gegeben vorausgesetzt wird, sondern in welcher Richtung die Untersuchung verläuft.⁶⁴ Dies kann man sich wie folgt vergegenwärtigen: Die analytische Methode besteht darin, dass man die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori in der Mathematik und der reinen Naturwissenschaft nicht nur als gegeben betrachtet, sondern dass man diese Urteile außerdem als Ausgangspunkt der Untersuchung nimmt. Die Fragestellung lautet: Gegeben, dass diese synthetischen Urteile a priori gültig sind, welche Bedingungen der Ermöglichung dieser Gültigkeit liegen dem zugrunde? Die in den Prolegomena durchgeführte Untersuchung fördert dann zutage, dass die Idealität von Raum und Zeit eine notwendige Bedingung der Gültigkeit der synthetischen Urteile a priori in der Mathematik ist⁶⁵ und dass die Tatsache, dass der Verstand mit seinen Kategorien der Natur Regeln vorschreibt, eine notwendige Bedingung der Gültigkeit der synthetischen Urteile a priori in der reinen Naturwissenschaft ist.⁶⁶ Ausgehend von den synthetischen Urteilen a priori in den Wissenschaften geht Kant also in den Prolegomena gemäß der analytischen Methode zurück auf deren notwendige Bedingungen. Die Wirklichkeit synthetischer Urteile a priori in den Wissenschaften ist also der Ausgangspunkt der Untersuchung und stellt etwas dar, „was man schon als zuverlässig kennt, von da man mit Zutrauen ausgehen und zu den Quellen aufsteigen kann, die man noch nicht kennt“ (Prol, AA 4: 275). Der Zielpunkt der Untersuchung nach analytischer Methode, die Quellen der voraus-
Auf diesen Punkt weisen auch Vaihinger (1881, 415 f.), Thöle (1991, 36) und Engstrom (1994, 373, Fn. 19) hin. „Also liegen doch wirklich der Mathematik reine Anschauungen a priori zum Grunde, welche ihre synthetischen und apodiktisch geltenden Sätze möglich machen; und daher erklärt unsere transzendentale Deduktion der Begriffe von Raum und Zeit zugleich die Möglichkeit einer reinen Mathematik […].“ (Prol, AA 4: 285) „Selbst der Hauptsatz, der durch diesen ganzen Abschnitt ausgeführt worden, daß allgemeine Naturgesetze a priori erkannt werden können, führt schon von selbst auf den Satz: daß die oberste Gesetzgebung der Natur in uns selbst, d. i. in unserem Verstand liegen müsse, und daß wir die allgemeinen Gesetze derselben nicht von der Natur vermittelst der Erfahrung, sondern umgekehrt die Natur, ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit nach, bloß aus den in unserer Sinnlichkeit und dem Verstande liegenden Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung suchen müssen; denn wie wäre es sonst möglich, diese Gesetze, da sie nicht etwa Regeln der analytischen Erkenntnis, sondern wahrhafte synthetische Erweiterungen derselben sind, a priori zu erkennen?“ (Prol, AA 4: 319)
2.2 Mögliche Einwände gegen die vorgeschlagene Lesart
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gesetzten Erkenntnis, sind die menschlichen Erkenntnisvermögen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, und insbesondere ihre reinen Formen, die Anschauungsformen Raum und Zeit sowie die Kategorien, die die synthetischen Urteile a priori ermöglichen. Die synthetische Methode verfährt nun in genau umgekehrter Richtung: Im Rahmen der synthetischen Methode geht Kant aus von einer Untersuchung der Erkenntnisvermögen, wobei insbesondere die Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Aufgaben im Vordergrund steht.Wenn Kant sagt, dass er in der Kritik der reinen Vernunft „in der reinen Vernunft selbst forschte und in dieser Quelle selbst die Elemente sowohl als auch die Gesetze ihres reinen Gebrauchs nach Prinzipien zu bestimmen suchte“ (Prol, AA 4: 274), dann meint er damit, dass er die Untersuchung mit einer Analyse der menschlichen Erkenntnisvermögen, ihrer unterschiedlichen Vorstellungsarten und ihrer apriorischen Formen beginnt.⁶⁷ Anders als nach der analytischen Methode ist diese Untersuchung zunächst unabhängig von Prämissen, die die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori zum Inhalt haben. Von dieser Zergliederung der Erkenntnisvermögen aus soll die Untersuchung dann jedoch fortschreiten zu den apriorischen Erkenntnissen, zu denen die menschliche Vernunft insgesamt fähig ist. Es geht also darum, dass man – wie Kant in den Prolegomena die synthetische Methode der Kritik beschreibt – „die Erkenntnis aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln sucht.“ (Prol, AA 4: 274) Entsprechend ist die synthetische Erkenntnis a priori der Zielpunkt der Untersuchung und nicht, wie in den Prolegomena, der Ausgangspunkt.
Den Begriff der Vernunft verwendet Kant in seinen Werken (auch innerhalb einzelner Werke) auf mehrere unterschiedliche Weisen. So handelt es sich bei der Vernunft im weiten Sinne um „das ganze obere Erkenntnisvermögen“ (KrV, A 835 / B 863), das neben dem Verstand auch die Vernunft im engeren Sinne umfasst und vom unteren Erkenntnisvermögen, der Sinnlichkeit, abgegrenzt wird. Die Vernunft im engeren Sinne ist in ihrem logischen Gebrauch „das Vermögen mittelbar zu schließen“ (KrV, A 299 / B 355) und im transzendentalen Gebrauch „das Ve r m ö g e n d e r P r i n z i p i e n“ (KrV, A 299 / B 356). An der hier gerade betrachteten Stelle der Prolegomena hat Kant aber offenbar noch etwas weiteres im Blick, wenn er von Vernunft spricht, denn die Keime, aus denen die synthetischen Erkenntnisse a priori entwickelt werden, die er an der gerade im Haupttext zitierten Stelle summarisch als „Vernunft“ bezeichnet, umfassen neben dem Verstand (und insbesondere seinen Formen, den Kategorien) auch die Sinnlichkeit (und insbesondere ihre Formen, Raum und Zeit), die eigentlich als unteres Erkenntnisvermögen von der Vernunft im weiten Sinne, dem oberen Erkenntnisvermögen, abgegrenzt wird. Am ehesten trifft es hier deshalb wohl eine andere Bestimmung, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft gibt, wo es heißt, dass „Vernunfterkenntnis und Erkenntnis a priori einerelei“ sind (KpV, AA 5: 12), wodurch dann auch mathematische Erkenntnis, die eben auf den apriorischen Formen der Sinnlichkeit beruht, als Vernunfterkenntnis gilt.
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2 Kants Verhältnis zu Humes Skepsis
Entscheidend ist nun, dass die so aufgefasste synthetische Methode durchaus damit vereinbar ist, dass Kant es in ihrem Rahmen als ein Kriterium der Richtigkeit seiner eigenen Theorie (d. h. des transzendentalen Idealismus) betrachtet, dass diese in der Entwicklung der Erkenntnis aus ihren Keimen eben diesen zuvor bestimmten Zielpunkt auch erreicht, konkret nämlich die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori in der Mathematik und in der Naturwissenschaft. Dass dies für Kant ein entscheidendes Kriterium für den Erfolg einer Untersuchung gemäß der synthetischen Methode ist, kann man sich anhand seiner Reaktion auf Humes Untersuchung vergegenwärtigen: Hume geht in gewisser Weise ebenfalls nach der synthetischen Methode vor, indem er zunächst die verschiedenen Perzeptionsarten (Vorstellungen und Eindrücke) untersucht, vor diesem Hintergrund Eindrücke (und zwar sowohl Sinnes- als auch Reflexionseindrücke) als die entscheidenden Quellen unserer Erkenntnis bestimmt und von dort ausgehend entwickelt, zu welchen Erkenntnissen der Mensch fähig ist. Anders als Kant, der apriorische Formen der Erkenntnisvermögen annimmt und als Quellen von Erkenntnis in Betracht zieht, leitet Hume, auf der Grundlage seiner eigenen empiristischen Konzeption konsequenterweise, den Begriff der Ursache empirisch her. Und wie wir oben bereits gesehen haben, lässt sich Kant zufolge diese „e m p i r i s c h e Ableitung […] mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse a priori, die wir haben, nämlich der r e i n e n M a t h e m a t i k und a l l g e m e i n e n N a t u r w i s s e n s c h a f t , nicht vereinigen, und wird also durch das Factum widerlegt.“ (KrV, A 95 / B 127 f.) Da Humes Untersuchung gemäß der synthetischen Methode nicht zu dem anvisierten Ergebnis einer Erklärung der Möglichkeit synthetischer Erkenntnis a priori geführt hat, sondern im Gegenteil es im Rahmen von Humes Theorie der Erkenntnis geradezu unmöglich ist, diese Möglichkeit zu begreifen, war Kant „weit entfernt, ihm [Hume] in Ansehung seiner Folgerungen Gehör zu geben“ (Prol, AA 4: 260) – Humes synthetisches Verfahren führt durch seine Ergebnisse zu einer reductio ad absurdum der vermögenstheoretischen Grundlagen, von denen er ausgegangen ist. Es zeigt sich also, dass ein Vorgehen nach der synthetischen Methode in der Tat damit vereinbar ist, dass synthetische Erkenntnis a priori als gegeben betrachtet wird. Entscheidend für die Frage, um welche Methode es sich handelt, ist lediglich, ob synthetische Urteile a priori den Ausgangs- oder den Zielpunkt der Untersuchung bilden. Im Rahmen der synthetischen Methode stellt die synthetische Erkenntnis a priori nicht den Ausgangspunkt, sondern den Zielpunkt dar und dass dieser Zielpunkt gemäß der synthetischen Methode tatsächlich erreicht wird ist ein Kriterium für die Richtigkeit der Ausgangsbedingungen.
2.2 Mögliche Einwände gegen die vorgeschlagene Lesart
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2.2.2 Problematische Textstellen Ein weiterer möglicher Einwand besteht darin, dass es neben den vielen Textstellen, die für die hier vorgeschlagene Interpretation sprechen, auch andere Stellen gibt, die in eine andere Richtung weisen und insbesondere die Interpretation von Forster und Guyer zu begünstigen scheinen. Ich möchte zeigen, dass diese Stellen zwar möglicherweise von Kant aus strategischen Gründen eingefügt wurden, um skeptisch gesinnten Lesern eine alternative Lesart seiner Argumente anzubieten, dass sie jedoch nicht seinen hauptsächlichen Intentionen entsprechen. Kant spricht tatsächlich an vielen Stellen nicht nur davon, dass er erklären möchte, wie die Gültigkeit der Kategorien und der Grundsätze im Bereich der Erfahrung möglich ist, sondern auch davon, dass er die Gültigkeit zu beweisen beansprucht. So spricht er beispielsweise im Zusammenhang mit den Grundsätzen von einem „Beweis, aus den subjektiven Quellen der Möglichkeit einer Erkenntnis des Gegenstandes überhaupt“ (KrV, A 149 / B 188). Auf die Formulierung der einzelnen Verstandesprinzipien in den einzelnen Abschnitten der Analytik der Grundsätze folgt auch (abgesehen von den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt) stets die Überschrift „Beweis“. Interessanterweise gibt es insbesondere sehr viele Textstellen, an denen Kant sowohl von Erklärung als auch von Beweis spricht.⁶⁸ So sagt er etwa in der A-Vorrede über die Transzendentale Deduktion, sie solle „die objektive Gültigkeit [der reinen Verstandesbegriffe] a priori dartun und begreiflich machen“ (KrV, A XVI; meine Hervorhebung), und in der BVorrede heißt es, durch die kopernikanische Wende in der Metaphysik könne man nicht nur „die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori ganz wohl erklären“, sondern auch „die Gesetze, welche a priori der Natur […] zum Grunde liegen, mit ihren genugtuenden Beweisen versehen“ (KrV, B XIX; meine Hervorhebung).⁶⁹ Aus diesem Umstand schließt Hans Vaihinger, dass Kant tatsächlich beide Projekte zugleich verfolgt habe: Einerseits die Erklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori als ein gegen die Dogmatiker gerichtetes Projekt, denen Kant vorwirft, eine solche Erklärung schuldig geblieben zu sein, und andererseits den Beweis der Gültigkeit dieser Urteile als ein gegen die Skeptiker gerichtetes Projekt, die diese Gültigkeit anzweifeln.⁷⁰ Auch Vaihinger hält zwar fest, dass Kant die Position der Skeptiker „persönlich immer ganz absurd“ erschienen sei, dass aber, Vgl. Vaihinger (1881, 399), der weitere Stellen auflistet und emphatisch festhält: „D i e s e r u n k l a r e We c h s e l g e h t d u r c h d i e g a n z e D e d u k t i o n v o n v o r n e b i s h i n t e n […].“ Dies scheint zunächst für die oben in Abschnitt 2.1.6 zurückgewiesene Lesart Forsters zu sprechen. Vgl. oben, Fn. 60 in diesem Kapitel. Vgl. Vaihinger (1881, 395 f.).
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2 Kants Verhältnis zu Humes Skepsis
„da es einmal so zu sagen solche Käuze gab, […] auf sie Rücksicht genommen werden“ musste (Vaihinger 1881, 396). Dabei weist Vaihinger darauf hin, dass die Projekte der Erklärung und des Beweises als zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden können: Denn logisch genommen bringt es der Gang der Argumentation naturgemäss mit sich, dass der Nachweis, w a r u m jene apriorischen Urtheile und Begriffe gültig seien, z u g l e i c h auch den Beweis, d a s s sie factisch gültig seien, mit einschloss. (Vaihinger 1881, 396 f.; zwei Fußnoten getilgt)
Meines Erachtens trifft es zwar zu, dass Kants Text an den besagten Stellen offenbar beide Lesarten zulässt.Vaihingers Beschreibung ist an dieser Stelle jedoch auch irreführend. Vaihinger scheint sagen zu wollen, dass man in gewisser Weise Kants Argumente nach beiden Lesarten zugleich lesen kann. Dies drückt sich insbesondere dadurch aus, dass er hier von einem „Nachweis, warum“ spricht. Schon aus rein sprachlicher Perspektive handelt es sich hierbei um eine unsaubere Formulierung, die meines Erachtens eine wichtige Unterscheidung überdeckt: Man kann nicht nachweisen, warum etwas der Fall ist. Man kann nachweisen, dass etwas der Fall ist oder erklären, warum etwas der Fall ist. Im Fall einer Erklärung verhält es sich so, dass das zu Erklärende, im vorliegenden Fall die Gültigkeit der apriorischen Urteile und Begriffe, vorausgesetzt und nicht nachgewiesen wird. Entsprechend scheint es mir nicht einleuchtend, dass man, wie Vaihinger es darstellt, mit dieser Erklärung zugleich die Gültigkeit beweist, denn bei diesem Beweis ginge es ja darum, diese Gültigkeit gerade vom Status der Fragwürdigkeit in den Stand des Bewiesenen zu erheben. Dies können streng genommen nicht zwei zugleich durchgeführte Projekte sein, weil sie offenbar unterschiedliche Voraussetzungen beinhalten. Nun ist nicht auszuschließen und aufgrund der Textlage vielleicht sogar anzunehmen, dass Kant es begrüßt hat, dass seine Erklärungen auch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden können, also insbesondere unter anderen Voraussetzungen. Auch wenn Kant selber die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori als gegeben betrachtet hat, kann man sich ja einen Leser vorstellen, der in dieser Hinsicht skeptischer eingestellt ist, und dann ist es vielleicht ein interessanter Gedanke, dass aus einer anderen Perspektive betrachtet dieselben Argumente, die im Rahmen des Erklärungsprojektes von den „ursprünglichen Keimen“ (Prol, AA 4: 274) zur Gültigkeit der synthetischen Urteile a priori führen, eben auch als antiskeptische Argumente gelesen werden können.⁷¹ Das erfolgreiche Entwi Eine ähnliche Lesart vertritt auch Thöle (1991, 18). Sowohl Thöle als auch Vaihinger heben jedoch hervor, dass das Projekt der Erklärung für Kant Vorrang hat.
2.3 Der Vorrang des Erklärungsprojektes
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ckeln der synthetischen Erkenntnis a priori aus den Keimen stellt dann eben nicht, wie im Fall des Erklärungsprojektes, eine Bestätigung der Ausgangsbasis dar, sondern eine Widerlegung einer skeptischen Position bezüglich der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Vielleicht hat Kant die zu Beginn dieses Abschnittes zitierten Formulierungen bewusst so gesetzt, dass beide Lesarten möglich sind und sich jeder Leser die für ihn passende Perspektive und damit auch die entsprechende Lesart aussuchen kann. Möglicherweise hat Kant, wie auch Vaihinger aufgrund des verschlungenen Entstehungsprozesses der Kritik durchaus für plausibel hält⁷², diesen Unterschied zwischen Erklären und Beweisen auch gar nicht immer genau vor Augen gehabt. Wie dem auch sei, es scheint mir in jedem Fall klar zu sein, dass die antiskeptische Lesart, auch wenn der Wortlaut sie an manchen Stellen als Alternative zulässt, nicht besonders gut zu Kants eigenen Ansichten und auch nicht zu den von ihm selbst ausgerufenen Hauptzielen der Kritik der reinen Vernunft passt. Dies hat nicht nur die Rekonstruktion von Kants Verhältnis zu Humes skeptischer Position in Abschnitt 2.1.6 gezeigt, sondern lässt sich, wie wir im nun folgenden Abschnitt 2.3 sehen werden, anhand weiterer Überlegungen und Textstellen erhärten. Insofern glaube ich, dass die anti-skeptische Lesart, auch wenn Kant sie vielleicht für bestimmte Leser zulassen wollte, seine eigentlichen Intentionen eher überdeckt.
2.3 Der Vorrang des Erklärungsprojektes vor dem Projekt der Widerlegung des Humeschen Skeptizismus Nach den im letzten Abschnitt betrachteten Textstellen, die nahelegen, dass Kant manchmal selber eine zweite Lesart anbietet, nach der seine Argumente in der Transzendentalen Analytik eben doch (zumindest auch) als direkte Skepsis-Widerlegungen aufgefasst werden können, möchte ich in diesem Abschnitt noch einmal die Vorrangigkeit des Projektes der Erklärung der als gegeben vorausgesetzten Gültigkeit synthetischer Urteile a priori in den Wissenschaften stark machen. Wie wir in diesem Abschnitt sehen werden, spricht Kants eigene explizite Angabe dessen, was er als den höchsten positiven Nutzen seines kritischen Projektes nennt, klar dafür, dass das Erklärungsprojekt von ihm als sein eigentliches Projekt betrachtet wurde. In der B-Vorrede der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet Kant einen negativen von einem positiven Nutzen seines kritischen Projektes (KrV, B XXIV). Der
Vgl. Vaihinger (1881, 398).
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2 Kants Verhältnis zu Humes Skepsis
negative Nutzen besteht darin, die spekulative Vernunft davon abzuhalten, sich über den Bereich der Erfahrung hinauszuwagen und Erkenntnisse im Bereich des Erfahrungstranszendenten zu beanspruchen. Der von Kant angegebene positive Nutzen besteht nun nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, darin, innerhalb der Grenzen der Erfahrung eine Metaphysik der Erfahrung zu etablieren. Der positive Nutzen, der sehr eng mit dem negativen Nutzen zusammenhängt, besteht vielmehr darin, durch die Begrenzung der spekulativen Vernunft den Raum für „einen schlechterdings notwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen)“ (KrV, B XXIV) zu schaffen: Dadurch, dass es der spekulativen Vernunft verwehrt ist, Aussagen über den Bereich des Transzendenten zu treffen, ist die praktische Vernunft, deren notwendigen Postulate eben diesen Bereich betreffen, davor gesichert, in Widerspruch zur spekulativen Vernunft zu geraten: „Ich kann also G o t t , F r e i h e i t und U n s t e r b l i c h k e i t zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten b e n e h m e […].“ (KrV, B XXIX) Diese Auskunft Kants über die Hauptziele seiner Kritik scheint nun zunächst für Hatfields Position zu sprechen: Kant hebt einerseits das Grenzziehungsprojekt hervor und andererseits den durch das Grenzziehungsprojekt ermöglichten praktischen Vernunftgebrauch – keine Rede ist an dieser Stelle von einer Etablierung einer Metaphysik der Erfahrung als Antwort auf einen entsprechenden Skeptizismus.⁷³ Auf der anderen Seite können wir im Angesicht der in Abschnitt 2.1.6 erarbeiteten Ergebnisse nun deutlich sehen, dass sowohl der negative als auch der positive Nutzen von Kant nur dadurch eingeholt werden können, dass er sich intensiv mit einem Skeptizismus in Bezug auf eine Metaphysik der Erfahrung auseinandersetzt und aufzeigt, dass seine kritische Position für einen solchen Skeptizismus nicht anfällig ist – der Humesche Skeptizismus tritt, wenn auch nicht als primärer Auseinandersetzungsgegenstand, mit ins Zentrum der Konzeption der Kritik. Am Beispiel Humes hat Kant nachvollzogen, welches Schicksal einer Position beschert ist, die nicht nur die metaphysischen Dispute beendet, indem sie die von den Metaphysikern verwendeten Grundprinzipien untergräbt, sondern die, sofern man sie konsequent zu Ende denkt, letztlich in einen allgemeinen Skeptizismus bezüglich der Wissenschaft und der Alltagserfahrung mündet. Wenn Kant mit seiner eigenen Position den Kampfplatz der Metaphysik nachhaltig befrieden möchte, muss er dies auf der Basis einer Argumentation tun, die eben nicht in einen solchen allgemeinen Skeptizismus abgleitet und dadurch ad absurdum
Vgl. Hatfield (2001, 206).
2.3 Der Vorrang des Erklärungsprojektes
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geführt wird. Sowohl eine erfolgreiche Aufhebung der Widersprüche der Metaphysik als auch die Ermöglichung des praktischen Vernunftgebrauchs sind also in letzter Konsequenz darauf angewiesen, dass Kant die Vereinbarkeit seiner Theorie mit dem Faktum wissenschaftlicher und alltäglicher Erkenntnis aufzeigen kann. Da Kant den praktischen Gebrauch der Vernunft erst in der B-Vorrede, nicht aber in der A-Vorrede als Hauptzweck der Kritik erwähnt, könnte man zunächst den Eindruck gewinnen, dass dieses Thema für Kant erst nach 1781 in den Vordergrund rückt und somit der Hinweis auf den von ihm formulierten positiven Nutzen nicht dazu taugt, die ursprüngliche Intention des Werkes zu ergründen. Jedoch wird die praktische Orientierung der Kritik der reinen Vernunft auch schon in der ersten Auflage – zwar nicht in der Vorrede, aber in hinteren Abschnitten des Buches – deutlich ausgesprochen.⁷⁴ Zum einen gibt es eine Passage in der Transzendentalen Dialektik, genauer im Abschnitt über das Ideal der reinen Vernunft, in der Kant die Ausführungen zum negativen und positiven Nutzen des kritischen Projekts aus der B-Vorrede schon in der ersten Auflage im Wesentlichen vorwegnimmt. Zunächst geht Kant dort auf den negativen Nutzen ein, der darin besteht, die Ansprüche der theoretischen Vernunft im Bereich des Transzendenten zurückzuweisen. Hierin mischt sich nun ein weiterer Nutzen, den Kant auch als negativ bezeichnet und der darin besteht, berichtigend auf Vorstellungen des Übersinnlichen einzuwirken: Ob aber gleich die Vernunft in ihrem bloß spekulativen Gebrauche zu dieser so großen Absicht bei weitem nicht zulänglich ist, nämlich zum Dasein eines obersten Wesens zu gelangen; so hat sie doch darin sehr großen Nutzen, die Erkenntnis desselben, im Fall sie anders woher geschöpft werden könnte, zu b e r i c h t i g e n , mit sich selbst und jeder intelligiblen Absicht einstimmig zu machen, und von allem, was dem Begriffe eines Urwesens zuwider sein möchte, und aller Beimischung empirischer Einschränkungen zu reinigen. (KrV, A 639 f. / B 667 f.)
Wichtig ist, dass Kant hier von der Möglichkeit spricht, dass es eine Erkenntnis eines obersten Wesens geben könnte, die „anders woher geschöpft werden könnte“, also nicht aus der spekulativen, das heißt theoretischen Vernunft stammt. Wenn man die weitere Entwicklung von Kants Philosophie kennt, weiß man, an welche Möglichkeit er hier gedacht hat: Tatsächlich spricht er, wenn an dieser Stelle auch nur hypothetisch⁷⁵, zwei Sätze später von der Möglichkeit, dass Auf die im Folgenden zitieren Passagen verweist auch Pollok (1997b, XXXI) im Zusammenhang mit dem Primat des Praktischen. Auch Höffe (2003, 28 ff.) hebt den Primat des Praktischen in der Kritik der reinen Vernunft hervor. Ein paar Seiten zuvor kündigt Kant dies allerdings bereits wesentlich bestimmter an: „Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie das Dasein eines höchsten Wesens
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2 Kants Verhältnis zu Humes Skepsis
„einmal, in anderwertiger, vielleicht praktischer Beziehung, die Voraussetzung eines höchsten und allgenugsamen Wesens, als oberster Intelligenz, ihre Gültigkeit ohne Widerrede behauptete“ (KrV, A 640 / B 668) – wie wir wissen, wird genau dies 1788 in der Kritik der praktischen Vernunft von Kant so ausgeführt. Kant spricht nun hier, an der gerade zitierten Stelle der Kritik der reinen Vernunft davon, dass die theoretische Vernunft für die durch die praktische Vernunft gerechtfertigte Gottesidee ein wichtiges Korrektiv darstellt, um dasjenige aus dieser Vorstellung, „was zur bloßen Erscheinung (dem Anthropomorphismus im weiteren Verstande) gehört, wegzuschaffen“ (KrV, A 640 / B 668), also all dasjenige aus der Gottesidee zu verbannen, was in praktischer Hinsicht entbehrlich, das heißt aus der praktischen Vernunft heraus nicht zu begründen ist. Er ergänzt diese Überlegung durch die Bemerkung, dass die theoretische Vernunft außerdem leicht in der Lage ist, „alle entgegengesetzten Behauptungen, sie mögen nun a t h e i s t i s c h , oder d e i s t i s c h , oder a n t h r o p o m o r p h i s t i s c h sein, aus dem Wege zu räumen; welches in einer solchen kritischen Behandlung sehr leicht ist, indem dieselben Gründe, durch welche das Unvermögen der menschlichen Vernunft, in Ansehung der Behauptung des Daseins eines dergleichen Wesens, vor Augen gelegt wird, notwendig auch zureichen, um die Untauglichkeit einer jeden Gegenbehauptung zu erweisen.“ (KrV, A 640 f. / B 670 f.) Was Kant hier beschreibt, entspricht offenbar einer Vorwegnahme dessen, was er in der B-Vorrede als den positiven Nutzen des kritischen Projekts bezeichnet – eine Zurückweisung vermeintlicher spekulativer Erkenntnis des Transzendenten mit der positiven Folge, dass den Postulaten der praktischen Vernunft kein Widerspruch von Seiten der theoretischen Vernunft droht. Dass dieser positive Zweck Kant auch schon in der ersten Auflage nicht nur am Herzen lag, sondern gar als oberstes Ziel galt, wird in der Transzendentalen Methodenlehre, im Abschnitt über die Architektonik der reinen Vernunft, deutlich: Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die höchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel notwendig gehören. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral. (KrV, A 840 / B 868)
nicht bloß voraussetzen, sondern auch, da sie in anderweitiger Betrachtung schlechterdings notwendig sind, es mit Recht, aber freilich nur praktisch, postulieren; jetzt setzen wir diese Schlußart noch beiseite.“ (KrV, A 634 / B 662)
2.4 Kants Vorgehen in der Kritik der reinen Vernunft
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Hier wird die Moralphilosophie als der höchste Zweck der Vernunft ausgewiesen. Die Beschneidung der Erkenntnisansprüche der theoretischen Vernunft, so kann man dies verstehen, dient also in erster Linie dem positiven Zweck der Absicherung der praktischen Vernunftideen gegen Einsprüche der theoretischen Vernunft. Der Primat des Praktischen ist in Kants erster Kritik zwar nicht so präsent, dass er einem in diesem weitläufigen Werk sofort ins Auge springt, aber er wird deutlich ausgesprochen – und zwar von der ersten Auflage an. Mir scheinen die angeführten Passagen deutlich zu zeigen, dass Kant in der B-Vorrede mit der Angabe des positiven Nutzens des kritischen Projektes nicht etwa einen neuen Gedanken eingeführt hat, sondern dass es ihm darum ging, eine wichtige Grundintention seines Werkes, die von der ersten Auflage an vorhanden war, in der zweiten Auflage an prominenterer Stelle zu platzieren, da sie vielen Lesern der A-Auflage in den hinteren Teilen des langen Buches möglicherweise entgangen war. Diese Grundintention gilt es bei einer umfassenden Einschätzung von Kants ursprünglichen Argumentationszielen in jedem Fall zu beachten. Und wie wir oben gesehen haben, führt eine konsequente Beachtung des Primats des Praktischen letztlich zu der Einsicht, dass Kant zwar den Humeschen Skeptizismus nicht widerlegen, aber für seine eigene Position entsprechende skeptische Folgen vermeiden muss, um nicht – so wie Hume – das kritische Potential seiner eigenen Position gegenüber den dogmatischen Metaphysikern unbeabsichtigt zu untergraben.
2.4 Kants Vorgehen in der Kritik der reinen Vernunft Um die hier erarbeitete Lesart von Kants Projekt weiter zu untermauern, möchte ich nun erläutern, wie vor dem Hintergrund des bisher Erarbeiteten Kants Vorgehen in der Kritik der reinen Vernunft, insbesondere in den zentralen Abschnitten der Transzendentalen Analytik, zu verstehen ist.
2.4.1 Die in der Kritik der reinen Vernunft zu lösende Aufgabe und die Grundideen der Lösungsschritte Vor dem Hintergrund des bisher in diesem Kapitel Erarbeiteten können wir uns nun überblicksmäßig ein Gesamtbild von Kants Vorgehen in der Analytik der Kritik der reinen Vernunft machen. Das Ausgangsproblem der Analytik ist zunächst einmal ein Paradoxon, das wie folgt beschrieben werden kann:
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Einerseits sind die Kategorien und die Grundsätze im Bereich der Erfahrung offenbar gültig: Wir sind im Besitz erfolgreicher Wissenschaften, die auf a priori gültige Prinzipien angewiesen sind, und selbst im Alltag verwenden wir Begriffe wie den der Kausalität, deren Gültigkeit a priori sein muss, weil, wie Humes Argumente gezeigt haben, sonst die in ihnen enthaltene Vorstellung einer objektiven Notwendigkeit vollkommen gegenstandslos wäre. Andererseits ist zunächst einmal gar nicht einzusehen, wie es überhaupt möglich ist, dass apriorische Begriffe und Grundsätze, die eben ohne das Zutun von bestimmten Erfahrungen entstanden sind, im Bereich der Erfahrung gelten.⁷⁶ Es handelt sich hierbei offenbar um ein Paradoxon⁷⁷, denn es ist sicherlich ungereimt, dass etwas, was gar nicht möglich ist, offenbar der Fall sein soll. Die Aufgabe, die die Kritik der reinen Vernunft zu lösen hat, besteht nun darin, dieses Paradoxon aufzulösen, indem aufgezeigt wird, wie synthetische Urteile a priori eben doch möglich sind. Den ersten Schritt zur Lösung dieses Problems stellt die sogenannte kopernikanische Wende dar: In der B-Vorrede hält Kant fest, dass der Eindruck, die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori sei gar nicht möglich, auf der Annahme beruht, dass sich unsere Erkenntnis nach den Gegenständen richtet. Unter dieser Annahme ist die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori Kant zufolge tatsächlich nicht einsehbar.⁷⁸ Kant schlägt daher vor, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt […]. (KrV, B XVI)
Dies ist tatsächlich die Art und Weise, wie Kant das Problem in seinem berühmten Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 darstellt: „Ich hatte mich in der dissertation damit begnügt die Natur der intellectual Vorstellungen bloß negativ auszudrüken: daß sie nemlich nicht modificationen der Seele durch den Gegenstand wären.Wie aber denn sonst eine Vorstellung die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von ihm auf einige Weise afficirt zu seyn möglich überging ich mit Stillschweigen. […] [W]enn solche intellectuale Vorstellungen auf unsrer innern Thätigkeit beruhen, woher komt die Übereinstimmung die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden und die axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hülfe entlehnen.“ (Br, AA 10: 130 f.) Ähnlich analysiert dies Vaihinger (1881, 393), der von einer „paradoxe[n] Thatsache“ spricht und die zu lösende Schwierigkeit ein „antithetisches Problem“ nennt. „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte.“ (KrV, B XVI)
2.4 Kants Vorgehen in der Kritik der reinen Vernunft
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Die Grundidee, die Kant in den folgenden Sätzen weiter ausführt, lautet, dass sich die Gegenstände der Erfahrung nach unseren Erkenntnisvermögen richten und wir daher durch eine Zergliederung dieser Vermögen Genaueres darüber herausfinden können, auf welche Weise unsere Erkenntnisvermögen die Gegenstände der Erfahrung prägen. Die Formulierung „schon besser“ deutet dabei an, dass allein mit dem Vorbringen dieser Idee die Arbeit noch nicht getan ist, denn es bleibt genauer zu zeigen, dass durch die kopernikanische Wende die Gültigkeit der einzelnen Kategorien und Grundsätze tatsächlich in befriedigender Weise erhellt werden kann. Dies zeigt sich auch dadurch, dass Kant hierbei von einem „Versuch“ (KrV, B XVIII) spricht, der nach Wunsch gelingt. Der Versuch besteht darin, von der Idee der kopernikanischen Wende auszugehen. Gelingen tut er dadurch, dass in der Transzendentalen Analytik gezeigt werden kann, dass auf der Grundlage dieser versuchsweise angenommenen Idee tatsächlich erklärt werden kann, wie es möglich ist, dass die Kategorien und Grundsätze im Bereich der Erfahrung gelten. (Humes subjektivistischer Versuch, die Gültigkeit des Kausalitätsbegriffes zu erklären, scheitert hingegen nach Kants Überzeugung, da eine subjektivistische Erklärung nicht in der Lage ist, die im Kausalitätsbegriff enthaltene Vorstellung einer objektiven Notwendigkeit einzufangen.⁷⁹) Die versuchsweise angenommene Idee der kopernikanischen Wende erhält ihre Bestätigung also dadurch, dass sie ein zuvor als sicher angenommenes Datum erfolgreich erklärt: die Tatsache, dass die Kategorien und Grundsätze im Bereich der Erfahrung gelten.⁸⁰
Auf diesen Punkt kommen wir ausführlich in Kapitel 3, insbesondere in Abschnitt 3.3.7, zurück. Siehe außerdem oben, Abschnitt 1.4.3. Es sei allerdings erwähnt, dass Kant wenige Seiten später hinzufügt: „Ich stelle in dieser Vorrede die in der Kritik vorgetragene […] Umänderung der Denkart auch nur als Hypothese auf, ob sie gleich in der Abhandlung selbst aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen vom Raum und Zeit und den Elementarbegriffen des Verstandes, nicht hypothetisch, sondern apodiktisch bewiesen wird, um nur die ersten Versuche einer solchen Umänderung, welche allemal hypothetisch sind, bemerklich zu machen.“ (KrV, B XXII, Fn.) Hier wird also erneut die bereits in Abschnitt 2.2.2 herausgestellte Doppelstruktur deutlich, nach der Kants Argumente zum einen als Erklärungen der vorausgesetzten Gültigkeit synthetischer Urteile a priori und zum anderen als gegen einen Skeptiker gerichtet gelesen werden können. Die hypothetische Annahme der These, dass sich die Gegenstände der Erfahrung nach unseren Erkenntnisvermögen richten, entspricht dem Erklärungsprojekt, im Rahmen dessen die Hypothese nachträglich durch die durch sie ermöglichte Erklärung der Gültigkeit synthetischer Urteile a priori bestätigt wird. Der Beweis dieser These aus der Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen entspricht einer antiskeptischen Perspektive, der zufolge die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori nachgewiesen werden muss.
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Im Prozess dieser Erklärung tauchen allerdings einige Detailprobleme auf, die weiterhin die Möglichkeit dieser Gültigkeit problematisch erscheinen lassen. Die Hauptabschnitte der Transzendentalen Analytik sind, wie ich nun skizzenhaft deutlich machen möchte, darauf ausgerichtet, eben genau diese Probleme nacheinander aus dem Weg zu räumen. Das erste dieser Probleme besteht darin, dass zunächst einmal gar nicht zu verstehen ist, wie die Kategorien, die im Bereich der Erfahrung gültig sein sollen, überhaupt a priori entspringen können. Um dies zu gewährleisten, führt Kant die Kategorien auf die logischen Verstandesfunktionen zurück⁸¹, deren apriorischen Ursprung er offenbar für weniger erklärungsbedürftig hält. Dies ist auch einigermaßen einsichtig, da es sich bei den Verstandesfunktionen um die Funktionen des Denkens handelt, die zunächst einmal unabhängig von dem Gehalt sind, auf den sie angewandt werden. Die logischen Funktionen des Verstandes finden wir auf, indem „wir von allem Inhalte eines Urteils überhaupt abstrahieren, und nur auf die bloße Verstandesform darin Acht geben“ (KrV, A 70 / B 95). Sie gehören also nachvollziehbar zur apriorischen Grundausstattung des Verstandes. Die Kategorien hingegen sind Begriffe, die sich aufgrund eines bestimmten Gehalts, den Kant „transzendentalen Inhalt“ (KrV, A 79 / B 105) nennt, a priori auf Gegenstände beziehen, und da erscheint die Frage berechtigt, wie es denn überhaupt möglich ist, dass ein solcher Gehalt a priori entspringt; eine Frage, die Kant durch die in der metaphysischen Deduktion erfolgte Zurückführung der Kategorien auf die apriorischen Verstandesfunktionen beantwortet zu haben beansprucht.⁸² Die darauf folgende transzendentale Deduktion der Kategorien ist nach Kants eigener Auskunft „die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Objekte beziehen können“ (KrV, A 85 / B 117). Es geht also darum, eine bekannte Tatsache,
„Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen i n e i n e m U r t e i l e Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen i n e i n e r A n s c h a u u n g Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt.“ (KrV, A 79 / B 104 f.) Dies ist zumindest eine Teilantwort, denn wie sich gleich im weiteren Verlauf zeigt, müssen die aus den logischen Verstandesfunktionen hergeleiteten Kategorien noch durch sinnliche Schemata ergänzt werden, damit eine Anwendung der Kategorien auf Anschauungen möglich wird. Siehe hierzu etwas ausführlicher Kapitel 3, Fn. 93. Wie etwa Thöle (1991, 15) richtig anmerkt, besteht ein weiteres Ziel der metaphysischen Deduktion darin, die Vollständigkeit der Kategorien-Tafel sicherzustellen. Dieses Ziel hängt natürlich in erster Linie von der Vollständigkeit der Urteilstafel ab, die die Basis für die Individuierung der Verstandesfunktionen ist. Zu der Frage, ob sich aus dem Text der Kritik der reinen Vernunft ein Argument für die Vollständigkeit der Urteilstafel entnehmen lässt, gibt es mittlerweile eine umfangreiche Debatte. Siehe hierzu etwa Reich (1986), Krüger (1968), Brandt (1991), Wolff (1995), Thöle (2001) und Hoeppner (2011).
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nämlich dass sich die Kategorien, deren apriorischen Ursprung wir im vorhergehenden Schritt verstanden haben, auf Objekte beziehen, zu erklären.⁸³ Die Grundidee dieser Erklärung besteht darin, dass die Anwendung der Kategorien dasjenige ist, was uns einen Bezug der uns gegebenen Anschauungen auf Objekte überhaupt erst ermöglicht. So fragt Kant in § 14 der Kritik der reinen Vernunft, dem Abschnitt mit der Überschrift „Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien“, ob nicht auch Begriffe a priori vorausgehen, als Bedingungen, unter denen allein etwas, wenngleich nicht angeschauet, dennoch als Gegenstand überhaupt gedacht wird, denn alsdenn ist alle empirische Erkenntnis der Gegenstände solchen Begriffen notwendiger Weise gemäß, weil, ohne deren Voraussetzung, nichts als O b j e k t d e r E r f a h r u n g möglich ist. (KrV, A 93 / B 125 f.)
Was hier noch als Frage formuliert ist, erhält wenige Zeilen später einen wesentlich bestimmteren Ausdruck: folglich wird die objektive Gültigkeit der Kategorien als Begriffe a priori, darauf beruhen, daß durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) möglich sei. (KrV, A 93 / B 126)
Das Ziel der transzendentalen Deduktion besteht also darin, zu zeigen, dass ohne Anwendung der Kategorien keine Erfahrung von Gegenständen möglich ist. Hieraus soll sich ihre Gültigkeit erklären: Es ist – dem ersten Anschein entgegen – kein Wunder, dass unsere empirische Erkenntnis zu den Kategorien „passt“, da doch die Anwendung der Kategorien auf das sinnlich gegebene Material diese Erkenntnis und insbesondere auch die Objekte dieser Erkenntnis erst ermöglicht. Der Verstand prägt die Erfahrung durch die für die Erkenntnis von Objekten notwendige Anwendung der Kategorien, wodurch sich Kant zufolge die Gültigkeit der Kategorien im Bereich der Erfahrung erklärt. Doch nun schließt sich unmittelbar ein weiteres Problem an, denn selbst wenn gezeigt ist, dass die Anwendung der Kategorien eine notwendige Bedingung objektiver Erkenntnis ist, kann man im nächsten Schritt fragen, wie denn eine solche Anwendung überhaupt möglich sein soll. Wir haben es hier wiederum mit einer paradoxen Situation zu tun, denn obwohl nach dem vorher Gesagten die
Die genaue Rekonstruktion des Argumentationsganges dieses besonders schwierigen Abschnittes ist bekanntermaßen äußerst umstritten. Siehe Thöle (1991, Kap. 1) für eine sehr hilfreiche Darstellung einiger zentraler Punkte dieser Debatte. Ich muss mich hier darauf beschränken, die Grundidee dieses Abschnittes, so wie sie mir vor dem Hintergrund des in diesem Kapitel Erarbeiteten richtig erscheint, zu skizzieren.
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Anwendung offenbar gegeben ist (denn wir haben ja objektive Erkenntnis), erscheint doch die Möglichkeit zunächst fraglich: In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit der letzteren g l e i c h a r t i g sein […], denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe enthalten. […] Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig, und können niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die S u b s u m t i o n der letzteren unter die erste, mithin die A n w e n d u n g der Kategorie auf Erscheinungen möglich, da doch niemand sagen wird: diese, z. B. die Kausalität, könne auch durch Sinne angeschauet werden und sei in der Erscheinung enthalten […]? (KrV, A 137 f. / B 176 f.)
Die Andersartigkeit der Kategorien im Vergleich zu den Anschauungen, auf die sie „passen“ sollen, ist für Kant offenbar etwas, was der Möglichkeit der Anwendung der Kategorien prima facie widerspricht. Das Problem kann so beschrieben werden, dass die Katgorien zunächst einmal einen bloß logischen Gehalt haben, weil sie vollständig auf die logischen Verstandesfunktionen zurückgehen. Die Erfahrung hingegen präsentiert sich jedoch zunächst einmal nicht in logischer Form, sondern in raum-zeitlicher Form.⁸⁴ Im Schematismus-Abschnitt setzt sich Kant also das Ziel, zu erklären, wie die Anwendung der Kategorien – die doch möglich sein muss, weil wir ja schließlich objektive Erkenntnis haben – möglich ist. Dies tut er, indem er den Kategorien sogenannte Schemata zuordnet, bei denen es sich um vermittelnde Instanzen zwischen den Kategorien und den Anschauungen handeln soll, die „einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen“ müssen (KrV, A 138 / B 177). Nachdem Kant sich in den bisher skizzierten Abschnitten mit den Kategorien beschäftigt hat, geht es ihm im Folgenden darum zu zeigen, wie es möglich ist, dass bestimmte Grundsätze a priori im Bereich der Erfahrung gelten. Schon im Rahmen der B-Deduktion hat Kant erläutert: Kategorien sind Begriffe, welche den Erscheinungen […] Gesetze a priori vorschreiben, und nun frägt sich, […] wie es zu begreifen sei, daß die Natur sich nach ihnen richten müsse […] (KrV, B 163)
Vgl. Guyer (2006, 96).
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Die Analogien der Erfahrung sind drei dieser Gesetze a priori, und zwar diejenigen, die mit den drei Relations-Kategorien verknüpft sind.⁸⁵ Wie kann ihre Gültigkeit Kant zufolge erklärt werden? Kants Grundidee im Abschnitt über die Analogien der Erfahrung besteht darin, dass diese Grundsätze ihre Gültigkeit aus dem Umstand beziehen, dass ihre Voraussetzung eine notwendige Bedingung für die objektive Zeitbestimmung der Gegenstände der Erfahrung ist.⁸⁶ Der Verstand schreibt also der Erfahrung allgemeine Naturgesetze in Form der Analogien vor, und zwar notwendigerweise: Die Analogien sind erkenntniskonstitutiv; ohne sie wäre keine objektive Zeitbestimmung und somit auch keine Erkenntnis von Gegenständen der Erfahrung möglich. Dies erklärt Kant zufolge die Gültigkeit der Analogien als synthetische Urteile a priori im Bereich der Erfahrung.⁸⁷ Aus seiner Erklärung, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, kann Kant nun weitere Ergebnisse ableiten, deren Konsequenzen in der Transzendentalen Dialektik genauer verfolgt werden: Da die Kategorien und Grundsätze ihre Gültigkeit aus dem Umstand beziehen, dass sie notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind, ist ihre Gültigkeit auch auf den Bereich der Erfahrung beschränkt. Insbesondere können sie nicht als Grundlage für einen Erkenntnisgewinn im Rahmen einer transzendenten Metaphysik herangezogen werden: Eine Erklärung der Gültigkeit der Kategorien und Grundsätze in diesem Bereich hält Kant für schlichtweg unmöglich.⁸⁸
Das genaue Verhältnis des Grundsatz-Kapitels zur transzendentalen Deduktion der Kategorien ist mit einigen Schwierigkeiten behaftet. Man kann insbesondere die Frage stellen, weshalb Kant, nachdem er für das gerade zitierte „Rätsel“ schon in § 26 der B-Deduktion eine „Auflösung“ (KrV, B 163) präsentiert hat, die Gültigkeit der Grundsätze im Grundsatzkapitel noch einmal auf eine andere Art erklärt und wie sich diese Erklärungen zueinander verhalten. Vgl. Melnick (1973, 52) und Thöle (1991, 4).Vaihinger (1881, 442, Fn. 3) geht so weit, zu behaupten, dass „es g ä n z l i c h u n m ö g l i c h [ist], zwischen der Analytik der Begriffe und der Grundsätze Harmonie zu stiften.“ (Hervorhebung im Original) Ich werde mich an dieser Stelle auf ein paar knappe Bemerkungen zu den Analogien der Erfahrung beschränken, von denen insbesondere die zweite Analogie für das Thema dieser Arbeit von besonderer Relevanz ist, wobei ich tiefere Schwierigkeiten des Zusammenhangs mit dem Deduktions-Kapitel ausblende. „[D]ie drei Analogien der Erfahrung […] sind nichts anderes, als Grundsätze der Bestimmung des Daseins der Erscheinungen in der Zeit […].“ (KrV, A 215 / B 263) So heißt es etwa über die zweite Analogie: „Der Grundsatz des Kausalverhältnisses in der Folge der Erscheinungen gilt daher auch vor allen Gegenständen der Erfahrung […], weil er selbst der Grund der Möglichkeit einer solchen Erfahrung ist.“ (KrV, A 201 / B 247) Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung wird unten in Kapitel 3 ausführlich analysiert. „Wären die Gegenstände, womit unsre Erkenntnis zu tun hat, Dinge an sich selbst, so würden wir von diesen gar keine Begriffe a priori haben können.“ (KrV, A 128) „[W]ären die Gegenstände,
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Nach diesem knappen Überblick über Kants Vorgehen in der Transzendentalen Analytik bleibt nun noch abschließend zu klären, welchen Raum eine Frage, die in der Einleitung als eine der Hauptfragen dieser Arbeit vorgestellt wurde, nämlich die Frage nach der Rechtfertigung empirischer Naturgesetze, in Kants kritischem Projekt einnimmt.
2.4.2 Fazit – Die Rolle der Frage der Rechtfertigung empirischer Naturgesetze im Rahmen von Kants kritischem Ansatz Wenn wir die Betrachtungen des letzten Abschnittes auf die in diesem Kapitel behandelte Streitfrage übertragen, ergibt sich, dass Kant im Rahmen der synthetischen Methode der Kritik nicht in erster Linie darauf aus ist, einen Humeschen Skeptizismus in Bezug auf die Gültigkeit des Begriffes der Kausalität im Bereich der Wissenschaft und der Alltagserfahrung zu widerlegen. Sein vorrangiges Ziel besteht darin, zu erklären, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, wodurch er zugleich zeigt, dass sein Ansatz, anders als Humes, kompatibel ist mit der für selbstverständlich hingenommenen Gültigkeit des Kausalitätsbegriffes im Bereich der Erfahrung. Die hauptsächlichen Adäquatheitskriterien für seine Theorie, die Kant sich selbst auferlegt, bestehen darin, dass gezeigt werden muss, wie durch diese Theorie die Widersprüche der Metaphysik aufgehoben und die Möglichkeit des praktischen Vernunftgebrauchs etabliert werden können. Um diese Ziele zu erreichen, muss als weiteres, derivatives Kriterium erfüllt sein, dass die Theorie nicht zu absurden skeptischen Konsequenzen in Bezug auf Wissenschaft und Alltagserfahrung führt. Kant zufolge werden diese Kriterien durch den transzendentalen Idealismus und durch keine andere Theorie erfüllt. Dies allein stellt aus Kants Sicht bereits eine starke Rechtfertigung seiner Position dar. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun klären, wie sich dieses Ergebnis auf die Frage auswirkt, welche Rolle die Rechtfertigung empirischer Naturgesetze im Rahmen von Kants Ansatz spielt. Wie wir gesehen haben, ist Kant in der Kritik der reinen Vernunft im Zusammenhang mit Humes Kausalitätsskepsis in erster Linie an metaphysischen Problemen interessiert. Es hat sich außerdem gezeigt, dass es aus Kants Sicht für die Kritik an der transzendenten Metaphysik zentral ist, dass gezeigt werden kann, dass die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori in den Wissenschaften im Rahmen seines Ansatzes erklärt werden kann. Empirische Naturgesetze sind jedoch keine a priori gültigen Gesetze. Insofern könnte man den
auf welche diese Grundsätze bezogen werden sollen, Dinge an sich selbst; so wäre es ganz unmöglich, etwas von ihnen a priori synthetisch zu erkennen.“ (KrV, A 181 / B 223)
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Eindruck gewinnen, dass sie für Kants Hauptanliegen keine tragende Rolle spielen. Und tatsächlich ist es so, dass Kant konkreten empirischen Naturgesetzen und der Frage ihrer Rechtfertigung in der Kritik der reinen Vernunft kaum Beachtung schenkt. Tatsächlich lässt sich im Anschluss an die Ergebnisse dieses Kapitels jedoch gut sehen, dass die Frage der Rechtfertigung empirischer Naturgesetze zumindest indirekt eine wichtige Rolle für Kants kritisches Projekt spielt. Denn ähnlich wie ein Skeptizismus in Bezug auf die Gültigkeit synthetischer Urteile a priori in den Wissenschaften, den Kant unbedingt zu vermeiden sucht, wäre es für Kant ein katastrophales Ergebnis, wenn sich zeigte, dass sich im Rahmen seines Ansatzes nicht einsehen lässt, wie wir Urteile über das Bestehen empirischer Naturgesetze rechtfertigen können. Denn Kant geht sicherlich davon aus, dass es gerechtfertigte Urteile über das Bestehen bestimmter empirischer Naturgesetze gibt. Das Faktum der Wissenschaft, von dem Kant ausgeht, besteht sicherlich nicht nur in „der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse a priori, die wir haben“ (KrV, B 128), sondern auch in der Wirklichkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen a posteriori.⁸⁹ Wenn sich dies als mit seinem kritischen Ansatz unvereinbar erweisen sollte, dürfte es sich hierbei für ihn ebenfalls um ein katastrophales Ergebnis handeln. Und wie wir bereits zu Beginn dieser Arbeit in der Einleitung gesehen haben, gibt es diesbezüglich prima facie sogar Anlass zur Sorge, denn Kant zufolge gelten empirische Naturgesetze mit Notwendigkeit und notwendige Zusammenhänge, so hat sich Kant von Hume überzeugen lassen, lassen sich nicht empirisch rechtfertigen. Wie ist es also möglich, dass wir über gerechtfertigte Urteile bezüglich des Bestehens von notwendigen empirischen Naturgesetzen verfügen? Es mag sein, dass dieses Problem für Kant im Laufe der Zeit immer deutlicher geworden ist, denn in den Metaphysischen Anfangsgründen von 1786 und der Kritik der Urteilskraft von 1790 wird die Frage der Rechtfertigung empirischer Naturgesetze insbesondere im Zusammenhang mit ihrem Status als notwendige Gesetze explizit thematisiert.⁹⁰ Bevor wir uns ab Kapitel 4 diesen Schriften zu-
So heißt es etwa in den Prolegomena: „Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur vermittelst der Erfahrung wissen können […].“ (Prol, AA 4: 319) Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, spielt das Thema der Rechtfertigung empirischer Naturgesetze auch in der Kritik der reinen Vernunft, nämlich im Anhang zur Transzendentalen Dialektik, bereits eine gewisse Rolle. Dort wird es jedoch nur am Rande erwähnt (siehe hierzu insbesondere Abschnitt 5.3). Der Zusammenhang zwischen dem im Anhang zur Transzendentalen Dialektik erarbeiteten Prinzip der Systematizität und dem Auffinden sowie der Rechtfertigung empirischer Naturgesetze erschließt sich eigentlich erst in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft, die in Kapitel 6 daraufhin untersucht werden.
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wenden, müssen wir uns im nächsten Kapitel jedoch noch einem für das Thema zentralen Abschnitt aus der Kritik der reinen Vernunft zuwenden. Im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung geht es zwar nicht direkt um die Frage, wie die Rechtfertigung bestimmter empirischer Kausalgesetze im Rahmen des kritischen Ansatzes erklärt werden kann. Aber wie sich zeigen wird, steht eine damit im Zusammenhang stehende allgemeinere Frage im Vordergrund: Wie ist es im Rahmen von Kants Ansatz möglich, allgemein einzusehen, dass in der Natur notwendige empirische Kausalgesetze gelten?
3 Die zweite Analogie der Erfahrung In der Kant-Literatur wurde der Abschnitt zur zweiten Analogie der Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft häufig als der für Kants Antwort auf Hume zentrale Abschnitt betrachtet. Unstrittig dürfte folgendes sein: In diesem Abschnitt geht es Kant darum, die Gründe für die Gültigkeit des allgemeinen Kausalsatzes darzulegen, dem zufolge jede Veränderung eine Ursache hat. Es ist jedoch in der aktuellen Kant-Literatur äußerst umstritten, inwieweit die Ergebnisse dieses Abschnitts eine Relevanz für die Frage nach der Existenz und Notwendigkeit konkreter empirischer Naturgesetze haben. Auf der einen Seite vertreten viele Interpreten ausgehend von Arbeiten Gerd Buchdahls die Auffassung, dass Kant in der zweiten Analogie der Erfahrung nicht den Anspruch erhebt, die Existenz von empirischen Naturgesetzen aufzuzeigen, die mit Notwendigkeit gelten.¹ Eine Perspektive, aus der Kausalbeziehungen als Siehe Friedman (1992a, 193, Fn. 7), der eine ganze Reihe solcher Autoren aufzählt. Die Autoren, die Buchdahl folgen, stimmen alle darin überein, dass sie die Rolle des Prinzips der Systematizität im Zusammenhang mit der Fundierung der Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze hervorheben und auf der anderen Seite bestreiten, dass der Verstand der Ursprung dieser Notwendigkeit ist. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass sich die Positionen dieser Autoren hinsichtlich der Interpretation des Abschnittes über die zweite Analogie der Erfahrung voneinander unterscheiden. Auf diese Interpretationen und ihre Unterschiede werde ich nicht ausführlich eingehen. Statt dessen möchte ich positiv aufzeigen, dass Kant sich mit der zweiten Analogie auf die Existenz und Notwendigkeit empirischer Gesetze festlegt und die Interpretationen der von Buchdahl ausgehenden Strömung daher insgesamt falsch liegen müssen. Als ein wichtiger Vertreter der von Buchdahl ausgehenden Interpretationsrichtung wird häufig Henry E. Allison genannt; mitunter ist gar von der „Buchdahl/Allison interpretation“ (Longuenesse 2005, 144) die Rede. Dies lässt sich gut dadurch begründen, dass sich Allison in (1996) in die Traditionslinie Buchdahls einordnet und in diesem Zusammenhang insbesondere in Auseinandersetzung mit Friedmans Lesart bestreitet, dass Kant mit der zweiten Analogie der Erfahrung auch die Existenz und Notwendigkeit empirischer Naturgesetze nachweisen möchte. Buchdahl (1969, 500 ff.; 651 ff.) bestreitet explizit, dass Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung darauf ausgerichtet ist, die Existenz empirischer Naturgesetze aufzuzeigen. (Siehe zu Buchdahls Konzeption auch Buchdahl (1965), (1967) und (1971).) Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Allison an anderer Stelle eine ganz andere Position zu vertreten scheint: „[W]e see that the Second Analogy enables us to determine a priori that for any given event y, there must be some antecedent event x from which y follows in accordance with a rule, but it does not guarantee that it can be found. Otherwise expressed, it does not ensure that we shall be able to distinguish between merely contingent regularities and genuine causal connections.“ (Allison 2004, 258 f.; Hervorhebungen im Original) „Returning to the Second Analogy, the obvious question that arises at this point is why, since we supposedly know that every occurrence must fall under a causal law, there remains a substantive issue regarding the determinability of such laws and of particular causes. […] Although this is an important question, it is not addressed in the Transcendental https://doi.org/10.1515/9783110697209-005
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unter notwendigen Gesetzen stehend betrachtet werden können, ergibt sich dieser Interpretationsströmung zufolge erst im Zusammenhang mit der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur, die Anlass gibt, empirisch erfasste Regularitäten in einen systematischen Zusammenhang zu bringen und sie dadurch in den Stand von notwendigen Gesetzen zu erheben.² Auf der anderen Seite vertritt Michael Friedman die Position, dass Kant in der zweiten Analogie der Erfahrung durchaus beansprucht, die Existenz notwendiger empirischer Naturgesetze nachzuweisen.³ Friedman führt zum einen zahlreiche Zitate Kants an, die ihm zufolge diesen Anspruch eindeutig zum Ausdruck bringen. Zum anderen verfolgt er in einer sorgfältigen Rekonstruktion zentraler Argumente der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) das Ziel zu zeigen, dass Kant beansprucht, die Notwendigkeit zumindest eines Naturgesetzes, nämlich des Newtonschen Gravitationsgesetzes, in einem mehrschrittigen Verfahren unter Einbeziehung empirischer Beobachtungen aus den Analogien der Erfahrung herzuleiten. Ich möchte in Kapitel 4 Friedmans Rekonstruktion der relevanten Abschnitte der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft nachvollziehen. Zuvor werde ich jedoch Kants Argument in der zweiten Analogie der Erfahrung einer Analyse unterziehen, um zu ergründen, ob es Kant dort gelingt, die Existenz notwendiger empirischer Naturgesetze aufzuzeigen.⁴
Analytic. Kant does, however, treat it briefly in the Appendix to the Transcendental Dialectic […] and more expansively in the Introductions to the third Critique […].“ (Allison 2004, 259) An diesen Stellen verstehe ich Allison so, dass für Kant aus der zweiten Analogie der Erfahrung eben doch die Existenz und auch die Notwendigkeit empirischer Gesetze folgt und lediglich ein epistemisches Problem der Erkenntnis dieser Gesetze übrig bleibt, das von Kant an anderen Stellen angegangen wird. Wenn dies Allisons Position ist, weicht er aber meines Erachtens gar nicht besonders weit von Friedmans Position ab und auch die Lesart, die ich hier und in den nächsten Kapiteln erarbeiten möchte, stimmt mit diesen beiden Zitaten sogar größtenteils überein. (Die Abweichung betrifft dann im Wesentlichen die Rolle, die Friedman den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zuweist, worauf wir in Kapitel 4 genauer zu sprechen kommen.) Auf die Rolle der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur werde ich genauer in den Kapiteln 5 und 6 zu sprechen kommen. Siehe insbesondere Friedman (1992a), (1992c), (2012) sowie DePierris / Friedman (2013). Den Ergebnissen des zweiten Kapitels entsprechend glaube ich streng genommen nicht, dass Kant die Existenz notwendiger empirischer Naturgesetze nachweisen möchte, sondern dass er auf der Grundlage der Ressourcen seiner Theorie erklären möchte, wie es möglich ist, dass empirische Naturgesetze mit Notwendigkeit gelten und wir darüber Erkenntnis haben können. Ich werde im Folgenden trotzdem manchmal die von Kant selbst verwendete Formulierung „Beweis“ im Zusammenhang mit der zweiten Analogie der Erfahrung oder auch die Formulierung „Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung“ verwenden. Der Grund hierfür ist sprachliche
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Außerdem möchte ich herausarbeiten, dass selbst in dem Fall, dass Kant diesem Anspruch tatsächlich gerecht wird, in der zweiten Analogie der Erfahrung noch ein Problem offen bleibt: Selbst wenn Kant in der Lage sein sollte, den Nachweis zu erbringen, dass notwendige empirische Naturgesetze existieren, bleibt in der zweiten Analogie der Erfahrung jedoch offen, wie wir diese erkennen können.⁵ Jede Regularität in der Abfolge von Ereignissen, die wir beobachten und für die Folge eines notwendigen Gesetzes halten, kann sich im Nachhinein als kontingente Regularität erweisen, der kein Gesetz entspricht. Die Frage, die sich im Zusammenhang mit Kants Argumentation für die zweite Analogie der Erfahrung stellt, ist insbesondere, wie wir mit alltäglicheren Fällen von Erkenntnis umgehen, denn Kant zufolge beinhalten auch Urteile wie „Die Sonne erhitzt den Stein“ und „Das Schiff fährt flussabwärts“ eine Festlegung auf notwendige Naturgesetze.⁶ Schon um solche recht alltäglichen Urteile rechtfertigen zu können, müssen wir also in der Lage sein, empirische Gesetzesannahmen zu rechtfertigen. In den folgenden Kapiteln 4, 5 und 6 soll es daher um Abschnitte bei Kant gehen, in denen über diese Problematik Aufklärung zu erhoffen ist.
3.1 Vorbetrachtungen 3.1.1 Der Grundgedanke des Beweises Bevor wir auf den Beweisgang der zweiten Analogie der Erfahrung eingehen, müssen wir uns den Grundgedanken des Beweises verdeutlichen, um später vor dem Hintergrund dieser Grundidee die einzelnen Beweisschritte besser bewerten zu können. Die zweite Analogie der Erfahrung steht zusammen mit den beiden anderen Analogien der Erfahrung in einem interessanten Verhältnis zur transzendentalen Deduktion der Kategorien. Wie wir schon im zweiten Kapitel gesehen haben, handelt es sich bei der transzendentalen Deduktion nach Kants eigener Auskunft um „die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Objekte beziehen können“
Ökonomie. Gemeint ist den Ergebnissen des zweiten Kapitels entsprechend jeweils, dass Kant zeigen möchte, dass die zweite Analogie der Erfahrung, die er von vornherein für gültig hält, innerhalb seiner Theorie des transzendentalen Idealismus tatsächlich durch ein transzendentales Argument ableitbar ist. Vgl. Allison (2004, 258 f.). Siehe hierzu auch oben, Fn. 1 in diesem Kapitel. Vgl. Kitcher (1994, 258). Kitcher hält dies insbesondere für ein Problem für Friedmans Interpretation. Siehe auch Longuenesse (2005, 171).
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(KrV, A 85 / B 117).⁷ Die Grundidee der Deduktion besteht darin zu zeigen, dass die Anwendung der Kategorien eine notwendige Bedingung dafür ist, dass wir uns mit unseren Vorstellungen auf Objekte beziehen können. Die Beweise der drei Analogien der Erfahrung können – ebenso wie auch die Beweise der anderen Grundsätze des Verstandes – in gewisser Weise als Spezifizierung der Deduktion verstanden werden: Es wird in den Beweisen der drei Analogien für die drei Relationskategorien (Substanz/Akzidens, Kausalität und Gemeinschaft) gezeigt, wie diese einen notwendigen Beitrag zur Möglichkeit von objektiver Erkenntnis leisten.⁸ Der Grundgedanke des im Folgenden zu betrachtenden Beweises der zweiten Analogie der Erfahrung⁹ lässt sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen formulieren: Die zweite Analogie der Erfahrung ist eine notwendige Voraussetzung für objektive Erkenntnis, und zwar genauer in dem Sinne, dass die Gültigkeit der zweiten Analogie eine Voraussetzung dafür ist, dass wir überhaupt in der Lage sind, von unseren subjektiven Wahrnehmungen ein Objekt zu unterscheiden, auf das sich unsere Wahrnehmungen beziehen. Die in diesem Grundgedanken ausgedrückte Behauptung ist natürlich keineswegs trivial, sodass wir von Kant hierfür eine Begründung erwarten können. Wir werden daher bei der Rekonstruktion des Argumentverlaufs ein Augenmerk darauf zu richten haben, inwiefern die zweite Analogie tatsächlich zur Möglichkeit von Objektbezug beiträgt. Um zu untermauern, dass sich dieser Grundgedanke tatsächlich hinter Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung verbirgt, möchte ich nun ein paar Textstellen anführen, die genau dies zum Ausdruck bringen. Da Kant sein Argument im Verlauf des Textes mehrfach reformuliert, gibt es gleich mehrere Stellen. […] Erscheinung, im Gegenverhältnis mit den Vorstellungen der Apprehension, [kann] nur dadurch als das davon unterschiedene Objekt derselben […] vorgestellt werden, wenn sie
Siehe oben, Abschnitt 2.4.1. In diesem Sinne interpretiert etwa Melnick die zweite Analogie als konkretisierende Fortsetzung der transzendentalen Deduktion. Zur transzendentalen Deduktion schreibt er: „We shall argue presently that the categories must be employed if what is given is to be an object of judgment, and thus that the categories are essential for a form of consciousness in which the subject can distinguish himself from what he is conscious of.“ (Melnick 1973, 44) Für die Übertragung dieses Gedankens auf die Analogien der Erfahrung siehe Melnick (1973, 48 ff.). Eine ähnliche Position vertritt auch Guyer (1987, Kap. 8). Wie schon oben in Kap. 2, Fn. 85, angemerkt, ist das genaue Verhältnis der Deduktion zu den Analogien etwas komplizierter. Die hier angeführten Bemerkungen genügen jedoch, um sich ein Bild von der Grundidee der Beweise der Analogien zu machen. Das Folgende gilt entsprechend auch für die beiden anderen Analogien. Die drei Analogien unterscheiden sich dadurch, dass sie unterschiedliche Aspekte des Objektbezugs betreffen.
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unter einer Regel steht, welche sie von jeder anderen Apprehension unterscheidet, und eine Art der Verbindung des Mannigfaltigen notwendig macht. (KrV, A 191 / B 236)
Wir sehen hier, dass es Kant um die Frage geht, wie wir ein Objekt – die Erscheinung – von unseren subjektiven Vorstellungen unterscheiden können. Die Bedingung hierfür besteht Kant zufolge darin, dass das Objekt unter einer Regel steht, die eine bestimmte Verbindung der Vorstellungen notwendig macht. Wie wir später sehen werden, meint Kant hiermit unter anderem, dass wir die Zustände des Objektes als einem empirischen Kausalgesetz unterworfen vorstellen müssen, damit wir in der Lage sind, verschiedene aufeinanderfolgende Wahrnehmungen zu einem Wahrnehmungskomplex eines Objektes zu verbinden. Ganz ähnlich heißt es wenige Seiten später: Man setze, es gehe vor einer Begebenheit nichts vorher, worauf dieselbe nach einer Regel folgen müßte, so wäre alle Folge der Wahrnehmung nur lediglich in der Apprehension, d. i. bloß subjektiv, aber dadurch gar nicht objektiv bestimmt, welches eigentlich das Vorhergehende, und welches das Nachfolgende der Wahrnehmungen sein müsste. Wir würden auf solche Weise nur ein Spiel der Vorstellungen haben, das sich auf gar kein Objekt bezöge […]. (KrV, A 194 / B 239)
Auch hier besteht Kants Idee offenbar darin, dass wir von der kausalen Bedingtheit eines Ereignisses ausgehen müssen, wenn wir in der Lage sein wollen, unsere subjektiven Wahrnehmungen in eine Ordnung zu bringen und sie dadurch auf ein Objekt zu beziehen. Wie wir hier außerdem sehen können, geht es Kant offenbar darum, dass die Wahrnehmungen hierfür in eine zeitliche Ordnung gebracht werden müssen – ein weiterer Grundgedanke der Argumentation, auf den wir später ausführlich zurückkommen werden. Erneut nur wenige Seiten später begegnet uns dieser Gedanke ein weiteres mal: Wir haben Vorstellungen in uns, deren wir uns auch bewußt werden können. […] Wie kommen wir nun dazu, daß wir diesen Vorstellungen ein Objekt setzen, oder über ihre subjektive Realität, als Modifikationen, ihnen noch, ich weiß nicht, was für eine, objektive beilegen? […] [N]ur dadurch, daß eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse unserer Vorstellungen notwendig ist, [wird] ihnen objektive Bedeutung erteilet […]. (KrV, A 197 / B 242 f.)
Und wiederum wenige Seiten später heißt es: Zu aller Erfahrung und ihrer Möglichkeit gehört Verstand, und das erste, was er dazu tut, ist nicht: daß er die Vorstellung der Gegenstände deutlich macht, sondern daß er die Vorstel-
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lung eines Gegenstandes überhaupt möglich macht. Dieses geschiehet nun dadurch, daß er die Zeitordnung auf die Erscheinungen und deren Dasein überträgt […]. (KrV, A 199 / B 244 f.)
Kants Beweisidee für die zweite Analogie der Erfahrung besteht also offenbar darin, dass die Analogie – bei der es sich um den allgemeinen Kausalsatz handelt¹⁰ – eine notwendige Bedingung dafür ist, dass wir überhaupt in der Lage sind, subjektive Wahrnehmungen auf Objekte zu beziehen. Dies soll die zweite Analogie Kant zufolge insbesondere dadurch ermöglichen, dass sie uns die Möglichkeit eröffnet, eine Ordnung der Zeitverhältnisse auf die Objekte unserer Wahrnehmungen zu übertragen. Diese Schritte der Argumentation gilt es im Folgenden genauer zu verstehen. Diese Grundidee des Beweises der zweiten Analogie ist eingebettet in eine allgemeinere Überlegung, die alle drei Analogien der Erfahrung und ihre Rolle im Zusammenhang mit Erkenntnis umfasst. Kant stellt den drei Analogien der Erfahrung in der B-Auflage ein allgemeines Prinzip voran, das allen Analogien gemeinsam zugrunde liegt. Dieses Prinzip lautet: Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich. (KrV, B 218)
Die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung ist eine Vorstellung, die Kant zufolge nur a priori entspringen kann.¹¹ Sie ist gerade diejenige Vorstellung, die in allen drei Relations-Kategorien enthalten ist¹², von denen jede jeweils der zentrale Begriff einer der drei Analogien ist. Der Grundgedanke der drei Analogien, wie er im gerade zitierten Prinzip zum Ausdruck kommt, besteht also offenbar darin, dass Erfahrung nur dadurch möglich ist, dass die drei Relations-Kategorien der Substanz, der Kausalität und der Gemeinschaft und damit insbesondere die in allen dreien enthaltene Vorstellung der Notwendigkeit auf Wahrnehmungen angewandt werden. Dies wird in den drei Analogien für jeweils eine der drei Relations-Kategorien konkret ausgeführt und eigens bewiesen.
Eine genauere Analyse von Kants Formulierung der zweiten Analogie erfolgt unten in Abschnitt 3.2.1. In Bezug auf die in der Kategorie der Kausalität enthaltene Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung macht Kant dies etwa an folgender Stelle in der A-Deduktion explizit: „Alle Versuche, jene reine Verstandesbegriffe von der Erfahrung abzuleiten, und ihnen einen bloß empirischen Ursprung zuzuschreiben, sind also ganz eitel und vergeblich. Ich will davon nichts erwähnen, daß z. E. der Begriff einer Ursache den Zug von Notwendigkeit bei sich führt, welche gar keine Erfahrung geben kann […].“ (KrV, A 112) Siehe auch KrV, A 91 / B 123 f. Siehe etwa Prol, AA 4: 310 f.
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Kants zentrale These an dieser Stelle besteht also darin, dass Wahrnehmungen allein noch keine Erfahrung ausmachen, sondern dass die Wahrnehmungen durch die drei Relations-Kategorien miteinander verknüpft werden müssen. Unter Erfahrung versteht Kant „ein empirisches Erkenntnis, d. i. ein Erkenntnis, das durch Wahrnehmungen ein Objekt bestimmt.“ (KrV, B 218) Wahrnehmungen sind also zwar notwendig für Erfahrung, aber nicht hinreichend, denn ohne die verknüpfenden Relationskategorien wird von den Wahrnehmungen noch kein Objekt bestimmt. Aber was bedeutet das genau? Um dies genauer zu verstehen, muss man sich zunächst genauer vergegenwärtigen, was Kant im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung unter einer Wahrnehmung versteht.
3.1.2 Wahrnehmungen und Objektbezug Der Begriff der Wahrnehmung ist bei Kant eng verknüpft mit dem Begriff der Anschauung. An manchen Stellen verwendet Kant den Begriff der Wahrnehmung offenbar synonym mit dem der empirischen Anschauung, etwa wenn er festhält, dass die reinen Formen der Sinnlichkeit „aller empirischen Anschauung, d. i. der Wahrnehmung wirklicher Gegenstände“ vorausgehen (Prol, AA 4: 283).¹³ An anderen Stellen klingt es zunächst so, als hätte Kant einen etwas engeren Begriff der Wahrnehmung vor Augen. So erläutert er im Rahmen der B-Deduktion an einer Stelle, dass es sich bei einer Wahrnehmung um ein „empirisches Bewusstsein [einer empirischen Anschauung], (als Erscheinung)“ (KrV, B 160) handelt. Dies kann so verstanden werden, dass es sich bei einer Wahrnehmung um den bewusstgemachten Gehalt einer empirischen Anschauung handelt.¹⁴ Es klingt an den entsprechenden Stellen bei Kant so, als müsste zu einer empirischen Anschauung noch etwas hinzutreten, damit sie zu einer Wahrnehmung wird, nämlich ein Bewusstsein von dem Gehalt der Anschauung. Andererseits sind jedoch bereits Anschauungen (wie auch Empfindungen und Begriffe) nach der sogenannten Stufenleiter der Vorstellungen (KrV, A 320 / B 376 f.) eine Unterklasse der Vorstellungen mit Bewusstsein. Es liegt daher meines Erachtens nahe, die Stellen, an denen Kant Wahrnehmungen als empirische Anschauungen mit Bewusstsein charakterisiert, so zu verstehen, dass diese Charakterisierung streng genommen redundant ist und er mit dem Bewusstsein von dem Gehalt der Anschauung etwas hervorhebt, das eigentlich schon in dem Begriff der Anschauung enthalten ist.
Vgl. Freudiger (1991, 416). Vgl. Allison (2004, 193).
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Nach dieser Lesart ist der Begriff der Wahrnehmung also auch an diesen Stellen synonym mit dem Begriff der empirischen Anschauung. Dieses Verständnis von Wahrnehmungen führt jedoch im Zusammenhang mit dem oben herausgestellten Argumentationsziel der Analogien der Erfahrung zu einem Problem, denn dort haben wir gesehen, dass es in den Analogien der Erfahrung um die Bedingungen dafür gehen soll, dass sich Wahrnehmungen auf Objekte beziehen können. Insbesondere ist es nach dem oben zitierten allgemeinen Prinzip der Analogien erforderlich, dass Wahrnehmungen miteinander verknüpft werden, damit sie zu einer Erfahrung werden. Damit möchte Kant insbesondere darauf hinweisen, dass Wahrnehmungen erst durch solch eine Verknüpfung einen Gegenstandsbezug erhalten. Dies wirft vor dem Hintergrund des gerade skizzierten Wahrnehmungsbegriffes Fragen auf, denn wenn Wahrnehmungen empirische Anschauungen sind, ist unklar, weshalb sie nicht schon für sich genommen einen Bezug auf ein Objekt haben. Denn wie jeder aufmerksame Leser der Kritik der reinen Vernunft weiß, beziehen sich empirische Anschauungen – und, wie wir nun folgern müssen, entsprechend auch Wahrnehmungen – Kant zufolge auf Gegenstände: Wie Kant an prominenter Stelle zu Beginn der Transzendentalen Ästhetik festhält, sind Anschauungen sogar diejenigen unserer Vorstellungen, die sich unmittelbar auf Gegenstände beziehen, wohingegen Begriffe sich nur mittelbar über Anschauungen auf Gegenstände beziehen lassen (KrV, A 19 / B 33). Auch in Hinblick auf Wahrnehmungen hält Kant an anderer Stelle explizit fest: Alle äußere Wahrnehmung also beweiset unmittelbar etwas Wirkliches im Raume, oder ist vielmehr das Wirkliche selbst und in so fern ist also der empirische Realismus außer Zweifel, d. i. es korrespondiert unseren äußeren Anschauungen etwas Wirkliches im Raume. (KrV, A 375)
Nach dieser Feststellung scheint klar zu sein, dass Wahrnehmungen sich auf Gegenstände beziehen, und zwar ohne, dass sie miteinander verknüpft werden müssten: Sie repräsentieren unmittelbar etwas, was sich im Raum, also außer uns befindet. Dies scheint mit dem oben herausgestellten Argumentationsziel der Analogien der Erfahrung, nach dem dieser Gegenstandsbezug erst durch eine Verknüpfung von Wahrnehmungen zustande kommt, nicht zusammenzupassen. Um diese Problemlage zu entwirren, müssen wir in den nächsten beiden Abschnitten einen Blick auf Kants Konzeption der Genese von Anschauungen, und zwar insbesondere auf die Genese von empirischen Anschauungen, also Wahrnehmungen, werfen, die er im Rahmen der transzendentalen Deduktion der Kategorien in der A-Auflage der Kritik der reinen Vernunft am ausführlichsten entwickelt. Dort geht es unter anderem darum, wie durch einen Synthesis-Prozess
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aus empirisch gegebenem Material eine empirische Anschauung entsteht. In Abschnitt 3.1.5 werden wir dann sehen, dass es Kant im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung ebenfalls um eine Synthesis geht, die jedoch auf einer höheren Ebene stattfindet: Dort geht es um die Vereinigung von mehreren Wahrnehmungen zu einer noch komplexeren Vorstellung eines Gegenstandes. Es wird zu klären sein, inwiefern es erst diese Synthesis auf der höheren Ebene ist, die zu einem Objektbezug im vollumfänglichen Sinne führt.
3.1.3 Synthesis in der A-Deduktion – Die Grundidee Anschauungen sind Kant zufolge nicht, wie man vielleicht meinen könnte, das Resultat einer lediglich passiven Rezeption. Die Entstehung von Anschauungen beschreibt Kant als eine Folge von Synthesis-Schritten. Das, was einem wahrnehmenden Subjekt unmittelbar gegeben ist, ist nicht eine fertige Anschauung mit Objektbezug, sondern lediglich das Material, aus dem eine Anschauung gebildet werden kann. Was Kant unter der Synthesis versteht, aus der Anschauungen entstehen, beschreibt er zunächst einmal ganz allgemein wie folgt: Ich verstehe aber unter S y n t h e s i s in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen. (KrV, A 77 / B 103)
Mit dem Wort „Handlung“ möchte Kant nicht ausdrücken, dass es sich um einen Vorgang handelt, der auf einer Absicht beruht.¹⁵ Im Gegenteil, Kant beschreibt die Synthesis als „die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind.“ (KrV, A 78 / B 103)¹⁶ Es
Vgl. Haag (2007, 178). Hier wird eine Ambiguität im Begriff der Synthesis deutlich: Während Kant im letzten Zitat die Synthesis als den Vorgang des Synthetisierens versteht, bezeichnet er an anderen Stelle das Ergebnis dieses Vorgangs als Synthesis. Vgl. Haag (2007, 179, Fn. 43). In der Regel ist aufgrund des Kontextes ersichtlich, welche Bedeutung Kant gerade vorschwebt. Im vorliegenden Zitat sind aber tatsächlich beide Lesarten möglich, da es eine entsprechende Ambiguität im Begriff der Wirkung gibt: Einerseits kann darunter die Handlung des Wirkens verstanden werden, andererseits das Resultat dieses Wirkens. Es entsteht aber, wie man sich leicht klarmacht, zumindest an dieser Stelle aufgrund dieser Ambiguität keine Schwierigkeit in Bezug auf die Interpretation von Kants Position: Die Stelle dürfte nach beiden möglichen Lesarten Kants Position adäquat wiedergeben.
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handelt sich also bei dem Vorgang der Synthesis in der Regel um einen unbewussten Vorgang. Der Ausdruck „Handlung“ soll offenbar lediglich signalisieren, dass es sich Kant zufolge nicht um einen Vorgang der bloß passiven Rezeptivität handelt, sondern um eine Form von Spontaneität: Das durch die Sinnlichkeit gelieferte Material weist zunächst nicht diejenige Einheit auf, die eine Anschauung ausmacht. Diese Einheit des gegebenen Materials muss vom Subjekt im Rahmen einer (meist unbewussten) Synthesis-Handlung hergestellt werden. Die ausführlichste Analyse dieser Synthesis-Handlung hat Kant im Rahmen der Transzendentalen Deduktion der Kategorien in der A-Auflage vorgelegt.¹⁷ Die Ausgangsüberlegung für die Erforderlichkeit einer Synthesis besteht darin, dass Anschauungen einerseits eine Einheit darstellen, andererseits aber komplex sind. Es gilt: „Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich […].“ (KrV, A 99) Ganz allgemein ausgedrückt handelt es sich hierbei um ein Mannigfaltiges von Vorstellungen, denn die Synthesis besteht ja darin, „verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“ (KrV, A 77 / B 103) Damit das gegebene Mannigfaltige zu einer einheitlichen Anschauung zusammengefasst werden kann, ist eine Synthesis-Leistung erforderlich. Bei dem Mannigfaltigen, das zu einer einheitlichen Anschauung verbunden wird, handelt es sich (zumindest im Fall von empirischen Anschauungen)¹⁸ genauer ausgedrückt um Empfindungen.¹⁹ Empfindungen sind nach Kants Auskunft zu Beginn der Transzendentalen Ästhetik dasjenige, was entsteht, wenn das Subjekt im Erkenntnisprozess von einem Gegenstand affiziert wird (KrV, A 19 f. / B 33 f.). Man kann Kant daher so verstehen, dass die Sinnlichkeit einzelne verstreute Empfindungen liefert, die durch den Synthesis-Prozess zu einer einheitlichen
Sofern nicht anders gekennzeichnet, werde ich hier unter Synthesis den Vorgang des Vereinigens verstehen. Diesen werde ich auch manchmal als Synthesis-Handlung (in dem im Haupttext erläuterten Sinne) oder Synthesis-Prozess bezeichnen. Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, eine vollständige Rekonstruktion der A-Deduktion zu liefern. Da es in diesem Kapitel in erster Linie um die zweite Analogie der Erfahrung gehen soll, werde ich Kants relativ komplexe Theorie der Synthesis hier nicht in voller Tiefe durchleuchten. Ich werde statt dessen in erster Linie diejenigen Aspekte herausfiltern, die für das Verständnis der Synthesis einer empirischen Anschauung und den Zusammenhang mit den Analogien der Erfahrung zentral sind. Es gibt auch eine Synthesis in der reinen Anschauung, bei der natürlich keine Empfindungen involviert sind. Beispiele hierfür sind etwa das Ziehen einer Linie im Geiste oder das Zählen von Einheiten, auf die ich unten in Abschnitt 3.1.4 noch zu sprechen komme. Nach Kants sogenannter Stufenleiter der Vorstellungsarten ist eine Empfindung eine Vorstellung mit Bewusstsein, die sich – im Unterschied zu Begriffen und Anschauungen – „lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines Zustandes bezieht“ (KrV, A 320 / B 376).
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Anschauung zusammengefügt werden.²⁰ Bei Empfindungen handelt es sich um einzelne Sinnesqualitäten. Kant nennt Empfindungen der „Undurchdringlichkeit,
Diese Interpretation vertreten etwa Henrich (1976, 17) und Carl (1992, 145 f.). Eine Gegenposition, die unter anderem von Grüne (2009, 155 ff.) vertreten wird, besteht darin, dass man Kant die These zuschreibt, dass bereits das durch die Sinnlichkeit gelieferte Ausgangsmaterial des Synthesis-Prozesses in bestimmten Hinsichten komplex ist. Einer besonders naheliegenden Version dieser Lesart zufolge handelt es sich bei den noch unsynthetisierten Vorstellungen um Vorstellungen, die bereits etwas räumlich Ausgedehntes repräsentieren. Empfindungen sind dieser Auffassung zufolge zwar Bestandteile der Vorstellungen, die durch die Affizierung der Sinnlichkeit entstehen. Allerdings ist es nach dieser Lesart so, dass bereits die Sinnlichkeit, vor dem Einsetzen der Synthesis der Einbildungskraft, die Empfindungen in eine räumliche (oder gar raumzeitliche) Form bringt und das Resultat einer Affizierung der Sinnlichkeit somit eine Vorstellung ist, die bereits quantitativ komplex ist. (Vgl. Grüne 2009, 158.) Gegen diese Lesart spricht meines Erachtens jedoch, dass Kant die Anschauungsformen nicht als etwas versteht, das den Empfindungen bereits eine räumliche und zeitliche Struktur verleiht, sondern als etwas, „welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann“ (KrV, B 34; meine Hervorhebung). Die Formen der Sinnlichkeit stellen nach dieser Textstelle also nicht bereits die Ordnung her, sondern ermöglichen es, dass eine solche Ordnung hergestellt werden kann. (Siehe zu diesem Punkt auch die Diskussion von Melnick (1973, 22 ff.).) Wie wir in diesem Kapitel noch ausführlich sehen werden, besteht eine von Kants Hauptthesen im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung gerade darin, dass erst durch eine Synthesis, an der die Kategorien der Relation beteiligt sind, eine zeitliche Ordnung von wahrgenommenen Objektzuständen und somit eine Repräsentation von zeitlich komplexen Vorgängen möglich wird. Vor diesem Hintergrund könnte man nun aus Gründen der Parallelität annehmen, dass Kant auch in Bezug auf die Anschauungsform Raum so zu verstehen ist, dass die räumliche Ordnung des Mannigfaltigen eine Leistung der Einbildungskraft, nicht der Sinnlichkeit ist. Auch wenn die beiden hier betrachteten Lesarten zunächst einmal sehr unterschiedlich wirken, stimmen sie in einem zentralen Punkt überein, denn auch nach Grünes Lesart müssen die Empfindungen, die von der Sinnlichkeit geliefert werden, im Synthesis-Prozess miteinander verbunden werden. Sie werden zwar bereits in einem Verbund geliefert, nämlich im Rahmen einer komplexen Vorstellung. Die Empfindungen, die Teil dieses Verbunds sind, müssen aber trotzdem im Synthesis-Prozess einzeln durchlaufen und noch einmal zusammengefügt werden, denn die durch die Sinnlichkeit gegebenen komplexe Vorstellung ist dieser Lesart zufolge nicht mit einem Bewusstsein davon verbunden, dass diese Vorstellung etwas Komplexes vorstellt. Die Aufgabe der Synthesis-Handlung besteht dann unter anderem darin, die Teilvorstellungen dieser komplexen Vorstellung durchzugehen und zu einer einheitlichen Vorstellung, deren Gehalt als etwas Komplexes vorgestellt wird, zu synthetisieren. Vgl. Thöle (1991, 217) und Grüne (2009, 158). In der folgenden Darstellung der drei Synthesis-Schritte werde ich in vielen Punkten Grünes Interpretation, die meines Erachtens sehr überzeugend ist, folgen. Dies ist ungeachtet der Tatsache möglich, dass ich in Bezug auf die Frage, ob die Sinnlichkeit bereits komplexe Vorstellungen liefert, von ihrer Position abweiche, und zwar aus dem gerade genannten Punkt: Auch nach Grünes Lesart müssen die in den komplexen Vorstellungen der Sinnlichkeit enthaltenen Empfindungen im Rahmen der Synthesis noch einmal einzeln auf- und zusammengenommen
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Härte, Farbe etc.“ (KrV, A 20 f. / B 35) als Beispiele, also Sinnesqualitäten, die jeweils durch einen der fünf Sinne vermittelt werden und für sich genommen noch keinen Gegenstand vorstellen. Schauen wir uns nun vor diesem Hintergrund die einzelnen Schritte der Synthesis an.
3.1.4 Die dreifache Synthesis Wie wir oben bereits gesehen haben, handelt es sich bei der Synthesis um eine Leistung der Einbildungskraft, die darin besteht, einzelne Empfindungen zu einer komplexen Anschauung mit Gegenstandsbezug zusammenzufügen. Diese Synthesis wird von Kant in drei Schritte unterteilt.²¹ Der erste Schritt besteht in der Synthesis der Apprehension, worunter Kant „das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und denn die Zusammennehmung desselben“ (KrV, A 99) versteht. Hier kommen zwei Unterschritte zur Sprache: Erstens müssen wir das Material, das uns durch die Sinnlichkeit gegeben wird, also die in uns entstehenden Empfindungen, durchgehen und ins Bewusstsein aufnehmen. Kant geht davon aus, dass die Empfindungen erst hierdurch zu bewussten Vorstellungen werden.²² Zweitens müssen die Empfindungen zu einer komplexen Einheit verbunden werden, damit sie gemeinsam eine Gesamtvorstellung ausmachen können. Der Gedanke, dass wir die so durchlaufene Mannigfaltigkeit zusammennehmen müssen, führt uns direkt zum zweiten Synthesis-Schritt: Kant versteht den Vorgang des Durchgehens des Mannigfaltigen als einen zeitlichen Vorgang, bei
werden, so dass sich für die Rekonstruktion der Synthesis keine bedeutenden Unterschiede zu der Annahme ergeben, dass die Empfindungen von der Sinnlichkeit einzeln geliefert werden. Die Bezeichnung als „Schritte“ der Synthesis ist nicht ganz unproblematisch, da es sich, wie sich im Laufe dieser Darstellung genauer zeigen wird, insgesamt gesehen genau genommen nur um eine einzige Synthesis handelt, die Kant nur der Darstellung halber in eine dreifache Synthesis aufgliedert. Tatsächlich ist es so, dass es sich bei der Synthesis der Reproduktion und der Synthesis der Rekognition um Teile des Synthesis-Prozesses handelt, die Ermöglichungsbedingungen für die Synthesis der Apprehension darstellen, weshalb letztere untrennbar mit den beiden anderen verbunden ist. Dies wird dadurch deutlich, dass Kant an anderer Stelle Apprehendieren als den Vorgang erläutert, bei dem etwas „ins empirische Bewusstsein aufgenommen“ wird (KrV, B 202).
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dem das Material nacheinander durchgegangen wird.²³ Er veranschaulicht dies zunächst an Beispielen in der reinen Anschauung, etwa an dem Beispiel der Summierung von mehreren Einheiten zu einer Zahl (KrV, A 102): Um die Vorstellung der sich als Summe der Einheiten ergebenden Zahl zu bilden, muss ich die einzelnen zu summierenden Einheiten nacheinander ins Bewusstsein aufnehmen. Um daraus dann die Summe bilden zu können, muss ich die Einheiten zusammennehmen. Der sukzessive Charakter der Aufnahme hat allerdings zur Folge, dass hierfür eine weitere Leistung erbracht werden muss, denn damit mir die Einheiten alle zugleich bewusst sein können, muss ich in der fortschreitenden Apprehension immer die bereits apprehendierten Einheiten mitrepräsentieren und der jeweils neu apprehendierten Einheit im Bewusstsein zur Seite stellen, so dass ich schließlich alle apprehendierten Einheiten gleichzeitig im Bewusstsein habe. Würde ich auf dem Weg zur Endsumme bereits apprehendierte Einheiten aus dem Bewusstsein verlieren, käme ich zu einem falschen Ergebnis. Kant zufolge ist hier also eine Synthesis der Reproduktion erforderlich: Um die aufgenommenen Gehalte als ein Ganzes zusammennehmen zu können, müssen bereits aufgenommene Gehalte durch die Einbildungskraft reproduziert und den neu ins Bewusstsein aufgenommenen Gehalten zur Seite gestellt werden. Kant kommt daher zu dem Ergebnis: „Die Synthesis der Apprehension ist also mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden.“ (KrV, A 102) Das, was Kant am Beispiel des Summierens von Einheiten in der reinen Anschauung veranschaulicht, gilt ihm zufolge ebenso für die Synthesis einer empirischen Anschauung. Damit ich die einzelnen durch die Sinnlichkeit gegebenen Empfindungen zu einer Gesamtvorstellung zusammennehmen kann, müssen die zeitlich nacheinander ins Bewusstsein aufgenommenen Empfindungen zu späteren Zeitpunkten reproduziert werden, damit sie im Bewusstsein den jeweils neu aufgenommenen Empfindungen zur Seite gestellt und mit diesen zusammengenommen werden können.²⁴ Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Kant unter Reproduktion noch mehr versteht, als nur die Reproduktion gerade aufgenommener Gehalte.²⁵ Im Zusammenhang mit dieser weiteren Bedeutung von Reproduktion gibt Kant ein Beispiel, das auf die Synthesis einer empirischen Anschauung abzielt:
Dies wird etwa auch im Rahmen der zweiten Analogie der Erfahrung deutlich, wenn Kant sagt: „Die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv.“ (KrV, A 189 / B 234) Dass die Synthesis der Reproduktion in diesem Sinne eine notwendige Bedingung für das im Rahmen der Synthesis der Apprehension erfolgende Zusammennehmen der aufgenommenen Teilvorstellungen darstellt, wird auch von Grüne (2009, 165) betont. Vgl. Longuenesse (1998, 49) und Grüne (2009, 168 f.).
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Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, […] so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen, […] so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion statt finden. (KrV, A 100 f.)
Hier wird deutlich, dass Kant zufolge – ähnlich wie von Hume vertreten – das häufige gemeinsame Auftreten bestimmter Merkmale zu einer gewohnheitsmäßigen Assoziation führt, sodass bei einem zukünftigen Auftreten eines dieser Merkmale von der Einbildungskraft eine Vorstellung des mit ihm assoziierten Merkmals reproduziert wird. In diesem Fall ist es also so, dass nicht eine gerade erst aufgenommene Vorstellung reproduziert wird, sondern eine Vorstellung, die man in einer ähnlichen Situation in der Vergangenheit gehabt hat: Man hat eine visuelle Empfindung, nämlich einen bestimmten Roteindruck, und assoziiert damit einen Eindruck der Schwere, der in der Vergangenheit in einer anderen Situation, in der man etwa ein Stück Zinnober in der Hand hielt, gemeinsam mit dem Roteindruck auftrat. Dies ermöglicht es, in einer Wahrnehmungssituation eine komplexe Vorstellung eines Gegenstandes auszubilden, auch wenn man in der gegenwärtigen Situation nur einen Teileindruck des Gegenstandes hat, etwa weil man ihn nicht durch alle Sinne wahrnimmt oder weil man ihn nur aus einer bestimmten Perspektive betrachtet. Die beiden miteinander verflochtenen Synthesis-Schritte – die Synthesis der Apprehension und die Synthesis der Reproduktion – sind Kant zufolge allein noch nicht hinreichend dafür, dass eine Anschauung entsteht.²⁶ Es ist eine weitere
Dieser Meinung sind nicht alle Interpreten. Nach sogenannten nonkonzeptualistischen Lesarten besteht Kants Position darin, dass die Entstehung von Anschauungen nicht das Verfügen über Begriffe voraussetzt. Entsprechend ist der dritte Synthesis-Schritt, die Synthesis der Rekognition, dieser Lesart zufolge nicht mehr Teil der Bildung einer Anschauung, sondern ein nachgeordneter Schritt, in dem Anschauungen, die bereits in den ersten beiden Schritten der Synthesis gebildet wurden, in Urteilen weiterverarbeitet werden. Vgl. die Darstellung von Grüne (2009, 19 f. und 144 ff.), die die nonkonzeptualistische Lesart kritisiert. Ich schließe mich in diesem Punkt unter anderem Grüne (2009, 150) und Haag (2007, 220 f.) an, die eine konzeptualistische Lesart vertreten und den dritten Synthesis-Schritt, in dem Begriffe eine entscheidende Rolle spielen, als einen notwendigen Bestandteil der Bildung von Anschauungen verstehen. Die Gründe dafür, dass es für Kant meines Erachtens zentral ist, dass die Synthesis von empirischen Anschauungen durch Begriffe geleitet wird, werden im Folgenden deutlich werden. Diese These stellt unter anderem den Kern meines Verständnisses des Verhältnisses zwischen der in der A-Deduktion verhandelten Synthesis und der zweiten Analogie der Erfahrung dar, das ich hier herausarbeiten möchte. Wie wir im Verlauf der Analyse von Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung sehen werden, geht Kant auch im Fall der Synthesis verschiedener Wahrnehmungen zu einer noch komplexeren Vorstellung eines Gegenstandes davon aus, dass diese Synthesis von einem Begriff geleitet wird.
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Synthesis-Leistung erforderlich, die in gewisser Weise als Bedingung dafür betrachtet werden kann, dass Apprehension und Reproduktion derart möglich sind, dass aus ihnen eine einheitliche Anschauung resultiert. Dies drückt Kant durch die Feststellung aus: Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Actus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörete, und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann. (KrV, A 103)
Das Bewusstsein der Einheit, von dem Kant hier spricht, ist etwas, was Kant zufolge von der Synthesis der Rekognition hergestellt werden soll. Die entscheidende Frage für das Verständnis der Synthesis der Rekognition lautet, was Kant genau damit meint, „daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten“ (ebd.). Dabei ist es so, dass es (mindestens) zwei verschiedene Lesarten gibt, die beide vom Text nahegelegt werden:²⁷ Die erste Lesart besteht darin, dass das Bewusstsein, von dem die Rede ist, ein Bewusstsein davon ist, dass die reproduzierten Vorstellungen jeweils identisch sind mit den Vorstellungen, von denen sie Reproduktionen sind. Wenn ich also bereits gehabte Vorstellungen reproduziere, um sie im Bewusstsein einer aktuell im Bewusstsein befindlichen Vorstellung zur Seite stellen zu können, muss ich der ersten Lesart zufolge mir darüber bewusst sein, dass die reproduzierten Vorstellungen identisch sind mit denjenigen Vorstellungen, die ich zuvor durchlaufen und ins Bewusstsein aufgenommen habe. Der zweiten Lesart zufolge besteht das Bewusstsein der Identität darin, dass alle Vorstellungen, die ich reproduziere und der aktuell im Bewusstsein befindlichen Vorstellung zur Seite stelle, ebenso wie auch diese aktuell im Bewusstsein befindliche Vorstellung selbst, in dem Sinne zusammengehören beziehungsweise zusammen eine Einheit ausmachen, dass sie Teile desselben Ganzen ausmachen. Die erste Lesart liegt deshalb zunächst besonders nahe, weil sie sehr gut zu dem Beispiel passt, das Kant angibt, um das an der zitierten Stelle Gesagte zu veranschaulichen. Es handelt sich dabei wiederum um das Beispiel des Zählens. Kant weist darauf hin, dass man beim Zählen die apprehendierten Einheiten nicht nur fortlaufend im Geiste reproduzieren muss, sondern die reproduzierten Einheiten außerdem als genau diejenigen Einheiten betrachten muss, die zuvor app-
Diese beiden Lesarten werden auch von Thöle (1991, 223, Fn. 6) und Grüne (2009, 174 f.) unterschieden, die sich beide für die zweite Lesart aussprechen.
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rehendiert wurden. Nur so kann ich im letzten Schritt des Zählvorgangs die erreichte Zahl auch als die aus den vorherigen Zählschritten erreichte Summe betrachten. Was benötigt wird, um die ersten beiden Synthesis-Schritte, die Synthesis der Apprehension und die Synthesis der Reproduktion, zu einer Synthesis einer Anschauung zu komplettieren, ist das Bewusstsein von einer „Einheit der Synthesis“ (KrV, A 103): Ich muss die einzelnen Teilhandlungen der Synthesis, die in der Aufnahme von neuen Empfindungen und der Reproduktion der bisher aufgenommenen Empfindungen bestehen, als Teile eines Prozesses begreifen.²⁸ Obwohl diese Lesart nach Kants Schilderung dieses Beispiels tatsächlich sehr naheliegt, zeigt sich jedoch, dass die zweite Lesart viel besser denjenigen Punkt einfängt, den Kant mit der Synthesis der Rekognition eigentlich einführen möchte.²⁹ Hierbei handelt es sich um die Rolle von Begriffen im Rahmen der Synthesis der Rekognition. Dies wird deutlich an einem weiteren Beispiel, bei dem es sich um ein Beispiel für eine empirische Synthesis handelt. Das Interessante an diesem Beispiel ist, dass Kant hier die Rolle eines Begriffes im Rahmen der Synthesis explizit thematisiert: So dient der Begriff vom Körper nach der Einheit des Mannigfaltigen, welches durch ihn gedacht wird, unserer Erkenntnis äußerer Erscheinungen zur Regel. Eine Regel der Anschauungen kann er aber nur dadurch sein: daß er bei gegebenen Erscheinungen die notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen derselben, mithin die synthetische Einheit in ihrem Bewußtsein, vorstellt. So macht der Begriff des Körpers, bei der Wahrnehmung von Etwas außer uns, die Vorstellung der Ausdehnung, und mit ihr die der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc. notwendig. (KrV, A 106)
Kant erläutert an dieser Stelle, inwiefern ein Begriff – hier der Begriff des Körpers – dazu dient, eine Synthesis zu leiten. Der Begriff dient als Regel der Synthesis und ermöglicht dadurch die Einheit der Synthesis: Wenn wir der Synthesis von Empfindungen den Begriff des Körpers als Regel zugrunde legen, dann bedeutet dies, dass wir die (unmittelbar zuvor oder auch in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen) aufgenommenen und reproduzierten Empfindungen als Teilvorstel-
„Vergesse ich im Zählen: daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zu einander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge, durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis.“ (KrV, A 103) Ich stimme also Grüne und Thöle (s.o., Fn. 27 in diesem Kapitel) darin zu, dass die zweite Lesart die bedeutendere für eine Interpretation des Abschnittes über die Synthesis der Rekognition ist. Meines Erachtens lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass Kant beide Lesarten vor Augen standen. Möglicherweise war er sich über den Unterschied auch nicht vollständig im Klaren.
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lungen einer komplexen Vorstellung eines Körpers interpretieren. Dies bedeutet, dass wir bestimmte Merkmale, die Teilvorstellungen des Begriffes des Körpers sind, reproduzieren, wenn wir eine gegenwärtige Empfindung als Teilvorstellung einer Vorstellung eines Körpers betrachten. Wenn ich beispielsweise eine Rotempfindung habe und sie dem als Regel zugrunde liegenden Begriff des Körpers gemäß als Teilvorstellung einer komplexen Vorstellung eines Körpers betrachte, denke ich mit der Rotvorstellung immer die Undurchdringlichkeit (und andere Eigenschaften) des Körpers mit, auch wenn ich gegenwärtig keine Tast-Empfindung der Zurückstoßungskraft habe, durch die sich die Undurchdringlichkeit des Körpers bei Druck auf ihn bemerkbar machen würde. Wir sehen hier, dass die Reproduktion bestimmter Vorstellungen Kant zufolge davon abhängt, dass die Synthesis im Sinne der Synthesis der Rekognition von einem bestimmten Begriff geleitet wird, der in gewisser Weise vorgibt, welche Vorstellungen reproduziert und einer gegebenen Vorstellung beigefügt werden, um sie zu einer komplexeren Vorstellung zu verdichten und zu erweitern. In diesem Sinne ist die Synthesis der Reproduktion von der Synthesis der Rekognition abhängig.³⁰ Wie man sich leicht deutlich machen kann, dient der Begriff dabei auch als Regel dafür, welche apprehendierten Vorstellungen nicht zu der Gesamtvorstellung des gerade betrachteten Objektes gehören und daher sozusagen aussortiert werden müssen:³¹ Wenn wir beispielsweise einen Baum vor dem Hintergrund eines gelben Hauses betrachten, dann haben wir neben den bei Bäumen üblichen Braun- und Grün-Empfindungen auch Gelb-Empfindungen. Wenn wir alle diese Empfindungen apprehendieren und angeleitet durch den Begriff des Baumes synthetisieren, dann führt dies dazu, dass nur die Braun- und Grün-Empfindungen zu einer einheitlichen Objekt-Vorstellung vereinigt werden, während die GelbEmpfindungen als nicht zu dieser Einheit zugehörig klassifiziert werden. Die Synthesis der Rekognition besteht also darin, dass nach Maßgabe eines Begriffes die apprehendierten und reproduzierten Vorstellungen zu einer Einheit verschmolzen werden. Es ist erst dieser Schritt, der es uns Kant zufolge ermöglicht, den anschaulichen Gehalt tatsächlich auf einen Gegenstand zu beziehen, denn
Diese Abhängigkeit der Synthesis der Reproduktion von der Synthesis der Rekognition wird auch durch eine spätere Textstelle noch einmal hervorgehoben: „Weil aber, wenn Vorstellungen, so wie sie zusammen geraten, einander ohne Unterschied reproduzierten, wiederum kein bestimmter Zusammenhang derselben, sondern bloß regellose Haufen derselben, mithin gar kein Erkenntnis entspringen würde; so muß die Reproduktion derselben eine Regel haben, nach welcher eine Vorstellung vielmehr mit dieser, als einer andern in der Einbildungskraft in Verbindung tritt.“ (KrV, A 121) Das folgende Beispiel stammt von Grüne (2009, 179).
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erst durch die Verschmelzung der einzelnen Vorstellungen entsteht eine Gesamtvorstellung, in der eine Mannigfaltigkeit zu einer Einheit geworden ist, derart, dass wir die Einzelvorstellungen als Teilvorstellungen eines Objektes auffassen können. Man kann dies auch so ausdrücken, dass der Begriff, der der Synthesis als Regel zugrunde liegt, die Objekte der aufgenommenen Teilvorstellungen individuiert: Der zugrunde gelegte Begriff entscheidet darüber, welche Vorstellungen als Vorstellungen von Teilen oder Aspekten desselben Objektes aufgefasst werden. Diesen Punkt möchte ich hier deshalb ganz besonders herausstreichen, weil sich unten in Abschnitt 3.3.4 bei der Analyse des Argumentes für die zweite Analogie der Erfahrung zeigen wird, dass die Kategorie der Kausalität (ebenso wie nach der dritten Analogie die Kategorie der Gemeinschaft) bei der Synthesis von Wahrnehmungen unter anderem die Aufgabe übernimmt, die Objekte der Wahrnehmungen zu individuieren. Genau genommen wird sich zeigen, dass diese Aufgabe von empirischen Gesetzesannahmen (die mit Hilfe der Kategorien der Kausalität und Gemeinschaft formuliert werden können) geleistet wird, die Kant zufolge als zentrale Bestandteile von empirischen Begriffen aufgefasst werden müssen. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass es sich bei den drei Synthesis-Schritten genau genommen nicht um drei voneinander zu trennende Schritte handelt, sondern dass wir es eigentlich insgesamt gesehen nur mit einer einzigen Synthesis zu tun haben, die auf verschiedenen Voraussetzungen basiert: Damit die Empfindungen nicht nur ins Bewusstsein aufgenommen, sondern auch zusammengenommen werden können (Synthesis der Apprehension), müssen zuvor aufgenommene Empfindungen reproduziert werden (Synthesis der Reproduktion). Die Reproduktion kann jedoch nicht vollkommen willkürlich geschehen, sondern muss einer Regel folgen, die in Form eines Begriffes gegeben wird (Synthesis der Rekognition) und vorschreibt, welche Empfindungen als Teilvorstellungen desselben Objektes aufzufassen sind. Insgesamt leistet diese dreifache Synthesis eine Verbindung von mehreren Empfindungen zu einer einheitlichen Anschauung. Und da es sich, sofern die Synthesis von Empfindungen ausgeht, bei der resultierenden Anschauung um eine empirische Anschauung handelt, liefert eine solche Synthesis also eine Wahrnehmung. Mit diesem Verständnis der Entstehung von Wahrnehmungen als Hintergrund können wir uns nun dem Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung zuwenden und uns anschauen, wie Kant den Begriff der Wahrnehmung dort verwendet.
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3.1.5 Wahrnehmungen im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung Interessant ist in unserem Zusammenhang, dass Kant auch im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung von einer Synthesis spricht. Zwar ist hier lediglich von einer Synthesis der Apprehension und nicht explizit von einer Synthesis der Reproduktion und der Rekognition die Rede, aber wie wir gerade gesehen haben, hängen die drei Teile der Synthesis-Handlung unzertrennlich miteinander zusammen: Damit eine Synthesis der Apprehension vonstatten gehen kann, müssen auch die Synthesis der Reproduktion und die Synthesis der Rekognition, als Bedingungen ihrer Möglichkeit, erfolgen. Es fällt jedoch auf, dass die Synthesis, von der im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung die Rede ist, offenbar auf einer höheren Ebene stattfindet, als die im Rahmen der A-Deduktion präsentierte Synthesis. Denn das, was im Abschnitt über die zweite Analogie im Rahmen der Synthesis miteinander verbunden wird, sind Wahrnehmungen, die gerade das Ergebnis der Synthesis der ADeduktion waren.³² Die im Rahmen des Abschnittes der zweiten Analogie der
Diesen Punkt hebt auch Haag hervor, wenn er anmerkt: „Es geht hier [im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung] natürlich um die Apprehension von Komplexen, nicht um die Synthesis der Apprehension, die wir im Zusammenhang der A-Deduktion besprochen haben und die sich auf atomare Bestandteile bezogen hat. Die Synthesis wird hier als Apprehension der Teile der sukzessiven Apprehension schon vorausgesetzt.“ (Haag 2007, 338, Fn. 63) Den Ausdruck „Synthesis“ scheint Haag dabei für die erste – im Rahmen der A-Deduktion behandelte – Ebene des Zusammenfügens von Empfindungen zu Wahrnehmungen reservieren zu wollen, während er die Apprehension dieser Wahrnehmungen, die das Thema der Analogien ist, offenbar nicht als Synthesis bezeichnen möchte. Kant spricht aber an mehreren Stellen im Abschnitt über die zweite Analogie explizit von einer Synthesis der Apprehension. Siehe etwa KrV, A 192 / B 237, A 198 / B 243 und A 201 / B 246. Auch bei Hoppe ist von einer Synthesis auf zwei Ebenen die Rede. Hoppe vertritt dabei offenbar die Ansicht, dass bereits innerhalb der A-Deduktion beide Ebenen eine Rolle spielen: „In der Literatur wird die Synthesis der Apprehension im allgemeinen als ein Zusammenfassen von jeweils momentan gegebenen einzelnen sinnlichen Eindrücken zu Wahrnehmungen aufgefaßt, d. h. als ein Zusammensetzen der Teile eines gegenwärtigen ganzheitlichen Anblicks einer Sache zu eben diesem Anblick. Wie die Axiome der Anschauung (A 162/B 202 ff.), aber auch eine Stelle wie B 160, zeigen, ist das von Kant zweifellos auch mitgemeint, aber dennoch dürfte man den vollen Sinn der Synthesis der Apprehension wohl verfehlen, wenn man sie nur oder nur in erster Linie als ein solches Zusammensetzen von einzelnen Empfindungen zu ganzheitlichen Wahrnehmungen auffassen wollte. Vielmehr ist die Synthesis der Apprehension vor allem ein Zusammenfassen oder Zusammenhalten von ganzheitlichen Anblicken oder Wahrnehmungen eines Gegenstandes, wodurch dann allererst, wie Kant sich ausdrückt, eine ,Anschauungʻ des Gegenstandes möglich wird.“ (Hoppe 1983, 179; Fußnote getilgt) Tatsächlich ist der Text der A-Deduktion in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Mein Eindruck ist allerdings, dass Kant in der A-Deduktion unter der Synthesis der Apprehension tatsächlich eher ein „Zusammensetzen von einzelnen
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Erfahrung betrachtete Synthesis der Apprehension ist also der im Rahmen der ADeduktion behandelten Synthesis nachgeordnet beziehungsweise baut auf ihr auf: Während es in der A-Deduktion darum ging, wie Empfindungen zu Wahrnehmungen verbunden werden, geht es hier nun darum, wie Wahrnehmungen ihrerseits zu noch komplexeren Vorstellungen synthetisiert werden. Die Frage, der wir nun nachgehen müssen, lautet: Was genau soll diese zweite Ebene der Synthesis leisten? Anders ausgedrückt: In welcher Hinsicht mangelt es einzelnen Wahrnehmungen, die ja als Ergebnis einer Synthesis bereits komplexe Vorstellungen sind, an einer Komplexität, die durch eine Verbindung mehrerer Wahrnehmungen hergestellt werden kann? Die deutlichste Vorstellung davon, was Kant in diesem Zusammenhang unter Wahrnehmungen versteht, erhält man meines Erachtens, wenn man sich eines der beiden zentralen Beispiele des Abschnittes anschaut, nämlich das Beispiel der Beobachtung eines einen Fluss herunterfahrenden Schiffes.³³ Hier spricht Kant von zwei Wahrnehmungen, die miteinander verbunden werden: Ich sehe z. B. ein Schiff den Strom hinabtreiben. Meine Wahrnehmung seiner Stelle unterhalb, folgt auf die Wahrnehmung der Stelle desselben oberhalb dem Laufe des Flusses […]. (KrV, A 192 / B 237)
Der Punkt, auf den es mir hier ankommt, besteht darin, dass es sich bei den beiden Wahrnehmungen, die miteinander verbunden werden sollen, um Vorstellungen handelt, deren Gehalt sich jeweils auf ein Objekt zu einem Zeitpunkt bezieht. Während sie also in Hinblick auf die Anschauungsform des Raumes komplexe Vorstellungen sind (sie stellen nicht nur einzelne Farbpunkte dar, sondern ein räumlich ausgedehntes Objekt), sind sie in Hinblick auf die Anschauungsform der Zeit einfach. Die beiden Wahrnehmungen des Schiffes, die jeweils das Schiff und seinen Zustand zu einem Zeitpunkt repräsentieren, müssen miteinander verbunden werden, damit sich eine auch in zeitlicher Hinsicht komplexe Vorstellung des Schiffes ergibt, die eine Veränderung des Schiffes (die im Beispiel in einem Ortswechsel besteht) repräsentieren kann.
Empfindungen zu ganzheitlichen Wahrnehmungen“ versteht und dass er erst im Abschnitt über die Analogien zur zweiten Ebene der Synthesis übergeht, die darin besteht, dass diese auf der ersten Ebene der Synthesis entstandenen Wahrnehmungen ihrerseits zu einer noch komplexeren Vorstellung verbunden werden. Die Funktion dieses Beispieles für Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung werden wir unten noch ausführlich studieren. Ich richte hier den Fokus zunächst lediglich auf Kants Verwendung des Begriffes der Wahrnehmung im Rahmen des Beispiels.
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Dieser Aspekt kommt allgemeiner ausgedrückt auch in Kants Beweis der zweiten Analogie der Erfahrung in der Fassung der zweiten Auflage zum Ausdruck: Ich nehme wahr, daß Erscheinungen aufeinander folgen, d. i. daß ein Zustand der Dinge zu einer Zeit ist, dessen Gegenteil im vorigen Zustande war. Ich verknüpfe also eigentlich zwei Wahrnehmungen in der Zeit. (KrV, B 233; meine Hervorhebung)
Dies ist also der Ausgangspunkt der zweiten Analogie der Erfahrung: Wahrnehmungen, bei denen es sich in räumlicher Hinsicht um komplexe, in zeitlicher Hinsicht jedoch um einfache Vorstellungen handelt, müssen im Rahmen einer Synthesis zu raum-zeitlich komplexen Vorstellungen verbunden werden, damit sich eine Vorstellung ergibt, die eine Veränderung eines Gegenstandes in der Zeit repräsentieren kann. Es stellt sich allerdings die Frage, wie uns dies in Hinblick auf die Frage, warum die Analogien notwendig sind für einen Objektbezug sind, weiterhilft. An dieser Stelle liegt nämlich folgender Gedanke nahe: Wenn es sich bei den Wahrnehmungen, von denen im Abschnitt über die Analogien der Erfahrung die Rede ist, um Vorstellungen handelt, die etwas räumlich Komplexes repräsentieren, kann beziehungsweise muss man dann nicht bereits davon sprechen, dass sie sich auf ein Objekt beziehen? Man könnte ergänzend hinzufügen, dass Kant die Fähigkeit zur Bezugnahme auf Gegenstände sogar bereits vor der A-Deduktion und dem Abschnitt über die Analogien, nämlich in der Transzendentalen Ästhetik geklärt hat. Es ist nämlich nach Kants dortiger Auskunft der Fall, dass wir uns aufgrund der Tatsache, dass uns die Erscheinungen in der Form des äußeren Sinnes, also räumlich gegeben sind, auf diese Erscheinungen als etwas Äußeres beziehen können (KrV, A 27 / B 43). Man könnte dies so verstehen, dass uns hierdurch bereits die Fähigkeit gegeben ist, uns auf Objekte zu beziehen, die sich außer uns befinden und sich somit von unseren Wahrnehmungen, bei denen es sich um innere Zustände handelt, unterscheiden müssen. Es ist aber entscheidend, dass all dies noch nicht bedeutet, dass wir dazu in der Lage sind, Gegenstände in dem Sinne von unseren Vorstellungen zu unterscheiden, dass wir sie als unabhängig von unseren subjektiven Vorstellungen interpretieren.³⁴ Der Raum ist Kant zufolge eine subjektive Form der Sinnlichkeit
Die Objekte unserer Wahrnehmungen sind Kant zufolge natürlich nicht vollständig unabhängig von unseren Vorstellungen, da sie insbesondere geprägt sind durch die subjektiven Anschauungsformen und die Kategorien. Gemeint ist hier eine Unabhängigkeit in dem Sinne, dass den Objekten eine Existenz zugesprochen wird, die auch dann andauert, wenn das Objekt gerade nicht wahrgenommen wird, und die eine intersubjektive Zugänglichkeit ermöglicht.
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und dadurch, dass ich eine räumlich geformte Anschauung habe, ist noch nicht gewährleistet, dass ich diese Anschauung so interpretieren kann, dass sie sich auf einen unabhängig von meiner Vorstellung existierenden und auf eine bestimmte Art beschaffenen Gegenstand bezieht.³⁵ Das tun wir beispielsweise, wenn wir eine aktuelle Wahrnehmung als die Vorstellung eines äußeren Objektes, etwa eines Baumes interpretieren und außerdem davon ausgehen, dass der Baum auch dann noch dort steht, wenn wir unseren Blick abwenden. Es ist, wie die folgende Analyse von Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung zeigen wird, dieser Aspekt des Bezugs auf einen von der Wahrnehmung unterschiedenen Gegenstand, der im Rahmen der Analogien der Erfahrung untersucht wird.³⁶ Wie die Argumente für die drei Analogien der Erfahrung nämlich verdeutlichen sollen, ist es uns nur durch die Anwendung der drei Relations-Kategorien möglich, unsere Wahrnehmungen als Vorstellungen von Objekten zu interpretieren, die eine objektive zeitliche Struktur (etwa des Wechsels der Objektzustände) aufweisen, also eine solche zeitliche Struktur, die unabhängig von der subjektiven zeitlichen Struktur unserer Wahrnehmungen ist. Die Relations-Kategorien sind Kant zufolge Mittel zur Konstruktion einer objektiven Zeitstruktur. Erst durch diese durch die Relations-Kategorien vermittelte Fähigkeit zur Feststellung von objektiven Zeitbestimmungen ist es uns Kant zufolge möglich, unsere Wahrnehmungen im vollumfänglichen Sinne als Vorstellungen mit einem intentionalen Bezug auf Gegenstände zu verstehen, die sich von den Wahrnehmungen unterscheiden. Im Folgenden wird es mir darum gehen, diese These anhand von Kants Beweis der zweiten Analogie der Erfahrung zu untersuchen, in der es um einen Aspekt der objektiven Zeitbestimmung geht, nämlich um die Feststellung von objektiven zeitlichen Abfolgen von Objektzuständen.³⁷
Kant hebt an einer Stelle in den A-Paralogismen hervor: „Raum aber und Zeit sind beide nur i n u n s anzutreffen.“ (KrV, A 373) In einem gewissen Sinne sind die Objekte der äußeren Anschauung also zwar außerhalb von uns, in einem anderen Sinne kann man aber – da der Raum „in uns“ ist – auch sagen, dass sie es nicht sind. Dies macht meines Erachtens deutlich, in welchem Sinne der Bezug auf Objekte unserer Wahrnehmung, die unabhängig von der Wahrnehmung sind, durch die Transzendentale Ästhetik noch nicht abgedeckt wird. Hoppe (1983, 239) bringt den hier ins Auge gefassten Punkt durch die treffende Formulierung zum Ausdruck, es gehe im Abschnitt über die Analogien um die „Frage, wie wir überhaupt Gegenstände als etwas Objektives haben können, das sich in seinem Gegebensein nicht erschöpft, sondern als dasselbe meinbar und erkennbar ist, auch wenn seine Erscheinungen oder Vorstellungen wechseln.“ In der dritten Analogie geht es im Unterschied dazu um die Fähigkeit des Feststellens von objektiver Gleichzeitigkeit von Objektzuständen. In der ersten Analogie geht es darum, dass es für die Möglichkeit des Feststellens von objektiven Zeitbestimmungen notwendig ist, dass den objektiven Zeitverhältnissen eine beharrliche Substanz zugrunde liegt. Die erste Analogie bildet also
3.2 Kausale Verknüpfungen, Kausalgesetze und Notwendigkeit
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Bevor wir zur Analyse der Beweisschritte kommen, müssen wir uns jedoch noch der Frage zuwenden, was sich Kant eigentlich genau unter einer Kausalbeziehung vorstellt. Einer Antwort auf diese Frage kann man sich am besten dadurch nähern, dass man sich Kants explizite Formulierungen der zweiten Analogie in der ersten und in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft genauer anschaut.
3.2 Kausale Verknüpfungen, Kausalgesetze und Notwendigkeit 3.2.1 Die zweite Analogie der Erfahrung – Die Formulierungen der A- und der B-Auflage Bei der zweiten Analogie der Erfahrung handelt es sich um eines der Prinzipien des Verstandes, die Kant als notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung ausweisen und damit als grundlegende synthetische Urteile a priori auszeichnen möchte.³⁸ Die zweite Analogie ist derjenige dieser Grundsätze, der der zweiten Relations-Kategorie, der Kategorie der Kausalität, zugeordnet ist und wird häufig auch als allgemeiner Kausalsatz bezeichnet. Hinsichtlich der expliziten Formulierung der zweiten Analogie unterscheiden sich A- und B-Auflage der Kritik: A-Formulierung: „Alles, was geschieht (anhebt zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt.“ (KrV, A 189) B-Formulierung: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.“ (KrV, B 232)
Guyer weist darauf hin, dass die beiden Formulierungen am besten als einander ergänzend gelesen werden können, da sie jeweils einen Aspekt besser beleuchten als die andere Formulierung³⁹: Die Formulierung der zweiten Auflage lenkt den Fokus auf den Begriff der Veränderung. Dies ist zunächst einmal deshalb ein wichtiger Punkt, da Kant im Abschnitt über die erste Analogie der Erfahrung dafür argumentiert hat, dass es
die Grundlage der in den beiden anderen Analogien thematisierten objektiven Zeitbestimmungen. Kant spricht von einem „Beweis, aus den subjektiven Quellen der Möglichkeit einer Erkenntnis des Gegenstandes überhaupt“ (KrV, A 149 / B 188). Vgl. zum Folgenden Guyer (1987, 239).
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sich bei einem „Wechsel der Erscheinungen“ (KrV, B 225), der für uns erkennbar ist, stets um die Veränderung von Zuständen einer Substanz handelt.⁴⁰ Entsprechend fällt auch Kants Erläuterung des Begriffes der Veränderung im Abschnitt über die erste Analogie aus: Veränderung ist eine Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren eben desselben Gegenstandes folgt. (KrV, A 187 / B 230)
Hierbei handelt es sich deshalb um einen interessanten Punkt, weil es im gleich nachzuvollziehenden Argument für die zweite Analogie im Wesentlichen um die Bestimmung der Zeitordnung von Abfolgen geht. Der Rückbezug auf die erste Analogie verdeutlicht, dass die Abfolgen, die Kant dabei im Auge hat, Abfolgen verschiedener Zustände eines Gegenstandes sind.⁴¹ Guyer weist darauf hin, dass Kant in der A-Formulierung der zweiten Analogie zwar auch auf Veränderungen eingeht, dort jedoch eine unnötige Einschränkung auf Veränderungen einer bestimmten Art vornimmt, nämlich dem Beginnen der Existenz von etwas. Der Begriff der Veränderung nach Kants Verständnis umfasse jedoch neben dem Entstehen auch das Vergehen.⁴² Guyers Bedenken kann man allerdings entgegenhalten, dass jede Zustandsveränderung sowohl ein Entstehen eines neuen Zustandes als auch ein Vergehen eines vorherigen Zustandes beinhaltet und wir daher jede Zustandsveränderung je nach Perspektive wahlweise als ein Entstehen oder als ein Vergehen bezeichnen können. Insofern ist die in der
„Daß alle Erscheinungen der Zeitfolge insgesamt nur Ve r ä n d e r u n g e n , d. i. ein sukzessives Sein und Nichtsein der Bestimmungen der Substanz sind, die da beharrt, […] hat der vorige Grundsatz [die erste Analogie der Erfahrung] dargetan.“ (KrV, B 232 f.; Hervorhebung im Original) Bei der ersten Analogie handelt es sich um den sogenannten Substanzsatz, dem zufolge jeder Veränderung eine beharrliche Substanz zugrunde liegt. Auf den Beweisgang der ersten Analogie kann ich hier leider nicht genauer eingehen. Wir sehen zwar an dieser Stelle, dass es wichtige Verbindungen zwischen der ersten und der zweiten Analogie gibt. Für die Zwecke der hier vorgenommenen Untersuchung, bei der der Fokus vor allem auf Kants Konzeption empirischer Gesetze liegt, scheint es mir jedoch zu genügen, die für das Verständnis der zweiten Analogie relevanten Ergebnisse der ersten Analogie aufzunehmen, ohne die entsprechenden Argumente für diese Ergebnisse eigens zu untersuchen. Siehe hierzu auch Allison (2004, 248). Eine alternative Lesart, die Allison diskutiert und meines Erachtens zu Recht verwirft, besteht darin, dass es sich bei den von Kant gemeinten Abfolgen um Abfolgen von Ereignissen handelt. „[T]he first edition refers only to commencements but not to cessations of states of affairs, whereas a truly universal application of a principle of causation will surely entail the existence of causal explanations of cases of cessation as well as commencement.“ (Guyer 1987, 239) Dass der Begriff der Veränderung bei Kant sowohl Entstehen als auch Vergehen beinhaltet, zeigt sich etwa an der Stelle KrV, A 188 / B 231.
3.2 Kausale Verknüpfungen, Kausalgesetze und Notwendigkeit
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A-Formulierung der zweiten Analogie vorgenommene Einschränkung auf Veränderungen im Sinne von Entstehen der Sache nach gar keine wirkliche Einschränkung. Wie dem auch sei: Wir können zumindest festhalten, dass die BFormulierung der zweiten Analogie durch die explizite Verwendung des Begriffes der Veränderung, mit dem sich Kant in der ersten Analogie auseinandergesetzt hat, zumindest in einer Hinsicht etwas klarer ausfällt. In der Formulierung der ersten Auflage wird hingegen zumindest im Ansatz deutlicher, was Kant unter der in der Formulierung der zweiten Auflage angesprochenen, aber nicht weiter aufgeschlüsselten Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung genauer versteht: Die Verknüpfung ist derart, dass die Wirkung nach einer Regel auf die Ursache folgt. Dieser Aspekt ist in unserem Zusammenhang von besonders großer Bedeutung: Wie oben bereits angesprochen, ist die Frage, ob es in der zweiten Analogie um die Existenz empirischer Naturgesetze geht, Gegenstand einer kontroversen Debatte. Eines der Ziele meiner Rekonstruktion des Beweisganges der zweiten Analogie besteht darin, eine Auslegung zu verteidigen, der zufolge Kant unter den in der A-Formulierung erwähnten Regeln eben gerade konkrete Kausalgesetze versteht, bei denen es sich um empirische Naturgesetze handelt. Nach dieser Lesart lautet Kants grundsätzliche These letztlich, dass für alle Veränderungen von Zuständen eines Gegenstandes gilt, dass sie einem empirischen Kausalgesetz unterworfen sind, und zwar derart, dass aufgrund des Gesetzes der zweite Zustand notwendigerweise auf den ersten Zustand folgt. Bevor ich den Beweisgang der zweiten Analogie genauer betrachte, möchte ich zunächst Friedmans Belege dafür, dass Kant tatsächlich den Anspruch erhebt, die Existenz und Notwendigkeit empirischer Naturgesetze zu beweisen, genauer in Betracht ziehen. Die daran anschließende Rekonstruktion des Argumentes der zweiten Analogie der Erfahrung, die ich in Abschnitt 3.3 durchführen werde, soll Friedmans Lesart dann bestätigen.⁴³ Im Anschluss an die Rekonstruktion gilt es dann in Abschnitt 3.4 zu klären, was Kant im Rahmen seines Argumentes eigentlich genau unter Notwendigkeit versteht und warum die Existenz und Notwendigkeit empirischer Naturgesetze Kant zufolge tatsächlich aus dem Argument für die zweite Analogie der Erfahrung folgt.
Obwohl Friedman die Argumentationsziele von Kants Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung und den Zusammenhang dieses Abschnittes mit anderen Texten Kants in vielen Publikationen genauer untersucht, liegt – soweit ich sehe – keine genauere Analyse von Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung aus Friedmans Feder vor. In gewisser Weise kann meine Rekonstruktion daher als Ergänzung zu Friedmans Schriften verstanden werden, denn ich glaube, dass meine Rekonstruktion Friedmans Thesen bezüglich der von Kant verfolgten Argumentationsziele stützt.
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
3.2.2 Die Notwendigkeit empirischer Kausalgesetze Zur Stützung seiner These, dass Kant im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung sowohl die Existenz als auch die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze beweisen möchte, führt Friedman mehrere Textstellen an, an denen Kant sich explizit zum Begriff der Kausalität äußert. Schauen wir uns nun zwei davon etwas genauer an. In einer Passage zu Beginn der transzendentalen Deduktion liefert uns Kant etwa folgende Analyse des Begriffes der Kausalität⁴⁴: [D]ieser Begriff erfordert durchaus, daß etwas A von der Art sei, daß ein anderes B daraus n o t w e n d i g und nach einer s c h l e c h t h i n a l l g e m e i n e n R e g e l folge. Erscheinungen geben gar wohl Fälle an die Hand, aus denen eine Regel möglich ist, nach der etwas gewöhnlicher maßen geschieht, aber niemals, daß der Erfolg n o t w e n d i g sei: daher der Synthesis der Ursache und Wirkung auch eine Dignität anhängt, die man gar nicht empirisch ausdrücken kann, nämlich, daß die Wirkung nicht bloß zu der Ursache hinzukomme, sondern d u r c h dieselbe gesetzt sei, und a u s ihr erfolge. (KrV, A 91 / B 124)
Kants Verweis auf eine Regel, die strenge Allgemeinheit aufweist, ist ein klarer Hinweis darauf, dass er eine Konzeption von Kausalität vertritt, der zufolge es wesentlich für eine Kausalbeziehung ist, dass sie unter einem kausalen Gesetz steht. Wir erfahren außerdem, dass Kants Konzeption zufolge die Relata der Kausalbeziehung durch eine notwendige Verknüpfung miteinander verbunden sind.⁴⁵ Diese beiden Punkte werden auch im Zusammenhang mit dem Argument für die zweite Analogie der Erfahrung von Kant genannt⁴⁶: Wenn ich also wahrnehme, daß etwas geschieht, so ist in dieser Vorstellung erstlich enthalten: daß etwas vorhergehe, weil eben in Beziehung auf dieses die Erscheinung ihre Zeitverhältnis bekommt, nämlich, nach einer vorhergehenden Zeit, in der sie nicht war, zu existieren. Aber ihre bestimmte Zeitstelle in diesem Verhältnisse kann sie nur dadurch bekommen, daß im vorhergehenden Zustande etwas vorausgesetzt wird, worauf es jederzeit, d. i. nach einer Regel, folgt: woraus sich denn ergibt, […] daß, wenn der Zustand, der vorhergeht, gesetzt wird, diese bestimmte Begebenheit unausbleiblich und notwendig folge. (KrV, A 198 / B 243 f.)
Vgl. Friedman (1992a, 161 f.). Für ganz ähnliche, im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit Hume stehende Stellen, an denen Kant die objektive Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung stark hervorhebt, siehe Prol, AA 4: 257 f., sowie KpV, AA 5: 50 f. Vgl. Friedman (1992a, 170 f.).
3.2 Kausale Verknüpfungen, Kausalgesetze und Notwendigkeit
133
Hier erläutert Kant, wie Abfolgen objektiver Zustände durch die Anwendung der Kausalitätskategorie eine zeitliche Ordnung erhalten.⁴⁷ Die Charakterisierung der Kausalbeziehung fällt dabei genauso aus, wie in der zuvor zitierten Passage: Das Kausalverhältnis unterliegt einer Regel, die allgemein gilt und die Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung ist eine notwendige Verknüpfung.⁴⁸ Wir können also davon ausgehen, dass Kant in der zweiten Analogie einen Kausalitätsbegriff verwendet, in dem die Vorstellungen eines allgemeinen Gesetzes und einer Notwendigkeit der Verknüpfung enthalten sind. Von diesem Kausalitätsbegriff ausgehend müssen wir meines Erachtens die zweite Analogie der Erfahrung tatsächlich so verstehen, dass Kant die Existenz empirischer Kausalgesetze nachweisen möchte: Da es sich bei der zweiten Analogie der Erfahrung um den allgemeinen Kausalsatz handelt, dem zufolge jede Veränderung eine Ursache hat, folgt aus ihr unter der Voraussetzung des eben skizzierten Kausalitätsbegriffes und unter der Zusatzannahme, dass es tatsächlich beobachtbare Veränderungen gibt, die Existenz von allgemeingültigen Kausalgesetzen. In Bezug auf die in der Kausalität enthaltene Notwendigkeit müssen wir nun jedoch eine wichtige Unterscheidung einführen, die einem auf den ersten Blick leicht entgehen kann und die möglicherweise auch Kant nicht klar vor Augen stand.
3.2.3 Die Notwendigkeit von Grundsätzen, die Notwendigkeit von empirischen Kausalgesetzen und die Notwendigkeit von kausalen Verknüpfungen Kant spricht in den oben angeführten Zitaten zum Begriff der Kausalität stets von einer notwendigen Verknüpfung der Relata einer Kausalbeziehung. Dies ist aber zunächst einmal etwas anderes, als von einer Notwendigkeit des kausalen Gesetzes zu sprechen, dem die Kausalbeziehung unterliegt. Dies kann man sich folgendermaßen verdeutlichen:
Da wir uns mit der Rekonstruktion des im letzten Zitat angedeuteten Argumentes für die zweite Analogie der Erfahrung weiter unten beschäftigen, konzentriere ich mich hier zunächst nur auf Kants im Zitat enthaltenen Äußerungen zum Kausalitätsbegriff. Wichtig ist mir an dieser Stelle zunächst nur der Hinweis, dass der Kontext des Argumentes für die zweite Analogie verdeutlicht, dass Kant an der zitierten Stelle tatsächlich vom Kausalitätsbegriff spricht. Ein Problem der zitierten Stelle besteht darin, dass Kant die Situation hier offenbar so darstellt, als ginge es um eine Kausalbeziehung zwischen den beiden Zuständen eines Objektes, die zeitlich geordnet werden sollen.Wie ich in Abschnitt 3.3.4 genauer anspreche, spricht vieles dafür, dass Kant an dieser und auch an manch anderer Stelle seine Konzeption unglücklicherweise verzerrt darstellt, da es sich nämlich eigentlich so verhält, dass es sich bei der zeitlich zu bestimmenden Abfolge der Zustände des Objektes um die Wirkung einer (in der Regel dem Objekt des Zustandswechsels äußeren) Ursache handelt.
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Wenn wir von einer notwendigen Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung sprechen, stellen wir uns das in der Regel so vor, dass das Auftreten der Ursache das Auftreten der Wirkung in einer bestimmten Weise erzwingt. Wenn wir einmal voraussetzen, dass bestimmte empirische Kausalgesetze gelten, können wir uns das genauer so vorstellen, dass das Auftreten der Ursache unter der Bedingung der Gültigkeit eines bestimmten empirischen Kausalgesetzes die Wirkung unweigerlich, das heißt notwendig, nach sich zieht. Dies ist eine Notwendigkeit der Verknüpfung relativ zu der Gültigkeit eines Gesetzes – und dabei ist noch nichts darüber ausgesagt, ob das Gesetz selbst in irgendeinem Sinne mit Notwendigkeit gilt.⁴⁹ Was mit der Notwendigkeit eines Gesetzes gemeint sein kann, lässt sich vielleicht ganz gut durch einen Vergleich mit den Prinzipien des Verstandes vor Augen führen. Bei den Prinzipien des Verstandes, von denen die zweite Analogie eines ist, handelt es sich in einem ganz bestimmten Sinne um notwendige Gesetze: Wenn Kants Programm in der Analytik der Kritik der reinen Vernunft insgesamt aufgeht, ist damit gezeigt, dass es sich bei der Gültigkeit dieser Prinzipien um notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung handelt. Sie sind also in einem transzendentalen Sinne notwendig: In einer für uns erkennbaren Natur gelten diese Gesetze mit Notwendigkeit; würden sie nicht gelten, wäre die Natur nicht erkennbar.⁵⁰ Was könnte es aber heißen, dass ein empirisches Gesetz mit Notwendigkeit gilt? Es ist klar, dass es nicht exakt dasselbe heißen kann wie im Falle der transzendentalen Gesetze des Verstandes. Nach der (hier noch zu leistenden Rekonstruktion der) zweiten Analogie der Erfahrung ist es zwar eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, dass irgendwelche empirischen Kausalgesetze gelten, aber eben gerade nicht, dass bestimmte empirische Gesetze gelten. Dies hebt Kant schon am Ende der transzendentalen Deduktion der Kategorien hervor: Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine N a t u r ü b e r h a u p t […] beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon n i c h t v o l l s t ä n d i g a b g e l e i t e t werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. (KrV, B 165)
Auf diesen Unterschied macht auch Guyer (2008, 117) aufmerksam. Neben den Grundsätzen des Verstandes sind nach Kant auch die Sätze der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft synthetische Sätze a priori und gelten entsprechend mit Notwendigkeit und strenger Allgemeingültigkeit.Vgl. Friedman (2012, 321, Fn. 31). Mit den Sätzen der reinen Naturwissenschaft und ihrem Status als synthetische Sätze a priori werden wir uns in Kapitel 4 ausführlich auseinandersetzen.
3.2 Kausale Verknüpfungen, Kausalgesetze und Notwendigkeit
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Zusammenfassend kann man also sagen, dass wir es im Zusammenhang mit der zweiten Analogie mit drei Begriffen der Notwendigkeit zu tun haben, deren Zusammenhang miteinander sicherlich klärungsbedürftig ist: Zum einen haben wir es mit der transzendental-notwendigen Gültigkeit der zweiten Analogie als eines Grundsatzes des Verstandes zu tun. Zweitens gibt es die in der A-Formulierung explizit genannten empirischen Kausalgesetze und wir haben bisher nicht geklärt, ob – und falls ja, inwiefern – Kant davon ausgeht, dass auch diese Gesetze mit Notwendigkeit gelten. Als Drittes stellt Kant häufig die Notwendigkeit der Verknüpfung der Relata einer Kausalbeziehung in den Vordergrund und betont gegen Hume, dass es sich bei dieser Notwendigkeit um eine objektive Notwendigkeit handelt. Bei unserer Rekonstruktion des Argumentes für die zweite Analogie haben wir also insbesondere darauf zu achten, inwiefern wir dem Argument zufolge von einer notwendigen Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung auszugehen haben. Wenn wir mit diesen Unterscheidungen im Hinterkopf einen weiteren Blick auf Friedmans Analyse der kantischen Kausalitätskonzeption werfen, dann sehen wir, dass Friedman aus der von Kant vertretenen Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung explizit die Konsequenz zieht, dass auch das empirische Kausalgesetz selbst mit Notwendigkeit gelten muss. So fasst er die Ergebnisse seiner Betrachtung von Kants Analyse des Begriffes der Kausalität wie folgt zusammen: The conception of causality that emerges from the passages we have been considering therefore appears to be the following. To say that event A causes event B is to say, first, that there is a universal rule or law of the form: Events of type A are followed by events of type B. Yet, because experience alone can never show that such a rule or law is strictly universal, the judgment that A causes B must be grounded, additionally, in an a priori source or faculty of knowledge. The latter is of course the understanding […]. And this means, finally, that we are also entitled to assert that all events of type A are necessarily followed by events of type B. In other words, the causal relation is understood in terms of strictly universal laws, which latter, in turn, are characterized as necessary. (Friedman 1992a, 163 f.; Fußnote ausgelassen; Hervorhebungen im Original)
Wir sehen hier, dass Friedman zunächst auf den Umstand hinweist, dass Kant konkrete Kausalbeziehungen explizit so auffasst, dass die Abfolge der beiden Relata einem streng allgemeinen Gesetz unterliegt. Da Kant mit Hume darüber übereinstimmt, dass die strenge Allgemeinheit eines Gesetzes nicht empirisch erkannt werden kann, muss ein entsprechendes Kausalurteil zumindest zum Teil auf Gründen beruhen, die a priori sind. Zuletzt geht Friedman auf die in einem Kausalurteil enthaltene Notwendigkeit ein. Und dort sehen wir, dass er zunächst von einer notwendigen Verknüpfung der kausalen Relata spricht – wie Kant das an den Stellen, die Friedman zahlreich als Belege anführt, auch tut – um dies dann
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
(„[i]n other words“) mit der Notwendigkeit der Kausalgesetze zu identifizieren. Die entscheidende Frage ist, ob dieser Übergang von einer notwendigen Verknüpfung der kausalen Relata zu einer Notwendigkeit der Kausalgesetze im Sinne Kants ist und auch inhaltlich verständlich gemacht werden kann.⁵¹ Tatsächlich gibt es Anzeichen dafür, dass auch Kant selber die verschiedenen hier betrachteten Arten von Notwendigkeit sehr eng beieinander führt und stellenweise sogar geradezu miteinander identifiziert. Zunächst einmal wird deutlich, dass Kant sich durch die Charakterisierung der empirischen Kausalgesetze als streng allgemeingültige Gesetze indirekt darauf festlegt, dass diese Gesetze selbst auch mit Notwendigkeit gelten. Das geht aus der Stelle in der B-Einleitung hervor, an der er strenge Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit als Kriterien für eine Apriori-Erkenntnis anführt: Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori, und gehören auch unzertrennlich zueinander. (KrV, B4; meine Hervorhebung)
Kant legt sich hier im Prinzip darauf fest, dass Sätze genau dann, wenn sie streng allgemein gelten, auch mit Notwendigkeit gelten. Und da er wie gesehen vertritt, dass Sätze, die empirische Kausalgesetze ausdrücken, mit strenger Allgemeinheit gelten, ist er offenbar darauf festgelegt, dass diese Gesetze auch mit Notwendigkeit gelten.
Friedman vertritt die Position, dass die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze anhand der Kategorie der Notwendigkeit im Zusammenhang mit den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt aufgeschlüsselt werden kann. Wir werden uns hiermit ausführlich in Kapitel 4, insbesondere in Abschnitt 4.6.5, auseinandersetzen. Nach dieser Lesart ließe sich die Form von empirischen Gesetzesaussagen anhand der kantischen Urteilstafel (KrV, A 70 / B 95) wie folgt bestimmen: Empirische Gesetzesaussagen sind der Quantität nach allgemein, der Qualität nach bejahend und der Modalität nach apodiktisch. Hinsichtlich der Relation ist eine Fallunterscheidung nötig: Empirische Kausalgesetze sind der Relation nach hypothetisch. Empirische Wechselwirkungsgesetze werfen hingegen Schwierigkeiten bei der Einordnung hinsichtlich der Relation auf. Nach der von Kant angenommenen Korrespondenz zwischen der Urteils- und der Kategorientafel entspricht die Kategorie der Gemeinschaft der Urteilsform der disjunktiven Urteile. Aber die Korrespondenz ist in diesem Fall leider wenig einsichtig (vgl. Allison 2004, 151). Dies kann man sich auch an einem Beispiel recht schnell verdeutlichen: Ein Wechselwirkungsgesetz, mit dem wir uns in Kapitel 4, Abschnitt 4.6, noch genauer auseinandersetzen werden, ist das Gravitationsgesetz. Dieses Gesetz bestimmt die Krafteinwirkung zweier materieller Körper aufeinander in Abhängigkeit von ihrer Masse und ihrem Abstand zueinander. Es ist nicht einzusehen, wie dieses Gesetz in der Form eines disjunktiven Urteiles, also eines Urteiles der Form „a ist entweder F1 oder F2 oder … oder Fn“ mit einander wechselseitig ausschließenden Prädikaten F1 bis Fn ausgedrückt werden kann.
3.2 Kausale Verknüpfungen, Kausalgesetze und Notwendigkeit
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Nur wenige Zeilen später wird dann außerdem deutlich, dass Kant die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfungen geradezu mit der transzendentalen Notwendigkeit der zweiten Analogie identifiziert. Um nämlich ein Beispiel für einen streng allgemeingültigen und notwendigen Satz anführen zu können, bezieht er sich wie folgt auf die zweite Analogie: Daß es nun dergleichen notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile a priori, im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen. Will man ein Beispiel […] aus dem gemeinsten Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache haben müsse, dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff einer Ursache so offenbar den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel, daß er gänzlich verlorengehen würde, wenn man ihn, wie H u m e tat, von einer öfteren Beigesellung dessen was geschieht, mit dem was vorhergeht, und einer daraus entspringenden Gewohnheit, (mithin bloß subjektiven Notwendigkeit,) Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte. (KrV, B 5; Hervorhebungen durch Kursivierung von mir)
In der zweiten Analogie fallen also die Merkmale der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit erwartungsgemäß mit der Apriorität dieses Satzes zusammen – soweit nicht überraschend. Interessant ist, dass Kant dann in der kursiv hervorgehobenen Passage offenbar den Status der Notwendigkeit und der strengen Allgemeinheit der zweiten Analogie dadurch verdeutlichen möchte, dass er auf den Gehalt des enthaltenen Kausalitätsbegriffes verweist. Und dabei sieht es tatsächlich so aus, als würde er einerseits die strenge Allgemeinheit der zweiten Analogie mit der strengen Allgemeinheit konkreter Kausalgesetze und andererseits die Notwendigkeit der zweiten Analogie mit der Notwendigkeit kausaler Verknüpfungen identifizieren oder zumindest in ein Implikationsverhältnis setzen. Und da hier gleich alle drei Ebenen – die zweite Analogie, die in der zweiten Analogie angesprochenen empirischen Kausalgesetze und die unter den Kausalgesetzen stehenden kausalen Verknüpfungen – angesprochen werden, kann man tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass es für Kant zwischen den drei Ebenen und den auf diesen drei Ebenen relevanten Begriffen der Notwendigkeit enge Beziehungen geben muss. Dieser Eindruck kann gestützt werden durch weitere explizite Äußerungen Kants zum Verhältnis zwischen der zweiten Analogie und empirischen Kausalgesetzen. An einer Textstelle aus der B-Deduktion klingt eine gewisse Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen an. Kant sagt dort, dass die empirischen Gesetze aus den transzendentalen Gesetzen des Verstandes „n i c h t v o l l s t ä n d i g a b g e l e i t e t werden [können], ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen.“
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
(KrV, B 165) Dadurch legt er nahe, dass die empirischen Gesetze in gewisser Weise zumindest zum Teil aus den Prinzipien abgleitet werden können.⁵² Was das genau zu bedeuten hat, können wir an dieser Stelle noch nicht klären. Als Zwischenergebnis möchte ich jedoch festhalten, dass Kant offenbar ein enges Verhältnis zwischen der Notwendigkeit der zweiten Analogie, der Notwendigkeit der unter ihr stehenden empirischen Kausalgesetze und der Notwendigkeit der unter diesen Kausalgesetzen stehenden Verknüpfungen sieht. In der folgenden Rekonstruktion des Argumentes für die zweite Analogie werden wir uns zunächst auf die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung konzentrieren. Die Frage wird sein, wie durch dieses Argument deutlich wird, dass die kausalen Verknüpfungen in der Welt als notwendige Verknüpfungen aufgefasst werden müssen und was „Notwendigkeit“ in diesem Fall genau bedeutet. Später werden wir der Frage nachgehen, inwiefern es einen Zusammenhang zwischen dieser Art von Notwendigkeit und der Notwendigkeit empirischer Kausalgesetze gibt.⁵³ Im nächsten Kapitel über die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft werden wir dann insbesondere anhand der Rekonstruktion Friedmans genauer sehen, wie Kant sich den Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze und den Prinzipien des Verstandes vorstellt.
3.3 Der Argumentationsgang 3.3.1 Das Ausgangsproblem: Objektive Zeitbestimmung Die Darstellung des Argumentationsganges der zweiten Analogie weist die Besonderheit auf, dass Kant gleich eine ganze Abfolge von Beweisen präsentiert, die sich jedoch – mit einer Ausnahme⁵⁴ – in der Grundidee nicht voneinander un-
Ähnlich äußert sich Kant an einer Parallelstelle aus der A-Deduktion: „Zwar können empirische Gesetze, als solche, ihren Ursprung keinesweges vom reinen Verstande herleiten […]. Aber alle empirische Gesetze sind nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind, und die Erscheinungen eine gesetzliche Form annehmen […].“ (KrV, A 127 f.) Wie wir in Kapitel 4 sehen werden, ist dieser Gedanke, dass die empirischen Naturgesetze zum Teil unter den Grundsätzen des Verstandes stehen beziehungsweise besondere Bestimmungen der Grundsätze sind, grundlegend für Friedmans Interpretation von Kants Konzeption empirischer Naturgesetze. Hierauf werden wir insbesondere in den Abschnitten 3.4.1 und 3.4.2 zurückkommen. Hierbei handelt es sich um ein Argument, das auf der formalen Einheit der Zeit basiert (KrV, A 199 – 201 / B 244– 246). Dieses zusätzliche Argument werde ich nicht behandeln. Siehe hierzu Thöle (1991, 205 ff.) und Longuenesse (2005, 172 ff.). Guyer (1987, 241 f.) vertritt die Meinung, dass
3.3 Der Argumentationsgang
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terscheiden.⁵⁵ In der zweiten Auflage der Kritik hat Kant sogar, so wie auch bei den anderen beiden Analogien der Erfahrung, dem Textabschnitt der ersten Auflage eine zusätzliche Darstellung des Argumentes vorangestellt. Insgesamt kann man sagen, dass eine Serie von unterschiedlichen Darstellungen desselben Argumentes vorliegt, so dass es angemessen erscheint, in der Rekonstruktion des Argumentationsganges frei zwischen den verschiedenen Darstellungen zu wechseln, ohne dabei die Einheit des dargestellten Gedankenganges zu gefährden. Der Ausgangspunkt von Kants Argument besteht in der Feststellung, dass unsere Wahrnehmung von Erscheinungen in einer zeitlichen Abfolge von einzelnen Wahrnehmungen besteht: Die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv. Die Vorstellungen der Teile folgen auf einander. (KrV, A 189 / B 234)
Hieraus ergibt sich in gewisser Weise eine Problemstellung, denn wenn unsere Wahrnehmung stets sukzessiv ist⁵⁶, ist durch die bloße Wahrnehmung der Unterschied zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Fällen unterbestimmt: Ob sie [die vorgestellten Teile] sich auch im Gegenstande folgen, ist ein zweiter Punkt der Reflexion, der in dem ersteren nicht enthalten ist. (KrV, A 189 / B 234)
Grundsätzlich sind also zwei Fälle möglich: Einerseits könnte es sich bei der sukzessiven Wahrnehmung um die Wahrnehmung der gleichzeitigen Teile eines statischen Gegenstandes handeln. Andererseits könnte es sich um die Wahrnehmung einer zeitlichen Abfolge verschiedener Zustände eines einer Veränderung unterworfenen Gegenstandes handeln. Da in beiden Fällen die subjektiven Wahrnehmungen sukzessiv sind, muss der Unterschied zwischen den beiden
Kant an der besagten Stelle nicht einen zusätzlichen eigenständigen Beweis präsentiert, sondern lediglich eine zusätzliche Formulierung der Konklusion der anderen Beweise. Dies scheint in der Sekundärliteratur allgemeiner Konsens zu sein. Siehe etwa Allison (2004, 249 f.) und Guyer (1987 241 f.), die jeweils auf weitere Literatur verweisen. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich der Anzahl der Versionen des Beweisganges. Die Frage der Individuierung und Anzahl der Beweisgänge muss allerdings meines Erachtens für eine erfolgreiche Interpretation des Beweises nicht unbedingt geklärt werden. Man kann die Annahme der Sukzessivität unserer Wahrnehmung natürlich infrage stellen. Thöle (1991, 140 ff.) weist meines Erachtens jedoch überzeugend nach, dass man die Probleme, die die zweite Analogie lösen soll, zumindest in einer modifizierten Weise auch dann bekommt, wenn man vom Fall einer kontinuierlichen Wahrnehmung ausgeht. Da es mir hier ohnehin in erster Linie um eine Rekonstruktion von Kants Position und weniger um eine Bewertung seines Argumentes aus systematischer Perspektive geht, gehe ich auf diesen Punkt nicht genauer ein.
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Fällen in etwas bestehen, was zu der Abfolge der Wahrnehmungen noch hinzukommt. Kant verdeutlicht diese beiden möglichen Fälle durch jeweils ein Beispiel. Der Fall eines statischen Gegenstandes wird anhand des Beispiels der Betrachtung eines Hauses verdeutlicht: So ist z. E. die Apprehension des Mannigfaltigen in der Erscheinung eines Hauses, das vor mir steht, sukzessiv. Nun ist die Frage: ob das Mannigfaltige dieses Hauses selbst auch in sich sukzessiv sei, welches freilich niemand zugeben wird. (KrV, A 190 / B 235)
Kant stellt sich vor, dass er vor einem Haus steht und die Oberfläche des Hauses nach und nach mit seinen Augen abtastet. Die Wahrnehmung ist sukzessiv: Er nimmt also etwa zunächst die Tür des Hauses wahr, dann wandert sein Blick weiter nach oben zu einem Fenster und zuletzt betrachtet er das Dach. Während die Wahrnehmung also sukzessiv ist, würden wir in diesem Beispiel nicht sagen, dass auch das, was wahrgenommen wird, einer zeitlichen Abfolge unterliegt: Tür, Fenster und Dach des Hauses folgen nicht zeitlich aufeinander, sondern existieren gleichzeitig.⁵⁷ Anders verhält es sich hingegen bei der Betrachtung eines Schiffes, das durch seine Bewegung einer Veränderung unterliegt: Ich sehe z. B. ein Schiff den Strom hinab treiben. Meine Wahrnehmung seiner Stelle unterhalb, folgt auf die Wahrnehmung der Stelle desselben oberhalb dem Laufe des Flusses […]. (KrV, A 192 / B 237)
Während die Bestimmung von objektiven zeitlichen Abfolgen das Thema der zweiten Analogie der Erfahrung ist, ist die Bestimmung von objektiver Gleichzeitigkeit das Thema der dritten Analogie. Während Kant im Abschnitt über die zweite Analogie erklärt, wie wir dazu in der Lage sind, im gleich betrachteten Beispiel der Beobachtung eines fahrenden Schiffes die objektive Zeitfolge der Zustände des beobachteten Schiffes zu bestimmen, bleibt das hier betrachtete Kontrast-Beispiel des Hauses an dieser Stelle noch unterbestimmt: Erst mit den Mitteln des Abschnittes über die dritte Analogie der Erfahrung kann Kant erklären, was er hier beschreibt, nämlich wie es uns möglich ist, die objektive Gleichzeitigkeit wahrgenommener Objektzustände festzustellen. Ich konzentriere mich hier, dem Thema des Kapitels entsprechend, auf Kants Erklärung der Möglichkeit der Bestimmung von objektiven Zeitfolgen, wie er sie im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung darlegt. Wenn im Folgenden davon die Rede ist, dass es um unsere Fähigkeit geht, zwischen der Wahrnehmung einer objektiven Zeitfolge und der Wahrnehmung von objektiv gleichzeitigen Objektzuständen zu unterscheiden, ist dabei stets vorausgesetzt, dass für eine vollständige Erklärung dieser Fähigkeit die Ergebnisse des Abschnittes über die dritte Analogie einbezogen werden müssten.
3.3 Der Argumentationsgang
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Auch hier liegt eine sukzessive Wahrnehmung vor, aber der entscheidende Unterschied zwischen diesem Fall und dem des Hauses besteht darin, dass in diesem Fall die zeitliche Abfolge der Wahrnehmungen auch einer zeitlichen Abfolge von Zuständen des betrachteten Objektes entspricht: Das Schiff befindet sich zunächst, wie in der ersten Wahrnehmung vorgestellt, an einer Stelle des Flusses und danach an einer anderen, weiter flussabwärts liegenden Stelle.Wir würden in diesem Fall nicht sagen, dass es sich – wie im Fall des Hauses – um eine sukzessive Abfolge von Wahrnehmungen von zugleich existierenden Zuständen handelt. Aus der Unterscheidung dieser beiden Fälle entsteht in gewisser Weise ein Problem, denn da in beiden Fällen die Wahrnehmung sukzessiv ist, steht fest, dass wir das Vorliegen einer objektiven Abfolge nicht einfach daran festmachen können, dass die Wahrnehmungen zeitlich aufeinander folgen. Offenbar besteht das Problem jedoch nicht darin, dass wir im alltäglichen Leben nicht wissen, wie wir die beiden Arten von Fällen voneinander unterscheiden sollen, denn wir tun dies quasi in jedem Moment und sind uns in der Regel keines Problems bewusst. Das Problem besteht aus philosophischer Sicht darin zu erklären, wie wir diese Unterscheidung tatsächlich vornehmen. Kants Lösungsvorschlag ist gleichzeitig der entscheidende Grundgedanke seiner Argumentation für die zweite Analogie der Erfahrung: Kant zufolge ist es nur unter der Voraussetzung der Gültigkeit der zweiten Analogie der Erfahrung möglich, die beiden Arten von Fällen zu unterscheiden. Insbesondere ist es ihm zufolge nur unter dieser Voraussetzung möglich, eine Abfolge von Wahrnehmungen als die Abfolge von Wahrnehmungen einer objektiven Abfolge von nacheinander bestehenden Zuständen zu interpretieren. Anders ausgedrückt: Die zweite Analogie der Erfahrung ist Kant zufolge eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von objektiven Ereignissen. Dies ist zumindest die Idee von Kants Argument. Wenden wir uns nun einer genaueren Analyse der weiteren Argumentationsschritte zu, um zu sehen, weshalb wir Kant zufolge von der Gültigkeit der zweiten Analogie ausgehen müssen, um sukzessive Wahrnehmungen als Repräsentation einer objektiven Abfolge interpretieren zu können.
3.3.2 Die Unumkehrbarkeit von Wahrnehmungsfolgen Der nächste Argumentationsschritt hebt an mit einer Überlegung bezüglich der Unumkehrbarkeit bestimmter Wahrnehmungsfolgen. Kant stellt fest, dass sich eine Abfolge von Wahrnehmungen, die eine objektive Abfolge repräsentiert, in einer bedeutenden Hinsicht von einer solchen Abfolge von Wahrnehmungen unterscheidet, die zeitgleich existierende Objektzustände darstellt:
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Jede Apprehension einer Begebenheit ist also eine Wahrnehmung, welche auf eine andere folgt.Weil dieses aber bei aller Synthesis der Apprehension so beschaffen ist, wie ich oben an der Erscheinung eines Hauses gezeigt habe, so unterscheidet sie sich dadurch noch nicht von andern. Allein ich bemerke auch: daß, wenn ich an einer Erscheinung, welche ein Geschehen enthält, den vorhergehenden Zustand der Wahrnehmung A, den folgenden aber B nenne, daß B auf A in der Apprehension nur folgen, die Wahrnehmung A aber auf B nicht folgen, sondern nur vorhergehen kann. (KrV, A 192 / B 237)
Zu Beginn dieser Passage wiederholt Kant das Ausgangsproblem: Es geht um die Frage, auf welcher Grundlage wir eine Sukzession von Wahrnehmungen als eine Repräsentation einer Begebenheit interpretieren können – wobei er unter einer Begebenheit offenbar ein Ereignis, das heißt eine Abfolge von Zuständen eines Objektes versteht. Das beschriebene Problem besteht erneut darin, dass sich die Wahrnehmung einer solchen objektiven Abfolge nicht von der Wahrnehmung verschiedener Teile eines statischen Objektes unterscheidet: In beiden Fällen ist die Wahrnehmung sukzessiv. Der folgende Satz ist dann eine Annäherung an eine Lösung: Als Unterschied zwischen der Wahrnehmung einer objektiven Abfolge und der Wahrnehmung verschiedener Teile eines statischen Objektes hält Kant fest, dass im ersten Fall die Reihenfolge der Wahrnehmungen unumkehrbar ist, im zweiten Fall jedoch nicht. Diese Idee der Unumkehrbarkeit mancher Wahrnehmungsfolgen im Gegensatz zu anderen hat zu sehr unterschiedlichen Interpretationen Anlass gegeben. Die meisten Interpretationen der letzten Jahrzehnte stimmen jedoch in einem Punkt überein, nämlich darin, dass zumindest die Interpretation Peter Strawsons sicherlich falsch ist. Tatsächlich hat es sich in der Sekundärliteratur zur zweiten Analogie zu einer unausgesprochenen Konvention entwickelt, die eigene Interpretation von Kants Unumkehrbarkeitsthese in Abgrenzung zu Strawson zu entwickeln – und auch ich möchte mich hier dieser Technik bedienen, da man sich diesem Punkt tatsächlich dadurch am besten nähern kann, dass man versteht, wie Kant es sicherlich nicht gemeint hat. Die Grundüberlegung von Strawsons Interpretation besteht darin, dass es sich Kant zufolge bei der Unumkehrbarkeit einer Wahrnehmungsfolge um ein notwendiges Kriterium handelt, das wir benötigen, um eine Wahrnehmungsfolge als die Repräsentation eines objektiven Ereignisses interpretieren zu können.⁵⁸
„Any use we may make in experience of the concept of an objective event depends upon our implicit use of the notion of a necessary order of the relevant perceptions. […] Lack or possession of order-indifference on the part of our perceptions is, he [Kant] seems to say, our criterion – whether we reflectively realize the fact or not – of objective succession or co-existence.“ (Strawson 1966, 134) Dass es sich Strawson zufolge um ein notwendiges Kriterium handeln soll, wird aus dem gleich analysierten Argument deutlich, das er Kant zuschreibt.
3.3 Der Argumentationsgang
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Nach Strawsons Interpretation argumentiert Kant insgesamt wie folgt: Im Falle der sukzessiven Betrachtung der Teile eines Hauses können wir feststellen, dass wir unsere Wahrnehmungen, die in einer bestimmten zeitlichen Reihenfolge aufgetreten sind, auch in einer anderen Reihenfolge hätten haben können. Anstatt also etwa zunächst die Tür, dann ein Fenster und dann das Dach zu betrachten, hätten wir auch unseren Blick in umgekehrter Richtung wandern lassen können und dann wären die Wahrnehmungen in umgekehrter Reihenfolge aufgetreten, nämlich zuerst die Wahrnehmung des Daches, dann eines Fensters und zuletzt der Tür. Anders verhält es sich jedoch im Fall der Beobachtung des Schiffes: Es stand uns nicht frei, zunächst die Wahrnehmung des Schiffes im unteren Teil des Flusses und dann die Wahrnehmung des Schiffes im oberen Teil des Flusses zu haben. Die Folge der Wahrnehmungen des Schiffes ist nicht umkehrbar und nur aufgrund dieser Feststellung, so Kant nach Strawsons Auslegung, können wir die Abfolge der Wahrnehmungen des Schiffes als die Repräsentation einer objektiven Abfolge auffassen. Das Problem dieser Interpretation wird sichtbar, wenn man die weiteren Überlegungen Kants hinzuzieht: Es geht Kant an dieser Stelle ja darum zu zeigen, dass jedes von uns wahrnehmbare Ereignis einem Kausalgesetz unterliegt. Strawson schreibt Kant folgendes Gesamtargument für die Gültigkeit der zweite Analogie zu: Erstens benötigen wir die Unumkehrbarkeit einer Wahrnehmungsfolge – das heißt die Notwendigkeit der Reihenfolge der Wahrnehmungen – als Kriterium, um eine Abfolge von Wahrnehmungen als Repräsentation eines objektiven Ereignisses interpretieren zu können. Zweitens kann die Reihenfolge unserer Wahrnehmungen aber nur dann notwendig sein, wenn die Reihenfolge der beiden repräsentierten objektiven Zustände ebenfalls notwendig ist, was gleichbedeutend damit ist, dass die Abfolge der objektiven Zustände kausal determiniert ist. Daraus folgt dann, dass wir nur dann ein Ereignis wahrnehmen können, wenn die Abfolge der Zustände, die das Ereignis ausmachen, kausal determiniert ist. Da diese gesamte Überlegung für alle Wahrnehmungen von Ereignissen gilt, folgt insgesamt, dass jedes von uns wahrnehmbare Ereignis unter einem Kausalgesetz steht – was gleichbedeutend ist mit der zweiten Analogie der Erfahrung.⁵⁹
„Briefly, any succession of perceptions is a perception of objective change only if the order of those perceptions is necessary; but the order of the perceptions can be necessary only if the change is necessary, i. e. causally determined. Any objective change which is an object of possible experience for us, i. e. an object of possible peception, is causally determined. Hence the Law of Universal Causality is valid for all possible experience.“ (Strawson 1966, 138) Dies ist, wohlgemerkt, Strawsons Rekonstruktion von Kants Argument, das Strawson selber nicht für gültig hält.
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Basierend auf dieser Interpretation hebt Strawson dann dazu an, einen in diesem Argument enthaltenen Schluss zu kritisieren. Strawsons Kritik zielt dabei insbesondere auf den zweiten Schritt des Argumentes: Er stellt fest, dass es keinen Grund gibt, von der Unumkehrbarkeit zweier Wahrnehmungen darauf zu schließen, dass die von ihnen repräsentierten objektiven Zustände in einer Kausalbeziehung stehen.⁶⁰ Sein (durchaus korrekter) Punkt ist, dass eine Wahrnehmungsfolge auch dann durch eine Folge von objektiven Zuständen zeitlich bestimmt sein kann, wenn die Zustände kontingenterweise aufeinander folgen. Dies kann man sich tatsächlich folgendermaßen verdeutlichen: Angenommen, a ist eine Wahrnehmung des Objektzustandes A und b ist eine Wahrnehmung des Objektzustandes B. Wenn wir nun davon ausgehen, dass die Wahrnehmungen a und b von den entsprechenden Zuständen A und B verursacht werden, dann steht allein aufgrund der Tatsache, dass A zeitlich vor B vorliegt, fest, dass auch a vor b erfolgt.⁶¹ Die zusätzliche Annahme, dass es zwischen A und B eine notwendige Verknüpfung gibt, ist hier nicht nötig – die bloße Reihenfolge von A und B reicht aus, um die Unumkehrbarkeit von a und b zu erwirken.⁶² Strawson unterstellt Kant also in einer zur Legende gewordenen Formulierung ein „non sequitur of numbing grossness“⁶³: Kant, so Strawson, schließe in fataler Weise von der Unumkehrbarkeit einer Wahrnehmungsfolge auf die kausale Bestimmtheit der in ihr repräsentierten objektiven Zustände. Es gibt jedoch gute Gründe, Kant den Fehlschluss, den Strawson ihm unterstellt, gar nicht zuzuschreiben und statt dessen von einer Fehlinterpretation Strawsons auszugehen. Vieles deutet darauf hin, dass Strawsons Interpretation auf einem grundlegenden Missverständnis in Bezug auf die Rolle der Unumkehrbarkeit von Wahrnehmungsfolgen in Kants Ansatz beruht. Das Hauptproblem dieser Interpretation besteht darin, dass schon die Anwendbarkeit des Kriteriums aus Sicht von Kants Konzeption deutliche Schwierigkeiten bereiten würde: Bevor wir von der Unumkehrbarkeit der Wahrnehmungen (per Fehlschluss) auf die kausale Bestimmtheit der repräsentierten Zustände schließen könnten, müssten wir zunächst die Unumkehrbarkeit der Wahrnehmungsfolge feststellen können. Dass es sich hierbei nicht um ein tri-
Vgl. Strawson (1966, 136). Streng genommen muss hier eine Zusatzbedingung formuliert werden, die Fälle ausschließt, in denen b vor a erfolgt, weil der Wahrnehmungsprozess, der von dem Auftreten von A zu a führt, länger dauert, als der, der vom Auftreten von B zu b führt. Strawson (1966, 135 f.) macht auf diesen Umstand aufmerksam und führt eine entsprechende Bedingung ein. Der Einfachheit halber spare ich diesen Punkt hier aus. Vgl. Strawson (1966, 136 ff.). Strawson (1966, 137).
3.3 Der Argumentationsgang
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viales Unterfangen handelt, kann man sich leicht verdeutlichen: Diese Feststellung geht über die bloße Feststellung der zeitlichen Reihenfolge meiner Wahrnehmungen dadurch hinaus, dass ein modaler Aspekt hinzukommt: Ich müsste feststellen können, dass meine Wahrnehmungen notwendigerweise in dieser und nicht in der umgekehrten Reihenfolge stattgefunden haben.⁶⁴ Und tatsächlich müssen wir davon ausgehen, dass es sich bei solch einem modalen Aspekt um etwas handelt, das zumindest Kant zufolge nicht unmittelbar in der Wahrnehmung selbst gegeben sein kann.⁶⁵ Dies wird besonders deutlich durch eine wichtige Textstelle, die sich unmittelbar an den Absatz anschließt, in dem Kant die Unumkehrbarkeit von Wahrnehmungsfolgen am ausführlichsten betrachtet: Ich werde also, in unserm Fall, die s u b j e k t i v e F o l g e der Apprehension von der o b j e k t i v e n F o l g e der Erscheinungen ableiten müssen, weil jene sonst gänzlich unbestimmt ist […]. (KrV, A 193 / B 238)
Die Bestimmtheit der Reihenfolge der Wahrnehmungen ist nach dieser Textstelle etwas, das wir Kant zufolge nicht unmittelbar erfassen, sondern etwas, das wir aus etwas anderem ableiten müssen. Und die Basis für diese Ableitung bildet diesem Zitat zufolge gerade die objektive Folge der Erscheinungen. An dieser Stelle zeigt sich also deutlich, dass Strawsons Interpretation von einer falschen Richtung der epistemischen Abhängigkeit ausgegangen ist. Während wir Strawsons Interpretation zufolge die Unumkehrbarkeit der Wahrnehmungen unmittelbar erfassen müssten, um von ihr (per Fehlschluss) auf die kausale Bestimmtheit der Reihenfolge der Objektzustände zu schließen, sieht Kant die Sache offenbar genau umgekehrt: Wir müssen zunächst feststellen, dass die von unseren Wahrnehmungen repräsentierten Objektzustände in einem objektiven Zeitverhältnis zueinander stehen, sodass ihre Abfolge ein Ereignis darstellt, um dann in einem zweiten Schritt von diesem objektiven Zeitverhältnis das bestimmte subjektive Zeitverhältnis der entsprechenden Wahrnehmungen – was gleichbedeutend ist mit der Unumkehrbarkeit – ableiten zu können.
Strawson setzt diesen Schritt scheinbar einfach als unproblematisch voraus: „It is admitted, in the sense and with the qualifications mentioned, as necessary that the perception of the second state (B) follows and does not precede the perception of the first state (A).“ (Strawson 1966, 137; Hervorhebung im Original) Diesen Punkt bringt Guyer (1987, 247 f.) unter Rückgriff auf Melnick (1973, 82 f.) vor. Guyer verweist unter anderem auf Kants grundlegende Annahme, dass Erfahrung „uns zwar [sagt], was da sei, aber nicht, daß es notwendiger Weise, so und nicht anders, sein müsse.“ (KrV, A 1)
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
An dieser Stelle stellt sich natürlich die Frage, wie man Kants Konzeption zufolge denn zunächst das objektive Zeitverhältnis zweier Objektzustände feststellen kann. Die Antwort auf diese Frage, mit der wir uns in Abschnitt 3.3.4 beschäftigen werden, führt uns schließlich zu der Einführung kausaler Gesetzeshypothesen. Bevor wir uns damit befassen, müssen wir uns eine weitere Konsequenz der zuletzt zitierten Textstelle, nach der wir „die s u b j e k t i v e F o l g e der Apprehension von der o b j e k t i v e n F o l g e der Erscheinungen ableiten müssen“ (KrV, A 193 / B 238), genauer anschauen.
3.3.3 Die Unbestimmtheit der Abfolge der subjektiven Wahrnehmungen – ein anderes Problem? Bisher haben wir das von Kant betrachtete Ausgangsproblem so beschrieben, dass wir uns zwar der Reihenfolge unserer subjektiven Wahrnehmungen bewusst sind, wir aber die Abfolge der Wahrnehmungen nicht in jedem Fall als die Repräsentation einer korrespondierenden objektiven Abfolge von Objektzuständen interpretieren können: In den Beispielen der Betrachtung eines Hauses und eines fahrenden Schiffes schien es geradezu eine Voraussetzung zu sein, dass wir uns der zeitlichen Reihenfolge unserer Wahrnehmungen unmittelbar bewusst sind. Im letzten Abschnitt haben wir gesehen, dass Kant aber zumindest den modalen Aspekt der Unumkehrbarkeit unserer Wahrnehmungsfolge nicht als etwas betrachtet, das unmittelbar gegeben ist. Es gibt aber auch Stellen im Text, die darauf verweisen, dass Kant sogar noch einen Schritt weiter geht: Nicht nur die Unumkehrbarkeit, sondern sogar die bloße zeitliche Reihenfolge unserer subjektiven Wahrnehmungen, so zeigen diese Stellen, ist uns Kant zufolge nicht einfach gegeben, sondern muss von uns durch eine Konstruktionsleistung bestimmt werden.⁶⁶ Eine dieser Stellen befindet sich in dem Teil, den Kant dem Abschnitt über die zweite Analogie in der zweiten Auflage hinzugefügt hat: Ich nehme wahr, daß Erscheinungen aufeinander folgen, d. i. daß ein Zustand der Dinge zu einer Zeit ist, dessen Gegenteil im vorigen Zustande war. Ich verknüpfe also eigentlich zwei Wahrnehmungen in der Zeit. Nun ist Verknüpfung kein Werk des bloßen Sinnes und der Anschauung, sondern hier das Produkt eines synthetischen Vermögens der Einbildungskraft, die den inneren Sinn in Ansehung des Zeitverhältnisses bestimmt. Diese kann aber gedachte zwei Zustände auf zweierlei Art verbinden, so, daß der eine oder der andere in der Zeit vorausgehe; denn die Zeit kann an sich selbst nicht wahrgenommen, und in Beziehung
Vgl. Guyer (1987, 254).
3.3 Der Argumentationsgang
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auf sie gleichsam empirisch, was vorhergehe und was folge, am Objekte bestimmt werden. (KrV, B 233)
Der entscheidende Punkt wird gleich an mehreren Stellen im Zitat deutlich: Obwohl die beiden Zustände, die laut dem ersten Satz verbunden werden, Zustände der Dinge sind, spricht Kant im zweiten Satz von einer Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit.Wir können daraus entnehmen, dass auch die Bestimmung der zeitlichen Reihenfolge der Wahrnehmungen eine aktive Leistung des Subjektes ist. Hinzu kommt, dass Kant dann im vierten Satz davon spricht, dass die Zustände des Objektes in beiderlei Reihenfolge verknüpft werden können. Meinem Verständnis nach ist es diese Information, die den Punkt entscheidet: Wenn wir von einer unmittelbar gegebenen Reihenfolge der subjektiven Wahrnehmungen ausgehen würden, wäre eine der beiden möglichen Reihenfolgen der Zustände im Objekt allein aufgrund der Reihenfolge der Wahrnehmungen schon ausgeschlossen: Wenn von vornherein gegeben ist, dass ich zuerst eine Wahrnehmung des Schiffes an einer oberen Stelle des Flusses und danach eine Wahrnehmung des Schiffes an einer weiter flussabwärts liegenden Stelle hatte, ist es ausgeschlossen, dass ich diese Abfolge der Wahrnehmungen als eine Abfolge des Ereignisses betrachte, dass das Schiff flussaufwärts gefahren ist. Tatsächlich ist der Kontrast, den Kant durch das Schiff- und das Haus-Beispiel vorführt, ein anderer als der, den wir im obigen Zitat finden: In den Beispielen geht es darum zu entscheiden, ob die Abfolge der Wahrnehmungen als Repräsentation einer entsprechenden Abfolge von Zuständen im Objekt oder als Repräsentation von zeitgleich bestehenden Zuständen – also gar nicht als eine objektive zeitliche Abfolge – interpretiert werden soll. Im obigen Zitat geht es hingegen darum, dass man die Abfolge der Wahrnehmungen als Repräsentation einer objektiven Abfolge von Zuständen im Objekt oder der umgekehrten Abfolge der Zustände im Objekt interpretieren kann. Und letztere Frage entsteht nur, wenn man davon ausgeht, dass auch die Reihenfolge der Wahrnehmungen nicht unmittelbar gegeben ist. Man kann es nun vielleicht als einen etwas unglücklichen Umstand betrachten, dass Kant die Tatsache, dass eigentlich sogar die zeitliche Reihenfolge der Wahrnehmungen nicht unmittelbar gegeben ist, in seiner Darstellung nicht deutlicher hervorhebt und durch seine Gegenüberstellung der Beispiele des Schiffes und des Hauses sogar etwas verwischt. Auf der anderen Seite kann man ihm aber vielleicht auch zugute halten, dass er den eigentlich grundlegenderen Punkt der Unbestimmtheit der zeitlichen Reihenfolge der Wahrnehmungen im Beweisgang der zweiten Analogie in den Hintergrund schiebt, um dadurch die Darstellung zu vereinfachen. Es ist tatsächlich auch nicht zu bestreiten, dass die Beispiele des Schiffes und des Hauses eine gewisse Anschaulichkeit besitzen, die
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der Darstellung guttut. Die Vorstellung, dass die zeitliche Reihenfolge unserer Wahrnehmungen nicht unmittelbar gegeben ist, wirkt hingegen zunächst einmal recht fremd. Wie muss man sich diese These Kants genau vorstellen? Guyer weist darauf hin, dass diese These Kants bereits in der transzendentalen Deduktion der Kategorien eine wichtige Rolle spielt.⁶⁷ Kants dortige Formulierung verdeutlicht die Überlegung, die sich hinter der These verbirgt: Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede: denn a l s i n e i n e m A u g e n b l i c k e n t h a l t e n , kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein. (KrV, A 99)
Kant geht offenbar davon aus, dass eine zeitliche Abfolge von Wahrnehmungen als in einer gegenwärtigen einheitlichen Repräsentation zusammengefasst vorgestellt wird. Mir ist also im Falle der Vorstellung einer zeitlichen Abfolge von zwei Wahrnehmungen nicht eine vergangene und eine gegenwärtige Wahrnehmung gegeben, sondern es liegt ein gegenwärtiger Gesamtzustand meines Bewusstseins vor, der die Gehalte beider Wahrnehmungen gemeinsam umfasst.⁶⁸ Es handelt sich dann um eine Leistung des Subjektes, die zeitliche Reihenfolge der Wahrnehmungen zu bestimmen – und zwar in der oben bereits angedeuteten Weise, nämlich über den Umweg der Bestimmung der zeitlichen Abfolge der durch die Wahrnehmungen repräsentierten Objektzustände.
Vgl. Guyer (1987, 254 ff.). „[A]t any moment in which we reflect on what is apparantly a present perception plus a memory of a prior one, it is not actually given which is the present perception and which is the prior one. For all that can be given in one moment is a present representation of the contents of two (or more) possible perceptions, but not both the present and the past representation itself. Which is the present representation and which the past is something which itself must be judged.“ (Guyer 1987, 254) Wie wir in Abschnitt 3.1.5 gesehen haben, findet die Synthesis, die Kant in der A-Deduktion thematisiert, auf einer anderen Ebene statt als die Synthesis, um die es im Rahmen des Abschnittes über die zweite Analogie geht. Dies bedeutet, dass es in der gerade im Haupttext zitierten Stelle aus der A-Deduktion darum geht, dass verschiedene Empfindungen, die die Teilvorstellungen einer Anschauung ausmachen, zugleich in unserem Bewusstsein vorhanden sind, während Guyers Lesart eine Anwendung dieses Gedankens auf der höheren Ebene darstellt: Nach seiner Darstellung geht es darum, dass verschiedene bereits in sich komplexe Wahrnehmungen zugleich im Gesamtzustand des Bewusstseins enthalten sind. Der Sache nach scheint mir dieser Ebenenwechsel aber vollkommen unproblematisch zu sein. Insofern glaube ich, dass Guyers Analyse von Kants Konzeption, der zufolge verschiedene Wahrnehmungen in unserem Bewusstein zugleich enthalten sind und vom Subjekt zeitlich zu ordnen sind, Kants Position korrekt wiedergibt.
3.3 Der Argumentationsgang
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Vor diesem Hintergrund können wir nämlich nun auch die am Ende des letzten Abschnittes hervorgehobene Textstelle, der zufolge wir „die s u b j e k t i v e F o l g e der Apprehension von der o b j e k t i v e n F o l g e der Erscheinungen ableiten müssen“ (KrV, A 193 / B 238), besser verstehen. Im Prinzip wird nämlich gerade an dieser Stelle deutlich, dass Kant in seinem Argument für die zweite Analogie tatsächlich das grundlegendere Problem der Bestimmung der zeitlichen Reihenfolge der Wahrnehmungen in Betracht zieht. Hier sieht man auch zugleich, wie dieses grundlegendere Problem in das Argument für die zweite Analogie der Erfahrung eingebettet ist: Der entscheidende Schritt des Argumentes, das wir erst im nächsten Abschnitt vollständig vor Augen haben werden, besteht darin, dass wir die Voraussetzung von kausalen Gesetzen benötigen, um gegebene Wahrnehmungen als Repräsentation einer zeitlich bestimmten Abfolge von Objektzuständen interpretieren zu können. Nun kommt aber offenbar hinzu, dass wir dann in einem zweiten Schritt von der so bestimmten zeitlichen Reihenfolge der objektiven Zustände auf eine bestimmte zeitliche Abfolge der subjektiven Wahrnehmungen schließen können, die dann sogar derart bestimmt ist, dass wir die Abfolge als unumkehrbar bezeichnen können. Zunächst muss also anhand eines vorausgesetzten kausalen Gesetzes die zeitliche Reihenfolge der Gehalte der Wahrnehmungen bestimmt werden, um anhand dieser dann die zeitliche Reihenfolge der Wahrnehmungen selbst bestimmen zu können. Im nächsten Abschnitt müssen wir uns nun dem ersten dieser beiden Schritte genauer zuwenden, der uns endlich zur Einführung kausaler Gesetzeshypothesen und damit zum eigentlichen Kernpunkt führt.
3.3.4 Die Einführung kausaler Gesetzeshypothesen zur Bestimmung der objektiven Zeitfolge Der nun einsetzende Schritt führt uns endlich zur Einführung kausaler Gesetzesannahmen. Kant beansprucht nämlich zu zeigen, dass wir nur unter der Bedingung, dass wir die in Wahrnehmungen repräsentierten Objektzustände unter ein kausales Gesetz subsumieren, eine objektive Zeitfolge denken können. Entscheidend für das Thema der gegenwärtigen Untersuchung wird es sein, zu ermitteln, auf welche Art von Gesetzesannahme wir Kant zufolge an dieser Stelle festgelegt sind. Insbesondere stellt sich die Frage, in welcher Form nach Kants
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Argument von einer Notwendigkeit der Verknüpfung gesprochen werden kann beziehungsweise muss.⁶⁹ Kommen wir zunächst zu einer von mehreren Darstellungen dieses Argumentschrittes in Kants Text: [Die subjektive Folge der Apprehension] allein beweiset nichts von der Verknüpfung des Mannigfaltigen am Objekt, weil sie ganz beliebig ist. Diese also wird in der Ordnung des Mannigfaltigen der Erscheinung bestehen, nach welcher die Apprehension des einen (was geschieht) auf die des andern (das vorhergeht) n a c h e i n e r R e g e l folgt. Nur dadurch kann ich von der Erscheinung selbst, und nicht bloß von meiner Apprehension, berechtigt sein zu sagen: daß in jener eine Folge anzutreffen sei, welches so viel bedeutet, als daß ich die Apprehension nicht anders anstellen könne, als gerade in dieser Folge. (KrV, A 193 / B 238)
Im Hintergrund steht natürlich auch hier wieder die Überlegung, dass die Sukzessivität der Wahrnehmungen allein nichts darüber aussagt, ob die repräsentierten Objektzustände ebenfalls einer zeitlichen Folge (und falls ja, welcher) unterliegen.⁷⁰ Der Argumentationsschritt, der uns hier gerade beschäftigt, besteht dann in der Überlegung, dass wir eine zeitliche Folge der repräsentierten Objektzustände nur dadurch bestimmen können, dass wir auf eine Regel Bezug nehmen, die die Reihenfolge festlegt. Bei dieser Regel handelt es sich offenbar um ein empirisches Kausalgesetz, was sich darin ausdrückt, dass Kant die allgemeine Gültigkeit der Regel und die Notwendigkeit der Verknüpfung hervorhebt: Nach einer solchen Regel also muß in dem, was überhaupt vor einer Begebenheit vorhergeht, die Bedingung zu einer Regel liegen, nach welcher jederzeit und notwendiger Weise diese Begebenheit folgt […]. (KrV, A 193 / B 238 f.; meine Hervorhebung)
Um naheliegende Missverständnisse, die leider zum Teil auch von Formulierungen Kants begünstigt werden, zu vermeiden, müssen wir uns allerdings erst einmal verdeutlichen, wie es zu verstehen ist, dass ein Kausalgesetz die zeitliche Reihenfolge zweier Objektzustände bestimmt.⁷¹ An manchen Stellen von Kants Text kann man tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass wir die zeitliche Reihenfolge zweier Objektzustände dadurch bestimmen müssen, dass wir sie unter ein Kausalgesetz fassen, dem zufolge der eine Zustand die Ursache des anderen Auf diesen Aspekt werde ich, nach dem Abschluss der Darstellung des Argumentes, in Abschnitt 3.4 genauer eingehen. An dieser Stelle blendet Kant erneut den grundlegenderen Punkt aus, dass eigentlich selbst die zeitliche Reihenfolge der Wahrnehmungen unterbestimmt ist. Siehe hierzu oben, Abschnitt 3.3.3. Den folgenden Punkt haben auch Strawson (1966, 138), Guyer (1987, 260 f.), Thöle (1991, 162) und Watkins (2005, 212) hervorgehoben.
3.3 Der Argumentationsgang
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Zustandes ist. Tatsächlich ist dies allerdings in vielen Anwendungsfällen relativ unplausibel⁷² und auch Kants Argument lässt sich besser nachvollziehen, wenn man einer anderen Interpretation folgt. Nach dieser alternativen Interpretation geht es darum, dass wir eine Ursache bestimmen müssen, die (zumindest meistens⁷³) außerhalb des Objektes der Zustandsänderung zu suchen ist und diese Zustandsänderung durch eine Einwirkung auf das Objekt hervorbringt. Es wird also nicht der eine Zustand als die Ursache des anderen betrachtet, sondern der Übergang von dem einen Zustand zum anderen ist ein Ereignis, das als Wirkung einer (gegebenenfalls zu ermittelnden) Ursache eintritt.⁷⁴ Zum Verständnis hilfreich ist ein einschlägiges Beispiel Kants aus den Prolegomena, nämlich die Erwärmung eines Steines durch die Einwirkung der Sonne.⁷⁵ Der Stein ist das Objekt, an dem die Zustandsänderung stattfindet. Der eine Zustand des Steines besteht darin, dass er kalt ist, der andere darin, dass er warm
Sowohl Guyer (1987, 259 f.) als auch Thöle (1991, 162) verweisen in diesem Zusammenhang auf Schopenhauers Beispiel des Wechsels von Tag zu Nacht: Obwohl wir in der Lage sind, die Abfolge von Tag und Nacht zeitlich zu bestimmen, kann keine Rede davon sein, dass wir den Tag als die Ursache der Nacht (oder umgekehrt) betrachten. Aus Kants Beweis des zweiten Gesetzes der Mechanik in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft geht hervor, dass Kant zufolge materielle Substanzen ausschließlich durch äußere Einwirkungen verändert werden können. Eine innere Ursache kommt nur für geistige Substanzen in Betracht, die über ein Begehrungsvermögen verfügen. Siehe hierzu unten, Abschnitt 4.5.3. Dies ist insbesondere auch vereinbar mit dem Kausalitätsbegriff, den Watkins (2005) im Rahmen seiner ausführlichen Analyse von Kants Ontologie der Kausalität herausarbeitet. Diesem Begriff zufolge handelt es sich bei einer Ursache um kausale Kräfte einer Substanz, die durch ihre Einwirkung auf eine andere Substanz ein Ereignis hervorrufen, das in einer Veränderung der Zustände dieser zweiten Substanz besteht (Watkins 2005, 243 ff.). Watkins zufolge hat sich dieser Kausalitätsbegriff aus Kants vorkritischer Phase entwickelt, die stark durch die Kausalitäts-Debatte innerhalb der rationalistischen Tradition geprägt ist. Insbesondere macht Watkins den Punkt stark, dass sich Kants Kausalitätsbegriff auf der ontologischen Ebene grundlegend von Humes Kausalitätsbegriff unterscheidet. Entsprechend kann nach Watkins’ Analyse Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung nicht als eine Widerlegung von Humes Kausalitätsskepsis verstanden werden, weil Kant nicht auf der Grundlage derselben Kausalitätskonzeption argumentiert, wie Hume. Dies entspricht den Ergebnissen, die sich oben in Kapitel 2 aus einer anderen Perspektive ergeben haben. Nach den dortigen Ergebnissen kommt es Kant tatsächlich nicht darauf an, Humes Skepsis zu widerlegen, sondern darauf, innerhalb seines eigenen Ansatzes analoge skeptische Konsequenzen zu vermeiden. Um dieses Ziel zu erreichen, steht es ihm natürlich offen, eine andere Kausalitätskonzeption als Hume vorauszusetzen, die dann sogar dadurch, dass sich im Rahmen seines Ansatzes die (von Kant im Vorfeld bereits als absurd betrachteten) skeptischen Konsequenzen nicht ergeben, als nachträglich bestätigt betrachtet werden kann. Siehe hierzu wiederum Thöle (1991, 162).
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ist. Dadurch, dass wir die Einwirkung der Sonne als die Ursache der Zustandsveränderung gemäß einem Kausalgesetz bestimmen⁷⁶, ist die objektive Zeitordnung der Zustände festgelegt: Unter diesen Umständen müssen wir den Zustand der Wärme als den Zustand auffassen, der dem anderen Zustand folgt. Wenn sich der Stein hingegen in einem Gefrierfach befände, kämen wir aufgrund der Bestimmung einer anderen Ursache des Zustandswechsels auch zu einem anderen Ergebnis in Bezug auf die Reihenfolge der Zustände des Steines. Wir können uns nun ebenfalls anhand von Kants Schiff-Beispiel anschauen, wie der Einsatz der Voraussetzung eines empirischen Naturgesetzes bei der Interpretation unserer Wahrnehmungen funktioniert. Zunächst einmal ist meine Wahrnehmung sukzessiv: Ich habe also zunächst eine Wahrnehmung eines Schiffes am oberen Teil des Flusses und dann eine Wahrnehmung eines Schiffes
An diesem Beispiel kann man relativ gut einen Punkt erkennen, den ich gleich noch genauer thematisieren werde: Es ist relativ unplausibel anzunehmen, dass wir nur dann die Erwärmung eines Steines erkennen können, wenn wir explizites Wissen über ein entsprechendes Kausalgesetz haben. Ich glaube unter anderem deshalb, dass es Kant an dieser Stelle darum geht, dass wir uns bei der Interpretation unserer Wahrnehmungen als eine Repräsentation des Ereignisses, dass sich der Stein erwärmt, nur darauf festlegen, dass es ein entsprechendes Gesetz gibt, ohne dass wir uns zugleich darauf festlegen müssen, wie dieses genau beschaffen ist. In diesem Sinne unterscheidet Peter Rohs (1992), angelehnt an Donald Davidson, zwischen „strengen Kausalerklärungen“ und „normalen Kausalerklärungen“. Erstere stellen ein kaum zu erreichendes Ideal einer Kausalerklärung anhand einer expliziten Angabe eines streng allgemeingültigen Kausalgesetzes dar. Letztere entsprechen unseren alltäglichen Kausalerklärungen in Form von singulären Kausalurteilen, bei denen wir in der Regel keine konkret ausformulierten Gesetzeshypothesen vorbringen, sondern lediglich mit der abstrakteren Annahme operieren, dass es ein Gesetz gibt, unter das der beobachteten Vorgang gefasst werden kann. Ich bin der Auffassung, dass es Kant im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung zunächst um „normale Kausalerklärungen“ im gerade erläuterten Sinne geht. Wir interpretieren im Alltag etwa unsere Wahrnehmungen eines den Fluss hinunterfahrenden Schiffes oder von gefrierendem Wasser in der Regel nicht anhand eines uns konkret vor Auge stehenden allgemeingültigen Kausalgesetzes, sondern wir nehmen statt dessen zunächst lediglich an, dass es ein solches Gesetz gibt. (Dieses Gesetz mag uns vielleicht schon als vage Hypothese mehr oder weniger klar vor Augen stehen. So mag es etwa sein, dass ich schon ein gewisses Verständnis vom Wirken der Gravitationskraft habe, ohne dass ich dazu in der Lage bin, das Gesetz als konkrete mathematische Gleichung zu formulieren). Siehe hierzu auch die folgenden Abschnitte 3.3.5 – 3.3.7. Es ist dann die Aufgabe der Wissenschaft, unsere Annahme durch das Formulieren und Bestätigen entsprechender Gesetzeshypothesen nachträglich zu stützen oder zu revidieren. Die Schritte, die Kant zufolge hierfür die Grundlage liefern, werden das Thema der Kapitel 4– 6 sein, in denen es um die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, den Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft und die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft geht.
3.3 Der Argumentationsgang
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am unteren Teil des Flusses.⁷⁷ Bewusst habe ich in meiner Formulierung noch offen gelassen, ob es sich um dasselbe Schiff handelt, denn genau das gilt es nun zu entscheiden. Der vorliegende Fall könnte nämlich interpretiert werden als ein Fall, der dem Haus-Beispiel analog ist: Meine Augen richten sich zunächst auf einen Teil des Flusses und sehen dort ein Schiff (so wie ich im Haus-Beispiel zunächst die Tür anschaue), dann wandern die Augen zu einem anderen Teil des Flusses und sehen dort ein anderes Schiff (so wie ich im Haus-Beispiel als nächstes einen anderen Teil des Hauses betrachte und dort ein Fenster sehe). Wenn ich meine Wahrnehmungen so interpretiere, gehe ich davon aus, dass ich zwei verschiedene Schiffe gesehen habe, die gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Flusses existieren. Kant legt nun nahe, dass wir zumindest in dem Fall des Schiff-Beispiels, den er schildert, unsere Wahrnehmungen nicht so interpretieren und statt dessen davon ausgehen, dass wir nur ein Schiff gesehen haben, das seinen Ort geändert hat. Die Frage ist, was uns dazu veranlassen konnte, diese Interpretation zu wählen und nicht die andere. Und hier kommt das empirische Naturgesetz ins Spiel: Ohne dass Kant dies explizit deutlich macht, liegt der Beurteilung des Falles letztlich offenbar das Gravitationsgesetz zugrunde. Unter der Berücksichtigung der beobachteten Umstände⁷⁸ und unter der Voraussetzung des Gravitationsgesetzes kommen wir zu dem Ergebnis, dass das Schiff, das Gegenstand der ersten Wahrnehmung ist, sich notwendigerweise flussabwärts bewegen muss. Dies veranlasst uns dann dazu, die zweite Wahrnehmung so zu interpretieren, dass sie sich auf dasselbe Schiff zu einem späteren Zeitpunkt bezieht. So gelangen wir zu der Interpretation unserer Wahrnehmungen als Repräsentation einer objektiven Veränderung. Wenn wir hingegen kein Naturgesetz voraussetzen, das uns erklärt, warum der Gegenstand der ersten Wahrnehmung eine Zustandsänderung erfahren musste, als deren Ergebnis wir den Gegenstand der zweiten Wahrnehmung interpretieren können, dann bleibt uns nichts anderes übrig als den Fall analog zum Haus-Beispiel zu
Der Einfachheit halber gehe ich hier so vor wie Kant: Ich blende das Problem der zeitlichen Ordnung der Wahrnehmungen aus und konzentriere mich auf das Problem der zeitlichen Ordnung der Objektzustände. Diese Qualifizierung ist notwendig, da andere beobachtete Umstände uns dazu veranlassen würden, den Fall selbst unter Voraussetzung desselben Gesetzes anders zu beurteilen. Wenn zum Beispiel in der ersten Wahrnehmung enthalten ist, dass das Schiff über ein Segel verfügt und das Segel derart vom Wind ausgebeult ist, dass wir davon ausgehen müssen, dass der Wind flussaufwärts weht, werden wir möglicherweise bei der Auswertung unserer Wahrnehmungen zu einem anderen Ergebnis kommen.
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interpretieren und davon auszugehen, dass wir zwei zeitgleich existierende Zustände beobachtet haben.⁷⁹ Interessant ist nun, dass wir hier sehen können, dass die Voraussetzung eines Kausalgesetzes an dieser Stelle für Kant genau die Rolle spielt, die nach seiner Theorie der Synthesis im Rahmen der Synthesis der Rekognition den Begriffen zukommt, die die Synthesis anleiten. Wie wir oben, insbesondere in Abschnitt 3.1.4, gesehen haben, dienen Kant zufolge Begriffe als Regeln der Synthesis, und zwar in dem Sinne, dass sie vorgeben, welche Teilvorstellungen als Teil der zu erzeugenden Anschauung eines Gegenstandes zu zählen sind, oder anders ausgedrückt: welche Vorstellungen als Vorstellungen von Teilen oder Aspekten desselben Objektes aufgefasst werden. Der leitende Begriff einer Synthesis dient also zur Individuierung der Objekte der aufgenommenen Teilvorstellungen. In Abschnitt 3.1.5 haben wir gesehen, dass die Synthesis, die das Thema des Abschnittes über die zweite Analogie der Erfahrung ist, um eine Ebene höher anzusiedeln ist als die Synthesis, die im Rahmen der A-Deduktion vorgestellt wird. Hier, im Rahmen des Abschnittes über die zweite Analogie der Erfahrung, geht es nun nicht mehr um das Zusammenfügen von einzelnen Empfindungen zu Anschauungen beziehungsweise Wahrnehmungen, sondern um das Zusammenfügen der so entstandenen Wahrnehmungen zu zeitlich komplexen Gesamtvorstellungen von Gegenständen und ihren Veränderungen in der Zeit. Auch diese Synthesis können wir nun offenbar so verstehen, dass sie durch eine Regel geleitet ist. Wir können zunächst einen empirischen Begriff, also etwa den Begriff eines Schiffes, als die Regel ausmachen, die die Synthesis anleitet. Dieser Begriff schreibt vor, welche unserer Wahrnehmungen wir zu der zu erzeugenden Gesamtvorstellung des Schiffes hinzufügen und welche wir außen vor lassen.⁸⁰ Durch das Argument für die zweite Analogie der Erfahrung lernen wir nun, dass die Regel, die die Synthesis der zeitlich komplexen Gesamtvorstellung eines fahrenden Schiffes anleitet, insbesondere ein empirisches Kausalgesetz umfassen muss. Denn erstens benötige ich Kants Argument zufolge ein Kausalgesetz, um die Wahrnehmungen überhaupt zu einer Gesamtvorstellung vereinigen zu können, die eine objektive Veränderung eines Gegenstandes repräsentiert. Zweitens – und
Dies wäre etwa der Fall, wenn wir zwei Schiffe, die beide am Ufer festgetaut sind, nacheinander an zwei verschiedenen Stellen eines Sees beobachten. Da wir keine Möglichkeit sehen, eine Bewegung gemäß einem Naturgesetz anzunehmen, interpretieren wir den Fall als einen Fall der Wahrnehmung zweier gleichzeitig existierender Schiffe, die ihren Zustand nicht ändern. Wenn beispielsweise während der Beobachtung des Schiffes unsere Wahrnehmung des Schiffes dadurch unterbrochen wird, dass ein Lastwagen direkt an uns vorbeifährt und das Schiff dabei zeitweise verdeckt, werten wir die dabei entstehenden Wahrnehmungen nicht als Teil der zu erzeugenden Gesamtvorstellung des Schiffes.
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unmittelbar mit dem ersten Punkt zusammenhängend – haben wir gerade am Beispiel des Schiffes gesehen, dass die Anwendung eines Kausalgesetzes im Rahmen einer objektiven Zeitbestimmung zugleich notwendig für die Individuierung der Objekte der einzelnen Wahrnehmungen ist. Denn nur dadurch, dass ich ein Kausalgesetz anwende, das mir ermöglicht, die beiden Schiffspositionen als objektive Aufeinanderfolge zu interpretieren, kann ich erkennen, dass es sich um zwei verschiedene Schiffspositionen desselben Schiffes handelt und nicht etwa um die Positionen zweier Schiffe, die zeitgleich an verschiedenen Stellen liegen. In diesem Sinne tragen empirische Kausalgesetze im Rahmen der Synthesis genau zu derjenigen Rolle bei, die Kant in der A-Deduktion den Begriffen im Rahmen der Synthesis der Rekognition zuweist, nämlich zu der Individuierung der Objekte der zusammenzufügenden Teilvorstellungen. Ich betone diesen Umstand deshalb so stark, weil er einen Hinweis auf einen Gedanken darstellt, der uns in den folgenden Kapiteln immer wieder begegnen wird⁸¹: Für Kant sind empirische Begriffe offenbar so zu verstehen, dass sie nicht nur Merkmale von Objekten im Sinne von einzelnen Eigenschaften umfassen. Empirische Begriffe müssen, um die Synthesis von Wahrnehmungen zu zeitlich komplexen Vorstellungen anleiten zu können, aufgeladen sein mit Hypothesen über empirische Kausalgesetze, denen die Objekte, die unter den Begriff fallen, mutmaßlich unterliegen.⁸² Dieser enge Zusammenhang zwischen empirischen Begriffen und empirischen Naturgesetzen wird sich in der Folge als bedeutend für Kants Konzeption empirischer Naturgesetze erweisen. Kehren wir nun noch einmal zu einer genaueren Betrachtung eines wichtigen Aspektes des Argumentes für die zweite Analogie der Erfahrung zurück.
3.3.5 Guyers Interpretation: Das Argument für die zweite Analogie als ein epistemologisches Argument Guyer interpretiert Kants Argument für die zweite Analogie als ein epistemologisches Argument. Hiermit ist insbesondere gemeint, dass seiner Interpretation zufolge Kants Argument darauf abzielt, die Gültigkeit der zweiten Analogie als eine notwendige Bedingung der Rechtfertigung von Urteilen über objektive Er-
Siehe hierzu insbesondere Abschnitt 5.3, in dem ich auf die Zusammenhänge zwischen empirischen Begriffen und empirischen Naturgesetzen gesammelt eingehe, und Abschnitt 6.1.3. Diese Hypothesen müssen jedoch, vor allem in alltäglichen Kontexten, nicht notwendigerweise die Form von explizit ausformulierten Gesetzeshypothesen haben. Siehe hierzu oben, Fn. 76 in diesem Kapitel. Es ist jedoch eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft, die Begriffe durch eine konkretisierende Explizierung der in ihnen enthaltenen Gesetzeshypothesen zu klären.
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eignisse zu erweisen.⁸³ Die Idee besteht darin, dass wir bei der Interpretation einer Abfolge von Wahrnehmungen als Repräsentation einer Abfolge von Objektzuständen auf gerechtfertigte Gesetzesannahmen zurückgreifen müssen, um zu einem gerechtfertigten Urteil über die objektive Folge zu gelangen.⁸⁴ Mit dieser Interpretation sind allerdings zwei Probleme verbunden, die beide darin bestehen, dass Kants Position unter dieser Lesart betrachtet starken Einwänden ausgesetzt wäre.⁸⁵ Der erste Einwand besteht darin, dass Kants Position nach dieser Interpretation unplausibel hohe Anforderungen an epistemische Subjekte stellt. Wir machen ständig Beobachtungen von Ereignissen, wobei wir in den seltensten Fällen dazu in der Lage sein dürften, eine Rechtfertigung für ein entsprechendes Kausalgesetz zu liefern. Häufig können wir das Gesetz vermutlich noch nicht einmal angeben. Nach Guyers Interpretation liegt die Latte für die Erkenntnis von Ereignissen ziemlich hoch. Allison führt als Beispiel das Frieren von Wasser an.⁸⁶ Und tatsächlich handelt es sich hierbei um ein Ereignis, dass wir problemlos beobachten können, obwohl die wenigsten dazu in der Lage sein dürften, das entsprechende Gesetz, dem dieser Prozess unterliegt, überhaupt auch nur zu nennen. Dass wir deshalb nicht in dem Urteil gerechtfertigt sein können, dass das Wasser gerade von einem flüssigen in einen gefrorenen Zustand übergegangen ist, ist tatsächlich reichlich unplausibel. Der zweite Einwand besteht darin, dass unklar ist, wie es eigentlich möglich sein soll, die anzuwendenden empirischen Gesetze im Vorfeld zu rechtfertigen. Da es sich um empirische Gesetze handelt, ist davon auszugehen, dass wir bei ihrer Rechtfertigung in irgendeiner Weise auf beobachtete Regularitäten zurückgreifen müssten. Dies beinhaltet insbesondere, dass wir in der Lage sein müssten, Ereignisse zu beobachten. Nach der Position, die Guyer Kant zuschreibt, müsste
Guyer legt sich in diesem Zusammenhang sogar auf einen noch viel allgemeineren Punkt fest: „[T]o call a principle a condition of the possibility of experience is to say no more and no less than that it is a necessary condition for the justification, verification, or confirmation of the judgments about empirical objects that we make on the basis of our representations of them […].“ (Guyer 1987, 244; Hervorhebungen im Original) „Kant’s theory is precisely that it is only if we are in possession of causal laws which dictate that in the relevant circumstances […] the ship could only sail downstream that we actually have sufficient evidence to interpret our representations of it to mean that it is sailing downstream.“ (Guyer 1987, 252; Hervorhebungen im Original) Dass er mit „possession“ tatsächlich meint, dass wir über gerechtfertigte Gesetzesannahmen verfügen müssen, wird in seiner Reaktion auf den Zirkeleinwand deutlich, auf den ich gleich zu sprechen komme. Vgl. Allison (2004, 256 f.). Allison (2004, 257).
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man hierfür aber wiederum bereits über gerechtfertigte Gesetzesannahmen verfügen, sodass wir in einen Rechtfertigungszirkel zu geraten scheinen. Guyer ist jedoch der Meinung, dass bei genauem Hinsehen ein Zirkel vermieden werden kann: [T]here will be no problem about appealing to causal laws to justify claims about the order of objective and even subjective states, on the one hand, yet appealing to such states in order to confirm claims to knowledge of causal laws on the other, as long as it is supposed that in any given case of actual confirmation of a judgment – say a case of testing a hypothesis about a sequence of representations – one and the same sequence of representations is not both being derived from a particular causal law about objects and being employed as evidence for the validity of the causal law. (Guyer 1987, 259; Hervorhebungen im Original)
Wenn wir ein Urteil über eine Abfolge von Objektzuständen auf der Grundlage einer Sukzession von Wahrnehmungen fällen, müssen wir dafür auf ein Kausalgesetz zurückgreifen, das – so offenbar Guyers Vorschlag – zuvor auf der Grundlage von anderen Wahrnehmungsfolgen gerechtfertigt wurde. An dieser Stelle gibt es jedoch ein Folgeproblem: Andere Wahrnehmungsfolgen können nur dann als Grundlage für die Rechtfertigung eines Kausalgesetzes dienen, wenn sie ihrerseits unter der Hinzuziehung eines Kausalgesetzes als Repräsentation von objektiven Abfolgen interpretiert werden. Auch wenn sich ein Zirkel vielleicht dadurch vermeiden lässt, dass man an dieser Stelle wieder darauf verweist, dass zu diesem Zweck eben auf andere Kausalgesetze zurückgegriffen werden muss, sehen wir, dass wir nach dieser Konzeption einem Regress der Rechtfertigung ausgesetzt sind, der mindestens so problematisch ist wie der Zirkel, den Guyer vermeiden möchte: Um Urteile über objektive Abfolgen zu rechtfertigen, müssen wir auf Kausalgesetze zurückgreifen, die wiederum durch Urteile über objektive Abfolgen gerechtfertigt werden müssen, für die wir wiederum auf Kausalgesetze zurückgreifen müssen usw.⁸⁷ Insgesamt lässt sich also sagen, dass Kants Position nach Guyers Lesart als sehr angreifbar zu bezeichnen wäre. Zum Glück bietet der Text aber nicht nur die Möglichkeit für eine andere Lesart, nach der Kants Position weitaus plausibler wirkt, sondern sogar einige Hinweise darauf, dass diese andere Lesart eher Kants Absichten entspricht.
Diesen Punkt führt auch Watkins (2005, 214 f.) an.
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3.3.6 Mut zum Risiko – Gesetzeshypothesen als erster Schritt in die objektive Welt Lanier Anderson und Béatrice Longuenesse haben jeweils die Lesart vorgeschlagen, dass Kant mit der Beurteilung einer Wahrnehmungsfolge als Repräsentation eines objektiven Ereignisses nicht die Forderung verbindet, dass das dafür herangezogene Kausalgesetz gerechtfertigt sein muss. Statt dessen besteht ihnen zufolge Kants Idee darin, dass wir zunächst nur Gesetzeshypothesen anführen, für die vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt eine Rechtfertigung zu erwarten ist.⁸⁸ Entsprechend besteht Kants Überlegung nach dieser Interpretation nicht darin, dass wir durch das Anführen einer Gesetzeshypothese ein Urteil über eine Abfolge von Objektzuständen rechtfertigen, sondern dass das Anführen einer Gesetzeshypothese uns überhaupt die Möglichkeit eröffnet, ein solches Urteil zu fällen. Ob dieses Urteil dann wahr oder falsch, oder ob es gerechtfertigt oder ungerechtfertigt ist, ist zunächst einmal zweitrangig.⁸⁹
„[M]y procedure is, in effect, to place a bet that my causal law suffices for time-determination, because it (or something similar) will, in the limit, be derived from the category, as a precondition for achieving some part of the total unification of experience.“ (Anderson 2002, 77; Hervorhebung im Original) „What is all-important here is that we do not know the rule, but only presuppose one, and this presupposition is necessary for the perception of an objective succession.“ (Longuenesse 2005, 167, Fn. 32) Es ist davon auszugehen, dass wir Kants Konzeption zufolge die Gesetzeshypothesen nicht vollkommen blind ersinnen, ohne irgendwelche Anhaltspunkte zu haben. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Prinzip der Systematizität, das wir unten in den Kapiteln 5 und 6 ausführlich behandeln werden, ergibt sich eine Möglichkeit einer begründeten Wahl zwischen unterschiedlichen möglichen Gesetzeshypothesen: Wir verfügen immer schon über ein rudimentäres Weltbild im Sinne eines vorläufigen Systems von Gesetzesannahmen und ein Kriterium für die Einführung einer neuen Hypothese dürfte darin bestehen, dass es gut in das bisherige System passt. Wie wir in den Kapiteln 5 und 6 sehen werden, geht eine solche Einbettung einer Gesetzeshypothese für Kant damit einher, dass die Gesetzeshypothese eine Rechtfertigung erhält. Auch wenn diese Möglichkeit einer gewissen Rechtfertigung von Gesetzeshypothesen immer mitgedacht werden muss und sie uns eine Erklärung dafür liefert, dass wir bestimmte Gesetzeshypothesen anderen vorziehen, glaube ich, wie gleich noch deutlich werden wird, dass zumindest Kants Hauptanliegen im Abschnitt über die zweite Analogie in einer Erklärung der Möglichkeit von Intentionalität liegt und nicht in der Möglichkeit der Rechtfertigung von Urteilen über objektive Zustandsabfolgen oder von empirischen Gesetzesannahmen. Letzteres ist, wie wir in den folgenden Kapiteln genauer sehen werden, Gegenstand anderer Teile seiner Schriften, nämlich konkret des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik in der ersten Kritik (siehe Kap. 5), der beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft (siehe Kap. 6) und auch der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (siehe Kap. 4). (Ich danke Michael Friedman für den Hinweis darauf, dass dieser Punkt an dieser Stelle geklärt werden muss.)
3.3 Der Argumentationsgang
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Diese Lesart passt sehr gut zu den bereits oben in Abschnitt 3.1.1 zitierten Textstellen, nach denen die Gültigkeit der Analogien eine Voraussetzung dafür ist, dass wir von unseren subjektiven Wahrnehmungen ein Objekt unterscheiden können, auf das sich unsere Wahrnehmungen beziehen. Der Fokus von Kants Überlegung im Abschnitt über die Analogien liegt diesen Stellen zufolge offenbar nicht auf der Rechtfertigung von Urteilen über Objekte, sondern auf einer Erklärung des Phänomens der Intentionalität unserer Wahrnehmungen. Und die zweite Analogie leistet ihren Anteil dadurch, dass wir durch die Voraussetzung von Gesetzeshypothesen in der Lage sind,Wahrnehmungsfolgen als Repräsentationen von objektiven Ereignissen aufzufassen. Sowohl Anderson als auch Longuenesse stützen sich bei ihrer Auslegung auf folgende Textstelle⁹⁰: Sobald ich aber wahrnehme, oder voraus annehme, daß in dieser Folge eine Beziehung auf den vorhergehenden Zustand sei, aus welchem die Vorstellung nach einer Regel folgt; so stellet sich etwas vor als Begebenheit, oder was da geschieht, d. i. ich erkenne einen Gegenstand, den ich in der Zeit auf eine gewisse bestimmte Stelle setzen muss, die ihm, nach dem vorhergehenden Zustande, nicht anders erteilt werden kann. (KrV A 198 / B 243; meine Hervorhebung)
Die hervorgehobene Stelle deutet zumindest an, dass Kant zufolge die Beziehung, in der das beobachtete Ereignis zu seiner Ursache steht und die es uns ermöglicht, die Zeitbestimmung der Abfolge des Wirkungsereignisses vorzunehmen, Gegenstand einer Vorannahme ist. Nun könnte man natürlich die Befürchtung äußern, dass Kant sich an dieser Stelle vielleicht nur etwas unglücklich ausgedrückt hat und man eine derart folgenschwere Entscheidung in Bezug auf das Grundziel des Abschnittes über die zweite Analogie der Erfahrung nicht an einer einzigen Stelle festmachen sollte. Bei genauem Lesen fällt jedoch auf, dass es tatsächlich zahlreiche weitere Stellen im Text gibt, die die Interpretationshypothese von Anderson und Longuenesse erhärten. Hier sind zwei weitere Stellen aus dem Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung: Wenn wir also erfahren, daß etwas geschiehet, so setzen wir dabei jederzeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe, worauf es nach einer Regel folgt. (KrV, A 195 / B 240; meine Hervorhebung) Soll also meine Wahrnehmung die Erkenntnis einer Begebenheit enthalten, da nämlich etwas wirklich geschieht; so muß sie ein empirisches Urteil sein, in welchem man sich denkt, daß die Folge bestimmt sei, d. i. daß sie eine andere Erscheinung der Zeit nach voraussetze,
Siehe Anderson (2002, 77) sowie Longuenesse (2005, 167).
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worauf sie notwendig, oder nach einer Regel folgt. (KrV, A 201 / B 246 f.; meine Hervorhebung)
In beiden Fällen ist nicht davon die Rede, dass wir Wissen über kausale Gesetze haben müssen, um eine objektive Folge zu erkennen, sondern nur, dass wir die Existenz einer Ursache voraussetzen müssen und uns denken müssen, dass die Zeitfolge bestimmt ist.⁹¹ Auch in den Prolegomena gibt es eine Stelle, an der dieser Punkt deutlich wird, und zwar nicht nur durch die Formulierung, sondern auch durch die gesamte Art und Weise, wie sich Kant zum von Hume überlieferten Kausalitätsproblem positioniert. Es lohnt sich, diese Stelle in einiger Ausführlichkeit zu betrachten und dabei auch den Zusammenhang, in dem sie steht, genauer zu beleuchten.
3.3.7 Humes Kausalitätsproblem in den Prolegomena – Ein Problem des Begriffsgehaltes In diesem Abschnitt möchte ich etwas ausführlicher auf Kants Auseinandersetzung mit Humes Angriff auf den Kausalitätsbegriff eingehen. Dabei möchte ich insbesondere zeigen, dass es Kant nicht – wie nach Guyers Interpretation zu vermuten wäre – um die Rechtfertigung von Urteilen über objektive Ereignisse geht. Selbst die Rechtfertigung des allgemeinen Kausalsatzes, die Kant im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung aufzeigt, steht nach Kants eigenen Äußerungen in den Prolegomena nicht im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit Hume.Wie wir sehen werden, geht es Kant in erster Linie um die Herkunft und den Gehalt des Begriffes der Kausalität sowie um eine Erklärung der Tatsache, dass wir in der Lage sind, durch Urteile das Vorliegen objektiver Kausalverknüpfungen auszudrücken.
Vollkommen analoge Formulierungen gibt es auch in den Abschnitten über die erste und die dritte Analogie. In Bezug auf die Existenz einer beharrlichen Substanz heißt es: „Daher können wir einer Erscheinung nur darum den Namen Substanz geben, weil wir ihr Dasein zu aller Zeit voraussetzen […].“ (KrV, A 185 / B 228; meine Hervorhebung) „Diese Beharrlichkeit ist indes doch weiter nichts, als die Art, uns das Dasein der Dinge (in der Erscheinung) vorzustellen.“ (KrV, A 186 / B 229; meine Hervorhebung) In Bezug auf das Vorliegen von Wechselwirkungen: „Also kann das Zugleichsein der Substanzen im Raume nicht anders in der Erfahrung erkannt werden, als unter Voraussetzung einer Wechselwirkung derselben untereinander; diese ist also auch die Bedingung der Möglichkeit der Dinge selbst als Gegenstände der Erfahrung.“ (KrV, B 258; meine Hervorhebung)
3.3 Der Argumentationsgang
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Wir können Kants Antwort auf Hume in den Prolegomena dadurch lokalisieren, dass Kant zu Beginn von § 27 ankündigt, nun „den Humeschen Zweifel aus dem Grunde zu heben“ (Prol, AA 4: 310). Wenn wir genauer betrachten, wie Kant den Humeschen Zweifel aus dem Grunde hebt, erfahren wir meines Erachtens viel Interessantes darüber, welchen Aspekt von Humes Zweifel Kant an dieser Stelle eigentlich genau im Auge hat. Zunächst verweist Kant darauf, dass das von Hume aufgeworfene Problem – das wir gleich noch genauer bestimmen werden – nicht nur den Begriff der Kausalität, sondern auch die beiden anderen Relations-Kategorien (Subsistenz und Gemeinschaft) betrifft: In allen drei Fällen, so konstatiert Kant, besteht das Problem darin, dass die Begriffe eine Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung beinhalten, die nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden kann. Mit Verweis auf die Analytik der Kritik der reinen Vernunft hält er dann fest, dass er gezeigt habe, dass die drei Relations-Kategorien und die ihnen zugehörigen Prinzipien (die drei Analogien der Erfahrung) „a priori vor aller Erfahrung feststehen und ihre ungezweifelte objektive Richtigkeit, aber freilich nur in Ansehung der Erfahrung, haben“ (Prol, AA 4: 311). In § 28 geht Kant dann knapp auf die in der Analytik der Kritik vorgelegten Argumente ein. Zunächst deutet er die Motivation für die metaphysische Deduktion der Kategorien an: Einerseits können wir von den durch die Relations-Kategorien vorgestellten notwendigen Verknüpfungen als Verknüpfungen der Dinge an sich selbst „nicht den mindesten Begriff“ (Prol, AA 4: 311) haben. Anderseits können wir, wie Kant festhält, diese notwendigen Verknüpfungen auch nicht als „Eigenschaften an Erscheinungen als Erscheinungen denken“ (Prol, AA 4: 311). Hiermit meint er, dass es sich nicht um Eigenschaften handelt, die den Erscheinungen unabhängig von Verstandesleistungen zukommen und die wir ihnen empirisch ablesen können – sie müssen vom Verstand dem empirischen Material beigefügt werden. Wie können aber unter diesen Umständen die Relations-Kategorien überhaupt entstehen, wenn sie nicht empirischen Ursprunges sein können? Hier greift nun die Grundidee der metaphysischen Deduktion: Die RelationsKategorien werden, wie Kant kurz für alle drei Fälle einzeln andeutet, aus entsprechenden Urteilsformen abgeleitet, die ihren Ursprung a priori im Verstand haben.⁹² Der in der metaphysischen Deduktion aufgezeigte apriorische Ursprung
Streng genommen muss man hier genauer formulieren: Ich folge Michael Wolff (1995, 28 f.) in der Auffassung, dass Kant die Position vertritt, dass sowohl die Urteilsformen als auch die Kategorien aus etwas ihnen beiden zugrunde liegendem entspringen, nämlich aus den logischen Funktionen des Verstandes.Wie Wolff an der angegebenen Stelle erläutert, ist es der analytischen Methode der Prolegomena geschuldet, dass Kant in diesem Werk die Urteilsformen statt der logischen Funktionen in den Vordergrund rückt: Während die Funktionen des Verstandes den
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der Relations-Kategorien – dies ist der Punkt, auf den es mir hier und im Folgenden besonders anzukommen scheint und auf den ich gleich noch zurückkommen werde – sichert, dass diese Kategorien einen bestimmten Gehalt haben können, den empirische Begriffe, wie schon Hume gezeigt hat, nicht haben können: Die in allen drei Relations-Kategorien enthaltene Vorstellung einer objektiven notwendigen Verknüpfung kann nur a priori entspringen.⁹³ Nach dieser Feststellung rekapituliert Kant knapp die Ergebnisse der transzendentalen Deduktion und auch der Analogien, nämlich dass wir ohne Anwendung der Kategorien – und damit insbesondere der drei hier betrachteten Relations-Kategorien – „gar keine Erkenntnis, die von dem Gegenstande gelte, haben könnten“ und wir daher „nicht allein die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit, alle Erscheinungen unter diese Begriffe zu subsumieren“ einsehen (Prol, AA 4: 311). Wollen wir uns überhaupt auf empirische Objekte beziehen, ist eine Anwendung der Relations-Kategorien alternativlos. Im direkt anschließenden § 29 kommt es dann zur Veranschaulichung dieser in der Analytik der Kritik gewonnenen Erkenntnisse anhand eines konkreten
Kategorien zugrunde liegen (was in der synthetisch verfahrenden Kritik hervorgehoben wird), sind es die Urteilsformen, durch deren Analyse wir die Kategorien entdecken können, was für das analytische Verfahren der Prolegomena vordergründig ist. Es muss einschränkend hinzugefügt werden, dass die metaphysische Deduktion nicht die Entstehung des gesamten Gehalts der Kategorien abdeckt. Wie Kant im Schematismus-Kapitel (KrV, A 137 ff. / B 176 ff.) festhält, können die reinen Verstandesbegriffe für sich genommen noch nicht auf Gegenstände angewandt werden. Sie müssen dafür schematisiert werden, das heißt es müssen ihnen „noch formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) a priori […], welche die allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgend einen Gegenstand angewandt werden kann“ (KrV, A 139 f. / B 179) hinzugefügt werden. Erst hierdurch werden die Kategorien zu anschauungsbezogenen Begriffen, durch die ein Gegenstand bestimmt werden kann. Vgl. Wolff (1995, 68 f.). Allerdings liefert die metaphysische Deduktion gerade denjenigen Bestandteil der RelationsKategorien, auf den es im gegenwärtigen Zusammenhang besonders ankommt: die Vorstellung von Notwendigkeit. So ist etwa die unschematisierte Kategorie der Substanz der Begriff von etwas, das notwendigerweise das Subjekt einer Prädikation ist. Das Schema dieser Kategorie nennt dann die anschaulichen Bedingungen, unter denen dieser Begriff auf sinnlich gegebenes Material anwendbar ist, im Falle der Kategorie der Substanz „die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit“ (KrV, A 144 / B 183). Vgl. Guyer (2006, 96). Die unschematisierte Kategorie der Substanz geht zurück auf die Verstandesfunktion, die die Grundlage des Verhältnisses zwischen Subjekt und Prädikat im kategorischen Urteil ist. Analog dazu geht die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung in der (unschematisierten) Kategorie der Kausalität zurück auf die Verstandesfunktion, die die Grundlage für das logische Verhältnis zwischen Grund und Folge im hypothetischen Urteil ist. Das zugehörige Schema identifiziert dann als die anschauliche Anwendungsbedingung der Kategorie der Kausalität „das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt.“ (KrV, A 144 / B 183)
3.3 Der Argumentationsgang
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Beispiels, in dem es um die Anwendung des Kausalitätsbegriffes auf empirisches Material geht. Und an dieser Stelle, so möchte ich nun genauer zeigen, sehen wir, dass das Thema nicht die Rechtfertigung einzelner Kausalurteile ist. Insbesondere, so möchte ich im Anschluss an den letzten Abschnitt herausarbeiten, geht es Kant nicht – wie von Guyer vertreten – darum, dass wir bei der Interpretation unserer Wahrnehmung anhand des Kausalitätsbegriffes mit einer zuvor bereits gerechtfertigten Gesetzeshypothese an den zu bestimmenden Fall herantreten müssen. Kant beginnt das Beispiel damit, dass er die Ausgangssituation der Kategorienanwendung schildert: Um einen Versuch an H u m e s problematischen Begriff […], nämlich dem Begriffe der Ursache, zu machen, so ist mir erstlich vermittelst der Logik die Form eines bedingten Urteils überhaupt, nämlich eine gegebene Erkenntnis als Grund und die andere als Folge zu gebrauchen, a priori gegeben. Es ist aber möglich, daß in der Wahrnehmung eine Regel des Verhältnisses angetroffen wird, die da sagt: daß auf eine gewisse Erscheinung eine andere (obgleich nicht umgekehrt) beständig folgt; und dieses ist ein Fall, mich des hypothetischen Urteils zu bedienen und z. B. zu sagen: Wenn ein Körper lange genug von der Sonne beschienen ist, so wird er warm. Hier ist nun freilich noch nicht eine Notwendigkeit der Verknüpfung, mithin der Begriff der Ursache. (Prol, AA 4: 312)
Kant beschreibt hier zunächst ein Urteil, das lediglich eine beobachtete Regularität beschreibt. Mit der Formulierung, dass hier noch keine Notwendigkeit der Verknüpfung enthalten ist, deutet er an, dass der Kausalitätsbegriff in diesem Urteil noch nicht angewendet wurde.⁹⁴ Dies geschieht erst im nächsten Schritt:
Den Hintergrund dieser Textstelle bildet natürlich Kants Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen, die in einem vorhergehenden Abschnitt eingeführt wurde (Prol, AA 4: 298). Wahrnehmungsurteile sind demnach bloß subjektiv gültig und bedürfen keiner Anwendung von Kategorien. Durch die Anwendung von Kategorien werden sie in objektiv gültige Erfahrungsurteile umgewandelt. In dem oben zitierten Abschnitt beschreibt Kant ein Wahrnehmungsurteil: „Wenn ein Körper lange genug von der Sonne beschienen ist, so wird er warm.“ (Vgl. Prol, AA 4: 301, Fn., wo dasselbe Urteil explizit als Wahrnehmungsurteil bezeichnet wird.). Dieses soll dann – wie gleich im Haupttext deutlich werden wird – durch die Anwendung der Kausalitätskategorie in ein Erfahrungsurteil umgewandelt werden. Von vielen Interpreten wird die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen als problematisch eingestuft, und zwar insbesondere deshalb, weil nach Kants allgemeiner Definition eines Urteils in der B-Deduktion (KrV, B 141) ein Urteil stets Kategorien enthalten muss. Anders ausgedrückt: Nach dieser Definition sind nur Erfahrungsurteile Urteile und Wahrnehmungsurteile kann es streng genommen nicht geben. Diese Schwierigkeit möchte ich an dieser Stelle außen vor lassen, da sie unter anderem an das äußerst komplexe Thema des Verhältnisses zwischen den beiden Darstellungen der transzendentalen Deduktion in der A- und der B-Auflage geknüpft ist, das an dieser Stelle zu weit vom eigentlichen Thema dieses Kapitels
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Allein ich fahre fort und sage: wenn obiger Satz, der bloß eine subjektive Verknüpfung der Wahrnehmungen ist, ein Erfahrungssatz sein soll, so muß er als notwendig und allgemeingültig angesehen werden. Ein solcher Satz aber würde sein: Sonne ist durch ihr Licht die Ursache der Wärme. Die obige empirische Regel wird nunmehr als Gesetz angesehen, und
wegführen würde. Für interessante Beiträge zu diesem Thema siehe Prauss (1971), Freudiger (1991), Hoppe (1983, 29 – 45), Thöle (1991, 90 – 100), Longuenesse (1998, 167– 197), Allison (2004, 179 – 182), Pollok (2012, 111– 125) und Wolff (2012). Für das gegenwärtige Thema ist folgende Schwierigkeit hingegen zentraler: In dem Wahrnehmungsurteil, das Kant hier zum Ausgangspunkt nimmt, ist bereits von einem zeitlichen Verhältnis zwischen Objekten und ihren Zuständen die Rede. Insbesondere ist das zeitliche Verhältnis zwischen den Zuständen der Kälte und der Wärme des Steines bereits bestimmt: Der Stein wird warm, das heißt sein Zustand der Kälte geht dem Zustand der Wärme voran. Anders ausgedrückt: Das von Kant als Beispiel für ein Wahrnehmungsurteil angeführte Urteil drückt ein Ereignis im Sinne eines objektiven Zeitverhältnisses zwischen zwei Objektzuständen aus. Die Argumentation für die zweite Analogie zeigt aber Kants Anspruch nach gerade, dass wir ohne eine Anwendung der Kausalitäts-Kategorie keine objektive Zeitbestimmung vornehmen können. Insofern kann es Kants Konzeption zufolge ein Urteil der Form „Wenn ein Körper lange genug von der Sonne beschienen ist, so wird er warm“, in dem die Kausalitäts-Kategorie nicht angewandt ist, gar nicht geben! Das objektive Ereignis des Warmwerdens eines Körpers kann in einem Urteil nur als etwas kausal Verursachtes gefasst werden. (Es würde an dieser Stelle auch nicht helfen, Wahrnehmungsurteile so aufzufassen, dass es sich bei ihnen genau genommen um Urteile nur über unsere eigenen subjektiven Wahrnehmungen handelt, wie dies etwa von Prauss (1971, 152) und Hoppe (1983, 43 f.) getan wird. Denn wie wir in Abschnitt 3.3.3 gesehen haben, kann Kant zufolge die zeitliche Reihenfolge der Wahrnehmungen nur anhand einer Bestimmung der zeitlichen Reihenfolge der von ihnen repräsentierten Objektzustände bestimmt werden. Und dies geht seiner Konzeption zufolge eben nur durch eine Anwendung der Kausalitäts-Kategorie auf die Objekte der Wahrnehmungen.) Die Lösung kann aus Kants Sicht meines Erachtens nur darin bestehen, das Wahrnehmungsurteil streng genommen als ein Urteil zu verstehen, in dem die entsprechende zeitliche Reihenfolge noch nicht bestimmt ist. Bei dem so verstandenen Urteil handelt es sich jedoch um eines, das nur schwer auszudrücken ist (was möglicherweise den Grund dafür darstellt, dass Kant die hier angesprochene Schwierigkeit ausgeblendet hat). Es müsste sich um ein Urteil handeln, das ausdrückt, dass häufig ein subjektiver Gesamtzustand eingetreten ist, der solche Wahrnehmungen umfasst, die das Scheinen der Sonne, einen Kältezustand eines Körpers und einen Wärmezustand eines Körpers repräsentieren. Nach den Ergebnissen von Abschnitt 3.3.4 dürfte in dem Urteil noch nicht einmal ausgedrückt sein, dass es sich um denselben Körper handelte, da die Individuierung der Objekte verschiedener Wahrnehmungen, wie dort gesehen, ebenfalls an die Anwendung eines Kausalgesetzes gebunden ist. Die Feststellung, dass es sich um denselben Stein handelte, der zuerst kalt war und dann warm wurde, kann erst durch die Umwandlung zum Erfahrungsurteil und die damit verbundene Anwendung der Kausalitäts-Kategorie geschehen: Das Scheinen der Sonne wird als die Ursache des Zustandswechsels der wahrgenommenen Steins aufgefasst, wodurch dann bestimmt ist, dass derselbe Stein zuerst kalt und dann warm war. (Siehe hierzu auch die Erläuterung der objektiven Zeitbestimmung anhand des Beispiels der Erwärmung des Steins in Abschnitt 3.3.4.)
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zwar nicht als geltend bloß von Erscheinungen, sondern von ihnen zum Behuf einer möglichen Erfahrung, welche durchgängig und also notwendig gültige Regeln bedarf. (Prol, AA 4: 312)
Die erste Begegnung mit dieser Passage kann tatsächlich gewisse Irritationen hervorrufen. Wir müssen diese Stelle natürlich im Zusammenhang damit lesen, dass Kant uns hier vorführen möchte, wie der Humesche Zweifel aus dem Grunde zu heben ist. In diesem Zusammenhang erwartet man als Leser, der durch die Fokussierung auf Humes Induktionsproblem in der Hume-Sekundärliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt ist, in gewisser Weise, dass Kant hier auf genau dieses Problem eingeht: Wir beobachten eine Regularität und es stellt sich die Frage, wie wir von dieser Beobachtung einen Schluss auf einen Satz vollziehen können, der mit strenger Allgemeinheit gilt. Aber auf dieses Problem geht Kant an dieser Stelle überhaupt nicht ein: Nach der zitierten Stelle besteht der Übergang von einer Beschreibung einer Regularität zu einer streng allgemeingültigen Gesetzesaussage nicht in einem Schluss, sondern einfach in der Anwendung der Kategorie der Kausalität. Ein Induktionsskeptiker dürfte aber kaum beeindruckt sein, wenn man ihm sagte, dass wir eine Aussage über das Vorliegen einer empirisch ermittelten Regularität einfach durch die Anwendung der Kausalitätskategorie zu einer Aussage über ein allgemeingültiges Gesetz umwandeln können. Man ist geneigt zu fragen: Aber unter welchen konkreten Bedingungen bin ich denn berechtigt, die Kategorie anzuwenden? Darüber schweigt Kant an dieser Stelle.⁹⁵ Und dies liegt meines Erachtens daran, dass es ihm an dieser Stelle um etwas anderes geht. Der entscheidende Hinweis für eine Interpretation dieser Textstelle besteht darin, dass Kant auch hier wieder davon spricht, dass die empirische Regel „nunmehr als Gesetz angesehen“ (Prol, AA 4: 312; meine Hervorhebung) wird. Es geht also gar nicht darum, dass die Gesetzesaussage, die durch die Anwendung der Kategorie auf die empirische Regel entsteht, gerechtfertigt ist. Kant beschreibt lediglich ein Verfahren, dass es uns ermöglicht, einen bestimmten Gehalt auszudrücken: Durch die Anwendung der Kategorie der Kausalität sind wir in der Lage,
Das einzige, was Kant an dieser Stelle dazu zu sagen hat, ist, „daß auf eine gewisse Erscheinung eine andere (obgleich nicht umgekehrt) beständig folgt […].“ (Prol, AA 4: 312) Aber das reicht natürlich – wie auch von Kant richtig dargestellt – nur für die Begründung des Wahrnehmungsurteiles (wobei die oben in Fn. 94 in diesem Kapitel angesprochene Schwierigkeit ausgeblendet werden muss), das noch keinen Anspruch auf strenge Allgemeingültigkeit beinhaltet, und gerade nicht für den Übergang zum Erfahrungsurteil, das diesen Anspruch ausdrückt.
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ein Urteil zu bilden, das das Vorliegen einer objektiv notwendigen Verknüpfung ausdrückt, die auf einem streng allgemeingültigen Gesetz beruht. An dieser Stelle stellt sich natürlich die Frage, wie dies mit einer Entgegnung auf Humes Zweifel zusammenhängt. Um dies zu verstehen, müssen wir noch einmal kurz zurückblenden zu Humes Behandlung des Kausalitätsbegriffes im Treatise und in der Enquiry. ⁹⁶ In beiden Werken nimmt Humes Problemaufriss seinen Ausgang von der These, dass unsere Vorstellungen ihren Gehalt dadurch beziehen, dass sie auf einen unmittelbaren Eindruck zurückgeführt werden können, aus dem sie entstanden sind. Diese Überlegung führt Hume zu einer Untersuchung von metaphysischen Vorstellungen, bei denen es auf den ersten Blick sehr schwer fällt, einen entsprechenden Eindruck aufzufinden.⁹⁷ Das zentrale Beispiel ist der Begriff der Kausalität und die darin enthaltene Vorstellung der notwendigen Verknüpfung. Der für uns interessante Punkt besteht darin, dass wir es hier, am Ausgangspunkt der Behandlung des Kausalitätsbegriffes, in gewisser Weise mit einem semantischen Problem zu tun haben: Wenn wir die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung nicht auf einen entsprechenden Eindruck zurückführen können, sind wir Humes Position zufolge nicht in der Lage, ihr einen Bedeutungsgehalt zuzusprechen. ⁹⁸ Erst von diesem Ausgangsproblem aus entwickelt Hume weitere Fragestellungen bezüglich des Begriffes der Kausalität, die in der Folge eine größere Beachtung gefunden haben, als das Ausgangsproblem:⁹⁹ die Frage nach der Rechtfertigung des allgemeinen Kausalsatzes und die Frage nach der Rechtfertigung konkreter Kausalurteile. Nun habe ich bereits dafür argumentiert, dass es Kant an der gerade betrachteten Stelle in § 29 der Prolegomena nicht um das Problem der Rechtfertigung konkreter Kausalurteile geht. Es dürfte zwar unstrittig sein, dass Kant mit dem
Siehe oben, Kapitel 1.Wie wir dort gesehen haben, hatte Kant einen direkten Zugang zu Humes Behandlung des Kausalitätsbegriffes durch eine deutsche Übersetzung der Enquiry. Aber auch zu Inhalten des Treatise hatte er einen zumindest indirekten Zugang. Siehe Enquiry 2.9 und Treatise 1.3.2.4. „When we entertain, therefore, any suspicion, that a philosophical term is employed without any meaning or idea (as is but too frequent), we need but enquire, from what impression is that idea derived? And if it be impossible to assign any, this will serve to confirm our suspicion.“ (Enquiry, 2.9; Hervorhebungen im Original) Wir haben allerdings in Abschnitt 1.3.2 gesehen, dass Hume dieses scharfe Kriterium für das Vorliegen eines Bedeutungsgehalts eines Begriffes in der Enquiry nicht so konsequent umsetzt, wie er es noch im Treatise getan hat. Diese Struktur von Humes Argumentationsgang wird vor allem an der Stelle (Treatise 1.3.2.13 – 15) deutlich. In der Enquiry übergeht Hume, wie bereits in Kapitel 1 dargelegt, die Thematik des allgemeinen Kausalsatzes.
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Argument für die zweite Analogie der Erfahrung zumindest auf die Frage nach der Rechtfertigung des allgemeinen Kausalsatzes eingeht – das Argument ist eine Rechtfertigung des allgemeinen Kausalsatzes.¹⁰⁰ Aber tatsächlich glaube ich, dass es ihm an der Stelle in den Prolegomena, an der er sich explizit auf einen Humeschen Zweifel bezieht, in erster Linie um dasjenige Problem geht, das auch für Hume das grundlegendste war: das Problem des Gehaltes des Begriffes der Kausalität.¹⁰¹ Dies geht meines Erachtens auch deutlich aus den Formulierungen in der Einleitung der Prolegomena hervor, in denen Kant das beschreibt, was er als den „Angriff, den D a v i d H u m e auf dieselbe [die Metaphysik] machte“ (Prol, AA 4: 257) bezeichnet: H u m e ging hauptsächlich von einem einzigen, aber wichtigen Begriffe der Metaphysik, nämlich dem der Ve r k n ü p f u n g d e r U r s a c h e u n d W i r k u n g […] aus. […] Er bewies unwidersprechlich, daß es der Vernunft gänzlich unmöglich sei, a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken, denn diese enthält Notwendigkeit; es ist aber gar nicht abzusehen, wie darum, weil Etwas ist, etwas Anderes notwendigerweise auch sein müsse, und wie sich also der Begriff von einer solchen Verknüpfung a priori einführen lasse. Hieraus schloß er, daß die Vernunft sich mit diesem Begriffe ganz und gar betrüge, daß sie ihn fälschlich für ihr eigen Kind halte, da er doch nichts anderes als ein Bastard der Einbildungskraft sei, die […] eine […] subjektive Notwendigkeit […] für eine objektive aus Einsicht unterschiebt. Hieraus schloß er, die Vernunft habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen, auch selbst im Allgemeinen, zu denken, weil ihre Begriffe alsdann bloße Erdichtungen sein würden, […] welches ebensoviel sagt als: es gebe überall keine Metaphysik und könne auch keine geben. (Prol, AA 4: 257 f.)
Zwei miteinander eng verschränkte Punkte bilden nach dieser Darstellung das Zentrum von Humes Angriff auf die Metaphysik: Der erste Punkt betrifft die Quelle des Begriffes der Kausalität, der zweite seinen Gehalt. Kant liest Hume offenbar so, dass die Tatsache, dass er den Begriff der Kausalität nicht a priori aus der Vernunft ableiten kann, sondern ihn aus der Einbildungskraft ziehen muss, ihn gleichzeitig auf eine These bezüglich des Gehaltes festlegt: Ein Begriff, der nicht a priori entspringt, kann nicht die Vorstellung einer objektiven notwendigen Ver-
Diese Formulierung ist im Anschluss an die Ergebnisse von Kapitel 2 natürlich unter der in Fn. 4 des vorliegenden Kapitels formulierten Einschränkung zu verstehen. Dies klingt in ähnlicher Form auch bei Melnick an: „Hume argued both 1) that there are difficulties in basing our knowledge of the future on our knowledge of the past, and 2) that there are difficulties in the very concept of a causal (necessary and universal) connection. Kant is primarily concerned with 2 […].“ (Melnick 1973, 133)
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
knüpfung enthalten.¹⁰² Kants größte Sorge besteht ganz offensichtlich darin, dass die Metaphysik in wesentlichen Teilen mit Begriffen operiert, deren Gehalt nicht durch eine genealogische Ableitung aus der Vernunft gedeckt werden kann. Hier ist nirgends die Rede von einer ausstehenden Rechtfertigung grundlegender metaphysischer Prinzipien oder gar konkreter kausaler Schlüsse. Wenn diese Fragen der Rechtfertigung Kant an anderen Textstellen interessieren, dann tun sie es offenbar deshalb, weil sie als Teil- oder Folgefragen betrachtet werden müssen, die für die vollständige Beantwortung der grundlegenden Fragen nach der Herkunft und dem Gehalt des Begriffes der Kausalität eine Rolle spielen. Die Gesamtüberlegung von Kants Auseinandersetzung mit Humes Angriff auf die Metaphysik kann man sich vor diesem Hintergrund wie folgt vorstellen: Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, führt Hume die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung letztlich erfolgreich auf einen unmittelbaren Eindruck zurück. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um einen Eindruck einer objektiven notwendigen Verknüpfung, sondern um den Eindruck einer subjektiven notwendigen Verknüpfung. Dieser wird hervorgerufen durch eine auf eine Disposition der Einbildungskraft gegründete Gewohnheit, von bestimmten Eindrücken zu bestimmten Vorstellungen überzugehen, welche durch die Beobachtung des konstanten Zusammenhanges zweier Arten von Objekten entsteht. Kants Hauptanliegen scheint mir darin zu bestehen, zu zeigen, wie es möglich ist, dass der Begriff der Kausalität eben doch eine gehaltvolle Vorstellung einer objektiven notwendigen Verknüpfung enthalten kann. Da Kant mit Hume annimmt, dass die Vorstellung einer objektiven notwendigen Verknüpfung nicht empirisch entspringen kann, muss er etwas leisten, wozu Hume nicht imstande war: Er muss den apriorischen Ursprung des Kausalitätsbegriffes aufzeigen, weil nur auf diese Weise der Gehalt der Vorstellung einer objektiven Notwendigkeit entspringen kann.¹⁰³ Dies leistet Kant in der metaphysischen Deduktion der Kategorien. Da aber bei einem a priori entsprungenen Begriff prima facie ungeklärt ist, weshalb man annehmen darf, dass er tatsächlich auf empirische Objekte anwendbar ist, muss außerdem gezeigt werden, wie es möglich ist, dass Objekte unter diesen Begriff fallen. Hierfür ist die transzendentale Deduktion das entscheidende Argument.
Ähnliche Kritik an Hume, die sich um die Tatsache dreht, dass Hume dem Begriff der Kausalität nur den Gehalt einer subjektiven Notwendigkeit verschaffen kann, äußert Kant auch an anderen Stellen. Siehe etwa MAN (AA 4: 476, Fn.), KrV (B 5) und KpV (AA 5: 50 f.). Dass der Begriff der Kausalität nur dann den Gehalt einer objektiven Notwendigkeit beinhalten kann, wenn er a priori entsprungen ist, macht Kant etwa am Ende der B-Deduktion, an der Stelle KrV, B 167 f. explizit. (Für einen entsprechenden Hinweis danke ich Michael Friedman.)
3.3 Der Argumentationsgang
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Es ist daher kein Zufall, dass Kant in den Paragraphen, in denen er sich dem Humeschen Zweifel zuwendet, zunächst die Ergebnisse der metaphysischen und der transzendentalen Deduktion rekapituliert. Diese Abschnitte behandeln gerade genau diese Probleme, die sich im Zusammenhang mit dem Gehalt der Vorstellung einer objektiven notwendigen Verknüpfung stellen. Das abschließende Beispiel der Umwandlung eines Urteils über eine empirische Regel in ein Urteil über eine Kausalrelation zeigt dann lediglich, wie wir uns die Anwendung des apriorischen Begriffes der Kausalität in einem konkreten Fall vorzustellen haben. Was Kant damit insgesamt gegen Hume gezeigt hat, ist, wie es möglich ist, dass unsere Urteile über Objekte einen Gehalt aufweisen, der die Vorstellung einer objektiven notwendigen Verknüpfung enthält: Der Gehalt fließt durch die Anwendung des a priori entstandenen Begriffes der Kausalität in die Urteile ein. Auch der Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung kann nun in diesem Lichte betrachtet werden: Ähnlich wie für Hume stellt für Kant die Frage nach der Rechtfertigung des allgemeinen Kausalsatzes keinen Selbstzweck dar. Wie oben in Abschnitt 3.1.1 bereits angesprochen, handelt es sich bei dem Grundsatzkapitel der Kritik der reinen Vernunft in gewisser Weise um einen verlängerten Arm der transzendentalen Deduktion. Insbesondere geht es im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung darum zu zeigen, dass die Anwendbarkeit einer ganz bestimmten Kategorie, nämlich des Kausalitätsbegriffes, im Bereich der Erfahrung garantiert ist. Dies leistet Kant, indem er für die zweite Analogie argumentiert: Wenn notwendigerweise alle beobachtbaren objektiven Ereignisse unter einem Kausalgesetz stehen, dann ist – sofern Erfahrung überhaupt möglich ist – garantiert, dass der Kausalitätsbegriff im Bereich der Erfahrung anwendbar ist. Nun muss ich meine Behauptung, dass es hier nicht um die Frage der Rechtfertigung von konkreten Anwendungen des Kausalitätsbegriffes geht, ein wenig relativieren: In einer gewissen Weise hat die zweite Analogie doch etwas mit der Rechtfertigung von Kausalurteilen zu tun. Wenn wir hier von einer Rechtfertigung sprechen können, dann handelt es sich aber sicherlich nicht um eine Rechtfertigung dafür, dass die Anwendung des Kausalitätsbegriffes in einem bestimmten Fall korrekt ist. Vielmehr handelt es sich bei der zweiten Analogie der Erfahrung um eine Rechtfertigung dafür, dass wir überhaupt diesen Begriff, den wir ja nicht aus der Erfahrung gewonnen haben, auf Erfahrungsgegenstände anwenden dürfen: Wir dürfen dies deshalb, weil es unsere einzige Möglichkeit ist, uns überhaupt auf objektive Ereignisse zu beziehen.¹⁰⁴ Aber bei der Anwendung
Man kann es vielleicht auch so ausdrücken: Das Argument für die zweite Analogie liefert uns
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
in einem bestimmten Fall gehen wir trotzdem stets ein gewisses Risiko ein: Es kann sich später immer herausstellen, dass die vorgenommene Anwendung nicht korrekt war.¹⁰⁵ Insbesondere kann es sich herausstellen, dass wir eine empirische Gesetzeshypothese angenommen haben, die falsch ist. Im Zusammenhang mit der oben vorgeschlagenen Interpretation des Argumentes für die zweite Analogie kann man dies vielleicht am besten so auf den Punkt bringen: Das Argument für die zweite Analogie zeigt, warum wir in einem gewissen Sinne berechtigt sind, unsere Wahrnehmungen auf der Grundlage von Gesetzeshypothesen zu interpretieren, auch wenn wir für diese (zumindest anfangs) keine Rechtfertigung liefern können.
3.4 Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung und die Existenz empirischer Naturgesetze Zu Beginn dieses Kapitels habe ich in Aussicht gestellt, dass ich eine Lesart des Abschnittes über die zweite Analogie verteidigen möchte, der zufolge aus dem Argument für die zweite Analogie sowohl die Existenz empirischer Kausalgesetze als auch ihre Notwendigkeit folgt. Dies gilt es nun anhand der bisherigen Erkenntnisse über den Ablauf des Argumentes genauer zu spezifizieren.
3.4.1 Notwendigkeit und Nötigung Als Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Frage, warum Kant zufolge aus seinem Argument für die zweite Analogie die Notwendigkeit von kausalen Verknüpfungen folgt, möchte ich den Blick auf eine wenig beachtete Stelle im Abschnitt über die zweite Analogie werfen, aus der wir etwas über den Gehalt der involvierten Vorstellung von Notwendigkeit erfahren können: Es kommt also darauf an, im Beispiele zu zeigen, daß wir niemals selbst in der Erfahrung die Folge (einer Begebenheit, da etwas geschieht, was vorher nicht war) dem Objekt beilegen, und sie von der subjektiven unserer Apprehension unterscheiden, als wenn eine Regel zum Grunde liegt, die uns nötiget, diese Ordnung der Wahrnehmungen vielmehr als eine andere
zumindest eine Entschuldigung dafür, dass wir bei der Interpretation unserer Wahrnehmungen kausale Gesetzeshypothesen annehmen, die wir zunächst nicht rechtfertigen können. Interessant ist in diesem Zusammenhang natürlich die Frage, wie sich später herausstellen kann, dass eine bestimmte Anwendung des Kausalitätsbegriffes nicht korrekt war. Auf diese Frage werde ich in Abschnitt 3.4.3 zurückkommen.
3.4 Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung
171
zu beobachten, ja daß diese Nötigung es eigentlich sei, was die Vorstellung einer Sukzession im Objekt allererst möglich macht. (KrV, A 196 f. / B 241 f.; meine Hervorhebungen)
Hier ist von einer Nötigung die Rede, die uns dazu bringt, eine bestimmte Ordnung in unseren Wahrnehmungen zu beobachten. Interessant ist diese Passage deshalb, weil sie auf den ersten Blick Erinnerungen an Humes Erklärung der Entstehung des Eindrucks der notwendigen Verknüpfung wachruft. Da wir wissen, dass Kant sich gegen Hume positionieren möchte, müssen wir die entscheidenden Unterschiede zwischen Kants und Humes Position an dieser Stelle genau herausarbeiten. Hierbei wird sich insbesondere ein Unterschied auftun, der den Gehalt der im Kausalitätsbegriff enthaltenen Vorstellung der Notwendigkeit betrifft. Der interessante Aspekt von Kants obiger Darstellung betrifft die von mir kursiv hervorgehobenen Ausdrücke „nötiget“ und „Nötigung“. Kant drückt damit gleich zweifach aus, dass ein einem Urteil zugrundeliegendes Kausalgesetz uns dazu nötigt, eine Wahrnehmungsfolge auf eine bestimmte Art zeitlich zu bestimmen. Interessant wird dies dadurch, dass man sich durch diese Bemerkung Aufschluss darüber erhoffen kann, was Kant eigentlich unter der Notwendigkeit einer kausalen Verknüpfung versteht: Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung drückt sich für uns zumindest zum Teil darin aus, dass uns ein Kausalgesetz, wenn wir es in der Interpretation unserer Wahrnehmungen voraussetzen, zu einer zeitlichen Bestimmung unserer subjektiven Wahrnehmungen nötigt. Der Zusammenhang mit Hume, auf den ich hier aufmerksam machen möchte, besteht nun pikanterweise darin, dass Hume in seiner subjektiven Ableitung der Vorstellung der notwendigen Verknüpfung von einer ganz ähnlichen Überlegung Gebrauch zu machen scheint: Humes Überlegung besteht ja gerade darin, dass wir die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung auf einen Reflexionseindruck zurückführen können, der dadurch entsteht, dass wir beim Beobachten eines Ereignisses unwillkürlich zu der Vorstellung eines anderen Ereignisses geleitet werden. Dieser Übergang zu der Vorstellung eines anderen Ereignisses ist mit einer Art innerem Zwang verbunden, auf den wir unsere Aufmerksamkeit in der Reflexion richten können, wodurch sich der Eindruck einer notwendigen Verknüpfung ergibt. Das, was wir in Humes Ansatz als eine Nötigung bezeichnen können, die im Zusammenhang mit Kausalurteilen auftritt, ist nach seiner Konzeption also gerade dasjenige, was der Vorstellung der notwendigen Verknüpfung einen greifbaren Gehalt verschafft.¹⁰⁶
Ich gehe davon aus, dass Kant mit dem Ausdruck „Nötigung“ indirekt auf Hume verweist. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Stelle aus der Enquiry und deren Übersetzung in der
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Nach allem, was wir bisher gesehen haben, dürfte natürlich klar sein, dass Kant sich durch den Verweis auf eine Nötigung keineswegs Humes subjektiver Ableitung anschließen möchte. Deswegen müssen wir nun die Unterschiede zwischen Kants und Humes Konzeption genauer herausarbeiten. Wie wir oben bereits gesehen haben, stößt sich Kant insbesondere daran, dass Humes Ableitung der Vorstellung der notwendigen Verknüpfung ihr nur den Gehalt einer subjektiven Notwendigkeit verschafft. Anders als bei Hume müssen wir also davon ausgehen, dass die Nötigung, von der im obigen Zitat die Rede ist, nicht die Quelle des Gehaltes der Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung ist, sondern etwas, was als Resultat des Gehaltes dieser Vorstellung zu sehen ist. Wie wir oben gesehen haben, bietet Kant auch eine andere Quelle für die Vorstellung an: Sie entspringt a priori. Dadurch, dass diese Vorstellung Teil des Gehaltes der Kategorie der Kausalität ist, die ihrerseits konstitutiv für empirische Objekte ist, ist es möglich einzusehen, wie diese Vorstellung die einer objektiven Notwendigkeit sein kann. Darüber hinaus hat die obige Analyse des Argumentationsganges für die zweite Analogie der Erfahrung gezeigt, inwiefern es gerade diese Vorstellung einer objektiven Notwendigkeit ist, die für die Zeitbestimmung unserer Wahrnehmung entscheidend ist: Nach Kants Konzeption müssen wir die Wahrnehmungen auf Objektzustände beziehen und eine objektive Kausalbeziehung zwischen dem
Ausgabe, die Kant besessen hat (siehe oben, Kapitel 1, Abschnitt 1.1). Im Original heißt es: „[A]fter a repetition of similar instances, the mind is carried by habit, upon the appearance of one event, to expect its usual attendant […]. This connection, therefore, which we feel in the mind, […] is the sentiment or impression, from which we form the idea of power or necessary connexion.“ (Enquiry, 7.28; Hervorhebung im Original) In der deutschen Übersetzung von 1755 lautet die Stelle: „[N]ach einer Wiederholung gleichartiger Beyspiele [wird] das Gemüthe durch die Gewohnheit hingerissen […], auf die Erscheinung eines Erfolges seinen gewöhnlichen Begleiter zu erwarten […]. Diese Verknüpfung demnach, die wir in dem Gemüthe fühlen, […] ist die einzige Empfindung, oder der einzige Eindruck, wovon wir den Begriff von der Kraft oder der nothwendigen Verknüpfung bilden.“ (Versuche, 176) Diese Formulierung, nach der „das Gemüthe durch die Gewohnheit hingerissen“ wird, was „wir in dem Gemüthe fühlen“, klingt tatsächlich sehr stark nach einer Form von psychologischer Nötigung. Interessanterweise taucht in der Übersetzung des Treatise von Theodor Lipps, die freilich lange nach Kants Hume-Lektüre erschien (die erste Auflage von Buch I erschien 1895) der Ausdruck „Nötigung“ im Zusammenhang mit dem gewohnheitsmäßigen Übergang von Eindrücken zu mit ihnen assoziierten Vorstellungen häufig auf. So heißt es etwa an einer Stelle: „Nachdem wir die Ähnlichkeit in einer genügenden Anzahl von Fällen beobachtet haben, fühlen wir im Geist eine Nötigung, von dem einen Gegenstand auf seinen gewöhnlichen Begleiter überzugehen […].“ (Traktat, Band I, 223). An dieser und auch an weiteren Stellen ist „Nötigung“ die Übersetzung des englischen Ausdrucks „determination“ (Treatise, 1.3.14.20). (Für einen entsprechenden Hinweis danke ich Timo Dresenkamp.)
3.4 Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung
173
Wechsel der Objektzustände und einer Ursache annehmen, um im ersten Schritt die Objektzustände und dadurch dann im zweiten Schritt auch die Wahrnehmungsfolge zeitlich zu bestimmen. Dieser Umweg der Zeitbestimmung der subjektiven Abfolge über die vorherige Zeitbestimmung der objektiven Gehalte der Wahrnehmungen zeigt, weshalb Kant zufolge die Vorstellung einer objektiven notwendigen Verknüpfung notwendig für Erfahrung ist. Wir sehen nun außerdem, was Kant hier mit Nötigung meint: Da eine Wahrnehmungsfolge für sich betrachtet zunächst einmal zeitlich unbestimmt ist, müssen wir, um eine solche Bestimmung vorzunehmen, ein konkretes Kausalgesetz voraussetzen, damit wir durch dieses genötigt sind, die Wahrnehmungsfolge in eine bestimmte zeitliche Reihenfolge zu bringen. Durch die Voraussetzung eines Kausalgesetzes nötigen wir uns sozusagen selbst zu einer zeitlichen Bestimmung, die wir sonst nicht vornehmen könnten.¹⁰⁷ Zusammenfassend kann man also sagen, dass sich Kants Konzeption durch zwei entscheidende Aspekte von Humes unterscheidet: Zunächst einmal ist es so, dass wir laut Hume in Bezug auf die besagte Nötigung passiv sind: Aufgrund der Beschaffenheit unserer Einbildungskraft führt die Beobachtung einer Regularität zu dem Zwang, der die Grundlage des Reflexionseindruckes der notwendigen Verknüpfung ist. Wir haben darauf keinen Einfluss und sind aufgrund der durch unsere Natur festgelegten Disposition unserer Einbildungskraft dazu verdammt, einen Übergang zwischen Ursache und Wirkung (oder umgekehrt) in unserem Geiste zu vollziehen. Kant zufolge sind wir in Bezug auf die Nötigung hingegen gerade aktiv ¹⁰⁸: Um unseren Vorstellungen eine zeitliche Bestimmtheit zu geben, müssen wir uns durch die Voraussetzung einer Gesetzeshypothese dazu nötigen, die Gehalte der Wahrnehmungen in eine bestimmte Reihenfolge zu setzen, wo-
Michael Friedman hat mich in einem Gespräch gefragt, ob es sich bei der Nötigung, von der hier die Rede ist, wirklich um eine psychologische Form der Nötigung handelt. Er wies mich darauf hin, dass die Reihenfolge der Objektzustände nach der Voraussetzung des Kausalgesetzes logisch folgt. Ich verstehe die Situation so, dass wir Kant zufolge diese logische Folge in gewisser Weise als einen Hebel für eine psychologische Selbstnötigung verwenden: Ohne die Voraussetzung eines Kausalgesetzes sind die Gehalte unserer Wahrnehmungen in Hinsicht auf objektive Zeitbestimmungen unterbestimmt, was einen Umstand darstellt, den wir beheben müssen, um objektive Erkenntnis haben zu können. Wir tun dies durch die Voraussetzung eines Kausalgesetzes, das logisch zur Folge hat, dass die wahrgenommenen Objektzustände in ein zeitliches Verhältnis zueinander gesetzt werden, wodurch wir uns zugleich psychologisch dazu genötigt haben, diese Zeitfolge als objektiv gültig aufzufassen. Dies passt natürlich hervorragend zu Kants Auffassung, dass es sich beim Verstand, im Gegensatz zur Sinnlichkeit, um ein spontanes Vermögen handelt. (KrV, A 50 / B 74)
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durch im zweiten Schritt die Wahrnehmungen ihre zeitliche Bestimmtheit erhalten. Und der zweite Punkt, der mit dem ersten eng zusammenhängt, besteht darin, dass die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung nach Kants Ansatz nicht aus dem Gefühl der Nötigung entspringt, sondern umgekehrt: Der Ursprung der Vorstellung ist nach Kant a priori, wodurch es möglich wird, dass der Gehalt der Vorstellung der einer objektiven Notwendigkeit ist. Aus der Anwendung dieses Gehaltes durch die Voraussetzung eines konkreten Kausalgesetzes, das wir auf objektive Zustände beziehen, entsteht dann eine Nötigung auf der subjektiven Ebene. Mit diesem Verständnis von der Rolle, die die vorausgesetzten Kausalgesetze in unserer Erkenntnis von objektiven Ereignissen spielen, können wir uns nun genauer der Frage zuwenden, warum die unter den Gesetzen stehenden Kausalverknüpfungen als notwendig angenommen werden müssen.
3.4.2 Die Notwendigkeit der empirischen Gesetze und der kausalen Verknüpfung Wie wir gesehen haben, ist Kants Argumentation für die zweite Analogie der Erfahrung der Gedanke zu entnehmen, dass wir unsere Wahrnehmungen vor dem Hintergrund von Gesetzeshypothesen interpretieren müssen. Wir haben außerdem gesehen, dass diese Gesetzeshypothesen für uns ein Mittel darstellen, uns selbst dazu zu nötigen, eine bestimmte zeitliche Struktur auf die Gehalte unserer Wahrnehmungen zu übertragen. Man kann sich nun die Frage stellen, inwiefern die in diesem Zusammenhang verwendeten Gesetzeshypothesen als Hypothesen bezüglich solcher Gesetze aufgefasst werden müssen, die notwendigerweise gelten beziehungsweise inwiefern diese Gesetze, sofern sie gelten, zur Herstellung einer notwendigen Verknüpfung zwischen Ursachen und Wirkungen führen. Um diese Frage weiter zuzuspitzen, möchte ich sie in Form eines Einwandes formulieren.¹⁰⁹ Im letzten Abschnitt hat sich ergeben, dass die Notwendigkeit der als Hypothese angenommen Gesetze ähnlich wie bei Hume im Zusammenhang mit einer Form von subjektiver Nötigung verstanden werden kann. Es ist aber klar, dass dies für Kant nicht alles sein kann, was über die Notwendigkeit der Gesetze gesagt werden kann, denn Kant betont gegen Hume ja gerade, dass die Notwendigkeit der Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung eine objektive not-
Für die Formulierung dieses Einwandes und eine hilfreiche Diskussion über ihn danke ich Nikola Kompa und Sebastian Schmoranzer.
3.4 Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung
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wendige Verknüpfung ist. Vor diesem Hintergrund muss man nun die Frage stellen, ob und in welchem Sinne Kant durch seine Argumentation gezeigt hat, dass zur Bestimmung objektiver Zeitverhältnisse tatsächlich objektive notwendige Verknüpfungen angenommen werden müssen. Genauer ausgedrückt: Würde es nicht genügen, wenn wir die Gehalte unserer Wahrnehmungen vor dem Hintergrund von Gesetzeshypothesen beurteilen würden, die lediglich die Annahme von streng allgemeingültigen Regularitäten ausdrücken?¹¹⁰ Wenn ich beispielsweise beurteilen möchte, ob ein von mir beobachteter Stein, der in der Sonne liegt, erst warm und dann kalt oder erst kalt und dann warm war, genügt es dann für eine Festlegung nicht, wenn ich annehme, dass in der Sonne liegende Gegenstände de facto in der Regel warm werden? Wieso und in welchem Sinne muss ich annehmen, dass es notwendigerweise der Fall ist, dass Gegenstände, die von der Sonne beschienen werden, warm werden? Ein interessanter Hinweis zur Beantwortung dieser Frage findet sich bei Melnick. Melnick weist darauf hin, dass der Anspruch auf eine notwendige Gültigkeit des Gesetzes automatisch dadurch entsteht, dass wir die entsprechende Gesetzeshypothese auf die Weise gebrauchen, wie wir dies Kant zufolge im Zusammenhang mit der Festlegung einer objektiven Zeitfolge tun: In a sense, when a particular law L is employed by us to determine the temporal order of events e1 and e2, it is not the law that conforms to the order of e1 and e2, but rather the determination of the order of e1 and e2 that conforms (that must conform) to the law. In this way
Kant bezeichnet Notwendigkeit und strenge Allgemeingültigkeit als die beiden „sichere[n] Kennzeichen einer Erkenntnis a priori“ und hält in diesem Zusammenhang fest, dass sie „auch unzertrennlich zu einander“ gehören (KrV, B 3). Trotz dieses engen Zusammenhanges werden diese beiden Merkmale aber von ihm voneinander unterschieden und getrennt behandelt. Der vorliegende Abschnitt hat zum Ziel, herauszuarbeiten, inwiefern Notwendigkeit von Kant als etwas verstanden wird, was sich von der strengen Allgemeingültigkeit eines Gesetzes unterscheidet. Die Lesart, nach der sich Notwendigkeit für Kant von strenger Allgemeingültigkeit unterscheidet, ist nicht unumstritten. So vertritt etwa Bernhard Rang die These, dass für Kant die Notwendigkeit eines Gesetzes „eben die Regularitä t oder Gesetzmä ßigkeit im zeitlichen Ablauf der Erscheinungen ist“ und dass Kant „ü ber den Regularitä tsgedanken Humes die in der Kausalbeziehung gedachte Notwendigkeit ganz im Sinne Humes auf Jederzeitigkeit reduziert“ (Rang 1997, 97). Für Rang unterscheidet sich also Notwendigkeit im Sinne Kants nicht von strenger Allgemeingültigkeit. Auch Rohs (1992, 86) vertritt diese Lesart. Die hier vertretene Gegenposition, nach der die Notwendigkeit empirischer Gesetze von Kant insbesondere so aufgefasst wird, dass die entsprechende Gesetzesaussage kontrafaktische Konditionale stützt und somit über die Behauptung einer tatsächlich bestehenden Regularität hinausgeht, vertritt neben Melnick (1973, 135) auch Philip Kitcher (1986, 234).
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
the necessity and universality of causal laws derives from their use as licenses in terms of which we determine temporal order. (Melnick 1973, 134; Hervorhebungen im Original)¹¹¹
Der entscheidende Punkt besteht darin, dass wir die Gesetzeshypothese nicht lediglich dazu verwenden, eine unabhängig von uns feststehende objektive Zeitfolge zu erfassen, sondern dazu, diese Zeitfolge in dem Sinne zu bestimmen, dass wir sie festlegen. Durch die Annahme der Hypothese schreiben wir den Gehalten unserer Wahrnehmungen eine Zeitfolge vor. Dadurch ist die Gesetzeshypothese automatisch mit dem Anspruch auf strenge Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit verbunden. Anders ausgedrückt: Solange wir an der Gesetzeshypothese festhalten, können in unserer Erfahrung gar keine Fälle auftreten, die der Hypothese direkt widersprechen, denn neue Wahrnehmungen werden vor dem Hintergrund derselben Hypothese beurteilt.¹¹² Wenn ich mich dazu entschieden habe, ein Gesetz als Grundlage für die Festlegung einer objektiven zeitlichen Ordnung anzunehmen, habe ich mich zum einen damit darauf festgelegt, in allen anderen Fällen, die unter das Gesetz fallen, die Gültigkeit des Gesetzes ebenfalls zu akzeptieren.¹¹³ Dies entspricht zunächst einmal dem Anspruch der strengen Allgemeingültigkeit der angenommenen Gesetze. Zum anderen – und dies ist im gegenwärtigen Zusammenhang der entscheidende Punkt – ist es so, dass ich mich zumindest implizit auch darauf festlege, dass die angenommene Gesetzeshypo-
Melnick setzt hier offenbar eine Lesart voraus, nach der Kants These darin besteht, dass die zeitliche Reihenfolge, die durch ein Kausalgesetz bestimmt werden soll, die Reihenfolge zweier Ereignisse, nämlich die eines Ursache- und eines Wirkungsereignisses ist. Wie oben dargelegt, geht es jedoch vielmehr darum, durch die Annahme eines Kausalzusammenhangs die zeitliche Reihenfolge zweier Objektzustände zu bestimmen, deren Wechsel das Wirkungsereignis ausmacht. (Siehe oben, Abschnitt 3.3.4.) Der im Zitat enthaltene Gedanke, auf den es hier ankommt, ist aber unabhängig von diesem Punkt. Dies ist allerdings nicht so gemeint, dass wir damit notwendigerweise immer richtig liegen. In welchem Sinne im Rahmen von Kants Ansatz die Möglichkeit offen bleibt, dass unsere Festlegung sich im Nachhinein als falsch herausstellt, ergründe ich im nächsten Abschnitt. Der entscheidende Punkt im gegenwärtigen Zusammenhang ist, dass wir die Gesetzeshypothese mit dem Anspruch versehen müssen, dass wir durch diese Hypothese den Gegenständen unserer Wahrnehmung korrekterweise die entsprechende Zeitordnung vorschreiben. Sollte ich dies in einem anderen Fall nicht tun wollen, bliebe mir nur die Möglichkeit, das Gesetz zu verwerfen und die anhand der entsprechenden Gesetzeshypothese vorgenommene Festlegung der Zeitordnung durch eine neue Gesetzeshypothese vorzunehmen. In diesem Fall müsste ich die neue Gesetzeshypothese wiederum mit dem Anspruch der strengen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit vertreten.
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these sogar kontrafaktische Konditionale stützt.¹¹⁴ Dies lässt sich wie folgt einsehen: Angenommen, eine bestimmte Gesetzeshypothese gehört bereits zu meinem Repertoire von Hypothesen, die ich zur Bestimmung objektiver Zeitfolgen verwende. Ich habe also bereits in mindestens einem Fall diese Hypothese zur Bestimmung einer Zeitfolge herangezogen. Nehmen wir beispielsweise an, es handelt sich um die Hypothese, dass kalte Gegenstände, die von der Sonne beschienen werden, in der Regel warm werden. Da ich mich durch die Annahme der Hypothese darauf festgelegt habe, sie auch in zukünftigen Situationen auf passende Fälle anzuwenden, gilt auch: Wenn ich jetzt eine Wahrnehmungsfolge eines von der Sonne beschienen Steines hätte, dann würde ich auch diese Wahrnehmungsfolge anhand dieser Gesetzeshypothese beurteilen (sofern keine anderweitigen Gründe vorlägen, die dafür sprächen, dass das Gesetz nicht auf den Fall anwendbar ist). Also gilt die Hypothese dem Anspruch nach auch für kontrafaktische Situationen. Insofern stützt die entsprechende Gesetzesaussage kontrafaktische Konditionale der Art „Wenn die Sonne gerade einen Stein beschiene, würde sich dieser erwärmen“ oder „Wenn dieser Stein von der Sonne beschienen würde, würde er sich erwärmen“. Die angewandte Gesetzeshypothese tritt also mit einem Anspruch auf notwendige Gültigkeit auf. Es kann außerdem davon gesprochen werden, dass die angenommene Hypothese zum Ausdruck bringt, dass die ausgewiesene Ursache die entsprechende Wirkung gemäß dem angenommenen Gesetz mit Notwendigkeit nach sich zieht. Die Notwendigkeit dieser Verknüpfung ergibt sich gerade daraus, dass die Verknüpfung der Anwendung eines Kausalgesetzes unterliegt, das kontrafaktische Konditionale stützt. Die Anwendung der Gesetzeshypothese beinhaltet also sowohl den Anspruch auf die notwendige Gültigkeit des Gesetzes, als auch auf die Notwendigkeit der Verknüpfung von Ursache und Wirkung, die dem Gesetz unterliegt. Insgesamt gesehen lässt sich also sagen, dass die eingeführten Hypothesen über Naturgesetze die ihnen zugedachte Rolle – nämlich die zeitliche Bestimmung von Objektzuständen und damit mittelbar die subjektive Zeitbestimmung der Wahrnehmungen – nur dadurch erfüllen können, dass sie als Hypothesen über allgemeingültige und notwendige Gesetze konzipiert werden, die objektive notwendige Verknüpfungen zum Gegenstand haben. Anders ausgedrückt: Wenn ein Subjekt sie zu diesem Zweck einsetzt, legt es sich damit automatisch auf den
Dies wird auch von Melnick hervorgehoben: „That a subject is committed to using a rule as an inference ticket and that the subject takes the rule as supporting counterfactual conditionals are two sides of the same coin.“ (Melnick 1973, 135) Der hier ausgedrückte Zusammenhang wird von Melnick allerdings nicht weiter erläutert.
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Anspruch fest, dass es sich bei den angenommenen Gesetzen um allgemeingültige und notwendige Gesetze über objektiv notwendige Verknüpfungen handelt.
3.4.3 Die Existenz empirischer Naturgesetze Einen zentralen Argumentationsschritt des Argumentes für die zweite Analogie der Erfahrung haben wir bisher noch nicht näher betrachtet. Das Argument, so weit wir es bisher betrachtet haben, führt zu der Konklusion, dass wir eine Abfolge von Wahrnehmungen nur dadurch als Repräsentation einer objektiven zeitlichen Abfolge von Objektzuständen interpretieren können, dass wir die Existenz eines empirischen Kausalgesetzes voraussetzen, welches die objektive zeitliche Folge bestimmt. Anders ausgedrückt: Wir können Ereignisse nur dadurch erkennen, dass wir sie als verursacht auffassen. Die zweite Analogie der Erfahrung drückt jedoch mehr als das aus, nämlich dass es keine unverursachten Ereignisse gibt. Kant schließt also offenbar daraus, dass wir unverursachte Ereignisse nicht erkennen können, darauf, dass es sie nicht geben kann. Wie ist dieser Schluss zu rechtfertigen?¹¹⁵ Es liegt nahe, die Antwort auf diese Frage in Kants Konzeption des transzendentalen Idealismus zu suchen. Im Rahmen der transzendentalen Deduktion der Kategorien in der A-Auflage hält Kant ein Prinzip fest, das grundlegend für den transzendentalen Idealismus insgesamt ist: „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.“ (KrV, A 111) Es bietet sich an, den oben angesprochenen Übergang auf der Grundlage dieses Prinzips zu rechtfertigen.¹¹⁶ Dies scheint mir tatsächlich auch das zu sein, was Kant bei der Begründung der zweiten Analogie der Erfahrung vor Augen stand. Allerdings kann man diesen Gedanken der Übertragung des Prinzips aus der Deduktion der Kategorien auf den Beweisgang der zweiten Analogie noch ausführlicher entfalten, wodurch er an Tiefe gewinnt. Dies möchte ich im Folgenden tun. Die Frage, die wir uns im Zusammenhang mit der zweiten Analogie stellen müssen, lautet: Wann ist eine Gesetzesaussage wahr beziehungsweise wodurch
Diese Frage wird auch von Longuenesse (2005, 168) aufgeworfen. Ihre Antwort (2005, 172 ff.) geht aus von demjenigen Argument für die zweite Analogie, das auf der formalen Einheit der Zeit basiert (KrV, A 199 – 201 / B 244– 246), welches ich in diesem Kapitel nicht besprochen habe (siehe oben, Fn. 54 in diesem Kapitel). Meines Erachtens gibt es für Kant einen direkteren Weg, um den Argumentationsschritt zu rechtfertigen, den ich im Folgenden entwickeln werde. Dies wird auch von Longuenesse (2005, 159, Fn. 22) angeführt, dann jedoch nicht in der hier im Folgenden vorgelegten Weise genauer analysiert.
3.4 Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung
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wird festgelegt, welche empirischen Gesetze die tatsächlichen Gesetze der Natur sind? Diese Frage muss vor dem Hintergrund von Kants Vorstellung davon behandelt werden, wodurch sich im Rahmen seines transzendentalen Idealismus die Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit ziehen lässt.¹¹⁷ Und wie wir sehen werden, stützt Kants Antwort auf diese Frage den oben betrachteten Schluss von der Prämisse, dass wir unverursachte Ereignisse nicht erkennen können, auf die Konklusion, dass alle Ereignisse eine Ursache haben. Schauen wir uns zunächst an, wie Kant im Abschnitt über die Postulate des empirischen Denkens überhaupt im zweiten Postulat den Begriff der Wirklichkeit bestimmt: Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist w i r k l i c h . (KrV, A 218 / B 266)
Wie die darauf folgenden Erläuterungen verdeutlichen, meint Kant an dieser Stelle mit den materialen Bedingungen der Erfahrung Wahrnehmungen, die sich eben durch Empfindung auf ein Objekt beziehen können. Dabei ist es allerdings so, dass es für die Erkenntnis der Wirklichkeit eines Objektes nicht immer notwendig ist, dass es unmittelbarer Gegenstand einer Wahrnehmung ist. Statt dessen kann die Wirklichkeit eines Objektes auch indirekt festgestellt werden: Das Postulat, die W i r k l i c h k e i t der Dinge zu erkennen, fordert W a h r n e h m u n g , mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist, zwar nicht eben unmittelbar, von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang desselben mit irgend einer wirklichen Wahrnehmung, nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt darlegen. (KrV, A 225 / B 272)
Entscheidend für die Erkenntnis der Wirklichkeit eines Objektes ist der Zusammenhang dieses Objektes mit einer Wahrnehmung. Dieser Zusammenhang basiert – wie Kant es hier allgemein ausdrückt – auf den Analogien der Erfahrung. Gemeint sind konkreter „empirische[ ] Gesetze[ ]“ (KrV, A 226 / B 273) beziehungsweise „Gesetze[ ] des empirischen Zusammenhanges“ (KrV, A 226 / B 274), also die empirischen Kausal- und Wechselwirkungsgesetze, die Thema der zweiten und dritten Analogie sind.¹¹⁸
Die folgende Betrachtung von Kants Konzeption von Wirklichkeit im Rahmen seines transzendentalen Idealismus baut im Wesentlichen auf Stang (2012, section 3) auf. Kant greift hiermit im Prinzip einen weiteren Gedanken Humes auf. So heißt es in section 4 der Enquiry concerning Human Understanding: „All reasonings concerning matter of fact seem to be founded on the relation of Cause and Effect. By means of that relation alone we can go beyond the evidence of our memory and senses.“ (Enquiry, 4.4) Wie wir gleich sehen werden, geht Kant
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Man könnte Kants Äußerungen über Wirklichkeit im Abschnitt über die Postulate des empirischen Denkens überhaupt nun so verstehen, dass es sich bei der Verbundenheit eines Objektes mit einer Wahrnehmung durch empirische Naturgesetze lediglich um ein epistemisches Kriterium handelt, anhand dessen es uns möglich ist, in bestimmten Fällen ein Objekt, das nicht Gegenstand einer unserer Wahrnehmungen ist, als wirklich zu erkennen. Dass eine solche Verbundenheit als epistemisches Kriterium gebraucht werden kann, ist Kant zufolge sicherlich richtig, doch gehen Kants Intentionen an dieser Stelle über die Entwicklung eines epistemischen Kriteriums hinaus. Wie nämlich an anderen Stellen deutlich wird, ist es eine Grundidee der Position des transzendentalen Idealismus, dass es sich beim Zusammenhang mit Wahrnehmung durch empirische Naturgesetze um dasjenige handelt, was ein Objekt zu einem wirklichen Objekt macht. ¹¹⁹ Der zentrale Abschnitt in der Kritik der reinen Vernunft zu diesem Thema ist Abschnitt 6 des Antinomien-Kapitels. Hier entwickelt Kant einen Grundzug seines transzendentalen Idealismus im Kontrast zu den Gegenpositionen des transzendentalen Realismus und des empirischen Idealismus. Wichtig ist für den gegenwärtigen Zusammenhang vor allem, dass Kant sich an dieser Stelle dazu genötigt sieht, einen möglichen Einwand gegen seine Position zu entkräften, nämlich den Einwand, dass dem transzendentalen Idealismus zufolge der Unterschied zwischen Wahrheit und Traum einbricht. Kant beginnt den Abschnitt mit dem Hinweis darauf, dass nach den Ergebnissen der Transzendentalen Ästhetik die Gegenstände unserer Erfahrung stets Erscheinungen sind, also Gegenstände, die „außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben“ (KrV, A 491 / B 519). Diese Position, die aus der These folgt, dass Raum und Zeit Formen unserer Sinnlichkeit sind, bezeichnet er als den transzendentalen Idealismus. Die Frage ist nun, wie man im Rahmen einer solchen Position den Unterschied zwischen Wahrheit und Traum ziehen kann. Wenn die Gegenstände unserer Erfahrung ohnehin keine von uns unabhängige Existenz haben, was kann es dann noch heißen, dass ein Gegenstand wirklich existiert? Oder genauer: wodurch unterscheidet sich dann ein wirklich existierender Gegenstand noch von einem bloß geträumten? Kants Antwort auf diese Frage lautet wie folgt:
jedoch über Humes Gedanken, dass eine kausale Verbindung mit unseren Wahrnehmungen ein epistemisches Kriterium für die Existenz von Gegenständen außerhalb unserer Wahrnehmung ist, hinaus. Vgl. Stang (2012, 1131, Fn. 27).
3.4 Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung
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In dem Raume aber und der Zeit ist die empirische Wahrheit der Erscheinungen genugsam gesichert, und von der Verwandtschaft mit dem Traume hinreichend unterschieden, wenn beide nach empirischen Gesetzen in einer Erfahrung richtig und durchgängig zusammenhängen. Es sind demnach die Gegenstände der Erfahrung n i e m a l s a n s i c h s e l b s t , sondern nur in der Erfahrung gegeben, und existieren außer derselben gar nicht. (KrV, A 492 / B 520 f.)
Entscheidend ist hier Kants Hinweis darauf, dass die Gegenstände als Erscheinungen Teil einer Erfahrung sind.¹²⁰ Mit dieser Erfahrung ist offenbar nicht etwa eine einzelne Erfahrung gemeint, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt macht, sondern ein zusammenhängendes Ganzes, in das viele verschiedene Wahrnehmungen eingehen, wobei die Wahrnehmungen (oder genauer: deren Objekte) durch empirische Gesetze miteinander verknüpft sind. Und die Abgrenzung zwischen Wahrheit und Traum besteht offenbar darin, dass ein Objekt genau dann wirklich existiert, wenn es Teil dieser einen Erfahrung ist, wenn es also in einen gesetzesartigen Zusammenhang mit wahrgenommenen Gegenständen eingebettet ist.¹²¹ Kant weist insbesondere darauf hin, dass nicht nur Objekte, die unmittelbar Gegenstand einer Wahrnehmung sind, in diesem Sinne als Teil der einen Erfahrung gelten. Zum einen zählen solche Dinge zu den wirklichen Gegenständen, die zwar nicht selber Gegenstand einer Wahrnehmung sind, aber mit diesen in einem gesetzesartigen Zusammenhang stehen. Dies gilt Kant zufolge insbesondere für Dinge, die bereits vergangen sind:
Vgl. Stang (2012, 1130), der dieselbe Stelle zitiert. Stang bezeichnet diese „eine Erfahrung“ als „Strong Experience“. Ich werde statt dessen lediglich von der „einen Erfahrung“ sprechen. Stang (2012, 1130 f., Fn. 26) verweist außerdem auf eine Parallelstelle aus der A-Deduktion: „Es ist nur e i n e Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhange vorgestellt werden: eben so, wie nur ein Raum und Zeit ist, in welcher alle Formen der Erscheinung und alles Verhältnis des Seins und Nichtseins stattfinden.“ (KrV, A 110) Auch im Abschnitt über die Postulate des empirischen Denkens überhaupt wird die „eine Erfahrung“ thematisiert: „Denn alsdann hängt doch das Dasein des Dinges mit unseren Wahrnehmungen in einer möglichen Erfahrung zusammen […].“ (KrV, A 225 f. / B 273) Eine weitere diesbezügliche Stelle aus dem Abschnitt über das Ideal der Vernunft zitiere ich unten in Fn. 121 in diesem Kapitel. Eine weitere Stelle, die diese Interpretation stützt, findet sich im Abschnitt über das Ideal der reinen Vernunft, an der Kant noch einmal auf den Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit (hier als Existenz bezeichnet) eingeht: „Denn durch den Begriff wird der Gegenstand nur mit den allgemeinen Bedingungen einer möglichen empirischen Erkenntnis überhaupt als einstimmig, durch die Existenz aber als in dem Kontext der gesamten Erfahrung enthalten gedacht […].“ (KrV, A 600 f. / B 628 f.; meine Hervorhebung)
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
So kann man sagen: die wirklichen Dinge der vergangenen Zeit sind in dem transzendentalen Gegenstande der Erfahrung gegeben; sie sind aber für mich nur Gegenstände und in der vergangenen Zeit wirklich, sofern als ich mir vorstelle, daß eine regressive Reihe möglicher Wahrnehmungen (es sei am Leitfaden der Geschichte, oder an den Fußstapfen der Ursachen und Wirkungen,) nach empirischen Gesetzen, mit einem Worte, der Weltlauf auf eine verflossene Zeitreihe als Bedingung der gegenwärtigen Zeit führt, welche alsdann doch nur in dem Zusammenhange einer möglichen Erfahrung und nicht an sich selbst als wirklich vorgestellt wird […]. (KrV, A 495 / B 523)
Dies sichert etwa, dass wir heute sagen können, dass es Dinosaurier wirklich gegeben hat, obwohl wir sie nicht mehr wahrnehmen können. Wir können ihre vergangene Existenz auf der Grundlage von empirischen Gesetzen erschließen, die sie mit Spuren der Vergangenheit verbinden, die wir heute wahrnehmen können. Zum anderen verweist Kant darauf, dass wir auch solche Dinge als wirklich betrachten können, die zwar bisher noch von niemandem wahrgenommen wurden, die aber prinzipiell in der Zukunft von uns wahrgenommen werden können: Daß es Einwohner im Monde geben könne, ob sie gleich kein Mensch jemals wahrgenommen hat, muß allerdings eingeräumt werden, aber es bedeutet nur so viel: daß wir in dem möglichen Fortschritt der Erfahrung auf sie treffen könnten; denn alles ist wirklich, was mit einer Wahrnehmung nach Gesetzen des empirischen Fortgangs in einem Kontext steht. (KrV, A 492 f. / B 521)
Die eine Erfahrung, die den gesetzesartigen Zusammenhang alles Wirklichen darstellt, ist also etwas, das uns niemals vollständig vorliegt, sondern stets durch neue Wahrnehmungen zu ergänzen ist. Die eine Erfahrung ist also sozusagen nie ganz fertig, sondern wir müssen stets an ihrer Vervollständigung arbeiten. In diesem Sinne können wir sagen, dass es sich bei der einen Erfahrung um eine Idee im kantischen Sinne handelt, also um etwas, das als idealer Endpunkt einer Entwicklung zu verstehen ist, der nie vollständig erreicht werden kann.¹²² Auf die Kriterien, nach denen dieses Gesamtsystem auf der Grundlage der Wahrnehmungen zu erstellen ist, werden wir in den folgenden Kapiteln noch ausführlich eingehen. Es wird sich zeigen, dass Kant die Entwicklung des Systems grundsätzlich als durch zwei unterschiedliche Aspekte restringiert beziehungsweise geleitet sieht: Zum einen entwickelt Kant im Anhang zur Transzendentalen Kant sagt über Ideen: „[E]s kann keine Erscheinung gefunden werden, an der sie sich in concreto vorstellen ließen. Sie enthalten eine gewisse Vollständigkeit, zu welcher keine mögliche empirische Erkenntnis zulangt, und die Vernunft hat dabei nur eine systematische Einheit im Sinne, welcher sie die empirische mögliche Einheit zu nähern sucht, ohne sie jemals völlig zu erreichen.“ (KrV, A 567 f. / B 595 f.)
3.4 Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung
183
Dialektik der ersten Kritik und in den Einleitungen in die dritte Kritik Prinzipien der Systematisierung unserer empirischen Begriffe beziehungsweise der empirischen Gesetze. Diese Prinzipien können als leitende Kohärenzprinzipien für die Entwicklung der einen Erfahrung verstanden werden. Auf der anderen Seite sieht Kant eine apriorische Fundierung dieses Systems auf der Grundlage der Kategorien beziehungsweise der transzendentalen Grundsätze vor. Die Grundlage für eine solche Fundierung entwickelt er in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft. Wie wir letztlich sehen werden, müssen wir die zu erstrebende eine Erfahrung als ein System verstehen, das auf der Grundlage dieser apriorischen Fundierung steht und zugleich im Sinne der systematisierenden Prinzipien die menschlichen Wahrnehmungen anhand von kausalen Gesetzen in ein maximal kohärentes System einbettet.¹²³ Vor diesem Hintergrund können wir Kants Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Traum nun wie folgt verstehen: Ein Objekt ist wirklich, genau dann, wenn es eines derjenigen Objekte ist, die am (idealen, nie erreichbaren) Endpunkt unserer unendlichen Untersuchung der Natur von der einen Erfahrung repräsentiert werden. Da die eine Erfahrung eine Idee ist, die wir niemals vollständig erreichen können, können wir folglich auch nie endgültig feststellen, dass ein Objekt wirklich ist. Es ist stets prinzipiell möglich, dass ein Objekt, das wir für wirklich halten, in späteren Stadien der Entwicklung der einen Erfahrung nicht mehr zu den repräsentierten Objekten gehört, etwa weil neu hinzukommende Wahrnehmungen oder Kohärenzüberlegungen eine diesbezügliche Revision des
Stang (2012, 1130) scheint in diesem Zusammenhang lediglich eine innere Kohärenz des Systems im Blick zu haben, die im Anhang zur Transzendentalen Dialektik und den Einleitungen in die dritte Kritik anhand der Regeln der Systematisierung von Begriffen und Gesetzen thematisiert wird. Anderson, auf der anderen Seite, lenkt den Fokus auf die apriorische Fundierung des Systems: „[M]y procedure is, in effect, to place a bet that my causal law suffices for time-determination, because it (or something similar) will, in the limit, be derived from the category, as a precondition for achieving some part of the total unification of experience.“ (Anderson 2005, 77; Hervorhebung im Original) Die hier etwas dunkle Formulierung Andersons, nach der die kausalen Gesetze aus den Kategorien „abgeleitet“ werden sollen, lese ich als einen Verweis auf die Metaphysischen Anfagsgründe der Naturwissenschaft. Nach dem dort entwickelten Verfahren werden aus den Kategorien beziehungsweise den zugehörigen transzendentalen Grundsätzen unter Zuhilfenahme des empirischen Begriffes der Materie sogenannte metaphysische Grundsätze abgeleitet, die letztlich als die Basis des Systems der einen Erfahrung verstanden werden können. Auf dieses Verfahren der Metaphysischen Anfangsgründe werden wir ausführlich in Kapitel 4 zurückkommen. Die Kapitel 5 und 6 werden der systematisierenden Funktion der Vernunft beziehungsweise der Urteilskraft gewidmet sein. Am Ende von Kapitel 6 werden wir außerdem genauer sehen, wie die metaphysische Fundierung des Systems und die systematisierende Funktion miteinander in einen Zusammenhang gebracht werden können.
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Gesamtsystems nahelegen. Aber, so lautet offenbar Kants Überlegung, wir können die Tatsache, dass ein Objekt Teil der von unserem vorläufigen Erfahrungssystem repräsentierten Objekte ist, zumindest als eine (fallible) Rechtfertigung dafür betrachten, dass das Objekt wirklich ist.¹²⁴ Diese Überlegung bezüglich der wirklichen Existenz von Objekten kann nun auch übertragen werden auf die Gesetzesannahmen, die dazu dienen, die Objekte der Erfahrung miteinander zu verbinden. Die Ausgangsfrage dieses Exkurses über Kants Konzeption von Wirklichkeit lautete: Wodurch wird nach Kants Konzeption festgelegt, welche empirischen Gesetze die tatsächlichen Gesetze der Natur sind? Vor dem Hintergrund der bisher entwickelten Idee der einen Erfahrung liegt folgende Antwort auf der Hand: Die tatsächlichen Gesetze der Natur sind diejenigen Gesetze, die von der idealen einen Erfahrung als gültige Gesetze repräsentiert werden.¹²⁵ Es sind die Gesetze, die sich auf der Grundlage der apriorischen Fundierung des Systems als diejenigen empirischen Gesetze herausgestellt haben werden, die maximal kohärenzstiftende kausale Relationen zwischen den vom System repräsentierten Objekten bilden. Nun wird natürlich auch deutlich, was es heißt, dass ich mich über eine von mir zum Zweck einer objektiven Zeitbestimmung verwendete empirische Gesetzesannahme irren kann. Wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, ist es zwar in einem gewissen Sinne trivialerweise der Fall, dass eine wahrgenommene Zeitfolge nicht einer von mir angenommenen Gesetzeshypothese widersprechen kann, da die Gesetzeshypothese gerade dasjenige ist, wodurch ich die zeitliche Ordnung festlege. Dies bedeutet aber keineswegs, dass es keine Umstände geben kann, unter denen ich mich dazu genötigt sehe, eine Gesetzeshypothese aufzugeben beziehungsweise zu revidieren. Das System wird fortwährend mit neuen Wahrnehmungen konfrontiert, die anhand der bereits gemachten Gesetzesannahmen in das System integriert werden müssen. Hierbei kann es vor dem Hintergrund von allgemeinen Kohärenzüberlegungen zu Reibungen innerhalb des Systems kommen, die dazu führen können, dass Gesetzesannahmen aufgegeben beziehungsweise revidiert werden müssen. So gibt es keine Garantie dafür, dass die von mir eingeführten Gesetzesannahmen auch Teil des idealen Systems am Ende der Untersuchung sein werden. Dies bedeutet, dass sich meine Annahmen als falsch herausstellen können. Vor diesem Hintergrund können wir schließlich auch einsehen, warum im Rahmen von Kants Ansatz daraus, dass objektive Zeitbestimmungen nur auf der
Vgl. Stang (2012, 1133). Auf diesen Punkt, der in den folgenden Kapiteln eine zentrale Rolle einnehmen wird, komme ich unten in Abschnitt 3.5 noch einmal zurück. Vgl. Stang (2012, 1132).
3.4 Die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung
185
Grundlage von Gesetzeshypothesen möglich sind, folgt, dass es keine unverursachten Ereignisse geben kann: Wenn ich eine Gesetzesannahme für eine objektive Zeitbestimmung einführe, kann ich mich in dieser Annahme – wie gerade erläutert – zwar täuschen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ich mich darüber täuschen kann, dass ein Ereignis gemäß (irgend‐)einem Gesetz verursacht wurde. Wenn ich mein System derart revidiere, dass ich fortan nicht mehr annehme, dass das von mir betrachtete Ereignis gemäß dem von mir ursprünglich angenommenen Gesetz verursacht wurde, habe ich nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich gebe die Annahme auf, dass das Ereignis überhaupt stattgefunden hat¹²⁶, oder ich muss – nach dem oben analysierten Argument Kants – eine andere Gesetzesannahme verwenden, um die objektive Zeitbestimmung vorzunehmen, die erforderlich ist, um meine Wahrnehmungsfolge als Wahrnehmung eines Ereignisses zu interpretieren. In jedem Fall wird es nötig sein, dass jedes innerhalb des vorläufigen Erfahrungssystems repräsentierte Ereignis als gemäß einem Kausalgesetz verursachtes Ereignis repräsentiert wird. Da dieselbe Überlegung aber für jede weitere Revision des Systems gilt, folgt, dass auch das ideale System am Ende der unendlichen Untersuchung nur solche Ereignisse repräsentiert, die gemäß einem Kausalgesetz verursacht sind. Der entscheidende Punkt ist nun, dass letzteres nach der in diesem Abschnitt analysierten Konzeption von Wirklichkeit Kant zufolge gleichbedeutend damit ist, dass jedes tatsächliche Ereignis tatsächlich gemäß einem Kausalgesetz verursacht ist. Dies bedeutet jedoch nichts anderes als die Gültigkeit von Kants zweiter Analogie der Erfahrung. Wir sehen nun, wie es möglich ist, dass der Verstand die Existenz und Notwendigkeit der empirischen Gesetze der Natur vorschreibt, ohne zugleich ihren materialen Gehalt zu diktieren: Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung hat den Anspruch zu zeigen, dass wir Ereignisse nur als gemäß notwendigen empirischen Gesetzen verursachte Ereignisse repräsentieren können. Es kann sein, dass wir aufgrund neuer Wahrnehmungen und Kohärenzüberlegungen den materialen Gehalt eines Gesetzes, das wir für eine kausale Erklärung eines Ereignisses angenommen haben, später revidieren. Insofern ist der materiale Gehalt der Gesetze etwas, was in einem (unendlichen) Prozess durch Erfahrung bestimmt werden muss. Aber die Form, nämlich dass Ereignisse gemäß notwendigen Gesetzen verursacht sind, ist von vornherein fixiert: Wenn es überhaupt tatsächliche Ereignisse gibt, wenn also Ereignisse vom idealen System am Ende der unendlichen Untersuchung repräsentiert werden, dann müssen sie nach Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ich einsehe, dass ich nicht zwei Wahrnehmungen eines Schiffes gehabt habe, das seinen Ort gewechselt hat, sondern dass es sich statt dessen um Wahrnehmungen zwei unterschiedlicher Schiffe gehandelt hat, die jeweils an ihrem Ort geblieben sind. Siehe hierzu auch oben, Abschnitt 3.3.4, insbesondere Fn. 79.
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3 Die zweite Analogie der Erfahrung
Kants Argumentation gemäß notwendigen empirischen Gesetzen – wie auch immer diese letztlich konkret aussehen mögen – verursacht werden. Das Argument für die zweite Analogie der Erfahrung sichert also, dass der Verstand der Natur – das heißt dem, was das ideale System am Ende der unendlichen Untersuchung insgesamt repräsentiert – die Form der empirischen Gesetze vorschreibt, während er die Materie der Gesetze offen lässt für eine Bestimmung anhand von Erfahrung.
3.5 Fazit und Ausblick – Die Aufgabe der Rechtfertigung von empirischen Naturgesetzen Es hat sich in diesem Kapitel gezeigt, dass Kant in der zweiten Analogie der Erfahrung zunächst einmal nur unsere Fähigkeit analysiert, uns durch unsere Wahrnehmungen auf Objekte zu beziehen, die wir als von unseren Wahrnehmungen unterschieden betrachten. Diese Fähigkeit setzt voraus, dass wir die Objekte der Wahrnehmungen als unter objektiven Kausalgesetzen stehend betrachten, durch die ihnen eine Zeitordnung gegeben ist, die sich von der Zeitordnung unserer subjektiven Wahrnehmungen unterscheiden kann. Wir hatten gesehen, dass es Kant zunächst einmal nur darum geht, dass wir durch die Kategorie der Kausalität dazu in der Lage sind, Gesetzesannahmen zu machen, die mit dem Anspruch verbunden sind, objektiv gültig zu sein. Eine Rechtfertigung dieser Annahmen, so hatte ich argumentiert, ist nicht unmittelbar das Thema des Abschnittes über die zweite Analogie der Erfahrung. Im letzten Abschnitt haben wir jedoch bereits vorausweisend gesehen, in welchem theoretischen Rahmen Kants Konzeption der Rechtfertigung der Gesetzesannahmen angesiedelt ist: Die tatsächlichen Gesetze sind diejenigen Gesetze, die vom idealen System am Ende der unendlichen Untersuchung repräsentiert werden. Wenn wir rechtfertigen wollen, dass eine von uns gemachte Annahme über das Vorliegen eines empirischen Gesetzes wahr ist, dann müssen wir zeigen, dass es plausibel ist anzunehmen, dass dieses Gesetz Teil derjenigen Gesetze ist, die vom idealen System repräsentiert werden. Wir müssen also versuchen zu zeigen, dass unser vorläufiges System einen Anspruch darauf machen darf, das ideale System zumindest in Teilen und zumindest approximativ vorwegzunehmen. Die Frage ist, wie sich ein solcher Anspruch rechtfertigen lässt. Wie wir in den Kapiteln 5 und 6 sehen werden, spielt das Prinzip der Systematizität, das Kant in der ersten und in der dritten Kritik in leicht unterschiedlicher Weise entwickelt und begründet, hierfür eine wichtige Rolle. Dieses Prinzip soll uns einen Grund für die Annahme geben, dass die Natur hinsichtlich ihrer Objekte und empirischen Gesetze systematisch verfasst ist, sodass wir in der Lage
3.5 Fazit und Ausblick
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sind, die Natur in ihrer Vielfalt zu erfassen. Dies führt zu der Idee, dass unsere vorläufige Theorie über die Natur in dem Maße einen Anspruch auf Gültigkeit machen kann, in dem es uns gelungen ist, ihr eine systematische Form zu geben. Auf der anderen Seite reicht eine systematische Form jedoch nicht aus. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass die von uns vorgebrachten Gesetzeshypothesen mit dem Anspruch auf eine objektive Notwendigkeit verbunden sind. An einer Stelle zu Beginn des Grundsatz-Kapitels der Kritik der reinen Vernunft hält Kant fest: Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundgesetze des empirischen Verstandesgebrauchs betrachtet werden, führen zugleich einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die Vermutung einer Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sind, bei sich. (KrV, A 159 / B 198)
Wenn wir also zum Zweck der Feststellung eines objektiven Ereignisses eine Gesetzeshypothese einführen, die für diesen Zweck mit einen Anspruch auf objektive Notwendigkeit verbunden sein muss, dann haben wir uns damit zugleich auf einen Anspruch darauf festgelegt, dass sich dieses Gesetz zumindest auf lange Sicht mit einer apriorischen Fundierung versehen lässt. Wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass Kant in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft den Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit empirischer Gesetze und einer apriorischen Fundierung erneut betont.¹²⁷ Es wird sich außerdem zeigen, dass er in diesem Werk zumindest die ersten Schritte behandelt, die es uns ermöglichen sollen, die apriorische Fundierung zumindest der empirischen Gesetze der Physik einzusehen.
Wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird, stellt sich Kant unter einer solchen apriorischen Fundierung des Systems der Naturgesetze allerdings keine rein deduktive Ableitung der empirischen Gesetze aus den Grundsätzen des Verstandes vor. Entscheidend für den empirischen Charakter der empirischen Naturgesetze ist, dass sie durch die apriorischen Grundsätze unterbestimmt sind. Eine Verbindung zwischen den Grundsätzen und den empirischen Gesetzen kann Kant zufolge nur dadurch hergestellt werden, dass die Grundsätze unter Einbeziehung empirischer Daten zu empirischen Gesetzen spezifiziert werden.
4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft Wie wir bereits im letzten Kapitel gesehen haben, äußert sich Kant in der Kritik der reinen Vernunft zumindest andeutungsweise über das Verhältnis zwischen empirischen Naturgesetzen und den Grundsätzen des Verstandes. Da diese Äußerungen für die folgende Betrachtung der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft ¹ und insbesondere für eine Bestimmung des Verhältnisses dieser Schrift zur Kritik der reinen Vernunft von zentraler Bedeutung sind, möchte ich sie hier noch einmal zitieren. Der für uns interessante Punkt, den Kant lediglich im Vorbeigehen erwähnt, ist in der A-Auflage der Kritik etwas anders formuliert als in der B-Auflage²: Zwar können empirische Gesetze, als solche, ihren Ursprung keinesweges vom reinen Verstande herleiten […]. Aber alle empirische Gesetze sind nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind, und die Erscheinungen eine gesetzliche Form annehmen […]. (KrV, A 127 f.) Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine N a t u r ü b e r h a u p t […] beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon n i c h t v o l l s t ä n d i g a b g e l e i t e t werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. (KrV, B 165)
An beiden Textstellen geht es zunächst darum, dass die empirischen Gesetze durch die transzendentalen Gesetze des Verstandes unterbestimmt sind und entsprechend nicht einfach aus letzteren deduktiv gefolgert werden können. Aber andererseits wird dennoch eine gewisse Verbindung zwischen den transzendentalen und den empirischen Gesetzen angedeutet: Nach der A-Formulierung sind die empirischen Gesetze besondere Bestimmungen der transzendentalen Gesetze,
Im folgenden verkürzt als Metaphysische Anfangsgründe bezeichnet. In manchen Kontexten ist es wichtig, zwischen dem Werk und der Wissenschaft desselben Namens, die in diesem Werk abgehandelt wird, zu unterscheiden. Ich mache dies in der üblichen Weise dadurch kenntlich, dass ich den Namen des Werkes stets kursiv setze, im Gegensatz zum Namen der darin abgehandelten Wissenschaft. Ich lese diese Stellen so, dass Kant hier die Formulierung der A-Auflage nicht durch die Formulierung der B-Auflage revidieren wollte, sondern dass er in der B-Auflage denselben Gedanken noch einmal auf eine andere Weise ausdrückt. Die Formulierungen können demnach als einander ergänzend betrachtet werden. Siehe die hierzu analogen Überlegungen bezüglich der beiden Formulierungen der zweiten Analogie der Erfahrung in Abschnitt 3.2.1. https://doi.org/10.1515/9783110697209-006
4.1 Das Programm der Metaphysischen Anfangsgründe
189
nach der B-Formulierung stehen die empirischen Gesetze unter den transzendentalen. Es ist für das vorliegende Thema von großem Interesse, die hier angedeutete Verbindung genauer zu verstehen. Denn es liegt nahe, eine Rechtfertigung für die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze im Rahmen von Kants Ansatz gerade in einer solchen Beziehung zwischen den empirischen Gesetzen und den a priori als notwendig erkannten transzendentalen Gesetzen zu suchen. Wie wir im Folgenden sehen werden, besteht eine der Grundideen von Friedmans Interpretation der Metaphysischen Anfangsgründe gerade darin, dass in diesem Werk zumindest für ein besonders wichtiges empirisches Naturgesetz, nämlich für das Newtonsche Gravitationsgesetz, genau dies aufgezeigt wird: Dass es sich um ein Gesetz handelt, dessen Notwendigkeit sich daraus herleiten lässt, dass es sich als in einem bestimmten Sinne unter den transzendentalen Gesetzen des Verstandes stehendes Gesetz erweisen lässt.
4.1 Das Programm der Metaphysischen Anfangsgründe 4.1.1 Die metaphysischen Anfangsgründe als reiner Teil der Naturwissenschaft Bevor wir uns mit Friedmans These und mit einzelnen Abschnitten der Metaphysischen Anfangsgründe genauer beschäftigen, müssen wir jedoch zunächst einmal eine grundlegende Vorstellung davon erhalten, was Kant mit diesem Werk eigentlich genau bezweckt. Dem Titel des Werkes nach ist zu vermuten, dass es darum geht, die Naturwissenschaft mit metaphysischen Grundprinzipien zu fundieren. Dies geht tatsächlich auch aus zentralen Textstellen der Vorrede hervor: Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist […]. Dasjenige Ganze der Erkenntnis, was systematisch ist, kann schon darum Wissenschaft heißen […].Wenn aber [die] Prinzipien in ihr, wie z. B. in der Chemie, doch zuletzt bloß empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebene Facta durch Vernunft erklärt werden, bloß Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer Notwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch gewiß) und alsdenn verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft […]. (MAN, AA 4: 468)
Kant hebt hier hervor, dass eine Wissenschaft im strengen Sinne nicht nur eine systematisch verfasste Erkenntnis ist, sondern außerdem über Prinzipien verfügt, die a priori gelten. Insbesondere ist es die Notwendigkeit der Gesetze einer Wissenschaft, die Kant zufolge nur dadurch eingesehen werden kann, dass apriorische Prinzipien zugrunde liegen.
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
Die apriorischen Prinzipien, die einer echten Wissenschaft zugrunde liegen, bezeichnet Kant als den „reinen Teil“ (MAN, AA 4: 469) der Wissenschaft, oder alternativ auch als ihre metaphysischen Anfangsgründe. Das Projekt der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft besteht also darin, den reinen Anteil der Naturwissenschaft systematisch herzuleiten und darzulegen.³ Die metaphysischen Anfangsgründe einer Naturwissenschaft können also als Teil dieser Naturwissenschaft aufgefasst werden. Andererseits deutet die Bezeichnung „metaphysische Anfangsgründe“ darauf hin, dass Kant den reinen Teil der Naturwissenschaft, eben da er nicht-empirisch ist, als Teil der Metaphysik der Natur betrachtet. Dieser Aspekt ist zugleich dasjenige, was die Metaphysischen Anfangsgründe in den Gesamtkontext der theoretischen Philosophie Kants einbettet.
4.1.2 Die metaphysischen Anfangsgründe als Teil der Metaphysik der Natur Eine wichtige Frage – für das Verständnis der Metaphysischen Anfangsgründe im Allgemeinen, aber auch für eine Einordnung des Folgenden in den Gesamtzusammenhang der vorliegenden Untersuchung über Kants Konzeption von empirischen Naturgesetzen – besteht natürlich darin, in welchem Verhältnis die Metaphysischen Anfangsgründe zur Kritik der reinen Vernunft stehen. Als Hintergrund benötigen wir zunächst die Information aus der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft, dass Kant die Metaphysik generell in zwei Teile untergliedert, nämlich einerseits die Metaphysik der Natur und andererseits die Metaphysik der Sitten. Unter einer Metaphysik der Natur versteht Kant das Projekt, welches „alles, sofern es i s t , (nicht das, was sein soll,) aus Begriffen a priori erwägt“ (KrV, A 845 / B 873). Dies bedeutet, dass es sich um denjenigen Teil der Metaphysik handelt, in dem es um Erkenntnisse der theoretischen Vernunft geht, im Gegensatz zu einer Metaphysik der Sitten, die der praktischen Vernunft zuzuordnen ist und die normative Fragen („das, was sein soll“) zu klären hat.⁴
Genau genommen wird das Projekt der Metaphysischen Anfangsgründe noch weiter eingegrenzt auf den reinen Teil der Physik. Zu den Gründen, aufgrund derer Kant annahm, dass die Physik als einzige Naturwissenschaft einen reinen Anteil haben kann, kommen wir gleich. Diese für Kants kritisches System zentrale Unterscheidung zwischen der Metaphysik der Natur und der Metaphysik der Sitten findet sich auch in anderen Werken, so etwa in der Vorrede der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS, AA 4: 387 f.) und in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV, AA 5: 138). An diesen beiden Stellen unterscheidet Kant allgemeiner zwischen den beiden materialen Wissenschaften Physik und Ethik (denen in der Vorrede der Grundlegung außerdem die Logik als formale Wissenschaft gegenüber gestellt wird). Innerhalb dieser Wissen-
4.1 Das Programm der Metaphysischen Anfangsgründe
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Die Metaphysik der Natur, um die es uns hier nur geht, wird von Kant in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe wiederum in zwei Teile untergliedert: [Metaphysik der Natur] kann doch entweder sogar ohne Beziehung auf irgend ein bestimmtes Erfahrungsobjekt […] von den Gesetzen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen, handeln, und alsdenn ist es der transzendentale Teil der Metaphysik der Natur: oder sie beschäftigt sich mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, daß außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur Erkenntnis desselben gebraucht wird […] und […] es ist alsdenn keine allgemeine, sondern besondere metaphysische Naturwissenschaft […]. (MAN, AA 4: 469 f.)
Der von Kant zunächst angesprochene transzendentale Teil der Metaphysik der Natur kann identifiziert werden mit dem, was Kant in Grundzügen⁵ in der Transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft entwickelt. Hierzu gehören insbesondere die Kategorien und die mit ihnen verbundenen Grundsätze des Verstandes, die als die allgemeinsten Gesetze der Metaphysik der Natur aufzufassen sind. Es handelt sich deshalb um eine allgemeine Metaphysik der Natur, weil es sich um diejenigen Grundbegriffe und Grundsätze handelt, die konstitutiv für Objekte der Erfahrung sind und daher für alle Objekte der Erfahrung – unabhängig von ihren spezifischen Unterschieden – notwendigerweise gültig sind. Für den davon zu unterscheidenden besonderen Teil der Metaphysik der Natur gilt genau dies nicht: Hierbei handelt es sich um einen Teil der Metaphysik, der sich mit besonderen Dingen beschäftigt, von denen ein bestimmter Begriff vorausgesetzt wird, und die Grundfrage dieses Teiles der Metaphysik der Natur besteht darin, was a priori von Gegenständen gerade dieser bestimmten Art ausgesagt werden kann. Wie man sich denken kann, hängen diese beiden Teile der Metaphysik der Natur eng miteinander zusammen. Insbesondere wird in der folgenden Darstel-
schaften unterscheidet er jeweils einen reinen, apriorischen Anteil von einem empirischen Anteil. Der reine Teil der Physik ist die Metaphysik der Natur, der reine Teil der Ethik ist die Metaphysik der Sitten. Wie wir gleich sehen werden, stellen die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft einen Teil der Metaphysik der Natur dar, und zwar denjenigen Teil, der die in der Metaphysik der Natur ebenfalls enthaltenen transzendentalen Prinzipien des Verstandes mit dem empirischen Teil der Physik verbinden soll. Diese Einschränkung ist nötig, da Kant selber festhält, dass er in der Kritik der reinen Vernunft nur „die Quellen und Bedingungen“ einer Metaphysik der Natur dargelegt hat, „denn, so vollständig auch alle Prinzipien zu dem System [der Metaphysik der Natur] in der Kritik vorgetragen sind, so gehört zur Ausführlichkeit des Systems selbst doch noch, daß es auch an keinen abgeleiteten Begriffen mangle, die man a priori nicht in Überschlag bringen kann, sondern die nach und nach aufgesucht werden müssen […].“ (KrV, A XXI)
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
lung deutlich werden, dass Kant die in der Kritik der reinen Vernunft erarbeiteten Ergebnisse in Bezug auf den allgemeinen Teil der Metaphysik der Natur in den Metaphysischen Anfangsgründen durchgängig voraussetzt. Eine wichtige Frage, die es genauer zu klären gilt, besteht darin, in welchem Verhältnis der allgemeine und der besondere Teil der Metaphysik der Natur nach Kants Konzeption genau stehen.
4.1.3 Die metaphysischen Anfangsgründe als Bindeglied zwischen Metaphysik und empirischer Wissenschaft Die beiden letzten Abschnitte zusammenfassend kann gesagt werden, dass wir es insgesamt gesehen mit drei Ebenen zu tun haben, wobei die mittlere Ebene das Bindeglied zwischen den beiden anderen Ebenen darstellt: Erstens haben wir die Prinzipien des reinen Verstandes und die darin enthaltenen Kategorien, die die Grundlage des transzendentalen Teiles der Metaphysik der Natur ausmachen. Zweitens haben wir das, was Kant als die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft bezeichnet. Diese nehmen eine Doppelstellung ein, denn sie stellen zugleich den besonderen Teil der Metaphysik der Natur und den reinen Anteil der Naturwissenschaft dar, wodurch sie als Bindeglied zwischen Metaphysik und Naturwissenschaft fungieren. Drittens haben wir noch den empirischen Teil der Naturwissenschaft. Bei diesem handelt es sich um empirische Gesetze, die in einem System miteinander verbunden sind, dessen Grundlage die apriorischen Prinzipien des reinen Teils der Naturwissenschaft bilden. Als nächstes gilt es zu klären, wie die metaphysischen Anfangsgründe einer Wissenschaft dazu in der Lage sind, diese Brückenfunktion zu erfüllen. Die Frage ist insbesondere, inwiefern es sich bei den Anfangsgründen zugleich um einen Teil der Metaphysik und um einen Teil einer Naturwissenschaft handeln kann. Um dies zu verstehen, ist es besonders wichtig, den Begriff der Materie, der eine zentrale Rolle einnimmt, und die Funktion, die er innerhalb der metaphysischen Anfangsgründe zu erfüllen hat, genauer zu verstehen.
4.2 Der empirische Begriff der Materie In der in Abschnitt 4.1.2 zitierten Passage haben wir bereits gesehen, dass der besondere Teil der Metaphysik sich vom transzendentalen dadurch unterscheidet, dass in ihm ein empirischer Begriff vorausgesetzt wird. An den Stellen der zitierten Passage, die ich zunächst ausgelassen habe, gibt Kant Beispiele hierfür an:
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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[…] z. B. sie [die besondere metaphysische Naturwissenschaft] legt den empirischen Begriff einer Materie, oder eines denkenden Wesens, zum Grunde, und sucht den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist […]. (MAN, AA 4: 470)
Prinzipiell haben wir es zunächst also mit zwei besonderen metaphysischen Naturwissenschaften zu tun, nämlich einerseits mit dem reinen Teil der Physik, als dessen Grundbegriff der Begriff der Materie ausgezeichnet wird, und andererseits mit dem reinen Teil der Psychologie, dem der Begriff eines denkenden Wesens zugrunde liegt.⁶ Kant ist jedoch der Meinung, dass sich ein reiner, auf apriorischen Gründen basierender Anteil im Falle der Psychologie prinzipiell nicht realisieren lässt.⁷ Die Gründe hierfür möchte ich zunächst zurückstellen. Hier möchte ich zunächst der Frage nachgehen, warum gerade der Begriff der Materie derjenige Begriff ist, der den metaphysischen Anfangsgründen der Physik zugrunde zu liegen hat und welchen Status dieser Begriff genau hat.
4.2.1 Der Begriff der Materie als Grundbegriff der metaphysischen Anfangsgründe der Physik Wie wir gesehen haben, zeichnet Kant den Materie-Begriff als denjenigen Begriff aus, der in Bezug auf die körperliche Natur der grundlegende Begriff einer besonderen Metaphysik der Natur sein kann. Es stellt sich natürlich die Frage, warum sich gerade dieser Begriff für eine Grundlegung der Physik besonders eignet. Die Antwort auf diese Frage besteht im Wesentlichen darin, dass der Begriff der Materie für Kant der allgemeinste Begriff in Bezug auf die Gegenstände der Wir haben oben in einem Zitat bereits gesehen, dass Kant der Chemie den Status einer Wissenschaft im strengen Sinne abspricht, da er der Meinung ist, dass es wahrscheinlich nicht möglich ist, ihr eine apriorische Fundierung zu geben. Die Biologie, ein weiterer Kandidat, scheidet aus ganz ähnlichen Gründen aus, nämlich genauer deshalb, weil sich in den Erklärungen von biologischen Organismen teleologische Urteile nicht eliminieren lassen, sodass Organismen nicht vollständig nach mechanischen Gesetzen erklärbar sind (KU, AA 5: 400). Im Gegensatz zu den mechanischen Gesetzen liegt teleologischen Urteilen kein Grundsatz des Verstandes zugrunde, sondern nur ein regulatives Prinzip der Urteilskraft. Insofern fehlt es der Biologie an einer apriorischen Fundierung durch Verstandesprinzipien beziehungsweise an einer Formulierung von apriorischen Gesetzen, wie sie die Metaphysischen Anfangsgründe für die Physik bereitstellen. Vgl. Engelhard (2011, 69). In einem Brief an Christian Gottfried Schütz vom 13. September 1785 äußert Kant noch die Absicht, die metaphysischen Anfangsgründe der Psychologie in einem Anhang zu den Metaphysischen Anfangsgründen abzuhandeln (Br, AA 10: 406). Er muss in Bezug auf diesen Punkt also relativ kurzfristig seine Meinung geändert haben. Vgl. Pollok (2001b, 3).
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
äußeren Sinne ist.⁸ Dies wird insbesondere an einer Textstelle im PhoronomieKapitel deutlich, an der Kant eine Verbindung zwischen dem Materie-Begriff der Physik und einem anderen Materie-Begriff herstellt: Wenn ich den Begriff der Materie nicht durch ein Prädikat, was ihr selbst als Objekt zukommt, sondern nur durch das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen, in welchem mir die Vorstellung allererst gegeben werden kann, erklären soll, so ist Materie ein jeder Gegenstand äußerer Sinne, und dieses wäre die bloß metaphysische Erklärung derselben. […] Die Materie wäre, im Gegensatz der Form, das, was in der äußeren Anschauung ein Gegenstand der Empfindung ist […]. (MAN, AA 4: 481)
Kant verweist hier auf eine Unterscheidung, die bereits in der Kritik der reinen Vernunft eine zentrale Rolle eingenommen hat, nämlich auf die Unterscheidung zwischen der Form und der Materie der Erscheinung. Unter einer Erscheinung versteht Kant den „unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (KrV, A 20 / B 34). Eine Erscheinung ist ihm zufolge zusammengesetzt aus einerseits der Materie der Erscheinung, worunter er „das, was der Empfindung korrespondiert“ (ebd.) versteht, wobei Empfindung „[d]ie Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden“ (ebd.) ist. Der Materie gegenüber steht andererseits die Form der Erscheinung, nämlich dasjenige, „welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann“ (KrV, B 34)⁹. Dies ist folgendermaßen zu verstehen: Die Sinnlichkeit wird von einem Gegenstand affiziert, wodurch uns in der Anschauung ein Mannigfaltiges gegeben wird. Dieses empirisch gegebene Material der Sinnlichkeit wird sodann in den Formen der Anschauung, Raum und Zeit, geordnet.¹⁰ Wenn die so in Form ge-
Vgl. zum Folgenden Cramer (1985, 136 ff.). Die zuletzt zitierte Stelle wurde für die B-Auflage leicht geändert. Siehe hierzu unten, Fn. 10 in diesem Kapitel. Bewusst habe ich geschrieben, dass das gegebene Material in den Formen geordnet wird, und nicht, dass es durch die Formen geordnet wird. Aus den Ergebnissen des letzten Kapitels über die Analogien der Erfahrung können wir nämlich folgern, dass Kant sich hier, in der Transzendentalen Ästhetik, einer verkürzten Darstellung bedient und an dieser Stelle die Rolle des Verstandes vorläufig unterschlägt. Wie wir gesehen haben, sind Kant zufolge insbesondere die Analogien der Erfahrung notwendig, um den empirischen Objekten und sogar unseren eigenen Vorstellungen eine spezifische zeitliche Struktur zu geben. Die Anschauungsformen müssen vor diesem Hintergrund offenbar so betrachtet werden, dass sie allein dem gegebenen Material noch keine räumliche und zeitliche Struktur geben, sondern dass sie die Bedingungen dafür sind, dass gegebene Objekte in Raum und Zeit sind, d. h. dass das gegebene Material zeitlich und räumlich strukturierbar ist. Entsprechend heißt es ja auch in Kants Formulierung, dass die Form dasjenige ist, „welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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brachte Anschauung dann auf einen empirischen Gegenstand – eine Erscheinung – bezogen wird¹¹, können wir an diesem Gegenstand einen empirischen Anteil, der der Empfindung korrespondiert, von dem apriorischen Anteil unterscheiden, den die Anschauungsformen beigesteuert haben. Ersteres ist die Materie und letzteres die Form der Erscheinung. Wenn der Materie-Begriff in dieser Weise, das heißt in Abgrenzung zum Begriff der Form der Erscheinung verstanden wird, dann lässt sich offenbar ganz allgemein sagen, dass Materie all dasjenige am Objekt ist, was uns durch die Sinne gegeben werden kann. Um von hier aus die Verbindung zum Materie-Begriff der Physik herzustellen, bedarf es nur noch einer Einschränkung und eines Vorbehaltes.¹² Die Einschränkung besteht darin, dass wir es in der Physik nur mit der Materie der äußeren Sinne, nicht jedoch mit der Materie des inneren Sinnes zu tun haben. Letztere wäre Gegenstand der Psychologie und würde dort vermutlich auch nicht (außer in dem von Kant eingeführten technischen Sinne) als Materie bezeichnet werden.¹³ Der Vorbehalt besteht darin, dass die Materie der Erscheinung allein noch keinen Gegenstand ausmacht, da außerdem noch die Anschauungsformen und die Begriffe des Verstandes hinzugefügt werden müssen, um tatsächlich von einem Gegenstand der äußeren Sinne in voller Bedeutung sprechen zu können. Wenn wir von diesem Punkt absehen und die angesprochene Einschränkung auf die äußeren Sinne vornehmen, können wir aber tatsächlich auf eine Weise, die im Rahmen von Kants allgemeiner Erkenntniskonzeption als wohlmotiviert zu bezeichnen ist, sagen, dass „Materie ein jeder Gegenstand äußerer Sinne“ (MAN, AA
werden kann“ (KrV, B 34; meine Hervorhebung). Siehe zu diesem Punkt die überaus hilfreiche Diskussion von Melnick (1973, 22 ff.). In der A-Auflage heißt es an dieser Stelle noch, dass die Form dasjenige ist, „welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet, angeschauet wird“ (KrV, A 20, meine Hervorhebung). Die Änderung dürfte Kant zur Klärung des gerade erläuterten Punktes vorgenommen haben. Siehe hierzu auch Vaihinger (1892, 60 f.). Auch hier muss die Darstellung wieder unter einem Vorbehalt verstanden werden: Tatsächlich ist es Kants Konzeption zufolge so, dass erst durch eine Anwendung der Begriffe des Verstandes die gegebene Anschauung auf ein Objekt bezogen wird. Dies ist vermutlich der Grund, warum Kant an der hier betrachteten Stelle (KrV, A 20 / B 34) von der Erscheinung als einem unbestimmten Gegenstand der Anschauung spricht: Die Textstelle entstammt dem Kapitel über die Transzendentale Ästhetik, in dem es zunächst ausschließlich um die Sinnlichkeit geht, so dass streng genommen noch nicht von einem Bezug auf den Gegenstand gesprochen werden kann. Auf beide Punkte weist Cramer (1985, 137) hin. Kant selbst benennt den Grundbegriff der Psychologie an einer oben bereits zitierten Stelle (MAN, AA 4: 470) als den Begriff eines denkenden Wesens.
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4: 481) ist: Alle Gegenstände der äußeren Sinne haben einen materiellen Anteil und sind insofern materielle Gegenstände. Hierdurch wird deutlich, dass Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen zunächst einen Materie-Begriff in einem ganz allgemeinen Sinne voraussetzt. Wenn ein jeder Gegenstand äußerer Sinne als Materie zu bezeichnen ist, verstehen wir unmittelbar, warum es sich bei diesem Begriff um den grundlegendsten Begriff der Physik handeln muss: Es handelt sich um den allgemeinsten empirischen Begriff in Bezug auf die Gegenstände der äußeren Sinne.
4.2.2 Materie als das Bewegliche im Raum In dem oben angeführten Zitat aus dem Phoronomie-Kapitel, in dem Kant die Verbindung zwischen dem Materie-Begriff der Physik und dem Begriff der Materie einer Anschauung herstellt, weist er darauf hin, dass es sich bei der hieraus resultierenden Bestimmung des Materie-Begriffes als allgemeinsten Begriff in Bezug auf die Gegenstände der äußeren Sinne um „die bloß metaphysische Erklärung“ (MAN, AA 4: 481) des Begriffes handelt. Dies ist vermutlich so zu verstehen, dass durch diese Erklärung in inhaltlicher Hinsicht noch nicht viel über den Begriff ausgesagt ist.¹⁴ Wie wir gleich noch genauer sehen werden, ist die Kapitelstruktur der Metaphysischen Anfangsgründe so angelegt, dass in jedem Kapitel ein bestimmter Aspekt des Materie-Begriffes in Hinsicht darauf untersucht wird, welchen Beitrag dieser Aspekt zu einer Erkenntnis a priori über den Grundgegenstand der Physik beitragen kann. Um so vorgehen zu können, muss Kant jedoch eine genauere inhaltliche Bestimmung des Materie-Begriffes zur Verfügung haben, die über die sehr allgemeine Information hinausgeht, dass es sich um den allgemeinsten Begriff in Bezug auf die Gegenstände der äußeren Sinne handelt. Und tatsächlich nimmt Kant eine solche inhaltliche Bestimmung vor und setzt sie der Untersuchung der Teilaspekte des Materie-Begriffes in den Hauptkapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe voran. Die Grundbestimmung, von der dann eine weitere Analyse in Teilaspekte ausgeht, besteht darin, dass Materie „das Bewegliche im Raume“ (MAN, AA 4: 480) ist.¹⁵ Kant deutet folgendes Argument für diese Grundbestimmung an:
Vgl. Cramer (1985, 139 f.). Dies ist die Bestimmung, die Kant im ersten Kapitel, dem Phoronomie-Kapitel, zum Ausgangspunkt nimmt. In den weiteren Kapiteln wird diese Ausgangsbestimmung immer wieder aufgegriffen und die in diesen Kapiteln hinzutretenden Bestimmungen werden immer als Ergänzung zu dieser Ausgangsbestimmung formuliert: Den Ausgangssätzen des zweiten, dritten
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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Die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll, mußte Bewegung sein; denn dadurch allein können diese Sinne affiziert werden. Auf diese führt auch der Verstand alle übrige Prädikate der Materie, die zu ihrer Natur gehören, zurück, und so ist die Naturwissenschaft durchgängig eine entweder reine oder angewandte Bewegungslehre. (MAN, AA 4: 476 f.)
Zunächst einmal wird hier besonders deutlich, welch eine zentrale Rolle diese Grundbestimmung einnimmt: Bisher haben wir nur den relativ unbestimmten Begriff der Materie als Objekt der äußeren Sinne zur Verfügung, der nun anhand der Grundbestimmung mit Inhalt gefüllt werden soll. Und wie Kant ankündigt, sollen alle weiteren Eigenschaften, die die Natur der Materie ausmachen, auf diese Grundbestimmung zurückgeführt werden.¹⁶ Die Grundbestimmung ist also die entscheidende Verbindungsstelle zwischen der „bloß metaphysische[n] Er-
und vierten Kapitels zufolge ist Materie immer „das Bewegliche, so fern“ (MAN, AA 4: 496, 536 und 554), woraufhin die jeweilige zusätzliche Bestimmung folgt. Neben dem im Folgenden diskutierten Argument, dem zufolge Bewegung die Grundbestimmung von Materie ist, weil nur durch Bewegung die Sinne affiziert werden können, besteht die Möglichkeit, aus dem zweiten Satz der zitierten Passage eine Art transzendentales Argument herauszulesen: Bewegung ist die Grundbestimmung von Materie, weil Bewegung eine notwendige Grundbedingung für alle anderen Eigenschaften der Materie darstellt. (Ich danke Ulrich Krohs, der mich auf diesen Punkt hingewiesen hat.) Ein solches Argument würde jedoch, wie sich im Folgenden zeigen wird, nicht die Probleme beheben, die Interpreten wie Plaass und Cramer mit dem ersten Argument haben. Dieses Problem besteht – wie gleich im Haupttext genauer dargelegt – darin, dass das von Kant vorgetragene Argument empirische Prämissen über unseren Sinnesapparat beinhaltet. Plaass und Cramer suchen nach einem Weg, den Begriff der Materie vollständig apriori herzuleiten. Die Idee von Plaass besteht darin, dass hierfür zunächst durch ein Apriori-Argument gezeigt werden muss, dass Bewegung die Grundbestimmung der Materie ist, um dann in einem weiteren Schritt in den einzelnen Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe durch Anwendung der Kategorien aus dieser Grundbestimmung die weiteren Eigenschaften der Materie abzuleiten (Plaass 1965, 91 f.). Nach dieser Konzeption müsste sich Bewegung zunächst unabhängig von den anderen Materie-Eigenschaften als Grundeigenschaft der Materie erweisen lassen, damit danach die weniger basalen Bestimmungen daraus abgeleitet werden können. In den folgenden Abschnitten werde ich dafür argumentieren, dass es sich bei den weiteren Bestimmungen der Materie um empirisch ermittelte Eigenschaften handelt, die Kant im Rahmen der Metaphysischen Anfangsgründe ohne weitere Begründung als gesetzt betrachtet. Die Überlegung, dass Bewegung eine Eigenschaft ist, die allen diesen empirisch ermittelten Eigenschaften zugrunde liegt, trägt meines Erachtens entsprechend nichts zu einer apriorischen Ableitung dieser Grundbestimmung bei, da eine entsprechende Ableitung eben von empirisch ermittelten Eigenschaften von Materie ausgehen würde. Wie wir im Folgenden noch genauer sehen werden, ist der Gehalt des Begriffes der Materie – einschließlich der Grundbestimmung der Bewegung – Kant zufolge im Wesentlichen empirischer Herkunft. Die Lehrsätze der Metaphysischen Anfangsgründe fügen dem empirischen Grundgehalt des Begriffes der Materie allerdings noch einen transzendentalen Gehalt hinzu.
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klärung“ der Materie (MAN, AA 4: 481) und dem gehaltvolleren Begriff der Materie, wie er in der Physik gebraucht wird. Anders ausgedrückt: Es handelt sich um die für das Projekt der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft entscheidende Schnittstelle zwischen Metaphysik und empirischer Physik. Vor diesem Hintergrund ist es als unglücklich zu bezeichnen, dass das von Kant wahrlich nur sehr knapp angedeutete Argument dafür, dass Bewegung die Grundbestimmung der Materie ist, einige Probleme aufwirft. Eine wichtige voranzustellende Frage besteht darin, ob die angedeutete Begründung der Bestimmung der Materie als das Bewegliche im Raum eine empirische oder eine apriorische Begründung sein soll. Bei der Feststellung, dass unsere Sinne nur durch Bewegung affiziert werden können, scheint es sich um eine empirische These zu handeln, denn es scheint prinzipiell möglich zu sein, dass es Sinnesorgane gibt, die auf eine andere Art affiziert werden können.¹⁷ Eine empirische These, so argumentiert etwa Konrad Cramer, könne jedoch nicht als Grundlage für die metaphysischen Anfangsgründe der Physik dienen. Denn die metaphysischen Anfangsgründe als Teil der Metaphysik der Natur sollen einen apriorischen Charakter haben.¹⁸ So betrachtet scheint die von Kant eingeschlagene Argumentationsrichtung also eher in eine Sackgasse zu führen.¹⁹
Walker (1974, 152 f.) referiert eine Lesart, nach der sich im Anschuss an die Widerlegung des Idealismus in der Kritik der reinen Vernunft ergebe, dass wir nur dann eine Vorstellung einer objektiven Zeitfolge haben können, wenn es Objekte gibt, die sich verändern. In diesem Zusammenhang weist Walker jedoch darauf hin, dass hieraus nur folgen würde, dass Objekte Veränderungen unterliegen müssen, wobei es auch andere Formen der Veränderung als räumliche Veränderung (Bewegung) gebe. Walker entwirft ein Szenario, in dem es unbewegliche Objekte gibt, die ihre Farben wechseln und deren Farbwechsel ohne physischen Kontakt kausal korreliert ist mit Modifikationen unserer Sinne. Die Frage ist, ob Kant die Möglichkeit eines solchen Szenarios a priori ausschließen kann, was Walker verneint. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Kant zu meinen scheint, ein solches Szenario a priori auszuschließen zu können, wenn er festhält, dass „im Raume keine Tätigkeit, keine Veränderung, als bloß Bewegung gedacht werden kann“ (MAN, AA 4: 524)! Aber Kants Gründe dafür, dass keine andere Veränderung im Raum als Bewegung denkbar (und damit etwa das von Walker vorgebrachte Szenario a priori ausschließbar) ist, bleiben unklar. Vgl. Cramer (1985, 148 f.). Cramer verweist in diesem Zusammenhang auf Walker (1974, 152 f.), der jedoch – anders als Cramer – die Feststellung, dass Kants Argument an dieser Stelle auf empirische Prämissen aufbaut, gar nicht als Kritik an Kant formuliert. Walker versteht diesen Umstand vielmehr als Beleg dafür, dass unter anderem die Interpretation von Plaass (1965), der zufolge der Begriff der Materie nach Kant nicht empirischen Ursprungs ist, falsch sein muss. Zu demselben Ergebnis komme ich in den nächsten Abschnitten – Friedman folgend – auf einem anderen Weg, nämlich durch eine Betrachtung der Teilbegriffe der Materie, die Kant in den einzelnen Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe auf der Grundlage der Grundbestimmung formuliert und dem Begriff der Materie hinzufügt.
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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Friedman verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Kant durchaus andere Ressourcen dafür zur Verfügung hat, Materie als das Bewegliche im Raum zu bestimmen.²⁰ Insbesondere hebt er hervor, dass für Kant der Begriff der Bewegung ein relativer Begriff ist. So hält Kant im Phoronomie-Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe fest: Da es nun schlechterdings unmöglich ist, von einem empirisch gegebenen Raume, wie erweitert er auch sei, auszumachen, ob er nicht in Ansehung eines in einem noch größeren Umfange ihn einschließenden Raumes selbst wiederum bewegt sei, oder nicht, so muß es aller Erfahrung und jeder Folge aus der Erfahrung völlig einerlei sein, ob ich einen Körper als bewegt, oder ihn als ruhig, den Raum aber in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit bewegt ansehen will. Noch mehr; da der absolute Raum für alle mögliche Erfahrung nichts ist, so sind auch die Begriffe einerlei, ob ich sage: ein Körper bewegt sich in Ansehung dieses gegebenen Raumes in dieser Richtung mit dieser Geschwindigkeit, oder ob ich ihn mir als ruhig denken, und dem Raum alles dieses, aber in entgegengesetzter Richtung, beilegen will. (MAN, AA 4: 488)
Kant hält hier fest, dass ein absoluter Raum, wie er etwa von Newton angenommen wurde, kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Eine für uns erfahrbare Bewegung ist immer eine Bewegung relativ zu einem empirischen Raum, der als Bezugssystem gewählt wird.²¹ Als ein Gegenstand möglicher Erfahrung muss dieser empirische Raum selbst ein Gegenstand äußerer Sinne, also materiell sein.²² Zu jedem empirischen Raum lässt sich prinzipiell ein weiterer empirischer Raum finden, der den ersten umfasst und relativ zu dem der erste Raum sich bewegt.
Wie wir jedoch unten, insbesondere in Abschnitt 4.2.7, sehen werden, ist zumindest die Voraussetzung eines empirischen Gehaltes des Begriffes der Materie im Rahmen der metaphysischen Anfangsgründe vor dem Hintergrund von Kants Konzeption von Apriori-Erkenntnis als unproblematisch zu beurteilen. Vgl. Friedman (2013, 42 ff.). Es sei allerdings angemerkt, dass Kant die hier präsentierten Überlegungen explizit auf geradlinige Bewegungen einschränkt: „Ich nehme hier alle Bewegung als geradlinig an. Denn, was die krummlinige betrifft, […] davon wird in der Folge besonders gehandelt werden.“ (MAN, AA 4: 488) Wie wir unten in Abschnitt 4.6.1 im Zusammenhang mit dem Phänomenologie-Kapitel sehen werden, sieht Kant in Bezug auf Kreisbewegungen durchaus die Möglichkeit, dass die Bewegung „ohne alle durch Erfahrung mögliche Vergleichung mit dem äußeren Raume“ (MAN, AA 4: 558) erkannt werden kann. „In aller Erfahrung muß etwas empfunden werden, […] folglich muß auch der Raum, in welchem wir über die Bewegungen Erfahrungen anstellen sollen, empfindbar […] sein, und dieser, als der Inbegriff der Gegenstände der Erfahrung und selbst ein Objekt derselben, heißt der empirische Raum. Dieser aber, als materiell, ist selbst beweglich.“ (MAN, AA 4: 481)
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Hieraus kann man insgesamt schließen, dass Materie als etwas, das durch die äußeren Sinne gegeben ist, beweglich sein muss: Es ist für jeden Gegenstand der äußeren Sinne möglich, einen empirischen Raum als materielles Bezugssystem derart zu wählen, dass der Gegenstand sich relativ zu diesem Raum bewegt. Da sich in der Erfahrung kein empirischer Raum als der absolute Raum auszeichnen lässt, der in Hinsicht auf die Frage nach der Bewegung eines Gegenstandes als privilegiertes Bezugssystem betrachtet werden kann, relativ zu dem es sich zeigt, ob ein Gegenstand sich „wirklich“ in Bewegung oder in Ruhe befindet²³, ist es stets legitim, einen Gegenstand als sich bewegend aufzufassen. Insofern ist also jeder Gegenstand der äußeren Sinne beweglich. Der Vorteil von dieser Begründung besteht darin, dass es sich offenbar nicht um ein empirisches Argument, sondern um ein Argument handelt, das sich transzendentaler Überlegungen bezüglich der Möglichkeit von Erfahrung bedient.²⁴ Das Problem mit diesem Argument besteht jedoch darin, dass es zwar auf Prämissen beruht, die Kant im Rahmen seines Ansatzes entwickelt, dass es aber nicht das Argument ist, das Kant explizit zur Etablierung der Grundbestimmung des Begriffes der Materie heranzieht. Während das oben betrachtete und problematisierte explizite Argument bereits in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe zu finden ist, wird das von Friedman rekonstruierte apriorische Argument erst im Rahmen des ersten Kapitels, der Phoronomie, durch die dort entwickelte Konzeption des relativen Raums möglich. Auch wenn es so scheint, als könnte die vorliegende Situation nicht zur vollständigen Befriedigung aufgelöst werden, entsteht meines Erachtens an dieser Stelle kein grundlegender Schaden für Kants Konzeption. Zum einen genügt es für Kant aus systematischer Perspektive, dass er ein Argument zur Etablierung der Beweglichkeit der Materie zur Verfügung hat, selbst wenn er es nicht explizit ausführt. Zum anderen werden die folgenden Abschnitte zeigen, dass die Befürchtung, das von Kant in der Vorrede tatsächlich vorgetragene Argument würde durch eine Beimischung von empirischen Überlegungen den Reinheitscharakter der metaphysischen Anfangsgründe der Physik kompromittieren, unbegründet ist: Es wird sich zeigen, dass der Begriff der Materie für Kant ohnehin zu grund-
Die Betonung muss hier auf „in der Erfahrung“ liegen. Einer der Hauptpunkte von Friedmans Interpretation der Metaphysischen Anfangsgründe besteht darin, dass es sich beim absoluten Raum um eine Vernunftidee handelt. Nach dieser Interpretation verfolgt Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen letztlich das Ziel, ein Verfahren zu erarbeiten, nach dem wir uns im Rahmen einer Konstruktion, die prinzipiell unendlich fortgeführt werden kann, dem absoluten Raum annähern. Wir werden hierauf unten in Abschnitt 4.6.3 im Zusammenhang mit Friedmans Auslegung des Phänomenologie-Kapitels zurückkommen. Vgl. Friedman (2013, 44).
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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legenden Teilen empirischen Ursprungs ist und dass die Voraussetzung eines empirisch entstandenen Begriffes nicht nur, wie einige Interpreten fürchten, keine negativen Auswirkungen auf die Reinheit des Projektes in Kants Sinne hat, sondern dass eine Beimischung empirischer Informationen geradezu unerlässlich ist für die Durchführung einer Grundlegung einer empirischen Naturwissenschaft.
4.2.3 Die Bestimmung der weiteren Merkmale des Begriffes der Materie: Plaass’ Auslegung Bis hierher haben wir gesehen, inwiefern sich der Begriff der Materie als allgemeinster Begriff der Gegenstände der äußeren Sinne verstehen lässt und inwiefern es sich bei der Eigenschaft der Beweglichkeit um das grundlegendste Merkmal von Materie handelt. Kants Analyse des Materie-Begriffes bleibt jedoch keineswegs bei dieser Grundbestimmung stehen. Kant geht, wie viele Stellen erkennen lassen, von einem noch reichhaltigeren Begriff der Materie aus. So heißt es etwa in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe, dass es sich bei dem Begriff der Materie um den Begriff „der Bewegung, der Erfüllung des Raums, der Trägheit, u. s. w.“ (MAN, AA 4: 472) handelt. In der Kritik der reinen Vernunft charakterisiert er den „bloßen Begriff der Materie“ durch die Merkmale „undurchdringliche leblose Ausdehnung“ (KrV, A 848 / B 876). Diese Charakterisierungen stimmen in etwa miteinander überein.²⁵ Eine wichtige Frage ist nun, welchen Status diese Listen haben: Was entscheidet darüber, welchen Gehalt der Begriff der Materie aufweist? An dieser Stelle liegt es nahe, auf Kants Feststellung zurückzukommen, dass eine besondere Metaphysik der Natur, die es nur mit einem eingegrenzten Bereich von Gegenständen zu tun hat, einen empirischen Begriff voraussetzt. Der in den metaphysischen Anfangsgründen der Physik vorausgesetzte Begriff ist der empirische Begriff der Materie.²⁶ Insofern liegt die Annahme nahe, dass die Merkmale, die Kant als Analyse des Materie-Begriffes angibt, auf empirisch ermittelte Eigenschaften von Materie zurückgehen. Dieser Auslegung, die ich gleich verteidigen werde, ist von einigen Interpreten stark widersprochen worden. So hebt etwa Peter Plaass die Tatsache hervor, dass
Kant weist an anderen Stellen darauf hin, dass Erfüllung des Raums dasselbe ist wie undurchdringliche Ausdehnung (MAN, AA 4: 496) und Trägheit dasselbe wie Leblosigkeit (MAN, AA 4: 544). In der (vermutlich nicht als vollständig intendierten) Liste aus der Kritik der reinen Vernunft fehlt dann lediglich das Merkmal der Bewegung, das, wie wir gerade gesehen haben, nach den Metaphysischen Anfangsgründen sogar die Grundbestimmung der Materie ausmacht. Siehe MAN, AA 4: 470.
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Kant die metaphysischen Anfangsgründe als den reinen Teil der Physik aufstellen möchte. Die Voraussetzung eines empirisch gewonnenen Gehaltes, so Plaass’ Überlegung, sei jedoch nicht mit der Reinheit dieser Wissenschaft in Einklang zu bringen.²⁷ Plaass sieht sich dabei zunächst der Schwierigkeit ausgesetzt, dass Kant den in den metaphysischen Anfangsgründen zentralen Begriff der Materie explizit als einen empirischen Begriff auszeichnet. Um dies mit der Reinheit der metaphysischen Anfangsgründe in Einklang bringen zu können, unterscheidet Plaass zwei verschiedene Hinsichten, in denen ein Begriff empirisch sein kann und behauptet, dass der Begriff der Materie nur in einer dieser Hinsichten, die (im Gegensatz zu der anderen Hinsicht) mit der Reinheit der auf seiner Grundlage entwickelten Wissenschaft vereinbar sein soll, empirisch ist. Die hier zentrale Unterscheidung ist die zwischen dem Gehalt beziehungsweise dem Ursprung des Begriffes einerseits und der realen Möglichkeit beziehungsweise der objektiven Realität andererseits. Plaass hebt zunächst hervor, dass der Gehalt des Begriffes der Materie Kant zufolge nicht empirisch entstanden sei. Dass der Begriff von Kant dennoch als empirisch ausgezeichnet wird, liegt Plaass zufolge lediglich daran, dass die objektive Realität des Begriffes nur empirisch ausgewiesen werden kann.²⁸ Plaass geht in seinem Versuch, Kants Ausfaltung des Begriffes der Materie als einen apriorischen Vorgang zu entwickeln, von der oben herausgearbeiteten Grundbestimmung der Materie, nämlich dem Begriff der Beweglichkeit aus und beansprucht zunächst zu zeigen, dass dieser Begriff dem Gehalte nach a priori ist. Die Grundüberlegung hierfür besteht darin, dass unter den Materie-Begriff alles das fällt, was uns durch die äußeren Sinne gegeben werden kann. Die Gegenstände der äußeren Sinne unterliegen aber nicht nur dem Raum als Anschauungsform der äußeren Sinne, sondern auch – wie alle Erscheinungen – der An-
Vgl. Plaass (1965), 88 f. Plaass entwickelt Kants Konzeption von objektiver Realität (1965, Kap. 3.1.1) und realer Möglichkeit (1965, Kap. 3.1.2) in einiger Ausführlichkeit. Der zentrale Punkt ist, dass die objektive Realität eines Begriffes nach Kant darin besteht, dass das Objekt dieses Begriffes real möglich ist, wobei reale Möglichkeit enger gefasst ist als logische Möglichkeit (KrV, B XXVI, Fn.). Plaass zufolge muss die reale Möglichkeit von Materie durch eine empirische Anschauung, also durch Verweis auf eine empirisch gegebene Instanz des Begriffes nachgewiesen werden, obwohl sich der Gehalt des Begriffes der Materie a priori entwickeln lasse. Ich werde hier nicht weiter auf diesen Aspekt von Plaass’ Auslegung eingehen, da ich ohnehin die Auffassung verteidigen werde, dass der Begriff der Materie auch seinem Gehalt nach empirisch ist, woraus dann nach Kant folgt, dass seine objektive Realität empirisch nachgewiesen werden muss. Eine etwas ausführlichere Behandlung von Kants Konzeption von objektiver Realität beziehungsweise realer Möglichkeit werde ich unten in Kap. 5, Abschnitt 5.2.7, in einem anderen Zusammenhang vornehmen.
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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schauungsform der Zeit.²⁹ Nun weist Plaass darauf hin, dass für Kant der Begriff der Bewegung gerade derjenige Begriff ist, „welcher beide Stücke [Raum und Zeit] vereinigt“ (KrV, A 41 / B 58).³⁰ Der Begriff der Bewegung, der dem Begriff der Materie zugrunde liegt, ergibt sich nach Plaass’ Auffassung also aus der ganz allgemeinen Bestimmung „ein jedes Objekt der äußeren Sinne“ zusammen mit den beiden apriorischen Vorstellungen von Raum und Zeit und ist ihm zufolge insofern dem Gehalte nach a priori.³¹ An dieser Stelle setzt Plaass zufolge dann eine weitere, ebenfalls apriorische Entfaltung der weiteren Merkmale des Begriffes der Materie an. Plaass interpretiert die Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe als eine solche an der Kategorien-Tafel orientierte Entfaltung der Merkmale des Materie-Begriffes.³² Insbesondere ist er der Meinung, dass die den Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe vorangestellten Erklärungen, die weitere Bestimmungen des Materie-Begriffes enthalten, durch die Anwendung der Kategorien auf die Grundbestimmung der Materie – Beweglichkeit – a priori gewonnen werden. Er geht weiterhin davon aus, dass es genau dies ist, was im Wesentlichen in den Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe passiert: Ihm zufolge bestehen die Metaphysischen Anfangsgründe im Wesentlichen in einer apriorischen Entfaltung der Merkmale des Materie-Begriffes, deren Resultat synthetische Urteile a priori sind, zu denen unter anderem die den einzelnen Kapiteln vorangestellten Erklärungen gehören.³³
Siehe KrV, A 34 / B 50. Vgl. Plaass (1965, 98). Ein noch radikalerer Weg wird von Karen Gloy eingeschlagen, die den Begriff der Bewegung „nicht nur dem Inhalte, sondern auch der realen Möglichkeit nach a priori zu deduzieren“ (Gloy 1976, 14) beansprucht. Ihrer Konzeption nach, die sie aus der Grundidee von Plaass entwickelt, handelt es sich bei Bewegung buchstäblich um eine reine Anschauungsform, die sich aus den beiden ursprünglichen Anschauungsformen Raum und Zeit zusammensetzen lässt. Es dürfte deutlich werden, dass die im Folgenden gegen Plaass’ Konzeption vorgetragenen Argumente auch Gloys Ansatz betreffen. Insbesondere dürfte der von Friedman (2001, 62 ff.) hervorgehobene Punkt, dass Kant einen mathematischen von einem empirischen Begriff der Bewegung unterscheidet, wobei letzterer ein wichtiger Bestandteil des Begriffes der Materie ist, gegen Gloys Konzeption schlagend sein, da sich der empirische Begriff der Bewegung sicherlich nicht als reine Anschauungsform konzipieren lässt. Siehe auch Friedman (2001, 68, Fn. 10). Auf die Unterscheidung der beiden Begriffe der Bewegung komme ich in Abschnitt 4.2.5 genauer zu sprechen. Eine ähnliche Position vertritt auch Watkins (1998b, 577). Die Methode, die Kant Plaass zufolge zur Entfaltung der Merkmale des Materie-Begriffes in den einzelnen Kapiteln anwendet, bezeichnet Plaass als die Methode der metaphysischen Konstruktion (Plaass 1965, 74). Diese sei angelehnt an die Methode der mathematischen Konstruktion, jedoch nicht mit ihr identisch.
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In den drei folgenden Abschnitten werden wir jedoch sehen, dass es gute Gründe gibt, an Plaass’ Rekonstruktion zu zweifeln und stattdessen anzunehmen, dass Kant den Begriff der Materie tatsächlich auch als empirisch im Sinne der Entstehung des Gehaltes betrachtet hat.
4.2.4 Ein Hinweis auf den empirischen Ursprung des Begriffes der Materie In der bereits oben in Abschnitt 4.1.2 ausführlicher zitierten Passage aus der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe, in der Kant den Unterschied zwischen der allgemeinen, transzendentalen Metaphysik einerseits und dem besonderen Teil der Metaphysik andererseits einführt, führt er als grundlegendes Merkmal für die besondere Metaphysik an, dass sie sich „mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist“ (MAN, AA 4: 469 f.), beschäftigt. Die hier getroffene Wortwahl lässt die von Plaass wahrgenommene Möglichkeit offen, zwischen zwei verschiedenen Hinsichten, in denen ein Begriff als empirisch bezeichnet werden kann, zu unterscheiden: Einerseits kann es bedeuten, dass der Begriff empirisch entstanden ist, andererseits kann es heißen, dass die objektive Realität des Begriffes empirisch ausgewiesen werden muss. Und wie wir gesehen haben, votiert Plaass für die Auslegung, der zufolge Kant an dieser Stelle lediglich meint, dass der zugrunde gelegte Begriff im zweiten, nicht aber im ersten Sinne empirisch ist. Es ist jedoch interessant, dass Kant die Unterscheidung zwischen der allgemeinen und der besonderen Metaphysik an anderen Stellen in Formulierungen wiedergibt, die gerade nicht die Möglichkeit offen lässt, den Begriff der Materie
Es ist bereits verdächtig, dass diese Methode, wie Plaass selbst anmerkt, in Kants Text nur an einer einzigen Stelle überhaupt Erwähnung findet und nirgends explizit erläutert wird. Kant spricht an besagter Textstelle (vermeintlich) von „metaphysische[n] und mathematische[n] Konstruktionen“ (MAN, AA 4: 473), was eine Unterscheidung von zwei Arten von Konstruktionen auszudrücken scheint. Allerdings weist Gloy, mit Verweis auf Hoppe (siehe Hoppe 1969, 57; Gloy verweist auf eine unveröffentlichte Version dieses Textes), darauf hin, dass die grammatische Struktur und der Kontext des Satzes, in dem diese Unterscheidung auftritt, stark darauf hindeutet, dass von Kant „im Text hinter ,metaphysische‘ wahrscheinlich versehentlich ein Ausdruck wie ,Begriffe‘ oder ,Prinzipien‘ ausgelassen wurde.“ (Gloy 1976, 8) Entsprechend liegt es nahe anzunehmen, dass im Rahmen von Kants Theorie so etwas wie die von Plaass aufgenommene metaphysische Konstruktion gar nicht angelegt ist. (Gloy bezieht diese Kritik zunächst auf Lothar Schäfer, der Kant ebenfalls – und aufgrund derselben Textstelle wie Plaass – ein Verfahren der „metaphysischen Konstruktion“ zuschreibt. An einer späteren Stelle (1976, 12 f.) kritisiert sie dann entsprechend auch Plaass’ Konzeption der metaphysischen Konstruktion.) Neben den gleich im Haupttext präsentierten Argumenten spricht meines Erachtens auch dies gegen Plaass’ Lesart.
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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als empirisch in Plaass’ Sinne zu verstehen. Eine dieser Stellen befindet sich in den Metaphysischen Anfangsgründen selbst, zwei weitere Stellen finden sich in anderen Werken. Die Textstelle aus den Metaphysischen Anfangsgründen werde ich im nächsten Abschnitt analysieren. Kommen wir zunächst zu den anderen beiden Textstellen. Die erste Stelle findet sich in § 15 der Prolegomena, wo Kant festhält, dass wir gleichwohl wirklich im Besitze einer reinen Naturwissenschaft [sind], die a priori und mit aller derjenigen Notwendigkeit, welche zu apodiktischen Sätzen erforderlich ist, Gesetze vorträgt, unter denen die Natur steht. Ich darf hier nur diejenige Propädeutik der Naturlehre, die unter dem Titel der allgemeinen Naturlehre vor aller Physik (die auf empirischen Prinzipien gegründet ist) vorhergeht, zum Zeugen rufen. Darin findet man Mathematik angewandt auf Erscheinungen, auch bloß diskursive Grundsätze (aus Begriffen), welche den philosophischen Teil der reinen Naturerkenntnis ausmachen. Allein es ist doch auch manches in ihr, was nicht ganz rein und von Erfahrungsquellen unabhängig ist: als der Begriff der B e w e g u n g , der U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t (worauf der empirische Begriff der Materie beruht), der T r ä g h e i t u . a. m., welche es verhindern, daß sie nicht ganz reine Naturwissenschaft heißen kann […]. (Prol, AA 4: 295)
Kant unterscheidet hier innerhalb der reinen Naturwissenschaft, wobei es sich um das handelt, was er in den Metaphysischen Anfangsgründen als Metaphysik der Natur bezeichnet, einen reinen, philosophischen Teil von einem Teil, der nicht ganz von Erfahrung unabhängig ist. Dies entspricht der Unterscheidung zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Teil der Metaphysik der Natur. Interessant ist nun die Wortwahl, mit der Kant beschreibt, in welcher Hinsicht der besondere Teil von Erfahrung abhängt: Er hängt, zumindest zum Teil, von Erfahrungsquellen ab. Kant spezifiziert dies dadurch, dass der Begriff der Materie auf weiteren Begriffen beruht, nämlich den Begriffen der Bewegung, der Undurchdringlichkeit und der Trägheit, die von Erfahrungsquellen abhängen. Dies lässt sich meines Erachtens nur so lesen, dass diese drei Begriffe, die Teilbegriffe des Begriffes der Materie sind, aus Erfahrungsquellen stammen, das heißt also einen empirischen Ursprung haben. Dies spricht direkt gegen die Lesart von Plaass, der zufolge der Begriff der Materie einen vollständig apriorischen Ursprung hat und lediglich der Nachweis seiner objektiven Realität empirisch zu erfolgen hat.³⁴ Eine weitere Formulierung, die die Vermutung des empirischen Ursprungs des Begriffes der Materie stützt, findet sich an einer etwas unvermuteten Stelle in der Kritik der Urteilskraft, an der Kant diese Thematik nur im Vorbeigehen berührt, Der empirische Ursprung der Begriffe der Beweglichkeit und der Undurchdringlichkeit wird in den nächsten beiden Abschnitten noch ausführlicher thematisiert. Auf den Teilbegriff der Trägheit kommen wir in Abschnitt 4.5.3 im Zusammenhang mit dem zweiten Gesetz der Mechanik zurück.
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um an einem Beispiel zu erläutern, was er unter einem transzendentalen Prinzip versteht:³⁵ Ein transzendentales Prinzip ist dasjenige, durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können. Dagegen heißt ein Prinzip metaphysisch, wenn es die Bedingungen a priori vorstellt, unter denen allein Objekte, deren Begriff empirisch gegeben sein muß, a priori weiter bestimmt werden können. (KU, AA 5: 181; meine Hervorhebung)
In dem Satz, der dieser zitieren Stelle folgt, führt Kant die zweite Analogie der Erfahrung als Beispiel für ein transzendentales Prinzip und das zweite Gesetz der Mechanik, bei dem es sich um den Lehrsatz 3 des Mechanik-Kapitels der Metaphysischen Anfangsgründe handelt (MAN, AA 4: 543), als Beispiel für ein metaphysisches Prinzip an. Der Bezug dieser Stelle auf die Metaphysischen Anfangsgründe dürfte also als gesichert angenommen werden. Die entsprechende terminologische Zuordnung sieht offenbar so aus, dass die transzendentalen Prinzipien dasjenige sind, was nach der Terminologie der Metaphysischen Anfangsgründe die allgemeine Metaphysik ausmacht und die metaphysischen Prinzipien dasjenige, was den besonderen Teil der Metaphysik ausmacht. Für den gegenwärtigen Punkt besonders interessant ist nun die genaue Formulierung dessen, was ein metaphysisches Prinzip auszeichnet. Die hier gewählte Formulierung lässt nämlich streng genommen keinen Raum für Plaass’ Interpretationsvorschlag: In einem metaphysischen Prinzip geht es um eine apriorische Bestimmung eines Objektes, dessen Begriff empirisch gegeben ist. Die hier vorliegende Formulierung Kants aus der Kritik der Urteilskraft impliziert, dass der Ausgangsbegriff eines metaphysischen Prinzips auch der Entstehung nach empirisch ist. Denn sonst wäre nicht, wie Kant es hier formuliert, der Begriff empirisch gegeben, sondern – wie es nach Plaass dann heißen müsste – nur ein Objekt, das unter ihn fällt. Wie wir nun sehen werden, lassen sich insbesondere zwei Bestandteile des Materie-Begriffes als solche ausmachen, die Kant zufolge empirisch gegeben werden müssen und die daher den Begriff der Materie zu einem empirischen Begriff im Sinne der Entstehung machen.
Friedman (2014, 548) verweist in einem anderen Zusammenhang auf diese Textstelle, nämlich um zu zeigen, dass die Konzeption der Metaphysischen Anfangsgründe von Kant in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft keineswegs, wie man vielleicht zunächst meinen könnte, als überholt betrachtet wird. Auf diesen Punkt werden wir unten in Kapitel 6, insbesondere in Abschnitt 6.4.4, wenn es um das Verhältnis der Metaphysischen Anfangsgründe zur Kritik der Urteilskraft geht, noch genauer zu sprechen kommen.
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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4.2.5 Beweglichkeit als ein durch Erfahrung gegebener Begriff Es gibt eine weitere Stelle, und in diesem Fall in den Metaphysischen Anfangsgründen selbst, die man als direkte Äußerung Kants dahingehend verstehen kann, dass der Begriff der Materie auch seinem Gehalt nach empirisch ist: Schließlich merke ich noch an: daß, da die Beweglichkeit eines Gegenstandes im Raum a priori und ohne Belehrung durch Erfahrung nicht erkannt werden kann, sie von mir eben darum in der Kritik der r. V. auch nicht unter die reine Verstandesbegriffe gezählt werden konnte, und daß dieser Begriff, als empirisch, nur in einer Naturwissenschaft, als angewandter Metaphysik, welche sich mit einem durch Erfahrung gegebenen Begriffe, obgleich wohl nach Prinzipien a priori, beschäftigt, Platz finden könne. (MAN, AA 4: 482)
Zunächst fällt auch hier auf, dass Kant am Ende der zitierten Passage wiederum explizit macht, dass der in den metaphysischen Anfangsgründen der Physik vorausgesetzte Begriff nicht nur in Hinsicht auf den Nachweis seiner objektiven Realität empirisch ist, sondern dass es sich um einen „durch Erfahrung gegebenen Begriffe“ (meine Hervorhebung) handelt. Es ist anzunehmen, dass Kant hier von dem Begriff der Materie spricht (der ja der zentrale Begriff der metaphysischen Anfangsgründe der Physik ist) und dass der empirische Begriff der Beweglichkeit, von dem zu Beginn der Passage die Rede ist, deshalb in den metaphysischen Anfangsgründen der Physik seinen Platz hat, weil er ein wichtiger Grundbestandteil des Begriffes der Materie ist. Der Umstand, dass der Begriff der Materie mit dem Begriff der Beweglichkeit einen empirischen Begriff enthält, kann leicht übersehen werden, da Kant zwischen zwei verschiedenen Begriffen der Bewegung unterscheidet, von denen nur einer empirisch ist.³⁶ Kant charakterisiert den Unterschied wie folgt: Bewegung eines O b j e k t s im Raume gehört nicht in eine reine Wissenschaft, folglich auch nicht in die Geometrie; weil, daß etwas beweglich sei, nicht a priori, sondern nur durch Erfahrung erkannt werden kann. Aber Bewegung, als B e s c h r e i b u n g eines Raumes, ist ein reiner Aktus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch progressive Einbildungskraft, und gehört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie. (KrV, B 155, Fn.)
Unterschieden wird hier zwischen dem Begriff der Bewegung eines Objektes im Raum und einem rein mathematischen Bewegungsbegriff. Wir wissen bereits, dass es sich bei beweglichen Objekten im Raum, die ja nichts anderes sind als Gegenstände der äußeren Sinne, um materielle Objekte handelt. Insofern steht
Siehe zum Folgenden Friedman (2001, 61 ff.).
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fest, dass es sich bei dem ersten Begriff um den Bewegungsbegriff handelt, der in den Metaphysischen Anfangsgründen als Teilbegriff des Begriffes der Materie eine wichtige Rolle spielt. Da mit der Bewegung eines Objektes im Raum die Bewegung eines empirischen Objektes im empirischen Raum gemeint ist, kann dieser Begriff nicht rein mathematisch behandelt werden.³⁷ Beim mathematischen Bewegungsbegriff handelt es sich hingegen um den Begriff einer Bewegung, die als die Bewegung eines mathematischen Punktes in der reinen Anschauung vorgestellt werden kann, weshalb dieser Begriff zur Geometrie gehört.³⁸ Wie wir unten in Abschnitt 4.4.1 sehen werden, spielt der mathematische Bewegungsbegriff in den Metaphysischen Anfangsgründen durchaus ebenfalls eine zentrale Rolle. Für diesen Begriff der Bewegung gilt, dass er a priori konstruierbar ist (genau dies unternimmt Kant im Phoronomie-Kapitel). Hier ist jedoch zunächst entscheidend, dass der Begriff der Bewegung eines Objektes im Raum ebenfalls ein zentraler Teilbegriff des Begriffes der Materie ist und dass es sich bei diesem Teilbegriff Kant zufolge um einen empirisch entstandenen Begriff handelt. Insbesondere können wir hier also sehen, warum der Begriff der Materie ein empirischer Begriff sein muss: weil er mit dem Begriff der Bewegung eines Objektes im Raum mindestens einen empirischen Bestandteil enthält. Und es lässt sich darüber hinausgehend zeigen, dass Kant davon ausgegangen ist, dass der Begriff der Materie mindestens einen weiteren zentralen empirischen Bestandteil enthält.
4.2.6 Undurchdringlichkeit als ein durch Erfahrung gegebener Begriff Wie wir bereits oben in Abschnitt 4.2.3 gesehen haben, ist auch der Begriff der Undurchdringlichkeit für Kant ein zentraler Bestandteil des Begriffes der Materie. Friedman weist darauf hin, dass es dieser Bestandteil ist, durch den sich der Begriff der Materie von dem apriorischen Begriff des Realen im Raume unterscheidet.³⁹ Der Begriff des Realen im Raume ist tatsächlich ein apriorischer Begriff, denn es handelt sich um eine Zusammensetzung aus der Kategorie der
Dass dieser Begriff der Bewegung nicht Teil einer reinen Wissenschaft sein kann, ist natürlich insofern missverständlich, als Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen diesen Begriff zum Grundbegriff des reinen Anteils der Physik macht. Hier müssen zwei verschieden starke Begriffe der Reinheit einer Erkenntnis unterschieden werden. Siehe hierzu unten, Abschnitt 4.2.7, Fn. 49. Vgl. Friedman (2001, 63). Vgl. Friedman (2001, 56).
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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Realität mit der reinen Anschauung des Raumes.⁴⁰ Kant unterscheidet diesen Begriff aber vom Begriff der Materie: „[I]ch mag es [das Reale im Raume] hier nicht Undurchdringlichkeit oder Gewicht nennen, weil dieses empirische Begriffe sind“ (KrV, A 173 / B 215). Der Begriff der Materie fällt zwar unter den des Realen im Raume, aber um aus letzterem den Begriff der Materie zu erhalten, müssen wir das empirische Merkmal der Undurchdringlichkeit hinzufügen. Der Begriff der Materie weist also mit dem Begriff der Undurchdringlichkeit einen empirischen Bestandteil auf und ist insofern empirisch. Friedman weist weiterhin darauf hin, dass Kant zwei Begriffe der Undurchdringlichkeit voneinander unterscheidet, nämlich erstens den „bloß mathematischen Begriffe der Undurchdringlichkeit (der keine bewegende Kraft als ursprünglich der Materie eigen voraussetzt)“, nach dem Materie „allem Eindringen schlechterdings und mit absoluter Notwendigkeit widersteht“ (MAN, AA 4: 502), und den dynamischen Begriff der Materie, nach dem „Undurchdringlichkeit auf einem physischen Grunde [beruht], denn die ausdehnende Kraft macht sie selbst, als ein Ausgedehntes, das seinen Raum erfüllt, allererst möglich“ (MAN, AA 4: 502).⁴¹ Kant verteidigt in den Metaphysischen Anfangsgründen eine Materie-Konzeption auf der Basis eines Begriffes der Undurchdringlichkeit der zweiten Art. Das, was seinen Materie-Begriff von dem Begriff des Realen im Raum unterscheidet, ist also der im Materie-Begriff enthaltene Begriff einer Ausdehnungskraft, die der Grund für die Undurchdringlichkeit der Materie ist.⁴² Zwar wird der Begriff der Kraft von Kant explizit zu den abgeleiteten Verstandesbegriffen gezählt und ist insofern ein apriorischer Begriff (KrV, B 108), aber der Begriff der Ausdehnungskraft ist nicht der Begriff einer Kraft im Allgemeinen, sondern der einer besonderen Kraft. Und in Bezug auf besondere Kräfte, insbesondere in Bezug auf bewegende Kräfte, zu denen die Ausdehnungskraft gehört, gilt: Wie nun überhaupt etwas verändert werden könne; wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein entgegengesetzter im anderen folgen könne: davon haben wir a priori nicht den mindesten Begriff. Hierzu wird die Kenntnis wirklicher Kräfte erfordert, welche nur empirisch gegeben werden kann, z. B. der bewegenden Kräfte, oder, welches einerlei ist, gewisser sukzessiven Erscheinungen, (als Bewegungen) welche solche Kräfte anzeigen. (KrV, A 206 f. / B 252)
Es handelt sich um eine sogenannte Prädikabilie beziehungsweise einen abgeleiteten Verstandesbegriff. Prädikabilien entstehen dadurch, dass „[d]ie Kategorien mit den modis der reinen Sinnlichkeit oder auch untereinander verbunden“ werden (KrV, B 108). Vgl. Friedman (2001, 57). Wir werden auf Kants dynamische Materie-Konzeption unten in Abschnitt 4.4.2 im Zusammenhang mit dem Dynamik-Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe etwas genauer zurückkommen.
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
Es zeigt sich also, dass der Materie-Begriff mit dem Begriff der Undurchdringlichkeit einen empirischen Begriff enthält, der insbesondere nach der von Kant bevorzugten Konzeption der Materie auf dem empirischen Begriff einer Ausdehnungskraft basiert. Dass dieser Begriff einer Ausdehnungskraft nicht nur in Bezug auf den Nachweis der objektiven Realität als empirisch zu bezeichnen ist, sondern auch (und mit ihm der Begriff der Materie) in bedeutender Weise einen empirischen Ursprung hat, wird an einer weiteren Stelle deutlich. Kant beschreibt die zentrale Rolle der sinnlich wahrnehmbaren Ausdehnungskraft bei der Entstehung des Begriffes der Materie in der Anmerkung zu Lehrsatz 5 der Dynamik:⁴³ Also ist klar: daß die erste Anwendung unserer Begriffe von Größen auf Materie, durch die es uns zuerst möglich wird, unsere äußere Wahrnehmungen in dem Erfahrungsbegriffe einer Materie als Gegenstandes überhaupt zu verwandeln, nur auf ihrer Eigenschaft, dadurch sie einen Raum erfüllt, gegründet sei, welche, vermittelst des Sinnes des Gefühls, uns die Größe und Gestalt eines ausgedehnten, mithin von einem bestimmten Gegenstande im Raume einen Begriff verschafft, der allem übrigen, was man von diesem Dinge sagen kann, zum Grunde gelegt wird. (MAN, AA 4: 510)
Zwei Punkte sind hier hervorzuheben: Erstens betont Kant hier noch einmal, dass es der durch den Sinn des Gefühls vermittelten Erfahrung einer Ausdehnungskraft bedarf, die es uns ermöglicht, die Formen von Objekten wahrzunehmen, um den empirischen Begriff der Materie zu bilden. Hier wird also noch einmal der empirische Ursprung eines grundlegenden Teilgehaltes des Begriffes der Materie hervorgehoben. Kant unterstreicht an dieser Stelle, dass es nur durch die Erfahrung der Undurchdringlichkeit möglich ist, „unsere äußere Wahrnehmungen in dem Erfahrungsbegriffe einer Materie als Gegenstandes überhaupt zu verwandeln“ (MAN, AA 4: 510).⁴⁴ Der Begriff der Materie und „alle[s] übrige[], was man von diesem Dinge sagen kann“ (ebd.), basiert entscheidend auf dieser Erfahrung eines Widerstandes durch eine Ausdehnungskraft.
In dieser Anmerkung zu Lehrsatz 5 der Dynamik geht es Kant darum zu erläutern, warum die Undurchdringlichkeit zu unserem Begriff der Materie gehört, die Anziehungskraft jedoch nicht. Der Hauptpunkt besteht gerade in der in dieser Passage angedeuteten Tatsache, dass die der Undurchdringlichkeit zugrundeliegende Ausdehnungskraft es uns ermöglicht, ein Objekt so zu erfahren, dass es möglich ist, geometrische Begriffe auf es anzuwenden, während die Anziehungskraft den Sinnen keine geometrischen Formen vermitteln kann. Siehe hierzu Friedman (2013, 172 ff.). Ich lese dies so, dass es statt „dem“ eigentlich „den“ heißen muss und Kant damit ausdrücken möchte, dass die Wahrnehmungen entscheidend in die Bildung des Begriffes der Materie eingehen.
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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Der zweite Punkt deutet dann jedoch an, dass der Materie-Begriff nicht ausschließlich empirische Elemente enthält, was für die Untersuchung in den Metaphysischen Anfangsgründen ebenfalls zentral ist: Kant zufolge spielen neben den Wahrnehmungen auch „Begriffe von Größen“, also reine mathematische Begriffe eine Rolle, deren Anwendung auf die Wahrnehmungen durch das Gefühl der Undurchdringlichkeit vermittelt werden und die einen entscheidenden Anteil bei der Umwandlung der Wahrnehmungen in den Begriff einer Materie haben: Die Undurchdringlichkeit ermöglicht es uns, durch den Tastsinn geometrische Formen der Objekte zu erfahren, auf die dann mathematische Begriffe angewandt werden können. Der Begriff der Materie stellt sich also letztlich als eine komplexe Konstruktion⁴⁵ heraus, in die neben entscheidenden empirischen Elementen, die die Ausgangsbedingung für die Bildung des Begriffes bilden, auch mathematische Elemente und, wie an anderen Stellen deutlich wird, auch reine Verstandesbegriffe eingehen.⁴⁶ Während wir uns mit den apriorischen Anteilen weiter unten noch genauer beschäftigen werden⁴⁷, müssen wir uns nun noch mit der Frage auseinander setzen, welche Folgen es für das Projekt der Metaphysischen Anfangsgründe hat, dass ihm ein Begriff zugrunde liegt, der in bedeutenden Teilen empirischen Ursprungs ist. Insbesondere stellt sich die Frage, wie dies mit dem von Kant formulierten Anspruch vereinbar ist, dass es sich bei den metaphysischen Anfangsgründen der Physik um eine apriorische Wissenschaft handelt.
4.2.7 Die Erklärungen der Metaphysischen Anfangsgründe als analytische Urteile a priori Der Hauptgrund für Plaass’ Versuch, den Gehalt des Begriffes der Materie als a priori herleitbar zu betrachten, liegt sicherlich darin, dass er Kants These retten möchte, dass es sich bei den metaphysischen Anfangsgründen um den reinen Teil der Naturwissenschaft handelt, der entsprechend nur aus Urteilen a priori besteht.⁴⁸ Wie, so muss man sich an dieser Stelle fragen, kann eine Wissenschaft wie die metaphysischen Anfangsgründe als rein bezeichnet werden, wenn sie auf
Mit „Konstruktion“ ist hier natürlich keine mathematische Konstruktion in der reinen Anschauung gemeint. Vgl. Friedman (2013, 175). Siehe unten, Abschnitt 4.3. Vgl. Plaass (1965, 88 f.).
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
der – wenn auch apriorischen – Entfaltung eines Gehaltes beruht, der empirischen Ursprunges ist?⁴⁹ Dieser Punkt, der in dieser Form nicht nur von Plaass vorgebracht worden ist⁵⁰, basiert meines Erachtens auf einem Missverständnis bezüglich Kants Auffassung dessen, was eine Erkenntnis a priori ausmacht. Insbesondere bin ich der Überzeugung, dass Interpreten, die den hier betrachteten Einwand gegen den empirischen Ursprung des Begriffes der Materie vorbringen, von einem Begriff der Erkenntnis a priori ausgehen, der viel enger ist als der, den Kant verwendet. Dies möchte ich in diesem Abschnitt herausarbeiten. Wie wir oben gesehen haben, betrachtet Plaass die den Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe vorangestellten Erklärungen, in denen die Bestimmungen des Begriffes der Materie ausgedrückt werden, als synthetische Urteile a priori, die im Rahmen der Kapitel jeweils zu beweisen sind. Die Alternative, die er abwenden möchte, besteht offenbar darin, dass es sich bei den Erklärungen um synthetische Urteile a posteriori handelt, wodurch der apriorische Charakter der Wissenschaft, die auf diesen Erklärungen fußt, bedroht wäre. So heißt es bei Plaass: Nach den angeführten Beispielen könnte man nun (bes. nach A 848, B 876)⁵¹ meinen, der empirische Begriff der Materie enthalte alles, was in den vier „Erklärungen“ am Anfang der vier Hauptstücke steht und in deren jeder „eine neue Bestimmung“ zum Begriff hinzukommt (S XX)⁵². Dann wären diese Erklärungen (die nicht Worterklärungen sind) empirische, synthetische Sätze: jeder von ihnen „tut eine Eigenschaft hinzu“ (S 31), und dazu würde passen, daß sie alle ohne Beweise vorgetragen werden (im Gegensatz zu den „Lehrsätzen“), obwohl solche Beweise dringend zu fordern wären; denn schon bei der Raumerfüllung z. B. kann man mit gutem Recht fragen, ob denn diese unzertrennlich zum Begriff der Materie gehöre.
Wir müssen hier einen engen von einem weiten Begriff der Reinheit unterscheiden. Nach dem engen Begriff der Reinheit gibt es Erkenntnisse a priori, die nicht rein sind, und zwar genau dann, wenn sie einen empirischen Begriff enthalten (KrV, B 3). Wenn Kant davon spricht, dass die metaphysischen Anfangsgründe der Physik der reine Teil der Physik sind, ist offenbar ein weiterer Begriff der Reinheit im Spiel, denn es ist ja gerade wesentlich für die metaphysischen Anfangsgründe, dass sie einen empirischen Begriff enthalten. Der weite Begriff der Reinheit bedeutet offenbar, dass es sich um eine Erkenntnis handelt, die ausschließlich aus Urteilen a priori besteht. Mir geht es im Folgenden darum zu zeigen, dass die metaphysischen Anfangsgründe rein im zweiten, weiten Sinne sind, dass also die Voraussetzung des empirischen Begriffes der Materie nach Kant damit vereinbar ist, dass es sich um eine apriorische Wissenschaft handelt, ganz so, wie er es an der Stelle (MAN, AA 4: 470) behauptet. Siehe etwa Watkins (1998b, 576). An dieser Stelle erläutert Kant den Begriff der Materie mit den Worten „undurchdringliche leblose Ausdehnung“ (KrV, A 848 / B 876). Plaass zitiert die Metaphysischen Anfangsgründe mit den Seitenzahlen der Originalausgabe.
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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Der heutige Physiker würde das nach Kants Begriffen vermutlich sogar – etwa im Hinblick auf ungeladene Bose-Teilchen – bestreiten. (Plaass 1965, 91)
Weil Plaass fürchtet, dass die Bestimmung der Ausgedehntheit, wenn sie bloß auf empirischen Gründen fußte und der Untersuchung in den metaphysischen Anfangsgründen einfach vorangestellt würde, nicht als adäquate Grundlage für eine Metaphysik der körperlichen Natur taugte, versucht er, die Bestimmung als im Rahmen der metaphysischen Anfangsgründe synthetisch a priori herleitbar zu erweisen. Wie man jedoch zeigen kann, hat Plaass eine Möglichkeit übersehen, die nämlich darin besteht, dass es sich bei den Erklärungen um analytische Urteile a priori handelt, was sich nach Kants Konzeption analytischer Urteile durchaus damit vereinbaren lässt, dass der Gehalt des Begriffes, der in diesen Urteilen entfaltet wird, empirisch ist. Schauen wir uns nur einmal an, wie Kant seine Konzeption analytischer Urteile anhand eines Beispieles erläutert. Analytische Urteile sind Kant zufolge „diejenigen, in welchen die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt durch Identität […] gedacht wird“ (KrV, B 10). Als erläuterndes Beispiel führt Kant bezeichnenderweise an: Daß ein Körper ausgedehnt sei, ist ein Satz, der a priori feststeht, und kein Erfahrungsurteil. Denn, ehe ich zur Erfahrung gehe, habe ich alle Bestimmungen zu meinem Urteile schon in dem Begriffe, aus welchem ich das Prädikat nach dem Satze des Widerspruchs nur herausziehen, und dadurch zugleich der Notwendigkeit des Urteils bewusst werden kann, welche mir Erfahrung nicht einmal lehren würde. (KrV, B 11 f.)
Kant fasst analytische Urteile offenbar so auf, dass wir einen gegebenen Begriff ebenso zum Startkapital für das Urteilen zählen dürfen, wie den Satz vom Widerspruch. Beides zusammen legt dann die Wahrheit des Urteils mit Notwendigkeit fest. Auch wenn der Begriff, wie hier im Beispiel der Begriff eines Körpers, ein empirischer Begriff ist, gilt das Urteil mit Notwendigkeit, da der Begriff im Urteilen als zuvor fixiert vorausgesetzt wird. Aufschlussreich ist nun insbesondere das Beispiel, das Kant an dieser Stelle wählt, denn es handelt sich bei der Ausgedehntheit gerade um eine der Bestimmungen, die in einer Erklärung zu Beginn eines der Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe dem Begriff der Materie zugesprochen werden.⁵³ Zu Beginn des Dynamik-Kapitels heißt es nämlich: In der gerade zitierten Passage ist zwar nicht direkt von dem Urteil die Rede, dass Materie ausgedehnt ist, sondern dass ein Körper ausgedehnt ist. Aber es gilt: „Ein K ö r p e r, in physischer Bedeutung, ist eine Materie zwischen bestimmten Grenzen (die also eine Figur hat).“ (MAN, AA 4: 525)
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
Materie ist das Bewegliche, sofern es einen Raum erfüllt. (MAN, AA 4: 496)
Erfüllung des Raums ist aber dasselbe wie undurchdringliche Ausdehnung (MAN, AA 4: 496). Eine gewisse Pointe besteht nun also darin, dass nach Kant die Feststellung, dass Materie ausgedehnt ist – wobei es sich gerade um das Beispiel handelt, das Plaass am Ende der oben zitierten Stelle herausgreift –, weder ein empirischer, noch ein synthetischer Satz a priori ist, sondern ein analytischer Satz. Und zwar deshalb, weil der Begriff der Materie, auch wenn er empirischen Ursprungs ist, vor dem Urteil als fixiert gilt. Es liegt nun vor diesem Hintergrund und auch in Hinblick auf die oben herausgearbeitete Tatsache, dass sich Plaass’ Interpretation letztlich nicht mit Kants Text vereinbaren lässt⁵⁴, besonders nahe, die Situation in den Metaphysischen Anfangsgründen wie folgt aufzufassen: Ebenso wie die Kategorien und die Grundsätze des Verstandes als Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft der vorzunehmenden Untersuchung vorausgesetzt werden, wird auch der empirische Begriff der Materie – so wie auch in dem obigen Beispiel eines analytischen Urteiles – als fixiert vorausgesetzt. Während analytische Urteile deshalb analytisch sind, weil nach der Fixierung des Begriffes nur noch der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch und somit ein logisches Grundprinzip verwandt wird, sind die metaphysischen Anfangsgründe der Physik zwar in weiten Teilen synthetisch, weil nach der Fixierung des empirischen Begriffes der Materie neben logischen auch synthetische Prinzipien a priori zum Einsatz kommen. Ebenso wie analytische Urteile setzen die metaphysischen Anfangsgründe nach der Fixierung des empirischen Begriffes jedoch nur noch apriorische Prinzipien voraus und es handelt sich somit um eine synthetisch-apriorische Wissenschaft: Sie beschäftigt sich mit „einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, daß außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein
Dass der Begriff der Ausdehnung ein Bestandteil des Begriffes der Materie ist, geht auch aus einer Stelle in den Metaphysischen Anfangsgründen hervor: Dort heißt es, dass die Zurückstoßungskraft, die der Grund für die Undurchdringlichkeit und Ausdehnung der Materie ist, „unmittelbar mit dem Begriff einer Materie gegeben“ ist, während Anziehungskraft, die der Grund der Schwere ist, dem Begriff der Materie „nur durch Schlüsse […] beigefügt“ wird (MAN, AA 4: 509). Entsprechend klassifiziert Kant in der Kritik der reinen Vernunft das Urteil „Alle Körper sind ausgedehnt“ wie bereits gesehen als analytisches Urteil, während er „Alle Körper sind schwer“ als synthetisches Urteil auszeichnet (KrV, B 12). Für die Gründe dieser Ungleichbehandlung der beiden Grundkräfte der Materie siehe (MAN, AA 4: 509 f.) sowie die Diskussion dieses Punktes bei Friedman (2013, 170 ff.). Wir haben diesen Punkt oben in Abschnitt 4.2.6, insbesondere in Fn. 43, schon einmal kurz berührt. S.o., Abschnitte 4.2.4– 6.
4.2 Der empirische Begriff der Materie
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anderes empirisches Prinzip zur Erkenntnis derselben gebraucht wird […].“ (MAN, AA 4: 470). Dies bedeutet, dass die Bestimmungen, die insbesondere zu Beginn der Kapitel 2 und 3 der Metaphysischen Anfangsgründe der Grundbestimmung der Beweglichkeit hinzugefügt werden, als Bestimmungen des empirischen Begriffes der Materie vorausgesetzt und nicht erst im Rahmen dieser Kapitel hergeleitet werden. Dies bedeutet nicht, dass die Erklärungen, wie Plaass für diese von ihm abgelehnte Interpretation festhält, „empirische, synthetische Sätze“ (Plaass 1965, 91) sind – bei den Erklärungen handelt es sich vielmehr um analytische Urteile a priori.⁵⁵ Um den Punkt, um den es mir hier geht, in voller Schärfe zur Geltung zu bringen, möchte ich ihn noch einmal auf eine andere Weise formulieren: Jeder, der die Lesart, dass Kant in den metaphysischen Anfangsgründen von einem empirisch entstandenen Begriff ausgeht, für unvereinbar damit hält, dass die metaphysischen Anfangsgründe eine apriorische Wissenschaft sind, müsste aus denselben Gründen Kant so verstehen, dass es neben analytischen Urteilen a priori auch analytische Urteile a posteriori gibt. Dies wären demnach all diejenigen analytischen Urteile, die einen empirischen Begriff enthalten. Die Tatsache, dass Kant offenbar die Klasse der analytischen Urteile a posteriori für leer hält, verdeutlicht, dass Kant eine schwächere Konzeption von Erkenntnis a priori vertritt, nämlich eine solche, nach der es mit der Apriorität einer Erkenntnis durchaus vereinbar ist, dass der Gehalt eines empirischen Begriffes vorausgesetzt wird. Entscheidend für die Frage, ob eine Erkenntnis im Sinne Kants als a priori zu bezeichnen ist oder nicht, ist lediglich, ob nach der Fixierung eines empirischen Begriffes noch empirische Schritte nötig sind, um die entsprechende Erkenntnis zu gewinnen, oder nicht. All diejenigen, denen eine reine Physik in diesem Sinne nicht a priori genug ist, verwenden schlicht einen stärkeren Begriff der Erkenntnis a priori als Kant. Doch wie gehen wir mit Plaass’ Einwand am Ende des obigen längeren Zitates um, demzufolge ein empirischer Gehalt zu dem Problem führt, dass der Grundbegriff sich im Nachhinein als empirisch inadäquat herausstellen kann? Hierin liegt tatsächlich eine Wahrheit, die Kant nach der vorliegenden Interpretation akzeptieren muss, die jedoch auch eine positive Seite hat: Es ist zwar richtig, dass
Dies gilt sowohl für die Erklärungen, die den jeweiligen Kapiteln voranstehen und den Gehalt des Begriffes der Materie explizieren, als auch für die weiteren Erklärungen, die innerhalb der Kapitel eingefügt sind und die Gehalte weiterer verwendeter Begriffe – teilweise auch der Teilbegriffe des Begriffes der Materie – aufschlüsseln, wie beispielsweise die Erklärung 2 der Phoronomie: „Bewegung eines Dinges ist die Veränderung der äußeren Verhältnisse desselben zu einem gegebenen Raum.“ (MAN, AA 4: 482)
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Kant durch die Voraussetzung eines empirischen Begriffes gewisse Nachteile für die metaphysischen Anfangsgründe in Kauf nehmen muss. Diese bestehen insbesondere darin, dass die Sätze dieser Wissenschaft somit nur relativ zu dem Gehalt des Begriffes gültig sind. Bei empirischen Begriffen ist es jedoch nie ausgeschlossen, dass sie irgendwann einer Revision unterzogen werden müssen, etwa wenn wir durch Untersuchungen feststellen, dass der Begriff die intendierten Phänomene gar nicht trifft und daher leer ist. Ich gehe davon aus, dass Kant dies in Bezug auf den Begriff der Materie, wie er ihn in den Metaphysischen Anfangsgründen voraussetzt, für äußerst unwahrscheinlich oder gar für nahezu unmöglich hielt (womit er womöglich falsch lag). Aber die prinzipielle Möglichkeit, dass sich der Begriff als inadäquat herausstellt, muss Kant an dieser Stelle hinnehmen. Der Grund hierfür, der empirische Charakter des Begriffes, ist nämlich zugleich etwas, was für Kant eine entscheidende positive Seite aufweist: Die metaphysischen Anfangsgründe sollen ein Bindeglied zwischen der allgemeinen Metaphysik und der empirischen Naturwissenschaft darstellen. Und als ein solches, so nimmt Kant offenbar und mit einer gewissen Plausibilität an, müssen die metaphysischen Anfangsgründe sowohl apriorische als auch empirische Elemente enthalten. Für einen Schritt in Richtung der empirischen Welt muss man immer ein epistemisches Risiko in Kauf nehmen. Wie wir in Kapitel 6, Abschnitt 6.4.6, sehen werden, führt dies letztlich dazu, dass das in der Kritik der Urteilskraft entwickelte Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, das für die Bildung empirischer Begriffe maßgebend ist, mit Kants Grundlegung der Physik durch den Verstand eng verwoben ist. Wenn der Gehalt des Begriffes der Materie also nicht, wie von Plaass behauptet, in den Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe durch die Anwendung der Kategorien auf die Grundbestimmung der Materie – den Begriff der Bewegung – hergeleitet wird, stellt sich nun natürlich die Anschlussfrage, was statt dessen in diesen Kapiteln passiert. Um uns einer Antwort auf diese Frage zu nähern, müssen wir einen weiteren zentralen Punkt aus der Vorrede betrachten.
4.3 Die Rolle der Mathematik im Rahmen der metaphysischen Anfangsgründe der Physik Wie wir bereits oben in Abschnitt 4.1.1 gesehen haben, kann eine Wissenschaft Kant zufolge nur dann als Wissenschaft im strengen Sinne gelten, wenn sie über eine apriorische Grundlage verfügt. Wie sich herausstellt, ist diese Bedingung an eine andere Bedingung geknüpft, die es nun genauer zu untersuchen gilt.
4.3 Die Mathematik im Rahmen der metaphysischen Anfangsgründe der Physik
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4.3.1 Mathematische Konstruktion und objektive Realität Als Begründung dafür, dass es nur im Falle der Physik, nicht aber im Falle der Psychologie möglich ist, metaphysische Anfangsgründe aufzuspüren, führt Kant unter anderem an, dass „Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist“ (MAN, AA 4: 471). Dies liege daran, dass die Zeit, die Form des inneren Sinnes, nur eine Dimension hat, was nach Kant dazu führt, dass wir es bei den Erscheinungen der Seele mit Gegenständen zu tun haben, die nicht genug Stetigkeit aufweisen, um mathematisch behandelt werden zu können. Wie auch immer man zu diesem Argument stehen mag⁵⁶, eines wird hier deutlich: Die Anwendbarkeit von Mathematik auf den Phänomenbereich einer Wissenschaft ist für Kant nicht nur etwas, was zur besseren Darstellung und Anwendbarkeit einer Wissenschaft führt, sondern etwas, was Wissenschaften im strengen Sinne wesentlich zukommt. Ohne Anwendbarkeit von Mathematik ist kein rationaler Anteil einer Wissenschaft möglich und ohne rationalen Anteil kann man nicht von einer Wissenschaft im strengen Sinne sprechen: Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Denn nach dem Vorhergehenden erfordert eigentliche Wissenschaft […] einen reinen Teil, der dem empirischen zum Grunde liegt und der auf Erkenntnis der Naturdinge a priori beruht. Nun heißt etwas a priori erkennen, es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen. Die Möglichkeit bestimmter Naturdinge, kann aber nicht aus ihren bloßen Begriffen erkannt werden; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des Gedankens (daß er sich selbst nicht widerspreche), aber nicht des Objekts, als Naturdinges erkannt werden, welches außer dem Gedanken (als existierend) gegeben werden kann. Also wird, um die Möglichkeit bestimmter Naturdinge, mithin um diese a priori zu erkennen, noch erfordert, daß die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde, d. i. daß der Begriff konstruiert werde. Nun ist die Vernunfterkenntnis durch Konstruktion der Begriffe mathematisch. Also […] [ist] eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) […] nur vermittelst der Mathematik möglich […]. (MAN, AA 4: 470)
Diese Textstelle wirft jedoch einige interpretatorische Schwierigkeiten auf. Kant scheint hier vertreten zu wollen, dass der Begriff, auf dem der reine Anteil einer Wissenschaft basiert, mathematisch konstruiert werden muss, damit er tatsächlich als Grundlage einer apriorischen Erkenntnis fungieren kann. Das Argument dafür besteht darin, dass nur durch eine mathematische Konstruktion eine die Dieses Argument kann ich hier leider nicht ausführlicher behandeln. In einer sehr ausführlichen und interessanten Diskussion untersucht Friedman (2013, 580 ff.) die Parallelen und Unterschiede dieses Argumentes zur Widerlegung des Idealismus in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft.
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sem Begriff angemessene apriorische Anschauung bereitgestellt werden kann, was Kant offenbar für nötig hält, um zu zeigen, dass der Begriff ein mögliches Objekt hat. An dieser Stelle spielt wiederum der Begriff der objektiven Realität beziehungsweise der realen Möglichkeit eine Rolle.⁵⁷ Kant vertritt allgemein die Position, dass die logische Widerspruchsfreiheit eines Begriffes („die Möglichkeit des Gedankens“) kein hinreichendes Kriterium dafür ist, dass der Begriff sich auf ein mögliches Objekt bezieht. Insofern kann eine bloße Betrachtung des Begriffes keinen Aufschluss über seine objektive Realität geben. Um diese nachzuweisen, muss man also durch einen Bezug zu einer Anschauung zeigen, dass es ein mögliches Objekt gibt, das unter den Begriff fällt.⁵⁸ Und Kant scheint hier zu vertreten, dass die Anschauung im Fall des Grundbegriffes des reinen Anteils einer Wissenschaft eine apriorische Anschauung sein muss, damit die objektive Realität des Begriffes – wie es sich für den Grundbegriff einer reinen Wissenschaft gehört – a priori eingesehen werden kann. Bei der Darstellung eines Begriffes in der reinen Anschauung handelt es sich um eine mathematische Konstruktion. Somit scheint zu folgen, dass der Begriff der Materie, damit er dem reinen Teil der Physik als Grundbegriff vorstehen kann, mathematisch konstruiert werden muss. Wie wir jedoch gleich sehen werden, kann es sich hierbei nicht wirklich um Kants Position handeln.
Wir hatten dieses Thema bereits oben in Abschnitt 4.2.3 im Zusammenhang mit Plaass’ Auslegung gestreift. Während Plaass der Meinung ist, dass der Gehalt des Begriffes der Materie a priori ist, aber die objektive Realität des Begriffes empirisch nachgewiesen werden muss, scheint Kant an der hier betrachteten Stelle zu behaupten, dass sogar die objektive Realität des Begriffes der Materie a priori durch eine mathematische Konstruktion nachgewiesen werden muss. Wie wir gleich sehen werden, kann dies jedoch aus mehreren Gründen nicht wirklich Kants Position sein. In der Kritik der reinen Vernunft, im Abschnitt über die Postulate des empirischen Denkens überhaupt, gibt Kant ein Beispiel für einen Begriff, der keinen logischen Widerspruch enthält, der sich aber durch eine mathematische Konstruktion als ein Begriff herausstellt, der sich nicht auf ein real mögliches Objekt bezieht: „So ist in dem Begriffe einer Figur, die in zwei geraden Linien eingeschlossen ist, kein Widerspruch, denn die Begriffe von zwei geraden Linien und deren Zusammenstoßung enthalten keine Verneinung einer Figur; sondern die Unmöglichkeit beruht nicht auf dem Begriffe an sich selbst, sondern der Konstruktion desselben im Raume […].“ (KrV, A 220 f. / B 268)
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4.3.2 Gründe dafür, dass der Begriff der Materie nicht mathematisch konstruierbar ist Es gibt mindestens zwei (eng miteinander verknüpfte) gewichtige Argumente, die dagegen sprechen, dass Kant die Position vertreten möchte, dass der Begriff der Materie mathematisch konstruiert werden muss. Beide Argumente fußen auf Punkten, die uns im Zusammenhang der Untersuchung über den empirischen Status der Materie in Abschnitt 4.2 bereits begegnet sind.⁵⁹ Zum einen haben wir dort gesehen, dass der Begriff der Materie nach Kant ein Begriff ist, dessen Gehalt empirischen Ursprungs ist. Und über die Möglichkeit, die objektive Realität eines empirischen Begriffes durch eine mathematische Konstruktion in der reinen Anschauung nachzuweisen, äußert Kant sich in der Kritik der reinen Vernunft, im Abschnitt über die Postulate des empirischen Denkens überhaupt, grundsätzlich negativ. Zunächst weist er dort darauf hin, dass den Kategorien der Substanz, der Kausalität und der Gemeinschaft, weil es sich um Begriffe handelt, die konstitutiv für Objekte der Erfahrung sind, die objektive Realität a priori zugesichert werden kann.⁶⁰ In Abgrenzung dazu weist Kant darauf hin, dass die objektive Realität von spezifischeren Begriffen, die unter den drei Relations-Kategorien stehen, nicht a priori nachgewiesen werden kann: Wenn man sich aber gar neue Begriffe von Substanzen, von Kräften, von Wechselwirkungen, aus dem Stoffe, den uns die Wahrnehmung darbietet, machen wollte, ohne von der Erfahrung selbst das Beispiel ihrer Verknüpfung zu entlehnen, so würde man in lauter Hirngespinste geraten, deren Möglichkeit ganz und gar kein Kennzeichen für sich hat […]. Dergleichen gedichtete Begriffe können den Charakter ihrer Möglichkeit nicht so, wie die Kategorien, a priori, sondern nur a posteriori, als solche, die durch die Erfahrung selbst gegeben werden, bekommen, und ihre Möglichkeit muss entweder a posteriori und empirisch, oder sie kann gar nicht erkannt werden. (KrV, A 222 / B 269 f.)
Die objektive Realität der Begriffe von spezifischen Substanzen, Ursachen (beziehungsweise Kräften) und Wechselwirkungen kann Kant zufolge nicht a priori erwiesen werden, sondern muss stets durch Beispiele aus der Erfahrung gesichert werden. Friedman weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der von Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen eingebrachte Materie-Begriff gerade sol Die beiden folgenden Argumente gegen diese Lesart werden von Friedman (2013, 28 f.) vorgebracht. „Nur daran also, daß diese Begriffe die Verhältnisse der Wahrnehmungen in jeder Erfahrung a priori ausdrücken, erkennt man ihre objektive Realität, d. i. ihre transzendentale Wahrheit, und zwar freilich unabhängig von der Erfahrung, aber doch nicht unabhängig von aller Beziehung auf die Form einer Erfahrung überhaupt, und die synthetische Einheit, in der allein Gegenstände empirisch können erkannt werden.“ (KrV, A 221 f./ B 269)
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che Begriffe bestimmter Arten von Substanzen, Kräften und Wechselwirkungen beinhaltet.⁶¹ Kant führt Materie als eine bestimmte Art von materieller Substanz ein (MAN, AA 4: 502 f.), die sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass sie den Raum durch eine ausdehnende Kraft (was der Kategorie der Kausalität entspricht) erfüllt (MAN, AA 4: 496).⁶² Insofern kann Kant also nicht wirklich der Auffassung sein, dass der Begriff der Materie seine objektive Realität a priori zugesichert bekommen kann. Zweitens ist es so, dass Kant sogar explizit aussagt, dass der Begriff der Materie, wenn er nach der von ihm vertretenen dynamischen Konzeption⁶³ gedacht wird, nicht konstruierbar ist. Tatsächlich hängt dies insbesondere mit den beiden spezifischen Grundkräften, die seiner Konzeption zufolge Materie wesentlich ausmachen, zusammen: [W]enn der Stoff selbst [Materie] in Grundkräfte verwandelt wird, […] [gehen] uns alle Mittel [ab], diesen Begriff der Materie zu konstruieren, und, was wir allgemein dachten, in der Anschauung als möglich darzustellen. (MAN, AA 4: 525)
Kant gesteht zwar zu, dass es sich hierbei um einen Nachteil der dynamischen Materie-Konzeption handelt⁶⁴, möchte jedoch aus anderen Gründen (auf die ich an dieser Stelle der Kürze halber nicht eingehen kann⁶⁵) an diesem Materie-Begriff festhalten. Die Schwierigkeit, die sich nun ergibt, besteht natürlich darin, all dies mit dem in Abschnitt 4.3.1 diskutierten Zitat aus der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe in Einklang zu bringen. Wenn wir Kant nicht an einer zentralen Stelle eine Inkonsistenz zuschreiben wollen, können wir dieses Zitat nicht so lesen, dass er dort eine mathematische Konstruktion des Materie-Begriffes fordert. Die entscheidende Frage ist, was es dann mit der Anwendung der Mathematik im reinen Teil der Naturwissenschaft genau auf sich hat.
Vgl. Friedman (2013, 29). Die Rolle von Wechselwirkungen wird im Mechanik-Kapitel im Zusammenhang mit Lehrsatz 4 (MAN, AA 4: 544) deutlich. Siehe hierzu unten, Abschnitt 4.5.4. Zur Unterscheidung zwischen der dynamischen und der mathematisch-mechanischen Konzeption der Materie siehe oben, Abschnitt 4.2.6. Der von Kant abgelehnte mathematisch-mechanische Materie-Begriff ist ihm zufolge mathematisch konstruierbar (MAN, AA 4: 525). Siehe hierzu ausführlich Warren (2001, Kap. 3).
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4.3.3 Mathematik und die Teilbegriffe des Begriffes der Materie Um sich einer Antwort auf die Frage nach der Rolle der Mathematik im reinen Teil der Naturwissenschaft zu nähern, ist es hilfreich, eine weitere Stelle aus der Vorrede heranzuziehen, auf die Friedman ebenfalls in diesem Zusammenhang verweist:⁶⁶ Damit aber die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre, die durch sie allein Naturwissenschaft werden kann, möglich werde, so müssen Prinzipien der Konstruktion der Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören, vorangeschickt werden; mithin eine vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt zum Grunde gelegt werden müssen, welches ein Geschäfte der reinen Philosophie ist, die zu dieser Absicht sich keiner besonderen Erfahrungen, sondern nur dessen, was sie im abgesonderten (obzwar an sich empirischen) Begriffe selbst antrifft, in Beziehung auf die reinen Anschauungen im Raume und der Zeit (nach Gesetzen, welche schon im Begriffe der Natur überhaupt wesentlich anhängen) bedient, mithin eine wirkliche Metaphysik der körperlichen Natur ist. (MAN, AA 4: 472)
Friedman lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass Kant an dieser Stelle nicht mehr von einer Konstruktion des Begriffes der Materie spricht, sondern von mehreren Konstruktionen, die die „Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören“, betreffen. Außerdem weist Kant an dieser Stelle auf die Notwendigkeit hin, den Begriff der Materie vollständig zu zergliedern und die Zergliederung den metaphysischen Anfangsgründen voranzustellen. Eine zunächst sehr naheliegende Lesart besteht darin, dass Kant sich die Aufgabe der Metaphysischen Anfangsgründe offenbar so vorstellt, dass der Begriff der Materie zuerst in seine Teilbegriffe zergliedert werden muss, um dann für die Teilbegriffe jeweils Prinzipien der mathematischen Konstruktion zu entwickeln. Doch auch dies löst natürlich nicht die oben angesprochenen interpretatorischen Probleme, denn wir haben ja bereits gesehen, dass der Begriff der Materie von Kant als empirischer Begriff aufgefasst wird, weil er grundlegende Teilbegriffe enthält, die empirisch sind. Insbesondere sind die Begriffe der Beweglichkeit⁶⁷ und der Undurchdringlichkeit⁶⁸ empirische Begriffe. Und wie wir in Abschnitt 4.3.2 gesehen haben, können empirische Begriffe, insbesondere der Begriff einer Ausdehnungskraft, die der Undurchdringlichkeit zugrundeliegt, Kant zufolge
Vgl. Friedman (2013, 30). S.o., Abschnitt 4.2.5.Wie wir gleich sehen werden, muss diese Behauptung auf den Begriff der Bewegung eines Objektes im Raum eingeschränkt werden, während der mathematische Begriff der Bewegung durchaus a priori konstruierbar ist. S.o., Abschnitt 4.2.6.
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nicht mathematisch konstruiert werden. Was meint Kant also, wenn er von „Prinzipien der Konstruktion“ dieser Teilbegriffe, und zwar insbesondere im Zusammenhang mit der „Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre“ spricht? Um dieses interpretatorische Problem anzugehen, entwickelt Friedman die These, dass Kant in den zitierten Passagen nicht wirklich von einer Konstruktion des Begriffes der Materie oder aller seiner Teilbegriffe spricht, sondern einen etwas schwächeren Zusammenhang zwischen Mathematik und reiner Physik im Auge hat. Diese Überlegung entwickelt Friedman anhand einer weiteren Textstelle:⁶⁹ Alle Naturphilosophen, welche in ihrem Geschäfte mathematisch verfahren wollten, haben sich daher jederzeit (obschon sich selbst unbewußt) metaphysischer Prinzipien bedient und bedienen müssen, wenn sie sich gleich sonst wider allen Anspruch der Metaphysik auf ihre Wissenschaft feierlich verwahrten. […] So konnten also jene mathematische Physiker metaphysischer Prinzipien gar nicht entbehren, und unter diesen auch nicht solcher, welche den Begriff ihres eigentlichen Gegenstandes, nämlich der Materie, a priori zur Anwendung auf äußere Erfahrung tauglich machen, als des Begriffs der Bewegung, der Erfüllung des Raums, der Trägheit, u. s. w. (MAN, AA 4: 472)
Mit „mathematische Physiker“ bezieht sich Kant offenbar vor allem auf Newton.⁷⁰ Kant sieht Newton und andere Vertreter dieser Richtung als Verfechter der Idee, dass man der Naturwissenschaft eine rein mathematische Grundlage geben kann, ohne dabei auf Metaphysik zurückgreifen zu müssen. Im Widerspruch dazu ist Kant offensichtlich der Auffassung, dass man im Rahmen einer mathematischen Physik nicht auf metaphysische Prinzipien verzichten kann beziehungsweise bei der Mathematisierung der Physik grundsätzlich metaphysische Prinzipien voraussetzt, selbst wenn dies nicht immer bemerkt wird. Diese Prinzipien sind dem letzten Satz dieser Textstelle zufolge dafür erforderlich, die Teilbegriffe des Begriffes der Materie „a priori zur Anwendung auf äußere Erfahrung tauglich [zu] machen“. Wenn wir dies mit der zuvor zitierten Passage verbinden, nach der „Prinzipien der Konstruktion der Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören, vorangeschickt werden“ müssen, um die „Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre“ zu ermöglichen (MAN, AA 4: 472), ergibt sich folgendes Bild: Bei den metaphysischen Prinzipien, die eine mathematisch verfahrende Physik voraussetzt, handelt es sich um Prinzipien, die benötigt werden, um die Anwendbarkeit der Mathematik auf die empirische Welt zu erklären. Kant
Vgl. Friedman (2013, 31). Vgl. Pollok (1997a, 128). Pollok nennt Kepler, Galilei, Gassendi und Euler als weitere von Kant intendierte Referenten. Siehe auch Friedman (2013, 14 ff.), der ebenfalls Newton als den Hauptbezug dieser Bemerkung ausmacht.
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nennt diese Prinzipien „Prinzipien der Konstruktion der Begriffe“, aber wir wissen bereits, dass er dies nicht in dem Sinne meinen kann, dass der vollständige Gehalt aller dieser Begriffe in der reinen Anschauung dargestellt wird. Aber Kant ist offenbar der Meinung, dass die Teilbegriffe des Begriffes der Materie die Anwendung der Mathematik auf die empirische Welt in irgendeiner Weise vermitteln und dass hierfür Prinzipien vonnöten sind, die diese Vermittlungsleistung ermöglichen. Der Ausdruck „Konstruktion“ ist Friedman zufolge an dieser Stelle in einem schwächeren Sinne gemeint: Es geht nicht darum, den vollständigen Gehalt der Begriffe anschaulich darzustellen, sondern nur darum, die mathematische Struktur, die im Rahmen einer mathematisierten Physik wie der Newtons Teil ihres Gehaltes ist, offenzulegen und durch metaphysische Prinzipien zu fundieren, um dadurch zu zeigen, dass diese mathematische Struktur tatsächlich auf die empirische Welt anwendbar ist. Die mathematische Struktur, von der hier die Rede ist, besteht Friedmans Lesart zufolge im Wesentlichen darin, dass mit den Teilbegriffen des Begriffes der Materie bestimmte messbare Größen verbunden sind, die in quantitative Verhältnisse gesetzt werden können.⁷¹ So geht es beispielsweise in der Phoronomie darum, wie Geschwindigkeit als das Quantum der Bewegung eine mathematische Struktur haben kann, wie also etwa zwei Bewegungen miteinander addiert oder kombiniert werden können.⁷² Und in der Mechanik geht es um den Begriff der Masse – ein Begriff, der die Quantität der Materie bezeichnet – und darum, wie es möglich ist, bei Körpern unterschiedlicher Dichte die Massen in ein quantitatives Verhältnis zueinander zu setzen.⁷³ Durch diese Klärungen der mathematischen Struktur der Teilbegriffe des Begriffes der Materie wird es Kant zufolge erst möglich, die mathematischen Operationen, die in der mathematisierten Physik grundlegend sind, als Operationen zu verstehen, die auf Objekte in der empirischen Welt anwendbar sind: Dadurch, dass gezeigt wird, dass der allgemeinste empirische Begriff der Objekte der äußeren Sinne von einer mathematischen Struktur durchwoben ist, wird deutlich, wie die Anwendung der Mathematik durch diesen Begriff vermittelt werden kann. Die in den Metaphysischen Anfangsgründen erarbeiteten Prinzipien sind Kant zufolge also dasjenige, was die Anwendbarkeit der Mathematik auf die empirische Welt ermöglicht. Bevor wir anhand einer knappen Übersicht über die ersten beiden Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe genauer klären, wie Kant sich die Vermittlung der Vgl. Friedman (2013, 32). Vgl. Friedman (2013, 31). Vgl. Friedman (2013, 32). Wir kommen auf diese Punkte in den Abschnitten 4.4 und 4.5 ausführlicher zurück.
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Anwendung der Mathematik auf die empirische Welt durch den Begriff der Materie vorstellt, muss zunächst noch etwas Grundsätzliches zur Kapitelstruktur der Metaphysischen Anfangsgründe vorausgeschickt werden.
4.3.4 Die Orientierung der Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe an der Kategorien-Tafel Kant kündigt in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe an, dass sich die Kapitelstruktur des Werkes an der Tafel der Kategorien orientieren wird. Die Begründung hierfür besteht darin, dass dies allein eine Garantie für die Vollständigkeit der zu entwickelnden speziellen Metaphysik sein kann: Das Schema aber zur Vollständigkeit eines metaphysischen Systems, es sei der Natur überhaupt, oder der körperlichen Natur insbesondere, ist die Tafel der Kategorien. Denn mehr gibt es nicht reine Verstandesbegriffe, die die Natur der Dinge betreffen können. Unter die vier Klassen derselben, die der Größe, der Qualität, der Relation, und endlich der Modalität, müssen sich auch Bestimmungen des allgemeinen Begriffs einer Materie überhaupt, mithin auch alles, was a priori von ihr gedacht, was in der mathematischen Konstruktion dargestellt, oder in der Erfahrung, als bestimmter Gegenstand derselben, gegeben werden mag, bringen lassen. (MAN, AA 4: 473 ff.; Fußnote ausgelassen⁷⁴)
Dass das hier angekündigte Vorgehen durchaus als konsequent bezeichnet werden kann, kann man sich wie folgt vergegenwärtigen: Wir haben oben in Abschnitt 4.2.1 gesehen, dass für Kant der Begriff der Materie der Begriff eines jeden Objektes der äußeren Sinne ist. Wir können Kant daher insbesondere so verstehen, dass es sich um denjenigen Begriff handelt, der dadurch, dass er der höchste empirische Begriff in Bezug auf die Gegenstände der äußeren Sinne ist, jede Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der äußeren Sinne vermittelt.⁷⁵ Insofern ist es nur folgerichtig, dass Kant zeigen möchte, wie sich die Bestimmungen des Materie-Begriffes unter die Kategorien bringen lassen: Durch die in den einzelnen Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe vorgenommenen Anwendungen der Kategorien auf die Bestimmungen des Begriffes der Materie wird
Die ausgelassene Fußnote, in der Kant sich äußerst ausführlich mit einer Kritik an seiner in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft vorgelegten transzendentalen Deduktion der Kategorien auseinandersetzt, ist der Grund dafür, dass sich die zitierte Textstelle trotz ihrer eigentlichen Kürze über mehrere Seiten erstreckt. Wir werden in Kapitel 6 im Zusammenhang mit Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft sehen, wie wichtig es aus Kants Sicht ist, dass die Anwendung der Kategorien auf empirische Objekte durch empirische Begriffe vermittelt wird.
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gesichert, dass der Materie-Begriff einen Gehalt erhält, der Bestimmungen aller reinen Verstandesbegriffe umfasst. Entsprechend kann durch die Anwendung dieses Begriffes auf äußere empirische Objekte, die ja allesamt unter ihn fallen, die Anwendung der Kategorien auf empirische Objekte vermittelt werden.⁷⁶ Kants Vorgehen sieht dabei konkret so aus, dass er in jedem Kapitel ein Merkmal des Materie-Begriffes voranstellt, das dann durch die Anwendung der Kategorien eines Titels der Tafel weiter bestimmt wird. Wie wir bereits gesehen haben, wird die in den Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe vorgenommene Bestimmung eines Merkmals anhand der Kategorientafel zugleich durch die Entwicklung von Prinzipien der mathematischen Konstruktion (im gleich noch näher zu bestimmenden schwächeren Sinne) begleitet. Der Begriff der Materie soll auf diese Weise nicht nur die Anwendung der Kategorien, sondern auch die Anwendung der Mathematik auf die körperliche Welt vermitteln.
4.3.5 Empirischer Begriff, transzendentale Grundsätze und mathematische Konstruktion: Die Elemente der metaphysischen Anfangsgründe An dieser Stelle möchte ich noch einmal die bereits erarbeiteten Elemente der metaphysischen Anfangsründe der Physik zusammentragen und Genaueres über ihr Zusammenspiel sagen. Insbesondere ist hier noch zu klären, weshalb Kant die Anwendung von Mathematik im Rahmen der metaphysischen Anfangsgründe für unerlässlich hält. Wie sich nun zeigen wird, hängt dies insbesondere damit zusammen, dass die metaphysischen Anfangsgründe als besonderer Teil der Metaphysik einen eigenständigen apriorischen Gehalt erhalten müssen, der durch die anderen Elemente – den Begriff der Materie und die Grundsätze des Verstandes – nicht erzeugt werden kann. Schauen wir uns also die zentrale programmatische Stelle in Bezug auf diese Thematik noch einmal in voller Länge an: Damit aber die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre, die durch sie allein Naturwissenschaft werden kann, möglich werde, müssen Prinzipien der Konstruktion der Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören, vorangeschickt werden; mithin wird eine vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt zum Grunde gelegt werden müssen, welches ein Geschäfte der reinen Philosophie ist, die zu dieser Absicht sich keiner besonderen Erfahrungen, sondern nur dessen, was sie im abgesonderten (obzwar an sich empirischen) Begriffe selbst antrifft, in Beziehung auf die reinen
Vgl. Friedman (2013, 554).
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Anschauungen im Raume und der Zeit (nach Gesetzen, welche schon dem Begriffe der Natur überhaupt wesentlich anhängen) bedient, mithin eine wirkliche Metaphysik der körperlichen Natur ist. (MAN, AA 4: 472)
Kant betont an dieser Stelle zunächst noch einmal, dass die Anwendung von Mathematik notwendig für den Status einer Naturwissenschaft im strengen Sinne ist. Wie wir inzwischen wissen, kann er im darauf folgenden Satz aber nicht meinen, dass der zentrale Begriff der Physik – der Begriff der Materie – zu diesem Zweck vollständig mathematisch konstruiert werden muss. Bei den Bestimmungen des Begriffes der Materie, die Kant jeweils zu Beginn der Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe vorstellt, handelt es sich um empirisch gewonnene Merkmale, die in Form von analytischen Urteilen vorgetragen werden. Und auch die dadurch vorgestellten Teilbegriffe der Materie lassen sich nicht alle mathematisch konstruieren. Was meint Kant also mit den „Prinzipien der Konstruktion der Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören“? Kant muss sich hier darauf beziehen, dass er die Bestimmung des Begriffes der Materie, die durch die zugrundegelegten analytischen Urteile zunächst noch relativ schmal ausfällt, im Rahmen einer apriorischen Untersuchung weiterentwickelt. Das Resultat dieser Weiterentwicklung sind die Lehrsätze der einzelnen Kapitel, in denen Prinzipien festgehalten sind, die einen mathematischen Gehalt aufweisen und die den Begriff der Materie (beziehungsweise seiner Teilbegriffe) synthetisch a priori erweitern. Für eine solche apriorische Erweiterung des Begriffes der Materie ist Mathematik unumgänglich, was man wie folgt einsehen kann: Wie wir dem obigen Zitat entnehmen können, sind drei Elemente an den metaphysischen Anfangsgründen der Physik beteiligt: Erstens der abgesonderte, empirische Begriff der Materie als Ausgangsbasis, dann eine Anwendung auf die reinen Anschauungen Raum und Zeit, und drittens die für diese Anwendung leitenden Gesetze, „welche schon dem Begriffe der Natur überhaupt wesentlich anhängen“ (ebd.). Unter letzteren versteht Kant sicherlich die Grundsätze des Verstandes aus der Transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft.Wie wir nun bereits gesehen haben, besteht Kants Plan darin, die Kategorien als Leitfaden der Untersuchung des Begriffes der Materie in den Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe zu verwenden. Dies beinhaltet – wie wir unten genauer sehen werden – zum Teil eine Anwendung der mit den Kategorien verbundenen Grundsätze auf den Begriff der Materie. Nun sollen die metaphysischen Anfangsgründe der Physik einen eigenständigen Teil der Metaphysik, nämlich die besondere Metaphysik der Natur, ausmachen und insofern soll es sich um eine Wissenschaft mit einem eigenständigen Gehalt handeln. Da es sich um einen Teil der Metaphysik handelt, soll dieser Gehalt a
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priori sein. Woher kann diese Wissenschaft einen solchen Gehalt beziehen? Der zugrundegelegte Begriff der Materie bildet nur die Ausgangsbasis, der in Form von analytischen Urteilen vorliegt. Der Gehalt der metaphysischen Anfangsgründe der Physik muss über diese Ausgangsbasis hinausgehen.⁷⁷ Die Anwendung der Kategorien und Grundsätze des Verstandes kann aber allein auch keinen solchen eigenständigen Gehalt erzeugen, denn der Gehalt dieser Kategorien und Grundsätze ist der Gehalt der allgemeinen Metaphysik der Natur, über den der Gehalt der speziellen Metaphysik der Natur hinausgehen soll. Woher soll also die spezielle Metaphysik der Natur ihren eigenständigen apriorischen Gehalt beziehen? Da der Gehalt synthetisch sein soll, ist ein Bezug auf Anschauungen erforderlich. Da er a priori sein soll, kommen hierfür nur die reinen Anschauungen Raum und Zeit in Frage. Der Gehalt der speziellen Metaphysik der Natur muss also dadurch zustande kommen, dass die Anwendung der Kategorien und Grundsätze auf den Begriff der Materie begleitet ist von einer „Beziehung auf die reinen Anschauungen im Raume und der Zeit“ (ebd.), was bedeutet, dass ein mathematischer Gehalt erzeugt wird.⁷⁸ Nun muss dies aber gerade nicht bedeuten, dass die in Form von analytischen Urteilen zugrundeliegenden Bestimmungen des empirischen Begriffes der Materie mathematisch konstruiert werden. Vielmehr muss der mathematische Gehalt sich nach diesen Betrachtungen auf das beziehen, was über diese Bestimmungen hinausgeht und durch die Anwendung der Kategorien und Grundsätze entsteht. Es sind also die Lehrsätze der Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe, die einen mathematischen Gehalt enthalten. Dieser Gehalt ist auf die vorausgesetzten Bestimmungen der Materie bezogen, insofern er diesen eine mathematische Struktur verleiht. Es handelt sich bei den Lehrsätzen daher um synthetische Erweiterungen des zugrundegelegten empirischen Begriffes der Materie. Aber wie wir gleich genauer sehen werden, bedeutet dies nicht, dass alle zugrundegelegten Bestimmungen a priori in der Anschauung dargestellt werden müssen. Es ist nun an der Zeit, dass wir uns anhand der Schritte in den ersten beiden Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe ein Bild davon machen, wie Kant sich die Anwendung der Kategorien beziehungsweise Grundsätze und die Entwicklung von Prinzipien der mathematischen Konstruktion konkret vorstellt.
Man kann dies auf zwei unterschiedliche Weisen betrachten, je nachdem ob man von den Urteilen ausgeht, die den Gehalt des Begriffes der Materie explizieren, oder den Gehalt des Begriffes selbst betrachtet: Einerseits liegt der Gehalt des Begriffes der Materie in Form von analytischen Urteilen vor und die spezielle Metaphysik der Natur braucht synthetischen Gehalt. Andererseits ist der Begriff der Materie ein empirischer Begriff und die spezielle Metaphysik der Natur braucht einen apriorischen Gehalt, der über den vorausgesetzten empirischen Gehalt hinausgeht. Vgl. Friedman (2013, 33, Fn. 51).
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4.4 Die ersten Schritte – Die Phoronomie und die Dynamik 4.4.1 Die Konstruktion des mathematischen Begriffes der Bewegung in der Phoronomie Das erste Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe handelt mit der Phoronomie eine „reine Größenlehre der Bewegung“ ab, „in welcher die Materie nach keiner Eigenschaft mehr als der bloßen Beweglichkeit gedacht wird“ (MAN, AA 4: 495). Die Beweglichkeit, bei der es sich um die Grundbestimmung des Begriffes der Materie handelt, wird hier also isoliert von den in späteren Kapiteln beigefügten weiteren Bestimmungen behandelt. Dies bedeutet insbesondere auch, dass Kant in der Phoronomie zunächst nur den mathematischen Bewegungsbegriff in Betracht zieht.⁷⁹ Denn die Bestimmungen, mit denen Kant in den folgenden Kapiteln den zugrundeliegenden Begriff der Materie anreichert, sind gerade dasjenige, was zum mathematischen Bewegungsbegriff hinzukommen muss, um den vollen Begriff der Bewegung eines physischen Objektes im Raum zu erhalten. Dass zunächst nur der mathematische Bewegungsbegriff im Spiel ist, macht Kant in Anmerkung 1 der Phoronomie deutlich: Da in der Phoronomie von nichts als Bewegung geredet werden soll, so wird dem Subjekt derselben, nämlich der Materie, hier keine andere Eigenschaft beigelegt, als die Beweglichkeit. Sie selbst kann also so lange auch für einen Punkt gelten, und man abstrahiert in der Phoronomie von aller innern Beschaffenheit, mithin auch der Größe des Beweglichen, und hat es nur mit der Bewegung und dem, was in dieser als Größe betrachtet werden kann (Geschwindigkeit und Richtung), zu tun. (MAN, AA 4: 480)
Das, wovon hier zunächst abstrahiert werden soll, sind die Ausdehnung und die Masse von physischen Körpern, die das Thema der Dynamik (zweites Hauptstück) und der Mechanik (drittes Hauptstück) sind. Wenn wir von diesen Eigenschaften abstrahieren, bleibt von der Materie nur ein mathematischer Punkt übrig. Die Bewegung eines solchen Punktes lässt sich Kant zufolge – im Gegensatz zur Bewegung eines physischen Körpers im vollen Sinne – in reiner Anschauung konstruieren.
Friedman (2013, 84 ff.) weist darauf hin, dass Kant in der Phoronomie stellenweise auch mit einem empirischen Bewegungsbegriff arbeitet und dieser für Kant enger mit dem mathematischen Bewegungsbegriff verknüpft ist, als es insbesondere in der gleich zitierten Anmerkung 1 der Phoronomie den Eindruck macht. Ich werde mich in diesem Abschnitt auf den mathematischen Bewegungsbegriff und die im Zusammenhang mit ihm vorgenommene mathematische Konstruktion konzentrieren und die Verbindungen zum empirischen Bewegungsbegriff zunächst ausblenden.
4.4 Die ersten Schritte – Die Phoronomie und die Dynamik
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Diese Konstruktion, die Kant in der Phoronomie durchführen möchte, erläutert er in Erklärung 4: Den Begriff einer zusammengesetzten Bewegung k o n s t r u i e r e n heißt eine Bewegung, so fern sie aus zwei oder mehreren gegebenen in einem Beweglichen vereinigt entspringt, a priori in der Anschauung darzustellen. (MAN, AA 4: 486)
Wir sehen hier, dass das Ziel der Phoronomie insbesondere darin besteht, zu erklären, wie die mathematische Operation der Addition auf Bewegungen von mathematischen Punkten angewendet werden kann. Dies liegt daran, dass Bewegung von Kant in der Phoronomie als Größe betrachtet wird und der Begriff der Größe an die Operation der Addition gekoppelt ist: Phoronomie ist also die reine Größenlehre (Mathesis) der Bewegungen. Der bestimmte Begriff von einer Größe ist der Begriff der Erzeugung der Vorstellung eines Gegenstandes durch die Zusammensetzung des Gleichartigen. (MAN, AA 4: 489)
Wir verstehen den Begriff der Bewegung als Größe also nur dann, wenn wir verstehen, wie Bewegungen miteinander addierbar sind. Das Verfahren der Addition ist genau dasjenige, was in reiner Anschauung konstruiert werden soll. Dadurch erhält der Begriff der Bewegung eines mathematischen Punktes eine mathematische Struktur, auf der dann die in den folgenden Kapiteln hinzugefügten Bestimmungen der Materie aufbauen können. Doch was versteht Kant genau unter einer „Bewegung als Größe“? Wie in Anmerkung 3 deutlich wird, hat Kant hier insbesondere die Geschwindigkeit im Auge, mit der sich der Körper bewegt, wobei außerdem relevant ist, in welche Richtung die Bewegung verläuft (MAN, AA 4: 483). Dies sind nach Kant die beiden einzigen Aspekte einer Bewegung, die in dem zu entwerfenden Additionsverfahren eine Rolle spielen sollen.⁸⁰ Es ist außerdem zu beachten, dass Kant das komplexe Problem der Addition von Bewegungen im Allgemeinen reduziert auf
Friedman (2013, 58 ff.) erläutert ausführlich, weshalb Kant, im Gegensatz zu Newton, die Addierbarkeit von zwei Geschwindigkeiten überhaupt als problematisch erschien. Wie Friedman ausführt, hängt dies insbesondere damit zusammen, dass Kant die Standarddefinition von Geschwindigkeit als zurückgelegte Wegstrecke pro verstrichener Zeit (v = s/t) nicht als Ausgangspunkt für eine Quantifizierung von Geschwindigkeit nehmen konnte. Dies liegt daran, dass er durch Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft, insbesondere der Analogien der Erfahrung und der Widerlegung des Idealismus, auf die These festgelegt ist, dass Zeit erst durch die Wahrnehmung von Bewegungen von Objekten zur messbaren Größe wird (Friedman 2013, 63). Die Quantifizierung von Bewegung muss also einer Quantifizierung von Zeit vorangehen, nicht umgekehrt.
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den Fall der Addition zweier geradliniger, gleichförmiger Bewegungen (MAN, AA 4: 488). Der Fall der Addition von Bewegungen, die etwa beschleunigt oder kreisförmig sind, muss dann darauf zugeführt werden.⁸¹ Wie müssen wir uns Kant zufolge die Addition zweier Bewegungen in der reinen Anschauung vorstellen? Die Grundüberlegung besteht darin, dass man eine Bewegung immer auf zweierlei Weise betrachten kann: Man kann sie entweder als die Bewegung eines Körpers⁸² in einem ruhenden Raum betrachten, oder als die Bewegung des Raumes in entgegengesetzter Richtung, sodass der Körper, der eigentlich ruht, relativ zu dem sich bewegenden Raum in Bewegung ist.⁸³ Diese Überlegung macht sich Kant nun bei der Addition zweier Bewegungen wie folgt zunutze: Die Zusammensetzung zweier Bewegungen eines und desselben Punkts kann nur dadurch gedacht werden, daß die eine derselben im absoluten Raume, statt der anderen aber eine mit der gleichen Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung geschehende Bewegung des relativen Raums, als mit derselben einerlei, vorgestellt wird. (MAN, AA 4: 490)
Anstatt zwei Bewegungen eines Punktes direkt miteinander zu addieren, werden die beiden Bewegungen gemäß der Grundüberlegung in gewisser Weise aufge-
Dieses Vorgehen ist in gewisser Weise sehr konsequent, da Kant zufolge aufgrund des im Mechanik-Kapitel bewiesenen Trägheitssatzes (Lehrsatz 3 der Mechanik; MAN, AA 4: 542) gilt, dass beschleunigte und kreisförmige Bewegungen nur dadurch entstehen können, dass eine Kraft kontinuierlich auf das sich bewegende Objekt wirkt. Da Kant hier, in der Phoronomie, von Kräften noch ganz absieht, ist die vorgenommene Problemeinschränkung nachvollziehbar. Zwar ist es für die vorgenommene mathematische Konstruktion wichtig, dass die betrachtete Bewegung stets die eines mathematischen Punktes ist, doch gebraucht Kant den Ausdruck „Körper“ auch schon in der Phoronomie, „um die Anwendung der Prinzipien der Phoronomie auf die noch folgende bestimmtere Begriffe der Materie gewissermaßen zu antizipieren, damit der Vortrag weniger abstrakt und faßlicher sei.“ (MAN, AA 4: 480) Hierin folge ich Kant. Dies ist der Inhalt von Grundsatz 1 der Phoronomie (MAN, AA 4: 487). Insbesondere im Zusammenhang mit der zweiten Betrachtungsweise wird deutlich, dass wir einen zweiten Raum als Bezugssystem benötigen, der sowohl den ersten Raum als auch den Körper enthält. Nach der zweiten Betrachtungsweise ist dieser zweite Raum derart gewählt, dass der Körper relativ zu ihm ruht. Kant bezeichnet diesen zweiten Raum an manchen Stellen – etwa in der gleich im Haupttext zitierten Passage – als „absoluten Raum“, was in Konflikt zu stehen scheint mit seiner Auffassung, dass ein absoluter Raum kein mögliches Objekt von Erfahrung ist und deshalb nicht „als für sich gegeben“ angenommen werden darf (MAN, AA 4: 481). Aber nur wenige Zeilen später heißt es, dass ein absoluter Raum „nur einen jeden andern relativen Raum [bedeutet], den ich mir außer dem gegebenen jederzeit denken kann“ (ebd.). Was Kant hier also meint ist, dass wir uns, um die Bewegung des Körpers und des ihn umgebenden Raumes vorstellen zu können, einen beide umfassenden Raum denken müssen, der für diesen Zweck als ruhend angenommen wird. Vgl. Friedman (2013, 68).
4.4 Die ersten Schritte – Die Phoronomie und die Dynamik
231
teilt: Wir stellen uns die eine Bewegung als die des Punktes vor, die dieser relativ zum als Bezugssystem zugrunde gelegten Raum (den Kant hier als absoluten Raum bezeichnet⁸⁴) aufweist. Die zweite Bewegung wird nicht direkt dem Punkt zugesprochen, sondern wird als Bewegung eines ihn umgebenden Raumes, den Kant hier als empirischen Raum bezeichnet, in entgegengesetzter Richtung (relativ zum als Bezugssystem zugrunde gelegten Raum) interpretiert. Die Gesamtbewegung, die der Punkt relativ zu dem sich bewegenden empirischen Raum aufweist, kann dann aufgefasst werden als die aus diesen beiden Bewegungen kombinierte Bewegung.⁸⁵ Dieses in der reinen Anschauung konstruierbare Additionsverfahren ist die Ausgangsbasis, auf der die weiteren Schichten des Materie-Begriffes, die einen empirischen Gehalt in den Begriff der Materie einbringen, aufbauen.
4.4.2 Der Übergang zum empirischen Materie-Begriff: Die Einführung der Grundkräfte der Materie in der Dynamik In der Anmerkung zu Erklärung 4 der Phoronomie weist Kant darauf hin, dass die Konstruktion des in der Phoronomie betrachteten Bewegungsbegriffes a priori vollzogen werden soll. Für den Zusammenhang der Phoronomie mit den weiteren Kapiteln ist die Erläuterung dieser Forderung von großer Bedeutung: Zur Konstruktion der Begriffe wird erfordert: daß die Bedingung ihrer Darstellung nicht von der Erfahrung entlehnt sei, also auch nicht gewisse Kräfte voraussetze, deren Existenz nur von der Erfahrung abgeleitet werden kann, oder überhaupt, daß die Bedingung der Konstruktion nicht selbst ein Begriff sein müsse, der gar nicht a priori in der Anschauung gegeben werden kann, wie z. B. der von Ursache und Wirkung, Handlung und Widerstand etc. (MAN, AA 4: 486 f.)
S.o., Fn. 83 in diesem Kapitel. Kant geht dieses Verfahren in drei Fällen durch (MAN, AA 4: 490 ff.), wobei die drei Fälle jeweils einer der Kategorien der Quantität entsprechen sollen, deren Anwendung auf den MaterieBegriff in der Phoronomie erfolgen soll (MAN, AA 4: 495). Der erste Fall ist der der Kombination zweier Bewegungen, die in derselben Richtung verlaufen (Kategorie der Einheit), der zweite Fall ist der der Kombination zweier Bewegungen, die in genau entgegengesetzter Richtung verlaufen (Kategorie der Vielheit) und der dritte Fall ist der der Kombination zweier Bewegungen, die einen beliebigen Winkel einschließen (Kategorie der Allheit). Auf die Frage, inwiefern diese Zuordnungen zu den Kategorien der Quantität inhaltlich nachvollziehbar sind, kann ich hier nicht eingehen. Siehe hierzu Friedman (2013, sect. 7).
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
Wir werden nun sehen, dass die hier formulierte Bedingung für eine a priori vollzogene Konstruktion gerade von den folgenden Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe nicht mehr erfüllt wird, sodass wir also dort keine weiteren mathematische Konstruktionen im strengen Sinne vorfinden können: Im DynamikKapitel wird in der ersten Erklärung der Materie eine Zurückstoßungskraft als grundlegendes Merkmal zugesprochen und im weiteren Verlauf des Kapitels kommt mit der Anziehungskraft eine weitere Grundkraft hinzu. In der ersten Erklärung der Mechanik wird das Merkmal der mechanischen Kraft hinzugefügt, einer bewegenden Kraft, die ein Körper aufgrund seiner eigenen Bewegung auf einen anderen Körper ausüben kann. All dies kann Kants Auskunft nach nicht als Grundlage einer mathematischen Konstruktion dienen. Wie sich zeigen wird, erklärt sich der mathematische Gehalt der in diesen Kapiteln thematisierten Teilbegriffe des Begriffes der Materie dadurch, dass sich die in den Kapiteln vorgenommenen Untersuchungen zurückbeziehen auf die mathematische Konstruktion, die in der Phoronomie stattgefunden hat. In der ersten Erklärung der Dynamik wird das empirische Merkmal der Raumerfüllung eingeführt, das, wie wir oben gesehen haben, Kant zufolge Teil der Bedeutung des Materie-Begriffes ist: Materie ist das Bewegliche, sofern es einen Raum erfüllt. Einen Raum erfüllen, heißt allem Beweglichen widerstehen, das durch seine Bewegung in einen gewissen Raum einzudringen bestrebt ist. (MAN, AA 4: 496)
Raumerfüllung wird hier erläutert als Widerstand gegen eine eindringende Bewegung, wodurch der Rückbezug zum Ergebnis der Phoronomie und zugleich die Einführung einer Zurückstoßungskraft deutlich gemacht werden kann: Im folgenden Lehrsatz 1 hält Kant fest, dass der Widerstand gegen eine eindringende Bewegung „durch eine besondere bewegende Kraft“ erfolgen muss (MAN, A 4: 497), die später genauer als Zurückstoßungskraft bezeichnet wird. Die Grundüberlegung des Beweises dieses Lehrsatzes besteht darin, dass der Widerstand gegen eine eindringende Bewegung in der Verminderung dieser Bewegung durch eine Gegenbewegung bestehen muss. Hier wird der Bezug zur Phoronomie deutlich, denn in der Phoronomie wurde anhand einer mathematischen Konstruktion gezeigt, wie eine Bewegung durch Addition einer Gegenbewegung in gewisser Weise getilgt werden kann.⁸⁶ Der Gedanke, der nun noch hinzukommt, besteht darin, dass diese Gegenbewegung auf eine Ursache zurückgehen muss, die Kant als eine Zurückstoßungskraft bestimmt, die der Materie – als etwas Undurch-
Vgl. Friedman (2013, 113).
4.4 Die ersten Schritte – Die Phoronomie und die Dynamik
233
dringlichem – wesentlich zukommen muss.⁸⁷ Die Zurückstoßungskraft materieller Körper, die von allen Teilen dieser Körper ausgeht, bezeichnet Kant schließlich als Ausdehnungskraft (MAN, AA 4: 499). Der Begriff der Undurchdringlichkeit setzt also den Begriff einer Ausdehnungskraft voraus, bei dem es sich um einen empirischen Begriff handelt.⁸⁸ Durch Hinzufügung des Merkmals der Undurchdringlichkeit haben wir somit den Übergang zum empirischen Teil des Materie-Begriffes vollzogen, der aber dennoch, durch den zugrundegelegten mathematischen Begriff der Bewegung, mit dem in der Phoronomie behandelten apriorischen Teil eng verwoben ist.⁸⁹ Als zweite Grundkraft der Materie wird in Lehrsatz 5 der Dynamik die Anziehungskraft eingeführt, die diesem Lehrsatz zufolge ebenfalls für die Möglichkeit von Materie notwendig ist (MAN, AA 4: 508). Kant argumentiert in dem Beweis des Lehrsatzes dafür, dass die erste Grundkraft, die Ausdehnungskraft, durch eine entgegengesetzte Kraft eingeschränkt werden muss, da sich die Materie sonst „ins Unendliche zerstreuen“ würde, was zur Folge hätte, dass die Dichte der Materie gegen Null ginge, sodass letztlich „alle Räume leer, mithin eigentlich gar keine Materie dasein“ würde (MAN, AA 4: 508). Die Idee besteht also darin, dass die Anziehungskraft der Materie der Ausdehnungskraft, die von allen Teilen der Materie ausgeht und diese auseinandertreibt, Einhalt gebietet und dass es durch die letztlich wechselseitige Einschränkung der Grundkräfte möglich wird, dass Materie einen Raum in einem bestimmten Grad, der der Dichte der Materie entspricht, erfüllt. Dieser Punkt wird im Allgemeinen Zusatz zur Dynamik verdeutlicht, in dem Kant den Zusammenhang des Inhalts der Dynamik mit den drei Qualitäts-Kategorien erörtert: Wenn wir nach allen Verhandlungen derselben [der Dynamik] zurücksehen, so werden wir bemerken: daß darin zuerst das R e e l l e im Raume (sonst genannt das Solide), in der Erfüllung desselben durch Zurückstoßungskraft, zweitens das, was in Ansehung des ersteren, als des eigentlichen Objekts unserer äußeren Wahrnehmung, n e g a t i v ist, nämlich die
Im Hintergrund dieses Beweises steht Kants dynamische Konzeption der Materie, die er gegen die mathematisch-mechanische Konzeption ins Feld führt (siehe oben, Abschnitt 4.2.6). Die Debatte bezüglich dieser beiden Materie-Konzeptionen macht zwar in gewisser Weise einen der Hauptgegenstände des Dynamik-Kapitels aus, aber da in unserem Zusammenhang ein grundlegendes Verständnis des Dynamik-Kapitels ausreicht, spare ich diesen komplexen Punkt hier aus. Siehe zu diesem Punkt ausführlich Warren (2001, Kap. 3). Siehe oben, Abschnitt 4.2.6. Wie Friedman (2013, 103 f.) anmerkt, kommt es in der Dynamik jedoch nicht direkt zu einer weiteren Anwendung von Mathematik. Insbesondere wird dort nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, die Quantifizierbarkeit der Grundkräfte thematisiert. Dies geschieht erst im Umweg über die Mechanik, in der der Begriff der Masse seine mathematische Struktur erhält, auf deren Grundlage dann erst die Quantifizierung der Grundkräfte möglich wird.
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Anziehungskraft, […] drittens die E i n s c h r ä n k u n g der ersteren Kraft durch die zweite und die daher rührende Bestimmung des Grades einer Erfüllung des Raumes in Betrachtung gezogen, mithin die Qualität der Materie unter den Titeln der Realität, Negation und Limitation, so viel es einer metaphysischen Dynamik zukommt, vollständig abgehandelt worden. (MAN, AA 4: 523)
Der Zusammenhang mit den Kategorien der Qualität besteht zunächst ganz allgemein darin, dass Kräfte intensive Größen darstellen und insofern unterschiedliche Grade aufweisen können (MAN, AA 4: 499). Kant ordnet dann außerdem die Ausdehnungskraft der Kategorie der Realität und die sie einschränkende Anziehungskraft der Kategorie der Negation zu. Wenn die Kräfte aufeinandertreffen, begrenzen sie sich gegenseitig, was eine Raumerfüllung in einem bestimmten Grad ermöglicht und der Kategorie der Limitation zugeordnet wird.
4.4.3 Die Verwobenheit der apriorischen und empirischen Elemente im geschichteten Materie-Begriff Wir haben nun gesehen, wie Kant seine Erörterung des Materie-Begriffes in der Phoronomie mit einer rein mathematischen Konstruktion beginnt und dann in der Dynamik eine empirische Bestimmung hinzufügt, die durch einen Rückbezug auf die Ergebnisse der Phoronomie mit der dort vorgenommenen mathematischen Konstruktion verknüpft wird. In der Mechanik wird die nächste Schicht auf den Begriff der Materie aufgetragen, wobei es in der Mechanik – anders als in der Dynamik – wieder zu einer expliziten Betrachtung der mathematischen Struktur des hinzugefügten Merkmales kommt. Insgesamt zeigt sich dadurch, wie geschickt Kant in seiner Analyse darauf abhebt, die innige Verwobenheit von empirischen und apriorischen Anteilen im Materie-Begriff herauszustellen. Der Materie-Begriff erweist sich hierdurch als idealer Grundbegriff für die metaphysischen Anfangsgründe der Physik, denn wie wir in Abschnitt 4.1.3 gesehen haben, sollen die metaphysischen Anfangsgründe gerade das Bindeglied zwischen Metaphysik und empirischer Wissenschaft sein. Dadurch, dass sich schon im Begriff der Materie die apriorischen und empirischen Bestandteile als eng miteinander verwoben zeigen, wird zumindest ansatzweise deutlich, wie die metaphysischen Anfangsgründe die ihnen zukommende Übergangsrolle ausfüllen können. In der auf die Dynamik folgenden Mechanik wird es im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit nun besonders interessant, denn dort stehen die drei sogenannten Sätze der Mechanik im Vordergrund, die Kant durch die Anwendung
4.5 Die Mechanik
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der Analogien der Erfahrung auf den Begriff der Materie zu beweisen beansprucht. Wie zu Beginn dieses Kapitels hervorgehoben, suchen wir nach einer Möglichkeit, wie Kant empirische Naturgesetze als besondere Bestimmungen der Grundsätze des Verstandes auffassen kann beziehungsweise wie die empirischen Gesetze unter den Gesetzen des Verstandes stehen können. Es besteht die Hoffnung, dass die drei Gesetze der Mechanik ein Schritt in die richtige Richtung sind, denn da es sich bei ihnen um Anwendungen der Analogien der Erfahrung auf einen empirischen Begriff handelt, können sie als besondere Bestimmungen dieser drei Grundsätze verstanden werden. Allerdings steht auch fest, dass dies die Ausgangsfrage noch nicht ganz beantworten kann, denn als Teil der besonderen Metaphysik handelt es sich bei den drei Gesetzen der Mechanik um synthetische Urteile a priori. Inwiefern auch noch konkretere, empirische Naturgesetze als unter den Gesetzen des Verstandes stehend eingesehen werden können, muss daher noch in einem zweiten Schritt eingesehen werden. Hierauf werden wir in Abschnitt 4.6 ausführlich zurückkommen.Wenden wir uns jedoch zunächst der Mechanik zu.
4.5 Die Mechanik 4.5.1 Bewegungsmitteilung und Masse Zu Beginn der Mechanik führt Kant einen weiteren Begriff der bewegenden Kraft ein. Dieser deutet sich bereits in der ersten Erklärung der Mechanik an: Materie ist das Bewegliche, so fern es, als ein solches, bewegende Kraft hat. (MAN, AA 4: 536)
Kant bezeichnet die zuvor in der Dynamik abgehandelte Grundkraft der Zurückstoßung als „eine ursprünglich-bewegende Kraft, um Bewegung zu erteilen“ (ebd.). Davon grenzt er nun diejenige bewegende Kraft, die das Thema der Mechanik sein soll und die auch in der ersten Erklärung der Mechanik thematisiert wird, ab: „[D]agegen wird in der Mechanik die Kraft einer in Bewegung gesetzten Materie betrachtet, um diese Bewegung einer andern mitzuteilen.“ (ebd.) Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass die Zurückstoßungskraft als dynamische Kraft auch von einem unbewegten Körper ausgehen kann, während die mechanische Kraft verstanden werden soll als diejenige Kraft, die ein Körper durch seine eigene Bewegung einem anderen Körper mitteilt.⁹⁰ Die erste Erklärung
Vgl. Pollok (2001b, 389).
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
führt also dem Begriff der Materie eine neue Bestimmung hinzu, die darin besteht, dass Materie durch eigene Bewegung einer anderen Materie Bewegung mitteilen kann. Zugleich betont Kant aber den engen Zusammenhang zwischen der mechanischen Kraft und den dynamischen Grundkräften: Ein beweglicher Körper kann Kant zufolge nur dadurch bewegende Kraft haben, dass er auch über die Grundkräfte verfügt (MAN, AA 4: 536). Dies kann man sich tatsächlich leicht vergegenwärtigen: Der Aufprall eines Körpers auf einen anderen kann letzteren nur dadurch in Bewegung versetzen, dass ersterer (und tatsächlich auch letzterer) durch seine ursprüngliche Zurückstoßungskraft einen Raum erfüllt, wobei nach Lehrsatz 5 der Dynamik gilt, dass für die Raumerfüllung darüber hinaus eine gegengerichtete Anziehungskraft notwendig ist. So wie die Dynamik auf die Phoronomie aufgebaut hat, baut also auch die Mechanik auf die Dynamik auf. In Erklärung 2 führt Kant dann den Begriff der Quantität der Materie ein: Die Quantität der Materie ist die Menge des Beweglichen in einem bestimmten Raum. (MAN, AA 4: 537)
An dieser Stelle wird deutlich, dass es in der Mechanik, wie schon in der Phoronomie, um die Bestimmung eines quantifizierbaren Maßes geht: Während es in der Phoronomie um (gerichtete) Geschwindigkeit ging, die als das Maß des Grades der Bewegung eines mathematischen Punktes aufgefasst wurde⁹¹, bezieht sich das hier eingeführte Maß auf das bewegliche Objekt, von dem in der Phoronomie noch weitestgehend abstrahiert wurde. Der zur Größenbestimmung der Materie eingeführte Begriff der Quantität der Materie steht dabei in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff der Masse. In Erklärung 2 liefert Kant folgende Begriffsbestimmungen: [Die Quantität der Materie], so fern alle ihre Teile in ihrer Bewegung als zugleich wirkend (bewegend) betrachtet werden, heißt die Masse, und man sagt, eine Materie wirke in Masse, wenn alle ihre Teile in einerlei Richtung bewegt außer sich zugleich ihre bewegende Kraft ausüben. (MAN, AA 4: 537)
Die Masse eines Körpers ist also die Quantität seiner Materie, sofern alle Teile des Körpers, die die Quantität seiner Materie ausmachen, zugleich durch ihre Bewegung in derselben Richtung wirken. „Hier ist nun vorzüglich zu bemerken: daß Phoronomie durchaus zuerst Konstruktion der Bewegungen überhaupt als Größen, und […] diese Bewegungen allein als Größen, so wohl ihrer Geschwindigkeit als Richtung nach, und zwar ihrer Zusammensetzung nach a priori zu bestimmen habe.“ (MAN, AA 4: 487)
4.5 Die Mechanik
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Da Kant mit den Metaphysischen Anfangsgründen unter anderem das Ziel verfolgt, die Anwendbarkeit der Mathematik auf die empirische Welt zu erklären, geht es ihm an dieser Stelle entsprechend darum, eine Möglichkeit zu finden, die Quantität einer Materie in einem Raum zu bestimmen. Dabei geht es ihm zunächst um die Frage, wie die Quantität zweier Materien miteinander verglichen werden kann. Das Problem beim Vergleich der Quantität von verschiedenen Materien besteht darin, dass Kant zufolge Materie unendlich teilbar ist⁹², sodass die Möglichkeit, die Quantität der Materie durch die Anzahl ihrer Teile zu bestimmen, von vornherein ausscheidet: Die Anzahl der Teile ist immer unendlich. Daher hält Kant in Lehrsatz 1 fest: Die Quantität der Materie kann in Vergleichung mit jeder anderen nur durch die Quantität der Bewegung bei gegebener Geschwindigkeit geschätzt werden. (MAN, AA 4: 537)⁹³
Es stellt sich hier natürlich die Folgefrage, was Kant unter der Quantität der Bewegung versteht. Auch in der Phoronomie war von der Quantität der Bewegung die Rede, worunter Kant dort die Geschwindigkeit einer Bewegung verstanden hat. Hier wird jedoch gerade betont, dass die Quantität zweier Bewegungen bei gleicher Geschwindigkeit verglichen werden soll, was darauf hindeutet, dass es hier um einen anderen Begriff der Quantität der Bewegung geht. Einen Hinweis darauf, was Kant genau unter der Quantität der Bewegung versteht, erhalten wir dadurch, dass Kant hervorhebt, dass wir es bei der Quantität der Bewegung mit einem empirischen Kriterium für die Quantität der Materie zu tun haben: [Die] Quantität der Materie (die Menge des Beweglichen) beweist sich in der Erfahrung nur allein durch die Quantität der Bewegung bei gleicher Geschwindigkeit (z. B. durchs Gleichgewicht). (MAN, AA 4: 540)
Dies ist der Inhalt von Lehrsatz 4 der Dynamik (MAN, AA 4: 503). Die Betonung auf „mit jeder anderen“ erklärt sich dadurch, dass Kant im Beweis des Lehrsatzes ausführt, dass bei Materien, die gleichartig sind, die Quantität einfach durch den Vergleich der Größe des eingenommenen Volumens (bei gleichem Druck) verglichen werden kann. (MAN, AA 4: 537 f.) Der Lehrsatz soll sich aber auf den allgemeinen Fall beziehen, der den Vergleich ungleichartiger Materien einschließt. Ungleichartige Materien unterscheiden sich insbesondere durch die ihnen spezifische Ausdehnungskraft, was dazu führt, dass sie sich unter demselben Druck und bei gleichem Volumen dennoch hinsichtlich der Quantität unterscheiden können, da die eine Materie unter diesen Bedingungen eine höhere Dichte aufweist als die andere. Vgl. Friedman (2013, 284).
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Das Beispiel des Gleichgewichts deutet dabei an, dass wir die Quantität der Bewegung durch die Auswirkungen dieser Bewegungen ermessen können, die sich insbesondere als die Wirkungen von bewegenden Kräften auffassen lassen: Wenn ein Körper auf einer Waage mit einem anderen im Gleichgewicht ist, dann ist die bewegende Kraft, die beide jeweils auf eine Waagschale ausüben, gleich groß.⁹⁴ Insofern kann die in der ersten Erklärung eingeführte mechanische Kraft als Maß
Das Beispiel des Wiegens, das Kant an dieser Stelle anstelle der Bestimmung der Quantität der Materie durch Stoß einführt, ist auf den ersten Blick etwas verwirrend, da es sich beim Wiegen um einen Vorgang zu handeln scheint, der gerade nicht mechanischer, sondern dynamischer Natur ist: Beim Vergleich des Gewichtes zweier Körper anhand einer Hebelwaage scheinen gerade nicht diejenigen bewegenden Kräfte der Körper relevant zu sein, die diese durch ihre eigene Bewegung ausüben, denn die Situation des Gleichgewichtes einer Hebelwaage ist eine statische Situation. Statt dessen spielen hier offenbar die dynamischen Anziehungskräfte der beiden gewogenen Körper eine entscheidende Rolle. Diese Problemlage wird von Carrier (2001, 122 ff.) ausführlich analysiert und wie folgt aufgelöst: Kant weist zunächst darauf hin, dass die ursprüngliche Anziehungskraft als Maß der Quantität der Materie verwandt werden kann, da bei ihr als durchdringender Kraft „die Wirkung einer Materie mit allen ihren Teilen unmittelbar, auf alle Teile der anderen, geschieht“ (MAN, AA 4: 541), sie also (bei gleicher Entfernung) proportional zur Quantität der Materie ist. Als mechanisch kann der Vorgang des Wiegens dann durch eine Überlegung ausgezeichnet werden, die den Satz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung einbezieht: Beim Wiegen wirkt der gewogene Körper mit einer anziehenden Kraft, die proportional zu seiner eigenen Masse ist, auf die Erde ein. Aufgrund der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung erfährt der gewogene Körper aber eine Gegenanziehung durch die Erde, die ebenso groß ist, also auch proportional zu seiner eigenen Masse ist. Durch diese Gegenanziehung wird der Körper mit einer mechanischen Kraft ausgestattet, die er auf die Waagschale ausübt: Zwar bewegt sich der Körper im Fall des Gleichgewichts beim Wiegen nicht, sodass keine Kraftübertragung per Stoß stattfindet. Aber er wirkt per Druck auf die Waagschale, wobei es sich ebenfalls um eine mechanische Einwirkung handelt (vgl. Friedman 2013, 296). Die Mitteilung der Bewegung durch Druck wird neben der durch Stoß von Kant zu Beginn des Mechanik-Kapitels explizit als eines der in diesem Kapitel zu betrachtenden mechanischen Phänomene ausgezeichnet (MAN, AA 4: 537). Beim Wiegen wirkt also der gewogene Körper durch eine mechanische Kraft auf die Waagschale. Es ist diese Kraft, die beim Wiegen gemessen beziehungsweise mit der entsprechenden mechanischen Kraft eines anderen Körpers verglichen werden kann. Da sie proportional zur Quantität der Materie ist, eignet sie sich als Maß für die Quantität der Materie. In diesem Sinne weist Kant darauf hin, dass es sich beim Wiegen um eine Art der Bestimmung der Quantität der Materie handelt, die „obzwar nur indirekt, doch in der Tat mechanisch“ ist (MAN, AA 4: 541). Kant thematisiert das Verfahren des Wiegens zur Bestimmung der Masse nur beiläufig, was damit zusammenhängen könnte, dass ihm die Mittel zur vollständigen Beleuchtung des gerade beschriebenen Zusammenhanges an dieser Stelle des Mechanik-Kapitels noch gar nicht zur Verfügung stehen: Wie Carrier (2001, 130) betont, spielt bei der Charakterisierung des Wiegens als eines indirekt mechanischen Verfahrens der Satz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung eine tragende Rolle, der von Kant erst an späterer Stelle als vierter Lehrsatz der Mechanik eingeführt und bewiesen wird.
4.5 Die Mechanik
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für die Quantität der Materie verwendet werden. Entsprechend heißt es auch schon an einer vorherigen Stelle: „Wie die Quantität der Bewegung eines Körpers zu der eines anderen, so verhält sich auch die Größe ihrer Wirkung […].“ (MAN, AA 4: 539) Insgesamt gesehen geht es also in der Mechanik darum, mit der Quantität der Materie ein weiteres Maß zu bestimmen, das im Rahmen der Physik zentral ist. Da sich die Quantität der Materie nicht direkt – durch Zählen der Materie-Teile in einem Raum – bestimmen lässt, führt Kant das empirische Kriterium der Quantität der Bewegung einer Materie ein. Kant hält fest: Die Quantität der Bewegung der Körper ist in zusammengesetztem Verhältnis aus dem der Quantität ihrer Materie und ihrer Geschwindigkeit, d. i. es ist einerlei, ob ich die Quantität der Materie eines Körpers doppelt so groß mache, und die Geschwindigkeit behalte, oder ob ich die Geschwindigkeit verdoppele und eben diese Masse behalte. (MAN, AA 4: 538)
Die Quantität der Bewegung ist nach dieser Charakterisierung proportional zur Masse und zur Geschwindigkeit des sich bewegenden Körpers. Die Größe, die Kant mit „Quantität der Bewegung“ bezeichnet, lässt sich also darstellen als der Impuls, der das Produkt der Masse und der Geschwindigkeit eines Körpers ist.⁹⁵ Die drei folgenden Lehrsätze der Mechanik (Lehrsätze 2– 4) sind die sogenannten mechanischen Gesetze, denen insgesamt die Mitteilung von Bewegung unterliegt.⁹⁶ Sie sind in diesem Zusammenhang deshalb von zentraler Bedeutung,
Vgl. Carrier (2001, 118), Pollok (2001b, 393; 395) und Friedman (2013, 281). Das genaue Verhältnis zwischen Kants drei Gesetzen der Mechanik und Newtons drei Bewegungsgesetzen ist umstritten. Friedman hat ursprünglich ein sehr enges Verhältnis zwischen Newtons und Kants Gesetzen der Mechanik angenommen (siehe etwa 1992b, 136). Watkins (1997 und 1998a) hingegen betont die Unterschiede zwischen Kants und Newtons Gesetzen, die insbesondere darin bestehen, dass Kant mit dem ersten Gesetz der Mechanik einen Erhaltungssatz aufstellt, der in Newtons Bewegungsgesetzen keine Entsprechung hat, während Newtons zweites Bewegungsgesetz bei Kant nicht vorkommt (vgl. Watkins 1998a, 540). Vor diesem Hintergrund betont Watkins die Einflüsse der rationalistischen Tradition auf Kants Formulierung der drei Gesetze der Mechanik. Während Friedman ursprünglich (1992b, 168, Fn. 6) die Ansicht vertreten hat, dass Newtons zweites Gesetz in Kants drittem Gesetz der Mechanik enthalten ist (siehe hierzu die Kritik von Watkins 1998a, 540, Fn. 4), vertritt er inzwischen einen loseren Zusammenhang zwischen Newtons und Kants Gesetzen der Mechanik: Unter dem Eindruck von Argumenten von Watkins und der darauf aufbauenden Arbeit von Marius Stan (2013) hat er seine Position inzwischen dahingehend geändert, dass er Leibniz’ Einfluss auf die Formulierung von Kants Gesetzen der Mechanik anerkennt und daher nicht mehr von einer engen Korrespondenz zwischen Kants und Newtons Gesetzen ausgeht (Friedman 2013, xiv; 282, Fn. 15). Friedman betont jedoch, wie weiter unten deutlich werden wird, weiterhin eine enge Beziehung zwischen den Metaphysischen Anfangsgründen und Newtons Principia.
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weil sie der Größe der Quantität der Bewegung und damit indirekt auch der Größe der Quantität der Materie beziehungsweise der Masse eine mathematische Struktur verleihen.⁹⁷ Andererseits sind die drei Gesetze der Mechanik jeweils einer Kategorie der Relation untergeordnet. Insofern sind die drei Gesetze der Mechanik tief verankert im Projekt der Metaphysischen Anfangsgründe, das darin besteht, am Leitfaden der Kategorientafel die Anwendbarkeit der Mathematik auf die empirische Welt aufzuzeigen. Ich möchte im Folgenden kurz die Beweise der drei Gesetze der Mechanik skizzieren. Wie wir sehen werden, ist die Struktur dieser Beweise oberflächlich betrachtet sehr einfach, doch wenn es daran geht, einzelne Beweisschritte in ihrer ganzen Tiefe zu durchleuchten, gerät man schnell an die Grenze dessen, was auf nur wenigen Seiten darstellbar ist. Es wird mir daher vor allem darum gehen, die Grundidee der Beweise darzulegen und gegebenenfalls auf die Untiefen einiger Zwischenschritte aufmerksam zu machen. Der Hauptpunkt, den ich hier verdeutlichen möchte, besteht darin, dass es sich bei den drei Gesetzen der Mechanik um synthetische Urteile a priori handelt, die diesen Status deshalb besitzen, weil sie in einer näher zu bestimmenden Weise unter den drei Analogien der Erfahrung stehen beziehungsweise als Spezifizierungen der drei Analogien aufgefasst werden können.⁹⁸ Da diese Gesetze mit dem Begriff der Materie einen empirischen Begriff enthalten, wird also – obwohl es sich noch nicht um empirische Gesetze handelt – ganz im Sinne der Zitate aus der A- und B-Deduktion, mit denen ich dieses Kapitel eingeleitet habe, an diesen Gesetzen deutlich, wie Kant sich die ersten Verbindungsstücke zwischen der apriorischen Struktur des Verstandes und empirischen Gesetzen vorstellt.
Vgl. Friedman (2013, 291). Es liegt der Einwand nahe, dass es sich bei den mechanischen Gesetzen nach dieser Rekonstruktion der Struktur ihrer Beweise nicht um synthetische Urteile a priori handelt, da die Analogien zwar synthetische Prinzipien a priori sind, hier jedoch anhand eines empirischen Begriffes spezifiziert werden. Wie wir jedoch bereits oben in Abschnitt 4.2.7 gesehen haben, sind die Erklärungen der Metaphysischen Anfangsgründe, in denen die Merkmale des Begriffes der Materie festgehalten sind, Kant zufolge als analytische Urteile a priori aufzufassen. Insofern werden die Analogien anhand von analytischen Urteilen a priori spezifiziert, sodass die resultierenden Gesetze der Mechanik auch als Prinzipien a priori gelten. Wie wir später noch genauer sehen werden, unterscheiden sich empirische Naturgesetze, die nicht a priori gelten, von den Gesetzen der Mechanik dadurch, dass in ihre Herleitung empirische Informationen eingehen, die über den Gehalt des Begriffes der Materie hinausgehen.
4.5 Die Mechanik
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4.5.2 Das erste Gesetz der Mechanik: Die Beharrlichkeit der Materie Zu Beginn eines jeden der Beweise der drei Gesetze der Mechanik zitiert Kant eine der drei Analogien der Erfahrung aus der Kritik der reinen Vernunft. Die Beweise zumindest der ersten beiden Gesetze der Mechanik bestehen dann im Wesentlichen darin, dass Kant die jeweilige Analogie auf den empirischen Begriff der Materie anwendet und so ein Gesetz der Mechanik erhält, das als Spezifizierung der entsprechenden Analogie anhand des empirischen Begriffes der Materie betrachtet werden kann. Betrachten wir zunächst das erste Gesetz der Mechanik, das Kant wie folgt formuliert: Bei allen Veränderungen der körperlichen Natur bleibt die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert. (MAN, AA 4: 541)
Wir haben es hier mit einem Erhaltungssatz zu tun. Bei der Größe, die dem Satz zufolge stets erhalten bleibt, handelt es sich um die Quantität der Materie. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass dieser Satz der ersten Analogie der Erfahrung sehr stark ähnelt, bei der es sich ebenfalls um einen Erhaltungssatz, wenn auch allgemeinerer Art handelt. Kant beginnt den Beweis des ersten Gesetzes der Mechanik entsprechend auch damit, dass er die erste Analogie explizit als Voraussetzung des Beweises anführt: (Aus der allgemeinen Metaphysik wird der Satz zum Grunde gelegt, daß bei allen Veränderungen der Natur keine Substanz weder entstehe noch vergehe […]). (MAN, AA 4: 541)⁹⁹
Hierbei handelt es sich um einen allgemeinen Substanzerhaltungssatz, in dem nichts darüber ausgesagt ist, welcher Art die Substanz, die erhalten wird, genau ist. Offenbar zielt Kant darauf ab, die erste Analogie der Erfahrung nun anhand des empirischen Begriffes der Materie dadurch zu spezifizieren, dass er den Materie-Begriff für den Substanz-Begriff substituiert, wie er noch im selben Satz, in dem er die erste Analogie als Voraussetzung formuliert, ankündigt:
Dies entspricht ziemlich genau der Formulierung der ersten Analogie in der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.“ (KrV, B 224) Die Tatsache, dass Kant die Formulierung in der B-Auflage im Vergleich zur A-Auflage abgeändert und damit offenbar der Formulierung, die er in den Metaphysischen Anfangsgründen verwendet, angeglichen hat, unterstreicht die Relevanz der ersten Analogie für den Beweis des ersten Gesetzes der Mechanik. Vgl. Friedman (2013, 315, Fn. 61).
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[…] und hier wird nur dargetan, was in der Materie die Substanz sei. (MAN, AA 4: 541)
Die intendierte Beweisstruktur tritt schon hier deutlich zu Tage und die folgende Umsetzung des Vorhabens nimmt tatsächlich auch die antizipierte Form an: Kant identifiziert das Bewegliche im Raum als „das letzte Subjekt aller der Materie inhärierenden Akzidenzen“ (MAN, AA 4: 541 f.), was bedeutet, dass das Bewegliche im Raum dasjenige ist, was als Substanz ausgezeichnet werden kann.¹⁰⁰ Als die Menge dieser Substanz bestimmt er dann „die Menge dieses Beweglichen [im Raume] außerhalb einander“ (MAN, AA 4: 542). Hierbei handelt es sich um das, was Kant zuvor bereits als die Quantität der Materie bezeichnet hat (MAN, AA 4: 539). Die Quantität der Materie ist also nach Kants Konzeption die Menge der materiellen Substanz, und da nach der ersten Analogie allgemein gilt, dass Substanz weder vergeht noch entsteht, in der Menge also stets gleich bleibt, gilt dies insbesondere auch für die materielle Substanz, sodass folgt, dass die Quantität der Materie konstant bleiben muss.¹⁰¹
Kant greift an dieser Stelle massiv auf Ergebnisse aus dem Dynamik-Kapitel zurück, vor allem auf die Erklärung 5 („Materielle Substanz ist dasjenige im Raume, was für sich, d. i. abgesondert von allem anderen, was außer ihm existiert, beweglich ist.“ MAN, AA 4: 502), die folgende Anmerkung sowie den darauf folgenden Lehrsatz 4 inklusive Beweis und Anmerkung 1, die eine Auseinandersetzung mit einer alternativen, monadistischen Materie-Konzeption enthält, welche Kant selber in seiner vorkritischen Phase vertreten hat. Siehe hierzu Friedman (2013, 143 ff. und 313 ff.). Die Details dieses Argumentes sind wesentlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Damit das Argument in der hier skizzierten Form erfolgreich ist, muss Kant insbesondere zeigen, inwiefern die Erhaltung der Quantität der Materie im hier behandelten Sinne tatsächlich genau die Rolle spielen kann, die Kant der Substanzerhaltung in seinem Argument für die erste Analogie der Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft (KrV A 182 ff. / B 224 ff.) zuweist. Dort stellt Kant die Beharrlichkeit der Substanz als eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit heraus, dass diese Substanz als Substrat der Zeitbestimmung fungieren kann. Eines der Probleme besteht darin, dass Kant an den Stellen in der Dynamik, auf die er im Beweis des ersten Gesetzes der Mechanik zurückgreift, Materie als Substanz im Sinne der unschematisierten Kategorie verwendet („Der Begriff der Substanz bedeutet das letzte Subjekt der Existenz, d. i. dasjenige, was selbst nicht wiederum bloß als Prädikat zur Existenz eines anderen gehört.“ MAN, AA 4: 503; vgl. Friedman 2013, 144), während in der dritten Analogie gerade die Beharrlichkeit der Substanz im Vordergrund steht, was der schematisierten Kategorie der Substanz entspricht („Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit […].“ KrV, A 144 / B 183). Was Kant also insbesondere zeigen muss ist, dass das Bewegliche im Raume, weil es Substanz im Sinne der unschematisierten Kategorie ist, auch Substanz im Sinne der schematisierten Kategorie ist, also beharrt. Damit der Beweis des ersten Gesetzes der Mechanik auf der Grundlage der ersten Analogie gelingt, muss dies insbesondere darauf zurückgeführt werden, dass Materie als das Bewegliche im Raum nur dadurch das Substrat der Zeitbestimmung sein kann, dass die Quantität der Materie stets erhalten bleibt. Siehe hierzu ausführlich Friedman (2013, 314 ff.).
4.5 Die Mechanik
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Der Beweis besteht offenbar in einer Anwendung der ersten Analogie der Erfahrung auf den empirischen Begriff der Materie beziehungsweise in einer Spezifizierung der ersten Analogie anhand des Begriffes der Materie.¹⁰²
Ich möchte mich hiermit explizit nicht darauf festlegen, dass dies die Struktur der Beweise in allen Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe ist. Wie Eric Watkins hervorgehoben hat, ist es beispielsweise unplausibel, Kant im Dynamik-Kapitel so zu verstehen, dass er den Materie-Begriff in das Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung hineinsubstituiert (Watkins 1998b, 574). Meines Erachtens ist damit aber durchaus vereinbar, dass Kant im Mechanik-Kapitel die Analogien der Erfahrung als Prämissen verwendet. Das ungleiche Vorgehen in den einzelnen Kapiteln lässt sich etwa dadurch begründen, dass es im Abschnitt über die Antizipationen der Wahrnehmung nur ein einziges Prinzip gibt, das allen drei Qualitäts-Kategorien gemeinsam zugeordnet ist, während im Abschnitt über die Analogien der Erfahrung Kants Erarbeitung von Verstandesgrundsätzen spezifischer wird und es hier mit den Analogien der Erfahrung drei Grundsätze gibt, die jeweils einer der Kategorien der Relation zugeordnet sind. Während es also im Fall der Qualitäts-Kategorien gar nicht möglich ist, über das entsprechende Prinzip einen solchen Bogen zu den entsprechenden Kategorien des Titels zu schlagen, der spezifisch genug wäre, um eine Verbindung zu jeder einzelnen Kategorie herzustellen, bieten die Analogien der Erfahrung genau diese Möglichkeit an. Und Kant möchte genau diese Möglichkeit nutzen. Ein weiterer Einwand von Watkins besteht darin, dass eine bloße Spezifizierung der Analogien der Erfahrung (oder der anderen Prinzipien) anhand eines empirischen Begriffes dazu führen würde, dass die Gesetze der Mechanik, bei denen es sich Kant zufolge um synthetische Urteile a priori handeln soll, bloß kontingent wären (1998b, 576). Mit diesem Punkt haben wir uns jedoch oben schon ausführlich beschäftigt: Wie wir in Abschnitt 4.2.7 anhand einer Parallele zu Kants Konzeption analytischer Urteile gesehen haben, ist die Voraussetzung eines empirischen Gehaltes nach Kant durchaus damit vereinbar, dass die resultierenden Gesetze a priori und entsprechend auch mit apodiktischer Gewissheit gelten, wenn auch nur relativ zu einem vorausgesetzten empirischen Begriff. Der in meinen Augen bedeutendste von Watkins’ Einwänden greift die These an, dass Kant sich die Anwendung der Prinzipien auf den Begriff der Materie so vorstellt, dass der Begriff der Materie in die Prinzipien hineinsubstituiert wird. Watkins’ Einwand besteht darin, dass diese Substitution etwas Willkürliches an sich habe, denn der Begriff der Materie entspräche nicht immer in einer unmittelbar einsichtigen Weise dem Begriff, für den er eingesetzt wird. Hier weist Watkins meines Erachtens auf einen Punkt hin, der größere Beachtung verdient: Tatsächlich wäre die Substitution des Materie-Begriffes in die Analogien problematisch, wenn Kant keine Argumente dafür vorbringen würde, warum der Materie-Begriff in die Analogien substituiert werden darf und warum gerade an bestimmten Stellen. Insbesondere im Fall des ersten Gesetzes der Mechanik lässt sich meines Erachtens jedoch zeigen, dass Kant zumindest beansprucht, ein Argument dafür zu geben, dass der Materie-Begriff an der Stelle in die erste Analogie eingesetzt werden darf, an der er eingesetzt wird: Wie Kant durch die Formulierung „und hier wird nur dargetan, was in der Materie Substanz sei“ (MAN, AA 4: 541) ankündigt, argumentiert er dafür, dass Materie als das Bewegliche im Raum als Substanz im Sinne der ersten Analogie aufgefasst werden kann. Wie ich bereits oben in Fn. 100 und 101 in diesem Kapitel dargelegt habe, ist dieses Argument komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint und greift unter anderem auf Ergebnisse der Dynamik zurück. Ich möchte hier nur darauf verweisen, dass selbst in dem Fall, dass
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
4.5.3 Das zweite Gesetz der Mechanik: Die Trägheit der Materie Beim zweiten Gesetz der Mechanik handelt es sich um einen Trägheitssatz: Alle Veränderung der Materie hat eine äußere Ursache. (Ein jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder Bewegung, in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit, wenn er nicht durch eine äußere Ursache genötigt wird, diesen Zustand zu verlassen.) (MAN, AA 4: 543)
Vollkommen analog zum Beweis des ersten Gesetzes der Mechanik führt Kant die entsprechende Analogie der Erfahrung – hier die zweite Analogie – als Grundprämisse an. Er grenzt außerdem ein, was vor dem Hintergrund dieser Prämisse an dieser Stelle noch zu zeigen bleibt: (Aus der allgemeinen Metaphysik wird der Satz zum Grunde gelegt, daß alle Veränderung eine Ursache habe; hier soll von der Materie nur bewiesen werden, daß ihre Veränderung jederzeit eine äußere Ursache haben müsse). (MAN, AA 4: 543)
Wir haben im Zusammenhang mit dem ersten Gesetz der Mechanik bereits gesehen, dass Kant Materie als dasjenige auszeichnet, was in Bezug auf die Gegenstände der äußeren Sinne die Substanz ausmacht. Zu den Ergebnissen des Abschnittes über die erste Analogie der Erfahrung gehört, dass Veränderungen immer darin bestehen, dass Substanzen ihre Zustände ändern.¹⁰³ Insofern liegt an der hier betrachteten Stelle klar auf der Hand, dass die zweite Analogie, wenn sie auf die Gegenstände der äußeren Sinne bezogen wird, auf die Veränderung von Materie bezogen werden muss. Die Einsetzung des Materie-Begriffes an dieser Stelle der zweiten Analogie ist also wohlmotiviert: Wenn jede Veränderung einer Substanz eine Ursache hat und Materie Substanz ist, dann hat jede Veränderung von Materie eine Ursache.¹⁰⁴
sich das Argument in einer tieferen Analyse letztlich als nicht überzeugend herausstellen sollte, Kants expliziter Meta-Kommentar über das Vorgehen zu Beginn des ersten Gesetzes der Mechanik uns (entgegen Watkins’ Auslegung) ziemlich unmissverständlich auf eine Lesart festlegt, nach der Kant zumindest beansprucht zu zeigen, dass die Quantität der Materie der Quantität der materiellen Substanz entspricht und deshalb die Einsetzung in die erste Analogie der Erfahrung gerechtfertigt ist. „Daß alle Erscheinungen der Zeitfolge insgesamt nur Ve r ä n d e r u n g e n , d. i. ein sukzessives Sein und Nichtsein der Bestimmungen der Substanz sind, die da beharrt, […] hat [die erste Analogie der Erfahrung] dargetan.“ (KrV, B 232 f.) Ich kann daher Watkins nicht folgen, der die Willkürlichkeit der vorgenommenen Substitution dadurch verdeutlichen möchte, dass er eine alternative Substitution für denkbar erklärt: „It
4.5 Die Mechanik
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Es bleibt die von Kant selbst als noch zu begründen hervorgehobene Einschränkung der Ursachen auf äußere Ursachen zu klären. Kants Begründung für diesen Schritt fällt im Beweis zunächst denkbar knapp aus: Diese Ursache [die Ursache der Veränderung von Materie] aber kann nicht innerlich sein, denn die Materie hat keine schlechthin innere Bestimmungen und Bestimmungsgründe. (MAN, AA 4: 543)
In der zugehörigen Anmerkung wird jedoch deutlicher, was Kant unter der von ihm abgelehnten Alternative, dass Materie über eine innere Ursache verfügt, genauer versteht und warum er sie ablehnt: Die Trägheit der Materie ist und bedeutet nichts anders, als ihre Leblosigkeit, als Materie an sich selbst. Leben heißt das Vermögen einer Substanz sich aus einem inneren Prinzip zum Handeln […], als Veränderung ihres Zustandes, zu bestimmen. Nun kennen wir kein anderes inneres Prinzip einer Substanz, ihren Zustand zu verändern, als das Begehren, und überhaupt keine andere innere Tätigkeit, als Denken, mit dem, was davon abhängt, Gefühl der Lust oder Unlust und Begierde oder Willen. Diese Bestimmungsgründe aber und Handlungen gehören gar nicht zu den Vorstellungen äußerer Sinne und also auch nicht zu den Bestimmungen der Materie als Materie. (MAN, AA 4: 544)
Die Alternative zu einer äußeren Ursache ist eine innere Ursache, deren Möglichkeit daran gebunden ist, dass das wirkende Objekt über geistige Vermögen verfügt, insbesondere ein Begehrungsvermögen, das als die Ursache der Veränderung aufgefasst werden könnte. Für Kant scheint diese Möglichkeit in Bezug auf Materie nicht in Betracht zu kommen. Die Begründung, die darin besteht, dass diese Vermögen nicht zu den Vorstellungen äußerer Sinne gehören, kann vor dem Hintergrund der obigen Ergebnisse aus Abschnitt 4.2 so verstanden werden: Der Begriff der Materie ist ein empirisch entstandener Begriff. Da er der allgemeinste Begriff in Bezug auf die Gegenstände der äußeren Sinne ist und wir ein Begehrungsvermögen nicht durch äußere Sinne wahrnehmen können, kann es sich bei Lebendigkeit nicht um ein Merkmal des empirisch gegebenen Begriffes der Materie handeln. Um Materie die Eigenschaft der Lebendigkeit zuzusprechen, müssten wir ihr diese grundlos hinzudichten, denn aus der Erfahrung kann Lebendigkeit uns nicht als Eigenschaft der Materie bekannt sein. Kant geht sogar offenbar noch einen Schritt weiter: Ihm zufolge gehört die Eigenschaft der Leblosigkeit sogar zu den Merkmalen des Begriffes der Materie,
might seem equally natural to substitute matter for the following principle: ,Every change has a material cause.‘“ (Watkins 1998b, 571, Fn. 16.)
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
der den Metaphysischen Anfangsgründen zugrunde liegt. Dies wird an einer Stelle aus der Kritik der Urteilskraft besonders deutlich, an der Kant klarstellt: Aber die Möglichkeit einer lebenden Materie (deren Begriff einen Widerspruch enthält, weil Leblosigkeit, inertia, den wesentlichen Charakter derselben ausmacht) läßt sich nicht einmal denken […]. (KU, AA 5: 394)¹⁰⁵
Wir haben außerdem bereits oben, in Abschnitt 4.2.3 gesehen, dass Kant Trägheit (MAN, AA 4: 472) beziehungsweise Leblosigkeit (KrV, A 848 / B 876) zu den Merkmalen des Begriffes der Materie zählt. Das Zitat aus der Kritik der Urteilskraft, nach dem der Begriff einer lebenden Materie einen Widerspruch enthält, unterstreicht diesen Punkt mit aller Deutlichkeit: Der Satz, dass Materie leblos ist, ist ein analytisch wahrer Satz. Für Kant steht also fest, dass Materie über keine innere Ursächlichkeit verfügt und daher Veränderungen der Materie – da sie nach der zweiten Analogie stets verursacht sein müssen – immer auf eine äußere Ursache zurückgehen. Dies entspricht gerade dem zweiten Gesetz der Mechanik.¹⁰⁶
4.5.4 Das dritte Gesetz der Mechanik: Die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung Beim dritten Gesetz der Mechanik ist die intendierte Beweisstruktur nicht ganz so einfach zu erkennen, wie bei den anderen beiden Gesetzen der Mechanik. Bei dem Gesetz handelt es sich um ein Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung: In aller Mitteilung der Bewegung sind Wirkung und Gegenwirkung einander jederzeit gleich. (MAN, AA 4: 544)
Siehe auch KU, AA 5: 374. Streng genommen entspricht dies nur dem ersten, negativen Teil des zweiten Gesetzes der Mechanik, während der zweite Teil in einer zusätzlichen positiven Behauptung besteht, nämlich dass es sich bei den Zuständen, die ohne äußere Ursache unverändert bleiben, um Zustände der „Ruhe oder Bewegung, in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit“ (MAN, AA 4: 542) handelt. Es scheint dabei insbesondere die These begründungsbedürftig zu sein, dass es sich bei einer gleichförmigen linearen Bewegung, die ja immerhin eine Veränderung im Verhältnis zum Raum ist, der das Objekt umgibt, nicht um eine Zustandsänderung handelt. Siehe hierzu Friedman (2013, 338 ff.).
4.5 Die Mechanik
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Zwar bezieht sich Kant zu Beginn des Beweises auf die dritte Analogie der Erfahrung, doch fällt bereits in der Art des Bezugs auf, dass Kant hier offenbar ein etwas loseres Verhältnis zwischen der Analogie und dem Gesetz der Mechanik vor Augen hat, als dies in den ersten beiden Fällen der Fall war: (Aus der allgemeinen Metaphysik muß der Satz entlehnt werden, daß alle äußere Wirkung in der Welt Wechselwirkung sei. Hier soll, um in den Schranken der Mechanik zu bleiben, nur gezeigt werden, daß diese Wechselwirkung (actio mutua) zugleich Gegenwirkung (reactio) sei; allein ich kann, ohne der Vollständigkeit der Einsicht Abbruch zu tun, jenes metaphysische Gesetz der Gemeinschaft hier doch nicht ganz weglassen.) (MAN, AA 4: 544 f.)
Bei Betrachtung des Beweises wird jedoch zunächst nicht recht deutlich, welche Rolle die dritte Analogie, die hier nur „entlehnt“ wird, genau spielt, denn als Prämisse für den Beweis scheint sie tatsächlich gar nicht nötig zu sein.¹⁰⁷ Kants Beweis hebt statt dessen an mit der bereits aus der Phoronomie bekannten Feststellung, dass Bewegung stets relativ zu einem Bezugssystem ist. Vor diesem Hintergrund besteht sein Ziel darin zu zeigen, dass gilt: [E]s kann keine Bewegung eines Körpers in Beziehung auf einen absolut-ruhigen, der dadurch auch in Bewegung gesetzt werden soll, gedacht werden, vielmehr muß dieser nur als relativ-ruhig in Ansehung des Raums, auf den man ihn bezieht, zusamt diesem Raume aber in entgegengesetzter Richtung als mit eben derselben Quantität der Bewegung im absoluten Raume bewegt vorgestellt werden, als der bewegte in eben demselben gegen ihn hat. (MAN, AA 4: 545)
Kant betrachtet einen Fall einer Mitteilung von Bewegung, die sich zunächst derart darstellt, dass der Körper, der die Veränderung erfährt, sich erst in einem Zustand der Ruhe befindet und dann durch einen herannahenden Körper durch einen Stoß eine Bewegung mitgeteilt bekommt. Kant weist nun darauf hin, dass das Prinzip der Relativität der Bewegung die Möglichkeit eröffnet, eine andere Betrachtungsweise zu wählen: Wir können durch die Wahl eines anderen Raumes (den Kant hier als „absoluten Raum“ bezeichnet) als Bezugssystem die Situation so betrachten, dass der Körper, der die Bewegung mitgeteilt bekommt, sich vor dem Zusammenstoß mit derselben Quantität der Bewegung auf den ihn anstoßenden Körper zubewegt, wie dieser auf ihn. Kant drückt dies so aus, dass die Bewegung zwischen den beiden Körpern im umgekehrten Verhältnis ihrer Massen aufgeteilt wird. Anders ausgedrückt: Die Bewegung wird so aufgeteilt, dass die
Auf diesen Punkt macht Watkins (1998b, 575) mit besonderem Nachdruck aufmerksam. Siehe auch Friedman (2013, 348 f.). Ich komme auf die Rolle der dritten Analogie am Ende dieses Abschnittes noch einmal zurück.
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
Beträge der Impulse der beiden Körper gleich groß sind. Relativ zu diesem Bezugssystem – es handelt sich um das Bezugssystem, in dem der gemeinsame Massenschwerpunkt der beiden Körper ruht – haben wir es beim Aufprall dann mit einer Wechselwirkung zu tun, bei der gilt, dass Wirkung und Gegenwirkung genau gleich sind.¹⁰⁸ Die entscheidende Frage ist natürlich, warum wir gerade dieses Bezugssystem wählen sollten. Kants Antwort auf diese Frage besteht offenbar darin, dass es sich in Hinsicht auf den betrachteten Zusammenstoß um das einzige Bezugssystem handelt, das gegenüber allen anderen möglichen Bezugssystemen ausgezeichnet ist: [S]o wird ihre Bewegung als bloß im absoluten Raume bestimmbar betrachtet, in welchem jeder der beiden Körper an der Bewegung, die dem einen im relativen Raume beigelegt wird, gleichen Anteil haben muß, indem kein Grund da ist, einem von beiden mehr davon, als dem anderen, beizulegen. (MAN, AA 4: 545; meine Hervorhebung)
Kant betrachtet das Bezugssystem, in dem die Quantität der entgegengerichteten Bewegungen gleich ist, als gegenüber allen anderen Bezugssystemen privilegiert.¹⁰⁹ Die Aufteilung der Quantität der Bewegung in genau gleiche Anteile an der Gesamtbewegung stellt ihm zufolge die einzige nicht-willkürliche Aufteilungsoption dar.¹¹⁰ In einem letzten Schritt verallgemeinert Kant dann den bisher nur am Fall einer Mitteilung der Bewegung durch Stoß vorgeführten Punkt auf den Fall der Mitteilung von Bewegung durch Zug, der durch die ursprüngliche Kraft der Anziehung ermöglicht wird. Die Begründung hierfür lautet, dass sich die Mitteilung einer Bewegung durch Zug von einer durch Stoß lediglich durch die Richtung unterscheidet, sodass der geführte Beweis problemlos übertragen werden könne (MAN, AA 4: 546 f.). In Bezug auf Kants drittes Gesetz der Mechanik ist im Zusammenhang mit dem von Kant angeführten Beweis ein Punkt besonders hervorzuheben. Insbesondere anhand der von Kant im Rahmen seines Beweises vorgeführten Konstruktion einer Kollision zweier Körper offenbart sich nämlich, dass es einen Hier wird bereits ein Punkt deutlich, den ich gleich noch genauer behandeln werde: Kant versteht im Zusammenhang mit dem dritten Gesetz der Mechanik unter Wirkung und Gegenwirkung die Impulse der beiden kollidierenden Körper. Hierdurch unterscheidet sich Kants drittes Gesetz der Mechanik von Newtons Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung. Newton versteht unter Wirkung und Gegenwirkung die Kräfte der beiden beteiligten Körper. Vgl. Friedman (2013, 350). Stan (2013, 502) merkt an, dass es sich bei diesem Argumentationsschritt Kants um eine Anwendung des Prinzips des zureichenden Grundes handelt.
4.5 Die Mechanik
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bedeutenden Unterschied zwischen Kants und Newtons Prinzipien der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung gibt.¹¹¹ Denn Kants Ziel besteht darin, durch seine Konstruktion ein ganz bestimmtes Bezugssystem auszuzeichnen, nämlich das System, in dem der gemeinsame Massenschwerpunkt der beiden an der Kollision beteiligten Körper ruht. Wie sich jedoch zeigt, ist dieses Bezugssystem nach Newtons Auffassung des Prinzips nicht in der Weise als einzigartig ausgezeichnet, in der Kant es auszeichnen möchte. Schauen wir uns die Situation ein wenig genauer an. Newtons Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung lautet: To any action there is always an opposite and equal action; in other words, the actions of two bodies upon each other are always equal and always opposite in direction. (Principia, 417)
Die Wirkung („action“) beziehungsweise Gegenwirkung („opposite […] action“) ist in diesem Fall die Kraft, mit der etwa ein Körper beim Aufprall auf einen anderen auf diesen einwirkt. Interessant für unseren Zusammenhang ist, dass das so aufgefasste Gesetz in jedem Inertialsystem gilt, das heißt in jedem System, das sich in Relation zum absoluten Raum geradlinig und gleichförmig bewegt.¹¹² Kant hingegen möchte, wie wir gesehen haben, mit seinem dritten Gesetz der Mechanik ein ganz bestimmtes Bezugssystem als dasjenige auszeichnen, in welchem das Gesetz gilt, nämlich das Bezugssystem, in dem der gemeinsame Massenschwerpunkt der beiden kollidierenden Körper ruht. Wenn er das Gesetz genau so auffassen würde, wie Newton dies tut, wäre dieses System jedoch nicht in der von Kant intendierten Weise als einzigartig ausgezeichnet, da es natürlich auch Inertialsysteme gibt, in denen sich der Massenschwerpunkt der kollidierenden Körper gleichförmig fortbewegt, insbesondere die beiden Systeme, in denen jeweils einer der beiden an der Kollision beteiligten Körper ruht. Kant muss also das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung anders auffassen als Newton, und zwar so, dass das System, in dem der Massenschwerpunkt ruht, das einzige System ist, in dem das Gesetz gilt. Martin Carrier spricht sich aus diesem Grund dafür aus, Kant die Position zuzuschreiben, dass es sich bei der Wirkung und der Gegenwirkung, von denen im Gesetz die Rede ist, nicht – wie bei Newton – um Kräfte handelt, sondern um die Impulse, also das Produkt aus der Masse und der Geschwindigkeit der jeweiligen Körper.¹¹³ Tatsächlich lässt sich gut zeigen, dass sich eine solche Lesart des Gesetzes gut mit dem Wortlaut von Kants Ausführungen vereinbaren lässt. Kant
Für hilfreiche Hinweise zu diesem Punkt danke ich Ulrich Krohs und Paul Näger. Vgl. Carrier (1992, 406). Vgl. Carrier (1992, 407 f.).
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4 Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft
spricht im Beweis nicht von Kräften, die gleich sind, sondern von Bewegungen. Wenn Kant im Beweis des dritten Gesetzes der Mechanik davon spricht, dass „jeder der beiden Körper an der Bewegung, die dem einen im relativen Raume beigelegt wird, gleichen Anteil haben muss“ (MAN, AA 4: 545), dann bedeutet dies offenbar, dass beiden Körpern eine gleich große Quantität der Bewegung zugesprochen werden muss. Wie wir oben in Abschnitt 4.5.1 gesehen haben, lässt sich die Quantität der Bewegung im Sinne Kants am besten als der Impuls verstehen. Diese Lesart bestätigt sich in Kants Konstruktion des Stoßes im Beweis des dritten Gesetzes der Mechanik, da Kant in dieser Konstruktion explizit „die Geschwindigkeit […] in zwei Teile, […] die sich umgekehrt wie die Massen B und A gegeneinander verhalten“ unter den beiden Körpern aufteilt, mit dem Ergebnis, dass „beide Bewegungen einander entgegengesetzt und gleich“ sind (MAN, AA 4: 546; meine Hervorhebung). Das, was bei dieser Art der Aufteilung gleich ist, ist offenbar das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit der beiden Körper, also der Impuls. Kants Gesetz lautet also, dass bei Interaktionen zwischen zwei Körpern stets die einander entgegen gerichteten Impulse gleich groß sind. Und tatsächlich handelt es sich hierbei um ein Gesetz, das nur in dem Bezugssystem gilt, das Kant auszeichnen möchte, nämlich in dem System, in dem der Massenschwerpunkt der beiden beteiligten Körper ruht.¹¹⁴ Nun scheint es unter dieser Interpretation von Kants drittem Gesetz der Mechanik jedoch eine Schwierigkeit zu geben, die sich vor allem im Zusammenhang mit der unten genauer analysierten Rekonstruktion des Phänomenologie-Kapitels von Friedman ergibt. Wie wir unten genauer nachvollziehen werden¹¹⁵, legt Friedman die Phänomenologie so aus, dass Kant dort das von Newton durchgeführte Verfahren zur Herleitung des Gravitationsgesetzes im Rahmen des Ansatzes der Metaphysischen Anfangsgründe nachbildet. Dieses Verfahren soll zugleich dazu dienen, den Massenschwerpunkt des Universums (und später noch umfassenderer Systeme) zu bestimmen, um vor diesem Hintergrund das System, in dem dieser Massenschwerpunkt ruht, als dasjenige System auszuzeichnen, relativ zu dem Bewegungen als wirkliche Bewegungen gelten. Hierbei kommt, wie wir
Diese Lesart von Kants drittem Gesetz der Mechanik wird außerdem gestützt durch mehrere Textstellen, an denen Kant explizit ausschließt, dass einer der beiden miteinander kollidierenden Körper als ruhend betrachtet werden kann. So heißt es etwa in Anmerkung 1 zu Lehrsatz 4: „Einer Bewegung kann nichts widerstehen, als entgegengesetzte Bewegung eines anderen, keineswegs aber dessen Ruhe.“ (MAN, AA 4: 551) Siehe auch (MAN, AA 4: 547, Fn. 1) und (MAN, AA 4: 550). Newtons Gesetz schließt – im Gegensatz zu Kants – die (Gegen‐)Wirkung eines ruhenden Körpers nicht aus. Siehe insbesondere Abschnitt 4.6.3.
4.5 Die Mechanik
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ebenfalls sehen werden, das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung zum Einsatz. Der Einsatz dieses Prinzips ist insbesondere dafür erforderlich, die Massen der Planeten im Universum zu bestimmen, um dadurch eine Berechnung des Massenschwerpunktes zu ermöglichen.¹¹⁶ Und wie wir sehen werden, muss das Prinzip an diesen Stellen in der Version eingesetzt werden, in der es von Newton vertreten wurde: Es muss in diesem Kontext vorausgesetzt werden, dass die Gravitationskräfte, die zwei Planeten aufeinander ausüben, gleich groß sind, beziehungsweise dass die durch die Gravitation erzeugten Beschleunigungen der beiden Planenten umgekehrt proportional zu ihrer Masse sind.¹¹⁷ Man könnte daher denken, dass es zu Spannungen führt, wenn man Kant die Anwendung dieses (Newtonschen) Prinzips der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung zuschreibt, obwohl Kants Beweis offenbar einem anderen Prinzip entspricht. Dieses Problem besteht bei näherem Hinsehen jedoch nicht, denn genau genommen ist Kants Prinzip eine Spezifizierung von Newtons.¹¹⁸ Dies kann man sich wie folgt vergegenwärtigen: In der von Kant konstruierten Situation der Kollision zweier Körper ist es nicht nur so, dass die Impulse der beiden Körper gleich (und einander entgegengerichtet) sind beziehungsweise dass die Geschwindigkeit im umgekehrten Verhältnis zu den Massen aufgeteilt ist. Zugleich ist es – wie auch nach Newtons Gesetz – so, dass die Geschwindigkeitsveränderungen und somit die Beschleunigungen der beiden Körper, die durch den Aufprall hervorgerufen werden, im umgekehrten Verhältnis der Massen zueinander stehen. Da beide Körper über denselben Impuls verfügen, ist auch die durch ihre eigene Bewegung wirkende bewegende Kraft gleich groß, weshalb sie beide auf den jeweils anderen eine gleich große Veränderung bewirken.¹¹⁹ Insofern gilt auch nach
Siehe hierzu Friedman (1992b, 155 f.). Diese beiden Formulierungen entsprechen einander, sofern man Newtons zweites Bewegungsgesetz (F = ma) voraussetzt, das von Kant allerdings nicht explizit formuliert wird. Hierauf weist auch Carrier (2001, 130) hin. Kant stellt sein drittes mechanisches Gesetz auch explizit in den Zusammenhang mit Newton. So heißt es im Anschluss an den Beweis dieses Gesetzes: „Dies ist also die Konstruktion der Mitteilung der Bewegung, welche zugleich das Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung, als notwendige Bedingung derselben, bei sich führt, welches N e w t o n sich gar nicht traute a priori zu beweisen, sondern sich deshalb auf Erfahrung berief […].“ (MAN, AA 4: 549) Vgl. Friedman (2013, 347 f.). Kant formuliert dieses Prinzip an einer Stelle explizit: „Wie die Quantität der Bewegung eines Körpers zu der eines anderen, so verhält sich auch die Größe ihrer Wirkung […].“ (MAN, AA 4: 539)
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Kants Konstruktion, dass das Produkt aus Masse und Beschleunigung der beiden an einer Kollision beteiligten Körper gleich groß ist.¹²⁰ Eine weitere Schwierigkeit, die eine Anwendung von Kants drittem Gesetz der Mechanik auf die gegenseitige Anziehung zweier Planeten betrifft, hängt damit zusammen, dass Kant das Gesetz zunächst einmal als ein mechanisches Gesetz auffasst. Dies bedeutet, dass es sich auf Situationen bezieht, in denen zwei Körper einander durch ihre jeweilige Bewegung eine Bewegung mitteilen. Die Situation der gegenseitigen Anziehung zweier Planeten ist jedoch eine dynamische Situation: Betrachtet wird die wechselseitige Anziehungskraft, die diese Planeten aufeinander ausüben, unabhängig davon, ob sie selber in Bewegung sind.¹²¹ Es muss also gefragt werden, inwiefern es berechtigt ist, Kants drittes Gesetz der Mechanik auch auf dynamische Situationen anzuwenden. Dieser Punkt wird von Kant tatsächlich explizit behandelt. Zunächst einmal ist es so, dass Kant in einer Fußnote, die dem Beweis des dritten Gesetzes der Mechanik angehängt ist, eine dynamische Version des Gesetzes der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung formuliert.¹²² Kant äußert sich in dieser Fußnote zum Verhältnis zwischen der Phoronomie und der Mechanik. In der Phoronomie, in der die Relativität der Bewegung eines Körpers zuerst betrachtet wurde, „war es ganz gleichgültig, ob ich den Körper im Raume, oder, anstatt dessen, dem relativen Raume eine gleiche aber entgegengesetzte Bewegung zugestehen wollte“ (MAN, AA 4: 547, Fn.). In der Mechanik hingegen, und zwar genau im Zusammenhang mit dem dritten Gesetz der Mechanik, ändert sich dies nun grundlegend, da neben der Geschwindigkeit nun auch die Masse der Körper berücksichtigt wird, wodurch „ein anderer Begriff der Quantität der Bewegung ins Spiel“ kommt (ebd.). Hier, in der Mechanik, gilt nun: „[E]s ist hier nicht mehr beliebig, sondern notwendig, jeden der beiden Körper als bewegt anzunehmen, und zwar mit gleicher Quantität der Bewegung in entgegengesetzter Richtung“ (ebd.).
Dies ist natürlich nicht verwunderlich, da diese Gleichheit (unter der Voraussetzung von Newtons zweitem Bewegungsgesetz) dem dritten Newtonschen Bewegungsgesetz entspricht. Dieses gilt, wie oben beschrieben, in jedem Inertialsystem und das von Kant konstruierte System ist ein Inertialsystem. Kant erwähnt eine mechanische Situation der Mitteilung von Bewegung durch Anziehung, die ihm zufolge vollkommen analog zu der Situation einer Mitteilung von Bewegung durch Stoß zu behandeln ist: „z. B. wenn etwa ein Komet, von stärkerem Anziehungsvermögen als die Erde, im Vorbeigehen vor derselben sie nach sich fortschleppe“ (MAN, AA 4: 537). Dies ist jedoch eine andere Situation als die der beiden Planeten: In dem hier beschriebenen Fall handelt es sich um eine mechanische Situation, weil der Komet durch seine Bewegung der Erde, die er mitzieht, eine Bewegung mitteilt. Die Situation der beiden Planeten ist hingegen dynamisch, weil ihre wechselseitige Anziehung unabhängig davon betrachtet wird, ob sie sich bewegen. Vgl. Friedman (2013, 356 f.).
4.5 Die Mechanik
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Hierbei handelt es sich noch um das mechanische Gesetz. Die nun folgende Begründung zeigt aber an, dass Kant von einem dynamischen Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung ausgeht, das dem mechanischen Gesetz zugrunde liegt: Denn [ein Körper] kann auf den anderen durch seine eigene Bewegung nicht wirken, als entweder bei der Annäherung vermittelst der Zurückstoßungskraft, oder bei der Entfernung vermittelst der Anziehung. Da beide Kräfte nun jederzeit beidseitig in entgegengesetzten Richtungen und gleich wirken, so kann kein Körper vermittelst ihrer durch seine Bewegung auf einen anderen wirken, ohne gerade so viel, als der andere mit gleicher Quantität der Bewegung entgegenwirkt. (MAN, AA 4: 548, Fn.; meine Hervorhebung)
Im kursiv gesetzten Teil äußert Kant explizit, dass die beiden ursprünglichen Kräfte der Materie, die Anziehungs- und die Abstoßungskraft, jeweils einem dynamischen Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung unterliegen. Kants genaue Begründung dieses dynamischen Gesetzes ist nicht leicht auszumachen. Zwar formuliert und begründet Kant in Zusatz 2 zum Lehrsatz 4 (bei dem es sich um das dritte Gesetz der Mechanik handelt), in gewisser Weise als einen Folgesatz, explizit ein dynamisches Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung:¹²³ Es gibt aber noch ein anderes, nämlich ein dynamisches Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung der Materien, nicht so fern eine der anderen ihre Bewegung mitteilt, sondern dieser ursprünglich erteilt und durch ihr Widerstreben zugleich in sich hervorbringt. Diese läßt sich auf ähnliche Art leicht dartun. Denn, wenn die Materie A die Materie B zieht, so nötigt sie diese sich ihr zu nähern, oder, welches einerlei ist, jene widersteht der Kraft, womit diese sich zu entfernen trachten möchte.Weil es aber einerlei ist, ob B sich von A, oder A von B entferne: so ist dieser Widerstand zugleich ein Widerstand, den der Körper B gegen A ausübt, so fern er sich von ihm zu entfernen trachten möchte, mithin sind Zug und Gegenzug einander gleich. (MAN, AA 4: 548 f.)
Kant erweitert das ursprünglich nur für den Fall der mechanischen Bewegungsmitteilung konzipierte Gesetz also über die Mechanik hinaus auf den Fall der dynamischen Bewegungserteilung durch die ursprünglichen Kräfte der Materie. Eine solche Bewegungserteilung kann ein Körper auch dann bewirken, wenn er sich nicht in Bewegung befindet. Friedman weist nun jedoch darauf hin, dass der beschriebene Fall, obwohl es sich um einen Fall der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung handelt, kein Fall einer wirklichen Wechselwirkung ist.¹²⁴ Unter einer Wechselwirkung versteht Kant nach einer Bestimmung aus der dritten Vgl. Friedman (2013, 355 f.). Vgl. Friedman (2013, 356).
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Analogie der Erfahrung „das Verhältnis des Einflusses, […] wenn wechselseitig dieses den Grund der Bestimmung in dem anderen enthält“ (KrV, B 258; meine Hervorhebung). In der gerade zitierten Stelle aus Zusatz 2 zu Lehrsatz 4 der Dynamik ist jedoch explizit davon die Rede, dass eine Materie einer anderen Materie eine Bewegung „ursprünglich erteilt und durch ihr Widerstreben zugleich in sich hervorbringt“ (MAN, AA 4: 548; meine Hervorhebung). Nach dieser Beschreibung liegt streng genommen keine echte Wechselwirkung vor, da die Gegenwirkung ihren Grund nicht in der zweiten Materie hat, sondern von der ersten Materie, die auf die zweite wirkt, dadurch zugleich in sich hervorgebracht wird. Der Grund für die Gegenwirkung liegt also in derselben Substanz wie der Grund für die Wirkung, weshalb es sich nicht um Wechselwirkung im Sinne der dritten Analogie handelt. Friedman zufolge ist diese Situation so zu verstehen, dass das dynamische Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, das Kant in der oben wiedergegebenen Fußnote zum Beweis des dritten Gesetz der Mechanik anspricht, nicht vollständig von Kants Beweis des dritten Gesetzes der Mechanik gedeckt wird: Dass die gegenseitige Annäherung zweier Körper daraus hervorgeht, dass sie sich wechselseitig anziehen (und nicht nur der eine den anderen an sich heranzieht und sich selbst zugleich durch den Widerstand des zweiten Körpers an diesen heranzieht), geht aus Kants Beweis nicht hervor. Friedman weist jedoch darauf hin, dass gerade dadurch nun an dieser Stelle der dritten Analogie der Erfahrung eine wichtige Rolle für das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung zugesprochen werden kann.¹²⁵ Wie wir oben gesehen haben, deutet Kant eine solche Rolle zu Beginn des Beweises für das dritte Gesetz der Mechanik an, ohne die Analogie dann im Beweis explizit zu verwenden. Die dritte Analogie hat nun gerade mit dynamischen Wechselwirkungsverhältnissen zu tun. Sie lautet: Alle Substanzen, sofern sie im Raume als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung. (KrV, B 256)
Kant hält fest, dass er unter der Wechselwirkung, in welcher sich alle zugleich existierenden Substanzen befinden, eine „dynamische[] Gemeinschaft“ (KrV, A 213 / B 260) versteht und er deutet in der B-Auflage im Beweis der dritten Analogie (KrV, B 257 f.) an, dass er unter anderem die gravitationale Anziehung zwischen Erde und Mond als ein Beispiel einer solchen Wechselwirkung versteht.¹²⁶ Vor diesem Hintergrund kann man die dritte Analogie der Erfahrung als eine zusätzliche Prämisse verstehen, durch die man von dem in Zusatz 2 zum Lehrsatz 4 Vgl. Friedman (2013, 357 ff.). Vgl. Friedman (2013, 358).
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formulierten dynamischen Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung zu dem in der Fußnote zum Beweis des dritten Gesetzes der Mechanik formulierten echten Wechselwirkungssatzes in Bezug auf die ursprünglichen Kräfte der Materie gelangt: Bei ersterem Gesetz ist nicht ausgeschlossen, dass etwa die wechselseitige Annäherung zweier Körper durch Anziehung darauf beruht, dass nur einer der beiden Körper eine Anziehung ausübt. Nach der dritten Analogie ist es jedoch so, dass die dynamische Anziehung zugleich existierender Körper durch die ursprüngliche Anziehungskraft eine Wechselwirkung ist.¹²⁷ Wie wir in Abschnitt 4.6 ausführlich sehen werden, ist es für Friedmans Auslegung der Metaphysischen Anfangsgründe im Allgemeinen und seine Interpretation der Phänomenologie und ihres Verhältnisses zum dritten Gesetz der Mechanik im Besonderen zentral, dass Kant den Gehalt des mechanischen Wechselwirkungssatzes ausdehnt auf echte dynamische Wechselwirkungsverhältnisse im Sinne der dritten Analogie der Erfahrung. Friedman hat dabei insbesondere die Wechselwirkungen zwischen Planeten im Auge, in denen diese aufgrund der Gravitationskraft stehen.¹²⁸ Die Relevanz, die dieser Punkt im weiteren Verlauf der Metaphysischen Anfangsgründe genau hat, können wir erst dann vollständig einsehen, wenn wir uns Friedmans Rekonstruktion des Phänomenologie-Kapitels der Metaphysischen Anfangsgründe genauer vor Augen geführt haben, was wir als nächstes tun werden.
4.6 Die Phänomenologie: Der Ort von Kants Begründung des Gravitationsgesetzes? Friedman zufolge nimmt das Phänomenologie-Kapitel eine zentrale Rolle in Kants Auseinandersetzung mit Newton ein. Interessant ist für unsere Belange vor allem die Tatsache, dass Friedman in diesem Kapitel Kants Begründung des Gravitationsgesetzes verortet, bei dem es sich um ein empirisches Naturgesetz handelt, in dessen Begründung nach Friedmans Rekonstruktion jedoch in entscheidendem Maße auch apriorische Anteile einfließen, wodurch sich ihm zufolge der Status der notwendigen Gültigkeit dieses empirischen Gesetzes erklären lässt.
Auch wenn dieser Übergang von der dritten Analogie der Erfahrung suggeriert wird, muss doch festgehalten werden, dass es sich hierbei nicht wirklich um einen lückenlosen Beweis handelt. Kants vorsichtige Formulierung, dass er die dritte Analogie für den Beweis des dritten Gesetzes der Mechanik „entlehnt“ (MAN, AA 4: 544) und dass er ihn „nicht ganz weg lassen“ könne (MAN, AA 4: 545), spiegelt diesen Umstand möglicherweise wider. Dieser Punkt wird unten in Abschnitt 4.6.3 genauer erläutert.
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Auf den ersten Blick scheint die Phänomenologie jedoch ein ganz anderes Thema zu haben und wir müssen uns in Abschnitt 4.6.1 zunächst einen Überblick über die drei von Kant in diesem Kapitel bewiesenen Lehrsätze verschaffen, bevor wir in den darauf folgenden Abschnitten nachvollziehen können, wie Friedman zufolge die Begründung des Gravitationsgesetzes mit dem Thema der Phänomenologie – der Bestimmung von wirklicher im Gegensatz zu bloß scheinbarer Bewegung – verknüpft ist. Die Phänomenologie beginnt mit einer Erklärung, die dem Materie-Begriff – im Gegensatz zu den Erklärungen der ersten drei Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe – genau genommen keine weitere Bestimmung hinzufügt.¹²⁹ Statt dessen zeigt sie an, dass Materie, insbesondere in Bezug auf ihre Grundbestimmung (Beweglichkeit), in der Phänomenologie in ihrem Verhältnis zur Erfahrung bestimmt werden soll: Materie ist das Bewegliche, so fern es, als ein solches, ein Gegenstand der Erfahrung sein kann. (MAN, AA 4: 554)
Wie wir sehen werden, läuft dies in den folgenden Lehrsätzen auf die Frage hinaus, inwiefern es möglich ist, die Bewegung von Materie als wirkliche oder bloß scheinbare Bewegung zu bestimmen, also insbesondere darauf, zu klären, wie wir die wirkliche Bewegung von Materie erkennen und von bloß scheinbarer Bewegung unterscheiden können.
4.6.1 Die drei Lehrsätze der Phänomenologie Wie bereits im Zusammenhang mit dem ersten Lehrsatz deutlich wird, hängt die Frage danach, wie wir wirkliche Bewegung erkennen können, eng zusammen mit der bereits in der Phoronomie thematisierten Relativität von empirisch beobachteten Bewegungen. Der Lehrsatz lautet wie folgt: Die geradlinige Bewegung einer Materie in Ansehung eines empirischen Raumes ist, zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raums, ein bloß mögliches Prädikat. Eben dasselbe in gar keiner Relation auf eine Materie außer ihr, d. i. als absolute Bewegung gedacht, ist unmöglich. (MAN, AA 4: 555)
Der größte Teil des anschließenden Beweises konzentriert sich auf den ersten Teil des Lehrsatzes, dem zufolge es sich bei der Zuschreibung der Bewegung einer
Vgl. Pollok (2001b, 473) und Friedman (2013, 414).
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Materie relativ zu einem empirischen Raum um eine bloß mögliche Zuschreibung handelt. Kant verweist diesbezüglich auf die Relativität der Bewegung eines Körpers in einem empirischen Raum, die darauf beruht, dass nach Grundsatz 1 der Phoronomie (MAN, AA 4: 487) die Bewegung statt dem Körper auch dem Raum, im Verhältnis zu dem er bewegt ist, zugeschrieben werden kann: Ob ein Körper im relativen Raum bewegt, dieser aber ruhig genannt werde, oder, umgekehrt, dieser in entgegengesetzter Richtung gleich geschwinde bewegt, dagegen jener ruhig genannt werden solle, ist kein Streit über das, was dem Gegenstande, sondern nur seinem Verhältnisse zum Subjekt, mithin der Erscheinung und nicht der Erfahrung zukommt. […] Also ist in der Erfahrung (einer Erkenntnis, die das Objekt für alle Erscheinungen gültig bestimmt) gar kein Unterschied zwischen der Bewegung des Körpers im relativen Raume, oder der Ruhe des Körpers im absoluten und der entgegengesetzten gleichen Bewegung des relativen Raums. (MAN, AA 4: 555)
Zentral ist hier die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Erfahrung, die Kant schon zuvor in der Anmerkung zur einzigen Erklärung der Phänomenologie thematisiert hat.¹³⁰ Während die Erscheinung „nichts als die Relation in der Bewegung (ihrer Veränderung nach) enthält“ (MAN, AA 4: 554 f.) und in ihr „kein Urteil des Verstandes anzutreffen“ ist (MAN, AA 4: 555), enthält die Erfahrung eine Bestimmung der Bewegung, die durch den Verstand vorgenommen wird. Gemeint ist hiermit, dass uns durch die Sinne zunächst einmal nur gegeben ist, dass zwei Körper (oder ein Körper und ein empirischer Raum) relativ zueinander ihre Lage verändern (Erscheinung), während es einem Urteil des Verstandes vorbehalten bleibt zu bestimmen, welche Bewegung wirklich stattfindet und welche nur scheinbare Bewegung ist (Erfahrung). Kants Punkt im Beweis des ersten Lehrsatzes der Phänomenologie besteht nun darin, dass es im Falle einer geradlinigen Bewegung relativ zu einem empi-
Kants Terminologie ist an dieser Stelle etwas unglücklich, da er die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft etwas anders einführt. Nach der dort im Kapitel über die Grundsätze des Verstandes (KrV, A 178 ff. / B 221 ff.) eingeführten Unterscheidung sind die mathematischen Kategorien der Quantität und der Qualität mit den Erscheinungen betraut, während die dynamischen Kategorien der Relation und der Modalität den Übergang zur Erfahrung markieren. Hier, im Phänomenologie-Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe, wird die Grenze nun anders gezogen, da erst mit der Anwendung der ModalitätsKategorien, nicht jedoch bereits mit den in der Mechanik behandelten Relations-Kategorien, der Übergang zur Erfahrung vollzogen wird. Siehe hierzu Pollok (2001b, 476). Eine weitere, relativ häufige Verwendung des Ausdrucks „Erscheinung“, die von der hier betrachteten Verwendung klar abgegrenzt werden muss, besteht darin, dass Kant unter Erscheinungen – in Abgrenzung zu Dingen an sich selbst – die Gegenstände der Erfahrung versteht. Vgl. Friedman (2013, 415).
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rischen Raum keinen in den betrachteten Objekten liegenden Grund gibt, ein Urteil derart zu fällen, dass man die beobachtete Bewegung dem einen oder dem anderen Objekt zuschreibt. Beide Bewegungen, die des Körpers und die des Raumes, sind aus Verstandessicht als bloß möglich zu beurteilen, was bedeutet, dass sowohl die geradlinige Bewegung des Körpers als auch die des Raumes unter die Modalitäts-Kategorie der Möglichkeit subsumiert werden. Anschließend klärt Kant noch die zweite in Lehrsatz 1 aufgestellte Behauptung, nämlich dass eine absolute Bewegung im Sinne einer Bewegung relativ zu einem absoluten Raum unmöglich ist. Wie schon in der Phoronomie (MAN, AA 4: 481) weist er darauf hin, dass der absolute Raum kein Gegenstand einer möglichen Erfahrung ist und lediglich empirische, das heißt materielle Räume wahrgenommen werden können. Entsprechend ist auch eine geradlinige Bewegung nur in Relation zu einem empirischen Raum wahrnehmbar und insofern nur als Bewegung in einem empirischen Raum ein Gegenstand möglicher Erfahrung (MAN, AA 4: 556). Noch deutlicher, insbesondere auch in Bezug auf die Einschränkung auf geradlinige Bewegungen, wird das Argument für den ersten Teil des Lehrsatzes im Zusammenhang mit dem im zweiten Lehrsatz behandelten Kontrastfall der Kreisbewegung. Im Fall der Kreisbewegung, so sagt der zweite Lehrsatz aus, kann eine eindeutige Bestimmung der Bewegung als wirklich vorgenommen werden: Die Kreisbewegung einer Materie ist, zum Unterschiede von der entgegengesetzten Bewegung des Raums, ein wirkliches Prädikat derselben; dagegen ist die entgegengesetzte Bewegung eines relativen Raums, statt der Bewegung des Körpers genommen, keine wirkliche Bewegung des letzteren, sondern, wenn sie dafür gehalten wird, ein bloßer Schein. (MAN, AA 4: 556 f.)
Der im folgenden Beweis angeführte Grund dafür, dass bei Kreisbewegungen eine eindeutige Bestimmung der Bewegung vorgenommen werden kann, hängt mit dem in der Mechanik bewiesenen Trägheitssatz (zweites Gesetz der Mechanik) zusammen: Eine Kreisbewegung ist eine Bewegung, die aus einer geradlinigen Bewegung durch kontinuierliche Abänderung entsteht. Ohne eine äußere Einwirkung würde ein Körper aufgrund der Trägheit die geradlinige Bahn nicht verlassen. Eine Kreisbewegung unterscheidet sich von einer geradlinigen Bewegung also insbesondere dadurch, dass ein Körper sie nur dann vollzieht, wenn er einer kontinuierlichen Einwirkung einer Kraft unterworfen ist. Diese Krafteinwirkung betrachtet Kant nun als das entscheidende Kriterium für das Vorliegen einer wirklichen Bewegung: [J]eder Körper [beweist] in der Kreisbewegung durch seine Bewegung eine bewegende Kraft. Nun ist die Bewegung des Raumes, zum Unterschiede der Bewegung des Körpers bloß
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phoronomisch, und hat keine bewegende Kraft. […] [A]lso ist die Kreisbewegung eines Körpers, zum Unterschiede von der Bewegung des Raums, wirkliche Bewegung, folglich die letztere […] nichts als bloßer Schein. (MAN, AA 4: 557)
Im Gegensatz zu der im ersten Lehrsatz betrachteten geradlinigen Bewegung liegt bei der Kreisbewegung ein Grund vor, die Bewegung als eine wirkliche Bewegung auszuzeichnen: Die Kreisbewegung lässt auf eine kontinuierliche Einwirkung einer Kraft schließen und wenn eine Bewegung auf der Einwirkung einer Kraft basiert, handelt es sich um eine wirkliche Bewegung. Es hat jedoch zunächst den Anschein, als würde Kant es sich hier durch den Hinweis darauf, dass die Bewegung des Raumes bloß phoronomisch sei, etwas zu leicht machen. Schließlich weist Kant schon in der Phoronomie darauf hin, dass ein empirischer Raum – und um den geht es hier – stets materiell und entsprechend auch beweglich ist (MAN, AA 4: 481), eine Feststellung, die er auch in der Allgemeinen Anmerkung zur Phänomenologie noch einmal bekräftigt (MAN, AA 4: 559). Es ist also zunächst nicht klar, weshalb die bewegende Kraft nicht auch auf den Raum einwirken könnte, so dass dessen Bewegung wirklich wäre. Aber in der Allgemeinen Anmerkung zur Phänomenologie geht Kant dann noch genauer auf einen Beispiel-Fall ein und auf das Kriterium, anhand dessen wir in diesem Fall die Bewegung eindeutig dem Körper zu- und dem Raum abschreiben können: Die Achsendrehung der Erde relativ zum Sternenhimmel (MAN, AA 4: 560 ff.).¹³¹ In diesem Beispiel führt Kant ein prinzipiell durchführbares empirisches Verfahren an, anhand dessen erkennbar wird, dass die Drehbewegung der Erde eine wirkliche Bewegung ist, im Gegensatz zu der Bewegung des bestirnten Himmels, der hier als Repräsentant des die Erde umgebenden empirischen Raumes aufgefasst werden kann. Das Kriterium, das Kant für die Wirklichkeit der Rotationsbewegung angibt und das zumindest prinzipiell empirisch anwendbar ist, besteht darin, dass man einen Stein in ein senkrecht zum Erdmittelpunkt gebohrtes Loch fallen lässt. Hierbei kann man (beziehungsweise könnte man prinzipiell) feststellen, dass der Stein im Fallen von der senkrechten Fallbahn kontinuierlich in östlicher Richtung abweicht. Dies, so Kants Überlegung, kann als empirische Verifizierungsmöglichkeit dafür gelten, dass die Drehbewegung der Erde wirklich ist, denn die Abweichung in der Fallbahn des Steines lässt sich dadurch erklären, dass die Drehung der Erde von West nach Ost auf der Erdoberfläche eine größere Drehgeschwindigkeit zur Folge hat als an den darunterliegenden Punkten im Erdinneren. Der Stein bekommt durch die Drehung der Erde vorm Fallenlassen auf Höhe der Erdoberfläche eine Bewegung von West nach Ost mitgeteilt, die sich Vgl. Friedman (1992b, 146) und (2013, 450 f.).
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auch danach, also während des Fallens, durch Trägheit erhält und die größer ist als die west-östliche Bewegung der Punkte im Erdinneren, die er danach passiert, weshalb der Stein relativ zu diesen Punkten von West nach Ost wandert. Wie man an dieser Stelle sehen kann, hängt die Bestimmung der wahren Rotationsbewegung der Erde in diesem Fall wesentlich von einer Anwendung des Trägheitssatzes (Kants zweites Gesetz der Mechanik) ab.¹³² Der dritte Lehrsatz der Phänomenologie, in dem es um die Bestimmung notwendiger Bewegung geht, lautet schließlich wie folgt: In jeder Bewegung eines Körpers, wodurch er in Ansehung eines anderen bewegend ist, ist eine entgegengesetzte gleiche Bewegung des letzteren notwendig. (MAN, AA 4: 558)
Es geht also darum, die Bewegung eines Körpers B, der durch eine mechanische Einwirkung eines Körpers A eine Bewegung mitgeteilt bekommt, zu bestimmen. Die mechanische Einwirkung des Körpers A auf den Körper B besteht darin, dass der Körper A durch seine eigene Bewegung (vermittels der ursprünglichen Anziehungskraft oder der ursprünglichen Abstoßungskraft der Materie) dem Körper B eine Bewegung mitteilt (MAN, AA 4: 536). Der Satz sagt nun aus, dass es notwendig ist, dass der Körper B eine Bewegung aufweist, die der auf ihn einwirkenden Bewegung des Körpers A (in umgekehrter Richtung) entspricht. Der Zusammenhang mit dem dritten Gesetz der Mechanik (Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung) kommt einem hier natürlich unmittelbar in den Sinn, und tatsächlich ist es dieser Satz, den Kant in seinem Beweis explizit als Grundlage anführt: Nach dem dritten Gesetz der Mechanik (Lehrs. 4) ist die Mitteilung der Bewegung der Körper nur durch die Gemeinschaft ihrer ursprünglich bewegenden Kräfte und diese nur durch beiderseitige entgegengesetzte und gleiche Bewegung möglich. Die Bewegung beider ist also wirklich. Da aber die Wirklichkeit dieser Bewegung nicht (wie im zweiten Lehrsatze) auf dem Einflusse äußerer Kräfte beruht, sondern aus dem Begriffe der Relation des Bewegten im Raume zu jedem anderen dadurch Beweglichen unmittelbar und unvermeidlich folgt, so ist die Bewegung des letzteren notwendig. (MAN, AA 4: 558)
Nach dem Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung beruht jede mechanische Einwirkung auf Bewegung und Gegenbewegung. Liegt eine solche mechanische Einwirkung vor, können also dadurch die Bewegungen der beiden beteiligten Körper als wirklich erkannt werden. Kant fügt hinzu, dass aufgrund des Gesetzes der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung die Bewegung des Körpers, der die Einwirkung erfährt, eine notwendige Bewegung ist: Gegeben, dass Vgl. Friedman (1992b, 146).
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ein Körper A auf einen Körper B mechanisch einwirkt, ist dessen Gegenbewegung notwendig.¹³³ Dies sind also die drei Sätze der Phänomenologie, die im Zentrum der Überlegungen zur Bestimmung der wirklichen Bewegung von Körpern stehen.Wir werden in den nächsten Abschnitten sehen, wie Friedman diese Sätze als eine implizite Auseinandersetzung Kants mit Newton interpretiert.
4.6.2 Der Ausgangspunkt von Friedmans Auslegung: Die Phänomenologie als Newtonsches Verfahren der Bestimmung wirklicher Bewegung Nach Friedmans komplexer Rekonstruktion des Phänomenologie-Kapitels spielt sich in diesem Kapitel etwas ab, was oberflächlich betrachtet nicht zum Vorschein kommt: Friedman liest die Phänomenologie als eine enge Auseinandersetzung mit dem dritten Buch von Newtons Principia. Eine Gemeinsamkeit von Kants Phänomenologie und Newtons Principia, die eine solche Lesart motiviert, liegt in dem Thema der Bestimmung wirklicher Bewegung. Dieses Thema wird von Newton explizit als das Hauptthema der Principia ausgezeichnet¹³⁴: [I]n what follows, a fuller explanation will be given of how to determine true motions from their causes, effects, and apparent differences, and, conversely, of how to determine from motions, whether true or apparent, their causes and effects. For this was the purpose for which I composed the following treatise. (Principia, 415)
Das Problem, das sich in Bezug auf das Erkennen von wirklicher Bewegung ergibt, beschreibt Newton wie folgt¹³⁵: It is certainly very difficult to find out the true motions of individual bodies and actually to differentiate them from apparent motions, because the parts of that immovable space in which the bodies truly move make no impression on the senses. Nevertheless, the case is not utterly hopeless. For it is possible to draw evidence partly from apparent motions, which are the differences between the true motions, and partly from the forces that are the causes and effects of the true motions. (Principia, 414)
Kant macht es hier zwar nicht explizit, aber aufgrund der durch das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung verbürgten Symmetrie der Wechselbeziehung der involvierten Körper kann mit demselben Argument auch umgekehrt die Bewegung von Körper A als notwendig erkannt werden. Vgl. Friedman (1992b, 141). Vgl. Friedman (1992b, 141) und Friedman (2013, 467).
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Newton hebt hier etwas hervor, das auch Kant in den Vordergrund stellt, nämlich die Tatsache, dass der absolute Raum nicht sinnlich erfahrbar ist. Aber aufgrund einer anderen Ausgangsposition zieht Newton hieraus eine andere Schlussfolgerung als Kant: Während Kant schließt, dass der absolute Raum „also an sich nichts und gar kein Objekt“ ist (MAN, AA 4: 481)¹³⁶, hält Newton in realistischer Manier an der Existenz des absoluten Raumes fest und stellt sich folgerichtig die epistemische Frage, wie wir eine wirkliche Bewegung, die er auffasst als eine Bewegung relativ zum absoluten Raum, von einer bloß scheinbaren Bewegung unterscheiden können: Da der absolute Raum nicht direkt sinnlich erfahrbar ist, können wir eine wirkliche Bewegung nicht dadurch erkennen, dass wir in der Wahrnehmung die Bewegung eines Objektes relativ zum absoluten Raum unmittelbar erfassen. Interessanterweise klingt eines der Kriterien, die Newton in der oben zitierten Passage für die Erkenntnis von wirklicher Bewegung anbietet („it is possible to draw evidence […] partly from the forces that are the causes and effects of the true motions“; Principia, 414), auch bei Kant an, wenn dieser nämlich, wie oben gesehen, im zweiten Lehrsatz der Phänomenologie die Kreisbewegung eines Körpers als eine wirkliche Bewegung auszeichnet, weil sie nur durch eine kontinuierlich einwirkende bewegende Kraft zustande kommen kann. In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch eine Frage, die in gewisser Weise der Aufhängepunkt für Friedmans Rekonstruktion der Phänomenologie darstellt: Wenn nach Newton eine wirkliche Bewegung eine Bewegung relativ zum absoluten Raum ist und Kant Newtons absoluten Raum als ausgezeichnetes Bezugssystem ablehnt, was versteht Kant dann überhaupt unter einer wirklichen Bewegung? Für Newton ist die Frage, welche Bewegungen wirkliche Bewegungen sind, eine epistemische Frage: Es geht ihm darum, empirische Kriterien dafür zu entwickeln, dass eine beobachtete Bewegung tatsächlich eine Bewegung im absoluten Raum und somit eine wirkliche Bewegung ist. Kant hingegen, und dies ist der Grundgedanke von Friedmans Auslegung, geht es in der Phänomenologie um ein tieferliegendes Problem: Es geht ihm darum, dem Begriff der wirklichen Bewegung überhaupt erst eine Bedeutung zuzuweisen. ¹³⁷ Hierfür muss er erklären, was unter einer absoluten Bewegung verstanden werden kann, wenn man die Newtonsche Annahme eines realen absoluten Raumes ablehnt. Nach Friedmans Lesart besteht hierin das zentrale Anliegen Kants in der Phänomenologie. Genauer gesagt ist das Vorgehen in der Phänomenologie Friedman zufolge darauf ausgerichtet, Newtons Herleitung des Gravitationsgesetzes in Buch 3 der Principia als eine Folie dafür zu verwenden, ein Bezugssystem zu konstruieren,
Siehe auch KrV, A 26 / B 42. Vgl. Friedman (1992b, 142 f.).
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das als ein privilegiertes Bezugssystem verstanden werden kann, sodass die Bewegungen, die relativ zu diesem Bezugssystem geschehen, daher als wirkliche Bewegungen ausgezeichnet werden können. Anders ausgedrückt: Friedman zufolge geht es Kant in der Phänomenologie um eine Konstruktion¹³⁸ eines absoluten Raumes, die mit dem transzendentalen Idealismus vereinbar ist, und zwar unter Verwendung von Mitteln, die Newton im Rahmen seiner Abhandlung bereitstellt. Schauen wir uns dies alles nun etwas genauer an.
4.6.3 Friedmans Rekonstruktion: Kants Newtonsche Herleitung des Gravitationsgesetzes im Rahmen der Konstruktion des absoluten Raumes In diesem Abschnitt werde ich Friedmans Rekonstruktion von Kants Herleitung des Gravitationsgesetzes vorstellen, bevor ich dann in den Abschnitten 4.6.4 und 4.6.5 auf die Frage eingehe, inwieweit diese Rekonstruktion tatsächlich Plausibilität beanspruchen kann. Dies ist insbesondere deshalb erforderlich, weil die Rekonstruktion auf vielen indirekten Belegen basiert, da Kant die Herleitung des Gravitationsgesetzes in der Phänomenologie nicht explizit durchführt. Friedman stützt seine Rekonstruktion im Wesentlichen darauf, dass viele Äußerungen Kants als Anspielungen auf Newtons Herleitung des Gravitationsgesetzes in Buch 3 der Principia verstanden werden können. In Abschnitt 4.6.6 werden wir außerdem sehen, dass es mindestens eine vielversprechende Alternative für eine Rekonstruktion von Kants Herleitung des Gravitationsgesetzes gibt, die von Peter Plaass vorgelegt wurde. Ich werde in Abschnitt 4.6.7 zu dem Ergebnis kommen, dass es schwierig ist, eine Entscheidung darüber zu fällen, welche der beiden Rekonstruktionen der Kantischen Intention tatsächlich gerechter wird. Allerdings wird sich zeigen, dass sich beide Rekonstruktionen in interessanten Punkten überschneiden, die sich insbesondere auf die in dieser Arbeit im Vordergrund stehende Frage beziehen, wie Kant sich den Zusammenhang zwischen den tran-
Wie Graham Bird (2014, 176) in seiner Rezension von Friedman (2013) herausstreicht, ist in Bezug auf den Begriff der Konstruktion hier Vorsicht geboten: Es handelt sich an dieser Stelle nicht um den mathematischen Begriff der Konstruktion von Objekten in der reinen Anschauung. Statt dessen bezieht sich „Konstruktion“ hier auf Kants transzendental-idealistische Grundthese, nach der die Natur beziehungsweise die Gegenstände der Erfahrung nicht unabhängig vom Subjekt existieren, sondern auf der Grundlage von Sinnesmaterial und vor dem Hintergrund der apriorischen Formen der Erkenntnisvermögen vom Subjekt konstruiert werden. In letzterem Sinne ist natürlich auch der Titel von Friedman (2013), Kant’s Construction of Nature, zu lesen.
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szendentalen Gesetzen des Verstandes und den empirischen Naturgesetzen vorstellt. Schauen wir uns nun jedoch zunächst Friedmans Rekonstruktion an. Nach Friedmans Rekonstruktion handelt es sich bei dem von Kant im Phänomenologie-Kapitel vollzogenen Gedankengang um eine an Newton angelehnte Herleitung des Gravitationsgesetzes. Um dies zu zeigen, verfolgt Friedman Parallelen, die zwischen den von Kant in den drei Lehrsätzen der Phänomenologie vollzogenen Schritten und dem Vorgehen von Newton in Buch 3 der Principia bestehen.¹³⁹ Als erstes betrachtet Friedman den auf das Relativitätsprinzip der Phoronomie zurückgreifenden Schritt im ersten Lehrsatz der Phänomenologie, in dem Kant von bloß möglichen Bewegungen handelt, als eine Parallele zu Newtons Ausgangspunkt in Buch 3 der Principia: We begin, following Newton, from the observable „Phenomena“ described by Kepler’s rules: the merely relative motions of the satellites in the solar system with respect to their primary bodies (the moon relative to the earth, the moons of Jupiter and Saturn relative to the planets in question, and the planets relative to the sun). We have not yet introduced a distinction between „true“ and „apparent“ motion, however, and so these Phenomena, are so far mere „appearances [Erscheinungen]“ that have not yet attained the status of „experience [Erfahrung]“ (554– 555). The corresponding merely relative motions thus count as (so far) merely possible. (Friedman 2012, 312 f.; Hervorhebungen im Original)¹⁴⁰
Newton greift in Buch 3 der Principia Phänomene auf, die zunächst als bloß relative Bewegungen betrachtet werden. Insbesondere geht Newton aus von den relativen Bewegungen der Satelliten im Verhältnis zu ihren Zentralkörpern.¹⁴¹ Ohne an dieser Stelle bereits die Frage zu thematisieren, welche der beobachteten Bewegungen wirklich und welche nur scheinbar sind, lässt sich feststellen, dass die relativen Bewegungen der Satelliten im Verhältnis zu ihren jeweiligen Zentralkörpern den Keplerschen Gesetzen entsprechen.¹⁴²
Die im Folgenden wiedergegebene Rekonstruktion hat Friedman in vielen Veröffentlichungen in unterschiedlicher Ausführlichkeit ausformuliert. Kompakte Zusammenfassungen bieten etwa Friedman (1992a, 176 – 178), (1992b, 172– 175) und (2012, 312– 314), etwas ausführlicher ist die Darstellung in (1992b, 144– 149). Die ausführlichste Ausarbeitung liegt vor in (2013, sections 32– 34). Ich verwende im Folgenden die kompakte Darstellung aus Friedman (2012) als Ausgangsfolie und ergänze Details aus den anderen Darstellungen. Die von Friedman angeführten Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die Metaphysischen Anfangsgründe, zitiert nach der Paginierung der Akademie-Ausgabe, Band 4. Vgl. Friedman (2013, 447). Genau genommen geht Newton also nicht von Einzelphänomenen aus, sondern von induktiven Verallgemeinerungen, die auf einzelnen Beobachtungen basieren. Vgl. Cohen (1999, 200 f.).
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Friedman weist darauf hin, dass Newton an dieser Stelle noch offenlässt, ob die Erde sich um die Sonne dreht oder umgekehrt.¹⁴³ Dies bedeutet insbesondere, dass an dieser Stelle noch nicht feststeht, ob die Erde oder die Sonne als das Zentrum des Bezugssystems für wirkliche Bewegungen auszuzeichnen ist. Über die Bewegungen, die von den Keplerschen Gesetzen beschrieben werden, kann also an dieser Stelle im Sinne von Kants Lehrsatz 1 der Phänomenologie gesagt werden, dass es sich um bloß mögliche Bewegungen handelt. Der zweite Schritt besteht in einer mathematischen Bestimmung der Zentripetalbeschleunigungen der jeweiligen Satelliten in Richtung ihrer Zentralkörper. Damit diese mathematische Bestimmung möglich ist, muss zunächst einmal die – nachträglich anhand der Ergebnisse des dreischrittigen Verfahrens zu rechtfertigende¹⁴⁴ – Annahme gemacht werden, dass die von Keplers Gesetzen beschrieFriedman verwendet in der oben zitierten Passage (2012, 312 f.) den Ausdruck „Kepler’s rules“ statt des eigentlich üblicheren „Kepler’s laws“. In dem parallelen Abschnitt aus Friedman (2013, 447 ff.) verwendet er hingegen den Ausdruck „Kepler’s laws“. Die Wortwahl in (2012) dürfte damit zusammenhängen, dass es sich nach Kants Ansicht bei Keplers sogenannten Gesetzen streng genommen nicht um Gesetze handelt, sondern um bloß induktiv gewonnene Regeln, da in sie noch keine apriorischen Anteile eingeflossen sind. Am Ende des hier beschriebenen Prozesses soll mit dem Gravitationsgesetz ein Gesetz im strengen Sinne hervorgehen. Ich werde mich weiterhin des üblichen Ausdrucks „Keplers Gesetze“ bedienen, wobei stets mitgedacht sein soll, dass es sich Kant zufolge bei Keplers Gesetzen nicht um Gesetze im strengen Sinne handelt. Die Keplerschen Gesetze lauten: 1. Die Planetenbahnen sind Ellipsen, in deren Brennpunkt die Sonne steht. 2. Eine von der Sonne nach einem Planeten gezogene gerade Linie überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. 3. Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen der großen Halbachsen ihrer Bahnellipsen. Vgl. Pollok (2001b, 475, Fn. 770). Vgl. Friedman (1992b, 145) und (2013, 448). Die im zweiten Schritt erzielten Ergebnisse hängen von der im späteren Verlauf nachträglich zu rechtfertigenden Voraussetzung ab, dass die beiden von Newton betrachteten Systeme – das eine mit der Erde als ruhend, das andere mit der Sonne als ruhend – zumindest annäherungsweise korrekte Beschreibungen derjenigen wirklichen Bewegungen liefern, die sich letztlich als Ergebnis des hier betrachteten Verfahrens ergeben (Friedman 1992b, 146 f.). Friedman (1992b, 145) versteht Kant so, dass dieser im Unterschied zu Newton vorläufig nur von der Erde als ruhend ausgeht. Dies macht Friedman an dem Beispiel aus der Allgemeinen Anmerkung zur Phänomenologie (MAN, AA 4: 560 ff.) fest, das uns oben im Zusammenhang mit dem zweiten Lehrsatz der Phänomenologie bereits begegnet ist (siehe oben, Abschnitt 4.6.1). Nach diesem Beispiel lässt sich die Rotationsbewegung der Erde durch eine Anwendung des Trägheitssatzes (zweites Gesetz der Mechanik) als eine wirkliche Bewegung bestimmen: Eine aufgrund von Trägheit erfolgende Abweichung der Flugbahn eines Steines, der in ein in Richtung Erdmittelpunkt gebohrtes Loch fallengelassen wird, zeigt die Wirklichkeit der Erdrotationsbewegung an.Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieses Verfahrens ist jedoch die vorläufige (und durch spätere Schritte zu korrigierende) Annahme, dass die Erde sich im Verhältnis zu den anderen Himmelskörpern (abgesehen von der Rotation um die eigene Achse) in Ruhe befindet und
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benen relativen Bewegungen zumindest approximativ wirklichen Bewegungen entsprechen. Vor dem Hintergrund dieser Annahme ergibt sich unter Anwendung des Trägheitssatzes (Kants zweites Gesetz der Mechanik), dass die ihre Primärkörper umkreisenden Satelliten von einer Kraft in Richtung des Zentrums ihrer jeweiligen Primärkörper gezogen werden.¹⁴⁵ Die entsprechenden Zentripetalbeschleunigungen können aus den in Form der Keplerschen Gesetze vorliegenden Daten mathematisch abgeleitet werden: At the next stage (again following Newton) we then use the law of inertia (Kant’s second Law of Mechanics) to derive inverse-square (centripetal) accelerations of their satellites directed towards every primary body in the solar system (the moon towards the earth, the moons of Jupiter and Saturn towards their primary bodies, and so on): we now have „true“ (as opposed to merely „apparent“) orbital rotations in each case, which hence now count as actual. (Friedman 2012, 313; Hervorhebung im Original)
Nach Newton ergeben sich bei der mathematischen Bestimmung Beschleunigungen, die umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstandes der Satelliten von ihren Zentralkörpern sind. Im dritten Schritt wird das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung (Kants drittes Gesetz der Mechanik) auf die Situation der im zweiten Schritt berechneten Zentripetalbeschleunigungen der Satelliten in Richtung ihrer jeweiligen Zentralkörper angewendet: At the third stage, finally, we show (once again, following Newton) both that the accelerations in question are directly proportional to the quantities of matter of the corresponding primary bodies (so that the acceleration of the moon is proportional to the earth’s mass, those of the moons of Jupiter and Saturn are proportional to the masses of their primary bodies, and so on) and that such accelerations are also everywhere mutual between any two gravitationally interacting bodies (so that the earth accelerates towards the moon in turn, Jupiter and Saturn towards their satellites, and so on). Here, in accordance with the equality of action and reaction (Kant’s third law of Mechanics), we now have what Kant calls necessary equal and opposite motions, where the accelerations of any two gravitationally interacting bodies are oppositely directed and in inverse proportion to their masses. (Friedman 2012, 313; Hervorhebung im Original)
In dieser Beschreibung sind einige implizite Zwischenschritte enthalten, die wie folgt aufgefächert werden können: Die Anwendung des Gesetzes der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung ergibt zunächst, dass die Anziehungen der Sa-
somit auch die Bewegung des fallenden Steines als eine (zumindest näherungsweise) wirkliche Bewegung angenommen werden kann. Vgl. Friedman (1992a, 177).
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telliten und ihrer Primärkörper wechselseitig sind. Um das zusätzliche Ergebnis zu erlangen, dass diese Anziehungen proportional zu den Massen der sich anziehenden Körper sind, wird eine weitere Zusatzannahme benötigt: Die Annahme, dass jeder Körper des Sonnensystems eine Beschleunigung in Richtung jedes anderen Körpers erfährt, die umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstandes der Körper ist. Mit anderen Worten: Die in den vorherigen Schritten ermittelten Ergebnisse über die Anziehungen zwischen den Primärkörpern und ihren Satelliten müssen nun ausgedehnt werden auf eine universelle Anziehung aller Körper durch alle anderen.¹⁴⁶ Wie lässt sich eine solche Ausdehnung der bisherigen Ergebnisse rechtfertigen? Aus Kants Sicht liegt es nahe, die Anziehungskräfte, die zu den im zweiten Schritt ermittelten Beschleunigungen der Körper führen, mit der ursprünglichen Anziehungskraft der Materie zu identifizieren, die nach dem Dynamik-Kapitel eine der beiden Grundkräfte der Materie ist.¹⁴⁷ Aufgrund dessen kann Kant dann auf Ergebnisse aus dem Dynamik-Kapitel zurückgreifen, und zwar insbesondere auf die Lehrsätze 7 und 8, denen zufolge die ursprüngliche Anziehungskraft der Materie eine universelle Kraft ist, die zwischen allen Materie-Teilen unmittelbar wirkt, und die infolge dessen proportional zu den Massen der sich anziehenden Körper ist.¹⁴⁸
Vgl. Friedman (1992a, 177 f.) und (1992b, 148). Friedman (1992b, 153 ff.) erläutert ausführlich, weshalb die Bestimmung der Massen der Planeten anhand des Gesetzes der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung auf die Voraussetzung angewiesen ist, dass die Anziehungskräfte universell gelten. Kant macht diese Identifizierung in Zusatz 2 zu Lehrsatz 8 der Dynamik explizit: „Die Wirkung von der allgemeinen Anziehung, die alle Materie auf alle und in allen Entfernungen unmittelbar ausübt, heißt die Gravitation […].“ (MAN, AA 4: 518) Vgl. De Pierris / Friedman (2013, Fn. 38). Friedman (1992b, 159) sieht offenbar eine zusätzliche, wenn nicht gar die ausschlaggebende Rechtfertigung dieses Schrittes darin, dass es nur durch das universelle Gravitationsgesetz möglich wird, den Massenschwerpunkt des Universums zu ermitteln, was Friedmans Auslegung zufolge, wie wir gleich noch genauer sehen werden, für Kant (anders als für Newton) eine Bedingung dafür ist, dass der Begriff der wirklichen Bewegung überhaupt eine Bedeutung erhält. Vgl. Friedman (1992b, 174). Friedman (1992b, 173) weist darauf hin, dass Newton, anders als Kant, die Universalität der Anziehung durch empirische Belege untermauert. Auf Kants These, dass die Proportionalität der Anziehungskraft zur Masse aus der Unmittelbarkeit der Anziehungskraft folgt (MAN, AA 4: 516), gehe ich unten in Abschnitt 4.6.6 im Zusammenhang mit Plaass’ Auslegung von Kants Herleitung des Gravitationsgesetzes ein, in der dieser Zug ebenfalls eine tragende Rolle spielt.
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Die Universalisierung der bisherigen rechnerischen Ergebnisse führt schließlich auf das Gravitationsgesetz¹⁴⁹: In thus determining all the motions in question as first possible, then actual, and finally necessary we have, by the same argument, also established the law of universal gravitation: each body experiences a gravitational acceleration towards every other body that is directly proportional to the mass of the body towards which it accelerates and inversely proportional to the square of the distance between them. (Friedman 2012, 314)
Bis zu diesem Schritt wurde noch nicht die Frage geklärt, ob die Erde sich um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde. Vor dem Hintergrund des gerade nachvollzogenen dritten Schrittes der Herleitung des Gravitationsgesetzes können wir nun leicht erkennen, dass streng genommen beides nicht der Fall sein kann: Eine Anwendung des Gesetzes der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung (Kants drittes Gesetz der Mechanik) lässt uns nämlich erkennen, dass sowohl eine Beschleunigung der Erde in Richtung der Sonne vorliegt, als auch eine Beschleunigung der Sonne in Richtung der Erde.¹⁵⁰ Dies bedeutet, dass sich Sonne und Erde gemeinsam um einen Punkt drehen, der zwischen ihren jeweiligen Mittelpunkten liegt. Das Gravitationsgesetz ermöglicht es nun, eine mathematische Bestimmung der Massen der Sonne und der Erde (beziehungsweise des Größenverhältnisses ihrer Massen zueinander) vorzunehmen, mit dem Ergebnis, dass die Sonne eine um ein Vielfaches größere Masse besitzt.¹⁵¹ Es ergibt sich daher, dass die Sonne zwar streng genommen nicht ruht, dass aber der Punkt, um den sich Sonne und Erde gemeinschaftlich drehen, sehr nahe beim Mittelpunkt der Sonne liegt. Genau genommen muss man sogar noch einen Schritt weiter gehen und alle Körper des Planetensystems in die Rechnung einbeziehen, um den Massenschwerpunkt des gesamten Systems zu errechnen. Dieser Schwerpunkt kann als ein ausgezeichneter Bezugspunkt verstanden werden, relativ zu dem Bewegungen als wirkliche Bewegungen bestimmt werden können.¹⁵² Eine zen In moderner Notation lautet das Gravitationsgesetz: F = Gm1 m2 / r2, wobei G die Gravitationskonstante ist und m1 und m2 die Massen zweier beliebiger sich anziehender Körper sind, die sich im Abstand r zueinander befinden, wobei F die Kraft ist, mit der sie einander anziehen. Vgl. Friedman (1992b, 147). Nach Newton ist es insbesondere ein Vergleich zwischen der Beschleunigung des Mondes in Richtung der Erde mit der Beschleunigung der Venus in Richtung der Sonne, der die Feststellung ermöglicht, dass die Masse der Sonne sehr viel größer als die der Erde sein muss. Vgl. Friedman (2012, 313, Fn. 20). Das „bestimmt“ hat für Newton eine andere Bedeutung als für Kant. Wie in Abschnitt 4.6.2 erläutert, geht es Newton darum festzustellen, welches die wirklichen Bewegungen relativ zum absoluten Raum sind, während es Kant darum geht, dem Begriff der wirklichen Bewegung überhaupt erst eine Bedeutung zu verleihen. Entsprechend geht es Newton bei der Bestimmung
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trale Rolle bei dieser Überlegung nimmt der Satz von der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung ein: Der Massenschwerpunkt des gesamten Planetensystems ist – wie man anhand von Kants Konstruktion einer Bewegungsmitteilung im Rahmen seines Beweises für das dritte Gesetz der Mechanik nachvollziehen kann – derjenige Punkt, für den gilt, dass jede Bewegung durch eine Gegenbewegung mit gleich großem Impuls ausgeglichen wird. Nach Lehrsatz 3 der Phänomenologie, der sich in seinem Beweis gerade auf das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung stützt, gelten solche Bewegungen als wirkliche Bewegungen.¹⁵³ Friedman betont jedoch, dass für Kant die Bestimmung des Massenzentrums selbst an dieser Stelle noch keineswegs abgeschlossen ist, sondern durch eine Erweiterung der betrachteten Sphäre noch weiter vorangetrieben werden muss.¹⁵⁴ Um diesen Punkt herauszustreichen, verweist Friedman auf vorkritische Schriften Kants, in denen dieser eine fortschreitende Reihe von Bezugssystemen anspricht, die sich als eine unendliche Annäherung an ein privilegiertes Bezugssystem verstehen lässt, relativ zu dem Bewegungen als wirklich ausgezeichnet werden können.¹⁵⁵ Friedman bezieht sich insbesondere auf einen Abschnitt aus der Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, in dem Kant festhält, dass „[d]er planetische Weltbau, in dem die Sonne aus dem Mittelpunkte aller Kreise mit ihrer mächtigen Anziehung die bewohnte [sic] Kugeln ihres Systems in ewigen Kreisen umlaufend macht“ (NTH, AA 1: 306) nicht das einzige Planetensystem im Universum ist: „Alle Fixsterne, die das Auge an der hohlen Tiefe des Himmels entdeckt, […] sind Sonnen und Mittelpunkte von ähnlichen Systemen.“ (ebd.) Kant ist darüber hinaus der Ansicht, dass diese einzelnen Systeme (inklusive unseres Sonnensystems) „eine beziehende Verfassung und systematische Verbindung unter einander angenommen haben, als die Himmelskörper unserer
des Massenschwerpunktes darum, zu erkennen, welches Bezugssystem dem absoluten Raum entspricht, während es Kant darum geht, einen Punkt auszeichnen zu können, relativ zu dem Bewegungen als wirkliche Bewegungen definiert werden können. Vgl. Friedman (1992b, 143). Im Beweis heißt es: „Nach dem dritten Gesetz der Mechanik (Lehrs. 4) ist die Mitteilung der Bewegung der Körper nur durch die Gemeinschaft ihrer ursprünglich bewegenden Kräfte und diese nur durch beiderseitige entgegengesetzte und gleiche Bewegung möglich. Die Bewegung beider ist also wirklich.“ (MAN, AA 4: 558) Friedman (1992b, 150) führt dies als einen Grund dafür an, dass Kant das nach Friedmans Auslegung so zentrale Newtonsche Verfahren mit den Keplerschen Gesetzen als Ausgangspunkt in der Phänomenologie so wenig explizit macht: Kant strebe in seiner Konstruktion des absoluten Raums über das Sonnensystem hinaus und habe daher einen Grund, die Betonung von dem zur Vorlage dienenden Verfahren Newtons zu nehmen, da dieses auf das Sonnensystem beschränkt ist. Vgl. Friedman (1992b, 143).
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Sonnenwelt im kleinen“ (NTH, AA 1: 307) und dass sich das die Einzelsysteme umfassende System um einen gemeinsamen Massenschwerpunkt herum gebildet hat. Aber auch an dieser Stelle kann die Betrachtung weiter geführt werden, denn „[w]enn nun die Fixsterne ein System ausmachen, dessen Umfang durch die Anziehungssphäre desjenigen Körpers, der im Mittelpunkte befindlich ist, bestimmt wird, werden nicht mehr Sonnensystemata und, so zu reden, mehr Milchstraßen entstanden sein, die in dem grenzenlosen Felde des Weltraums erzeugt worden?“ (NTH, AA 1: 307 f.) Auch dies wird von Kant aufgrund von Beobachtungen bejaht, und auch diese Milchstraßen können ihm zufolge als Glieder eines gemeinsamen Systems betrachtet werden. Als er schließlich die Frage aufwirft: „Aber welches wird denn endlich das Ende der systematischen Einrichtungen sein?“, kommt er zu dem Ergebnis, dass es keine Grenze beim Aufstieg zu immer noch höheren, umfassenderen Systemen gibt (NTH, AA 1: 309).¹⁵⁶ Friedman nimmt diese Anmerkungen auf und knüpft sie an Äußerungen Kants aus den Metaphysischen Anfangsgründen, in denen vom absoluten Raum die Rede ist. In einer besonders wichtigen Passage heißt es: Der absolute Raum ist also nicht, als ein Begriff von einem wirklichen Objekt, sondern als eine Idee, welche zur Regel dienen soll, alle Bewegung in ihm bloß als relativ zu betrachten, notwendig, und alle Bewegung und Ruhe muß auf den absoluten Raum reduziert werden, wenn die Erscheinung derselben in einen bestimmten Erfahrungsbegriff (der alle Erscheinungen vereinigt) verwandelt werden soll. (MAN, AA 4: 560)¹⁵⁷
Friedman hebt insbesondere hervor, dass Kant den absoluten Raum als eine Idee bezeichnet. Vor dem Hintergrund des Newtonschen Konstruktionsverfahrens für einen Massenschwerpunkt des Planetensystems und Kants Feststellung, dass wir bei unserer Betrachtung von Bezugssystemen zu immer umfassenderen Systemen aufsteigen können, interpretiert Friedman dies so, dass der absolute Raum, charakterisiert durch „den gemeinschaftlichen Mittelpunkt der Schwere aller Materie“ (MAN, AA 4: 563)¹⁵⁸, der ideale Endpunkt des zu immer höheren Systemen aufsteigenden Konstruktionsverfahrens ist.¹⁵⁹ Die Bemerkung, dass alle Bewegung auf den absoluten Raum reduziert werden muss, versteht Friedman vor
Wir werden im nächsten Abschnitt anhand eines längeren Zitats aus dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft (KrV, A 662 f. / B 690 f.) sehen, dass Kant diese Idee, dass wir den Bezugsrahmen für die Anwendung des Gravitationsgesetzes auch über die Grenzen unseres Sonnensystems hinaus erweitern können, auch in seiner kritischen Phase noch vor Augen hatte. Zitiert bei Friedman (2013, 438). Zitiert bei Friedman (1992b, 143). Vgl. Friedman (1992b, 144).
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diesem Hintergrund so, dass durch das niemals abschließbare Verfahren der Bestimmung des privilegierten Bezugssystems die von uns beobachteten relativen Bewegungen immer genauer daraufhin überprüft werden können, ob sie wirklichen Bewegungen entsprechen oder nicht. Bei dieser Verwandlung der Erscheinungen „in einen bestimmten Erfahrungsbegriff“ handelt es sich um eine unendliche Aufgabe.¹⁶⁰ Das in diesem Abschnitt betrachtete dreischrittige Verfahren, das Kant nach Friedmans Rekonstruktion in Anlehnung an Newton durchführt, hat also insgesamt zu zwei Ergebnissen geführt: Erstens hat sich gezeigt, dass sich auf der Basis der Phänomene, die den Ausgangspunkt des Verfahrens gebildet haben, durch dieses Verfahren das Gravitationsgesetz herleiten lässt. Wie wir unten in Abschnitt 4.6.5 genauer sehen werden, bedeutet dies Friedman zufolge, dass das Gravitationsgesetz im Sinne der Kategorie der Notwendigkeit als ein notwendigerweise gültiges empirisches Naturgesetz eingesehen wurde. Das zweite Ergebnis besteht in der Bestimmung des Massenzentrums des betrachteten Planetensystems. Diese Bestimmung kann ausgeweitet werden zu einem immer weiter fortschreitenden Prozess der Annäherung an einen ausgezeichneten Punkt, der als der Schwerpunkt aller Materie als ruhend zu betrachten ist und relativ zu dem Bewegungen als wirkliche Bewegungen bestimmt werden können. Die an Newton angelehnte Herleitung des Gravitationsgesetzes gibt nach Friedmans Auslegung Kant also die Möglichkeit, trotz der Ablehnung von Newtons Annahme eines absoluten Raums dem Begriff der wirklichen Bewegung eine Bedeutung zuzusprechen.
4.6.4 Die Parallelen zwischen Kants Phänomenologie und Newtons Herleitung des Gravitationsgesetzes Wie Friedman selber hervorhebt, besteht ein Problem seiner Auslegung darin, dass Kant die ihm im Rahmen von Friedmans Rekonstruktion zugeschriebenen Herleitungsschritte nicht explizit durchführt. Insbesondere ist in der gesamten Phänomenologie nirgends explizit von den Keplerschen Gesetzen die Rede, die Friedman als den Ausgangspunkt von Kants Bestimmung der wirklichen Bewe-
Diese Auffassung der wirklichen Bewegungen als den Bewegungen relativ zu einem privilegierten Bezugssystem, das sich als ideales (nie erreichbares) Ergebnis einer unendlichen Untersuchung ergibt, passt natürlich sehr gut zu Kants Konzeption von Wirklichkeit, die ich oben in Abschnitt 3.4.3 herausgearbeitet habe. Nach dieser Konzeption ist dasjenige wirklich, was am (nie erreichbaren) Ende der Untersuchung von der dann vorliegenden idealen Theorie repräsentiert wird.
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gung rekonstruiert.¹⁶¹ Entsprechend ist Friedman dazu genötigt, ein umfangreiches Indizienverfahren zugunsten seiner Rekonstruktion zu führen. Insbesondere stützt sich Friedman hierbei einerseits auf gewisse Ähnlichkeiten zwischen den drei in der Phänomenologie vorgenommenen Schritten (Bestimmung der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit von Bewegungen) und Newtons Ableitungsschritten sowie andererseits auf zahlreiche direkte und indirekte Verweise Kants auf Newtons Werk. Eine erste Parallele findet sich im Zusammenhang mit der Bestimmung der Möglichkeit von Bewegungen, denn auch wenn Kant nicht – wie Newton – mit einem expliziten Bezug zu den Keplerschen Gesetzen beginnt, so ist doch festzustellen, dass Kant sein Augenmerk auf Bewegungen richtet, die er als bloße Erscheinungen von Erfahrung dadurch abhebt, dass er ihren relativen Charakter herausstreicht.¹⁶² Bei der Umwandlung in Erfahrung, die in den nächsten Schritten vollzogen wird, sind dann außerdem ganz grundlegend zwei Gesetze der Mechanik im Spiel, die auch von Newton bei der Herleitung des Gravitationsgesetzes verwendet werden: Bei der Bestimmung der wirklichen Bewegung im zweiten Lehrsatz der Phänomenologie kommt das zweite Gesetz der Mechanik zum Einsatz, das Newtons erstem Bewegungsgesetz (Trägheitssatz) entspricht, und bei der Bestimmung notwendiger Bewegung im dritten Lehrsatz spielt das dritte Gesetz der Mechanik eine tragende Rolle, das Newtons drittem Bewegungsgesetz (Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung) entspricht.¹⁶³ Diese Parallelen bekommen außerdem ein zusätzliches Gewicht dadurch, dass Friedman Textstellen anführen kann, in denen Kant sich explizit zum Verhältnis zwischen Keplers Gesetzen und dem Newtonschen Gravitationsgesetz
„There is a serious problem facing the above recostruction of Kant’s procedure, however. For the most interesting and important step in this reconstruction – the step that proceeds from the observable (Keplerian) relative motions in the solar system to the law of universal gravitation and the center of mass frame of the solar system, as in Principia, Book III – does not explicitly occur in Kant’s text.“ (Friedman 1992b, 149) Es gibt an dieser Stelle jedoch auch eine nicht unerhebliche Disanalogie zwischen Kants explizitem Vorgehen und Friedmans Rekonstruktion: Während die Bewegungen, die Kant in Lehrsatz 1 als bloß mögliche Bewegungen auszeichnet, geradlinige Bewegungen (im expliziten Kontrast zu den erst in Lehrsatz 2 behandelten kreisförmigen Bewegungen) sind, sind die nach Friedmans Rekonstruktion als Ausgangspunkt genommenen Bewegungen, die zunächst als bloß mögliche Bewegungen gelten, elliptische Bewegungen gemäß den Keplerschen Gesetzen. (Für einen entsprechenden Hinweis danke ich Ulrich Krohs.) Auf diesen Punkt werde ich unten in Abschnitt 4.6.7 bei meiner abschließenden Einschätzung von Friedmans Rekonstruktion zu sprechen kommen. Vgl. Friedman (1992b, 144).
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äußert.¹⁶⁴ So spricht eine von Friedman als Beleg angeführte Reflexion Kants die Friedmans Auslegung zugrunde liegende Idee an, dass Keplers Gesetze nur empirisch sind und Newtons Gravitationsgesetz dadurch als Gesetz eingesehen werden kann, dass es eine apriorische Grundlage hat: Empirisch kan man wol regeln herausbringen, aber nicht Gesetze; wie Kepler im Vergleich mit Newton; denn zu den letzteren gehört nothwendigkeit, Mithin, daß sie a priori erkannt werden. (R 5414; AA 18: 176)
Außerdem deutet Kant eine Ableitungsbeziehung zwischen Newtons Gravitationsgesetz und Keplers Gesetzen in seiner 1784, also zeitnah zu den Metaphysischen Anfangsgründen erschienenen Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht an: So brachte [die Natur] einen K e p l e r hervor, der die eccentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf, und einen N e w t o n , der diese Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache erklärte. (IaG, AA 8: 18)
Hinzu kommt eine Stelle aus dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft, an der Kant erläutert, wie das in dem dortigen Abschnitt behandelte Prinzip der Systematizität dazu verwendet werden kann, die Keplerschen Gesetze zu entdecken.¹⁶⁵ Auch in diesem Zusammenhang wird das Gravitationsgesetz und sein Verhältnis zu den Keplerschen Gesetzen thematisiert: [W]enn uns z. B. durch eine (noch nicht völlig berichtigte) Erfahrung der Lauf der Planeten als kreisförmig gegeben ist, und wir finden Verschiedenheiten, so vermuten wir sie in demjenigen, was den Zirkel nach einem beständigen Gesetze durch alle unendliche Zwischengrade, zu einem dieser abweichenden Umläufe abändern kann, d. i. die Bewegungen der Planeten, die nicht Zirkel sind, werden etwa dessen Eigenschaften mehr oder weniger nahe kommen, und fallen auf die Ellipse. […] So kommen wir, nach Anleitung jener Prinzipien, auf Einheit der Gattungen dieser Bahnen in ihrer Gestalt, dadurch aber weiter auf Einheit der Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung (die Gravitation), von da wir nachher unsere Eroberungen ausdehnen, und auch alle Varietäten und scheinbare Abweichungen von jenen Regeln aus demselben Prinzip zu erklären suchen, endlich gar mehr hinzufügen, als Er-
Vgl. Friedman (2012, 315, Fn. 23). Das Prinzip der Systematizität, dessen Details für das Verständnis des gegenwärtig relevanten Punktes nicht zentral sind, wird unten in den Kapiteln 5 und 6 noch sehr ausführlich behandelt. In Kapitel 6, Abschnitt 6.4.6, wird das hier angeführte Zitat noch einmal hinsichtlich der Frage analysiert, wie Verstand und Urteilskraft bei der Auffindung und Rechtfertigung von empirischen Naturgesetzen miteinander kooperieren. Diese Fragestellung blende ich hier zunächst noch aus und konzentriere mich stattdessen auf die in der Passage enthaltenen Hinweise bezüglich des Zusammenhangs zwischen den Keplerschen Gesetzen und dem Gravitationsgesetz.
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fahrung jemals bestätigen kann, nämlich uns nach den Regeln der Verwandtschaft selbst hyperbolische Kometenbahnen zu denken, in welchen diese Körper ganz und gar unsere Sonnenwelt verlassen, und, indem sie von Sonne zu Sonne gehen, die entfernteren Teile eines für uns unbegrenzten Weltsystems, das durch eine und dieselbe bewegende Kraft zusammenhängt, in ihrem Lauf vereinigen. (KrV, A 662 f. / B 690 f.; meine Hervorhebungen)
Das Verfahren beginnt mit den zunächst als kreisförmig angenommenen Planetenbahnen, die sich jedoch durch empirische Belege als unpräzise herausstellen. Kant beschreibt die Entdeckung der elliptischen Form der Planetenbahnen, die den Keplerschen Gesetzen entsprechen, als ein Verfahren der graduellen Abänderung der zuvor angenommenen kreisförmigen Bahnen. Für den gegenwärtigen Punkt besonders interessant ist, dass dann in einem weiteren Schritt die Gravitationskraft als „Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung“, das heißt als ein Gesetz ausgezeichnet wird, das die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegungen unter sich fasst. Hier haben wir also einen weiteren Hinweis darauf, dass Kant den in Friedmans Rekonstruktion hervorgehobenen Zusammenhang zwischen den Keplerschen Gesetzen und dem Newtonschen Gravitationsgesetz für zentral gehalten hat. Interessant ist außerdem, dass am Ende der zitierten Passage die oben in Abschnitt 4.6.3 thematisierte und ebenfalls von Friedman hervorgehobene Idee ausgedrückt wird, dass Kant in der weiteren Entwicklung das Gravitationsgesetz auf einen Bereich beziehen möchte, der die Grenzen unseres Sonnensystems überschreitet. Neben den vorhandenen Parallelen zu Newtons Vorgehen und der flankierenden Stützung durch Zitate erhält Friedmans Lesart dadurch eine starke Plausibilität, dass sie es, wie wir am Ende des letzten Abschnittes gesehen haben, ermöglicht, Kants Äußerungen bezüglich der Idee des absoluten Raumes und des Zusammenhangs dieser Idee mit dem Begriff der wirklichen Bewegung einen klar spezifizierten Sinn zu verleihen. Und schließlich besteht eine weitere – im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit besonders relevante – Stärke von Friedmans Rekonstruktion darin, dass sie verdeutlicht, wie Kant sich die Verbindung zwischen empirischen und apriorischen Gesetzen vorgestellt haben könnte: Das Gravitationsgesetz, das sich im Rahmen der Konstruktion des ausgezeichneten Bezugssystems ergibt, ist ein empirisches Naturgesetz, aber nach Friedmans Rekonstruktion gehen in bedeutendem Maße auch apriorische Anteile in seine Herleitung ein. Der empirische Charakter des Gesetzes ergibt sich aus den im ersten Schritt eingegangenen Keplerschen Gesetzen, bei denen es sich um induktiv gewonnene Regularitäten handelt. Im weiteren Verlauf ergibt sich auf dieser empirischen Basis dann vor allem unter Rückgriff auf das zweite und dritte Gesetz der Mechanik das Gravitationsgesetz. Wie wir oben in Abschnitt 4.5 gesehen haben, handelt es sich bei
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den Gesetzen der Mechanik um apriorische Gesetze, die unter den Analogien der Erfahrung stehen und in die auch bereits mit dem Begriff der Materie ein gewisser empirischer Teilgehalt eingegangen ist. Die Anwendung dieser apriorischen Gesetze auf die empirischen Phänomene leistet nun das, wonach wir suchen: Sie führt dazu, dass das resultierende empirische Gesetz als ein Naturgesetz im strengen Sinne des Wortes – das heißt insbesondere als ein Gesetz mit notwendiger Gültigkeit – aufgefasst werden kann. Dieser Schritt wird von Friedman anhand einer Parallele zu den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt aus dem Grundsatzkapitel der Kritik der reinen Vernunft näher beleuchtet.
4.6.5 Der Zusammenhang der Phänomenologie mit den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt Friedman bringt die gerade vorgestellte Herleitung des Gravitationsgesetzes in einen Zusammenhang mit den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt und klärt dadurch zugleich, inwiefern es sich beim Gravitationsgesetz um ein notwendiges Gesetz handelt, obwohl es ein empirisches Naturgesetz ist. Die Idee, einen Zusammenhang mit den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt zu suchen, ist durchaus naheliegend, beziehungsweise im Zusammenhang mit dem Plan der Metaphysischen Anfangsgründe geradezu konsequent: Bei den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt handelt es sich um drei Grundsätze des Verstandes, und zwar gerade um diejenigen Grundsätze, die den drei ModalitätsKategorien zugewiesen sind. Diese drei Kategorien, bei denen es sich um die Begriffe der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit handelt, sind nach dem Plan der Metaphysischen Anfangsgründe diejenigen Kategorien, die im Phänomenologie-Kapitel auf den Begriff der Materie angewendet werden sollen und – wie wir oben gesehen haben – in den drei Lehrsätzen der Phänomenologie auch angewendet werden. Eine Betrachtung der drei im Hintergrund stehenden Postulate des empirischen Denkens überhaupt kann Friedman zufolge genauer klären, inwiefern das Resultat der Herleitung – das Gravitationsgesetz – notwendig im Sinne der Kategorie der Notwendigkeit ist. Interessant sind die Postulate nämlich insbesondere deshalb, weil Kant in ihnen klärt, was er unter den drei Modalitäts-Kategorien genau versteht: 1. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist m ö g l i c h . 2. Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist w i r k l i c h .
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3. Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existiert) n o t w e n d i g . (KrV, A 218 / B 265 f.)
Man kann sich die Postulate wie folgt erschließen¹⁶⁶: Unter den im ersten Postulat genannten formalen Bedingungen der Erfahrung versteht Kant die Anschauungsformen Raum und Zeit sowie die Kategorien der ersten drei Titel (Quantität, Qualität, Relation) und die mit ihnen zusammenhängenden Grundsätze des Verstandes. Diese stellen den Rahmen dessen dar, was im Bereich des Empirischen möglich ist. Wenn wir wissen möchten, welche der innerhalb dieses apriorischen Rahmens vorhandenen Möglichkeiten in der Natur tatsächlich verwirklicht sind, müssen wir auf Erfahrung zurückgreifen: Etwas, was uns in der Wahrnehmung sinnlich gegeben ist, wird dadurch als wirklich erkannt. Wenn wir dann erkennen, dass etwas gemäß den allgemeinen Bedingungen der Erfahrung mit dem durch die Erfahrung als wirklich erkannten verknüpft ist, können wir es dadurch als notwendig bestimmen. Zur Klärung dieses letzten Schrittes lässt sich eine weitere Stelle aus dem Abschnitt über die Postulate des empirischen Denkens überhaupt anführen, an der deutlich wird, dass Kant als zentrales Beispiel für eine Verknüpfung mit dem Wirklichen, durch die wir etwas als notwendig erkennen können, einen Zusammenhang auf der Grundlage empirischer Kausalgesetze vor Augen hat¹⁶⁷: Was endlich das d r i t t e Postulat betrifft, so geht es auf die materiale Notwendigkeit im Dasein, und nicht die bloß formale und logische in Verknüpfung der Begriffe. Da nun keine Existenz der Gegenstände der Sinne völlig a priori erkannt werden kann, aber doch comparative a priori relativisch auf ein anderes schon gegebenes Dasein, gleichwohl aber auch alsdenn nur auf diejenige Existenz kommen kann, die irgendwo in dem Zusammenhange der Erfahrung, davon die gegebene Wahrnehmung ein Teil ist, enthalten sein muß: so kann die Notwendigkeit der Existenz, niemals aus Begriffen, sondern jederzeit nur aus der Verknüpfung mit demjenigen, was wahrgenommen wird, nach allgemeinen Gesetzen der Erfahrung erkannt werden können. Da ist nun kein Dasein, was unter der Bedingung anderer gegebener Erscheinungen, als notwendig erkannt werden könnte, als das Dasein der Wirkungen aus gegebenen Ursachen nach Gesetzen der Kausalität. Also ist es nicht das Dasein der Dinge (Substanzen), sondern ihres Zustandes, wovon wir allein die Notwendigkeit erkennen können, und zwar aus anderen Zuständen, die in der Wahrnehmung gegeben sind, nach empirischen Gesetzen der Kausalität. (KrV, A 226 f. / B 279 f.)
Vgl. Friedman (2012, 310). Siehe hierzu auch oben den Abschnitt 3.4.3 aus dem Kapitel über die zweite Analogie der Erfahrung.
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Wie Friedman hervorhebt, zeigt sich an dieser Stelle ganz deutlich, dass Kant in den Postulaten die Thematik der Notwendigkeit empirischer Kausalgesetze aufgreift.¹⁶⁸ Friedman liest die Postulate vor diesem Hintergrund als eine Erläuterung der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze, die sich an der Herleitung des Gravitationsgesetzes wie folgt nachvollziehen lässt: Die eingangs noch als bloß möglich betrachteten Bewegungen der Planeten gemäß den Keplerschen Gesetzen werden im zweiten Schritt der Herleitung als wirkliche Bewegungen betrachtet. Im dritten Schritt wird dann anhand der allgemeinen Bedingungen der Erfahrung, nämlich der zu den Gesetzen der Mechanik spezifizierten Analogien der Erfahrung, das Gravitationgsesetz vor dem Hintergrund der als wirklich angenommenen Bewegungen als notwendig ausgezeichnet. Wir müssen hier jedoch etwas vorsichtig sein, denn auch wenn Friedmans Anknüpfung seiner Interpretation an den Begriff der materialen Notwendigkeit, wie er im dritten Postulat zum Ausdruck kommt, eine gewisse Plausibilität hat, muss festgestellt werden, dass seine Analyse an dieser Stelle nicht einfach nur einer Anwendung der Postulate auf die Schritte der Herleitung des Gravitationsgesetzes entspricht, sondern dass er die Postulate, damit sie so angewendet werden können, zunächst für diesen Zweck in einer bestimmten Weise umdeuten muss. Denn so, wie Kant die Postulate formuliert und insbesondere in seiner gerade zitierten Erläuterung des dritten Postulates darstellt, geht es in den Postulaten nicht um die Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit von Naturgesetzen, sondern um die Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit der Existenz von Zuständen von Objekten. ¹⁶⁹ Tatsächlich ist es nach der Formulierung des dritten Postulats sogar so, dass für die Bestimmung der Existenz von etwas als notwendig bereits vorausgesetzt werden muss, dass man ein empirisches Naturgesetz zur Hand hat, das die Grundlage einer notwendigen Verknüpfung darstellen kann: Um die Existenz eines Objektzustandes relativ zu einem gegebenen anderen Zustand als notwendig zu bestimmen, benötige ich nach dem dritten
Vgl. Friedman (2012, 310 f.). Nach der oben im dritten Kapitel dargestellten Kausalitätskonzeption, wie Kant sie im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung durchklingen lässt, ist davon auszugehen, dass an der hier betrachteten Stelle aus dem Abschnitt über die Postulate des empirischen Denkens überhaupt die Rede von der Existenz von Zuständen von Objekten ist, da diese dasjenige sind, was Kants Konzeption zufolge durch kausale Einwirkungen entsteht. Siehe vor allem oben, Abschnitt 3.3.4. Tatsächlich macht Kant dies auch im letzten Satz der oben zitierten längeren Passage an der Stelle (KrV, A 226 f. / B 279 f.) explizit.
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Postulat ein empirisches Kausalgesetz, nach dem der als notwendig auszuzeichnende Zustand aus dem anderen Zustand folgen muss.¹⁷⁰ Auf den Punkt gebracht kann man die parallele Struktur und die inhaltlichen Unterschiede zwischen den von Kant formulierten Postulaten und Friedmans Lesart wie folgt festhalten: In den Postulaten geht es genau genommen darum, dass (i) ein Objektzustand anhand eines (ii) bereits vorliegenden empirischen Kausalgesetzes relativ zu einem (iii) empirisch gegebenem anderen Objektzustand als notwendig erkannt werden kann. Friedman steigt in gewisser Weise eine Ebene hinauf, wenn er die Frage nach der Notwendigkeit empirischer Gesetze in den Vordergrund rückt. Er zieht dann von dieser Ebene aus folgende Parallele zu den Postulaten: Analog zu den Postulaten lässt sich anhand von Kants Newtonscher Herleitung des Gravitationsgesetzes erkennen, wie (i) ein empirisches Naturgesetz (hier: das Gravitationsgesetz) vor dem Hintergrund (ii) allgemeiner Erfahrungsgesetze (hier insbesondere: die Analogien der Erfahrung und die unter ihnen stehenden Gesetze der Mechanik) relativ zu (iii) empirisch gegebenen Regularitäten (hier: Keplers Gesetze) als notwendig erkannt werden kann. Es zeigt sich also, dass die Anwendung der Postulate auf die Situation der Herleitung des Gravitationsgesetzes nicht ganz so eingängig ist, wie dies nach Friedmans Darstellung auf den ersten Blick erscheint. Wir können Friedmans Punkt an dieser Stelle vielleicht am besten so verstehen, dass es ihm darum geht, Kants Konzeption so zu erweitern, dass das Ergebnis mit Kants Grundideen weitgehend vereinbar ist. Die Übertragung der Postulate von einer Bestimmung des Begriffs der Notwendigkeit von Objektzuständen auf eine Bestimmung des Begriffs der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze, so lässt sich für Friedmans Vorschlag argumentieren, liegt allein schon deshalb nahe, weil die drei Lehrsätze der Phänomenologie von Kant explizit den drei Kategorien der Modalität untergeordnet werden. Friedmans Rekonstruktion beinhaltet somit einen sehr interessanten Vorschlag dafür, wie man sich im Sinne Kants die Bestimmung eines empirischen Naturgesetzes als notwendig im Sinne der Kategorie der Notwendigkeit vorstellen kann, auch wenn es sich hierbei streng genommen um eine Ebenenverschiebung dessen, was Kant in den Postulaten explizit festhält, handelt, und damit im Prinzip um eine Erweiterung von Kants Ansatz.
Siehe hierzu insbesondere den letzten Satz der oben ausführlich zitierten Erläuterung Kants zum dritten Postulat (KrV, A 226 f. / B 279 f.).
4.6 Phänomenologie: Der Ort von Kants Begründung des Gravitationsgesetzes?
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4.6.6 Eine Alternative zu Friedmans Rekonstruktion: Kants Begründung des Gravitationsgesetzes nach Plaass Wie bereits oben erwähnt, hat sich Kant unglücklicherweise nicht direkt zu seiner Vorstellung der Begründung des Gravitationsgesetzes geäußert, sodass Friedman sich in seiner Interpretation auf viele verschiedene Indizien stützen muss, die er zu einem komplexen Gesamtbild formt. Neben der von Friedman ausführlich ausgearbeiteten Interpretation gibt es allerdings noch mindestens einen weiteren Kandidaten für eine Auslegung von Kants Begründung des Gravitationsgesetzes, die sich ebenfalls auf einige Indizien in Kants Text stützen kann. Diese Auslegung wurde von Plaass zumindest in Grundschritten vorgestellt.¹⁷¹ Plaass’ Auslegung nimmt ihren Ausgangspunkt darin, dass Kant schon im Dynamik-Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe eine Anziehungskraft thematisiert hat, die nach der dort vorgestellten dynamischen Materie-Theorie ein wesentliches Merkmal von Materie darstellt (s.o., Abschnitt 4.4.2). Dass alle materiellen Körper sich wechselseitig anziehen, lässt sich also nach Kants Ansatz in der Dynamik a priori beweisen. Aus dieser allgemeinen Feststellung allein lässt sich nun jedoch noch nicht die spezifischere Gravitationskraft und das mit ihr verbundene Gravitationsgesetz folgern, welches die Anziehung materieller Körper in Abhängigkeit von ihren Massen mathematisch genau bestimmt. Auf diesen Punkt weist Kant in der Allgemeinen Anmerkung zur Dynamik sogar explizit hin: [W]eder irgend ein Gesetz der anziehenden, noch zurückstoßenden Kraft [darf] auf Mutmaßungen a priori gewagt, sondern alles, selbst die allgemeine Attraktion, als Ursache der Schweren, muß samt ihrem Gesetze aus Datis der Erfahrung geschlossen werden. (MAN, AA 4: 534)
Und wie auch Plaass festhält, hat sich Kant zu den weiteren Schritten, die für eine solche Herleitung nötig sind, nicht explizit geäußert. So weit stimmt Plaass’ Auffassung mit Friedmans überein. Plaass trägt nun jedoch einige Stellen zusammen, die weitere Informationen zu einer genaueren Bestimmung der Gravitationskraft beinhalten. Seine Idee besteht darin, dass Kant ausgehend von der für Materie konstitutiven Anziehungskraft, über die sich – wie wir gleich sehen werden – Kant zufolge a priori
Siehe Plaass (1965, Abschnitt 6.5). Auf die Wichtigkeit dieser alternativen Auslegung von Kants Begründung des Gravitationsgesetzes haben mich sowohl Erdmann Görg als auch Daniel Warren hingewiesen. Friedman (1992b, 149, n. 20) verweist ebenfalls auf Plaass’ Auslegung als eine Alternative.
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noch mehr aussagen lässt als ihre bloße Existenz, anhand mathematischer Überlegungen eine Spezifizierung vornimmt, die dann schließlich durch empirische Messungen ergänzt werden muss, um das Gravitationsgesetz zu erhalten. Diese Schritte sehen nach Plaass wie folgt aus:¹⁷² Zunächst hält Kant in Lehrsatz 7 der Dynamik fest, dass es sich bei der ursprünglichen Anziehungskraft um eine durchdringende Kraft handelt (MAN, AA 4: 512)¹⁷³: Im Gegensatz zur ursprünglichen Zurückstoßungskraft ist ihre Wirkung nicht von einer Flächenberührung mit einer benachbarten Materie, auf die sie wirkt, abhängig, sondern sie wirkt „durch den leeren Raum“ (MAN, AA 4: 512).¹⁷⁴ Wie später, in Lehrsatz 8 und dem zugehörigen Beweis, deutlich wird, meint Kant hiermit nicht, dass die Anziehungskraft stets durch ein Vakuum wirken muss, sondern dass sie durch den Raum wirkt, unabhängig davon, was sich darin befindet, also insbesondere auch „unerachtet aller dazwischen liegenden Materien“ (MAN, AA 4: 517). Daher gilt: „Die ursprüngliche Anziehungskraft […] erstreckt sich im Weltraume von jedem Teile derselben auf jeden andern unmittelbar ins Unendliche.“ (MAN, AA 4: 516) Dadurch, dass es sich um eine durchdringende Kraft handelt, steht nach Kant außerdem fest, dass sie proportional zur Quantität der Materie ist, von der diese Kraft ausgeht: [U]nd also ist sie [die ursprüngliche Anziehungskraft] eine durchdringende Kraft, und dadurch allein jederzeit der Quantität der Materie proportioniert. (MAN, AA 4: 516)¹⁷⁵
Die im Folgenden beschriebenen Schritte sind zum Teil der Sache nach problematisch, worauf ich an den entsprechenden Stellen in Fußnoten hinweisen werde. Plaass geht es auch explizit nicht darum, die Position, die er Kant in Bezug auf die Begründung des Gravitationsgesetzes zuschreibt, der Sache nach zu verteidigen, sondern lediglich darum, festzustellen, welche Position Kant vertreten hat. Da ich dasselbe Ziel verfolge, belasse ich es bei kurzen Hinweisen auf innere Spannungen und argumentative Schwächen von Kants Position. Erst später, in Erklärung 7 (MAN, AA 4: 516), reicht Kant die Definition des Ausdrucks „durchdringende Kraft“ nach. Im Beweis des Lehrsatzes begründet Kant den durchdringenden Charakter der Anziehungskraft damit, dass sie „selbst den Grund der Möglichkeit der Materie [enthält] […]. Sie muß also vor dieser vorhergehen, und ihre Wirkung muß folglich von der Bedingung der Berührung unabhängig sein.“ (MAN, AA 4: 512) Dieses Argument kann in dieser Form jedoch nicht überzeugen, weil nach Kant auch für die ursprüngliche Zurückstoßungskraft gilt, dass sie eine Bedingung der Materie darstellt, und im Gegensatz zur Anziehungskraft ist die Zurückstoßungskraft Kant zufolge keine durchdringende Kraft, sondern eine Flächenkraft. (Vgl. Pollok 2001b, 297) Für einen Lösungsvorschlag zur Rettung von Kants Argument siehe Friedman (2013, 205 ff.). Die Proportionalitätsbehauptung erzeugt eine große Spannung in Kants Konzeption, die schon früh bemerkt worden ist: Nach Kant handelt es sich bei der Anziehungskraft um eine Kraft, die für Materie konstitutiv ist, die es also erst möglich macht, dass eine Materie einen Raum zu
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Der Zusammenhang des durchdringenden Charakters der Kraft mit der Proportionalitätsbehauptung lässt sich so verstehen, dass aufgrund des durchdringenden Charakters jeder Teil eines materiellen Körpers auf jeden anderen Teil eines anderen materiellen Körpers wirkt: [D]urch wahre Anziehung [wirken] alle Teile der Materie unmittelbar auf alle Teile der andern […]. (MAN, AA 4: 524)
Plaass’ lediglich angedeutete Überlegung besteht offenbar in Folgendem: Aufgrund der Tatsache, dass alle Teile eines anziehenden Körpers wirken, kann man Kant zufolge schließen, dass die insgesamt ausgeübte Anziehungskraft F proportional zur Quantität der Materie beziehungsweise Masse m1 des anziehenden Körpers ist und aufgrund der Tatsache, dass die Anziehungskraft auf alle Teile des angezogenen Körpers wirkt, folgt, dass die insgesamt ausgeübte Anziehungskraft proportional zur Quantität der Materie beziehungsweise Masse m2 des angezogenen Körpers ist. So erhalten wir als Zwischenergebnis: F ~ m1 m2
Hieran anschließend können nun mathematische Überlegungen zu einer weiteren Spezifizierung dieser Rumpfversion des Gesetzes beitragen. Kant stellt hierzu folgende Überlegungen an: Von einer jeden Kraft, die in verschiedene Welten unmittelbar wirkt, und in Ansehung des Grades, womit sie auf einen jeden in gewisser Weise gegebenen Punkt bewegende Kraft ausübt, nur durch die Größe des Raumes, in welchem sie sich ausbreiten muß, um auf jenen Punkt zu wirken, eingeschränkt wird, kann man sagen: daß sie in allen Räumen, in die sie sich verbreitet, […] immer ein gleiches Quantum ausmache, daß aber der Grad ihrer Wirkung auf jenen Punkt in diesem Raume jederzeit im umgekehrten Verhältnis des Raumes stehe, in welchen sie sich hat verbreiten müssen, um auf ihn wirken zu können. (MAN, AA 4: 518 f.)
Kant geht hier also von einem Prinzip aus, nach dem der Grad der Wirkung einer Kraft, die sich im Raum ausbreitet, sich umgekehrt proportional zu der Größe des Raumes verhält, in den sich die Kraft ausbreitet. Er vergleicht dies mit der kugelförmigen Ausbreitung von Licht, das von einer punktförmigen Lichtquelle ausgeht. Auch hier gelte, „daß ein in dieser Kugelfläche angenommener gleicher
einem bestimmten Grad erfüllt. Die Anziehungskraft ist somit Voraussetzung für die Quantität der Materie. Sie kann daher nicht umgekehrt in ihrer Stärke von der Quantität der Materie abhängig sein. Zu diesem Zirkularitätsvorwurf, auf den Kant 1792 von Jacob Sigismund Beck hingewiesen wurde, siehe Pollok (2001b, 309 f.).
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Teil dem Grade nach desto weniger erleuchtet sein müsse, als jene Fläche der Verbreitung eben desselben Lichtquantum größer ist“ (MAN, AA 4: 519). Die Anwendung dieses Prinzips auf die ursprüngliche Anziehungskraft der Materie liefert dann eine weitere Spezifizierung unseres bisherigen Rumpfgesetzes: Bei der ursprünglichen Anziehungskraft der Materie handelt es sich Kant zufolge gerade um eine durchdringende Kraft, die in ihrer Ausbreitung nicht von zwischenliegender Materie eingeschränkt wird, sondern sich nur dadurch in der Intensität verringern kann, dass sie sich durch ihre Ausbreitung im Raum verstreut. Die Kugeloberfläche einer Kugel mit dem Radius r beträgt 4πr². Wenn wir mit Kant davon ausgehen, dass sich die Intensität der sich kugelförmig ausbreitenden Kraft im umgekehrten Verhältnis zur Größe der Fläche, in die sie sich bei einem gegebenen Ausbreitungsradius ausbreitet, verringert, dann gilt: Die Intensität der Kraft ist umgekehrt proportional zum Quadrat des Ausbreitungsradius. Kant kommt entsprechend zu folgendem Ergebnis: Also würde die ursprüngliche Anziehung der Materie in umgekehrtem Verhältnis der Quadrate der Entfernung in alle Weiten […] wirken […]. (MAN, AA 4: 521)
Wenn wir dieses Ergebnis in das bisherige Rumpfgesetz einfließen lassen, können wir über die Anziehungskraft zweier Materien aufeinander sagen: F ~ m1 m2 / r2
Plaass weist darauf hin, dass man sich mit diesen Überlegungen dem Gravitationsgesetz bereits sehr weit angenähert hat. Dieses lautet nämlich in moderner Notation: F = G m1 m2 / r2
Nachdem man die aufgeführten Überlegungen Kants, die ihm zufolge a priori angestellt werden können, zusammengetragen hat, besteht die Aufgabe also letztlich nur noch darin, die Gravitationskonstante G zu bestimmen. Nach Plaass ist dies nun die Stelle, an der wir mit empirischen Experimenten ansetzen können: Durch experimentelle Messungen, bei denen wir uns durch das weiter zu bestimmende Rumpfgesetz leiten lassen können, können wir die bis dahin noch unbekannte Konstante empirisch bestimmen. Das Gravitationsgesetz ist also auch nach Plaass’ Auslegung von Kants Begründung des Gesetzes eine Zusammensetzung aus apriorischen und empirischen Anteilen: Während apriorische Überlegungen ein Rumpfgesetz bereitstellen, das zunächst nur in einer Proportionalitätsbehauptung besteht, liefern empirische
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Experimente dann die Naturkonstante, mit der der Rumpf zum Gravitationsgesetz spezifiziert werden kann.¹⁷⁶ Ein interessanter Vorzug von Plaass’ Lesart, den er auch selber hervorhebt, besteht darin, dass sie eine relativ zentrale Bemerkung Kants aus der B-Vorrede der Kritik der reinen Vernunft beleuchtet.¹⁷⁷ Um sein Projekt einer Revolution in der Metaphysik zu motivieren, führt Kant unter anderem die neuzeitliche Entwicklung der Physik als vorbildliches Beispiel an, da in ihr eine solche Revolution mit großem Erfolg durchgeführt wurde. Die Revolution besteht im Wesentlichen darin, dass man nicht mehr annimmt, „alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten“ (KrV, B XVI), sondern die umgekehrte Annahme, „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten“ (ebd.) zur Grundlage seiner Untersuchung macht. Für den Fall der Physik beschreibt Kant das Ergebnis dieser Revolution wie folgt: Sie [Galilei, Torricelli und Stahl] begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der
Alfred E. und Maria G. Miller (1994, 140, Fn. 86) weisen in der Einleitung in ihre englische Übersetzung von Plaass’ Buch Kants Theorie der Naturwissenschaft darauf hin, dass nach dieser Rekonstruktion das Humesche Induktionsproblem für das resultierende Gravitationsgesetz von Kant nicht überwunden wird: Die Bestimmung der Gravitationskonstante basiert auf empirischen Daten, die in einer bestimmten Zeitspanne erhoben werden, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die derart bestimmte Konstante sich in der Zukunft ändert. Dasselbe gilt allerdings auch für die Herleitung des Gravitationsgesetzes nach Friedmans Rekonstruktion: Auch in diese gehen empirische Daten in Form der Keplerschen Gesetze ein, bei denen es sich um induktiv gewonnene Verallgemeinerungen von Einzelbeobachtungen handelt. Daher muss meines Erachtens festgehalten werden, dass die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft nicht der Ort ist, an dem eine Auseinandersetzung Kants mit Humes Induktionsproblem zu suchen ist. Wie wir in den folgenden Kapiteln, vor allem in den Abschnitten 5.2.4 und 6.3 sehen werden, gibt es andere Stellen in Kants kritischen Schriften, an denen es eine (zum Teil allerdings implizite) Auseinandersetzung mit dem Induktionsproblem gibt. (Im Anschluss an die Ergebnisse von Abschnitt 3.3.7 gehe ich allerdings davon aus, dass das Induktionsproblem aus Kants Sicht nicht den zentralen Gegenstand seiner Auseinandersetzung mit Hume darstellt.) Auf diesen Zusammenhang und die Wichtigkeit der Stelle aus der B-Vorrede für den vorliegenden Kontext hat mich wiederum Daniel Warren hingewiesen. Besonders interessant ist der Zusammenhang unter anderem aufgrund der zeitlichen Nähe zwischen der Veröffentlichung der Metaphysischen Anfangsgründe (1786) und der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787).
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anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. (KrV, B XIII)
Vor dem Hintergrund von Plaass’ Auslegung wird verständlich, was Kant genau mit den Fragen meinen könnte, auf die der Naturforscher die Natur nötigt zu antworten, und worin der zuvor entworfene Plan besteht, der es ermöglicht, die Beobachtungen zur Erkenntnis eines notwendigen Gesetzes zu vereinigen: Der Plan besteht im Fall des Gravitationsgesetzes in dem a priori entwickelten Rumpfgesetz, das als Leitfaden für Experimente herangezogen werden kann, in denen die Natur auf die konkrete Frage nach dem antworten muss, was das Rumpfgesetz noch offen lässt: Die Frage nach der Gravitationskonstante.
4.6.7 Die Überschneidungen zwischen den beiden alternativen Interpretationen von Kants Begründung des Gravitationsgesetzes Friedmans Rekonstruktion weist viele Stärken auf, die insbesondere darin bestehen, dass bestimmte Probleme, die sich für Kants Konzeption stellen, nach dieser Rekonstruktion im Sinne Kants gelöst werden können. Insbesondere die Bestimmung des Begriffes der wirklichen Bewegung auf der Grundlage der Konstruktion eines absoluten Raumes ist hier zu nennen. Wir haben jedoch gesehen, dass es neben vielen Indizien aus verschiedenen Textstellen, die Friedman zusammenträgt, auch Disanalogien zwischen der Rekonstruktion und dem, was sich explizit im Phänomenologie-Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe findet, gibt. Zunächst ist es natürlich bemerkenswert, dass Kant die Keplerschen Gesetze und ihr Verhältnis zum Gravitationsgesetz in diesem Kapitel nicht explizit erwähnt. Es lässt sich außerdem feststellen, dass Kants Lehrsätze, die den Übergang von bloß möglichen über wirklichen bis hin zu notwendigen Bewegungen vollziehen, sich – bei allen von Friedman herausgearbeiteten Parallelen – in mancher Hinsicht auch inhaltlich von dem in Friedmans Rekonstruktion herausgearbeiteten Übergang von den Keplerschen Gesetzen zum Gravitationsgesetz unterscheiden. Dies wird insbesondere deutlich beim ersten Schritt, der im ersten Lehrsatz thematisierten bloß möglichen Bewegung. Hier zeigt sich folgende Disanalogie zwischen Kants explizitem Vorgehen und Friedmans Rekonstruktion: Während die Bewegungen, die Kant in Lehrsatz 1 als bloß mögliche Bewegungen auszeichnet, geradlinige Bewegungen (im expliziten Kontrast zu den erst in Lehrsatz 2 behandelten kreisförmigen Bewegungen) sind, sind die nach Friedmans Rekonstruktion als Ausgangspunkt genommenen Bewegungen, die zunächst als bloß mögliche Bewegungen gelten, elliptische Bewegungen gemäß den
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Keplerschen Gesetzen. Die Keplerschen Gesetze werden also an dieser Stelle von Kant nicht nur nicht genannt, sondern sind in gewisser Weise sogar unverträglich mit der Art und Weise, wie Kant den ersten Schritt der Phänomenologie, der Einführung des Prädikats der bloß möglichen Bewegung, einführt. In Abschnitt 4.6.5 hatten wir außerdem gesehen, dass Friedmans Beziehung der Postulate des empirischen Denkens überhaupt auf die von ihm rekonstruierten Ableitungsschritte eher einer Übertragung des Inhalts der Postulate auf eine andere Ebene entspricht, als einer direkten Anwendung der Postulate in der von Kant formulierten Form. Auch wenn es sich hierbei zum Teil nur um kleinere Disanalogien handelt und Friedman seine Rekonstruktion durch zahlreiche Verweise auf Textstellen aus anderen Werken Kants und durch Parallelen zwischen Kants Vorgehen in der Phänomenologie und Newtons Herleitung des Gravitationsgesetzes stützen kann, bleiben also Zweifel daran, dass es sich bei dem, was Friedman Kant zuschreibt, wirklich um das handelt, was Kant selber in der Phänomenologie entwickeln wollte. Und wenn wir uns die in Abschnitt 4.6.3 zitierten Formulierungen Friedmans bei der Beschreibung des dreischrittigen Überganges von den Keplerschen Gesetzen zum Gravitationsgesetz genauer anschauen, dann können wir feststellen, dass auch Friedman seine Rekonstruktion möglicherweise eher als einen Vorschlag zur Erweiterung von Kants Theorie in Kants Sinne denn als einen Vorschlag zur Beschreibung von Kants tatsächlichem Vorgehen versteht. Friedman leitet die Beschreibung der drei Schritte bemerkenswerterweise wie folgt ein: We begin, following Newton, from the observable „Phenomena“ described by Kepler’s rules […]. (Friedman 2012, 312; meine Hervorhebung) At the next stage (again following Newton) we then use the law of inertia (Kant’s second Law of Mechanics) […]. (Friedman 2012, 313; meine Hervorhebung) At the third stage, finally, we show (once again, following Newton) […]. (Friedman 2012, 313; meine Hervorhebung)
Es sind wir, die (unter Friedmans Anleitung und angelehnt an Newtons Vorgehen) diese Schritte vollziehen, nicht, so könnte man hinzufügen, Kant selbst, auch wenn diese Schritte in vielerlei Hinsicht bei Kant angelegt sein mögen und insgesamt offenbar auch seinen Interessen entsprechen. Mir scheint es sich insgesamt gesehen bei Friedmans Rekonstruktion daher eher um eine Perspektive darauf zu handeln, wie Kants Ansatz in der Phänomenologie im Sinne von Kants transzendental-idealistischer Position so erweitert werden könnte, dass sich eine möglichst stimmige und umfassende Konzeption ergibt. Unter dieser Maßgabe betrachtet halte ich Friedmans Rekonstruktion sogar für äußerst erfolgreich. Plaass’ Interpretation, die insgesamt wesentlich schlanker
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daherkommt, hat dagegen den Vorteil, dass sie sich in viel direkterer Weise auf den Text der Metaphysischen Anfangsgründe stützen kann und daher möglicherweise eher dem entspricht, was Kant unmittelbar selbst vor Augen stand. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass die beiden Rekonstruktionen eine bemerkenswerte Überschneidung aufweisen, die für die Hauptfragestellung dieser Arbeit nach Kants Konzeption empirischer Naturgesetze und der Begründung ihrer Notwendigkeit von besonderer Relevanz ist. Es ist dieser in der Schnittmenge der beiden Lesarten liegende Punkt, den ich als wichtige Erkenntnis in die letzten beiden Kapitel dieser Arbeit mit hinübernehmen möchte. Beiden Interpretationen kommt dadurch eine gewisse Plausibilität zu, dass sie eine konkrete Ausgestaltung des Gedankens darstellen, der zu Beginn dieses Kapitels in zwei Zitaten aus der A- und der B-Deduktion vorgestellt wurde: Empirische Naturgesetze sind nach Kants Ansicht nicht deduktiv aus den Verstandesgrundsätzen ableitbar, aber sie stehen dennoch in einer gewissen Weise unter diesen Gesetzen beziehungsweise stellen besondere Bestimmungen dieser Grundsätze dar. Anders ausgedrückt: Empirische Naturgesetze sind Schnittstellen zwischen dem apriorischen und dem empirischen Bereich. Während sie eine näher zu bestimmende Verbindung zu den Verstandesgrundsätzen aufweisen, sind sie in ihrer konkreten Ausgestaltung durch empirisches Material bestimmt. In Friedmans Auslegung kommt dieser Gedanke dadurch zum Ausdruck, dass die Herleitung des Gravitationsgesetzes zum einen auf empirischen Phänomenen aufbaut, die in Form der Keplerschen Gesetze als empirisch ermittelte Regularitäten vorliegen. Die Anwendung der Gesetze der Mechanik auf dieses Material stellt dann den Einfluss des apriorischen Bereichs dar: Die Gesetze der Mechanik sind Teil des besonderen Teils der Metaphysik der Natur. Auch in sie ist empirisches Material eingegangen, denn zum Teil basieren sie auf dem Gehalt des empirischen Begriffes der Materie, der in Form von analytischen Urteilen den Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe vorangestellt wird. Aber zu einem wesentlichen Teil sind sie auch Spezifizierungen der drei Analogien der Erfahrung und stehen somit – wenn auch nicht als deduktive Ableitungen – unter diesen drei Grundsätzen des Verstandes. Dadurch, dass sie auf die Keplerschen Gesetze angewendet werden, verschmilzt die apriorische Grundlage mit dem empirischen Material: Das resultierende Gravitationsgesetz stellt ein empirisch-apriorisches Amalgam dar. Nach Plaass’ Interpretationsskizze sieht die Sache etwas anders aus. Hier kommt die empirische Naturforschung erst ins Spiel, wenn der apriorische Bau so weit entwickelt wurde, dass aus ihm ein bereits relativ konkretes Gesetz im Rumpfzustand hervorgegangen ist, sodass die Aufgabe der Naturforschung dadurch vom apriorischen Teil klar vorgegeben ist: Aus Überlegungen, die sich größtenteils aus dem Dynamik-Kapitel ergeben, zusammen mit mathematischen
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Konstruktionsschritten, ergibt sich eine Gesetzesform, die nur noch durch konkrete Messungen, deren Art durch die reichlich entwickelte Form klar vorgegeben ist, zu einem vollständigen Gesetz spezifiziert werden muss. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass unterschiedliche Teile der besonderen Metaphysik der Natur als Zwischenglieder verstanden werden, die zwischen den Grundsätzen des Verstandes und dem empirischen Gravitationsgesetz eine Vermittlerrolle einnehmen: Während für Friedman hier in erster Linie die Gesetze der Mechanik, vor allem der Trägheitssatz und der Satz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, diese Rolle einnehmen, stützt sich Plaass’ Vorschlag vornehmlich auf die Lehrsätze der Dynamik, die die ursprüngliche Anziehungskraft entwickeln.¹⁷⁸ Bei allen Unterschieden liegen jedoch auch die Parallelen klar auf der Hand: Auch nach Plaass’ Interpretation haben wir es beim Gravitationsgesetz letzten Endes mit einem empirisch-apriorischen Amalgam zu tun und das ist es, worauf es mir im Wesentlichen anzukommen scheint: Beide Interpretationsansätze zielen darauf ab, eine Erklärung dafür zu finden, was Kant damit meint, wenn er davon spricht, dass es sich bei empirischen Naturgesetzen um Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes handelt, und beide spielen diese Idee an dem Beispiel des Newtonschen Gravitationsgesetzes exemplarisch durch. In beiden Fällen liegt die Sache so, dass Prinzipien der besonderen Metaphysik der Natur die Grundlage für das empirische Gesetz bilden beziehungsweise entscheidend in dessen Herleitung eingehen, sodass sie als Vermittler zwischen den Grundsätzen des Verstandes und dem empirischen Naturgesetz auftreten. Es zeigt sich also nach beiden Vorschlägen, wie Kant sich die Aufgabe der besonderen Metaphysik in ihrer Rolle als metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft konkret vorgestellt haben könnte und wie die Fundierung der empirischen Physik durch die metaphysischen Anfangsgründe dazu führen kann, dass die empirischen Gesetze der Physik nicht, wie die der Chemie, „bloß empirisch sind“, sondern dass sie ein „Bewußtsein ihrer Notwendigkeit“ bei sich Wir haben jedoch im Rahmen der Darstellung von Friedmans Rekonstruktion gesehen, dass die Lehrsätze 7 und 8 der Dynamik auch nach Friedman eine zentrale Rolle einnehmen: Ein wichtiger Schritt von Kants Newtonscher Herleitung des Gravitationsgesetzes besteht nach Friedman darin, dass Kant die gravitativen Beschleunigungen, die die Satelliten in Richtung ihrer Zentralkörper und die Zentralkörper in Richtung ihrer Satelliten erfahren, auf die ursprüngliche Anziehungskraft der Materie zurückführt. Hierdurch wird es ihm möglich, die Gravitationskraft als eine unmittelbare (Lehrsatz 7) und universelle (Lehrsatz 8) Kraft zu bestimmen und somit ihre Proportionalität zur Masse der sich anziehenden Körper festzustellen. Auch wenn Friedman in der Regel vor allem die Rolle der Gesetze der Mechanik in den Vordergrund rückt und diese Dimension bei Plaass fehlt, sind Friedmans und Plaass’ Rekonstruktionen in Bezug auf die Rolle der Lehrsätze 7 und 8 der Dynamik also sogar recht nah beieinander.
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führen (MAN, AA 4: 468): Das Bewusstsein ihrer Notwendigkeit basiert auf der durch die Prinzipien der besonderen Metaphysik vermittelten Verbindung zu den transzendentalen Grundsätzen des Verstandes, wodurch sie als konkrete Bestimmungen dieser transzendental notwendigen Grundsätze aufgefasst werden können. Sowohl Friedmans Auslegung von Kants Begründung des Gravitationsgesetzes, als auch der Interpretationsvorschlag von Plaass bestätigen also die von Friedman gegen Allison und andere vertretene These, dass die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze Kant zufolge auf einer Leistung des Verstandes beruht. Zumindest an einem zentralen Beispiel haben wir gesehen, wie Kant sich die Ausgestaltung dieser Grundüberzeugung, die er an so vielen Stellen kundtut¹⁷⁹, vorstellt. Es bleibt an dieser Stelle natürlich die Frage offen, wie es sich Kant zufolge mit anderen empirischen Naturgesetzen verhält. Wie wir in Kapitel 3 im Zusammenhang mit Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung gesehen haben, sind wir, sofern wir uns mit unseren Vorstellungen überhaupt auf empirische Objekte beziehen wollen, darauf angewiesen, laufend empirische Gesetzeshypothesen zu unterstellen und darauf zu hoffen, dass diese sich letztlich als richtig herausstellen werden. Insbesondere stellt sich in diesem Zusammenhang also die Frage, wie wir mit alltäglicheren Fällen von Erkenntnis umgehen, denn Kant zufolge beinhalten auch Urteile wie „Die Sonne erhitzt den Stein“ und „Das Schiff fährt flussabwärts“ eine Festlegung auf notwendige Naturgesetze.¹⁸⁰ In den beiden folgenden Kapiteln soll es daher um Abschnitte bei Kant gehen, aus denen über diese Problematik Aufklärung zu erhoffen ist: Sowohl in der Kritik der reinen Vernunft, genauer im Anhang zur Transzendentalen Dialektik, als auch in den beiden Einleitungen der Kritik der Urteilskraft greift Kant die Thematik der empirischen Naturgesetze wieder auf. Im Zusammenhang mit dem in diesen Kapiteln entwickelten Prinzip der Systematizität ergeben sich innerhalb von Kants Gesamtkonzeption weitere Ressourcen, die die Frage nach der Möglichkeit der Rechtfertigung von notwendigen empirischen Naturgesetzen betreffen. Interessant sind diese Teile aber nicht nur deshalb, weil sie uns zusätzliche Informationen zu dieser Thematik geben, sondern weil einige Äußerungen aus diesen Abschnitten auf den ersten Blick in einer Spannung zu den Metaphysischen Anfangsgründen zu stehen scheinen. Bevor wir uns Kants Ausführungen zum Prinzip der Systematizität genauer anschauen, möchte ich noch einen kleinen Voraus-
Siehe oben, Abschnitt 3.2.2. Vgl. Kitcher (1994, 258). Kitcher hält dies für ein Problem für Friedmans Interpretation. Siehe auch Longuenesse (2005, 171).
4.7 Die Frage der Vereinbarkeit der MAN mit der KU
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blick auf diese Spannung geben, die am Ende dieser Arbeit schließlich aufgelöst werden soll.
4.7 Die Frage der Vereinbarkeit der Metaphysischen Anfangsgründe mit der Kritik der Urteilskraft In seinem Aufsatz „Causality and Causal Laws in Kant: A Critique of Michael Friedman“ (1996) argumentiert Allison gegen Friedmans These, dass die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze auf Leistungen des Verstandes beruht. Seiner Interpretation zufolge ist es das Prinzip der Systematizität, das Kant in der Kritik der reinen Vernunft dem Vernunftvermögen und in der Kritik der Urteilskraft dem Vermögen der reflektierenden Urteilskraft zuspricht, auf dem nach Kant die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze beruht. Allison unterstreicht seine Position durch eine Passage aus dem fünften Abschnitt der veröffentlichten Einleitung der Kritik der Urteilskraft. In dieser Passage wiederholt Kant zunächst einmal den uns bereits bekannten Gedanken, dass die empirischen Gesetze durch die Grundsätze des Verstandes unterbestimmt sind. Hier, in der dritten Kritik, wird nun jedoch die Rolle des Verstandes in Bezug auf die Notwendigkeit der empirischen Gesetze offenbar noch weiter eingeschränkt: Der Verstand ist zwar a priori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur, ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein könnte; aber er bedarf doch auch überdem noch einer gewissen Ordnung der Natur, in den besonderen Regeln derselben, die ihm nur empirisch bekannt werden können, und die in Ansehung seiner zufällig sind. Diese Regeln […] muß er sich als Gesetze (d. i. als notwendig) denken; weil sie sonst keine Naturordnung ausmachen würden, ob er gleich ihre Notwendigkeit nicht erkennt oder jemals einsehen könnte. (KU, AA 5: 184; Hervorhebungen von mir)
Im letzten Halbsatz wird klargestellt, dass der Verstand Kant zufolge nicht das Vermögen ist, das imstande ist, die Notwendigkeit empirischer Gesetze einzusehen – hierzu, so wird Kant weiter ausführen, bedarf es eines Prinzips der reflektierenden Urteilskraft. Dies wirft unter Anderem für Friedmans Rekonstruktion ein Rätsel auf, denn dieser zufolge erhalten die empirischen Gesetze zumindest indirekt ihren Status der Notwendigkeit durch eine Tätigkeit des Verstandes – der Verstand, so formuliert es Friedman, injiziert die Notwendigkeit in die empirischen Regeln und macht sie so zu Gesetzen.¹⁸¹ Wie kann es nun aber sein, dass der
Vgl. Friedman (1992a, 174). Diese stark metaphorische Sprechweise lässt sich anhand der
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Verstand nicht in der Lage ist, die Notwendigkeit der so resultierenden Gesetze zu erkennen, wenn er sie doch selbst in sie hineingelegt hat? Es erscheint doch recht seltsam, dass der Verstand in Bezug auf die Notwendigkeit der empirischen Gesetze, die Friedmans Interpretation zufolge doch gerade ein Produkt des Verstandes ist, derart kurzsichtig sein soll. Bei der Vereinbarkeit dieser Textstelle mit Friedmans Interpretation handelt es sich um ein ernstes Problem. Es sei jedoch hervorgehoben, dass auch unabhängig von Friedmans spezifischer Auslegung von Kants Herleitung des Gravitationsgesetzes im Phänomenologie-Kapitel prima facie eine Spannung besteht zwischen der von Allison vorgebrachten Passage aus der Kritik der Urteilskraft und zentralen Passagen aus der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe. Wie wir etwa oben in Abschnitt 4.1.1 gesehen haben, hält Kant bereits in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe unmissverständlich fest, dass ein System von empirischen Gesetzen ohne apriorische Prinzipien nicht als eine Wissenschaft im strengen Sinne verstanden werden kann, da wir in diesem Fall den Gesetzen nicht den Status der Notwendigkeit zusprechen könnten (MAN, AA 4: 468). Friedmans Auslegung stellt also für sich genommen nicht das Problem dar, denn sie stellt – so wie übrigens auch Plaass’ Auslegung von Kants Begründung des Gravitationsgesetzes – letztlich nur einen Vorschlag zur konkreten Ausgestaltung eines Gedankens dar, den Kant ganz unzweifelhaft an vielen Stellen äußert. Dieser Gedanke besteht darin, dass die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze in irgendeiner Form auf eine Verbindung mit den Grundsätzen des Verstandes zurückzuführen ist und insofern als ein Resultat einer Verstandesleistung aufzufassen ist. Meines Erachtens kann eine Interpretation der Einleitung der Kritik der Urteilskraft daher nur daran ansetzen, die Vereinbarkeit der zitierten Textstelle mit der These, dass die Notwendigkeit der empirischen Gesetze im Verstand gründet, aufzuzeigen. Bevor wir eine solche Interpretation in Kapitel 6 angehen, müssen wir in Kapitel 5 einen Blick auf den Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft werfen. Dort entwickelt Kant mit dem Prinzip der Systematizität eine Vorgängerversion des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft, das in den beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze zugesprochen bekommt. Um diese Rolle des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft genau zu oben dargelegten Interpretation Friedmans erläutern: Zwar lassen sich die empirischen Gesetze nicht vollständig aus den Grundsätzen des Verstandes ableiten, aber offenbar ist Kant der Überzeugung, dass die empirischen Gesetze dadurch, dass die Grundsätze an ihrer Herleitung beteiligt sind, an der Notwendigkeit der Grundsätze teilhaben. Die Notwendigkeit der Grundsätze wiederum basiert auf dem Verstand: Der Verstand schreibt sie der Natur vor (KrV, B 163).
4.7 Die Frage der Vereinbarkeit der MAN mit der KU
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verstehen, müssen wir zunächst beim Prinzip der Systematizität aus der ersten Kritik ansetzen und die Gründe klären, aus denen Kant es später für vorteilhaft gehalten hat, dieses Prinzip, das zunächst als ein Prinzip des Vernunftvermögens konzipiert war, in der dritten Kritik dem Vermögen der Urteilskraft zuzusprechen.
5 Der Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft 5.1 Das Problem des Verhältnisses des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik zu anderen Theorieteilen der kritischen Philosophie Der Anhang zur Transzendentalen Dialektik ist für das vorliegende Thema deshalb von Bedeutung, weil Kant in diesem Abschnitt das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur einführt, ein Prinzip, das viele Interpreten als das Herzstück von Kants Konzeption der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze betrachten.¹ Da Kant in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft ² dieses Prinzip – wenn auch in einem anderen theoretischen Rahmen – wieder aufnimmt, sehen diese Interpreten die Einleitungen in die dritte Kritik zusammen mit dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik als diejenigen Textstücke, aus denen wir die wichtigsten Aspekte von Kants Konzeption empirischer Naturgesetze gewin-
Siehe etwa Buchdahl (1969, 516 – 519), Kitcher (1986, 225 f.), Allison (1996, 90 f.) und Guyer (2003b, 66 f.). Diese Autoren sehen im Wesentlichen die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft als den Ort an, an dem Kant seine Konzeption der Notwendigkeit empirischer Gesetze anhand des Prinzips der Systematizität am besten ausgearbeitet hat. Der Anhang zur Transzendentalen Dialektik stellt aufgrund seiner thematischen Nähe zu den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft einen zentralen Vergleichstext dar. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik und dem Thema der empirischen Naturgesetze lässt sich auf den ersten Blick nicht leicht ausmachen. In den Abschnitten 5.2.4 und 5.3 werde ich auf diesen Zusammenhang, den Kant nur an wenigen Stellen andeutet, eingehen. Eine interessante Zwischenposition in der Debatte nimmt Kristina Engelhard (2011) ein. Auch Engelhard geht davon aus, dass das in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft entwickelte Prinzip der Systematizität empirischen Naturgesetzen eine Form von Notwendigkeit verleihen kann. Sie lässt aber zugleich gelten, dass Kant in der Analytik der Kritik der reinen Vernunft und in den Metaphysischen Anfangsgründen eine Konzeption entworfen hat, nach der die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze auf eine Fundierung durch Verstandesprinzipien zurückzuführen ist. Die Spannung, die zwischen diesen Konzeptionen zu bestehen scheint, löst sie auf durch die These, dass es in der Analytik der Kritik der reinen Vernunft und den Metaphysischen Anfangsgründen um die Frage geht, „was empirische Naturgesetze sind“, während es in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft um die Frage geht, „wie wir Wissen von den spezifischen Naturgesetzen erlangen und wie sie sich als solche rechtfertigen lassen“ (Engelhard 2011, 82). Diese Position werde ich in Kapitel 6 im Zusammenhang mit der Frage der Verträglichkeit der Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft mit den Metaphysischen Anfangsgründen diskutieren. Zur Unterscheidung zwischen der ersten Einleitung und der zweiten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft siehe unten, Kap. 6, Fn. 1. https://doi.org/10.1515/9783110697209-007
5.1 Das Verhältnis zu anderen Theorieteilen der kritischen Philosophie
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nen können. Diese Interpretation wirft gleich zwei grundlegende Fragen zum Verhältnis des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik zu anderen Theorieteilen der kritischen Philosophie auf, die ich beide erst im Laufe des nächsten Kapitels, in dem es um die Einleitungen in die dritte Kritik geht, beantworten werde. Die Interpretation des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik im vorliegenden Kapitel stellt die nötige Vorarbeit dazu dar. Zum einen gerät der Anhang zur Transzendentalen Dialektik – zusammen mit den Einleitungen in die dritte Kritik – durch diese Interpretation in ein Spannungsverhältnis mit den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, insbesondere, aber nicht nur unter der im letzten Kapitel vorgestellten Lesart Friedmans.³ Denn die gerade angesprochenen Interpreten vertreten insbesondere die Auffassung, dass das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur dasjenige Prinzip ist, das die Grundlage der Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze darstellt. Dies scheint unvereinbar zu sein mit der These, dass Kant eine Fundierung durch apriorische Gesetze, die im Wesentlichen auf den Grundsätzen des Verstandes basieren, für notwendig hält, um empirischen Gesetzen Notwendigkeit zusprechen zu können.⁴ Es wird also zu klären sein, wie sich der Anhang zur Transzendentalen Dialektik und die beiden Einleitungen in die dritte Kritik insbesondere zu den Metaphysischen Anfangsgründen verhalten. Mein Ziel, das ich vor allem im sechsten Kapitel verfolgen werde, besteht darin, eine Interpretation zu finden, nach der diese Theoriestücke miteinander vereinbar sind und nicht angenommen werden muss, dass Kant seine Auffassung bezüglich der Grundlage der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze im Laufe der 1780er Jahre radikal geändert hat.⁵
Diese Spannung wird vor allem von Allison (1996) herausgestrichen und zugleich als Argument gegen Friedmans Interpretation angeführt. Für diejenigen Leser, die Friedmans Lesart nicht für überzeugend halten, möchte ich hier den wichtigen Hinweis anführen, dass Kant in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe explizit macht, dass er eine Fundierung einer Wissenschaft durch apriorische Prinzipien für die einzige Möglichkeit hält, den in dieser Wissenschaft enthaltenen empirischen Gesetzen Notwendigkeit zusprechen zu können (MAN, AA 4: 468; siehe hierzu oben, Abschnitt 4.1.1). Ich halte es unzweifelhaft für eine der Grundideen der Metaphysischen Anfangsgründe, dass genau deshalb eine apriorische Fundierung der Physik vonnöten ist. Und unabhängig von Friedmans konkreter Ausgestaltung der Herleitung des Gravitationsgesetzes steht diese Grundidee zumindest prima facie in einer Spannung zu den hier thematisierten Lesarten des Anhangs und der Einleitungen in die dritte Kritik. Wie sich ebenfalls in Kapitel 6, insbesondere in Abschnitt 6.4.4, zeigen wird, sprechen Textstellen aus der Kritik der Urteilskraft dafür, dass Kant sich in diesem Werk selbst nicht von den Ergebnissen der Metaphysischen Anfangsgründe abgrenzen wollte.
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5 Der Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft
Zum anderen stellt sich die Frage, wie sich der Anhang zur Transzendentalen Dialektik genau zu den beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft verhält. Zwar liegt eine deutliche Parallele zwischen diesen Texten dadurch vor, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur wieder aufgreift, aber vor allem in Hinsicht auf die Stellung in Kants System zeigen sich bedeutende Unterschiede: Während das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur in der Kritik der reinen Vernunft als ein Prinzip der theoretischen Vernunft eingeführt wird, handelt es sich nach der Konzeption der Kritik der Urteilskraft um ein Prinzip der Urteilskraft. Kant spricht diese Verlegung des Prinzips vom einen zum anderen Vermögen mit keinem Wort an und lässt daher die Frage offen, ob diese systematische Verschiebung weitreichende inhaltliche Konsequenzen hat oder nicht. Es stellt sich also die Frage zum genauen Verhältnis zwischen dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik und den Einleitungen in Kritik der Urteilskraft. Auch diese Frage werde ich erst endgültig in Kapitel 6 beantworten können. Aber wir werden schon in diesem Kapitel sehen, dass Kants Begründung des Prinzips der systematischen Verfasstheit der Natur im Rahmen seiner Konzeption der Kritik der reinen Vernunft notwendigerweise an unüberwindbare Grenzen stößt. In diesem Kapitel werde ich mich vor allem darauf konzentrieren, diese Schwierigkeiten herauszuarbeiten. Im Laufe des sechsten Kapitels wird sich dann zeigen, wie Kant diese Probleme zumindest dem eigenen Anspruch nach im theoretischen Rahmen der Kritik der Urteilskraft lösen kann. Dies gelingt ihm insbesondere dadurch, dass er durch die Verschiebung des Prinzips der systematischen Verfasstheit der Natur zum Vermögen der Urteilskraft dieses Prinzip in Verbindung bringen kann mit zwei Aspekten, die in der Kritik der Urteilskraft eine zentrale Rolle spielen, nämlich mit dem Begriff der Zweckmäßigkeit und der Erfahrung des Schönen. Bevor wir dies genauer aufschlüsseln können, müssen wir uns nun jedoch zunächst mit den Problemen beschäftigen, mit denen Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik gekämpft hat.
5.2 Das Prinzip der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik Wie viele Kommentatoren der Kritik der reinen Vernunft angemerkt haben, handelt es sich beim Anhang zur Transzendentalen Dialektik um ein selbst für kantische
5.2 Das Prinzip der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik
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Verhältnisse besonders schwer zu interpretierendes Textstück.⁶ An einer häufig zitierten Stelle bezeichnet Norman Kemp Smith den Inhalt des Anhangs sogar als „extremely self-contradictory“ (Kemp Smith 1918, 547). Und wie wir gleich sehen werden, stellt es sich tatsächlich so dar, als würde Kant sich in einem ganz grundlegenden Punkt, der die Rechtfertigung des gleich zu erörternden Prinzips der Systematizität betrifft, in einen offenkundigen Widerspruch verstricken. Ich möchte in diesem Kapitel zeigen, dass dies darauf zurückzuführen ist, dass Kant sich einerseits durch Gründe, die er selber angibt, dazu genötigt fühlt, eine transzendentale Deduktion für das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur zu liefern, dass er aber andererseits vor dem Problem steht, dass eine solche Deduktion im Falle dieses Prinzips im Rahmen der Erkenntniskonzeption der Kritik der reinen Vernunft grundsätzlich unmöglich ist. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass er die systematische Verfasstheit der Natur als eine Vernunftidee auffasst und dass eine transzendentale Deduktion von Vernunftideen nicht auf dieselbe Art möglich ist wie eine transzendentale Deduktion von Verstandeskategorien. Um zu dieser Problematik vorzudringen, müssen wir uns nun zunächst Kants Grundideen im Anhang zur Transzendentalen Dialektik vor Augen führen.
5.2.1 Zur Stellung des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik innerhalb der Kritik der reinen Vernunft Kants allgemeines Ziel im Anhang zur Transzendentalen Dialektik besteht darin, die positive Rolle der Vernunft bei der Gewinnung von Erkenntnis herauszuarbeiten. In den vorhergegangenen Hauptteilen der Transzendentalen Dialektik ging es im wesentlichen um die negativen Seiten des Vernunftgebrauchs: Kant warnt uns davor, dass die Vernunftideen „einen bloßen, aber unwiderstehlichen Schein bewirken, dessen Täuschung man kaum durch die schärfste Kritik abhalten kann“ (KrV, A 642 / B 670). Nachdem er zahlreiche Seiten darauf verwendet hat, den durch die Vernunftideen hervorgerufenen Schein in der rationalen Psychologie, rationalen Kosmologie und rationalen Theologie als solchen zu entlarven, rückt er nun, am Ende der Transzendentalen Dialektik, die Frage in den Vordergrund, welches die positiven Seiten der Vernunft in Bezug auf theoretische Erkenntnis sein könnten. Dabei setzt er offenkundig voraus, dass es solche positiven Aspekte des theoretischen Vernunftgebrauches geben muss:
Siehe etwa Kitcher (1986, 222) und Horstmann (1989, 166).
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5 Der Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft
Alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muß zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauche derselben einstimmig sein, wenn wir nur einen gewissen Mißverstand verhüten und die eigentliche Richtung derselben ausfindig machen können. Also werden die transzendentalen Ideen allem Vermuten nach ihren guten und folglich i m m a n e n t e n Gebrauch haben, obgleich, wenn ihre Bedeutung verkannt und sie für Begriffe von wirklichen Dingen genommen werden, sie transzendent in der Anwendung und eben darum trüglich sein können. (KrV, A 642 f. / B 670 f.)
Nach der hier dargestellten Auffassung Kants gibt es also zwei Arten, von den Ideen der Vernunft Gebrauch zu machen, und nur, wenn wir einen falschen Gebrauch von ihnen machen, führen sie zum transzendentalen Schein: Nur wenn wir die Ideen – Kant hat insbesondere die Ideen von Gott, Seele und Welt vor Augen – als Begriffe von wirklichen Gegenständen betrachten, ergeben sich die Probleme, vor denen Kant uns in den Hauptteilen der Transzendentalen Dialektik warnen möchte. Aber wenn wir uns auf einen „immanenten Gebrauch“ der Ideen beschränken (dem wir uns im nächsten Abschnitt genauer zuwenden), können die Ideen ihr positives Potential entfalten. Kants Konzeption der positiven Funktion der Vernunftideen besteht aus zwei Teilen, die den beiden Abschnitten des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik entsprechen. Im ersten Abschnitt mit dem Titel „Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“ erläutert Kant die systematische Funktion der Vernunft in Hinblick auf unsere Erkenntnis. Die Grundüberlegung des Abschnitts besteht darin, dass der positive epistemische Beitrag der Vernunft darin besteht, dass sie die vom Verstand generierten Erkenntnisse systematisiert. Die Vernunft geht hierbei nach einer Idee „von der Form eines Ganzen der Erkenntnis“ (KrV, A 645 / B 673) vor, wobei es sich um die Idee einer systematisch verfassten Erkenntnis handelt, „wodurch diese [Verstandeserkenntnis] nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System wird.“ (KrV, A 645 / B 673) Da unsere tatsächliche Erkenntnis das angestrebte Maß der vollständigen systematischen Ordnung nie erreicht, versteht sich die Idee der Systematizität als Aufgabe: Es gibt ein Prinzip der Vernunft, das der Idee der Systematizität entspricht und das die Forderung an uns stellt, dass wir der Verstandeserkenntnis „Einhelligkeit unter einem Prinzip (systematische) und dadurch Zusammenhang verschaffen, so weit als es sich tun läßt“ (KrV, A 648 / B 676).Wie wir sehen werden, ist ein Großteil des ersten Abschnitts des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik einer beschwerlichen Untersuchung des epistemischen Status dieses Prinzips gewidmet. Das Ziel des zweiten Abschnitts mit dem Titel „Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft“ besteht darin, die drei Ideen von Gott, Seele und Welt, die den Hauptgegenstand der Transzendentalen Dialektik ausmachen, mit der Idee der Systematizität zu verknüpfen. Hierdurch soll eine
5.2 Das Prinzip der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik
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Verbindung hergestellt werden zwischen den drei Ideen von Gott, Seele und Welt und der im ersten Abschnitt des Anhangs herausgearbeiteten positiven epistemischen Rolle der Vernunft. Insbesondere versucht Kant zu zeigen, dass die drei Ideen von Gott, Seele und Welt – auch wenn wir uns darüber im Klaren sein sollten, dass es zum transzendentalen Schein führt, wenn wir sie für Begriffe wirklicher Gegenstände halten – wertvolle heuristische Fiktionen ⁷ sind, die uns helfen, unser Wissen in einer systematischen Weise zu organisieren. Für die gegenwärtige Untersuchung ist die systematisierende Funktion der Vernunft von vordergründigem Interesse, während Kants These bezüglich der Verbindung zwischen dieser Funktion und den drei Ideen von Gott, Seele und Welt in unserem Zusammenhang vernachlässigt werden kann. Daher werde ich mich im Folgenden vor allem auf den ersten Abschnitt des Anhangs konzentrieren. Es wird sich jedoch herausstellen, dass einige allgemeine Bemerkungen über Vernunftideen, die im zweiten Abschnitt des Anhangs fallen, relevant für ein vollständiges Verständnis der Probleme sind, mit denen Kant im ersten Abschnitt zu kämpfen hat.
5.2.2 Der immanente Gebrauch der Vernunftideen und des Prinzips der Systematizität Wie wir oben bereits gesehen haben, unterscheidet Kant zwei Arten des Gebrauchs von Vernunftideen. Der transzendente Gebrauch einer Idee besteht darin, dass man sie als Begriff eines wirklichen Gegenstandes auffasst. Kant warnt vor einem solchen Gebrauch und weist darauf hin, dass der transzendente Gebrauch „überfliegend“ (KrV, A 643 / B 671) ist, da die vermeintlichen Gegenstände von Ideen keine möglichen Objekte theoretischer Erkenntnis sind: Vernunftideen „enthalten eine gewisse Vollständigkeit, zu welcher keine mögliche empirische Erkenntnis zulangt“ (KrV, A 567 f. / B 595 f.). Auf der anderen Seite gibt es mit dem immanenten Gebrauch einen Gebrauch der Ideen, der nicht mit diesem Problem behaftet ist: Der immanente Gebrauch ist „einheimisch“ (KrV, A 643 / B 671), womit Kant vermutlich darauf hinweisen möchte, dass er sich auf etwas richtet, was in der Reichweite unserer Erkenntnismöglichkeiten liegt. Kant erklärt, dass sich der immanente Gebrauch der Ideen „auf den Verstandesgebrauch überhaupt, in Ansehung der Gegenstände, mit welchen er zu tun hat, richtet“ (KrV, A 643 / B 671). Dies bedeutet, dass die Ideen nicht (wie im transzendenten Gebrauch) direkt auf Objekte bezogen werden,
Vgl. Horstmann (1998, 528).
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5 Der Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft
sondern nur als Richtungsweiser für den Verstandesgebrauch verwendet werden. Anders ausgedrückt: Kant erklärt die positive epistemische Funktion der Vernunft in einer indirekten Weise, nämlich dadurch, dass er die Vernunft in Verbindung bringt mit dem Verstand und seiner Funktion bei der Gewinnung von Erkenntnis. Die Hauptfunktion des Verstandes besteht darin, Gegenstände dadurch zu denken, dass er sinnliche Anschauungen unter Begriffe bringt: Wenn wir, als sinnliche Wesen, von einem Objekt affiziert werden, erhalten wir dadurch eine Anschauung.⁸ Aber diese Anschauung kann erst dadurch zu einer Erkenntnis werden, dass der Verstand sie unter einen Begriff bringt und sie dadurch auf einen Gegenstand bezieht (KrV, A 50 ff. / B 74 ff.). Kant hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass der Verstand hierbei eine gewisse Einheit in die Anschauungen bringt. Auf der anderen Seite kann auch von der Vernunft gesagt werden, dass sie Urheber einer gewissen Vereinigung ist – allerdings nicht der Anschauungen, sondern der Erkenntnisse des Verstandes: Die Vernunft hat also eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande, und wie dieser das Mannigfaltige im Objekt durch Begriffe vereinigt, so vereinigt jene ihrerseits das Mannigfaltige der Begriffe durch Ideen, indem sie eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen setzt, welche sonst nur mit der distributiven Einheit beschäftigt sind. (KrV, A 644 f. / B 672 f.)⁹
Kants Konzeption zufolge leistet die Vernunft diese Vereinigung der Verstandeserkenntnis durch Anwendung des Prinzips der Systematizität, das aus drei Unterprinzipien besteht, nämlich den „Prinzipien der H o m o g e n i t ä t , der S p e z i f i k a t i o n und der K o n t i n u i t ä t der Formen“ (KrV, A 658 / B 686). Schauen Wir haben oben in Kap. 3, insbesondere in Abschnitt 3.1.4 bereits gesehen, dass es sich hierbei streng genommen um eine verkürzte Darstellung handelt, da der Verstand im Synthesis-Prozess bereits an der Entstehung von Anschauungen beteiligt ist. Ich orientiere mich hier an der Art, wie Kant zu Beginn der Transzendentalen Logik das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand darstellt. Hierbei sieht er noch von den erst im Rahmen der transzendentalen Deduktion der Kategorien entwickelten Details der Konzeption der Synthesis von Anschauungen ab. Kant hebt diese Funktion der Vernunft und die Parallele zur Funktion des Verstandes bereits in der Einleitung in die Transzendentale Dialektik hervor: „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie vom Verstande geleistet werden kann.“ (KrV, A 302 / B 359) „In der Tat ist die Mannigfaltigkeit der Regeln und Einheit der Prinzipien eine Forderung der Vernunft, um den Verstand mit sich selbst in durchgängigen Zusammenhang zu bringen, so wie der Verstand das Mannigfaltige der Anschauung unter Begriffe und dadurch jene in Verknüpfung bringt.“ (KrV, A 305 / B 362)
5.2 Das Prinzip der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik
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wir uns also zunächst einmal an, was Kant sich genauer unter diesen drei Unterprinzipien vorstellt, um dadurch einen Eindruck davon zu gewinnen, was Kant insgesamt unter dem Prinzip der Systematizität versteht. Zunächst einmal ist es nach der oben zitierten Stelle zur vereinigenden Funktion der Vernunft so, dass es sich bei dem, was von der Vernunft in eine Einheit gebracht werden soll, um Begriffe handelt. Das erste Unterprinzip, das Prinzip der Homogenität, fordert uns dazu auf, dass wir stets versuchen sollen, Artbegriffe, die ein bestimmtes Feld von Phänomenen einteilen, dadurch zu vereinheitlichen, dass wir sie gemeinsam unter höhere Gattungsbegriffe subsumieren: Daß alle Mannigfaltigkeiten einzelner Dinge die Identität der A r t nicht ausschließen; daß die mancherlei Arten nur als verschiedentliche Bestimmungen von wenigen G a t t u n g e n , diese aber von noch höheren G e s c h l e c h t e r n etc. behandelt werden müssen; daß also eine gewisse systematische Einheit aller möglichen empirischen Begriffe, so fern sie von höheren allgemeineren abgeleitet werden können, gesucht werden müsse; ist eine Schulregel oder logisches Prinzip, ohne welches kein Gebrauch der Vernunft stattfände […]. (KrV, A 651 f. / B 679 f.)
Wie die von Kant in diesem Zusammenhang angeführten Beispiele verdeutlichen, hat er hierbei insbesondere empirische Begriffe, die in empirischen Wissenschaften vorkommen, vor Augen. So bezieht er sich etwa auf Chemiker, die „alle Salze auf zwei Hauptgattungen, saure und laugenhafte, zurückführen konnten“ und anschließend „versuchen […] auch diesen Unterschied bloß als eine Varietät oder verschiedene Äußerung eines und desselben Grundstoffs anzusehen“ (KrV, A 652 f. / B 680 f.), was er als Anwendungsfall des Prinzips der Homogenität identifiziert. Das Prinzip der Homogenität setzt das Ziel, die Artbegriffe so weitgehend wie möglich zu vereinheitlichen, wobei das Ideal darin besteht, einen einzigen höchsten Gattungsbegriff aufzuspüren, der die Verschiedenartigkeit der unter ihn gefassten Artbegriffe auf ein Minimum reduziert. Das zweite Prinzip, das Prinzip der Spezifikation, gibt der Forschung eine Orientierung in die genau entgegengesetzte Richtung, indem es „dem Verstande auferlegt, unter jeder Art, die uns vorkommt, Unterarten, und zu jeder Verschiedenheit kleinere Verschiedenheiten zu suchen.“ (KrV, A 656 / B 684) Kant weist darauf hin, dass manche Naturforscher „vorzüglich spekulativ“ sind, während es sich bei anderen um „vorzüglich empirische Köpfe“ handelt (KrV, A 655 / B 683), was sich in ihrer unterschiedlichen Herangehensweise an die Naturforschung ausdrückt: Während die eher spekulativen Forscher dazu neigen, dem Prinzip der Homogenität Folge zu leisten und nach Allgemeinheit zu streben, folgen die eher empirischen Forscher hauptsächlich dem Prinzip der Spezifikation: Sie betreiben empirische Nachforschungen und halten Ausschau nach Objekten, die zwar zu-
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5 Der Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft
sammen unter denselben Artbegriff fallen, sich aber dennoch derart voneinander unterscheiden, dass sie Anlass dazu geben, neue Unterarten einzuführen. Durch dieses Vorgehen verschaffen sie den Artbegriffen mehr Inhalt beziehungsweise Bestimmtheit „in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten“ (KrV, A 654 / B 682). Kant betont, dass diese beiden Vorgehensweisen – die spekulative und die empirische – sich komplementär zueinander verhalten und dass beide nötig sind für eine ausgewogene Naturforschung. Das dritte Unterprinzip, das Prinzip der Kontinuität (oder Affinität), wird von Kant eingeführt als dasjenige Prinzip, das die ersten beiden Unterprinzipien vereinigt. Es verordnet „einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit“ (KrV, A 657 f. / B 685 f.). Das Prinzip fordert, dass wir verschiedene Arten nicht als „isoliert und von einander (durch einen leeren Zwischenraum) getrennt“ betrachten, sondern stets Ausschau halten nach „Zwischenarten […], deren Unterschied von der ersten und zweiten kleiner ist, als dieser ihr Unterschied von einander.“ (KrV, A 659 / B 687) Die Idee besteht also darin, die Lücken zwischen den bereits etablierten Artbegriffen möglichst weitgehend durch das Auffinden von Zwischenarten zu schließen. Das Prinzip der Systematizität, das die drei Prinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität umfasst, fordert uns also insgesamt dazu auf, unsere empirischen Begriffe in ein möglichst übersichtliches und zugleich dichtes System von Arten und Gattungen anzuordnen, mit dem Ziel der Vereinigung einer möglichst großen Menge von vielfältigen Phänomenen.
5.2.3 Logische und transzendentale Prinzipien Die drei Unterprinzipien des Prinzips der Systematizität – und entsprechend auch das sie umfassende Prinzip der Systematizität selbst – sind in der oben formulierten Variante logische Prinzipien. Hiermit meint Kant solche Prinzipien, die uns vorschreiben, wie wir vorgehen müssen, wenn wir die Natur untersuchen. Sie sind subjektiv in dem Sinne, dass sie keine Behauptung darüber beinhalten, wie die Natur beschaffen ist, sondern nur darüber Auskunft geben, wie wir mit unseren eigenen Erkenntnisvermögen und ihren Produkten umgehen sollen, wenn wir die Natur erforschen. Sie teilen uns mit, dass wir nach einer systematischen Einheit in der Natur Ausschau halten und entsprechend die Systematisierung unserer Erkenntnis so weit wie möglich vorantreiben sollen. Es stellt sich natürlich die Frage, inwiefern das Vorgehen gemäß diesen Prinzipien gerechtfertigt werden kann. Im Zusammenhang mit dieser Frage hält Kant fest:
5.2 Das Prinzip der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik
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In der Tat ist auch nicht abzusehen, wie ein logisches Prinzip der Vernunfteinheit der Regeln stattfinden könne, wenn nicht ein transzendentales vorausgesetzt würde, durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objekten selbst anhängend, a priori als notwendig angenommen wird. Denn mit welcher Befugnis kann die Vernunft im logischen Gebrauche verlangen, die Mannigfaltigkeit der Kräfte, welche uns die Natur zu erkennen gibt, als eine bloß versteckte Einheit zu behandeln, und sie aus einer Grundkraft, so viel an ihr ist, abzuleiten, wenn es ihr freistände zuzugeben, daß es eben so wohl möglich sei, alle Kräfte wären ungleichartig, und die systematische Einheit ihrer Ableitung der Natur nicht gemäß? (KrV, A 650 f. / B 678 f.)
Kants Grundgedanke an dieser Stelle besteht offenbar darin, dass das Ziel unserer Untersuchungen darin besteht, eine Erkenntnis zu gewinnen, die der tatsächlichen Beschaffenheit der Natur korrespondiert. Das logische Prinzip der Systematizität setzt daher voraus, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist: Angenommen, die Natur wäre nicht systematisch verfasst. In diesem Fall bestünde die Gefahr, dass uns eine am logischen Prinzip der Systematizität ausgerichtete Naturforschung in die Irre führen würde, „denn alsdenn würde sie gerade wider ihre Bestimmung verfahren, indem sie sich eine Idee zum Ziele setzte, die der Natureinrichtung ganz widerspräche.“ (KrV, A 651 / B 680)¹⁰ Wie sich an dieser Stelle abzeichnet, ist Kant hier einem Dilemma ausgesetzt: Einerseits ist er der Auffassung, dass das logische Prinzip der Systematizität subjektiv notwendig ist: Eine Naturforschung, die sich nicht nach diesem Prinzip richtet, steht uns nicht als Option zur Verfügung, da eine Befolgung des Prinzips die einzige Möglichkeit darstellt, eine systematische Erkenntnis der Natur zu erhalten. Bei einer solchen „systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntnis überhaupt“ (KrV, A 671 / B 699) handelt es sich um ein Interesse der Vernunft¹¹: Es ist Kant zufolge in der Vernunft als Ziel angelegt, „alle Verstandeshandlungen, in Ansehung eines jeden Gegenstandes, in ein a b s o l u t e s G a n z e s zusammen zu fassen.“ (KrV, A 326 f. / B 383) Die Vernunft setzt „eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen“ (KrV, A 644 / B 672).¹²
Wie man sich diese Möglichkeit, dass uns die Naturforschung anhand des Prinzips der Systematizität in die Irre führt, im Rahmen von Kants Konzeption vorzustellen hat, werde ich unten in Abschnitt 5.2.4 noch etwas genauer erläutern. Vgl. Horstmann (1998, 527). An manchen Stellen fügt Kant weitere Gründe für die Notwendigkeit des Prinzips der Systematizität an, die über die bloße Feststellung, es handele sich um ein Interesse der Vernunft, hinausgehen. So heißt es etwa an einer Stelle, „das Gesetz der Vernunft, [die systematische Einheit der Natur] zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verstandesgebrauch, und in dessen Ermangelung kein
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Auf der anderen Seite ist eine Anwendung des Prinzips nur unter der Bedingung gerechtfertigt, dass wir einen Grund für die Annahme haben, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist. Diese Voraussetzung ist nach Kants Auskunft „ein t r a n s z e n d e n t a l e r Grundsatz der Vernunft […], welcher die systematische Methode nicht bloß subjektiv- und logisch-, als Methode, sondern objektivnotwendig machen würde.“ (KrV, A 648 / B 676).¹³ Das Problem, das Kant in weiten Teilen des ersten Abschnittes des Anhangs in Atem hält, besteht darin, dass es äußerst schwierig ist, ein solches Prinzip zu rechtfertigen. Wie wir sehen werden, stellt sich letztlich sogar heraus, dass es unmöglich ist, das transzendentale Prinzip der Systematizität im Rahmen von Kants Position in der Kritik der reinen Vernunft zu rechtfertigen. Kant stellt zunächst einmal fest, dass der Versuch einer empirischen Rechtfertigung dieses Prinzips hoffnungslos ist, sodass eine apriorische Rechtfertigung und somit eine transzendentale Deduktion erforderlich wird. Bevor wir uns mit den Problemen dieser transzendentalen Deduktion genauer auseinandersetzen, müssen wir zunächst einen Blick auf Kants Gründe dafür werfen, dass eine empirische Rechtfertigung des Prinzips nicht möglich ist.
zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden, und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus als objektivgültig und notwendig voraussetzen müssen.“ (KrV, A 651 / B 679) Ich bin der Meinung, dass Kants Begründung für die Notwendigkeit des Prinzips der Systematizität, die in dieser Textstelle angedeutet wird, in der Kritik der reinen Vernunft nicht vollständig deutlich wird. Wie Kant an einer weiteren Stelle hinzufügt, wären ohne das logische Prinzip der Homogenität (beziehungsweise der Gattungen, wie er es an dieser Stelle nennt) „keine empirische Begriffe, mithin keine Erfahrung möglich“ (KrV, A 654, B 682). Diese Textstellen können als Hinweise auf ein Argument dafür betrachtet werden, dass das Prinzip der Systematizität notwendig für die Bildung von empirischen Begriffen ist, ein Argument, das Kant aber erst in der ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft genauer ausbuchstabiert (vgl. Ginsborg 1990, 174, und Allison 2000, 81 f.). Ich werde auf dieses Argument in Kapitel 6, insbesondere in Abschnitt 6.1.3, genauer eingehen. Horstmann (1989, 165 ff.) argumentiert für die These, dass Kant – zumindest in der ersten Kritik – das Prinzip der Systematizität nur als logisches und nicht als transzendentales Prinzip auffasst. Aber die gerade im Haupttext zitierten Textstellen verdeutlichen meines Erachtens, dass Kant sich in der Pflicht sieht, das Prinzip auch als ein transzendentales aufzustellen und entsprechend zu rechtfertigen. Die sich im Anhang zur Transzendentalen Dialektik abzeichnenden Inkonsistenzen, auf die ich in Abschnitt 5.2.5 eingehen werde und die auch von Horstmann angemerkt werden, ergeben sich meines Erachtens gerade dadurch, dass Kant verzweifelt versucht, eine transzendentale Deduktion zur Begründung des transzendentalen Prinzips der Systematizität zu geben, ohne von seinen eigenen Versuchen wirklich überzeugt zu sein. Für kritische Auseinandersetzungen mit Horstmanns Lesart siehe Allison (2000, 80 ff.) und Brandt (1989).
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5.2.4 Die Unmöglichkeit einer empirischen Rechtfertigung des Prinzips der Systematiziät Wie Kant an mehreren Stellen im Anhang zur Transzendentalen Dialektik festhält, ist ihm zufolge eine bloß empirische Rechtfertigung des Prinzips der Systematizität nicht möglich. Dabei ist der Gedanke einer solchen empirischen Rechtfertigung zunächst einmal gar nicht so unplausibel. So wendet etwa Rolf-Peter Horstmann ein, dass „Kants Überlegung […] grundlos die Möglichkeit aus[schließt], daß es sich bei der Vorstellung der systematischen Einheit zwar um einen notwendigen Vernunftbegriff handelt, dessen objektive Gültigkeit allerdings nur empirisch gesichert werden kann.“ (Horstmann 1998, 542 f.) Horstmanns Idee besteht also darin, dass es im Rahmen von Kants Position die Möglichkeit gäbe, eine empirische Rechtfertigung des Prinzips zuzulassen. Dieser Idee zufolge verhielte es sich so, dass wir zunächst erkennen würden, dass es sich um ein notwendiges Interesse der Vernunft handelt, nach der systematischen Einheit der Natur zu suchen. Aufgrund dessen müssten wir also eine Erkenntnis nach dem Prinzip der Systematizität anstreben, in der Hoffnung, dass sich herausstellt, dass die empirischen Befunde sich tatsächlich als geeignet für eine systematische Ordnung gemäß dem Prinzip erweisen. Dies würde dann als eine nachträgliche, empirische Rechtfertigung des Prinzips gelten. Auf diese Weise könnte man sich den (wie wir in den folgenden Abschnitten sehen werden) äußerst beschwerlichen Weg einer transzendentalen Deduktion des Prinzips ersparen. Tatsächlich ist es so, dass Kant die Möglichkeit der Bestätigung des Prinzips durch empirische Befunde sogar explizit erwähnt. So räumt Kant an einer Stelle, an der er eigentlich die Erforderlichkeit einer apriorischen Rechtfertigung hervorhebt, in einem Nebensatz ein, dass „freilich dieser Zusammenhang [das Systematische der Naturerkenntnis], wo er zutrifft, einen mächtigen Grund abgibt, die hypothetischerdachte Einheit für gegründet zu halten“ (KrV, A 660 f. / B 688 f.). Eine erfolgreiche Systematisierung der Naturerkenntnis kann also als nachträgliche Bestätigung des Prinzips angesehen werden. Aber Kant zufolge ist es dennoch erforderlich, dass eine apriorische Rechtfertigung vorangeht. Eine besonders interessante Bemerkung zur Unmöglichkeit einer bloß empirischen Rechtfertigung bezieht sich zwar nur auf das Teilprinzip der Kontinuität, von dem Kant aber einen Absatz zuvor sagt, dass es die anderen beiden Teilprinzipien (der Homogenität und der Spezifikation) vereinigt (KrV, A 660 / B 688). Insofern lässt sich diese Bemerkung auf das gesamte Prinzip der Systematizität beziehen: Dieses logische Gesetz des continui specierum (formarum logicarum) setzt aber ein transzendentales voraus (lex continui in natura), ohne welches der Gebrauch des Verstandes
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durch jene Vorschrift nur irre geleitet werden würde, indem sie vielleicht einen der Natur entgegengesetzten Weg nehmen würde. Es muß also dieses Gesetz auf reinen transzendentalen und nicht empirischen Gründen beruhen. Denn in dem letzteren Falle würde es später kommen, als die Systeme; es hat aber eigentlich das Systematische der Naturerkenntnis zuerst hervorgebracht. (KrV, A 660 / B 688)
Kant deutet an dieser Stelle an, dass einer empirischen Rechtfertigung des Prinzips der Systematizität letztlich ein Zirkelschluss zugrunde liegt.¹⁴ Wir können nicht den Umstand, dass unsere Erfahrung eine systematische Form aufweist, als (alleinige) Rechtfertigungsgrundlage dafür nehmen, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist und das entsprechende transzendentale Prinzip wahr. Das Problem dieser Strategie besteht darin, dass der Umstand, dass unsere Erfahrung eine systematische Form aufweist, letztlich ein Resultat der vorherigen Anwendung eben desjenigen Prinzips der Systematizität ist, das auf diese Weise begründet werden soll. Das Prinzip würde also bei einer empirischen Begründung selbst vorausgesetzt. Kants Behauptung, dass das Prinzip der Systematizität „das Systematische der Naturerkenntnis zuerst hervorgebracht“ habe (KrV, A 660 / B 688), die die Grundlage für diesen Zirkeleinwand darstellt, ist jedoch erläuterungsbedürftig. Sie hängt eng damit zusammen, dass das Prinzip der Systematizität sich nach Kants Konzeption nicht nur auf Begriffe beziehungsweise Arten von Gegenständen bezieht, sondern auch auf Naturgesetze.¹⁵ So hält Kant fest, dass die Vernunft nicht nur an einer Systematisierung der Erkenntnis in Hinsicht auf die Arten von Objekten interessiert ist, sondern dass sie auch „[…] systematische Einheit mannigfaltiger Kräfte voraus[setzt], da besondere Naturgesetze unter allgemeineren stehen […].“ (KrV, A 650 / B 678) Die Idee der Systematizität stellt, wie es an einer anderen Stelle heißt, die Aufgabe, die systematische Einheit der Natur „in der Verbindung der Dinge nach allgemeinen Naturgesetzen zu suchen […].“ (KrV, A 692 / B 720) Es handelt sich hierbei um einen Punkt, der im Anhang zur Transzendentalen Dialektik etwas unterbelichtet bleibt und erst in der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft eine eingehendere Behandlung erfährt. Worum es Kant geht ist, dass das Prinzip der Systematizität uns dazu auffordert, auch die empirischen Naturgesetze in einem hierarchischen System anzuordnen und dieses Vgl. Briesen (2013, 14). Den Zusammenhang zwischen dem Prinzip der Systematizität hinsichtlich der Arten und dem Prinzip der Systematizität hinsichtlich der Gesetze, den ich für ein Verständnis von Kants Konzeption der Systematizität und seiner Konzeption der empirischen Naturgesetze insgesamt für sehr zentral halte, thematisiere ich unten in Abschnitt 5.3. Dort erläutere ich unter anderem, warum Kant zufolge das Bilden empirischer Begriffe an die Möglichkeit des Auffindens von empirischen Gesetzen gebunden ist.
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System außerdem als heuristische Grundlage für das Auffinden weiterer Naturgesetze zu verwenden. Dass das Auffinden von empirischen Naturgesetzen in den Bereich der Vernunft (und in der dritten Kritik dann in den Bereich der Urteilskraft) fällt, schlägt wiederum einen Bogen zum Thema des induktiven Schließens.¹⁶ Kant beschreibt den hypothetischen Vernunftgebrauch, bei dem es darum geht, zu einzelnen Fällen ein allgemeines Gesetz zu finden¹⁷, wie folgt: [Im Falle des hypothetischen Vernunftgebrauchs wird] das Allgemeine […] nur p r o b l e m a t i s c h angenommen, und ist eine bloße Idee, das Besondere ist gewiß, aber die Allgemeinheit der Regel zu dieser Folge ist noch ein Problem; so werden mehrere besondere Fälle, die insgesamt gewiß sind, an der Regel versucht, ob sie daraus fließen, und in diesem Falle, wenn es den Anschein hat, daß alle anzugebende besondere Fälle daraus abfolgen, wird auf die Allgemeinheit der Regel, aus dieser aber nachher auf alle Fälle, die auch an sich nicht gegeben sind, geschlossen. (KrV, A 646 f. / B 674 f.)
Der hypothetische Vernunftgebrauch besteht also darin, dass ein allgemeines Gesetz zunächst nur hypothetisch als allgemeingültig angenommen wird. Es wird dann an einzelnen Fällen getestet und wenn es diese Tests besteht, wird auf die tatsächliche Allgemeingültigkeit der Regel geschlossen, von der dann auf weitere, bisher noch nicht untersuchte Einzelfälle geschlossen werden kann. Wir haben es hier also mit einem induktiven Erweiterungsschluss zu tun. Kant geht davon aus, dass das Prinzip der Systematizität bei solchen induktiven Schlüssen gleich in zweierlei Hinsicht eine wichtige Rolle spielt. Zum einen dient das Prinzip als heuristisches Mittel bei der Auffindung von allgemeinen Regeln für gegebene einzelne Fälle: [D]ie systematische Einheit (als bloße Idee) [dient dazu], zu dem Mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauche ein Principium zu finden, und diesen dadurch auch über die Fälle, die nicht gegeben sind, zu leiten und zusammenhängend zu machen. (KrV, A 647 / B 675) Man siehet aber hieraus nur, daß die systematische oder Vernunfteinheit der mannigfaltigen Verstandeserkenntnis ein logisches Prinzip sei, um, da wo der Verstand allein nicht zu Regeln hinlangt, ihm durch Ideen fortzuhelfen […]. (KrV, A 648 / B 676)
Kants Gedanke besteht offenbar darin, dass wir, wenn wir induktiv schließen, bei der Suche nach dem zu bestimmten Einzelfällen passenden allgemeinen Gesetz
Siehe zu diesem Punkt auch Thöle (2000, 128 f.) und Allison (2004, 427 ff.). Der hypothetische Vernunftgebrauch entspricht damit grob dem, was Kant in der Kritik der Urteilskraft als das Vermögen der reflektierenden Urteilskraft einführt.
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nicht nur diese einzelnen Fälle selbst betrachten, sondern diese auch mit anderen, bereits gefundenen und bestätigten Gesetzen abgleichen. Dies ist deshalb erforderlich, weil „der Verstand allein nicht zu Regeln hinlangt“ (KrV, A 648 / B 676), da er mit seinen sehr allgemeinen transzendentalen Gesetzen die aufzufindenden empirischen Gesetze vollkommen unterbestimmt lässt. Wir versuchen daher, zu den gegebenen Einzelfällen möglichst solch ein allgemeines Gesetz zu finden, das mit den bisher von uns angenommenen Gesetzen in einen möglichst engen systematischen Zusammenhang gebracht werden kann. Wir verwenden also bereits gefundene und bestätigte Gesetze als Leitfaden für die Suche nach einer neuen geeigneten Hypothese. Dies hilft, die Suche nach geeigneten Kandidaten für ein allgemeines Gesetz zu fokussieren. Zum anderen bildet das Prinzip der Systematizität die Rechtfertigungsgrundlage für die induktiven Schlüsse, und zwar genau dadurch, dass das induktiv erschlossene Gesetz in den systematischen Zusammenhang mit bereits bestätigten Gesetzen gebracht wird. Dass eine solche Einbettung einer neuen Gesetzesannahme in das (natürlich immer nur vorläufige) bereits bestehende System gelingt, ist ein entscheidendes Kriterium für die epistemische Bewertung der neuen Gesetzeshypothese: Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der P r o b i e r s t e i n d e r W a h r h e i t der Regeln. (KrV, A 647 / B 675) [D]er systematische Zusammenhang, den die Vernunft dem empirischen Verstandesgebrauche geben kann, [befördert] nicht allein dessen Ausbreitung, sondern bewährt auch zugleich die Richtigkeit desselben […]. (KrV, A 680 / B 708)
Der entscheidende Punkt für den gegenwärtigen Zusammenhang – Kants Argument gegen die Möglichkeit einer empirischen Rechtfertigung des Prinzips der Systematizität – besteht darin, dass dieses Prinzip unsere Naturforschung Kants Konzeption zufolge in einer Weise leitet, die die Ergebnisse dieser Forschung stark beeinflusst: Wir projizieren durch induktive Schlüsse die Systematizität hinein in bisher unbeobachtete Bereiche der Natur. Außerdem bewerten wir unsere Gesetzeshypothesen anhand des Kriteriums der systematischen Einbettbarkeit in unser bisheriges Systems und revidieren die Hypothesen gegebenenfalls entsprechend. An einer Stelle deutet Kant sogar an, dass das Prinzip der Systematizität als nachträgliches Korrekturprinzip für erhobene Daten verwendet werden kann, wenn sich diese als ungenau herausstellen¹⁸:
Auf diesen Punkt weist Thöle (2000, 128 f.) hin.
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Die Verwandtschaft des Mannigfaltigen, unbeschadet seiner Verschiedenheit, unter einem Prinzip der Einheit, betrifft nicht bloß die Dinge, sondern weit mehr noch die bloßen Eigenschaften und Kräfte der Dinge. Daher, wenn uns z. B. durch eine (noch nicht völlig berichtigte) Erfahrung der Lauf der Planeten als kreisförmig gegeben ist, und wir finden Verschiedenheiten, so vermuten wir sie in demjenigen, was den Zirkel nach einem beständigen Gesetze durch alle unendliche Zwischengrade, zu einem dieser abweichenden Umläufe abändern kann, d. i. die Bewegungen der Planeten, die nicht Zirkel sind, werden etwa dessen Eigenschaften mehr oder weniger nahe kommen, und fallen auf die Ellipse. (KrV, A 662 / B 690; meine Hervorhebung)
Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Voraussetzung der Systematizität unsere Naturforschung derart leitet, dass sie die Ergebnisse dieser Forschung massiv beeinflusst. Dies bedeutet, dass es sich bei der Systematizität unserer Erfahrung, sofern unser Systematisierungsprojekt tatsächlich gelingt, nicht um etwas handelt, was wir schlicht aus der Natur abgelesen haben, sondern in großem Maße um eine Projektion unsererseits, die auf der Anwendung des Prinzips der Systematizität basiert. Insofern wird also verständlich, weshalb Kant zufolge das Prinzip der Systematizität „das Systematische der Naturerkenntnis zuerst hervorgebracht“ habe (KrV, A 660 / B 688) und er eine bloß empirische Begründung dieses Prinzips entsprechend für zirkulär hält. Zugleich ist es so, dass die Tatsache, dass die Vernunft die Systematizität in die Natur projiziert, keine Garantie dafür darstellt, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist. Zwar ist es, wie gerade gesehen, so, „daß die Vernunft hier nicht bettele, sondern gebiete“ (KrV, A 653 / B 681). Aber anders als die Verstandesprinzipien ist das Vernunftprinzip der Systematizität nicht konstitutiv, sondern bloß regulativ und geht entsprechend nicht mit einer Garantie einher, dass die Objekte der Erfahrung dem Prinzip tatsächlich entsprechen. Es ist nämlich prinzipiell möglich, dass die gemäß dem Prinzip der Systematizität erfolgten induktiven Verallgemeinerungen sich in der Zukunft, wenn wir den Bereich, den diese Verallgemeinerungen betreffen, genauer untersuchen, stets als falsch herausstellen. Auf diese Weise ist es möglich, dass unsere Systematisierungsbemühungen immer wieder durch neue empirische Belege unterlaufen werden, sodass immer wieder Korrekturen in großem Stile nötig sind. In diesem Sinne ist es nach Kant zu verstehen, dass die Vernunft, wenn die Natur nicht tatsächlich systematisch verfasst wäre, „sich eine Idee zum Ziele setzte, die der Natureinrichtung ganz widerspräche.“ (KrV, A 651 / B 680) Die Aufgabe der Begründung des transzendentalen Prinzips der Systematizität, nach dem die Natur selbst tatsächlich systematisch verfasst ist, besteht also genau darin, die Annahme zu rechtfertigen, dass die Natur uns nicht fortwährend dazu zwingen wird, unsere anhand des logischen Prinzips der Systematizität induktiv erweiterten Erkenntnisse im Nachhinein zu korrigieren. Und diese Be-
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gründung kann nicht auf empirischem Wege erfolgen. Das transzendentale Prinzip der Systematizität muss also a priori gerechtfertigt werden – was wir benötigen, ist eine transzendentale Deduktion. Und wie wir in den nächsten Abschnitten sehen werden, entstehen hieraus im Rahmen der Konzeption der ersten Kritik unlösbare Probleme, die Kant offenbar auch gesehen hat, ohne sie explizit anzusprechen.
5.2.5 Das Problem einer transzendentalen Deduktion des Prinzips der Systematizität Nicht alle Interpreten sind sich darüber einig, ob Kant tatsächlich die Absicht hatte, eine transzendentale Deduktion des Prinzips der Systematizität durchzuführen.¹⁹ Wie man leicht zeigen kann, ist dies darauf zurückzuführen, dass Kant sich bezüglich der Durchführbarkeit einer transzendentalen Deduktion für Ideen der Vernunft widersprüchlich zu äußern scheint.²⁰ Einerseits weist Kant explizit darauf hin, dass eine transzendentale Deduktion von Ideen grundsätzlich unmöglich ist: Was bei diesen Prinzipien [der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität] merkwürdig ist […], ist dieses: daß sie transzendental zu sein scheinen, und, ob sie gleich bloße Ideen zur Befolgung des empirischen Gebrauchs der Vernunft enthalten, […] sie gleichwohl, als synthetische Sätze a priori, objektive, aber unbestimmte Gültigkeit haben, und zur Regel möglicher Erfahrung dienen, […] ohne daß man doch eine transzendentale Deduktion derselben zustande bringen kann, welches, wie oben bewiesen worden, in Ansehung der Ideen jederzeit unmöglich ist. (KrV, A 663 f. / B 691 f.; meine Hervorhebung)
Nur wenige Seiten später überrascht er den Leser jedoch mit folgender Verkündung: Man kann sich eines Begriffes a priori mit keiner Sicherheit bedienen, ohne seine transzendentale Deduktion zu Stande gebracht zu haben. Die Ideen der reinen Vernunft verstatten zwar keine Deduktion von der Art, als die Kategorien; sollen sie aber im mindesten einige, wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit haben, und nicht bloß leere Gedankendinge (entia rationis ratiocinantis) vorstellen, so muß durchaus eine Deduktion derselben möglich sein, gesetzt, daß sie auch von derjenigen weit abwiche, die man mit den Kategorien vornehmen kann. Das ist die Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft, und dieses wollen wir jetzt übernehmen. (KrV, A 669 f. / B 697 f.)
Siehe etwa Rueger / Evren (2005, 236). Vgl. Horstmann (1989, 168).
5.2 Das Prinzip der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik
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Auf den ersten Blick liegt es vielleicht nahe, die Spannung zwischen diesen beiden Äußerungen dadurch aufzuheben, dass man – angelehnt an Kants Ausführungen im letzten Zitat – zwischen einem engen und einem weiten Begriff von transzendentaler Deduktion unterscheidet. Eine transzendentale Deduktion im weiten Sinne wäre demnach eine solche, die nur für die Kategorien, nicht jedoch für Vernunftideen möglich ist, während es – wie Kant im letzten Zitat nahelegt – nach einem noch näher zu bestimmenden weiten Begriff einer transzendentalen Deduktion auch möglich wäre, eine Deduktion für Ideen zu liefern. An der zuerst zitierten Stelle, an der Kant die grundsätzliche Unmöglichkeit einer transzendentalen Deduktion für Ideen ausdrückt, könnte man ihn dann so lesen, dass er sich nur auf eine Deduktion im engeren Sinne bezieht, während er an der zuletzt zitierten Stelle eine transzendentale Deduktion der Ideen im weiten Sinne für möglich erklärt. Der vermeintliche Widerspruch wäre somit verschwunden. Wie ich im Folgenden darlegen möchte, gibt es jedoch sowohl gute Gründe dafür, dass selbst eine transzendentale Deduktion mit schwächerem Anspruch im Rahmen von Kants Konzeption der ersten Kritik unmöglich durchführbar ist, als auch Gründe für die Annahme, dass Kant dieses Problem selbst erkannt hat. Bevor wir uns mit den Problemen einer transzendentalen Deduktion der Ideen beschäftigen, müssen wir einen kurzen Blick auf die Grundidee der transzendentalen Deduktion der Verstandeskategorien werfen. Wie wir sehen werden, lassen sich zentrale Aspekte dieser Deduktion nicht auf eine Deduktion der Ideen übertragen, was zu dem Problem einer transzendentalen Deduktion der Ideen führen wird. Zunächst einmal handelt es sich bei der transzendentalen Deduktion der Kategorien um „die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“ (KrV, A 85 / B 117). Bei den Kategorien handelt es sich um Begriffe a priori, die nicht aus der Erfahrung abgeleitet wurden, sondern im reinen Verstand entsprungen sind. Es stellt sich daher die Frage, wie wir a priori wissen können, dass sie gültig für Gegenstände möglicher Erfahrung sind. Die Grundidee von Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien besteht darin, dass die Kategorien konstitutiv für die Gegenstände der Erfahrung sind. Hiermit meint Kant, dass die Anwendung der Kategorien auf Anschauungen notwendig dafür ist, dass wir überhaupt etwas als einen Gegenstand denken können. Wenn dies tatsächlich so ist (und Kants Anspruch besteht darin, dies gezeigt zu haben), dann sind die Kategorien notwendigerweise gültig für die Gegenstände der Erfahrung. Kant formuliert dies in einer Frage, die er im Anschluss an die hier zitierte Stelle eindeutig positiv beantwortet: Nun frägt es sich, ob nicht auch Begriffe a priori vorausgehen, als Bedingungen, unter denen allein etwas […] als Gegenstand überhaupt gedacht wird, denn alsdenn ist alle empirische
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Erkenntnis der Gegenstände solchen Begriffen notwendigerweise gemäß, weil ohne deren Voraussetzung, nichts als O b j e k t d e r E r f a h r u n g möglich ist. (KrV, A 93 / B 125 f.)
Das Problem in Bezug auf eine Deduktion der Vernunftideen besteht nun darin, dass Kant diese Deduktionsstrategie nicht auf die Ideen anwenden kann, da die Ideen im Gegensatz zu den Kategorien nicht konstitutiv für Gegenstände der Erfahrung sind. Tatsächlich gibt es zwei Gründe dafür, dass Kant den Ideen die Konstitutivität für Gegenstände im Rahmen seiner Konzeption absprechen muss. Der erste ist ein allgemeinerer und hat mit Überlegungen zu tun, die den Status des Vermögens der Vernunft in Kants Ansatz betreffen. Der zweite betrifft direkt die Idee der Systematizität, um die es uns hier in erster Linie geht. Der erste Grund besteht darin, dass Kant dem Vermögen der Vernunft nicht den Status eines gegenstandskonstitutiven Vermögens zuschreiben kann, ohne dadurch in Widerspruch zu geraten mit der Position, für die er in den Hauptteilen der Transzendentalen Dialektik argumentiert hat.²¹ Für seine dort entwickelte Haltung zum transzendentalen Schein ist es wesentlich, dass die Ideen von Gott, Seele und Welt, obwohl es sich um unvermeidbare Produkte der Vernunft handelt, nicht als Bestimmungen von wirklichen Gegenständen aufgefasst werden sollten. Wenn aber die Vernunft durch ihre Ideen konstitutiv für Gegenstände wäre, dann könnte a priori gezeigt werden, dass die Ideen von Gott, Seele und Welt sich auf wirkliche Gegenstände beziehen. Kant zufolge ist es jedoch prinzipiell unmöglich, dies zu zeigen. Sein Hauptanliegen in der Transzendentalen Dialektik besteht gerade darin, uns von dem transzendentalen Schein zu befreien, der dadurch entsteht, dass man den Fehler begeht, die Ideen für Bestimmungen wirklicher Gegenstände zu halten. Der zweite Grund dafür, den Ideen und insbesondere der Idee der Systematizität den Status der Gegenstandskonstitutivität abzusprechen, besteht darin, dass Kants Ansatz andernfalls wesentlich idealistischer ausfallen würde, als er es selbst intendiert hat.²² Der Hintergrund dieses Punktes besteht in Kants Unterscheidung zwischen Materie und Form der Erkenntnis. Der Verstand mit seinen Kategorien und Grundsätzen liefert die Form für alle empirischen Gegenstände²³, aber nicht die Materie der Erfahrung, das heißt den konkreten empirischen Gehalt. Die Kategorien und Grundsätze sind notwendigerweise gültig für alle Ge-
Vgl. Goldberg (2004, 408). Goldberg verweist auf O’Shea (1997, 238). Vgl. Thöle (2000, 119 f.). „Der reine Verstand ist also in den Kategorien das Gesetz der synthetischen Einheit aller Erscheinungen, und macht dadurch Erfahrung ihrer Form nach allererst und ursprünglich möglich.“ (KrV, A 128)
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genstände der Erfahrung, aber da sie sehr allgemein und abstrakt sind, lassen sie die konkrete Art und Weise, wie die Gegenstände der Erfahrung ihnen korrespondieren, unterbestimmt.²⁴ Beispielsweise schreibt die zweite Analogie der Erfahrung vor, dass jede Veränderung eine Ursache hat. Aber hierbei handelt es sich um ein sehr allgemeines Prinzip, das nur die Form unserer Erfahrung betrifft. Dieses Prinzip sagt nichts darüber aus, welche Veränderungen welche konkreten Ursachen haben. Da es sich hierbei um etwas handelt, was die Materie der Erfahrung betrifft, müssen wir es empirisch herausfinden. Während also die Grundsätze des Verstandes nur die Form der empirischen Gegenstände vorschreiben, kann man leicht einsehen, dass das Prinzip der Systematizität auch die Materie der Erfahrung betrifft. Wenn wir das Prinzip als ein transzendentales Prinzip lesen, drückt es aus, dass die konkreten empirischen Objekte derart sind, dass sie ein für uns gut erfassbares System ausmachen. Dies bedeutet etwa, dass die konkreten Gegenstände, die wir in der Erfahrung antreffen, trotz ihrer vielfältigen Verschiedenartigkeit in einem angemessenen Maße Ähnlichkeiten zueinander aufweisen. ²⁵ Wie Bernhard Thöle es ausdrückt, betrifft das Prinzip der Systematizität somit „aber gerade die Art, wie das gegebene sinnliche Material organisiert ist“ (Thöle 2000, 120). Das Prinzip der Systematizität müsste somit, wenn es ein konstitutives Prinzip wäre und für die systematische Verfasstheit der Natur garantieren würde, nicht nur die allgemeine Form, sondern auch die konkrete Materie der Erfahrung hervorbringen. Hierbei würde es sich jedoch um eine Position handeln, die die Unabhängigkeit der empirischen Welt vom Subjekt in einem Maße leugnen würde, das selbst Kant nicht geheuer war. Es dürfte nun also deutlich geworden sein, weshalb Kant im Rahmen seiner Position nicht die Möglichkeit offenstand, dem Prinzip der Systematizität den Status der Gegenstandskonstitutivität zuzusprechen. Wie wir außerdem gesehen haben, baut Kants transzendentale Deduktion der Kategorien wesentlich darauf auf, dass es sich bei den Kategorien um gegenstandskonstitutive Begriffe handelt. Dies ist der tiefere Grund dafür, dass Kant – wie oben bereits zitiert – festhält, dass „[d]ie Ideen der reinen Vernunft […] keine Deduktion von der Art, als die Kategorien“ erhalten können (KrV, A 669 / B 697). Dennoch hält Kant daran fest, dass
Siehe hierzu die beiden zu Beginn von Kapitel 4 zitierten Textstellen (KrV, A 127 f.) und (KrV, B 165). Man mag zwar auf den ersten Blick den Eindruck haben, dass es sich bei der systematischen Verfasstheit der Natur um etwas Formales handelt. Entscheidend ist jedoch, dass die systematische Verfasstheit eine Beschaffenheit von Objekten (und insbesondere das Verhältnis der Beschaffenheiten der Objekte zueinander) betrifft, die weit über die den Objekten von den allgemeinen Verstandesgrundsätzen vorgeschriebenen rein formalen Aspekte hinausgeht.
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eine Deduktion möglich sein muss. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, versucht Kant tatsächlich eine Deduktion der Idee der Systematizität zu liefern, die sich von der transzendentalen Deduktion der Kategorien unterscheidet. Und wie sich zeigen wird, war er selbst unzufrieden mit dieser Deduktion, und zwar aus guten Gründen.
5.2.6 Die indirekte Deduktion der Idee der Systematizität und Kants Abstandnahme von ihr Wie wir gesehen haben, muss Kant der Tatsache ins Auge sehen, dass eine transzendentale Deduktion der Idee der Systematizität nicht nach dem Modell der transzendentalen Deduktion der Kategorien durchgeführt werden kann. Aus diesem Grund schlägt er einen anderen Weg zur Deduktion des Prinzips der Systematizität ein: Da nun jeder Grundsatz, der dem Verstande durchgängige Einheit seines Gebrauchs a priori festsetzt, auch, obzwar nur indirekt, von dem Gegenstande der Erfahrung gilt: so werden die Grundsätze der reinen Vernunft auch in Ansehung dieses letzteren ihre objektive Realität haben, allein nicht um etwas an ihnen zu b e s t i m m e n , sondern nur um das Verfahren anzuzeigen, nach welchem der empirische und bestimmte Erfahrungsgebrauch des Verstandes mit sich selbst durchgängig zusammenstimmend werden kann […]. (KrV, A 665 f. / B 693 f.)
Kant wählt also einen indirekten Weg zur Rechtfertigung des Prinzips der Systematizität: Das Prinzip der Systematizität spielt eine notwendige Rolle in Bezug auf die Ausübung des Verstandesvermögens; der Verstand bedarf der Leitung durch die Idee der Systematizität. Da die Begriffe des Verstandes ihrerseits objektive Gültigkeit in Bezug auf die Gegenstände der Erfahrung haben, so offenbar Kants Überlegung, können wir für die Idee der Systematizität zumindest eine indirekte Gültigkeit für die Gegenstände der Erfahrung konstatieren. Aber wie sich in den Prolegomena an einer etwas rätselhaften Stelle, an der Kant Bezug nimmt auf die indirekte Deduktion der Idee der Systematizität, herausstellt, war er scheinbar selbst von dieser Deduktion nicht vollständig überzeugt.²⁶ Kant referiert rückblickend auf den Anhang zu Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft die Situation wie folgt:
Vgl. Horstmann (1998, 540 f.), der auf die Textstelle in den Prolegomena verweist, die ich im Folgenden ausführlich analysiere.
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[Im Anhang zur Transzendentalen Dialektik] werden gewisse Vernunftprinzipien vorgetragen, die die Naturordnung oder vielmehr den Verstand, der ihre Gesetze durch Erfahrung suchen soll, a priori bestimmen. Sie scheinen konstitutiv und gesetzgebend in Ansehung der Erfahrung zu sein, da sie doch aus bloßer Vernunft entspringen, welche nicht so wie Verstand als ein Prinzip möglicher Erfahrung angesehen werden darf. (Prol, AA 4: 364)
Bis zu dieser Stelle entspricht die Darstellung dem tatsächlichen Vorgehen im Anhang zur Transzendentalen Dialektik: Bei den Prinzipien, auf die Kant verweist, handelt es sich offenbar um die drei Prinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität, die zusammen das Prinzip der Systematizität ausmachen. Er hebt hervor, dass sie, obwohl sie nur regulative Prinzipien sind (da die Vernunft nicht „als ein Prinzip möglicher Erfahrung angesehen werden darf“), konstitutiv zu sein scheinen (worauf ich gleich noch genauer eingehen werde). Dann fährt er in unnachahmlicher Weise mit folgendem langen und komplexen Satz fort: Ob nun diese Übereinstimmung darauf beruhe, daß, sowie Natur den Erscheinungen oder ihrem Quell, der Sinnlichkeit, nicht an sich selbst anhängt, sondern nur in der Beziehung der letzteren auf den Verstand angetroffen wird, so diesem Verstande die durchgängige Einheit seines Gebrauchs zum Behuf einer gesamten möglichen Erfahrung (in einem System) nur mit Beziehung auf die Vernunft zukommen könne, mithin auch Erfahrung mittelbar unter der Gesetzgebung der Vernunft stehe: mag von denen, welche der Natur der Vernunft auch außer ihrem Gebrauch in der Metaphysik, sogar in den allgemeinen Prinzipien, eine Naturgeschichte überhaupt systematisch zu machen, nachspüren wollen, weiter erwogen werden; denn diese Aufgabe habe ich in der Schrift selbst zwar als wichtig vorgestellt, aber ihre Auflösung nicht versucht. (Prol, AA 4: 364)
Mit „diese Übereinstimmung“ (ebd.) zu Beginn des Satzes bezieht sich Kant zurück auf die Feststellung, dass das Prinzip der Systematizität konstitutiv zu sein scheint. Ich lese dies als den Hinweis darauf, dass die Natur tatsächlich in der Weise systematisch zu sein scheint, wie es das Prinzip der Systematizität fordert. Kant formuliert dann das Problem, diese Korrespondenz zwischen dem Vernunftprinzip und der Natur zu erklären und erwägt unmittelbar eine Lösung. Diese besteht gerade in der indirekten Deduktion des Prinzips der Systematizität, wie er sie im Anhang zur Transzendentalen Dialektik angeführt hat: Erfahrung steht „mittelbar unter der Gesetzgebung der Vernunft“ (ebd.), da der Verstand auf die Leitung durch das Prinzip der Systematizität angewiesen ist für die „durchgängige Einheit seines Gebrauchs zum Behuf einer gesamten möglichen Erfahrung“ (ebd.); der Verstand wiederum ist konstitutiv für die Gegenstände der Erfahrung. Aber anstatt nun diese Lösung als seine eigene darzustellen, stellt Kant hier, in den Prolegomena, diesen Vorschlag in Frage, gibt sogar vor, gar nicht versucht zu haben, das Problem im Anhang zur Transzendentalen Dialektik zu lösen und legt nahe, dass das ganze Thema ohnehin über den eigentlichen
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Themenbereich der Kritik der reinen Vernunft hinausgeht („mag von denen, welche der Natur der Vernunft auch außer ihrem Gebrauch in der Metaphysik […] nachspüren wollen, weiter erwogen werden“ (ebd.)). Warum stellt Kant den Inhalt des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik hier in dieser verzerrenden und distanzierenden Weise dar? Ich glaube, dass die beste Erklärung hierfür darin besteht, dass er von vornherein nicht mit seiner indirekten Deduktion des Prinzips der Systematizität zufrieden war. Dies würde außerdem erklären, weshalb sich Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik in Widersprüche verstrickt, indem er einerseits darauf hinweist, dass eine transzendentale Deduktion der Ideen unmöglich ist und andererseits eine solche Deduktion zum Ziel ausruft.²⁷ Einerseits sieht Kant die Notwendigkeit für eine transzendentale Deduktion, andererseits stellt er fest, dass er mit den damit verbundenen Problemen nicht in einer befriedigenden Weise zurecht kommt. Die indirekte Deduktion scheint für Kant keine zufriedenstellende Lösung zu sein. Aber warum nicht? Wie ich im folgenden Abschnitt zeigen möchte, hängt dies insbesondere damit zusammen, dass die indirekte Deduktion nach Kants eigenen Ansprüchen nicht für die objektive Realität der Idee der Systematizität aufkommen kann.
5.2.7 Die reale Unmöglichkeit des Objektes der Idee der Systematiziät im Anhang zur Transzendentalen Dialektik Wie Andrew Chignell (2006, 408 ff.) anmerkt, hängt für Kant die Frage nach der objektiven Realität von Begriffen eng mit dem zusammen, was Kant die reale Möglichkeit der Objekte dieser Begriffe nennt.²⁸ In diesem Abschnitt möchte ich zeigen, dass dies der Grund dafür ist, dass Kant mit der indirekten Deduktion der Idee der Systematizität unzufrieden sein musste: Die indirekte Deduktion ist nicht dazu imstande, die reale Möglichkeit der systematischen Verfasstheit der Natur im Sinne der drei Prinzipien der Homogenität, Spezifikation und Kontinuität zu zeigen. Es finden sich in Kants Text sogar klare Anzeichen dafür, dass die Situation noch schlimmer ist: Wie sich zeigen wird, legt Kant sich zumindest indirekt darauf fest, dass das Objekt der Idee der Systematizität real unmöglich ist.
Vgl. Thöle (2000, 119). Chignell hat diesen Punkt in weiteren Veröffentlichungen weiter ausgearbeitet. Siehe etwa Chignell (2010).Wie im Folgenden deutlich werden dürfte, stütze ich mich in diesem Abschnitt auf Chignells Arbeiten zu Kants Begriff der realen Möglichkeit.
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Um zu verstehen, was Kant unter realer Möglichkeit versteht, ist es zunächst einmal wichtig festzustellen, dass er den Begriff der realen Möglichkeit vom Begriff der logischen Möglichkeit unterscheidet²⁹: [ D ] e n k e n kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiere oder nicht. Um einem solchen Begriffe aber objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert. (KrV, B XXVI, Fn.)
Das Problem besteht darin, dass ein Begriff, selbst wenn er frei von logischen Inkonsistenzen ist, nicht in jedem Fall ein real mögliches Objekt hat: Es kann der Fall eintreten, dass die Teilbegriffe des Begriffes in dem Sinne miteinander inkompatibel sind, dass es unmöglich ist, dass ein Gegenstand alle diese Teilbegriffe auf einmal instantiiert.³⁰ Aber wie können wir feststellen, ob ein Begriff ein real mögliches Objekt hat? An dieser Stelle spielt die Verbindung zwischen Begriffen und Anschauungen eine zentrale Rolle. Kant weist darauf hin, dass die Verbindung zwischen einem Begriff und einer Anschauung die objektive Realität des Begriffes sichert: „Die Realität unserer Begriffe darzutun, werden immer Anschauungen erfordert.“ (KU, AA 5: 351)³¹ Dies liegt daran, dass uns durch eine Anschauung, die unter den
Vgl. Chignell (2010, 181), der ebenfalls auf die im Folgenden zitierte Stelle verweist. Kant wendet diese Überlegung auf den Begriff eines höchsten Wesens an: „Das analytische Merkmal der Möglichkeit, das darin besteht, daß bloße Positionen (Realitäten) keinen Widerspruch erzeugen, kann ihm [dem Begriff eines höchsten Wesens] zwar nicht gestritten werden; […] aber die Verknüpfung aller realen Eigenschaften in einem Dinge [ist] eine Synthesis […], über deren Möglichkeit wir a priori nicht urteilen können, weil uns die Realitäten spezifisch nicht gegeben sind […].“ (KrV, A 602 / B 632) Chignell (2010, 179 f.) illustriert dieselbe Überlegung anhand des etwas neumodischeren Beispiels des Begriffs eines Zombies: Obwohl es keinen logischen Widerspruch zwischen den Teilbegriffen „ist qualitativ identisch mit menschlichen Wesen“ und „hat kein Bewusstsein“ gibt, könnte es (wie manche Philosophen behaupten) der Fall sein, dass diese beiden Begriffe metaphysisch inkompatibel sind. In der oben zitierten Fußnote aus der B-Vorrede weist Kant in der Fortführung der zitierten Stelle darauf hin, dass eine korrespondierende Anschauung nicht die einzige Möglichkeit darstellt, um die reale Möglichkeit eines Begriffes zu sichern, da nämlich das, was die reale Möglichkeit nachweist, „eben nicht in theoretischen Erkenntnisquellen gesucht zu werden [braucht], [sondern] es kann auch in praktischen liegen.“ (KrV, B XXVI, Fn.). Hiermit spielt Kant auf die insbesondere in der Kritik der praktischen Vernunft genauer entwickelte Methode des Nachweises der realen Möglichkeit eines Begriffes durch sogenannte „praktische[] Erkenntnis“ (KrV, B XXI) an. Siehe dazu Chignell (2010, 194 ff.) und auch die umfangreiche Untersuchung von Heiner Bielefeldt (2003). Diesen Aspekt lasse ich hier jedoch außer Acht, weil deutlich ist, dass Kant die
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Begriff gefasst werden kann, ein Objekt in der Erfahrung gegeben wird, das den Begriff instantiiert. Wie man sich leicht überlegen kann, zeigt die Instantiierung eines Begriffes, dass der Begriff ein real mögliches Objekt hat, denn was wirklich ist, muss auch real möglich sein. Kant hält jedoch selbst fest, dass diese Art des Nachweises der realen Möglichkeit von Objekten gerade im Fall von Vernunftideen klarerweise ausgeschlossen ist³²: [D]as Merkmal der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse [muss] immer nur in der Erfahrung gesucht werden […], zu welcher aber der Gegenstand einer Idee nicht gehören kann […]. (KrV, A 602 / B 630)
Das Problem besteht darin, dass es sich bei Ideen um Begriffe einer bestimmten Art handelt, nämlich um solche Begriffe, denen kein empirisches Objekt jemals adäquat sein kann: Verlangt man gar, daß die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d. i. der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargetan werde, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann. (KU, AA 5: 351)
Oder, wie es an einer oben bereits zitierten Stelle im Anhang zur Transzendentalen Dialektik heißt: Vernunftideen „enthalten eine gewisse Vollständigkeit, zu welcher keine mögliche empirische Erkenntnis zulangt“ (KrV, A 567 f. / B 595 f.).³³ Es ist also prinzipiell ausgeschlossen, dass wir die reale Möglichkeit des Objekts einer Vernunftidee anhand einer Instantiierung in der Erfahrung nachweisen können. Für den erfolgreichen Abschluss einer transzendentalen Deduktion der Idee der Systematizität kann dies als durchaus großes Problem bezeichnet werden. Generell ist Kant nämlich der Überzeugung, dass es fahrlässig beziehungsweise geradezu gefährlich ist, Begriffe, die a priori entstanden sind, ohne einen Nachweis der realen Möglichkeit ihrer Objekte zu verwenden.³⁴
reale Möglichkeit des Prinzips der Systematizität nicht über den Weg der praktischen Vernunft zu begründen versucht. Vgl. Chignell (2010, 183), der dieselbe Stelle zitiert. Siehe auch Prol, AA 5: 328. In den Metaphysischen Anfangsgründen teilt Kant uns etwa mit, dass „zur Befugnis eine Hypothese zu errichten unnachlaßlich gefordert wird: daß die Möglichkeit dessen, was man annimmt, völlig gewiß sei […].“ (MAN, AA 4: 524). Pikanterweise äußert er dies gerade im Zusammenhang mit der Feststellung, dass die Möglichkeit der beiden von ihm angenommenen
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Es liegt nahe, Kants indirekte Deduktion der Idee der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik als den Versuch zu lesen, das vorliegende Problem zu lösen und zumindest einen indirekten Nachweis für die reale Möglichkeit des Objektes der Idee zu liefern. Kant rückt nämlich in dieser Deduktion gerade den Gedanken in den Vordergrund, dass es zumindest eine indirekte Verbindung zwischen der Idee der Systematizität und Objekten der Erfahrung gibt: Die Idee leitet den Verstand bei der Anwendung der Begriffe, die sich wiederum auf empirische Objekte beziehen. Aber mir – und möglicherweise ging es Kant ähnlich – scheint es, dass es sich hierbei nicht um die richtige Relation zu Erfahrungsgegenständen handelt, um der Idee die reale Möglichkeit ihres Objektes zusichern zu können. Dieser Punkt lässt sich gut an einer Beschreibung festmachen, die Allison von Kants indirekter Deduktion gegeben hat: This principle [of systematicity] is an application condition of the understanding, in the sense that it is indispensable to the latter’s endeavor to form empirical concepts and to make lawlike generalizations. Consequently, it may be said to hold of its „object,“ namely, the understanding. (Allison 2004, 436)
Dies mag zwar zutreffen, aber Kants eigentliche Aufgabe besteht nicht darin zu zeigen, dass das Prinzip für sein „Objekt“ (den Verstand) gilt, sondern dass es in irgendeiner Form für die Objekte der Erfahrung gilt.Wie wir oben in Abschnitt 5.2.3 gesehen haben, besteht das Problem, das Kant die Aufgabe einer transzendentalen Deduktion der Idee der Systematizität angetragen hat, darin, dass wir ausschließen müssen, dass die Vernunft „wider ihre Bestimmung [verfährt], indem sie sich eine Idee zum Ziele setzte, die der Natureinrichtung ganz widerspräche.“ (KrV, A 651 / B 680) Und es ist nicht einzusehen, inwiefern die indirekte Deduktion der Idee der Systematizität zur Lösung dieses Problems etwas beitragen kann: Die Deduktion vermag nicht zu zeigen, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist. Und insofern vermag sie auch nicht zu zeigen, dass das Objekt der Idee der Systematizität – nämlich eine gemäß den Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität systematisch verfasste Natur – real möglich ist. Noch düsterer werden die Aussichten in Bezug auf einen Nachweis der realen Möglichkeit des Objektes der Idee der Systematizität, wenn man eine Textstelle hinzuzieht, an der Kant etwas mehr über den Gehalt dieser Idee mitteilt. Zunächst einmal ist Kant offenbar der Meinung, dass der Gehalt der Idee genauer spezifi-
Grundkräfte, die nach dem von ihm bevorzugten dynamischen Materie-Begriff die Grundlage der Materie ausmachen, „niemals eingesehen werden kann“ (ebd.).
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ziert werden muss, damit die Idee für unsere Untersuchung der Natur leitgebend sein kann: Die Verstandeshandlungen aber, ohne Schemate der Sinnlichkeit, sind u n b e s t i m m t ; eben so ist die Ve r n u n f t e i n h e i t auch in Ansehung der Bedingungen, unter denen, und des Grades, wie weit, der Verstand seine Begriffe systematisch verbinden soll, an sich selbst u n b e s t i m m t . (KrV, A 664 f. / B 692 f.)
Das Prinzip der Systematizität schreibt uns vor, nach einer Einheit im Sinne einer Systematizität unserer Begriffe zu streben. Aber wie hoch soll der Grad der angestrebten Systematizität sein? Kant gibt auf diese Frage folgende Antwort: Allein, obgleich für die durchgängige systematische Einheit aller Verstandesbegriffe kein Schema in der A n s c h a u u n g ausfündig gemacht werden kann, so kann und muß doch ein A n a l o g o n eines solchen Schema gegeben werden, welches die Idee des M a x i m u m der Abteilung und der Vereinigung der Verstandeserkenntnis in einem Prinzip ist. Denn das Größeste und Absolutvollständige läßt sich bestimmt gedenken, weil alle restringierende Bedingungen, welche unbestimmte Mannigfaltigkeit geben, weggelassen werden. (KrV, A 665 / B 693)
Wie Kant hier erläutert, fordert uns das Prinzip der Systematizität dazu auf, so viel Systematizität wie möglich zu finden. Das, was Kant das Analogon eines Schemas nennt, hilft uns dabei, dieses Ziel im Blick zu behalten: Kant konzipiert die Idee der Systematizität als die Idee eines Maximums: Das (vorgestellte) Objekt der Idee der Systematizität ist ein System von Gegenständen, die zu einem maximalen Grad homogen und spezifiziert sind.³⁵ Interessant ist nun, dass Kant im zweiten Satz der zuletzt zitierten Passage darauf hinweist, dass diese Idee eines Maximums per Abstraktion gedacht werden kann, was darauf hindeutet, dass diese Idee frei ist von logischen Widersprüchen. Wie wir jedoch oben gesehen haben, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass das Objekt der Idee real möglich ist. Und eine weitere Textstelle zeigt sogar, dass wir davon auszugehen haben, dass das Objekt dieser Idee real unmöglich ist, weshalb Kant den Einsatz dieser Idee auf den bloß regulativen Gebrauch einschränken möchte: Wenn bloß regulative Grundsätze als konstitutiv betrachtet werden, so können sie als objektive Prinzipien widerstreitend sein; betrachtet man sie aber bloß als M a x i m e n , so ist kein wahrer Widerstreit, sondern bloß ein verschiedenes Interesse der Vernunft, welches die Trennung der Denkungsart verursacht. In der Tat hat die Vernunft nur ein einiges Interesse
Dieses leitgebende vorgestellte Objekt bezeichnet Kant als „focus imaginarius“ (KrV, A 644 / B 672) der Untersuchung. Für eine genauere Analyse dieser Metapher siehe Allison (2004, 425 ff.).
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und der Streit ihrer Maximen ist nur eine Verschiedenheit und wechselseitige Einschränkung der Methoden, diesem Interesse ein Genüge zu tun. Auf solche Weise vermag bei d i e s e m Vernünftler mehr das Interesse der M a n n i g f a l t i g k e i t (nach dem Prinzip der Spezifikation), bei j e n e m aber das Interesse der E i n h e i t (nach dem Prinzip der Aggregation). (KrV, A 666 / B 694)
Wie diese Textstelle zeigt, ist Kant offenbar der Meinung, dass das Prinzip der Spezifikation und das Prinzip der Homogenität (beziehungsweise Aggregation, wie er es hier nennt) miteinander konfligieren – zumindest dann, wenn man sie als objektive Prinzipien begreift! Dies bedeutet aber gerade, dass zwei Hauptkomponenten der Idee der Systematizität im Konflikt miteinander stehen, sobald man versucht, diese Idee auf ein Objekt zu beziehen. Es ist – wie Kant hier offenbar sagen möchte – unmöglich, dass ein System von empirischen Gegenständen zugleich zu einem maximalen Grad homogen und zu einem maximalen Grad spezifiziert ist. Damit ist jedoch amtlich, was nach Kants eigener Auffassung eigentlich nicht sein darf: Das Objekt der Idee der Systematizität, so wie Kant diese Idee im Anhang zur Transzendentalen Dialektik konzipiert, ist real unmöglich! Nun ist es zwar so, dass Kant an dieser Stelle einen Ausweg anbietet, um diese Problematik zu umgehen: Wir können von einer objektiven Verwendung der Prinzipien der Homogenität und Spezifikation absehen und sie lediglich als regulative Prinzipien verwenden, die unsere Untersuchung der Natur leiten. Dies ist tatsächlich auch genau das, was Kant an der Stelle aussagt, an der er die Vorstellung eines Maximums als ein Analogon zu einem Schema einführt: Also ist die Idee der Vernunft ein Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit, aber mit dem Unterschiede, daß die Anwendung der Verstandesbegriffe auf das Schema der Vernunft nicht eben so eine Erkenntnis des Gegenstandes selbst ist (wie bei der Anwendung der Kategorien auf ihre sinnliche Schemate), sondern nur eine Regel oder Prinzip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs. (KrV, A 665 / B 693)
Kant weist darauf hin, dass das Prinzip der Systematizität nur als regulatives Prinzip gebraucht werden sollte und dass wir die Idee eines Maximums von Systematizität nur als einen idealen Zielpunkt für unsere Untersuchung verstehen sollten. Ich möchte dagegen jedoch hervorheben, dass dies in Konflikt steht mit den Textstellen, die – wie oben gesehen – die ursprüngliche Motivation für die transzendentale Deduktion der Idee der Systematizität darlegen: Kant hält es für erforderlich, die Möglichkeit auszuschließen, dass die Vernunft „sich eine Idee zum Ziele setzte, die der Natureinrichtung ganz widerspräche.“ (KrV, A 651 / B 680) Und wie oben deutlich wurde, erkennt er selbst an, dass ihn dies darauf festlegt, die objektive Gültigkeit der Idee nachzuweisen, welche – wie wir ebenfalls gesehen haben – die reale Möglichkeit des Objektes der Idee beinhaltet:
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In der Tat ist auch nicht abzusehen, wie ein logisches Prinzip der Vernunfteinheit der Regeln stattfinden könne, wenn nicht ein transzendentales vorausgesetzt würde, durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objekten selbst anhängend, a priori als notwendig angenommen wird. (KrV, A 650 f. / B 678 f.; meine Hervorhebung)
Dies ist der Grund, warum die transzendentale Deduktion der Idee der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik scheitern muss: Nach Kant setzt das regulative Prinzip der Systematizität ein transzendentales Prinzip voraus, dem zufolge die Systematizität dem Objekt selbst zukommt. Auf der anderen Seite ist die Idee der Systematizität die Idee eines Maximums und es gilt – wie Kant mindestens indirekt selbst sagt – dass das Objekt dieser Idee real unmöglich ist. Ich glaube, dass dies der tieferliegende Grund dafür ist, dass Kant in den Prolegomena Abstand von der transzendentalen Deduktion der Idee der Systematizität nimmt. Wie wir jedoch in Kapitel 6 sehen werden, nimmt Kant das Thema der Deduktion der Idee der Systematizität in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft erneut auf und stellt es dort in einen anderen theoretischen Rahmen. Dort fällt auf, dass Kant sich – ganz anders als in den Prolegomena – plötzlich wieder sehr zuversichtlich zeigt, dass die Deduktion gelingt. Wie wir in Kapitel 6 sehen werden, ist dies eng an die Tatsache geknüpft, dass Kant das Prinzip der Systematizität dort als ein Prinzip der Urteilskraft und nicht mehr, wie im Anhang zur Transzendentalen Dialektik, als eines der Vernunft konzipiert.
5.3 Der Zusammenhang des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik mit der Frage nach der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze Wie wir gesehen haben, ist der Anhang zur Transzendentalen Dialektik von inneren Spannungen gezeichnet. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist es so, dass Kant für die zentralen Probleme und offenen Fragen des Anhangs ein paar Jahre später in der Kritik der Urteilskraft Lösungsansätze und Antworten entwickelt. Insbesondere verändert er dort seine Konzeption der Idee der Systematizität derart und bettet sie in seine dort entwickelte Theorie der regulativen Urteilskraft so ein, dass er das Problem der transzendentalen Deduktion dieser Idee zumindest seinem eigenen Anspruch nach in den Griff bekommt. Bevor wir dies im folgenden Kapitel ausführlich betrachten, möchte ich zum Abschluss des vorliegenden Kapitels noch etwas genauer erläutern, wie der Inhalt des Anhangs zur Tranzendentalen Dialektik ins Verhältnis zu setzen ist zum Thema der vorliegenden Arbeit.
5.3 Der Zusammenhang mit der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze
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Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, betrachten viele Autoren den Anhang zur Transzendentalen Dialektik, zusammen mit den beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft, als einen Abschnitt, in dem Kant wesentliche Grundlagen seiner Theorie der empirischen Naturgesetze und ihrer Notwendigkeit entwickelt. Der Zusammenhang zwischen dem Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur, wie es im Anhang zur Transzendentalen Dialektik entwickelt wird, und dem Thema der empirischen Naturgesetze ist sicherlich erklärungsbedürftig.³⁶ Kant stellt das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur im Anhang zur Transzendentalen Dialektik im Wesentlichen als ein Prinzip dar, das die Systematisierung von empirischen Begriffen betrifft. Inwiefern hängt dies mit der Thematik der empirischen Naturgesetze zusammen? Zunächst einmal sei vorausblickend darauf hingewiesen, dass ein Zusammenhang allein schon dadurch angenommen werden kann, dass Kant das in der veröffentlichten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft vorgestellte Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur als ein Prinzip der systematischen Verfasstheit hinsichtlich empirischer Naturgesetze charakterisiert: Nun kann dieses Prinzip kein anderes sein, als daß, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur (obzwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur) vorschreibt, die besonderen empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte. (KU, AA 5: 180; meine Hervorhebung)³⁷
In der ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, in der Kant die Thematik der empirischen Begriffe noch wesentlich ausführlicher behandelt, als später in der veröffentlichten Fassung, deutet er mehrfach einen Zusammenhang zwischen einer systematischen Verfasstheit der Natur hinsichtlich ihrer Arten und einer systematischen Verfasstheit hinsichtlich der empirischen Naturgesetze an. So heißt es etwa an einer Stelle, an der er das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur formuliert:
Dieser Zusammenhang hat bereits oben in Abschnitt 5.2.4 eine Rolle gespielt. Eine detailliere Analyse dieses und der weiteren Zitate aus den beiden Einleitungen in die dritte Kritik erfolgt in Kapitel 6. An dieser Stelle geht es mir zunächst nur darum aufzuzeigen, dass es Kant zufolge einen Zusammenhang zwischen einer systematischen Verfasstheit der Natur hinsichtlich ihrer Arten und einer systematischen Verfasstheit hinsichtlich der empirischen Naturgesetze gibt.
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Das Princip der Reflexion über gegebene Gegenstände der Natur ist: daß sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte B e g r i f f e finden lassen, welches eben so viel sagen will, als daß man allemal an ihren Produkten eine Form voraussetzen kann, die nach allgemeinen, für uns erkennbaren Gesetzen möglich ist. (EE, AA 20: 211 f.; Fußnote ausgelassen)
Nach dieser Charakterisierung ist ein Prinzip, das die Systematisierbarkeit der Arten durch empirische Begriffe betrifft, dasselbe wie ein Prinzip bezüglich der Erkennbarkeit von Gesetzen. Dies wiederum ist, wie Kant an weiteren Stellen verdeutlicht, nichts anderes als ein Prinzip der Systematiztät der empirischen Naturgesetze.³⁸ Auch wenn es im Anhang zur Transzendentalen Dialektik noch in erster Linie um eine Systematisierung der Arten der Natur durch empirische Begriffe geht, finden sich auch hier schon vereinzelte Hinweise auf einen Zusammenhang mit der Thematik der empirischen Naturgesetze. So veranschaulicht Kant an einer Stelle die Idee der systematischen Einheit der Natur durch das Beispiel der Idee einer Grundkraft. Durch Voraussetzung dieser Idee, so erläutert Kant, „[…] setzt die Vernunft systematische Einheit mannigfaltiger Kräfte voraus, da besondere Naturgesetze unter allgemeineren stehen […].“ (KrV, A 650 / B 678) Noch expliziter wird dieser Zusammenhang an einer Stelle des zweiten Teils des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik dargestellt: Die Idee der systematischen Einheit sollte nur dazu dienen, um als regulatives Prinzip sie in der Verbindung der Dinge nach allgemeinen Naturgesetzen zu suchen […]. (KrV, A 692 / B 720)³⁹
Entsprechend formuliert Kant das Prinzip der Systematizität an einer anderen Stelle wie folgt: „Also ist es eine subiectiv-nothwendige transcendentale Vo r a u s s e t z u n g , daß jene besorgliche grenzenlose Ungleichartigkeit empirischer Gesetze und Heterogeneität der Naturformen, der Natur nicht zukomme, vielmehr sie sich, durch die Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfahrung, als einem empirischen System, qualificire.“ (EE, AA 20: 209) Eine weitere interessante Stelle findet sich bereits im Abschnitt über das Ideal der reinen Vernunft. Dort nimmt Kant die im zweiten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik thematisierte Verbindung zwischen der Idee von Gott und der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur vorweg: „Das Ideal des höchsten Wesens ist nach diesen Betrachtungen nichts anders, als ein r e g u l a t i v e s P r i n z i p der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, a l s o b s i e aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge, um darauf die Regel einer systematischen und nach allgemeinen Gesetzen notwendigen Einheit in der Erklärung derselben zu gründen […].“ (KrV, A 619 / B 647)
5.3 Der Zusammenhang mit der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze
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Wir müssen uns also fragen: Was hat eine Systematisierbarkeit der Natur hinsichtlich ihrer Arten durch empirische Begriffe mit der Thematik der empirischen Naturgesetze zu tun? Tatsächlich ist es so, dass sich nach dem, was wir in den Kapiteln 3 und 4 gesehen haben, gleich mehrere Verbindungslinien ziehen lassen. Ein erster enger Zusammenhang zwischen empirischen Begriffen und empirischen Naturgesetzen ist uns in Kapitel 3 im Zusammenhang mit der Analyse der zweiten Analogie der Erfahrung begegnet. Wie wir dort gesehen haben, sind Annahmen über empirische Naturgesetze⁴⁰ notwendig für die Konstruktion einer objektiven Zeitordnung der Natur. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass diese Annahmen die Grundlage dafür sind, dass empirische Begriffe eine Rolle bei der Synthetisierung von Wahrnehmungen übernehmen können, wie Kant sie in der ADeduktion den Begriffen zuspricht: Nur dadurch, dass empirische Begriffe Informationen über empirische Naturgesetze beinhalten, können sie im Rahmen des Synthesis-Prozesses als Grundlage für die Individuierung der Objekte unserer Wahrnehmungen dienen.⁴¹ Empirische Begriffe müssen also, damit sie ihre Aufgabe als Werkzeuge für eine adäquate Beschreibung einer objektiven Natur erfüllen können, mit Annahmen über empirische Naturgesetze aufgeladen sein.⁴² Dies hat insbesondere zur Folge, dass die Bildung von solchen empirischen Begriffen, die für eine adäquate Beschreibung einer objektiven Natur geeignet sind, von einer Auffindbarkeit empirischer Naturgesetze abhängig ist.⁴³ Wir werden in Kapitel 6 genauer sehen, inwiefern das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur hinsichtlich ihrer Arten für Kant ein Prinzip ist, das die Bildung empirischer Begriffe ermöglicht, und inwiefern außerdem das Prinzip der systemati-
Gemeint sind hier sowohl empirische Kausalgesetze gemäß der zweiten Analogie der Erfahrung, als auch empirische Wechselwirkungsgesetze gemäß der dritten Analogie der Erfahrung. Siehe insbesondere Abschnitt 3.3.4. Wir werden unten in Abschnitt 6.1.3 sehen, dass es in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft weitere Hinweise darauf gibt, dass Kant zufolge empirische Begriffe Annahmen über empirische Naturgesetze umfassen. In Kapitel 3, insbesondere in den Abschnitten 3.3.6 und 3.3.7, habe ich ausführlich dafür argumentiert, dass es Kant im Abschnitt über die zweite Analogie der Erfahrung nicht in erster Linie um eine Rechtfertigung von Urteilen über objektive Ereignisse geht, sondern um die Bedingungen dafür, dass wir überhaupt dazu in der Lage sind, uns intentional auf Objekte zu beziehen, die (in einem bestimmten Sinne) unabhängig von unseren Wahrnehmungen sind. Im Anhang zur Transzendentalen Dialektik und der Kritik der Urteilskraft (wie auch in den Metaphysischen Anfangsgründen) geht es dann unter anderem um die Bedingungen dafür, dass die entsprechenden Urteile über Objekte, die auf Annahmen über das Bestehen bestimmter Naturgesetze basieren, auch gerechtfertigt werden können. Entsprechend ist in diesem Zusammenhang dann auch die Frage nach der Auffindbarkeit und Rechtfertigung empirischer Naturgesetze zentral.
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schen Verfasstheit der Natur hinsichtlich ihrer Gesetze für Kant ein notwendiges heuristisches Prinzip zur Auffindung von empirischen Naturgesetzen ist. Dadurch, dass empirische Begriffe mit Annahmen über empirische Naturgesetze aufgeladen sind, ist beides eng miteinander verbunden. Ein zweiter Hinweis auf eine derartige Verflechtung von empirischen Begriffen mit empirischen Naturgesetzen lässt sich aus der in Kapitel 4 analysierten Grundkonzeption der Metaphysischen Anfangsgründe herleiten. Wie wir dort gesehen haben, geht es Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen darum, ein apriorisches Fundament für die Naturwissenschaft zu legen.⁴⁴ Die Grundidee hierfür besteht darin, die Kategorien beziehungsweise die transzendentalen Grundsätze des Verstandes auf den empirischen Begriff der Materie anzuwenden.⁴⁵ Aus dieser Anwendung auf die einzelnen Merkmale des Begriffes der Materie gehen in den einzelnen Kapiteln der Metaphysischen Anfangsgründe die Prinzipien des reinen Teils der Naturwissenschaft hervor.⁴⁶ Bei diesen handelt es sich um apriorische Prinzipien, die jedoch dadurch, dass der empirische Begriff der Materie in ihre Herleitung eingegangen ist, einen gewissen empirischen Gehalt aufweisen.⁴⁷ Diese Prinzipien, so lautet Kants Überlegung, bilden die apriorische Grundlage der empirischen Naturwissenschaft, worunter er das System der empirischen Gesetze der Natur versteht. Bei dem empirischen Begriff der Materie, der die materiale Grundlage für die Herleitung dieser Prinzipien darstellt, handelt es sich um den allgemeinsten empirischen Begriff in Bezug auf die Objekte der äußeren Sinne. Er steht also gleichsam an der Spitze des Systems der empirischen Begriffe bezüglich der Gegenstände der äußeren Sinne. Alle weiteren empirischen Begriffe bezüglich der Gegenstände der äußere Sinne stellen Spezifizierungen des Begriffes der Materie dar. Da die apriorischen Prinzipien dadurch hergeleitet werden, dass die Kategorien auf die Merkmale des Begriffes der Materie angewendet werden, können die Prinzipien der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft als Gesetze verstanden werden, die im so spezifizierten Begriff der Materie enthalten sind. Der Begriff der Materie ist also gleichsam mit den apriorischen Grundsätzen der Naturwissenschaft aufgeladen. Da alle Objekte der äußeren Sinne unter diesen Begriff fallen, stellt er in gewisser Weise die Vermittlungsinstanz für die An-
Siehe oben, Abschnitt 4.1. Siehe hierzu insbesondere oben, Abschnitt 4.3.4. Siehe hierzu vor allem die Abschnitte 4.4 und 4.5 über die Phoronomie und die Dynamik sowie die Mechanik der Metaphysischen Anfangsgründe. Zur Vereinbarkeit von empirischem Gehalt und dem Apriori-Status der Prinzipien siehe oben, Abschnitt 4.2.7.
5.3 Der Zusammenhang mit der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze
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wendung der apriorischen Grundsätze auf alle diese Gegenstände dar.⁴⁸ Man kann sich die Situation also so vorstellen, dass die weiteren empirischen Begriffe, die ja alle Spezifizierungen des Begriffes der Materie darstellen, Anteil an diesem Gehalt haben, der alle apriorischen Prinzipien der Naturwissenschaft umfasst. Genauer ausgedrückt: Es ist anzunehmen, dass die Begriffe, die unter dem Begriff der Materie stehen, einen Gehalt aufweisen, der empirische Spezifizierungen der im Begriff der Materie enthaltenen apriorischen Prinzipien der Naturwissenschaft beinhaltet. Anders ausgedrückt: Die empirischen Begriffe, die Spezifizierungen des Begriffes der Materie darstellen, umfassen Annahmen über empirische Naturgesetze. Insofern entsteht eine gewisse Korrespondenz zwischen dem System der Gesetze – mit den apriorischen Prinzipien der Naturwissenschaft an der Spitze und den empirischen Spezifizierungen dieser Prinzipien darunter – und dem System der empirischen Begriffe – mit dem Begriff der Materie an der Spitze des Systems und den Spezifizierungen dieses Begriffes darunter.⁴⁹ Wie wir nun im Anschluss im folgenden Kapitel sehen werden, ist die in diesem Abschnitt beleuchtete Vorstellung, dass empirische Begriffe Annahmen über empirische Naturgesetze als Teil ihres Gehaltes umfassen, in der Konzeption des Prinzips der Systematizität in den Einleitungen der Kritik der Urteilskraft ebenfalls tief verankert.
Diesen Punkt hebt auch Friedman hervor: „[T]he concept of matter has a unique status and role within any system of classification for empirical natural science. As the very highest empirical concept in such a system it sits directly under the pure concepts of the understanding, which are then successively realized in all lower-level empirical concepts by an appropriate further specification of the concept of matter into species, sub-species, and so on. This particular empirical concept thereby mediates the application of the categories to all other empirical concepts and thus mediates the application of the categories to experience such.“ (Friedman 2013, 554) Man darf sich unter dieser Korrespondenz natürlich nicht eine strenge 1:1-Beziehung vorstellen. Einerseits haben wir bereits gesehen, dass an der Spitze des Systems der empirischen Begriffe in Bezug auf die Gegenstände des äußeren Sinnes nur ein einziger Begriff steht, während die in ihm enthaltenen apriorischen Prinzipien der Naturwissenschaft mehrere sind. Andererseits ist es natürlich möglich, dass mehrere unterschiedliche empirische Begriffe Annahmen über dieselben empirischen Gesetze umfassen.
6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft In der Kritik der Urteilskraft greift Kant die im Anhang zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft entwickelte Konzeption eines Prinzips der Systematizität wieder auf. Er stellt dieses Prinzip in der Kritik der Urteilskraft aber in einen anderen theoretischen Rahmen: Während es sich in der Kritik der reinen Vernunft um ein Prinzip der Vernunft handelte und Kant anhand dieses Prinzips erklären wollte, welchen positiven Beitrag die in der Transzendentalen Dialektik ansonsten so gescholtene theoretische Vernunft zu unserer Erkenntnis beitragen kann, ist das Prinzip der Systematizität in der Kritik der Urteilskraft einem anderen Vermögen zugeordnet: Es handelt sich dort um ein Prinzip der Urteilskraft. Kant hat diese Verschiebung des Prinzips innerhalb seiner Konzeption zu einem anderen Vermögen nicht explizit thematisiert. Man kann dadurch leicht den Eindruck gewinnen, dass die Veränderungen rein äußerlicher Natur sind und Kant seine Konzeption des Prinzips der Systematizität aus den einen Kontext herauslöst und vollkommen unverändert an eine andere Stelle seiner Gesamtkonzeption wieder einbettet. Wie ich in diesem Kapitel zeigen möchte, zieht die Verschiebung des Prinzips der Systematizität zum Vermögen der reflektierenden Urteilskraft jedoch einige beachtliche Konsequenzen nach sich, die in der Sekundärliteratur gar nicht oder nur ansatzweise zur Kenntnis genommen wurden. Dabei spielen, wie ich in diesem Kapitel zeigen möchte, vor allem zwei Aspekte eine Rolle, die es Kant ermöglichen, das im letzen Kapitel herausgearbeitete Problem der transzendentalen Deduktion des Prinzips der Systematizität zu lösen: Zum einen knüpft Kant das Prinzip der Systematizität in der Kritik der Urteilskraft enger an den Begriff der Zweckmäßigkeit, bei dem es sich um einen zentralen Begriff der Konzeption der reflektierenden Urteilskraft handelt. Dadurch, dass das Prinzip der Systematizität als ein Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnisvermögen aufgefasst wird, erhält die Idee der Systematizität einen im Vergleich zur Konzeption im Anhang zur Transzendentalen Dialektik leicht modifizierten Gehalt. Hierdurch wird es möglich, das oben im letzten Kapitel in Abschnitt 5.2.7 herausgearbeitete Argument für die reale Unmöglichkeit des Objektes dieser Idee zu unterbinden. Zweitens ermöglicht der Rahmen der Konzeption der reflektierenden Urteilskraft, das Prinzip der Systematizität in Verbindung zu bringen mit der von Kant im ersten Hauptteil der Kritik der Urteilskraft ausführlich entwickelten Konzeption der Erfahrung des Schönen. Hierdurch eröffnet sich sogar eine aus Sicht der Konzeption der Kritik der reinen Vernunft vollkommen unverhoffte Möglichkeit, die reale Möglichkeit des Objektes
https://doi.org/10.1515/9783110697209-008
6.1 Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft
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der Idee der Systematizität wenn nicht zu beweisen, so doch als etwas auszuweisen, das Gegenstand einer vernünftigen Hoffnung ist. Bevor wir uns auf die genauen Unterschiede zwischen dem Prinzip der Systematizität aus der Kritik der reinen Vernunft und dem aus der Kritik der Urteilskraft genauer einlassen können, müssen wir uns jedoch zunächst einen Überblick über Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft verschaffen, wie er sie in den beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft entwickelt.
6.1 Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft Das Prinzip der Systematizität ist in der dritten Kritik ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft. Bei der reflektierenden Urteilskraft handelt es sich um einen Aspekt des Vermögens der Urteilskraft, den Kant von der bestimmenden Urteilskraft unterscheidet. Diese Unterscheidung zwischen reflektierender und bestimmender Urteilskraft stellt im Vergleich zur Kritik der reinen Vernunft eine Weiterentwicklung von Kants Konzeption des Vermögens der Urteilskraft dar, die es Kant ermöglicht, der Urteilskraft ein eigenes apriorisches Prinzip zuzuordnen. Wie wir sehen werden, handelt es sich bei dem Prinzip der neu eingeführten reflektierenden Urteilskraft um eine leichte Abwandlung des Prinzips der Systematizität, das in der Kritik der reinen Vernunft noch dem Vermögen der Vernunft zugeordnet war.
6.1.1 Bestimmende und reflektierende Urteilskraft In der zweiten Einleitung¹ in die Kritik der Urteilskraft führt Kant die für die Kritik der Urteilskraft zentrale Unterscheidung zwischen reflektierender und bestimmender Urteilskraft wie folgt ein: Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, […] b e s t i m m e n d . Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß r e f l e k t i e r e n d . (KU, AA 5: 179)
Die sogenannte „Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft“ war von Kant ursprünglich als Einleitung für die Kritik der Urteilskraft vorgesehen, wurde aber kurz vor der Drucklegung durch die neu geschriebene und heute sogenannte zweite (oder auch: veröffentlichte) Einleitung ersetzt. Die erste Einleitung ist erst nach Kants Tod vollständig im Druck erschienen. Siehe hierzu Guyer (2008, 115, Fn. 25).
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Die Aufgabe der Urteilskraft besteht also ganz allgemein gesprochen darin, konkrete Einzelfälle als Instanzen eines Allgemeinen zu klassifizieren, wobei Kant hier Regeln, Prinzipien und Gesetze als Beispiele eines solchen Allgemeinen angibt. Es geht also beispielsweise darum, ein bestimmtes Ereignis als Instanz eines allgemeingültigen Gesetzes zu betrachten. Dabei sind zwei Fälle möglich: Entweder geht die Urteilskraft vom Gesetz aus und es wird ein Einzelfall dieses Gesetzes gesucht (bestimmende Urteilskraft), oder es liegt ein Einzelfall vor, zu dem das allgemeine Gesetz gesucht wird (reflektierende Urteilskraft). In der ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft ist Kants Fokus bei der Formulierung dieser Unterscheidung ein leicht anderer: Die Urtheilskraft kann entweder als bloßes Vermögen über eine gegebene Vorstellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begrifs, nach einem gewissen Princip zu r e f l e c t i e r e n , oder als ein Vermögen einen zum Grunde liegenden Begrif durch eine gegebene empirische Vorstellung zu b e s t i m m e n angesehen werden. Im ersten Falle ist sie die r e f l e c t i e r e n d e , im zweiten die b e s t i m m e n d e U r t e i l s k r a f t . (EE, AA 20: 211)
Das Besondere, das als enthalten unter einem Allgemeinen gedacht werden soll, ist hier eine einzelne Vorstellung, das Allgemeine ist ein Begriff. Dieser Beschreibung zufolge besteht die Aufgabe der Urteilskraft also darin, einzelne Vorstellungen unter allgemeine Begriffe zu bringen. Die Urteilskraft kann dabei wiederum auf zweierlei Art angewandt werden: Im ersten Fall, dem Fall der reflektierenden Urteilskraft, ist eine einzelne Vorstellung gegeben und die Aufgabe der Urteilskraft besteht darin, einen allgemeinen Begriff zu finden, unter den die Vorstellung subsumiert werden kann. Im zweiten Fall, dem Fall der bestimmenden Urteilskraft, ist es umgekehrt so, dass von einem Begriff ausgegangen wird, zu dem eine einzelne Vorstellung gesucht wird, die unter den Begriff subsumiert werden kann. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Kant der Passage aus der ersten Einleitung noch eine weitere Erläuterung des Vorganges des Reflektierens nachstellt: R e f l e c t i e r e n (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begrif, zu vergleichen und zusammen zu halten. (EE, AA 20: 211)
Die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft besteht demnach nicht lediglich darin, zu einer gegebenen Vorstellung unter den bereits bekannten Begriffen einen passenden zu finden. Vielmehr kommt der reflektierenden Urteilskraft dar-
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über hinaus die Aufgabe der Begriffsbildung zu²: Gegebene Vorstellungen werden miteinander verglichen, um in ihnen gemeinsame Merkmale aufzuspüren, aus denen dann ein allgemeiner Begriff gebildet werden kann, unter den diese Vorstellungen gemeinsam fallen.³ Dieser Aspekt der reflektierenden Urteilskraft wird im Folgenden von Bedeutung sein. Es wird sich außerdem zeigen, dass die beiden zunächst leicht unterschiedlichen Formulierungen der Unterscheidung zwischen reflektierender und bestimmender Urteilskraft aus den beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft letzten Endes inhaltlich sehr nah beieinander liegen: Die von Kant in der ersten Einleitung in den Vordergrund gerückte Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, empirische Begriffe zu bilden, ist unmittelbar mit der in der zweiten Einleitung hervorgehobenen Aufgabe, empirische Gesetze aufzusuchen, verknüpft.⁴
6.1.2 Die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft Mit der Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft erweitert Kant seine in der Kritik der reinen Vernunft vertretene Konzeption des Vermögens der Urteilskraft. Dort formulierte Kant noch wie folgt: Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht. (KrV, A 132 / B 171)
Die von Kant hier charakterisierte Urteilskraft, die er als transzendentale Urteilskraft bezeichnet, entspricht dem, was er in der Kritik der Urteilskraft als be Es wird in der zitierten Passage außerdem erwähnt, dass gegebene Vorstellungen mit dem Erkenntnisvermögen des reflektierenden Subjektes verglichen werden. Hiermit kann zweierlei gemeint sein: Entweder bezieht sich Kant damit auf die in der Kritik der reinen Vernunft vorgestellte Konzeption der transzendentalen Reflexion (KrV, A 260 ff. / B 316 ff.), oder er spielt auf die in dem ersten Hauptteil der Kritik der Urteilskraft, der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“, behandelte ästhetische Reflexion an. Mertens (1975, 94 f.) zieht ersteres in Betracht, Allison (2001, 20 f.) beides. Da es mir an dieser Stelle nur um die sogenannte logische Reflexion und weder um die transzendentale, noch um die ästhetische Reflexion geht, lasse ich diesen Aspekt hier außer Acht. Ich werde jedoch unten in Abschnitt 6.2.2 noch auf die ästhetische Reflexion zu sprechen kommen. Zu diesem Vorgang der Begriffsbildung äußert sich Kant in der sogenannten Jäsche Logik an einer Stelle (Logik, AA 9: 94 f.) etwas ausführlicher. Siehe Longuenesse (1998, 115 ff.) und Allison (2001, 21 ff.), die diese Stelle kommentieren. Die enge Verbindung zwischen empirischen Begriffen und empirischen Gesetzen wurde auch bereits oben in Abschnitt 5.3 thematisiert.
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stimmende Urteilskraft von der reflektierenden Urteilskraft unterscheidet.⁵ Während die Urteilskraft in der Kritik der reinen Vernunft also lediglich so aufgefasst wird, dass ihre Aufgabe darin besteht, zu einem gegebenen Allgemeinen das Besondere zu finden, weist Kant diese Rolle in der Kritik der Urteilskraft allein der bestimmenden Urteilskraft zu. Die reflektierende Urteilskraft, deren Aufgabe darin besteht, zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine zu finden, ist im Vergleich zur Konzeption der ersten Kritik eine Erweiterung des Vermögens der Urteilskraft.⁶ Der Grund für diese Erweiterung dürfte in Kants Bestreben begründet sein, in der dritten Kritik für das Vermögen der Urteilskraft ein a priori gültiges Prinzip nachzuweisen.⁷ Ein solches Prinzip, so hält Kant in der zweiten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft unmissverständlich fest, kann für die bestimmende Urteilskraft nicht erwartet werden: Die bestimmende Urteilskraft unter allgemeinen transzendentalen Gesetzen, die der Verstand gibt, ist nur subsumierend; das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können. (KU, AA 5: 179)
Die transzendentalen Prinzipien des Verstandes gelten der Kritik der reinen Vernunft zufolge a priori für alle Gegenstände der Erfahrung, weil sie notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind. Die Aufgabe der bestimmenden Urteilskraft besteht darin, die Prinzipien des Verstandes auf die Erfahrung anzuwenden. Sie bedarf keines eigenen Prinzips, weil ihre Funktion nur eine Hilfsfunktion bei der Anwendung der Verstandesprinzipien ist. Anders sieht es hingegen mit der reflektierenden Urteilskraft aus. Kant zufolge kann sie ihre Aufgabe nur unter der Voraussetzung eines eigenen Prinzips erfüllen, da die Prinzipien des Verstandes die Suche nach einem Allgemeinen zu einem gegebenen Besonderen in entscheidender Weise unterbestimmt lassen. Diese Unterbestimmtheit wird von Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft hervorgehoben:
Vgl. Mertens (1975, 98 f.). Einen Vorläufer hat die Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft allerdings in der Kritik der reinen Vernunft in der dort angeführten Unterscheidung zwischen dem apodiktischen und dem hypothetischen Vernunftgebrauch (KrV, A 646 / B 674). Vgl. Mertens (1975, 35) und Guyer (2000, 359, Fn. 7). Zur Rolle des hypothetischen Vernunftgebrauchs im Anhang zur Transzendentalen Dialektik der ersten Kritik und seinem Zusammenhang mit dem Prinzip der Systematizität siehe oben, Abschnitt 5.2.4. Vgl. Horstmann (1989, 173), und Allison (2001, 15).
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[A]lle Erscheinungen der Natur, ihrer Verbindung nach, [müssen] unter den Kategorien stehen, von welchen die Natur (bloß als Natur überhaupt betrachtet), als dem ursprünglichen Grunde ihrer notwendigen Gesetzmäßigkeit (als natura formaliter spectata), abhängt. Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen die N a t u r ü b e r h a u p t , als Gesetzmäßigkeiten in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon n i c h t v o l l s t ä n d i g a b g e l e i t e t werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. (KrV, B 164 f.)⁸
Zentral ist die in diesem Zitat getroffene Unterscheidung zwischen allgemeinen und besonderen Gesetzen. Mit den allgemeinen Gesetzen sind die transzendentalen Gesetze des Verstandes gemeint, die Kants Ansatz zufolge als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung für alle Gegenstände der Erfahrung gelten. Aufgrund ihrer Allgemeinheit lassen sie jedoch unterbestimmt, welche besonderen Gesetze in der Natur gelten. Ein Beispiel für ein allgemeines Gesetz, dessen Gültigkeit für den Bereich der Erfahrung Kant gezeigt zu haben beansprucht, ist die oben in Kapitel 3 ausführlich behandelte zweite Analogie der Erfahrung, der zufolge jede Veränderung eine Ursache hat. Dieses Gesetz lässt in seiner Allgemeinheit unterbestimmt, welche konkreten Kausalgesetze die Abläufe in der Natur beherrschen. Um dies herauszufinden, müssen wir empirische Studien anstellen. Das bloße Sammeln von empirischen Daten allein genügt jedoch nicht. Aus einer gemachten Menge von Beobachtungen muss auf das Vorliegen bestimmter besonderer Gesetze geschlossen werden. Dies ist die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft. Es zeigt sich, dass der reflektierenden Urteilskraft eine wichtige Rolle bei der Anwendung der allgemeinen Gesetze des Verstandes und, wie das obige Zitat ebenfalls andeutet, auch bei der Anwendung der Kategorien auf die Erfahrung zukommt: Um allgemeine Gesetze wie den allgemeinen Kausalsatz und allgemeine Begriffe wie den Begriff der Kausalität auf die Erfahrung anwenden zu können, müssen empirische Gesetze und Begriffe gebildet werden, die gleichsam die Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere vermitteln.⁹ So weist Allison beispielsweise darauf hin, dass der allgemeine Verstandesbegriff der Kausalität nur dadurch in einer konkreten Situation angewandt werden kann, dass die Si-
Siehe auch die oben, zu Beginn von Kapitel 4 zitierte Stelle KrV, A 127 f. Hier zeigt sich, was auch Guyer (1990b, 12 f .), Longuenesse (1998, 163 – 166) und Allison (2001, 18 und 44) betonen, nämlich dass es viele Fälle gibt, in denen beide Aspekte des Gebrauchs der Urteilskraft, der bestimmende und der reflektierende, Hand in Hand miteinander gehen.
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tuation bereits als das Vorliegen eines Ereignisses einer bestimmten Art, beispielsweise das Frieren von Wasser, aufgefasst wird.¹⁰ Kants Auffassung nach ist damit auch zugleich die Stelle gefunden, an der Raum ist für die Etablierung eines der Urteilskraft eigenen Prinzips. Um die gerade herausgearbeitete Aufgabe, empirische Gesetze und Begriffe aufzufinden, erfüllen zu können, muss Kant zufolge ein Prinzip der Urteilskraft vorausgesetzt werden, mit dessen Inhalt und Begründung wir uns im Folgenden beschäftigen.
6.1.3 Die Rolle des Prinzips der Urteilskraft beim Bilden empirischer Begriffe Das Prinzip der Urteilskraft taucht in den beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft jeweils in mehreren verschiedenen Versionen auf. Ich werde in diesem Abschnitt versuchen, zunächst vor allem auf der Grundlage des Textes der ersten Einleitung zu zeigen, dass verschiedene Formulierungen des Prinzips als einander ergänzend gelesen werden können. Wenn man mehrere dieser Formulierungen nebeneinander stellt, ergibt sich in der Gesamtschau ein umfassenderes Verständnis davon, was Kant unter diesem Prinzip genau versteht und wie er sich die Begründung des Prinzips vorstellt. Die vorläufige Fokussierung auf die erste Einleitung hat den Grund, dass Kant sich dort mehr als in der zweiten Einleitung auf das Problem des Bildens von empirischen Begriffen konzentriert, das hier zunächst im Vordergrund stehen soll.Wie wir sehen werden, lässt sich von diesem Thema aus jedoch relativ schnell ein Bogen schlagen zu dem Thema, auf das sich Kant in der zweiten Einleitung stärker konzentriert, nämlich dem Thema der empirischen Naturgesetze. Beginnen möchte ich daher auch mit einer Formulierung des Prinzips der Urteilskraft, in der diese Aufgabe, empirische Begriffe zu finden, besonders hervorgehoben wird. Zugleich wird diese Aufgabe in diesem Zitat angeknüpft an die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, empirische Gesetze zu finden: Das Princip der Reflexion über gegebene Gegenstände der Natur ist: daß sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte B e g r i f f e finden lassen, welches eben so viel sagen will, als daß man allemal an ihren Produkten eine Form voraussetzen kann, die nach allgemeinen, für uns erkennbaren Gesetzen möglich ist. (EE, AA 20: 211 f.)
Dieser Formulierung des Prinzips zufolge sagt das Prinzip zunächst einmal schlicht aus, dass es möglich ist, für jeden Gegenstand, der uns in der Natur „How […] could one apply the concept of causality to a given occurrence unless it were already conceived as an event of a certain kind, for example, the freezing of water?“ (Allison 2001, 24)
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begegnet, einen empirischen Begriff zu finden. Es folgt eine genauere Erläuterung dessen, was genauer gegeben sein muss, damit es tatsächlich möglich ist, empirische Begriffe zu finden: Die Gegenstände der Natur müssen eine bestimmte Form aufweisen.Wie Kant weiter erläutert, meint er hiermit, dass die Gegenstände Naturgesetzen unterliegen, und zwar Gesetzen, die derart sind, dass wir sie erkennen können. Dieser Zusammenhang wird von Kant an einer anderen Stelle in der ersten Einleitung genauer ausgeführt: [E]s frägt sich, wie man hoffen könne, durch Vergleichung der Wahrnehmungen zu empirischen Begriffen desjenigen, was den verschiedenen Naturformen gemein ist, zu gelangen, wenn die Natur (wie es doch zu denken möglich ist) in diese, wegen der großen Verschiedenheit ihrer empirischen Gesetze, eine solche Ungleichartigkeit gelegt hätte, daß alle, oder doch die meiste Vergleichung vergeblich wäre, eine Einhelligkeit und Stufenordnung von Arten und Gattungen unter ihnen hervorzubringen. Alle Vergleichung empirischer Vorstellungen, um empirische Gesetze […] zu erkennen, setzt doch voraus: daß die Natur auch in Ansehung ihrer empirischen Gesetze eine gewisse unserer Urtheilskraft angemessene Sparsamkeit und eine für uns fasliche Gleichformigkeit beobachtet habe, und diese Voraussetzung muß, als Princip der Urtheilskraft a priori, vor aller Vergleichung vorausgehen. (EE, AA 20: 213)
In diesem Zitat wird nicht nur der Inhalt des Prinzips genauer erläutert, sondern auch bereits eine Begründung des Prinzips angedeutet. Zunächst weist Kant indirekt („wie es doch zu denken möglich ist“) auf den im letzten Abschnitt bereits thematisierten Umstand hin, dass die der Natur vom Verstand vorgeschriebenen allgemeinen Naturgesetze die konkreten empirischen Gesetze unterbestimmt lassen. Dies hat insbesondere zur Folge, dass es – vom transzendentalen Standpunkt aus betrachtet – möglich ist, dass die unterschiedlichen empirischen Naturgesetze einen hohen Grad von Vielfältigkeit aufweisen. Es könnte sein, dass die empirischen Gesetze derart zahlreich und verschieden sind, dass wir nicht in der Lage sind, sie vollständig zu erfassen und eine Übersicht über sie zu gewinnen. Dies hätte aus Kants Sicht fatale Folgen für unsere Suche nach empirischen Begriffen. Die Suche nach empirischen Begriffen ist ein Prozess des Vergleichens von Vorstellungen, der sich auf Gemeinsamkeiten dieser Vorstellungen richtet, die zu den Merkmalen von Begriffen erhoben werden können.¹¹ Wie spätestens an dieser Stelle implizit deutlich wird, geht Kant davon aus, dass die Gemeinsamkeiten, die wir beim Vergleich von gegebenen Vorstellungen herausgreifen, um sie zu den Merkmalen eines Begriffes zu erheben, eng mit empirischen Naturgesetzen zusammenhängen: Es handelt sich um Gemeinsamkeiten, die den vorgestellten
Vgl. Longuenesse (1998, 116) und Allison (2001, 24).
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Gegenständen dadurch zukommen, dass diese unter empirische Gesetze fallen. Hierauf weist auch eine Notiz hin, die Kant handschriftlich an den Rand des Textes der ersten Einleitung schrieb: Konnte wohl Linnäus hoffen ein System der Natur zu entwerfen wenn er hätte besorgen müssen daß wenn er einen Stein fand, den er Granit nannte, dieser von jedem anderen der doch eben so aussehe seiner inneren Beschaffenheit unterschieden seyn dürfte und er also immer nur einzelne für den Verstand gleichsam isolierte Dinge nie aber eine Classe derselben die unter Gattungs- und Artsbegriffe gebracht werden können anzutreffen hoffen dürfe. (EE, AA 20: 215 f., Fn.)
Das, was Kant hier als „innere Beschaffenheit“ der betrachteten Gegenstände bezeichnet, können wir als die kausalen Eigenschaften der Gegenstände verstehen.¹² Wenn wir mehrere Steine aufgrund ihrer äußeren Ähnlichkeit einer gemeinsamen Klasse zuordnen, indem wir sie unter einen gemeinsamen Begriff bringen, dann gehen wir davon aus, dass die Gemeinsamkeiten nicht nur oberflächlich sind. Wir nehmen beispielsweise an, dass Steine, die eine ähnliche Farbe, Form und Härte wie die bisher unter den Begriff „Granit“ klassifizierten Gegenstände haben, eine ähnliche kausale Konstitution wie diese haben, aufgrund welcher sie die gleiche äußere Erscheinung haben und in ähnlichem Maße hart sind. Anders ausgedrückt: Wir fassen mehrere Gegenstände unter einem Begriff zusammen, weil wir davon ausgehen, dass sie unter dieselben empirischen Gesetze fallen. Dies ist der Zusammenhang zwischen der Suche nach empirischen Begriffen und der Suche nach empirischen Gesetzen, die Kant gleichermaßen als Aufgaben der reflektierenden Urteilskraft betrachtet. Dieser Punkt wird bestärkt durch eine weitere Bemerkung Kants: Aber zu solchen Begriffen, die zu gegebenen empirischen Anschauungen allererst sollen gefunden werden, und welche ein besonderes Naturgesetz voraussetzen, darnach allein b e s o n d e r e Erfahrung möglich ist, bedarf die Urtheilskraft eines eigenthümlichen gleichfalls transcendentalen Princips ihrer Reflexion […]. (EE, AA 20: 213)
Hier wird betont, dass die aufzufindenden empirischen Begriffe ein empirisches Naturgesetz voraussetzen. Die Dinge der Natur werden Kant zufolge also offenbar dadurch unter empirische Begriffe klassifiziert, dass sie in Hinblick auf empirische Gesetze, unter die sie fallen, als gleichartig eingestuft werden. Letztlich ist die Tatsache, dass Kant diesen Zusammenhang zwischen empirischen Begriffen und empirischen Gesetzen in der ersten Einleitung voraussetzt, Vgl. die sehr hilfreiche und ausführlichere Rekonstruktion dieses Punktes bei Ginsborg (1990, 184– 192), an der ich mich hier orientiere.
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vor dem Hintergrund der Ergebnisse der vorherigen Kapitel nicht allzu überraschend.¹³ Bereits in der Kritik der reinen Vernunft, im Anhang zur Transzendentalen Dialektik, hat Kant diesen Zusammenhang zumindest angedeutet. Eine Erklärung für den Zusammenhang zwischen empirischen Begriffen und empirischen Gesetzen und für seine Wichtigkeit für Kants Erkenntniskonzeption ergibt sich vor allem im Zusammenhang mit Kants Argument für die zweite Analogie der Erfahrung. So haben wir in Kapitel 3 gesehen, dass es nach Kants Konzeption der Synthesis der Wahrnehmungen zu einer Repräsentation einer objektiven Veränderung zentral ist, dass die Synthesis der Wahrnehmungen geleitet wird durch einen Begriff, der ein empirisches Kausalgesetz umfasst. Es wurde außerdem deutlich, dass dies nach Kants Konzeption sogar eine Voraussetzung für die Individuierung der Objekte unserer Wahrnehmungen ist.¹⁴ Empirische Begriffe, deren Gehalte empirische Naturgesetze umfassen, sind Kant zufolge also eine notwendige Voraussetzung dafür, dass wir unsere subjektiven Wahrnehmungen auf äußere Objekte beziehen können, die in objektiven Zeitrelationen stehen. Insofern sind die Aufgaben des Auffindens empirischer Begriffe und des Auffindens empirischer Gesetze für Kant untrennbar miteinander verbunden.
6.1.4 Das Prinzip der Urteilskraft als ein Prinzip der Systematizität der Natur Es handelt sich Kant zufolge bei der Annahme einer gewissen Gleichförmigkeit der Natur hinsichtlich ihrer Objekte und der Gesetze, unter die sie fallen, also um eine notwendige Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs der reflektierenden Urteilskraft im Allgemeinen und der empirischen Begriffsbildung im Besonderen.¹⁵ Die Art der Gleichförmigkeit, die Kant zufolge hierfür erforderlich ist, lässt sich nun noch genauer bestimmen. Wie sich zeigen lässt, entpuppt sich das Prinzip der Urteilskraft, das zunächst recht allgemein als ein Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnisvermögen vorgestellt wurde, als ein
Siehe hierzu die Zusammenfassung der hier noch einmal knapp rekapitulierten Punkte in Abschnitt 5.3. Siehe hierzu insbesondere Abschnitt 3.3.4. Kants Begründung für die These der Notwendigkeit der Voraussetzung des Prinzips der Urteilskraft werde ich im nächsten Abschnitt noch einmal etwas genauer analysieren. Im vorliegenden Abschnitt geht es zunächst weiterhin darum, den Gehalt des Prinzips genauer zu bestimmen.
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Prinzip der Systematizität¹⁶, wodurch die Verbindung zum Prinzip der Systematizität aus dem Anhang zur Transzendentalen Dialektik gezogen werden kann: Also ist es eine subiectiv-nothwendige transcendentale Vo r a u s s e t z u n g , daß jene besorgliche grenzenlose Ungleichartigkeit empirischer Gesetze und Heterogenität der Naturformen, der Natur nicht zukomme, vielmehr sie sich, durch die Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfahrung, als einem empirischen System, qualificire. (EE, AA 20: 209)
Was wir dem Prinzip zufolge annehmen müssen, ist, dass die Vorgänge in der Natur empirischen Gesetzen unterliegen, die ein hierarchisch geordnetes System ausmachen. Die Grundidee besteht offenbar darin, dass wir empirische Begriffe für die Objekte der Erfahrung nur dann finden können, wenn wir annehmen, dass die empirischen Gesetze, denen diese Objekte unterliegen, ein System ausmachen und uns dadurch ermöglichen, korrespondierende Begriffe zu bilden, die ihrerseits ein hierarchisch geordnetes System von Gattungen und Arten ausmachen.¹⁷ Diese Verbindung zwischen einem System von Gesetzen und einem System von Begriffen wird von Kant an einer weiteren Stelle explizit angesprochen: [A]llein die Urtheilskraft, die auch zu empirischen Vorstellungen, als solchen, Begriffe sucht, (die reflektierende) muß noch überdem zu diesem Behuf annehmen, daß die Natur in ihrer grenzenlosen Mannigfaltigkeit eine solche Einteilung desselben in Gattungen und Arten getroffen habe, die es unserer Urtheilskraft möglich macht, in der Vergleichung der Naturformen Einhelligkeit anzutreffen und zu empirischen Begriffen, und dem Zusammenhange derselben untereinander, durch Aufsteigen zu allgemeinern gleichfalls empirischen Begriffen zu gelangen: d.i. die Urtheilskraft setzt ein System der Natur auch nach empirischen Gesetzen voraus, und dieses a priori, folglich durch ein transcendentales Prinzip. (EE, AA 20: 212 Fn.)
Der Grund dafür, dass sich das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnisvermögen als ein Prinzip der Systematizität entpuppt, besteht darin, dass ein System von Gesetzen eine Vielfalt von Gesetzen in einer kompakten Form präsentiert, so dass wir trotz unseres begrenzten Auffassungsvermögens dazu in der Lage sind, diese Vielfalt zu erfassen und entsprechend auch Begriffe zu bilden, in deren Gehalt diese Gesetze eingehen. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft besagt also, dass wir voraussetzen müssen, dass die Natur hinsichtlich ihrer Gesetze und Aufteilung in Arten systematisch verfasst ist, weil dies die
Guyer (1990a und 1990b) verwendet die Bezeichnung „principle of systematicity“ für das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft. Vgl. Floyd (1998, 210).
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für unsere Erkenntnisvermögen zweckmäßige Verfasstheit ist. Deshalb ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit ein Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur. Der Begriff der Systematizität, den Kant hier verwendet, entspricht im Wesentlichen der Idee der Systematizität, wie Kant sie bereits im Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der ersten Kritik analysiert hat. Dies lässt sich leicht anhand mehrerer Stellen sowohl in der ersten als auch in der zweiten Einleitung nachvollziehen. So heißt es etwa in der ersten Einleitung: Alle jene in Schwang gebrachte Formeln: die Natur nimmt den kürzesten Weg – s i e t h u t nichts umsonst – sie begeht keinen Sprung in der Mannigfaltigkeit der F o r m e n (continuum formarum) – s i e i s t r e i c h i n A r t e n , a b e r d a b e y d o c h s p a r s a m i n G a t t u n g e n , u. d. g. sind nichts anders als eben dieselbe transcendentale Äußerung der Urtheilskraft, sich für die Erfahrung als System und daher zu ihrem eigenen Bedarf ein Princip festzusetzen. (EE, AA 20: 210)
Unter diesen Formulierungen, die sich zum Teil inhaltlich überschneiden, lassen sich leicht die Prinzipien der Homogenität („sparsam in Gattungen“), Spezifikation („reich in Arten“) und der Kontinuität („sie begeht keinen Sprung in der Mannigfaltigkeit der Formen“) ausmachen, die im Anhang zur Transzendentalen Dialektik zusammen das Prinzip der Systematizität ausmachen.¹⁸ In der zweiten Einleitung schlüsselt Kant das Prinzip der Urteilskraft in folgende Unterprinzipien auf: […] daß es in [der Natur] eine für uns faßliche Unterordnung von Gattungen und Arten gebe; daß jene sich einander wiederum nach einem gemeinschaftlichen Prinzip nähern, damit ein Übergang von einer zu der anderen und dadurch zu einer höheren Gattung möglich sei; daß, da für die spezifische Verschiedenheit der Naturwirkungen eben so viel verschiedene Arten der Kausalität annehmen zu müssen, unserem Verstande anfänglich unvermeidlich scheint, sie dennoch unter einer geringen Zahl von Prinzipien stehen mögen, mit deren Aufsuchung wir uns zu beschäftigen haben usw. (KU, AA 5: 185)
Auch hier sind die Parallelen zum Prinzip der Systematizität aus der ersten Kritik augenfällig.
6.1.5 Die subjektive Notwendigkeit des Prinzips der Urteilskraft Wie bereits in den letzten Abschnitten angedeutet wurde, weist Kant dem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft einen speziellen Status zu: Kant zufolge müssen
Siehe hierzu oben, Abschnitt 5.2.2.
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wir voraussetzen, dass die Natur eine gewisse Zweckmäßigkeit in Bezug auf unser Vermögen der Urteilskraft aufweist, damit wir die reflektierende Urteilskraft anwenden können. Dies bedeutet, dass wir die Natur so betrachten müssen, als ob sie auf unsere kognitiven Bedürfnisse zugeschnitten wäre. Zwei Aspekte des Status des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft müssen im Zusammenhang mit diesem „als ob“ besonders hervorgehoben werden. Der erste Aspekt besteht darin, dass das Prinzip der Systematizität subjektiv notwendig ist. Der zweite besteht darin, dass es sich um ein Prinzip mit objektivem Gehalt handelt.¹⁹ Diese beiden Aspekte möchte ich nun nacheinander beleuchten, um dann klären zu können, auf welchen Aspekt sich dasjenige Argument bezieht, das Kant als die transzendentale Deduktion des Prinzips der Urteilskraft bezeichnet. Beginnen möchte ich in diesem Abschnitt mit der subjektiven Notwendigkeit des Prinzips. Im nächsten Abschnitt wenden wir uns dann dem objektiven Gehalt des Prinzips zu. Der Aspekt der subjektiven Notwendigkeit hängt damit zusammen, dass die Zweckmäßigkeit der Natur in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen nicht bewiesen werden kann. (Insofern stellt sich das Prinzip letztlich als bloß subjektiv notwendig heraus.) Wie wir bereits oben in Abschnitt 6.1.2 gesehen haben, entsteht der Bedarf nach einem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft dadurch, dass die Kategorien und transzendentalen Grundsätze des Verstandes, die Kant in der ersten Kritik als notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung etabliert hat, die Anwendbarkeit der Urteilskraft auf empirische Objekte nicht garantieren können. Die Objekte der Erfahrung unterliegen nach der Transzendentalen Analytik notwendigerweise den transzendentalen Grundsätzen, aber sie können dies auf unendlich viele unterschiedliche Weisen tun. Kant weist häufig darauf hin, dass die empirische Erfassbarkeit der Ordnung der Natur nicht vom transzendentalen Standpunkt aus bewiesen werden kann. So heißt es etwa an einer Stelle: [Die] Regel […] der Urtheilskraft […] [beweist] Avtonomie […]; diese Avtonomie aber ist nicht (so wie die des Verstandes, in Ansehung der theoretischen Gesetze der Natur, oder der Vernunft, in practischen Gesetzen der Freiheit) objectiv d.i. durch Begriffe von Dingen oder möglichen Handlungen, sondern bloß subjectiv […] gültig […]. Diese Gesetzgebung müßte man eigentlich Heavtonomie nennen, da die Urtheilskraft nicht der Natur, noch der Freyheit, sondern lediglich ihr selbst das Gesetz giebt […]. (EE, AA 20: 225)²⁰
Vgl. Ginsborg (1990, 181 f.) und Guyer (2003c, 9 ff.). Es gibt eine Parallelstelle in der zweiten Einleitung: „Die Urteilskraft hat also auch ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjektiver Rücksicht, in sich, wodurch sie nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene ein Gesetz vorschreibt […].“ (KU, AA 5: 185 f.)
6.1 Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft
339
Kant teilt uns hier mit, dass die Urteilskraft nicht dazu in der Lage ist, der Natur eine empirisch erfassbare Ordnung in derselben Weise aufzuprägen, wie der Verstand die transzendentalen Grundsätze der Natur vorschreibt.²¹ Andererseits ist es jedoch so, dass die transzendentale Deduktion des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft zeigen soll, dass das Prinzip subjektiv notwendig ist: Es handelt sich bei diesem Prinzip um eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Ausübung unserer Urteilskraft. Letztlich verbleibt nur die Möglichkeit, dass die Urteilskraft das Prinzip der Systematizität sich selbst für ihre eigene Ausübung vorschreibt. Mit Kant ausgedrückt: Die Gesetzgebung ist eine Form von Heautonomie.²² Die in den obigen Zitaten außerdem bereits angedeutete Begründung dafür, dass das Prinzip in diesem Sinne subjektiv notwendig, also unentbehrlich für den Gebrauch der Urteilskraft selbst ist, besagt Folgendes: Wenn die Naturgesetze derart zahlreich und in solch einem hohen Maße heterogen wären, dass wir prinzipiell nicht in der Lage wären, sie zu erkennen, dann wäre der Versuch, einzelne Gegenstände durch Vergleichung unter einen Begriff zu bringen, stets vergeblich. Denn die Merkmale, an denen wir im Vergleichungsprozess interessiert sind, betreffen solche Eigenschaften der Gegenstände, die sie aufgrund der Tatsache haben, dass sie empirischen Gesetzen unterworfen sind. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft können wir nicht a priori ausschließen, dass wir einer höchst ungleichförmigen Natur gegenüberstehen, die unseren Erkenntnisinteressen trotzt. Aber damit der Versuch eines Vergleichs von Vorstellungen mit dem Ziel der empirischen Begriffsbildung überhaupt sinnvoll ist, müssen wir beim Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft zumindest notwendigerweise voraussetzen, dass die empirischen Naturgesetze für uns prinzipiell erkennbar sind.²³
Ich übergehe die im Zitat vorkommenden Bemerkungen Kants über die gesetzgebende Funktion der praktischen Vernunft, weil sie für den hier behandelten Punkt nicht zentral sind. Der Begriff der Heautonomie wird in diesem Zusammenhang von Floyd (1998, 204 f.) ausführlicher analysiert. Bei dieser Voraussetzung handelt es sich genau genommen um eine Präsumtion, also um eine methodologische Maxime, die darin besteht, in der Natur so viel Systematizität zu erwarten, wie im Lichte der gegebenen Belege möglich ist. Wir sollen dieser Präsumtion nicht deshalb folgen, weil wir einen Grund für die Annahme haben, dass die Natur tatsächlich in hohem Maße systematisch verfasst ist, sondern weil die Forschungspraxis auf eine derartige Maxime als Vorbedingung angewiesen ist. Vgl. Day (1975, 5 f.) und Rescher (1977, 113 f.). Für eine ausführliche allgemeine Theorie von Präsumtionen siehe Scholz (2001, 148 ff.). Wir werden jedoch in Abschnitt 6.2 sehen, dass es Kant zufolge zumindest Gründe dafür gibt, dass die Hoffnung auf eine tatsächliche systematische Verfasstheit der Natur rational ist.
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
Um diesen Punkt zu verdeutlichen, verwendet Kant interessanterweise an zwei Stellen den Begriff der Hoffnung. Die erste Stelle ist die bereits oben zitierte Randbemerkung zu Linnäus, an der Kant darauf hinweist, dass Linnäus nur durch die Voraussetzung einer hinreichenden Gleichartigkeit der Naturgegenstände „hoffen [konnte,] ein System der Natur zu entwerfen“ (EE, AA 20: 215, Fn.; meine Hervorhebung). Ganz ähnlich heißt es an einer weiteren, ebenfalls bereits zitierten Stelle: Denn es frägt sich, wie man hoffen könne, durch Vergleichung der Wahrnehmungen zu empirischen Begriffen desjenigen, was den verschiedenen Naturformen gemein ist, zu gelangen, wenn die Natur (wie es doch zu denken möglich ist) in diese, wegen der großen Verschiedenheit ihrer empirischen Gesetze, eine so große Ungleichartigkeit gelegt hätte, daß alle, oder doch die meiste Vergleichung vergeblich wäre, eine Einhelligkeit und Stufenordnung von Arten und Gattungen unter ihnen herauszubringen. (EE, AA 20: 213; meine Hervorhebung)
Um überhaupt Naturforschung betreiben zu können und durch Vergleichen von Objekten empirische Begriffe bilden zu können, so offenbar Kants Gedanke, müssen wir der Natur mit der Hoffnung entgegentreten, dass sie unseren Erkenntnisinteressen entgegenkommt, oder anders ausgedrückt: dass sie sich als unserem Erkenntnisvermögen zweckmäßig erweist.²⁴ Hiermit hängt zugleich ein weiterer Grund zusammen, der für die Voraussetzung einer systematischen Verfasstheit der Natur spricht: Das Prinzip der Systematizität stellt eine notwendige Heuristik für die Entdeckung von empirischen Gesetzen dar.²⁵ So weist Kant beispielsweise darauf hin, dass „[a]lle Vergleichung empirischer Vorstellungen, um empirische Gesetze und diesen gemäße […] Formen an Naturdingen zu erkennen“ (EE, AA 20: 213) auf die Voraussetzung der systematischen Verfasstheit der Natur angewiesen ist und dass ohne diese Voraussetzung „alles Reflectieren bloß aufs Geratewohl und blind“ (EE, AA 20: 212) sein würde. Kants Gedanke besteht offenbar darin, dass ohne die Erwartung einer systematischen Verfasstheit der Natur unsere Suche nach passenden empirischen Begriffen und empirischen Naturgesetzen keinen Leitfaden hätte und somit fruchtlos wäre. Wie wir oben gesehen haben, können empirische Begriffe und Gesetze nicht von den Kategorien und Grundsätzen des Verstandes abgeleitet werden. Aber wie man sich leicht verdeutlichen kann, können sie auch nicht ohne Weiteres von einer vorliegenden Menge von Beobachtungen abgleitet werden: Zu
Dieser Begriff der Hoffnung wird sich unten im Zusammenhang mit der transzendentalen Deduktion des Prinzips der Systematizität als zentral herausstellen. Dieser Punkt wird vor allem von Guyer (2003b, 64; 2003c, 22 f.) hervorgehoben.
6.1 Kants Konzeption der reflektierenden Urteilskraft
341
jeder endlichen Menge von Beobachtungen gibt es unzählbar viele Verallgemeinerungen, die mit den Beobachtungen vereinbar sind.²⁶ Kants Lösung für dieses Unterbestimmtheitsproblem besteht in der Idee eines Systems der Natur als Leitfaden für unsere Suche nach Begriffen und Gesetzen: Wir treten in der Erforschung der Natur immer schon mit einem vorläufigen und unvollständigen System von Begriffen und Gesetzesannahmen an die Natur heran und können unsere Aufgabe darin betrachten, die Lücken des Systems so weit wie möglich auszufüllen und das System möglichst kohärent in bisher unerforschte Bereiche zu erweitern.Wenn wir auf der Suche nach einem verallgemeinernden Begriff oder nach einem verallgemeinernden Gesetz für vorliegende Beobachtungen sind, probieren wir es zunächst mit solchen Begriffen oder Gesetzen, die gut in unser vorläufiges System hineinpassen.²⁷ Dieses Vorgehen gibt uns einen Leitfaden für unsere Suche nach neuen Begriffen und Gesetzen und bewahrt uns vor der an der zuletzt zitierten Stelle angesprochenen Beliebigkeit und Blindheit. Auffallend ist, dass Kants Begründung des Prinzips der Urteilskraft bis zu dieser Stelle lediglich eine Begründung dafür ist, dass es für unsere Naturforschung notwendig ist, dass wir eine Hoffnung auf eine Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen haben. Was Kant hiermit lediglich nachweist, ist die subjektive Notwendigkeit des Prinzips für unsere Naturforschung. Das, was Kant in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft als die transzendentale Deduktion des Prinzips der Urteilskraft bezeichnet, ist zunächst einmal nichts weiter als der Nachweis der subjektiven Notwendigkeit des Prinzips.²⁸
Vgl. Guyer (2003b, 66 f.). Hierbei handelt es sich im Prinzip um eine Variante von Nelson Goodmans „new riddle of induction“. Vgl. Guyer (2003b, 64). Guyer bedauert an dieser Stelle, dass Kant diese heuristische Funktion des Prinzips der Systematizität nicht an einem Beispiel illustriert. Es ist zwar richtig, dass Kant in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft keine solche Illustration liefert, aber wie Guyer selbst in einer anderen Veröffentlichung (2003c, 16 f.) anmerkt, liefert Kant in der Kritik der reinen Vernunft (KrV, A 662 f. / B 690 f.) ein ausführliches Beispiel, das die oben vorgestellte Interpretation der heuristischen Funktion des Prinzips der Systematizität stützt. Auf diese Stelle werde ich unten in Abschnitt 6.4.6 noch zu sprechen kommen. Dies wird besonders in Abschnitt V der veröffentlichten Einleitung deutlich, in dem Kant explizit von der transzendentalen Deduktion des Prinzips spricht. Die Argumente, die er in diesem Zusammenhang nennt, sind genau die im gegenwärtigen Abschnitt herausgearbeiteten Argumente für die Unverzichtbarkeit des Prinzips für den Gebrauch der Urteilskraft. Kants Überlegungen bezüglich der objektiven Gültigkeit des Prinzips, die ich in den folgenden Abschnitten ausführlich beleuchten werde, finden sich hingegen verstreut über die Kritik der Urteilskraft und insbesondere nur an Stellen, an denen nicht explizit von einer transzendentalen Deduktion die Rede ist. Diese Beschränkung der transzendentalen Deduktion auf den Nachweis der subjektiven Notwendigkeit des Prinzips der Urteilskraft geht offenbar einher mit einer Bedeutungsverände-
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
Das Problem, mit dem Kant schon im Anhang zur Transzendentalen Dialektik der ersten Kritik (und dort vergeblich) gekämpft hat, besteht darin, einen Grund für die Annahme zu finden, dass die Natur dem Prinzip der Systematizität auch entspricht, dass sie also tatsächlich so verfasst ist, dass sie unseren Erkenntnisinteressen entgegenkommt. Aus transzendentaler Sicht könnte die Situation nämlich zunächst einmal als geradezu hoffnungslos beschrieben werden: Da die transzendentalen Verstandesgrundsätze die empirischen Gesetze inhaltlich vollkommen unbestimmt lassen, ist zunächst einmal überhaupt nicht einzusehen, warum man hoffen können sollte, dass die Natur tatsächlich gerade so eingerichtet ist, dass die Gesetze in Anzahl und Anordnung derart ausfallen, dass sie ausgerechnet zu den Erkenntnisvermögen und -interessen von uns Menschen passt. Und doch ist es, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, genau dies, was das Prinzip der Urteilskraft Kant zufolge ausdrückt.
6.1.6 Der objektive Gehalt des Prinzips der Urteilskraft Der zweite zentrale Aspekt des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft besteht darin, dass es, obwohl es sich um ein bloß subjektiv-notwendiges Prinzip handelt, einen objektiven Gehalt aufweist.²⁹ Gemeint ist hiermit, dass das Prinzip, obwohl
rung in Bezug auf den Begriff der transzendentalen Deduktion im Vergleich zu ersten Kritik. Im Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der ersten Kritik versteht Kant unter einer transzendentalen Deduktion des Prinzips der Systematizität offenbar ein Argument, das auch den Nachweis der objektiven Gültigkeit dieses Prinzips umfasst. Hierbei handelt es sich jedoch um einen Anspruch, den Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik nicht einlösen kann (siehe hierzu oben, Abschnitte 5.2.5 – 6). In der Kritik der Urteilskraft findet nun zwar offenbar eine terminologische Verschiebung statt, nach der eine transzendentale Deduktion nicht mehr zwingend mit dem Nachweis der objektiven Gültigkeit des Prinzips verbunden ist. Wie wir jedoch im Folgenden sehen werden, ist Kant in der dritten Kritik dennoch der Meinung, dass es wichtig ist, den Nachweis der subjektiven Notwendigkeit des Prinzips mit Belegen zu unterfüttern, die uns zumindest zu der vernünftigen Hoffnung berechtigen, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist. Guyer (2003b, 69) drückt denselben Gedanken mit anderen Worten aus: „So this principle is transcendental in content, but merely regulative in force.“ Der Ausdruck „transcendental in content“ kann dabei als Anlehnung an Kants Sprachgebrauch im Anhang zur Transzendentalen Dialektik verstanden werden, wo er den objektiven Gehalt des Prinzips der Systematizität mit den Worten unterstreicht: „In der Tat ist auch nicht abzusehen, wie ein logisches Prinzip der Vernunfteinheit der Regeln stattfinden könne, wenn nicht ein transzendentales vorausgesetzt würde, durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objekten selbst anhängend, a priori als notwendig angenommen wird.“ (KrV, A 650 f. / B 678 f.; meine Hervorhebung)
6.2 Das Schöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur
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die reflektierende Urteilskraft es nur sich selbst für ihre eigene Ausübung vorschreibt, etwas über die Objekte unserer Urteile ausdrückt: Das Prinzip schreibt uns nicht nur vor, dass wir unsere einzelnen Erfahrungen in einer bestimmten Weise ordnen sollen, um zu einem System von empirischen Begriffen zu gelangen, sondern dass wir voraussetzen müssen, dass die Natur selbst auch tatsächlich eine systematische Struktur aufweist. Wie wir im letzten Kapitel in Abschnitt 5.2.4 gesehen haben, besteht Kants Überlegung hierzu darin, dass in dem Fall, dass die Natur nicht tatsächlich systematisch verfasst wäre, die Voraussetzung des Prinzips der Systematizität uns in der Erforschung der Natur in die Irre leiten würde (KrV, A 651 / B 680). Auch wenn Kant diesen Punkt in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft nicht so explizit ausspricht, wie er dies im Anhang zur Transzendentalen Dialektik getan hat, gibt es doch Hinweise darauf, dass dieser Gedanke auch in der dritten Kritik noch eine wichtige Rolle spielt. Diese bestehen zum einen in den oben in Abschnitt 6.1.5 betrachteten Stellen, an denen Kant ausdrückt, dass wir für die Naturforschung auf die Hoffnung angewiesen sind, dass die Natur unseren Erkenntnisinteressen tatsächlich entgegenkommt (EE, AA 20: 213; EE, AA 20: 215, Fn.). Zum anderen zeigt sich dies daran, dass Kant sich sehr enthusiastisch über einen Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Naturschönen und der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur äußert, der eben gerade die Hoffnung darauf, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist, nährt. Diesen Zusammenhang müssen wir uns nun genauer anschauen.
6.2 Das Schöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur In diesem Abschnitt soll es darum gehen, den Grund aufzudecken, der uns Kant zufolge in der Voraussetzung berechtigt, dass die Natur tatsächlich in einer für unsere Erkenntnisinteressen zweckmäßigen Weise systematisch verfasst ist. Wie sich zeigen wird, ist Kant offenbar der Meinung, dass es die Erfahrung des Naturschönen ist, die uns zumindest eine berechtigte Hoffnung darauf eröffnet, dass die Natur systematisch verfasst ist. Um diesen von Kant nur angedeuteten Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Schönen und der systematischen Verfasstheit der Natur genauer verstehen zu können, wird es nötig sein, einen genaueren Blick auf Kants Theorie der symbolischen Repräsentation zu werfen. Kant entwickelt diese Theorie in der Kritik der Urteilskraft im Zusammenhang mit der These, dass das Schöne ein Symbol für das sittlich Gute darstellt. Es wird sich zeigen, dass es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass diese Theorie übertragbar ist auf eine symbolische Be-
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
ziehung zwischen dem Schönen und der systematischen Verfasstheit der Natur und dass dies Kant zufolge die Grundlage dafür darstellt, dass die Erfahrung des Naturschönen uns zumindest eine berechtigte Hoffnung auf die Annahme eröffnet, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist.
6.2.1 Die Erfahrung des Schönen als Grundlage des Prinzips der Urteilskraft Eine erste Andeutung des Umstandes, dass die Erfahrung des Schönen, und zwar insbesondere des Naturschönen, Kant zufolge die Grundlage des Prinzips der Urteilskraft darstellt, findet sich in Abschnitt XI der ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft: Es ist also eigentlich nur der Geschmack und zwar in Ansehung der Gegenstände der Natur, in welchem allein sich die Urtheilskraft als ein Vermögen offenbart, welches sein eigenthümliches Princip hat und dadurch auf eine Stelle in der allgemeinen Critik der obern Erkenntnißvermögen gegründeten Anspruch macht, den man ihr vielleicht nicht zugetraut hat. (EE, AA 20: 244)
Kant benennt an dieser Stelle nicht genauer, wie das Prinzip lautet, das der Urteilskraft eigentümlich ist und das durch den Geschmack offenbart wird. Aber in den Abschnitten IV und V der ersten Einleitung, in denen es um das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur geht, wird deutlich, dass es sich hierbei um das Prinzip der Urteilskraft (und nicht nur um eines von mehreren) handelt.³⁰ Entsprechend ist die zitierte Stelle offenbar so zu verstehen, dass der Geschmack in irgendeiner noch näher zu bestimmenden Weise die Grundlage für das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur darstellt. Noch eindeutiger äußert sich Kant hierzu in Abschnitt VIII der veröffentlichten Einleitung, in dem er explizit auf diesen engen Zusammenhang zwischen der ästhetischen Urteilskraft und dem Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur hinweist: [D]ie ästhetische Urteilskraft […] allein [enthält] ein Prinzip […], welches die Urteilskraft völlig a priori ihrer Reflexion über die Natur zum Grunde legt, nämlich das einer formalen Zweckmäßigkeit der Natur nach ihren besonderen (empirischen) Gesetzen für unser Er-
So heißt es etwa auch in Abschnitt V recht eindeutig: „Das eigenthümliche Princip der Urtheilskraft ist also: d i e N a t u r s p e c i f i c i e r t i h r e a l l g e m e i n e G e s e t z e z u e m p i r i schen, gemäs der Form eines log is chen Systems, zum B ehuf der Urtheilsk r a f t .“ (EE, AA 20: 216)
6.2 Das Schöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur
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kenntnisvermögen, ohne welche sich der Verstand in sie nicht finden könnte […]. (KU, AA 5: 193)
Die entscheidende Frage ist, auf welche Weise uns gerade die ästhetische Urteilskraft in Hinblick auf eine Einsicht in die systematische Verfasstheit der Natur hilfreich sein kann. Einen Hinweis hierzu erhalten wir an einer weiteren Stelle, die sich in der Analytik des Schönen findet: Die selbständige Naturschönheit entdeckt uns eine Technik der Natur, welche sie als ein System nach Gesetzen, deren Prinzip wir in unserem ganzen Verstandesvermögen nicht antreffen, vorstellig macht, nämlich dem einer Zweckmäßigkeit, respektiv auf den Gebrauch der Urteilskraft in Ansehung der Erscheinungen […]. (KU, AA 5: 246)
In dieser Passage wird etwas deutlicher, auf welche Weise die ästhetische Urteilskraft eine Verbindung zum Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur aufweisen soll: Es ist die Erfahrung des Naturschönen, also desjenigen, das von der ästhetischen Urteilskraft beurteilt wird, die uns in einer noch näher zu bestimmenden Weise die Natur als hinsichtlich ihrer Gesetze systematisch verfasst darstellt. Um die in dieser Weise angedeutete Verbindung zwischen der Erfahrung des Schönen und dem Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur genauer verstehen zu können, müssen wir uns zunächst einen Überblick über Kants Konzeption der Erfahrung des Schönen verschaffen.³¹
6.2.2 Urteile über das Schöne In der Analytik des Schönen in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft analysiert Kant Urteile über das Schöne. Hierbei erläutert er das Verhältnis dieser Urteile zu unseren Erkenntnisvermögen und grenzt sie von anderen Urteilsarten ab.
Vor dem Hintergrund der drei in diesem Abschnitt zitierten Passagen hält etwa Eckart Förster unmittelbar fest: „Because of the actual experience of natural beauty, and only because of it, judgement is compelled in its reflection to adopt as its own principle the view that nature specifies its empirical laws for the purpose of judgement.“ (Förster 2003, 190; Hervorhebung im Original) Ich glaube, dass dies der Sache nach Kants Position letztlich vollkommen treffend beschreibt, aber wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, ist der Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Schönen und der systematischen Verfasstheit der Natur wesentlich indirekter, als es die Darstellung von Förster (und auch die von Kant an den zitierten Stellen) auf den ersten Blick erahnen lässt.
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
Kants Analyse der Urteile über das Schöne, die er als Geschmacksurteile bezeichnet³², beginnt mit der Gegenüberstellung zweier Grundzüge solcher Urteile, die auf den ersten Blick schwer miteinander vereinbar zu sein scheinen: Einerseits sind Urteile über das Schöne subjektive Urteile, andererseits sind sie mit der Forderung nach allgemeiner Zustimmung verbunden. Kants Analyse der Urteile über das Schöne hat zum Ziel, die Vereinbarkeit dieser beiden Grundzüge aufzuzeigen. Schauen wir uns zunächst diese beiden Grundzüge etwas genauer an. Die Subjektivität der Urteile über das Schöne beruht darauf, dass die Grundlage für diese Urteile das Gefühl des urteilenden Subjektes ist. In einem solchen Urteil „beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft […] auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben.“ (KU, AA 5: 203) Hier findet eine Abgrenzung der Urteile über das Schöne von dem statt, was Kant in der Analytik des Schönen als logische Urteile bezeichnet. Unter logischen Urteilen versteht Kant an dieser Stelle Erkenntnisurteile, in denen Objekte durch die Anwendung von Begriffen bestimmt werden. Solche Urteile sind in dem Sinne objektiv, dass in ihnen eine Aussage über ein Objekt und seine Eigenschaften ausgedrückt wird. Urteile über das Schöne versteht Kant demgegenüber als solche Urteile, die sich auf den Zustand des Subjekts beziehen, in dem sich dieses bei der Betrachtung eines Objektes befindet, nämlich auf das Gefühl der Lust oder Unlust, das durch die Vorstellung eines Objektes entsteht. Andererseits treten Urteile über das Schöne mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf: Kant zufolge „muß man sich davon völlig überzeugen, daß man durch das Geschmacksurteil (über das Schöne) das Wohlgefallen an einem Gegenstande j e d e r m a n n ansinne […].“ (KU, AA 5: 213 f.) Anders als bei Urteilen über das Angenehme, bei denen man „jeglichem seinen Kopf für sich haben läßt“ (KU, AA 5: 214), ist es bei Urteilen über das Schöne so, dass man die Zustimmung anderer einfordert und sie im Fall, dass sie diese verweigern, tadelt und ihnen den Geschmack abspricht (KU, AA 5: 213). Die Frage, die es für Kant zu klären gilt, besteht darin, wie diese beiden scheinbar widersprüchlichen Merkmale von Urteilen über das Schöne miteinander vereinbar sind: Wie ist es möglich, dass ein Urteil, das auf dem subjektiven
In einer Fußnote, die ganz zu Beginn der Analytik des Schönen an das Wort „Geschmacksurteil“ angehängt ist, erläutert Kant: „Die Definition des Geschmacks, welche hier zum Grunde gelegt wird, ist: daß er das Vermögen der Beurteilung des Schönen sei. Was aber dazu erfordert wird, um einen Gegenstand schön zu nennen, das muß die Analyse der Urteile des Geschmacks entdecken.“ (KU, AA 5: 203, Fn. 1)
6.2 Das Schöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur
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Gefühl des Urteilenden beruht, einen (berechtigten) Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen kann? Kants Antwort auf diese Frage besteht im Wesentlichen in seiner Konzeption des freien Spiels der Erkenntniskräfte.³³ Die Grundidee dieser Konzeption besteht darin, dass es einerseits bestimmte Parallelen, andererseits aber auch wichtige Unterschiede zwischen Urteilen über das Schöne und logischen Urteilen gibt. Logische Urteile, in denen eine gegebene Vorstellung auf ein Objekt bezogen wird, resultieren Kants Erkenntniskonzeption zufolge aus einer Kooperation zweier Erkenntnisvermögen, nämlich der Einbildungskraft und dem Verstand. Diese beiden Vermögen arbeiten gemeinsam daran, das sinnlich gegebene Mannigfaltige so zu vereinigen, dass es schließlich eine Form erhält, die es ermöglicht, im Rahmen eines logischen Erkenntnisurteiles einen Begriff auf den anschaulichen Gehalt anzuwenden. Die Grundzüge dieser Konzeption haben wir bereits oben in den Abschnitten 3.1.3 – 4 genauer betrachtet. Es handelt sich um Kants Konzeption der Synthesis der Anschauung, die aus den drei Schritten der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition besteht. Interessant ist nun zunächst, wie Kant diese drei Schritte einzelnen Vermögen zuschreibt: In der Kritik der reinen Vernunft ordnet Kant die Synthesis der Apprehension der Sinnlichkeit zu, die Synthesis der Reproduktion der Einbildungskraft und die Synthesis der Rekognition dem Verstand: „Der S i n n stellt die Erscheinungen empirisch in der Wahrnehmung vor, die E i n b i l d u n g s k r a f t in der A s s o z i a t i o n (und Reproduktion), die A p p e r z e p t i o n in dem e m p i r i s c h e n B e w u ß t s e i n der Identität dieser reproduktiven Vorstellungen mit den Erscheinungen, dadurch sie gegeben waren, mithin in der R e k o g n i t i o n .“ (KrV, A 115). In § 35 der Kritik der Urteilskraft hält Kant hingegen fest, dass die Einbildungskraft „für die Anschauung und die Zusammensetzung des Mannigfaltigen derselben“ zuständig ist, der Verstand hingegen „für den Begriff als Vorstellung der Einheit dieser Zusammenfassung“ (KU, AA 5: 287; meine Hervorhebung). Dies ist offenbar so zu verstehen, dass Kant in der dritten Kritik einen im Vergleich zur ersten Kritik erweiterten Begriff der Einbildungskraft verwendet, der sowohl das, was Kant in der ersten Kritik als Sinnlichkeit, als auch das, was er dort als Einbildungskraft bezeichnet, unter sich fasst. Die Einbildungskraft im Sinne der dritten Kritik ist also sowohl für die Synthesis der Apprehension als auch für die Synthesis der Reproduktion verantwortlich.³⁴
Die folgende Darstellung von Kants Konzeption des Spiels der Erkenntniskräfte orientiert sich an der sehr ausführlichen und in meinen Augen einleuchtenden Rekonstruktion Guyers (1997, Kap. 3). Vgl. Guyer (1997, 64).
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
Wie wir oben in Abschnitt 3.1.4 gesehen haben, hängen Kant zufolge die drei Synthesis-Schritte in folgender Weise voneinander ab: Die Synthesis der Apprehension ist von der Synthesis der Reproduktion abhängig, denn nur dadurch, dass die aufgenommenen Teilvorstellungen fortlaufend reproduziert werden (Reproduktion), können sie auch im Bewusstsein zusammengenommen werden (Apprehension). Außerdem hängt die Synthesis der Reproduktion ihrerseits von der Synthesis der Rekognition ab, denn nur dadurch, dass ein Begriff als Regel vorschreibt, welche Teilvorstellungen als Vorstellungen von Aspekten desselben Gegenstandes zu identifizieren sind (Rekognition), ist es möglich, dass gerade diejenigen Teilvorstellungen, die zusammengehören, gemeinsam reproduziert werden (Reproduktion). Wenn Kant nun in der Kritik der Urteilskraft im Zusammenhang mit der ästhetischen Reflexion über einen Gegenstand davon spricht, dass „mit der bloßen Auffassung (apprehensio) der Form eines Gegenstandes der Anschauung, ohne Beziehung derselben auf einen Begriff zu einem bestimmten Erkenntnis, Lust verbunden ist“ (KU, AA 5: 189), dann bedeutet dies offenbar, dass die Einbildungskraft im Falle der Betrachtung eines schönen Gegenstandes ihre Aufgaben im Rahmen des Synthesis-Prozesses erfüllen kann, auch ohne, dass ein Begriff des Verstandes als Regel dient. Gerade das, was nach der Synthesis-Konzeption der ADeduktion bei der logischen Beurteilung eines Gegenstandes mit dem Ziel eines Erkenntnisurteiles nicht möglich ist – dass nämlich die ersten beiden SynthesisSchritte ohne Leitung durch einen Begriff, also ohne die Synthesis der Rekognition vonstatten gehen können – erweist sich im Falle der ästhetischen Betrachtung eines Gegenstandes zumindest in manchen Fällen, nämlich in den Fällen von schönen Gegenständen, als möglich. Die Leistung der Einbildungskraft im Rahmen der Synthesis, die in gewöhnlichen Fällen nur durch die Leitung durch einen Begriff möglich ist, besteht in der Vereinheitlichung des sinnlich gegebenen Mannigfaltigen. Die Situation eines Urteiles über das Schöne kann man sich also so vorstellen, dass diese Vereinheitlichungsleistung ohne Mithilfe des Verstandes gelingt.³⁵ Hierbei handelt es sich um etwas, das wir in gewisser Weise als einen glücklichen Zufall betrachten müssen, denn es bedeutet, dass sich der betrachtete Gegenstand in ungewöhnlicher Weise als unseren Erkenntnisinteressen zuträglich erweist: [D]a diese Zusammenstimmung des Gegenstandes mit den Vermögen des Subjekts zufällig ist, so bewirkt sie die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit desselben in Ansehung der Erkenntnisvermögens des Subjekts. (KU, AA 5: 190)
Vgl. Guyer (1997, 75).
6.2 Das Schöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur
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Es zeigt sich „die Angemessenheit [des Objekts] zu den Erkenntnisvermögen, die in der reflektierenden Urteilskraft im Spiel sind“ (KU, AA 5: 189 f.). Auch ohne, dass der Verstand dies durch einen Begriff bewirken muss, fügt sich die Vorstellung des betrachteten Gegenstandes unter dem Einwirken der Einbildungskraft derart zu einer Einheit, dass eine Anwendung von Begriffen auf den Gegenstand leicht möglich erscheint. Im Fall von logischen Urteilen ist es der Verstand, der im Rahmen der Synthesis der Rekognition dafür sorgt, dass die Vereinheitlichung gelingt, sodass eine Begriffsanwendung möglich wird. Im Fall der Betrachtung eines schönen Objektes fügt sich der Gehalt hingegen in gewisser Weise von selbst in die hierfür nötige Form³⁶: Wenn denn die Form eines gegebenen Objects in der empirischen Anschauung so beschaffen ist, daß die A u f f a s s u n g des Mannigfaltigen desselben in der Einbildungskraft mit der D a r s t e l l u n g eines Begrifs des Verstandes (unbestimmt welches Begrifs) übereinkommt, so stimmen in der bloßen Reflexion Verstand und Einbildungskraft wechselseitig zur Beförderung ihres Geschäfts zusammen, und der Gegenstand wird als zweckmäßig blos für die Urtheilskraft, wahrgenommen […]. (EE, AA 20: 220 f.)
Da die Vereinheitlichung des Mannigfaltigen ohne Anleitung durch einen Begriff („in der bloßen Reflexion“) gelingt, zeigt sich der Gegenstand als tauglich nicht für die Subsumierung unter einen bestimmten Begriff, sondern für die Subsumierung unter Begriffe des Verstandes im Allgemeinen. Hierdurch erweist sich der Gegenstand als zweckmäßig für unsere Erkenntnisvermögen. Die Tatsache, dass sich ein schöner Gegenstand in dieser Weise als zweckmäßig für unsere Erkenntnisvermögen präsentiert, ist Kant zufolge der Grund dafür, dass sich bei der Betrachtung des Gegenstandes eine Lust einstellt, die die Grundlage für das Urteil ist, dass der Gegenstand schön ist.³⁷ Zugleich ist der Zusammenhang dieses Lustgefühls mit dem Verhältnis der Erkenntnisvermögen
Hier zeigt sich ein leichter Unterschied zwischen Guyers Interpretation und der Lesart des Synthesis-Prozesses, die ich oben in Abschnitt 3.1.4 vertreten habe, der aber im gegenwärtigen Zusammenhang vernachlässigt werden kann: Guyer (1997, 76) hält die Synthesis der Rekognition bereits für die Anwendung eines Begriffes in einem Urteil, während ich im Anschluss an Grüne (2009) Kant in der A-Deduktion so lese, dass die Synthesis der Rekognition noch nicht unmittelbar zu einer Begriffsanwendung in einem Urteil führt, sondern dass der Begriff die Synthesis so anleitet, dass hierdurch eine spätere Anwendung des Begriffes im Rahmen eines Urteiles möglich wird. Dies hängt mit Kants allgemeiner Auffassung zusammen, dass „[d]ie Erreichung jeder Absicht […] mit dem Gefühle der Lust verbunden [ist]“ (KU, AA 5: 187): Der schöne Gegenstand präsentiert sich auf eine Weise, die ihn unserer Absicht, die Natur zu erkennen, als besonders zuträglich erscheinen lässt. Vgl. Guyer (1997, 74 f.).
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der Grund dafür, dass Urteile über das Schöne einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen können: [D]erjenige, welcher in der bloßen Reflexion über die Form eines Gegenstandes, ohne Rücksicht auf einen Begriff, Lust empfindet, obzwar dieses Urteil empirisch und ein einzelnes Urteil ist, [macht] mit Recht Anspruch auf jedermanns Beistimmung; weil der Grund zu dieser Lust in der allgemeinen, obzwar subjektiven Bedingung der reflektierenden Urteile, nämlich der zweckmäßigen Übereinstimmung eines Gegenstandes […] mit dem Verhältnis der Erkenntnisvermögen unter sich, die zu jedem empirischen Erkenntnis erfordert werden (der Einbildungskraft und des Verstandes) angetroffen wird. (KU, AA 5: 191)
Der Grund dafür, dass ein ästhetisches Urteil einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen kann, besteht darin, dass – anders als bei Urteilen über das Angenehme – die aus der Betrachtung des Gegenstandes hervorgehende Lust nicht auf solche subjektive Bedingungen zurückzuführen ist, die bloß privater Natur sind. Die subjektiven Bedingungen, die bei der ästhetischen Betrachtung eines schönen Gegenstandes das Gefühl der Lust erzeugen, sind gerade die allgemeinen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis, die in der Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen bestehen, und damit solche Bedingungen, bei denen das urteilende Subjekt davon ausgehen kann (beziehungsweise sogar muss), dass sie in jedem anderen Subjekt ebenso anzutreffen sind.³⁸ Wenn sich ein Objekt in der Vorstellung durch meine Einbildungskraft leicht so darstellen lässt, dass eine Anwendung von Begriffen besonders leicht erscheint, dann habe ich, da andere Subjekte Erkenntnisvermögen derselben Art haben, Grund zu der Annahme, dass dieselbe Reaktion auch von anderen Subjekten zu erwarten ist.
6.2.3 Zwei Arten von subjektiver Zweckmäßigkeit Vor dem Hintergrund von Kants Analyse der Geschmacksurteile können wir nun den Versuch unternehmen, der von Kant angedeuteten Verbindung zwischen der
„Es kann aber nichts allgemein mitgeteilt werden als Erkenntnis und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntnis gehört. Denn sofern ist die letztere nur allein objektiv, und hat dadurch einen allgemeinen Beziehungspunkt, womit die Vorstellungskraft aller zusammenzustimmen genötigt wird.“ (KU, AA 5: 217) Es ist in der Sekundärliteratur umstritten, ob sich in dieser Überlegung die transzendentale Deduktion der Geschmacksurteile erschöpft, oder ob insbesondere die unten noch genauer analysierte These, dass das Schöne ein Symbol für das moralisch Gute ist, einen entscheidenden zusätzlichen Beitrag zu dieser Deduktion leistet. Da die transzendentale Deduktion der Geschmacksurteile hier jedoch nicht das zentrale Thema ist, übergehe ich diese Debatte.
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Erfahrung des Schönen und dem Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur auf den Grund zu gehen. Auffallend ist zunächst vor allem, dass es sowohl bei der Erfahrung des Schönen als auch bei der systematischen Verfasstheit der Natur um eine Zweckmäßigkeit in Bezug auf unsere Erkenntnisvermögen geht, die sich insbesondere dadurch zeigt, dass sich die Objekte der Natur als besonders tauglich für eine Subsumierung unter Begriffe erweisen. Im Fall schöner Objekte ist es die Form der Objekte, die dafür sorgt, dass das sinnlich gegebene Mannigfaltige sich so darstellt, dass es leicht unter Begriffe gefasst werden kann. Im Fall der systematischen Verfasstheit der Natur ist es so, dass die Objekte eine derartige Ähnlichkeit zueinander aufweisen, dass es uns leichtfällt, allgemeine Begriffe für diese Objekte zu finden. In beiden Fällen kann die Situation also so verstanden werden, dass die Objekte der Natur so beschaffen sind, als ob die Natur zu dem Zweck geschaffen worden wäre, von unseren Erkenntnisvermögen gut erfasst werden zu können. Neben dieser Parallele treten jedoch auch deutliche Unterschiede zutage, die den von Kant ins Auge gefassten Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Schönen und der systematischen Verfasstheit der Natur geradezu etwas rätselhaft werden lassen: Bei der Erfahrung des Schönen geht es um die Form eines einzelnen Objektes. Diese Form erweist sich gerade dadurch, dass sie ohne Anleitung durch einen Begriff zustande kommt, als besonders zuträglich für eine Subsumierung unter Begriffe des Verstandes. Bei der Beurteilung eines schönen Gegenstandes kommt es also gerade nicht darauf an, diesen Gegenstand mit anderen Gegenständen zu vergleichen vor dem Hintergrund der Frage, ob die Gegenstände unter einen gemeinsamen Begriff gefasst werden können. Ein Urteil über das Schöne wird über einen einzelnen Gegenstand und ganz unabhängig von Ähnlichkeiten dieses Gegenstandes mit anderen Gegenständen gefällt. Die Frage, ob die Natur systematisch verfasst ist, betrifft hingegen nicht einzelne Objekte, sondern die Natur insgesamt, und zwar insbesondere die Relationen der Objekte der Natur zueinander. Die Frage ist, ob es hinreichende Ähnlichkeiten beziehungsweise Regelmäßigkeiten unter den Objekten gibt, so dass sie sich derart klassifizieren lassen, dass die Arten von Objekten und die Gesetze, unter denen sie stehen, systematisch angeordnet werden können. Hierbei haben wir es also mit einer ganz anderen Art von Zweckmäßigkeit für unsere Erkenntnisvermögen zu tun, als im Fall schöner Gegenstände.³⁹
Auf diesen Punkt weist auch Allison hin: „[W]hereas judgments of taste are concerned with the purposiveness for judgment of particular forms, prior to and independently of any comparison
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
Daraus, dass sich im Rahmen der Erfahrung des Schönen einzelne Naturgegenstände als zweckmäßig für die Kooperation von Einbildungskraft und Verstand erweisen, können wir also keineswegs unmittelbar folgern, dass die Natur insgesamt hinsichtlich ihrer Arten und Gesetze systematisch verfasst ist. Wie wir im Folgenden sehen werden, ist ein Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Schönen und dem Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur Kants Konzeption zufolge zwar trotzdem vorhanden, aber schwächer als ein unmittelbares Implikationsverhältnis: Aus der Erfahrung des Schönen lässt sich zwar nicht schließen, dass die Natur systematisch verfasst ist. Aber das Schöne, das wir erfahren, kann zumindest aufgefasst werden als ein Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur und uns dadurch zwar keine Garantie, aber dennoch die Hoffnung auf eine systematische Verfasstheit der Natur geben, die wir benötigen, wenn wir eine Naturforschung gemäß dem Prinzip der Systematizität betreiben wollen. Insbesondere wird hierdurch das Problem behoben, mit dem Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der ersten Kritik gekämpft hat und das er dort nicht lösen konnte: das Problem, wie sich die reale Möglichkeit des Objektes der Idee der Systematizität aufzeigen oder zumindest plausibel machen lässt. Doch bevor ich die Symbolisierung der systematischen Verfasstheit der Natur durch die Erfahrung des Schönen als Kants Lösung dieses Problems in der dritten Kritik ausweisen kann, muss zunächst noch gezeigt werden, wie es überhaupt möglich ist, dass dieses Problem lösbar ist. Denn wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, hat sich im Anhang zur Transzendentalen Dialektik das problematische Resultat ergeben, dass das Objekt der Idee der Systematiziät sogar real unmöglich ist. Wie ich im nächsten Abschnitt zeigen möchte, konzipiert Kant den Gehalt der Idee der Systematizität in der dritten Kritik leicht anders als in der ersten Kritik, sodass letztere Schwierigkeit nicht mehr auftritt und der Weg frei ist
with other forms, the principle of logical or formal purposiveness is concerned only with the relation between these forms. Thus it governs a completely different form of reflection than is operative in judgments of taste.“ (Allison 2001, 61 f.; Hervorhebung im Original) Der Zusammenhang, in dem Allison diesen Punkt hervorhebt, ist jedoch ein etwas anderer, da er die Frage thematisiert, ob das Prinzip der Urteilskraft die Grundlage für Urteile über das Schöne sein kann, wie es etwa in der Überschrift von § 35 der Kritik der ästhetischen Urteilskraft („Das Prinzip des Geschmacks ist das subjektive Prinzip der Urteilskraft überhaupt“; KU, AA 5: 286) von Kant nahegelegt wird. Diese Fragestellung, die die Rechtfertigung von Geschmacksurteilen betrifft, kann ich an dieser Stelle nicht verfolgen. Mir geht es gerade um die umgekehrte Frage, ob die Erfahrung des Schönen die Grundlage für das Prinzip der Urteilskraft sein kann. Prima facie stellt es ein Problem für Kants Konzeption der Urteilskraft dar, dass er ein Begründungsverhältnis in beiden Richtungen und somit zusammen genommen einen Rechtfertigungszirkel andeutet.
6.2 Das Schöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur
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für die Aufgabe, die reale Möglichkeit der Idee der Systematizität zum Gegenstand einer rationalen Hoffnung zu machen.
6.2.4 Zweckmäßige Systematizität und reale Möglichkeit Im letzten Kapitel, genauer in Abschnitt 5.2.7, haben wir gesehen, dass eines der Probleme, mit denen Kant im Zusammenhang mit der transzendentalen Deduktion des Prinzips der Systematizität im Anhang zur Transzendentalen Dialektik zu kämpfen hat, darin besteht, dass das Objekt der Idee der Systematizität, wie Kant sie dort konzipiert, real unmöglich ist. Es stellt sich nun natürlich die Frage, ob dieses Problem im Rahmen der Konzeption der dritten Kritik weiterhin besteht. Und wie sich zeigen lässt, fällt im Rahmen der neuen Konzeption zumindest der Grund weg, der ausschlaggebend für die Feststellung war, dass das Objekt der Idee der Systematizität real unmöglich ist. Denn auch wenn Kant in der Kritik der Urteilskraft die Grundbestandteile der Idee der Systematizität – nämlich die Analyse in die drei Unterbegriffe der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität – aufgreift und der Kerngehalt der Idee somit erhalten bleibt, ergibt sich im Rahmen der neuen Theorie eine Änderung im Vergleich zum Anhang zur Transzendentalen Dialektik, der in Hinsicht auf die reale Möglichkeit des Objektes der Idee zentral ist. Wie ich nun zeigen möchte, hängt dieser Unterschied insbesondere damit zusammen, dass das Prinzip der Systematizität in der Kritik der Urteilskraft in erster Linie ein Prinzip der Zweckmäßigkeit für unsere Erkenntnisvermögen ist. Erinnern wir uns: Das Problem in Bezug auf die reale Möglichkeit der Idee der Systematizität bestand im Rahmen des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik darin, dass Kant die Idee als eine Idee von einem Maximum konzipiert, um unserer Naturforschung eine fassbare Richtung zu geben: Das (vorgestellte) Objekt der Idee der Systematizität, dem wir uns in unserer Naturforschung möglichst weit annähern sollen, ist nach dieser Konzeption eine Natur, die zu einem maximalen Grad systematisch verfasst ist. Gleichzeitig vertritt Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik aber zumindest implizit die Position, dass dieses Objekt real unmöglich ist, denn wenn die Teilbegriffe der Homogenität und der Spezifikation in ihrer Ausprägung als Begriffe von einem Maximum auf ein Objekt bezogen werden, widersprechen sie sich: Es ist, wie Kant selber herausstellt, unmöglich, dass die Natur zugleich zu einem maximalen Grad homogen und zu einem maximalen Grad spezifiziert ist.⁴⁰
Siehe hierzu oben, Abschnitt 5.2.7.
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
Wie ich nun zeigen möchte, gestattet die Auffassung der Idee der Systematität als eine Idee der Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnisvermögen Kant nun, von dieser problematischen Konzeption eines Maximums an Systematizität als gesetztem Zielpunkt der Forschung Abstand zu nehmen. Schauen wir uns zunächst eine oben bereits zitierte Stelle aus der ersten Einleitung an, die eine konkrete Charakterisierung des Prinzips der Systematizität enthält: Also ist es eine subiectiv-nothwendige transcendentale Vo r a u s s e t z u n g , daß jene besorgliche grenzenlose Ungleichartigkeit empirischer Gesetze und Heterogenität der Naturformen, der Natur nicht zukomme, vielmehr sie sich, durch die Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfahrung, als einem empirischen System, qualificire. (EE, AA 20: 209)
Zunächst einmal ist bemerkenswert, dass Kant die Charakterisierung des Prinzips mit einer negativen Formulierung beginnt: Wir müssen voraussetzen, dass die Natur nicht in einem hohen Grade unsystematisch ist. Und wie es nach der dann unmittelbar folgenden positiven Formulierung scheint, ist es zur Erfüllung dieser Voraussetzung nicht erforderlich, dass die Natur ein Maximum an Systematizität aufweist: Es genügt vorauszusetzen, dass sich die Natur „zu einer Erfahrung […] qualificire“ (ebd.), was bedeutet, dass wir voraussetzen müssen, dass sie systematisch genug ist für uns und unsere epistemischen Bedürfnisse. Einer anderen Stelle der ersten Einleitung zufolge sagt das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft aus, dass wir voraussetzen müssen, daß die Natur auch in Ansehung ihrer empirischen Gesetze eine gewisse unserer Urtheilskraft angemessene Sparsamkeit und eine für uns fasliche Gleichförmigkeit beobachtet habe […]. (EE, AA 20: 213)
Wir können hier meines Erachtens klar feststellen, dass der Gehalt der Idee der Systematizität in der dritten Kritik ein wesentlich moderaterer ist, als in der ersten Kritik: Die gerade zitierte Formulierung des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft verdeutlicht, dass wir dem Prinzip zufolge voraussetzen müssen, dass die Natur systematisch genug für uns ist („eine für uns fasliche Gleichförmigkeit“), nicht, dass sie systematisch zu einem maximalen Grad ist. All dies hängt natürlich damit zusammen, dass Kant das Prinzip in der Kritik der Urteilskraft als ein „Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur (in der Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Gesetze)“ (KU, AA 5: 181) konzipiert: Wir müssen die Natur betrachten, als ob sie „ihre allgemeinen Gesetze nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen [spezifiziert]“ (KU, AA 5: 186). Und
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dies bedeutet eben gerade, dass wir voraussetzen müssen, dass die Natur systematisch genug für uns ist. In Abschnitt VI der zweiten Einleitung finden wir genau diesen Punkt dann tatsächlich auch in wünschenswerter Explizitheit formuliert: Diese Voraussetzung der Urteilskraft ist gleichwohl darüber so unbestimmt, wie weit jene idealische Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen ausgedehnt werden solle, daß, wenn man uns sagt, eine tiefere oder ausgebreitetere Kenntnis der Natur durch Beobachtung müsse zuletzt auf eine Mannigfaltigkeit von Gesetzen stoßen, die kein menschlicher Verstand auf ein Prinzip zurückführen kann, wir es auch zufrieden sind; ob wir es gleich lieber hören, wenn andere uns Hoffnung geben, daß, je mehr wir die Natur im Inneren kennen würden, oder mit äußeren uns jetzt unbekannten Gliedern vergleichen könnten, wir sie in ihren Prinzipien um desto einfacher und bei der scheinbaren Heterogenität ihrer empirischen Gesetze einhelliger finden würden, je weiter unsere Erfahrung fortschritte. (KU, AA 5: 188)
Wie diese Stelle verdeutlicht, ist die Idee der Systematizität in der dritten Kritik nicht die Idee eines Maximums. So müssen wir beispielsweise, um unsere Urteilskraft gebrauchen zu können, nicht annehmen, dass die Natur hinsichtlich ihrer Gesetze in dem Sinne maximal homogen ausfällt, dass sich alle Gesetze als Spezifikationen eines einzigen höchsten Gesetzes erweisen lassen. Die Idee ist unterbestimmt in Hinblick auf die Frage, wie hoch der zu erwartende Grad an Systematizität ist. Dieser Grad ist nur dadurch bestimmt, dass die Natur dem Prinzip zufolge zumindest systematisch genug für den Gebrauch unserer Erkenntnisvermögen ist. Die Tatsache, dass die Idee der Systematiziät von Kant in der dritten Kritik als eine Idee der Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnisvermögen konzipiert wird, stellt also gerade dasjenige Moment dar, das den vom Prinzip der Systematizität geforderten Grad an Systematizität einschränkt. Auch wenn sich nicht genau angeben lässt, welcher Grad an Systematizität es ist, der notwendig für einen Gebrauch unserer Erkenntnisvermögen ist, lässt sich doch leicht einsehen, dass die Natur hierfür nicht maximal systematisch verfasst sein muss. Und dies genügt, um sich der Sorge aus der ersten Kritik entledigen zu können, dass das Objekt der Idee offenbar real unmöglich ist. Denn es ist nicht einzusehen, warum es real unmöglich sein sollte, dass die Natur einen Grad an systematischer Verfasstheit erreicht, der unseren Erkenntnisinteressen angemessen ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun also sagen, dass wir nicht notwendigerweise von der realen Unmöglichkeit des Objektes der Idee der Systematizität ausgehen müssen. Hierdurch ist natürlich noch nicht gezeigt oder auch nur plausibel gemacht, dass das Objekt der Idee real möglich ist. Diese Aufgabe, die reale Möglichkeit wenn auch nicht zu beweisen, so doch zumindest eine Hoffnung
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auf sie zu rechtfertigen, fällt, wie ich nun zeigen möchte, der Erfahrung des Schönen zu.
6.2.5 Reale Möglichkeit und Symbolisierung Wir haben bereits im letzten Kapitel, genauer in Abschnitt 5.2.7, gesehen, welche Probleme einem Nachweis der realen Möglichkeit eines Objektes einer Vernunftidee im Wege stehen. Da die reale Möglichkeit etwas ist, was über die bloß logische Möglichkeit hinausgeht (KrV, B XXVI, Fn.), kann sie nicht durch den Nachweis der logischen Widerspruchslosigkeit eines Begriffes erwiesen werden. Es gilt: „Die Realität unserer Begriffe darzutun, werden immer Anschauungen erfordert.“ (KU, AA 5: 351) In Bezug auf einen empirischen Begriff stellt dies keine besondere Schwierigkeit dar, denn in diesem Fall genügt es, auf eine empirische Anschauung zu verweisen, auf die er zutrifft. Der Nachweis der realen Möglichkeit erfolgt also im Fall von empirischen Begriffen durch „B e i s p i e l e “ (KU, AA 5: 351). Im Fall der Kategorien des Verstandes sieht es schon etwas schwieriger aus, denn um die reale Möglichkeit der Objekte dieser Begriffe a priori nachweisen zu können, muss man auf reine Anschauung zurückgreifen.Wie Kant in der Kritik der Urteilskraft unter implizitem Rückverweis auf die Kritik der reinen Vernunft festhält, hat er hierfür eine Lösung gefunden: „Sind [die Begriffe] reine Verstandesbegriffe, so werden die [für den Nachweise ihrer Realität erforderlichen Anschauungen] S c h e m a t e genannt.“ (KU, AA 5: 351) Hierbei handelt es sich natürlich um einen Verweis auf den Schematismus-Abschnitt in der Kritik der reinen Vernunft. ⁴¹ Dort heißt es, unmittelbar vor Beginn des Abschnittes, dass es unerlässlich ist, dass die Transzendentalphilosophie „die Bedingungen, unter welchen Gegenstände in Übereinstimmung mit [den reinen Verstandesbegriffen] gegeben werden können, in allgemeinen aber hinreichenden Zeichen [darlegt], widrigenfalls sie ohne allen Inhalt, mithin bloße logische Formen und nicht reine Verstandesbegriffe sein würden.“ (KrV, A 136 / B 175) Der Transzendentalphilosoph hat also die Aufgabe, zu zeigen, dass es sogenannte Schemata der reinen Verstandesbegriffe gibt, durch die „die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird“ (KU, AA 5: 351). Nun stellt sich bei den Vernunftideen jedoch das Problem, dass sie, im Unterschied zu den reinen Verstandesbegriffen, nicht schematisiert werden kön-
Vgl. Förster (2000, 57).
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nen.⁴² Für Ideen gilt, dass „ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann“ (KU, AA 5: 351), weil sie, wie es schon in der ersten Kritik heißt, „eine gewisse Vollständigkeit [enthalten], zu welcher keine mögliche empirische Erkenntnis zulangt“ (KrV, A 567 f. / B 595 f.). In der Kritik der Urteilskraft entwickelt Kant nun jedoch eine Konzeption, die dazu gedacht ist, diese Problematik zumindest zu einem gewissen Grad zu überwinden. Zwar kann eine sinnliche Anschauung niemals einer Idee vollkommen angemessen sein, doch gibt es eine andere, wenn auch schwächere Form der sinnlichen Darstellung eines Begriffes, nämlich die Symbolisierung. Bei der symbolischen Darstellung eines Begriffes handelt es sich um eine Darstellung vermittels einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Anschauungen bedient), in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden. (KU, AA 5: 352)
Dieser Theorie zufolge kann eine Vernunftidee dadurch von einem Gegenstand einer sinnlichen Anschauung symbolisiert werden, dass es möglich ist, die Regel der Reflexion, anhand derer man über die Anschauung dieses Gegenstandes reflektiert, auf das Objekt der Vernunftidee zu übertragen. Diese zunächst recht abstrakt erscheinende Konzeption veranschaulicht Kant durch folgendes Beispiel: So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur s y m b o l i s c h vorgestellt. Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren. (KU, AA 5: 352)
Die Analogie zwischen einer Handmühle und einem despotischen Staat kann Kant zufolge darin gesehen werden, dass in der Reflexion über diese Objekte die Bestandteile von beiden als jeweils in ähnlichen Beziehungen zueinander stehend betrachtet werden. Bei einer Handmühle handelt es sich um einen Mechanismus, in dem das Korn bestimmten gesetzmäßigen Abläufen unterworfen ist, die durch die Form der Bestandteile der Handmühle bestimmt sind, wodurch
Wir hatten oben in Abschnitt 5.2.7 gesehen, dass Kant im Rahmen seines Versuchs einer indirekten Deduktion der Idee der Systematizität es mit dem „A n a l o g o n eines solchen Schema“ (KrV, A 665 / B 693) versucht, womit jedoch die reale Möglichkeit des Objektes der Idee nicht erfolgreich nachgewiesen werden konnte.
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das Korn ohne eigenes Zutun zu etwas anderem, nämlich zu Mehl, verarbeitet wird. Analog dazu können die Teile eines Staates so betrachtet werden, dass der Despot, vermittelt durch den ihm unterworfenen Staatsapparat, die Bewohner des Staates, ohne dass diese eine Möglichkeit der Beeinflussung dieses Vorganges hätten, zu Sklaven macht.⁴³ Die Ähnlichkeit, die die symbolische Repräsentationsbeziehung trägt, besteht also nicht zwischen den Bestandteilen der betrachteten Objekte selbst, sondern zwischen ihren jeweiligen strukturellen Beziehungen zueinander, die in der Art, wie wir über diese Objekte reflektieren, abgebildet werden. Kant führt diese Theorie der symbolischen Darstellung in § 59 der Kritik der Urteilskraft ein, um die These vertreten zu können, dass Schönheit als Symbol für das moralisch Gute aufgefasst werden kann. Dies muss nach der bisherigen Betrachtung von Kants Symbol-Theorie verstanden werden als die These, dass es Analogien zwischen der Reflexion über schöne Gegenstände und der Reflexion über das moralisch Gute gibt. Kant meint dies offenbar so, dass es Parallelen in der Art und Weise gibt, wie wir über das Schöne und über das Gute urteilen. ⁴⁴ Denn die Analogien (und auch Disanalogien) zwischen dem Schönen und dem Guten, die Kant am Ende von § 59 aufzählt und die die symbolische Beziehung tragen sollen, betreffen die Form der Urteile über das Schöne und über das Gute: 1. Das Schöne gefällt u n m i t t e l b a r (aber nur in der reflektierenden Anschauung, nicht, wie Sittlichkeit, im Begriffe). 2. Es gefällt o h n e a l l e s I n t e r e s s e (das Sittlichgute zwar notwendig mit einem Interesse, aber nicht einem solchen, was vor dem Urteile über das Wohlgefallen vorhergeht, verbunden, sondern was dadurch allererst bewirkt wird). 3. Die F r e i h e i t der Einbildungskraft (also der Sinnlichkeit unseres Vermögens) wird in der Beurteilung des Schönen mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes als einstimmig vorgestellt (im moralischen Urteile wird die Freiheit des Willens in Zusammenstimmung des letzteren mit sich selbst nach allgemeinen Vernunftgesetzen gedacht). 4. Das subjektive Prinzip der Beurteilung des Schönen wird als a l l g e m e i n , d. i. für jedermann gültig, aber durch keinen allgemeinen Begriff kenntlich vorgestellt (das objektive Prinzip der Moralität wird auch für allgemein, d. i. für alle Subjekte, zugleich auch für alle Handlungen desselben Subjekts, und dabei durch einen allgemeinen Begriff kenntlich erklärt). (KU, AA 5: 353 f.)
Die strukturellen Parallelen zwischen ästhetischen und moralischen Urteilen lassen sich also dadurch zusammenfassen, dass beide Arten von Urteilen gekennzeichnet sind durch Unmittelbarkeit, Interesselosigkeit, Freiheit und Allgemeinheit.
Vgl. Guyer (1997, 333 f.). Vgl. Guyer (1997, 334).
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Vor allem der dritte Punkt, die Freiheit, ist in unserem Zusammenhang interessant und bedarf einer Erläuterung: Im Fall der Urteile über das Schöne geht es um die Freiheit der Einbildungskraft, die ohne den Zwang einer Regel des Verstandes über den Gegenstand reflektiert, aber dabei trotzdem zu einem Ergebnis gelangt, das sich als (zwar nicht in Bezug auf einen bestimmten Begriff, aber allgemein) zuträglich für eine Anwendung der Begriffe des Verstandes erweist. Die Einbildungskraft ist also frei, aber diese Freiheit erweist sich als vereinbar mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes. Im Fall der moralischen Urteile geht es hingegen um die Freiheit des Willens. Diese kann, wie Kant zu Beginn des dritten Abschnittes der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten festhält, zum einen negativ und zum anderen positiv bestimmt werden. Die negative Bestimmung besteht darin, dass der Wille eine Art von Kausalität ist, die „unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann“ (GMS, AA 4: 446). Unter fremden, den (unfreien) Willen bestimmenden Ursachen versteht Kant eine Kausalität gemäß der Naturnotwendigkeit, also kausale Einflüsse, denen wir als sinnliche Wesen ausgesetzt sind und die in Neigungen und Interessen resultieren.⁴⁵ Wir können die Freiheit des Willens also, analog zu der Freiheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Reflexion, als eine Freiheit verstehen, die mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes, der der Natur die kausale Gesetzmäßigkeit vorschreibt, vereinbar ist.⁴⁶ Aber dies, obwohl im Sinne der von Kant angestrebten Analogie zwischen dem Schönen und dem Guten sehr gut passend, ist nicht der Aspekt, den Kant an der obigen Zitatstelle im dritten Punkt nennt. Kant verweist an dieser Stelle vielmehr auf die positive Bestimmung des Freiheitsbegriffes, die darin besteht, dass der Wille „in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz“ ist beziehungsweise „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ sind (GMS, AA 4: 447). Die Freiheit des Willens besteht also positiv bestimmt in der Autonomie, also darin, dass der Wille sich mit dem kategorischen Imperativ selbst ein Gesetz gibt. Insofern ist die Freiheit des Willens nicht nur, wie die Freiheit der Einbildungskraft, mit einer Gesetzgebung (im Fall der Einbildungskraft die Gesetzgebung des Verstandes, im Fall des Willens die Gesetzgebung der praktischen Vernunft) vereinbar, sondern die Selbstgesetzgebung der Vernunft ist sogar konstitutiv für die Freiheit des Willens.
Vgl. Schönecker / Wood (2007, 182). In der Kritik der reinen Vernunft heißt es dazu: „Die F r e i h e i t i m p r a k t i s c h e n Ve r s t a n d e ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit.“ (KrV, A 533 f. / B 561 f.) Dies ist natürlich genau die Thematik der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft (A 444 ff. / B 472 ff.), in der eine solche Vereinbarkeit in der Antithesis gerade in Frage gestellt wird.
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In § 42 der Kritik der Urteilskraft fügt Kant einen für unseren Zusammenhang sehr wichtigen Gedanken hinzu, nämlich den, dass die Subjekte von in diesem Sinne freien moralischen Entscheidungen ein notwendiges Interesse daran haben, dass das Gewollte sich auch tatsächlich verwirklichen lässt⁴⁷: Da es aber die Vernunft auch interessiert, daß die Ideen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch objektive Realität haben, d. i. daß die Natur wenigstens eine Spur zeige oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Produkte zu unserem, von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen (welches wir a priori für jedermann als Gesetz erkennen, ohne dieses auf Beweisen gründen zu können) anzunehmen: so muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen Übereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüth über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden. (KU, AA 5: 300)
Das Anliegen der Vernunft, das Kant hier beschreibt, besteht darin, dass sie einen Hinweis darauf sucht, dass es eben nicht der Fall ist, dass „durch eine besondere Ungunst des Schicksals oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es [dem guten] Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen“ (GMS, AA 4: 394). An dieser Stelle spielt wiederum der Gedanke eine Rolle, dass der freie Wille als in einer bestimmten Weise mit der Naturgesetzlichkeit vereinbar gedacht werden muss: Der an moralischen Absichten orientierte Mensch sucht Gründe für die Hoffnung, dass die moralischen Entscheidungen des freien Willens sich in der von Naturgesetzen beherrschten Welt erfolgreich umsetzen lassen. Und Kant zufolge finden wir solche Gründe in Form von der Erfahrung schöner Naturobjekte, die zwar nicht hinreicht, um ein Entgegenkommen der Natur in Hinsicht auf die Durchführbarkeit moralischer Handlungen zu beweisen, durch die die Natur uns aber zumindest einen Wink gibt.⁴⁸ In der Erfah-
Zwar betont Kant vehement, dass der moralische Wert des Willens vollkommen unabhängig von dem Erreichen seiner Zwecke ist: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut […].“ (GMS, AA 4: 394) Ja, es gilt sogar: „Wenngleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen, […] so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat.“ (Ebd.) Aber dies ist vereinbar damit, dass Menschen, die eine Absicht auf der Grundlage des reinen Willens formen, notwendigerweise ein Interesse daran haben, dass diese Absicht sich auch durchsetzen lässt. Entsprechend unterscheidet sich auch ein guter Wille von einem bloßen Wunsch durch „die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind“ (ebd.). Vgl. Bielefeldt (2003, 117). Vgl. Bielefeldt (2003, 123 f.).
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rung des Schönen präsentiert sich die Natur in der Form von einzelnen Objekten so, als wäre sie für unsere Vermögen (Einbildungskraft und Verstand) und dem mit ihnen verbundenen Interesse (Erkenntnis) zweckmäßig eingerichtet. Dies versteht Kant als einen Wink der Natur in Form einer symbolischen Darstellung einer zweckmäßigen Einrichtung der Natur in Hinsicht auf ein anderes Vermögen (praktische Vernunft) und seinem Interesse (Erreichen der Absichten des freien Willens). Dies ist es, was die symbolische Beziehung zwischen dem Schönen und dem Guten austrägt: Eine – wenn auch nur symbolische – Versinnlichung des Entgegenkommens der Natur in Hinsicht auf unsere moralische Absichten durch die Erfahrung des Schönen und dadurch das Begründen zumindest einer Hoffnung darauf, dass die Natur sich unseren moralischen Absichten auch tatsächlich nicht vollkommen widersetzt. Hier bietet sich nun eine interessante Parallele dar zu Kants Anliegen, das Prinzip der systematischen Verfasstheit der Natur zu begründen. Die transzendentale Deduktion dieses Prinzips hat nur dessen subjektive Notwendigkeit aufgezeigt.Was wir aber benötigen, um dieses Prinzip in der Naturforschung sinnvoll anwenden zu können, ist zumindest eine begründete Hoffnung darauf, dass die Natur unseren Erkenntnisinteressen durch eine tatsächliche systematische Verfasstheit entgegenkommt.⁴⁹ Vielleicht, so liegt es nahe zu denken, gibt uns die Natur auch in Hinblick hierauf einen Wink, und vielleicht ebenfalls durch die Erfahrung des Schönen. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, ist dies offenbar der Hintergrund für die Verbindung, die Kant zwischen der Erfahrung des Schönen und dem Prinzip der Urteilskraft zieht.
6.2.6 Das Naturschöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur Obwohl Kant die Theorie der Symbolisierung nicht explizit auf den Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Schönen und die systematische Verfasstheit der Natur anwendet, gibt es doch entsprechende Hinweise in seinem Text.⁵⁰ Der
S.o., Abschnitt 6.1.5. Vgl. Rueger / Evren (2005, 238 ff.). Rueger und Evren weisen auf den sehr wichtigen symbolischen Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Schönen und der systematischen Verfasstheit der Natur hin. Anders als ich dies im Folgenden entwickeln werde, betrachten sie diesen Zusammenhang jedoch nicht als eine Ergänzung der transzendentalen Deduktion des Prinzips der Urteilskraft.Was sie daran hindert, diese meines Erachtens für Kants Begründung des Prinzips der Urteilskraft sehr bedeutende Verbindung zu ziehen, ist schlicht die Tatsache, dass sie in Zweifel ziehen, dass Kant überhaupt eine transzendentale Deduktion des Prinzips geben wollte
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deutlichste Hinweis besteht darin, dass Kant an einer Stelle feststellt, dass wir „die Naturschönheit als Darstellung des Begriffs der formalen (bloß subjektiven) […] Zweckmäßigkeit ansehen“ können (KU, AA 5: 193), wobei der vorhergehende Satz verdeutlicht, dass er an dieser Stelle „eine[] subjektive[] Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Formen nach empirischen Gesetzen“ (ebd.) meint. Schöne Naturgegenstände können demnach als Darstellung der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur hinsichtlich ihrer Gesetze aufgefasst werden. Und wie wir oben gesehen haben, ist Kant zufolge die symbolische Darstellung die einzige Art von anschaulicher Darstellung, die für Ideen verfügbar ist. Entsprechend müssen wir Kant an dieser Stelle offenbar so verstehen, dass er das Naturschöne auch als Symbol der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur betrachtet. Alexander Rueger und Şahan Evren haben diesen Hinweis zum Anlass genommen, zwei Parallelen der Reflexion über das Schöne und der Reflexion über die systematische Verfasstheit der Natur herauszustreichen, die es ermöglichen, eine symbolische Repräsentationsbeziehung zwischen dem Schönen und der systematischen Verfasstheit der Natur anzunehmen, die der von Kant explizit herausgearbeiteten zwischen dem Schönen und dem moralisch Guten strukturell ähnelt: [In both cases], the reflection on individual objects or nature as a whole involves a sort of purposiveness that is subjective in the sense that it pertains to our cognitive faculties rather than to objects, and it is formal in the sense that […] we judge objects or nature merely „as if“ they were designed according to purposes […]. (Rueger / Evren 2005, 239)
Die symbolische Beziehung zwischen dem Schönen und der systematischen Verfasstheit der Natur besteht demnach in der strukturell analogen Weise, in der wir einerseits über einzelne schöne Objekte und andererseits über eine systematisch verfasste Natur reflektieren. Zum einen stellen sowohl schöne Objekte, als auch eine systematische Verfasstheit der Natur Formen einer subjektiven Zweckmäßigkeit dar, in der die Natur sich als zweckmäßig für unsere Erkenntnisvermögen präsentiert. Zum anderen handelt es sich in beiden Fällen aber um eine Zweckmäßigkeit, die wir uns nicht so vorstellen, dass sie tatsächlich von
(Rueger / Evren 2005, 236). Aber Kants Äußerungen sind diesbezüglich eigentlich vollkommen unmissverständlich: Kant nennt das Prinzip der Urteilskraft explizit ein „transzendentales Prinzip“ (KU, AA 5: 180) und hält fest, dass es „also auch einer transzendentalen Deduktion [bedarf]“ (KU, AA 5: 182). Nur zwei Seiten weiter versucht er uns noch einmal „von der Richtigkeit dieser Deduktion des vorliegenden Begriffs und der Notwendigkeit, ihn als transzendentales Erkenntnisprinzip anzunehmen, zu überzeugen“ (KU, AA 5: 184), was nur so verstanden werden kann, dass die transzendentale Deduktion an dieser Stelle bereits stattgefunden hat.
6.2 Das Schöne als Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur
363
einem Willen bewirkt wurde, der die Natur auf unsere Erkenntnisvermögen zugeschnitten hat. Vielmehr betrachten wir einzelne Objekte oder die Natur als Ganze so, als ob sie auf unsere Vermögen zugeschnitten worden wären.⁵¹ Es kann sogar noch als konkretisierende Ergänzung hinzugefügt werden, dass sowohl im Fall der Erfahrung des Schönen, als auch im Fall der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur die vorgestellte Zweckmäßigkeit etwas damit zu tun hat, dass die Natur sich (in einzelnen Fällen oder insgesamt) als zweckmäßig in Hinblick auf eine begriffliche Erfassung der Objekte der Natur zeigt. Natürlich bestehen auch Unterschiede zwischen dem Schönen und der systematisch verfassten Natur. Hervorzuheben ist insbesondere derjenige Unterschied, der oben in Abschnitt 6.2.3 bereits thematisiert wurde: Die Reflexion über das Schöne betrifft immer nur ein einzelnes Objekt, und zwar gerade unabhängig von seiner Relation zu anderen Objekten, während die Idee der systematischen Verfasstheit der Natur eine Idee ist, der gemäß die einzelnen Objekte gerade in bestimmten Relationen, beispielsweise hinreichender Ähnlichkeit, zueinander stehen. Aber im Rahmen von Kants Theorie der Symbolisierung stellt dieser Unterschied kein entscheidendes Hindernis dar, denn Symbolisierung ist eben gerade eine analogische Form der Repräsentation und bei Analogien gibt es neben Parallelen auch immer Unterschiede.⁵² Dies unterscheidet die Symbolisierung gerade von der Darstellung durch ein Beispiel, wie es nur bei empirischen Begriffen möglich ist. Natürlich hat dies auch zur Folge, dass eine symbolische Repräsentationsbeziehung schwächer ist als die Darstellung anhand eines sinnlich gegebenen Beispiels. Insbesondere bedeutet dies, dass die Symbolisierung der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur durch die Erfahrung des Schönen keinen Beweis dafür darstellt, dass die Natur tatsächlich systematisch verfasst ist. Aber immerhin, so offenbar Kants Überlegung, gibt uns diese Symbolisierung zumindest einen Grund zu der Hoffnung, dass die Natur, da sie sich in einzelnen Objekten als unserem Interesse zur begrifflichen Bestimmung der Natur als zweckmäßig zeigt, dies möglicherweise auch insgesamt tut. Zusammen mit der transzendentalen Deduktion der Idee der systematischen Verfasstheit der Natur, die die subjektive Notwendigkeit der Voraussetzung dieser Idee aufzeigt, gibt uns dies Grund genug, um unsere Naturbetrachtung gemäß der Idee auszurichten: Nach der transzendentalen Deduktion, die die subjektive Notwendigkeit des Prinzips Im Fall der Urteile über das Schöne führt Kant hierfür die Formulierung „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ ein. (KU, AA 5: 220) An der im letzten Abschnitt zitierten Stelle, an der Kant die strukturellen Parallelen zwischen Urteilen über das Schöne und Urteilen über das Gute anführt (KU, AA 5: 353 f.), gibt er entsprechend in Klammern stets auch die Unterschiede an.
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
nachgewiesen hat, steht fest, dass wir ohnehin keine andere Wahl haben, als unsere Forschung nach diesem Prinzip auszurichten. Dadurch, dass die Erfahrung des Schönen ein Symbol für die systematische Verfasstheit der Natur darstellt, wird die transzendentale Deduktion nun ergänzt durch eine berechtigte Hoffnung darauf, dass die Natur auch tatsächlich dem Gehalt des Prinzips gemäß eingerichtet ist. Wir verstehen nun also, was Kant meint, wenn er sagt: „Die selbständige Naturschönheit entdeckt uns eine Technik der Natur, welche sie als ein System nach Gesetzen […] vorstellig macht“ (KU, AA 5: 246): Objekte der Natur, die uns in der Erfahrung des Schönen als schön begegnen, symbolisieren eine systematische Verfasstheit der Natur. Mit diesen Überlegungen ist Kants Begründung des Prinzips der Systematizität abgeschlossen. In den folgenden Abschnitten wird es darum gehen, welche Dienste uns das Prinzip im Zusammenhang mit zwei Problemen erweisen kann, nämlich dem Induktionsproblem und der Frage nach dem Ursprung der Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze.
6.3 Das Prinzip der Systematizität und das Induktionsproblem Juliet Floyd und, im Anschluss an Floyd, Henry Allison vertreten die These, dass sich in Kants Behandlung des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft in den Einleitungen in die dritte Kritik ein Ansatz für eine moderate Lösung des Humeschen Induktionsproblems verbirgt. Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Argumentation Kants für dieses Prinzip können wir diesen Aspekt nun genauer beleuchten. Die Verbindung zum Induktionsproblem lässt sich wie folgt einsehen: Nach Kants Argument müssen wir, um empirische Begriffe bilden zu können, voraussetzen, dass die Natur empirischen Gesetzen unterliegt, die für uns erfassbar sind. Dies bedeutet insbesondere, dass diese Gesetze aus unserer Perspektive betrachtet nicht vollkommen chaotisch sind, sondern dass es sich um stabile Gesetze handelt, die in einem für uns erfassbaren System angeordnet sind. Nach dieser Voraussetzung muss es Regularitäten geben, die derart beschaffen sind, dass wir ihr Vorliegen feststellen können. Hierbei handelt es sich um eine Voraussetzung, die es uns zugleich erlaubt, induktiv zu schließen.⁵³ Tatsächlich deutet Kant bereits im Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft einen solchen Zusammenhang zwischen dem
Vgl. Allison (2001, 34 f.).
6.3 Das Prinzip der Systematizität und das Induktionsproblem
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Prinzip der Systematizität und induktiven Schlüssen an, nämlich im Zusammenhang mit dem sogenannten hypothetischen Vernunftgebrauch (KrV, A 646 f. / B 674 f.), den wir uns bereits im letzten Kapitel in Abschnitt 5.2.4 etwas genauer angeschaut haben. Beim hypothetischen Vernunftgebrauch handelt es sich um eine Art Vorgänger der Konzeption der reflektierenden Urteilskraft aus der dritten Kritik. Beim hypothetischen Vernunftgebrauch geht man vom Besonderen aus, das als gegeben vorausgesetzt wird, um von dort aus „auf die Allgemeinheit [einer] Regel, aus dieser aber nachher auf alle Fälle, die auch an sich nicht gegeben sind“ zu schließen (KrV, A 647 / B 675). Diese Art zu schließen, bei der es sich offensichtlich um induktives Schließen handelt, wird von Kant an das Prinzip der Systematizität gekoppelt: Es geht bei dieser Art zu schließen darum, „Einheit in die besonderen Erkenntnisse zu bringen“ (ebd.). „Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse“ (ebd.).⁵⁴ In der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant also selber explizit eine Verbindung zwischen der Anwendung des Prinzips der Systematizität und der Rechtfertigung induktiver Schlüsse her. Insofern ist es ist also durchaus angemessen, das Prinzip der Systematizität als Kants Antwort auf das Induktionsproblem zu verstehen.⁵⁵ Betrachten wir kurz die Anwendung des Prinzips der Systematizität im Rahmen der Praxis des induktiven Schließens: Zunächst sammeln wir eine Menge von einzelnen Beobachtungen, um ausgehend von diesen dann durch eine Anwendung der reflektierenden Urteilskraft auf ein allgemeines empirisches Naturgesetz schließen zu können. Das Problem besteht jedoch darin, dass eine Menge von Beobachtungen stets mit unzählig vielen verschiedenen möglichen Verallgemeinerungen vereinbar ist. Eine endliche Menge von Beobachtungen lässt somit prinzipiell unterbestimmt, auf welches Gesetz per induktivem Schluss geschlossen werden sollte. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft soll hierbei Abhilfe verschaffen. Die Idee besteht darin, dass wir beim Schluss von einzelnen Beobachtungen auf ein empirisches Gesetz unser bisheriges System von Gesetzen als Leitfaden nehmen und zwar in dem Sinne, dass wir unter den unzählig vielen möglichen empirischen Gesetzen, die mit den Beobachtungen vereinbar sind, gerade dasjenige als Konklusion des induktiven Schlusses wählen, das am besten
Dieser Zusammenhang zwischen induktiven Schlüssen durch den hypothetischen Vernunftgebrauch und dem Prinzip der Systematizität wurde oben in Abschnitt 5.2.4 genauer erläutert. Auch wenn es somit meines Erachtens angemessen ist, zu sagen, dass Kant im Rahmen seines Ansatzes eine Antwort auf das Induktionsproblem entwickelt, handelt es sich bei diesem Problem nicht, wie ich noch einmal betonen möchte, um das Problem, das Kant in den Prolegomena mit dem „Humeschen Zweifel“ (Prol, AA 4: 310) identifiziert und in das Zentrum seiner Auseinandersetzung mit Hume stellt. Siehe hierzu oben, Kap. 3, insbesondere Abschnitt 3.3.7.
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
in das bisherige System einbettbar ist. Das Einbetten des empirischen Gesetzes in das bisherige System liefert zugleich eine Rechtfertigung für die Gesetzesannahme, die über die Stützung durch die zugrundeliegenden Einzelbeobachtungen hinausgeht. Hierbei spielt interessanterweise einmal mehr Kants Konzeption von Wirklichkeit eine Rolle, die wir in Kapitel 3, Abschnitt 3.4.3, genauer betrachtet haben. Es gibt unzählig viele aus transzendentaler Sicht mögliche empirische Gesetze, das heißt solche Gesetze, die mit den Grundsätzen des Verstandes vereinbar sind. Die tatsächlichen empirischen Gesetze der Natur sind nach Kants Konzeption von Wirklichkeit diejenigen unter den möglichen Gesetzen, die am (nie erreichbaren) Ende der unendlichen Untersuchung in der idealen Theorie enthalten sind. Kants Konzeption der Rechtfertigung von empirischen Gesetzesannahmen besteht offenbar darin, dass die Tatsache, dass eine Gesetzesannahme Teil unseres gegenwärtigen, vorläufigen Systems ist, als fallible Rechtfertigung dafür betrachtet werden kann, dass sie auch Teil des idealen Systems am Ende der Untersuchung sein wird. Insofern stellt eine Einbettung in unser vorläufiges System gemäß den Prinzipien der Systematizität eine fallible Rechtfertigung empirischer Gesetzesaussagen dar. Auf diese Weise können induktive Schlüsse, deren Konklusion in das aktuelle System einbettbar sind, vor dem Hintergrund des Prinzips der Systematizität gerechtfertigt werden. Bei dieser Rechtfertigung induktiver Schlüsse handelt es sich um eine Rechtfertigung relativ zum Prinzip der Systematizität, die also letztlich auf Kants Argumenten für dieses Prinzip basiert. Wie wir gesehen haben, führt Kant grundsätzlich zwei einander ergänzende Argumentationen für das Prinzip an: Erstens argumentiert er im Rahmen dessen, was er in Abschnitt V der veröffentlichten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft als die transzendentale Deduktion dieses Prinzips bezeichnet, für die subjektive Notwendigkeit des Prinzips. Nach dieser Deduktion formuliert das Prinzip eine notwendige Voraussetzung für das Bilden von empirischen Begriffen und das Auffinden empirischer Gesetze. Wir haben zweitens gesehen, dass Kant das Prinzip durch eine Überlegung unterfüttert, die ihm zufolge zumindest die Hoffnung darauf, dass die Natur dem Prinzip auch tatsächlich entspricht, rational macht: Die Erfahrung des Naturschönen offenbart uns eine Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnisvermögen und symbolisiert dadurch die systematische Verfasstheit der Natur. Kant zeigt also keineswegs (und beansprucht auch nicht zu zeigen), dass die Zukunft den auf der Grundlage unserer Erfahrungen und des Prinzips der Systematizität formulierten Zukunftsprognosen entsprechen muss. ⁵⁶ Wir müssen also
In der Kritik der reinen Vernunft heißt es dazu: „Der hypothetische Vernunftgebrauch […] ist
6.4 Die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze
367
festhalten, dass es sich bei Kants Entgegnung auf das Induktionsproblem keineswegs um eine vollständige Widerlegung eines Induktionsskeptizismus handelt. Dennoch kann man, wie Floyd und Allison hervorheben, sagen, dass Kant in gewisser Weise eine Rechtfertigung für unsere induktive Schlusspraxis liefert: Im Lichte von Kants Argument betrachtet kann es als rational bezeichnet werden, zu erwarten, dass die Zukunft der Vergangenheit entspricht, da es nach der Deduktion des Prinzips der Systematizität nur vor dem Hintergrund dieser Annahme überhaupt möglich ist, empirische Urteile über die Natur zu fällen.⁵⁷
6.4 Das Prinzip der Urteilskraft und die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze In der zweiten Einleitung thematisiert Kant einen Aspekt des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft, der in der ersten Einleitung keine Rolle spielt.Während in der ersten Einleitung der Zusammenhang des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft mit der Möglichkeit empirischer Begriffe im Vordergrund steht, wird in der zweiten Einleitung ein neues Thema zentral: Kant bringt das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft in einen Zusammenhang mit der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze. ⁵⁸
eigentlich nicht k o n s t i t u t i v, nämlich nicht so beschaffen, daß dadurch, wenn man nach aller Strenge urteilen will, die Wahrheit der allgemeinen Regel, die als Hypothese angenommen worden, folge; denn wie will man alle möglichen Folgen wissen, die, indem sie aus demselben angenommenen Grundsatze folgen, seine Allgemeinheit beweisen? Sondern er ist nur regulativ, um dadurch, so weit als es möglich ist, Einheit in die besonderen Erkenntnisse zu bringen, und die Regel dadurch der Allgemeinheit zu n ä h e r n . “ (KrV, A 647 / B 675) Vgl. Floyd (1998, 206 ff.) und Allison (2001, 39 ff.). Floyd und Allison konzentrieren sich in ihren Darstellungen auf das erste genannte Argument, also auf dasjenige, das Kant als die transzendentale Deduktion bezeichnet. Nach den obigen Ergebnissen ist es aus Kants Sicht für die Rationalität der Voraussetzung der systematischen Verfasstheit der Natur aber außerdem erforderlich, dass wir eine berechtige Hoffnung auf die objektive Gültigkeit des Prinzips haben. Den Darstellungen von Floyd und Allison ist also die oben herausgearbeitete Konzeption der Symbolisierung der systematischen Verfasstheit der Natur durch die Erfahrung des Naturschönen hinzuzufügen. Auch in der ersten Einleitung (und, wie oben in Abschnitt 5.3 gesehen, auch an zwei Stellen im Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der ersten Kritik) geht es freilich bereits um das Auffinden von empirischen Naturgesetzen. Es wird jedoch dort noch kein Zusammenhang hergestellt zwischen dem Prinzip der Systematizität und der Notwendigkeit dieser Gesetze.
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
6.4.1 Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft in der zweiten Einleitung: Die Grundlage der Notwendigkeit empirischer Gesetze? Den Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze und dem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft stellt Kant an einer Stelle her, die einen Gedanken aufgreift, der uns bereits aus Textstellen der A- und B-Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft bekannt ist.⁵⁹ Empirische Naturgesetze lassen sich nach dieser Passage aus der zweiten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft nicht deduktiv aus den Grundsätzen des Verstandes ableiten, da ihr materialer Gehalt durch die Grundsätze unterbestimmt ist: Allein es sind so mannigfaltige Formen der Natur, gleichsam so viele Modifikationen der allgemeinen transzendentalen Naturbegriffe, die durch jene Gesetze, welche der reine Verstand a priori gibt, weil dieselben nur auf die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstand der Sinne) überhaupt gehen, unbestimmt gelassen werden, daß dafür doch auch Gesetze sein müssen, die zwar, als empirische, nach u n s e r e r Verstandeseinsicht zufällig sein mögen, die aber doch, wenn sie Gesetze heißen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur erfordert), aus einem, wenn gleich uns unbekannten, Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen als notwendig angesehen werden müssen. (KU, AA 5: 179 f.)
Kant spricht hier im Zusammenhang mit der Unterbestimmtheit der empirischen Gesetze durch die Grundsätze des Verstandes zugleich das Problem an, das das Grundproblem der vorliegenden Arbeit darstellt: Einerseits können die empirischen Gesetze nicht aus den transzendentalen Grundsätzen deduktiv abgeleitet werden und sind daher aus der Sicht des Verstandes kontingent. Andererseits soll es sich aber um Gesetze im strengen Sinne handeln, was bedeutet, dass sie mit Notwendigkeit gelten müssen. Woher beziehen sie aber diesen Status der notwendigen Gültigkeit? Wir haben im letzen Kapitel ausführlich die Möglichkeiten betrachtet, die sich für eine Lösung dieses Problems aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft ergeben. Grundsätzlich lassen sich diese so zusammenfassen, dass Kant in dieser Schrift offenbar versucht, trotz der unbestreitbaren Unterbestimmtheit der empirischen durch die transzendentalen Gesetze einen engen Zusammenhang zwischen diesen beiden Arten von Gesetzen aufzuzeigen. Die Lösung, die er in der Kritik der Urteilskraft in der zuletzt zitierten Passage in Aussicht stellt, scheint jedoch in eine andere Richtung zu gehen: Nicht die Grundsätze des Verstandes werden als Quelle der Notwendigkeit der empirischen Gesetze in Betracht gezogen, sondern ein „Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen“ Siehe hierzu oben den Anfang von Kapitel 4, wo ich die beiden Stellen (KrV, A 127 f. und B 165) zitiert habe.
6.4 Die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze
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(KU, AA 5: 180). Wie in den folgenden Zeilen unmissverständlich deutlich wird, ist hiermit das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft gemeint, das „die Möglichkeit der systematischen Unterordnung [der empirischen Prinzipien] untereinander begründen soll.“ (KU, AA 5: 180) Vor diesem Hintergrund haben viele Interpreten Kant so ausgelegt, dass die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze auf dem Prinzip der Urteilskraft und eben gerade nicht auf den Grundsätzen des Verstandes basiert.⁶⁰ Einen Hinweis darauf, wie das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft in einen Zusammenhang mit der Notwendigkeit der empirischen Gesetze gebracht werden kann, liefert eine anschließende explizite Formulierung dieses Prinzips: Nun kann dieses Prinzip kein anderes sein, als daß, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur (obzwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur) vorschreibt, die besonderen empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte. (KU, AA 5: 180)
Guyer interpretiert diese Stelle wie folgt: Kant scheint vorauszusetzen, dass Gesetze der Natur grundsätzlich durch einen Verstand vorgeschrieben werden müssen. Unser Verstand reicht jedoch nicht so weit, dass er der Natur die empirischen Gesetze vorschreiben könnte. Wenn wir die empirischen Gesetze dennoch als Gesetze im strengen Sinne – das heißt als Gesetze, die mit Notwendigkeit gültig sind – auffassen wollen, dann müssen wir sie uns so vorstellen, als ob sie der Natur durch einen Verstand vorgeschrieben worden wären, der mächtiger ist,
Diese Interpretationslinie geht auf Buchdahl zurück, der diese Lesart in mehreren Veröffentlichungen vertritt (1965, 201 ff.; 1967, 216 ff.; 1969, 516 ff.; 1971, 32 ff.). Allison (1996) schließt sich explizit Buchdahls Lesart an. Auch Kitcher (1986; 1994) und Guyer vertreten die These, dass Kant zufolge die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze auf dem Prinzip der Systematizität basiert. Ich werde im Folgenden die Interpretation von Guyer vorstellen, weil diese sich dadurch auszeichnet, dass sie einen relativ konkreten Vorschlag dafür vorlegt, wie der Zusammenhang zwischen der Einbettung von Verallgemeinerungen in ein System und ihrer Gesetzesartigkeit zu verstehen ist. In Seide (2013) habe ich mich noch der Lesart Guyers bezüglich der Notwendigkeit der empirischen Gesetze angeschlossen.Wie ich im Folgenden darlegen werde, ist diese Lesart jedoch nicht mit Äußerungen Kants insbesondere aus der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft verträglich und ich betrachte es als Ziel, eine Interpretation der oben zitierten Stellen aus der veröffentlichten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft zu finden, die auch mit diesen Äußerungen vereinbar ist. Insofern komme ich in dieser Arbeit zu anderen Ergebnissen als in (2013).
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
als unserer.⁶¹ Diesen Gedanken bringt Kant dann in einen Zusammenhang mit der Idee, dass die empirischen Gesetze ihren Status der notwendigen Gültigkeit dadurch erlangen, dass sie ein System ausmachen. Kant erläutert den Zusammenhang zwischen Systematizität und Notwendigkeit nicht weiter. Guyer schlägt vor, dass der zugrunde liegende Gedanke darin besteht, dass eine empirisch-induktive Verallgemeinerung durch eine Einbettung in ein System mit einerseits allgemeineren Gesetzen, die über dieser Verallgemeinerung stehen, und andererseits spezifischeren Gesetzen, die darunter stehen, eine Art von notwendiger Gültigkeit erhält, die ihr unabhängig von diesem System nicht zukommt: Die Notwendigkeit speist sich daraus, dass das angenommene Gesetz aus den allgemeineren Gesetzen ableitbar ist und von den spezifischeren Gesetzen bestätigt wird.⁶² Die Notwendigkeit des Gesetzes ist also eine Notwendigkeit relativ zu dem System, in das es eingebettet ist und in dem es sozusagen durch die Zusammenhänge mit höheren und tieferen Gesetzen festgehalten wird. Insofern stellt Guyers Lesart zufolge das Prinzip der Systematizität die Grundlage für die Gesetze und ihre Gesetzesartigkeit dar.
6.4.2 Das Problem der Vereinbarkeit mit den Metaphysischen Anfangsgründen Die im letzten Abschnitt vorgestellte Interpretation hat vieles für sich. Insbesondere passt sie gut zu der Äußerung Kants in der zweiten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, nach der die empirischen Gesetze „nach u n s e r e r Verstandeseinsicht zufällig“ sind (KU, AA 5: 180). Nach der oben vorgestellten Interpretation basiert die Notwendigkeit der Gesetze nicht auf einer Verstandesleistung, sondern auf einem Prinzip der Urteilskraft, das gerade deshalb von Kant eingeführt wird, weil die Verstandesprinzipien durch ihre Allgemeinheit die konkreten empirischen Gesetze unterbestimmt lassen. Allerdings ergibt sich ein Problem, wenn man diese Interpretation vergleicht mit dem, was Kant in anderen Werken, und zwar insbesondere in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, über die Notwendigkeit empirischer Gesetze äußert. Der Kontrast einer solchen Lesart der Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft zur Konzeption der Metaphysischen Anfangsgründe wird besonders deutlich, wenn man sich Kants Ausführungen zum Thema Systematizität in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe zu Gemüte führt:
Vgl. Guyer (2008, 216 f.). Vgl. Guyer (2003b, 67).
6.4 Die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze
371
Dasjenige Ganze der Erkenntnis, was systematisch ist, kann schon darum Wissenschaft heißen […]. Wenn aber [die] Prinzipien in ihr, wie z. B. in der Chemie, doch zuletzt bloß empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebene Facta durch Vernunft erklärt werden, bloß Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer Notwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch gewiß) und alsdenn verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft […]. (MAN, AA 4: 468)
Kant unterscheidet hier zwei verschieden starke Begriffe von Wissenschaft: Eine systematisch geordnete Erkenntnis kann zwar schon allein dadurch, dass sie systematisch geordnet ist, als Wissenschaft in einem schwachen Sinne bezeichnet werden. Aber für die Erhebung in den Stand einer Wissenschaft im strengen Sinne – und dies ist der Sinn, um den es Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft geht – ist Systematizität nicht hinreichend. Es muss darüber hinaus für eine Fundierung durch apriorische Prinzipien gesorgt werden. Insbesondere – und dies ist in unserem Zusammenhang der entscheidende Punkt – können die in dem System enthaltenen empirischen Gesetze andernfalls nicht als notwendig betrachtet werden. Nach dieser Textstelle, deren Grundüberlegung auch dem gesamten Projekt der Metaphysischen Anfangsgründe zugrunde liegt, ist also Systematizität gerade nicht hinreichend dafür, empirischen Gesetzen den Status der Notwendigkeit zusprechen zu können. Das gesamte Programm der Metaphysischen Anfangsgründe kann so verstanden werden, dass durch die Anwendung der Grundsätze des Verstandes auf den Begriff der Materie die ersten Schritte vollzogen werden, um die Gesetze der empirischen Naturwissenschaft mit den Grundsätzen des Verstandes so zu verbinden, dass erstere als Spezifizierungen letzterer verstanden werden können. Auch in anderen Werken finden sich Hinweise darauf, dass Kant die Notwendigkeit der empirischen Gesetze durch eine Verbindung dieser Gesetze mit den Grundprinzipien des Verstandes erklären möchte. In der Kritik der reinen Vernunft heißt es beispielsweise, dass die empirischen Gesetze „doch nur besondere Bestimmungen noch höherer Gesetze, unter denen die höchsten, (unter welchen andere alle [sic] stehen) a priori aus dem Verstande selbst herkommen, und nicht von der Erfahrung entlehnt sind, sondern vielmehr den Erscheinungen ihre Gesetzmäßigkeit verschaffen […].“ (KrV, A 126; meine Hervorhebung) Die hier angedeutete und in den Metaphysischen Anfangsgründen weitergedachte Beziehung zwischen den transzendentalen Gesetzen des Verstandes und den empirischen Gesetzen ist eine der apriorischen Fundierung der empirischen Gesetze, wie auch eine andere Stelle aus der Kritik der reinen Vernunft veranschaulicht: Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundgesetze des empirischen Verstandesgebrauchs betrachtet werden, führen zugleich einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
Vermutung einer Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sind, bei sich. (KrV, A 159 / B 198)
Hier wird insbesondere auch der später in der Einleitung der Metaphysischen Anfangsgründe hervorgehobene Punkt angesprochen, dass es der in empirischen Gesetzeshypothesen enthaltene Anspruch auf Notwendigkeit ist, der eine apriorische Fundierung der empirischen Gesetze erforderlich macht.⁶³ In den Prolegomena stellt Kant im Zusammenhang mit der Frage der Erkennbarkeit von Gesetzen fest: „Nun lehrt mich die Erfahrung zwar, was dasei, und wie es sei, niemals aber, daß es notwendigerweise so und nicht anders sein müsse.“ (Prol, AA 4: 294) Deshalb fügt er nur wenige Zeilen später hinzu: „Nun sind wir gleichwohl wirklich im Besitze einer reinen Naturwissenschaft, die a priori und mit aller derjenigen Notwendigkeit, welche zu apodiktischen Sätzen erforderlich ist, Gesetze vorträgt, unter denen die Natur steht.“ (Prol, AA 4: 294 f.) In den folgenden Zeilen deutet er an, was er später in den Metaphysischen Anfangsgründen als reinen Teil der Naturwissenschaft entwickeln wird, nämlich „Mathematik angewandt auf Erscheinungen, auch bloß diskursive Grundsätze (aus Begriffen)“ sowie den Begriff der Materie, der „nicht ganz rein und von Erfahrungsquellen unabhängig ist“ (Prol, AA 4: 295). Wir können Kant auch in den Prolegomena so verstehen, dass er die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze auf eine Fundierung durch die Grundsätze des Verstandes zurückführt, vermittelt durch die Prinzipien des in den Metaphysischen Anfangsgründe entwickelten reinen Teils der Naturwissenschaft. Die oben zitierte Stelle aus der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe, nach der systematische Erfahrung nicht hinreicht für die Notwendigkeit von empirischen Gesetzen, sondern zusätzlich eine Fundierung durch apriorische Prinzipien erforderlich ist, steht also in Kants Werk nicht isoliert da, sondern passt generell zu Kants Linie von der kritischen Wende bis zum Erscheinen der Kritik der Urteilskraft. Eine Lesart der Kritik der Urteilskraft, der zufolge die Notwendigkeit empirischer Gesetze allein auf der systematisierenden Funktion der reflektierenden Urteilskraft und in keiner Weise auf einer apriorischen Fundierung durch Verstandesprinzipien beruht, konstatiert also einen klaren Bruch zwischen Kants früheren kritischen Werken und der Kritik der Urteilskraft. Die Anhänger dieser
Die an der zitierten Stelle gewählte Formulierung „Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sind“ ist meines Erachtens klarerweise so zu verstehen, dass es sich bei den Gründen um die Grundsätze des Verstandes und nicht um das Prinzip der Systematizität handelt. Denn diese Stelle stammt aus der Transzendentalen Logik, in der es um die apriorische Struktur des Verstandes geht, und mehrere hundert Seiten bevor das Vernunftprinzip der Systematizität überhaupt eine erste Erwähnung findet.
6.4 Die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze
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Lesart haben dies zum Teil auch gesehen und explizit gemacht. So heißt es bei Kitcher ganz offen: Of course, in emphasizing the route from below, I am aware that I have scanted the aprioristic Kant, the Kant whose „route from above“ is to yield metaphysical foundations for Newtonian Science. […] It is rash perhaps to strip Kant of his claims about the a priori, but I hope to have shown how quite different aspects of his thought sketch an interesting picture of the growth of causal knowledge. (Kitcher 1994, 268)⁶⁴
Ganz ähnlich heißt es auch schon bei Buchdahl: Of course, like all interpretations of Kant, there are passages which cannot be made fit too neatly to the point of view which has here been developed. In particular, there is one special case which seems openly to contradict it, and that is the treatment of the primary axioms of the Newtonian system, e. g. the laws of conservation of mass, of motion, and of momentum, especially as developed in the Metaphysical Principles of Natural Science. (Buchdahl 1965, 207)⁶⁵
Zumindest in Kitchers Fall liegt der Grund für die Wahl einer Lesart, die die Metaphysischen Anfangsgründe im Prinzip ausblenden muss, darin, dass er sich dadurch erhofft, dass sich die so ergebende Theorie empirischer Naturgesetze als für systematische Projekte anschlussfähiger erweist.⁶⁶ Hierbei lässt sich Kitcher insbesondere von seinen eigenen naturalistischen Ansichten leiten:
Mit „route from above“ meint Kitcher die Fundierung der empirischen Gesetze durch die (höher stehenden) transzendentalen Prinzipien des Verstandes, vermittelt durch die (unmittelbar unter den transzendentalen Prinzipien stehenden) Prinzipien der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Mit der „route from below“ meint er den Aufbau eines Systems von empirischen Gesetzen, das ausgeht von einzelnen Erfahrungen, die anhand des Prinzips der Systematizität zu einem einheitlichen Erfahrungssystem verbunden werden. Vgl. Kitcher (1994, 258 f.). Siehe hierzu auch Friedman (1992b, 254). Diese eigentlich schön anschauliche Metaphorik, der ich mich hier auch manchmal bediene, leidet bedauerlicherweise ein wenig darunter, dass Kant die transzendentalen Prinzipien häufig auch als Grundsätze des Verstandes bezeichnet und dass sie in Bezug auf die empirischen Gesetze offenbar eine fundierende Funktion ausüben sollen, was die von Kitcher gewählte Metaphorik genau auf den Kopf stellt. Ich möchte nur hinzufügen, dass Buchdahls Interpretation meines Erachtens nicht nur einzelnen Passagen widerspricht, sondern dem, was man vielleicht als die Grundidee der gesamten Metaphysischen Anfangsgründe bezeichnen kann, nämlich dass metaphysische Prinzipien einer reinen Naturwissenschaft entwickelt werden müssen, um eine Verbindung zu schlagen zwischen den transzendentalen Grundsätzen und der empirischen Naturwissenschaft. Siehe hierzu oben, Abschnitt 4.1. Kitcher hat ursprünglich eine Auffassung von Theorien und Erklärungen vertreten, die stark an seine Kant-Auslegung angelehnt war (siehe insbesondere Kitcher 1993), hat sich später jedoch davon entfernt. Für einen Überblick über die Entwicklung von Kitchers zunächst stark durch Kant
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
[I offer] a reading of Kant that links him far more closely with contemporary naturalism and rejects the aprioristic concern that Friedman (following a venerable tradition) makes central to Kant’s philosophy of natural science. The advantage of my interpretation is that it produces a Kant who can speak directly to twentieth century epistemological problems. Its disadvantage is that it may seem to many not to produce Kant at all. I shall leave it to devotees of the a priori to find ways of connecting the themes I slight with those I make prominent. (Kitcher 1994, 270, Fn. 11; Hervorhebung im Original)
Mein Projekt in der vorliegenden Arbeit besteht jedoch im Unterschied zu Kitchers nicht darin, aus Kants Ideen eine für die heutige Philosophie möglichst anschlussfähige Theorie zu entwickeln. Vielmehr geht es mir in erster Linie darum, Kants Ansatz zunächst einmal nachzuvollziehen und zu verstehen, welche Position Kant tatsächlich vertreten wollte. Vor dem Hintergrund dieses Zieles scheint es mir erstrebenswert zu sein, möglichst eine Lesart zu finden, die Kants Äußerungen in den Metaphysischen Anfangsgründen mit denen in der Kritik der Urteilskraft vereinbaren kann. Es kann natürlich nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass Kant in Bezug auf die Grundlage der Notwendigkeit der empirischen Gesetze zwischen 1786 und 1790 seine Meinung geändert hat. Wir werden jedoch im Folgenden sehen, dass die Ansätze der Metaphysischen Anfangsgründe und der Kritik der Urteilskraft miteinander vereinbar sind und dass es textimmanente Gründe für die Annahme gibt, dass Kant eine solche Vereinbarkeit auch durchaus im Sinn hatte. Bevor wir uns anschauen, wie die Ansätze der Metaphysischen Anfangsgründe und der Kritik der Urteilskraft dem ersten Anschein zum Trotz doch miteinander vereinbart werden können, möchte ich zunächst noch einen anderen Vereinbarkeitsversuch vorstellen, der meines Erachtens nicht Kants Intentionen trifft.
6.4.3 Zwei verschiedene Systeme? Engelhards Vereinbarungsversuch In ihrem Aufsatz „Empirische Naturgesetze bei Kant“ (2011) stellt Kristina Engelhard ebenfalls fest, dass es prima facie eine Spannung zwischen den Ansätzen der Metaphysischen Anfangsgründe und der Kritik der reinen Vernunft auf der einen Seite und der Kritik der Urteilskraft auf der anderen Seite gibt. Sie versucht diese Spannung durch die These aufzulösen, dass Kant in diesen Werken zwei unterschiedliche Perspektiven auf empirische Naturgesetze einnimmt und dass er
geprägte hin zu einer eher pragmatistisch orientierten Position siehe Göhner / Seidel (2013) sowie Kitchers Replik auf diesen Aufsatz (2013, 190 – 193).
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in diesen Werken Unterschiedliches meint, wenn er von dem System der Naturgesetze spricht. Engelhard liest Kants Konzeption in der Kritik der reinen Vernunft und den Metaphysischen Anfangsgründen so, dass die Notwendigkeit der empirischen Gesetze an die Bedingung gebunden wird, dass sie als Spezifikationen der transzendentalen Gesetze des Verstandes betrachtet werden können.⁶⁷ Hierfür schreibt sie Kant die Position zu, dass die Gesetze insgesamt in einem „gemischte[n] System“ angeordnet sind, das sowohl die transzendentalen Gesetze als Spitze des Systems enthält, als auch die empirischen Gesetze als Spezifikationen der transzendentalen, so dass „die Erfahrungsgesetze in einem systematischen Zusammenhang zu reinen apriorischen Naturgesetzen stehen.“ (Engelhard 2011, 76) Dies entspricht tatsächlich auch den im letzten Abschnitt hervorgehobenen Äußerungen Kants in der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe (MAN, AA 4: 468), nach denen eine Wissenschaft nicht nur systematisch verfasst sein muss, sondern auch apriorische Grundprinzipien haben muss, damit den in ihr enthaltenen Gesetzen Notwendigkeit zugesprochen werden kann. Im Unterschied dazu liest sie Kant in der Kritik der Urteilskraft so, dass er dort „eine grundlegend andere Struktur des Systems empirischer Naturgesetze“ entwirft (Engelhard 2011, 78). Den entscheidenden Unterschied zwischen den Perspektiven der Kritik der reinen Vernunft und den Metaphysischen Anfangsgründen auf der einen Seite und der Kritik der Urteilskraft auf der anderen Seite sieht sie darin, dass das in der Kritik der Urteilskraft betrachtete System der Naturgesetze nur empirische Gesetze enthält: Hinsichtlich der Systematizität empirischer Naturgesetze verfolgt Kant im Zusammenhang der Kritik der Urteilskraft die Idee, dass die empirischen Gesetze selbst ein vollständiges und von den transzendentalen Gesetzen unabhängiges System bilden können müssen und ihre Naturgesetzlichkeit, d. h. ihre Notwendigkeit dadurch abgesichert wird, dass das Ganze eines solchen Systems Notwendigkeit hat. (Engelhard 2011, 78)
Diese Interpretation stellt zunächst einmal jedoch eher eine Verschärfung der oben angesprochenen Vereinbarkeitsproblematik dar: Nach dieser Lesart hat Kant
Engelhard beschreibt dies unglücklicherweise so, dass die empirischen Naturgesetze „in einem deduktiven Verhältnis zu apriorischen und also notwendigen Naturgesetzen stehen“ (Engelhard 2011, 76). Das Verhältnis kann aber kein im strengen Sinne deduktives sein, denn wie Engelhard (2011, 73) selbst herausstreicht, vertritt Kant die These, dass die empirischen Gesetze durch die transzendentalen Gesetze unterbestimmt sind. Was Engelhard vermutlich lediglich meint, ist die Richtung des Übergangs von den transzendentalen zu den empirischen Gesetzen, die dem Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen entspricht. Um diesen Übergang vollziehen zu können, müssen aber Kant zufolge stets empirische Informationen einbezogen werden.
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in seinen Werken nicht nur zwei unterschiedliche Grundlagen (den Verstand und die Urteilskraft) für die Notwendigkeit der in einem System angeordneten empirischen Naturgesetze ausgemacht, sondern dabei außerdem zwei unterschiedliche Auffassungen darüber vertreten, was in diesem System alles enthalten ist (transzendentale und empirische Gesetze oder nur empirische Gesetze). Einen Ansatz für eine Auflösung dieser Spannung sieht Engelhard nun darin, dass die unterschiedlichen Systeme mit unterschiedlichen Funktionen einhergehen: Die Spannungen zwischen den beiden Konzeptionen von empirischen Naturgesetzen in der Kritik der reinen Vernunft und den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft einerseits sowie den Einleitungen zur Kritik der Urteilskraft andererseits entsteht aus dem unterschiedlichen Gesichtspunkt von Transzendentalphilosophie und Erkenntnistheorie der empirischen Gesetze: Gemäß dem einen geht es darum, was empirische Naturgesetze sind (Fragen, die heute als metaphysische Fragen bezeichnet werden), gemäß dem anderen geht es darum, wie wir Wissen von den spezifischen empirischen Naturgesetzen erlangen und wie sie sich als solche rechtfertigen lassen. Die Spannung zwischen diesen beiden Perspektiven hat Kant letztlich nicht aufgelöst. Sie führt dazu, dass er für empirische Naturgesetze zwei quer zueinander stehende Konzepte entwickelt hat, die sich komplementär zueinander verhalten und sich ergänzen. (Engelhard 2011, 82)
Die Idee besteht also darin, dass in der Kritik der reinen Vernunft und den Metaphysischen Anfangsgründen die Bedingungen dafür untersucht werden, dass empirische Gesetze tatsächlich notwendige Gesetze sind. Sie erhalten ihre Notwendigkeit dadurch, dass sie Teil eines Systems sind, an dessen Spitze die transzendentalen Gesetze des Verstandes stehen, die den empirischen Gesetzen dadurch eine Form von Notwendigkeit erteilen, dass letztere Spezifizierungen ersterer sind. Das Problem, das Kant in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft anspricht, ist dieser Lesart zufolge ein ausschließlich epistemisches Problem, das sich aus der Unterbestimmtheit der empirischen Gesetze durch die transzendentalen ergibt: Wie erkennen wir, welche der nach Maßgabe der transzendentalen Gesetze unendlich vielen möglichen empirischen Gesetze die tatsächlichen empirischen Gesetze der Natur sind? Engelhard schlägt vor, dass das Prinzip der Systematizität sowohl ein heuristisches Prinzip zur Auffindung der tatsächlichen empirischen Gesetze als auch ein Prinzip der Rechtfertigung der Notwendigkeit dieser Gesetze (durch Einbettung in ein Gesamtsystem empirischer Gesetze) darstellt. Grundsätzlich teile ich die Auffassung, dass das Prinzip der Systematizität von Kant sowohl als heuristisches Prinzip zur Auffindung von Gesetzen als auch als Prinzip ihrer Rechtfertigung fungiert. Wie sich im Folgenden genauer zeigen wird, bin ich entgegen Engelhards Interpretation jedoch der Überzeugung, dass hierfür das System der Naturgesetze von Kant auch in der Kritik der Urteilskraft so verstanden werden muss (und auch wird), dass es neben den empirischen auch
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die transzendentalen Gesetze des Verstandes enthält. Denn das Hauptproblem von Engelhards Lesart besteht meines Erachtens darin, dass sie die Bedingungen für Wahrheit und die Bedingungen für Rechtfertigung zu weit auseinanderdriften lässt. Wenn die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze daher rührt, dass sie Teil eines Systems sind, das die transzendentalen Gesetze an seiner Spitze hat, sodass die empirischen Gesetze des Systems Spezifizierungen dieser transzendentalen Gesetze darstellen, dann sollte eine Rechtfertigung der Notwendigkeit der empirischen Gesetze in irgendeinem Bezug zu dieser Tatsache stehen. Die Rechtfertigung der Notwendigkeit der empirischen Gesetze sollte also gerade nicht auf einer Perspektive beruhen, bei der die transzendentalen Gesetze vollkommen ausgeblendet werden. Es wäre zumindest wünschenswert, dass ein solches Auseinanderdriften der Bedingungen für die Notwendigkeit der Gesetze und der Rechtfertigung dieser Notwendigkeit in Kants Ansatz nicht stattfindet. Wie sich im Folgenden zeigen wird, fallen bei Kant tatsächlich die Bedingungen für die Notwendigkeit der Gesetze und ihre Rechtfertigung nicht in dieser Weise auseinander. Denn bei genauerem Hinsehen lassen sich deutliche Indizien dafür finden, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft nicht ein System von ausschließlich empirischen Gesetzen betrachtet, das sich von dem System unterscheidet, das er in den vorherigen Werken entworfen hat. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, sind auch nach der Kritik der Urteilskraft die transzendentalen Gesetze des Verstandes ein Bestandteil des Systems der Naturgesetze. Vor dem Hintergrund dieses Befundes muss dann das Verhältnis zwischen den Bedingungen der Notwendigkeit der empirischen Gesetze und ihrer Rechtfertigung genauer bestimmt werden.
6.4.4 Das Prinzip der Urteilskraft und die transzendentalen Gesetze des Verstandes Kants Ausführungen zu empirischen Naturgesetzen in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft können auf den ersten Blick tatsächlich den von Engelhard zu einer Interpretationshypothese ausgearbeiteten Eindruck erwecken, dass er in diesem Werk eine andere Auffassung von dem System der Naturgesetze vertritt, als insbesondere in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft. Vor allem zwei Punkte scheinen diesen Verdacht nahezulegen: Erstens lässt sich feststellen, dass Kant an den Stellen in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft, an denen er das Verhältnis der Prinzipien des Verstandes zu den empirischen Naturgesetzen behandelt, die in den Metaphysischen Anfangsgründen entwickelten Lehrsätze, die die Prinzipien der besonderen Metaphysik und damit den apriorischen Teil der Naturwissenschaft ausmachen,
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nicht erwähnt.⁶⁸ Dies könnte man deshalb als einen Bruch mit den Metaphysischen Anfangsgründen verstehen, weil diese Prinzipien gerade als Teil einer möglichen Lösung für dasjenige Problem erscheinen könnten, mit dem Kant sich an diesen Stellen der Einleitungen beschäftigt: Das Problem der Unterbestimmtheit der empirischen Gesetze durch die transzendentalen Prinzipien des Verstandes. Bei den in den Metaphysischen Anfangsgründen entwickelten Prinzipien der besonderen Metaphysik handelt es sich ja gerade um solche Prinzipien, die einerseits direkt unter den transzendentalen Prinzipien stehen, mit diesen also eine enge Verbindung aufweisen, die aber andererseits gleichzeitig Bestimmungen eines grundlegenden empirischen Begriffes, des Begriffes der Materie, enthalten. Nichts liegt entsprechend näher, als diese Prinzipien als ein wichtiges Bindeglied zwischen den transzendentalen Prinzipien des Verstandes und den empirischen Naturgesetzen zu verstehen. Man könnte daher Kants Auslassung dieser Prinzipien an dieser Stelle als Hinweis darauf sehen, dass er in der Kritik der Urteilskraft etwas anderes im Sinn hatte, als die empirischen Gesetze über die Prinzipien der besonderen Metaphysik mit den transzendentalen Gesetzen zu verbinden, um ihnen dadurch eine apriorische Grundlage zu sichern. Das Projekt der Metaphysischen Anfangsgründe, einer apriorischen Fundierung der Naturwissenschaft, so könnte man denken, spielt hier, in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft, keine Rolle mehr. Dieser Eindruck wird ergänzt und verstärkt durch einen zweiten Punkt, der oben bereits genauer entfaltet wurde: Kants Einführung des Prinzips der Urteilskraft, dem zufolge wir danach streben sollen, die empirischen Gesetze in einen systematischen Gesamtzusammenhang zu bringen, scheint gerade darauf angelegt zu sein, die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze auf eine Weise zu erklären, die von den apriorischen Prinzipien des Verstandes vollkommen unabhängig ist. Kant betont in diesem Zusammenhang gerade, dass die empirischen Gesetze „nach u n s e r e r Verstandeseinsicht zufällig“ sind (KU, AA 5: 180). Und so liegt es zunächst nahe, Kants Einführung des Prinzips der Urteilskraft so zu verstehen, dass er durch dieses Prinzip die Notwendigkeit der empirischen Gesetze auf eine Weise fundieren möchte, die von den apriorischen Strukturen des Verstandes gänzlich unabhängig ist.⁶⁹ Dies würde gleichzeitig den ersten oben aufgeführten Punkt erklären: Wenn die Notwendigkeit der empirischen Gesetze allein auf ein Prinzip der Urteilskraft zurückzuführen wäre, wäre es entsprechend nicht Auf diesen Punkt weist Friedman (2014, 548) hin. Friedman glaubt jedoch an eine Kontinuität zwischen den Metaphysischen Anfangsgründen und der Kritik der Urteilskraft und nimmt diesen Punkt zum Anlass, Textstellen aus anderen Teilen der Kritik der Urteilskraft hervorzuheben, die eine solche Kontinuität nahelegen. Hierzu kommen wir weiter unten. Siehe hierzu oben, Abschnitt 6.4.1.
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nötig, eine Verbindung der empirischen Gesetze mit den transzendentalen Gesetzen herzustellen, um ihre Notwendigkeit durch diese zu fundieren. Die Prinzipien der besonderen Metaphysik als mögliche Übergangsbrücken müssten in diesem Zusammenhang also gar nicht in Betracht gezogen werden. Tatsächlich ist es jedoch so, dass es Textstellen in der Kritik der Urteilskraft gibt, die zeigen, dass Kant die Ansätze der Metaphysischen Anfangsgründe und der Kritik der Urteilskraft offenbar selbst für miteinander vereinbar gehalten hat. Zunächst lässt sich bezüglich des ersten der beiden genannten Punkte festhalten, dass Kant in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft zumindest an einer Stelle die in den Metaphysischen Anfangsgründen entwickelten Prinzipien der reinen Naturwissenschaft erwähnt.⁷⁰ An dieser Stelle führt er die Unterscheidung zwischen transzendentalen und metaphysischen Prinzipien wie folgt ein: Ein transzendentales Prinzip ist dasjenige, durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können. Dagegen heißt ein Prinzip metaphysisch, wenn es die Bedingungen a priori vorstellt, unter denen allein Objekte, deren Begriff empirisch gegeben sein muß, a priori weiter bestimmt werden können. So ist das Prinzip der Erkenntnis der Körper als Substanzen und als veränderlicher Substanzen transzendental, wenn dadurch gesagt wird, daß ihre Veränderung eine Ursache haben müsse: es ist aber metaphysisch, wenn dadurch gesagt wird, ihre Veränderung müsse eine ä u ß e r e Ursache haben: weil im ersteren Falle der Körper nur durch ontologische Prädikate (reine Verstandesbegriffe), z. B. als Substanz, gedacht werden darf, um den Satz a priori zu erkennen; im zweiten aber der empirische Begriff eines Körpers (als eines beweglichen Dinges im Raum) diesem Satze zum Grunde gelegt werden muß, alsdann aber, daß dem Körper das letztere Prädikat (der Bewegung nur durch äußere Ursache) zukomme, völlig a priori eingesehen werden kann. (KU, AA 5: 181)
Das transzendentale Prinzip, das Kant hier als Beispiel nennt, ist die zweite Analogie der Erfahrung. Er unterscheidet diesen Grundsatz des Verstandes von einem metaphysischen Prinzip, nämlich dem zweiten Gesetz der Mechanik, das in den Metaphysischen Anfangsgründen als Lehrsatz 3 im Mechanik-Kapitel eingeführt wurde (MAN, AA 4: 543). Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass das metaphysische Prinzip einen empirisch gegebenen Begriff, im vorliegenden Beispiel den Begriff der Materie, voraussetzt. Hierbei handelt es sich zwar nur um einen ersten Hinweis darauf, dass Kant die Konzeption der Metaphysischen Anfangsgründe in der Kritik der Urteilskraft nicht verwerfen wollte, denn an der zitierten Stelle gebraucht Kant das Beispiel des zweiten Gesetzes der Mechanik nur, um die Unterscheidung zwischen transzendentalen und metaphysischen Prinzipien zu illustrieren. Die Rolle, die die
Hierauf weist Friedman (2014, 548) hin.
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Prinzipien der metaphysischen Anfangsgründe im Zusammenhang mit der Begründung empirischer Naturgesetze spielen, wird an dieser Stelle nicht genauer diskutiert.⁷¹ Aber weitere Stellen aus den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft bieten Hinweise dafür, dass sich Kants Vorstellung von dieser Rolle seit der Veröffentlichung der Metaphysischen Anfangsgründe nicht wesentlich verändert hat. Eine Stelle, auf die Friedman in diesem Zusammenhang verweist, befindet sich in der ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. ⁷² An dieser Stelle formuliert Kant das Prinzip der Urteilskraft wie folgt: Nun ist klar, daß die reflectirende Urtheilskraft es ihrer Natur nach nicht unternehmen könne, die ganze Natur nach ihren empirischen Verschiedenheiten zu c l a s s i f i z i r e n , wenn sie nicht voraussetzt, die Natur s p e c i f i c i r e selbst ihre transcendentale Gesetze nach irgend einem Princip. […] Das eigenthümliche Prinzip der Urtheilskraft ist also: d i e Natur specificirt ihre allgemeine Gesetze zu empirischen, gemäs der F o r m e i n e s l o g i s c h e n S y s t e m s , z u m B e h u f d e r U r t h e i l s k r a f t . (EE, AA 20: 215 f.)
Die notwendige Voraussetzung, die wir für den Gebrauch unserer Urteilskraft machen müssen, besteht darin, dass die Natur hinsichtlich ihrer Gesetze systematisch verfasst ist. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist nun entscheidend, dass Kant diese Systematizität so ausdrückt, dass die transzendentalen Gesetze zu empirischen Gesetzen spezifiziert sind. Dies bedeutet, dass Kant sich ein System von Gesetzen vorstellt, an dessen Spitze die transzendentalen Gesetze des Verstandes stehen, die mit den unter ihnen stehenden empirischen Gesetzen dadurch verbunden sind, dass die empirischen Gesetze Spezifikationen der transzendentalen Gesetze darstellen. Die transzendentalen Gesetze werden hier also explizit als Teil des Systems der Naturgesetze betrachtet. Eine vollkommen analoge Stelle findet sich bei näherem Hinsehen auch in der veröffentlichten Einleitung: Denn es läßt sich wohl denken, daß ungeachtet aller der Gleichförmigkeit der Naturdinge nach den allgemeinen Gesetzen, ohne welche die Form eines Erfahrungserkenntnisses überhaupt gar nicht stattfinden würde, die spezifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur samt ihren Wirkungen dennoch so groß sein könnte, daß es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken […]. Die Urteilskraft hat also auch ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjektiver Rücksicht, in sich, wodurch sie nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene ein Gesetz vorschreibt, welches man das G e s e t z d e r S p e z i f i -
Das Einführen dieser Unterscheidung dient Kant an dieser Stelle dazu, das Prinzip der Urteilskraft als ein transzendentales Prinzip auszuzeichnen. Vgl. Friedman (1992a, 187 f.).
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k a t i o n d e r N a t u r in Ansehung ihrer empirischen Gesetze nennen könnte, das sie a priori an ihr nicht erkennt, sondern zum Behuf einer für unseren Verstand erkennbaren Ordnung derselben in der Einteilung, die sie von ihren allgemeinen Gesetzen macht, annimmt, wenn sie diesen eine Mannigfaltigkeit der besonderen unterordnen will. (KU, AA 5: 185 f.; meine Hervorhebung durch Kursivierung)
Der erste Satz beschreibt den uns bereits bekannten Anlass für die Voraussetzung des Prinzips der Systematizität: Die allgemeinen Gesetze, „ohne welche die Form eines Erfahrungserkenntnisses überhaupt gar nicht stattfinden würde“ (ebd.), womit also offenbar die transzendentalen Gesetze des Verstandes gemeint sind, lassen die empirischen Gesetze unterbestimmt. Um dennoch die empirischen Gesetze auffinden und rechtfertigen zu können, müssen wir voraussetzen, dass die Gesetze ein System gemäß dem Prinzip der Systematizität ausmachen. Dieses Prinzip formuliert Kant zwar zunächst als ein Gesetz der Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze. Aber im letzten Teil der zitierten Passage macht er dann deutlich, dass es sich bei der Spezifikation der empirischen Gesetze um eine „Einteilung, die [die Natur] von ihren allgemeinen Gesetzen macht“, handelt (ebd.; meine Hervorhebung). Und wie wir zu Beginn der Passage gesehen haben, handelt es sich bei den hier gemeinten allgemeinen Gesetzen um die transzendentalen Gesetze des Verstandes. Auch hier stellt Kant also ein System der Naturgesetze vor, in dem die transzendentalen Gesetze an der Spitze stehen und die empirischen Gesetze als Spezifikationen unter sich haben. Zusammen mit der zu Beginn dieses Abschnittes wiedergegebenen Erwähnung der metaphysischen Prinzipien in der zweiten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft legen diese Stellen also folgendes Bild nahe: Kant vertritt offenbar die Position, dass wir für den Gebrauch unserer Urteilskraft beim Auffinden und Rechtfertigen von empirischen Naturgesetzen voraussetzen müssen, dass diese Gesetze Teil eines für uns prinzipiell erfassbaren Systems sind, an dessen Spitze die transzendentalen Gesetze des Verstandes stehen, die, vermittelt durch die unter ihnen stehenden metaphysischen Prinzipien der reinen Naturwissenschaft, in Verbindung mit den empirischen Gesetzen unter ihnen stehen. Die Verbindung muss man sich dabei so vorstellen, dass die empirischen Gesetze Spezifizierungen der metaphysischen Gesetze und diese wiederum Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze sind. Das System der Naturgesetze, das Kant im Zusammenhang mit dem Prinzip der Urteilskraft vor Augen steht, ist also dasselbe wie dasjenige, um dessen apriorische Fundierung es ihm in den Metaphysischen Anfangsgründen geht.
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6.4.5 Die Verteilung der Aufgaben zwischen Verstand und Urteilskraft nach Friedman Vor dem Hintergrund der im letzten Abschnitt wiedergegebenen Beleglage liegt es also nahe, eine Interpretation der Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft anzustreben, die im Einklang steht mit den Ergebnissen der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Insbesondere sollte diese Interpretation vereinbar sein mit der Idee, dass die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze darauf basiert, dass es sich bei ihnen um Spezifizierungen der Grundsätze des Verstandes handelt. Der von Friedman in diesem Zusammenhang gemachte Vorschlag besteht darin, die in den Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft beschriebene Tätigkeit der Urteilskraft gemäß dem Prinzip der Systematizität in gewisser Weise als eine lediglich vorbereitende Tätigkeit aufzufassen. Diese Tätigkeit verfolgt das längerfristige (oder genauer: unendliche) Ziel, solche empirischen Gesetze, deren Anbindung an die transzendentalen Gesetze des Verstandes gegenwärtig noch nicht einzusehen ist, an die transzendentalen Gesetze heranzuführen: [T]he Metaphysical Foundations provides an a priori foundation for the most general empirical concept (the empirical concept of matter) and the most general empirical law (the law of universal gravitation), which characterize and govern all matter as such – regardless of the specific differences of various distinct types of matter. Reflective judgement, by contrast, proceeds from the most specific empirical concepts and laws, and attempts always to unify and consolidate these under more and more general empirical concepts and laws. Reflective judgment thereby remains always merely regulative, for it merely aims at and searches for – without actually reaching – the asymptotic ideal of a maximally unified complete science. Moreover, this latter, from the point of view of reflective judgement remains entirely indeterminate […]. We know only that the ideal system of maximally unified empirical concepts and laws will, in some indeterminate and unexplained fashion, ultimately stand under the transcendental principles of the understanding. (Friedman 1992b, 255 f.)⁷³
Diese Interpretation ist deshalb besonders interessant, weil sie Kants Äußerungen aus der Kritik der reinen Vernunft und den Metaphysischen Anfangsgründen, nach denen die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze auf Leistungen des Verstandes beruht, mit den Äußerungen aus der Kritik der Urteilskraft, denen zufolge der Verstand die Notwendigkeit der empirischen Gesetze nicht einzusehen vermag (KU, AA 5: 184), miteinander in Einklang bringen kann.
Ähnlich äußert sich Friedman zu diesem Punkt auch in neueren Veröffentlichungen. Siehe Friedman (2013, 590 ff.) und (2014, section 4).
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Friedmans Antwort auf diesen Einwand verstehe ich so, dass er darauf hinweist, dass der Verstand zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht alle empirischen Gesetze mit den transzendentalen Gesetzen verbinden kann. Für diejenigen empirischen Gesetze, für die diese Anbindung noch aussteht, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht die notwendige Gültigkeit eingesehen werden. Die Wissenschaft muss also weiter vorangetrieben werden, mit dem Ziel, diese Anbindung zu leisten. Dieses Vorantreiben der Wissenschaft besteht darin, die bereits vorhandenen empirischen Daten zusammen mit neu hinzukommenden Befunden gemäß dem Prinzip der Systematizität zu einer möglichst umfassenden und zugleich einheitlichen Gesamttheorie zu vereinigen, mit dem Ziel, die höchsten empirischen Gesetze dieses Systems schließlich an die transzendentalen Gesetze anzubinden. Ein charakteristischer Zug von Friedmans Lesart besteht darin, dass sie eine klare Aufgabenteilung zwischen dem Verstand und der Urteilskraft vorsieht. Verstand und Urteilskraft arbeiten demnach weitgehend unabhängig voneinander, sozusagen aus unterschiedlichen Richtungen, an der Realisierung des idealen Systems der Erfahrung: Recall that the Metaphysical Foundations proceeds in the opposite direction from reflective judgment. Whereas reflective judgment proceeds from the bottom up, as it were, from the particular empirical facts towards the transcendental principles of the understanding; the Metaphysical Foundations proceeds from the top down, from the transcendental principles of the understanding to the metaphysical principles of the doctrine of body which further specify the transcendental principles through the application thereof to the empirical concept of matter. (Friedman 1992b, 254)
Während die Urteilskraft empirische Einzeldaten zu konkreten empirischen Gesetzeshypothesen zusammenfasst, deren Anbindung an die transzendentalen Gesetze des Verstandes zunächst nur eine Zukunftsperspektive ist, beginnt der Verstand Friedmans Lesart zufolge unabhängig von den Leistungen der Urteilskraft damit, durch eine Anwendung der transzendentalen Prinzipien des Verstandes auf den Begriff der Materie gleichsam die erste Etage des Systems unterhalb der transzendentalen Prinzipien zu bauen. Und wie wir in Kapitel 4 ausführlich gesehen haben, können die so entstehenden metaphysischen Sätze Friedman zufolge dann im nächsten Schritt dafür verwendet werden, mit dem Gravitationsgesetz zumindest ein besonders wichtiges empirisches Naturgesetz herzuleiten und dessen notwendige Gültigkeit dadurch abzusichern.⁷⁴ Für Friedmans Kon-
Zu Friedmans Rekonstruktion von Kants Anbindung des Gravitationsgesetzes an die transzendentalen Gesetze des Verstandes siehe oben, Abschnitt 4.6.
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zeption bedeutet dies insbesondere, dass Kants Äußerung in der zweiten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, nach der der Verstand die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze nicht einzusehen vermag, folgendermaßen eingeschränkt werden muss: Für die meisten empirischen Gesetze, die von der Urteilskraft aus dem empirischen Material aufgestellt werden und deren Anbindung an die transzendentalen Grundsätze noch aussteht, ist dies zwar zutreffend. Aber zumindest für ein empirisches Gesetz, nämlich das Gravitationsgesetz, gilt Friedman zufolge, dass der Verstand schon jetzt, und nicht erst am (nie erreichbaren) Ende der Untersuchung, die Notwendigkeit einsehen kann: [T]he point of the Metaphysical Foundations is to provide an a priori grounding for the law of universal gravitation by proving a priori the Newtonian laws of motion, on the one hand, and the two crucial properties of immediacy and universality of gravitational attraction, on the other. It is therefore possible to view Newton’s argument for universal gravitation as a „deduction from the phenomena“ in a very strong sense and thus to attain more than merely inductive or hypothetical status for that law. In the case of this particular natural science, then, we actually see what it means for the understanding to prescribe laws a priori to nature, and, accordingly, we here understand exactly how nature can specify its universal or transcendental laws to empirical laws. (Friedman 1992b, 255; meine Hervorhebung)
Meines Erachtens ist es jedoch so, dass diese von Friedman vorgenommene Einschränkung von Kants Behauptung, dass der Verstand die Notwendigkeit der empirischen Gesetze nicht einsehen kann, zumindest zum Teil zurückgenommen werden muss. Denn wie ich im nächsten Abschnitt zeigen möchte, spielen induktive Schritte an zwei wichtigen Gelenkstellen der Herleitung des Gravitationsgesetzes eine bedeutende Rolle, sodass sich ergibt, dass der Verstand die Notwendigkeit des Gravitationsgesetzes nur relativ zu der Gültigkeit dieser induktiven Schritte einsehen kann, für die der Verstand selber nicht einstehen kann. Und dies bedeutet zugleich, dass der Verstand – entgegen Friedmans Lesart – auch zur Einsicht in die notwendige Gültigkeit des Gravitationsgesetzes auf die Mithilfe der reflektierenden Urteilskraft angewiesen ist. Gleichwohl werden wir im abschließenden Abschnitt 6.4.7 sehen, dass dies keine Einschränkung von Friedmans These bedeutet, dass nach Kants Konzeption der Verstand dasjenige Vermögen ist, das letztlich die Notwendigkeit der empirischen Gesetze konstituiert.
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6.4.6 Die Verwobenheit des Prinzips der Urteilskraft in die Grundlegung der empirischen Naturgesetze durch den Verstand Die Ableitung des Newtonschen Gravitationsgesetzes setzt Friedmans Rekonstruktion zufolge ein mit den von Kepler empirisch ermittelten Regeln der Umlaufbahnen der Planeten und wandelt diese gleichsam anhand der Gesetze der Mechanik um in ein empirisches Naturgesetz. Dieses Gesetz – das Newtonsche Gravitationsgesetz – beansprucht seinem Status als Naturgesetz entsprechend Allgemeingültigkeit. Genau diese Allgemeingültigkeit steht jedoch in Frage, wenn man bedenkt, dass nicht a priori als gesichert gelten kann, dass das empirische Ausgangsmaterial der Ableitung – die Keplerschen Gesetze – repräsentativ für alle Zeiten und alle Orte ist. Hierfür kann auch der Verstand mit seiner Ableitung aus den mechanischen Gesetzen nicht einstehen. In diesem Sinne ist das Gravitationsgesetz aus der Sicht des Verstandes kontingent, ebenso wie jedes andere empirische Naturgesetz. Auch mit dem von Friedman sorgfältig rekonstruierten Argument aus den Metaphysischen Anfangsgründen lässt sich also nicht ohne Vorbehalt ersehen, dass das Gravitationsgesetz ein objektiv notwendiges Gesetz ist. Der Vorbehalt besteht darin, dass weitere Nachforschungen zeigen können, dass die empirischen Phänomene, die Kant zur Basis der Ableitung des Gravitationsgesetzes gemacht hat, keine für die Zukunft repräsentative Datenmenge darstellen. Mit einer solchen Einsicht würde auch die Herleitung des Gravitationsgesetzes, die auf den Keplerschen Gesetzen basiert, nachträglich fallen. Es gibt eine diesbezüglich sehr interessante Stelle im Anhang zur Transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft, in der Kant erläutert, wie die Keplerschen Gesetze unter Zuhilfenahme des Prinzips der Systematizität aufgefunden werden⁷⁵: Die Verwandtschaft des Mannigfaltigen, unbeschadet seiner Verschiedenheit, unter einem Prinzip der Einheit, betrifft nicht bloß die Dinge, sondern weit mehr noch die bloßen Eigenschaften und Kräfte der Dinge. Daher, wenn uns z. B. durch eine (noch nicht völlig berichtigte) Erfahrung der Lauf der Planeten als kreisförmig gegeben ist, und wir finden Verschiedenheiten, so vermuten wir sie in demjenigen, was den Zirkel nach einem beständigen Gesetze durch alle unendliche Zwischengrade, zu einem dieser abweichenden Umläufe abändern kann, d. i. die Bewegungen der Planeten, die nicht Zirkel sind, werden etwa dessen Eigenschaften mehr oder weniger nahe kommen, und fallen auf die Ellipse. Die Kometen zeigen eine noch größere Verschiedenheit ihrer Bahnen, da sie (so weit Beobachtung reicht) nicht einmal im Kreise zurückkehren; allein wir raten auf einen parabolischen Lauf, der doch
In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant das Prinzip der Systematizität zwar noch dem Vermögen der Vernunft und noch nicht der Urteilskraft zu, doch spielt dieser Umstand im gegenwärtigen Zusammenhang keine tragende Rolle.
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mit der Ellipsis verwandt ist, und, wenn die lange Achse der letzteren sehr weit gestreckt ist, in allen unseren Beobachtungen von ihr nicht unterschieden werden kann. So kommen wir, nach Anleitung jener Prinzipien, auf Einheit der Gattungen dieser Bahnen in ihrer Gestalt, dadurch aber weiter auf Einheit der Ursache aller Gesetze ihrer Bewegung (die Gravitation), von da wir nachher unsere Eroberungen ausdehnen, und auch alle Varietäten und scheinbare Abweichungen von jenen Regeln aus demselben Prinzip zu erklären suchen, endlich gar mehr hinzufügen, als Erfahrung jemals bestätigen kann, nämlich uns nach den Regeln der Verwandtschaft selbst hyperbolische Kometenbahnen zu denken, in welchen diese Körper ganz und gar unsere Sonnenwelt verlassen, und, indem sie von Sonne zu Sonne gehen, die entfernteren Teile eines für uns unbegrenzten Weltsystems, das durch eine und dieselbe bewegende Kraft zusammenhängt, in ihrem Lauf vereinigen. (KrV, A 662 f. / B 690 f.)
Der hier beschriebene Entwicklungsverlauf der Bildung von Hypothesen über die Form der Planetenbahnen soll eine Anwendung des Prinzips der Systematizität darstellen.⁷⁶ Die ursprünglich angenommene Hypothese der Kreisförmigkeit der Planetenbahnen wird durch neue empirische Belege zweifelhaft und die Suche nach einer alternativen Hypothese verfährt nach dem Prinzip der Systematizität. Das Teilprinzip der Affinität leitet dazu an, die neue Hypothese durch eine graduelle Abänderung der alten Hypothese zu gewinnen, das heißt eine Form der Planetenbahnen zu erwarten, die der eines Kreises möglichst nahe kommt.⁷⁷ So kommt es zu der Hypothese der elliptischen Planetenbahnen, die dem ersten Keplerschen Gesetz entspricht.⁷⁸ Bei den Kometen, deren Bahnen Kants Beschreibung zufolge nicht elliptisch sind, wird bei der Hypothesenbildung ähnlich verfahren. Wieder wird das Prinzip der Affinität angewandt, um, ausgehend von der Hypothese der elliptischen Planetenbahnen, die Hypothese zu gewinnen, dass die Kometenbahnen eine parabolische Form annehmen, die mathematisch als Abwandlung der elliptischen Form aufgefasst werden kann.⁷⁹ Es ergibt sich, dem Unterprinzip der Homogenität entsprechend, eine „Einheit der Gattungen dieser Bahnen in ihrer Gestalt“ (ebd.). Interessant ist nun außerdem, dass Kant an dieser Stelle den Schluss auf eine gemeinsame Ursache dieser Bahnen andeutet, die gerade in der Gravitation liegen soll. Es wird hier also zumindest – ganz im Einklang mit Friedmans Lesart der Phänomenologie der Metaphysischen Anfangsgründe – angedeutet, dass die Hypothesen bezüglich der Bahnen der Pla-
In diesem Sinne interpretiert auch Friedman (2013, 558 ff.) die gerade zitierte Stelle. Ich werde gleich genauer erläutern, inwiefern Friedman meines Erachtens dennoch die Rolle, die das Prinzip der Systematizität an dieser Stelle spielt, unterbetont. Zu den Teilprinzipien des Prinzips der Systematizität siehe oben, Abschnitt 5.2.2. Siehe oben, Kap. 4, Fn. 142. Eine Parabel entsteht aus einer Ellipse, wenn man einen der beiden Brennpunkte der Ellipse ins Unendliche verschiebt.
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neten und Kometen letztlich zum Newtonschen Gravitationsgesetz führen. Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung stellt der zitieren Passage nach jedoch eine Anwendung des Prinzips der Systematizität dar, um aus den einzelnen empirischen Belegen eine allgemeine Hypothese über die Form der Bahnen zu gewinnen, nämlich insbesondere eine den Keplerschen Gesetzen entsprechende Hypothese bezüglich der elliptischen Form der Planetenbahnen. Wir sehen also, dass die Keplerschen Gesetze, die nach Friedmans Rekonstruktion die Grundlage für die Herleitung des Gravitationsgesetzes darstellen, nach Kant aus empirischen Belegen durch ein Verfahren entstehen, das auf eine Anwendung des Prinzips der Systematizität angewiesen ist. Und wie wir oben gesehen haben, zählt das Prinzip der Systematizität für Kant darüber hinaus als Legitimationsgrundlage für induktive Schlüsse. Empirisch ermittelte Regularitäten, wie etwa die Keplerschen Gesetze, erhalten eine fallible Rechtfertigung dadurch, dass sie kohärent eingebettet werden können in unser vorläufiges System empirischer Gesetzesannahmen. Das Prinzip der Systematizität stellt somit auch die Rechtfertigungsgrundlage für die Keplerschen Gesetze und somit für diejenigen Regularitäten dar, die nach Friedmans Rekonstruktion das Ausgangsmaterial der Herleitung des Gravitationsgesetzes darstellen. Die reflektierende Urteilskraft mit ihrem Prinzip der Systematizität ist somit unmittelbar in die Grundlegung des Gravitationsgesetzes eingebunden. Auch Friedman ist natürlich nicht entgangen, dass das Prinzip der Systematizität Kant zufolge eine Rolle bei der Entdeckung der Keplerschen Gesetz spielt. Allerdings fasst Friedman die Situation offenbar so auf, dass der unsichere Rechtfertigungsstatus der Keplerschen Gesetze gewissermaßen durch die späteren Schritte der Herleitung des Gravitationsgesetzes überwunden wird: The crucial moment, in other words, comes when we move from a purely inductive assent from lower species to higher genera via regulative principles to the knowledge of a genuine causal law capable of explaining, from a still higher point of view, everything that we have observed so far. […] Hence, in undertaking the empirical regress into ever larger rotating systems in accordance with the Newtonian argument we rather quickly reach a point, in a relatively small number of steps, where we have established a necessary and universal causal law that now constitutively grounds all the remaining steps. (Friedman 2013, 560)
Von dem neu erreichten Standpunkt der Gültigkeit des Gravitationsgesetzes kann Friedman zufolge in gewisser Weise rückblickend das Ausgangsmaterial der Herleitung, die Keplerschen Gesetze, einer neuen Bewertung unterzogen werden: Während es sich ursprünglich um bloße induktive Verallgemeinerungen von empirischen Beobachtungen handelte, die bloß mögliche Bewegungen beschreiben, kann nun aus dem als notwendig erkannten Gravitationsgesetz abgeleitet werden, dass die von den Keplerschen Gesetzen beschriebenen Bewegungen
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zumindest approximativ wirkliche Bewegungen sind.⁸⁰ In diesem Sinne kann den Keplerschen Gesetzen nachträglich ebenfalls eine Form von Notwendigkeit zugesprochen werden.⁸¹ Man kann Friedmans Position daher vielleicht am besten so beschreiben, dass das Prinzip der Systematizität zwar entscheidend ist bei der Entdeckung der Keplerschen Gesetze, dass aber die Rechtfertigung der zunächst provisorisch angenommenen Keplerschen Gesetze im Wesentlichen nachträglich durch die Ableitung aus dem als notwendig erkannten Gravitationsgesetz erfolgt. Dem muss meines Erachtens jedoch entgegengehalten werden, dass die Rechtfertigung des Gravitationsgesetzes nach Friedmans Lesart natürlich ihrerseits auf den Keplerschen Gesetzen basiert. Eine Rechtfertigung eines mehr als bloß induktiven Status der Keplerschen Gesetze, die auf einer Ableitung aus dem Gravitationsgesetz basiert, ist also zumindest zu einem gewissen Grade zirkulär. Insofern ist festzuhalten, dass das Prinzip der Systematizität in entscheidendem Maße die Last der Rechtfertigung der Keplerschen Gesetze mitträgt und damit in indirekter Weise auch in bedeutendem Maße zur Rechtfertigung des Gravitationsgesetzes beiträgt, das auf den Keplerschen Gesetzen basiert. Es bleibt also, entgegen Friedmans Lesart, eine gewisse Fallibilität der Rechtfertigung auch für das Gravitationsgesetz erhalten, die es gewissermaßen von den Keplerschen Gesetzen erbt, welche auf der Basis des Prinzips der Systematizität induktiv gewonnen und fallibel gerechtfertigt wurden.⁸² Die Einsicht, dass das Prinzip der Systematizität verwoben ist in die Grundlegung des Gravitationsgesetzes durch den Verstand, gilt jedoch nicht nur für Friedmans Rekonstruktion von Kants Herleitung des Gravitationsgesetzes auf der Grundlage von Keplers Gesetzen, sondern auch für die alternative Interpretation von Plaass. Plaass schreibt Kant eine mehrschrittige apriorische Ableitung eines Rumpfgesetzes zu. Dieses drückt zunächst nur eine Proportionalität zwischen der gravitativen Anziehungskraft zweier Körper aufeinander einerseits und dem Produkt der beiden Massen und dem Kehrwert des Quadrats ihres Abstandes zueinander andererseits aus. Zu einer Gleichung wird dieses Gesetz erst durch die Bestimmung der Gravitationskonstante, bei der es sich um eine empirisch er-
Siehe hierzu oben, Abschnitt 4.6.3. Vgl. Friedman (1992a, 178 f.) und (2012, 314, Fn. 22). Ähnlich fällt auch Guyers Kritik an Friedmans Rekonstruktion aus, der festhält: „[Friedman’s] reconstruction of Kant’s system of physics does not directly address the problem of induction, thus does not justify the assumption that the system remains constant through time.“ (Guyer 2008, 121, Fn. 28) Dabei zieht Guyer jedoch nicht die Möglichkeit in Betracht, dass Kant durch das Prinzip der Systematizität Ressourcen zur Verfügung hat, induktiven Verallgemeinerungen zumindest eine fallible Rechtfertigung zuzugestehen.
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mittelte Größe handelt.⁸³ Und es gilt natürlich auch hier, dass bei der Ermittlung der Gravitationskonstante auf der Basis empirischer Messungen ein Induktionsschluss einfließt.⁸⁴ Empirische Messungen können zunächst nur Einzeldaten liefern, die dann zu einer angenommenen Regularität empirisch verallgemeinert werden müssen. An dieser Stelle ist das Prinzip der Urteilskraft gefragt: Die als Konklusion des Verallgemeinerungsschlusses angenommene Regel wird dadurch gestützt, dass sie in unser vorläufiges System von empirischen Gesetzen eingebettet wird. Wenn die oben in Abschnitt 6.3 gegebene Rekonstruktion, nach der das Prinzip der Urteilskraft in Kants Augen die Legitimationsgrundlage für induktive Schlüsse darstellt, richtig ist, dann müssen wir also sowohl in Bezug auf Friedmans als auch in Bezug auf Plaass’ Rekonstruktion von Kants Herleitung des Gravitationsgesetzes sagen, dass die Urteilskraft auch in Bezug auf die Rechtfertigung dieses empirischen Naturgesetzes durch den Verstand eine unverzichtbare Rolle spielt. Genau genommen müssen wir sogar noch einen Schritt weiter gehen, denn die Rolle der Urteilskraft für die in den Metaphysischen Anfangsgründen dargelegte Grundlegung der Naturwissenschaft erstreckt sich sogar noch weiter, als bis hierhin dargestellt: Nicht nur bei der Herleitung des Gravitationsgesetzes auf der Grundlage der in den Metaphysischen Anfangsgründen entwickelten metaphysischen Prinzipien spielt empirisches Material eine unumgängliche Rolle, sondern sogar bei der Herleitung der metaphysischen Prinzipien selbst! Diese lassen sich Kants Konzeption zufolge nur dadurch aus den transzendentalen Gesetzen des Verstandes beziehungsweise den Kategorien herleiten, dass die Verstandesgesetze und -kategorien auf den Begriff der Materie angewendet werden, bei dem es sich um einen empirischen Begriff handelt. Wie ich oben in Kapitel 4 im Anschluss an Friedman und gegen Plaass argumentiert habe, meint Kant hiermit nicht nur, dass die objektive Realität dieses Begriffes empirisch gesichert werden muss, Das apriorische Rumpfgesetz besagt also: F ~ m1 m2/r2. Durch empirische Messungen wird es zu der Gleichung F = Gm1 m2/r2 erweitert, das die empirisch ermittelte Gravitationskonstante G enthält. Siehe hierzu oben, Abschnitt 4.6.6. In ihrer Einleitung zur englischen Übersetzung von Plaass’ Buch weisen Alfred E. und Maria G. Miller (1994, 140, Fn. 86) entsprechend darauf hin, dass nach Plaass’ Rekonstruktion das Humesche Induktionsproblem fü r das resultierende Gravitationsgesetz von Kant nicht ü berwunden wird. Meines Erachtens ist dies richtig, wenn man – wie es Plaass zu tun scheint – das Verfahren der Herleitung des Gravitationsgesetzes bloß als eines der Anreicherung des a priori gewonnenen Rumpfgesetzes durch empirische Daten versteht. Wenn man allerdings die Rolle des Prinzips der Urteilskraft und Kants Konzeption des induktiven Schließens auf der Grundlage dieses Prinzips berücksichtigt, wird deutlich, dass Kant Ressourcen zur Verfügung hat, um dieses Problem anderweitig aufzufangen.
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sondern dass der Begriff, und zwar insbesondere die in ihm enthaltenen Teilbegriffe der Beweglichkeit und der Undurchdringlichkeit, empirisch entstanden ist.⁸⁵ Das Bilden empirischer Begriffe ist, wie in Abschnitt 6.1.3 gesehen, Kant zufolge eine der Aufgaben der reflektierenden Urteilskraft, die sie nur unter der Voraussetzung des Prinzips der Systematizität durchführen kann. Auch an dieser sehr grundlegenden Stelle der Metaphysischen Anfangsgründe fließt also die Tätigkeit des Prinzips der Urteilskraft ein beziehungsweise wird von Kant stillschweigend vorausgesetzt. Wie wichtig diese vorgängige Tätigkeit der Urteilskraft und das Zurückgreifen auf das Prinzip der Systematizität an dieser Stelle sind, kann man sich besonders gut dadurch vergegenwärtigen, dass man sich die Motivation für die (oben in Kapitel 4 zurückgewiesene) Interpretation von Plaass anschaut, der versucht, Kants Position so zu rekonstruieren, dass der Begriff der Materie einen apriorischen Ursprung hat.⁸⁶ Die Sorge von Plaass, und auch die vieler Interpreten, die sich ihm in diesem Punkt angeschlossen haben, bestand darin, dass ein empirisch entstandener Begriff an der Basis der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft die Reinheit dieses apriorischen Teils der Naturwissenschaft untergräbt. Plaass befürchtet insbesondere, dass der Materie-Begriff, wenn er empirisch entsteht, sich im Nachhinein durch neue empirische Belege als inadäquat herausstellen könnte, wodurch die auf diesem Begriff basierende metaphysische Grundlage der Naturwissenschaft ausgehebelt werden würde. Er fordert, dass der Transzendentalphilosoph durch ein apriorisches Verfahren die Teilbegriffe des Materie-Begriffes als Bestandteile dieses Begriffes nachweist, denn schon bei der Raumerfü llung z. B. kann man mit gutem Recht fragen, ob denn diese unzertrennlich zum Begriff der Materie gehö re. Der heutige Physiker wü rde das nach Kants Begriffen vermutlich sogar – etwa im Hinblick auf ungeladene Bose-Teilchen – bestreiten. (Plaass 1965, 91)
Was wir hier sehen, ist im Grunde genommen das Induktionsproblem, angewendet auf den Gehalt empirisch entstandener Begriffe. Aufgrund einer aktuellen Beleglage mögen wir bestimmte Merkmale zu den Teilbegriffen eines bestimmten empirisch entstandenen Begriffes zählen, aber es ist nie auszuschließen, dass zukünftige empirische Belege dieses vorläufige Ergebnis unterlaufen, sodass wir den Begriff später an eine neue empirische Beleglage anpassen müssen. Dies könnte entsprechend auch zur Folge haben, dass die metaphysischen Grundsätze, die durch die Anwendung der Kategorien und transzendentalen Grundsätze des Siehe oben, Abschnitte 4.2.4– 6. Siehe oben, Abschnitt 4.2.3.
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Verstandes auf den Begriff der Materie entstehen, im Nachhinein korrigiert werden müssten. Ich habe oben in Abschnitt 4.2.7 dafür argumentiert, dass dies eine Unsicherheit bezüglich der begrifflichen Basis der metaphysischen Anfangsgründe ist, die Kant grundsätzlich in Kauf nehmen muss und auch tatsächlich in Kauf nimmt, weil das Einbringen eines empirisch entstandenen begrifflichen Gehaltes an dieser Stelle die einzige Möglichkeit darstellt, ausgehend von der transzendentalen Struktur des Verstandes einen ersten Schritt in Richtung einer empirischen Naturwissenschaft zu unternehmen. Vor dem Hintergrund der im vorliegenden Kapitel erarbeiteten Ergebnisse können wir nun jedoch sehen, dass diese Unsicherheit durch das Prinzip der Urteilskraft zumindest ein wenig abgefedert wird, auch wenn grundsätzlich ein gewisses Maß an Unsicherheit vorhanden bleibt. Das Prinzip der Urteilskraft ist als ein Prinzip gedacht, das induktive Schlüsse beim Entwurf von empirischen Gesetzeshypothesen auf der Grundlage von empirischen Einzelbelegen und entsprechend auch beim Bilden empirischer Begriffe legitimiert, auch wenn die Ergebnisse induktiver Schlüsse immer fallibel sind.⁸⁷ Entsprechend hat die reflektierende Urteilskraft beim Bilden des Begriffes der Materie aus empirischem Material eine fundierende Rolle, die sich somit sogar bis hinein in die Grundlagen des apriorischen Teils der Naturwissenschaft erstreckt.⁸⁸ Die Grundlegung empirischer Gesetze durch die transzendentalen Gesetze des Verstandes ist also bereits an dieser sehr grundlegenden Stelle enger mit den Leistungen der reflektierenden Urteilskraft verwoben, als dies etwa nach Friedmans Lesart der Fall ist. Ich möchte im nächsten Abschnitt klären, welche Folgen dies für die These hat, dass die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze auf dem Verstand basiert.
6.4.7 Die Fundierung der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze Die Ergebnisse des gesamten Abschnittes 6.4 sollen an dieser Stelle noch einmal etwas genauer sortiert werden, um die Rollenverteilung zwischen Verstand und Urteilskraft bei der Fundierung der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze innerhalb von Kants Ansatz genauer zu bestimmen.
Siehe hierzu oben, Abschnitt 6.3. Für den engen Zusammenhang zwischen dem Bilden empirischer Begriffe und dem Auffinden empirischer Gesetze siehe oben, Abschnitte 3.3.4, 5.3 und 6.1.3. Inwiefern die empirische Begriffsbildung für Kant vereinbar ist mit dem apriorischen Charakter des reinen Teils der Naturwissenschaft, habe ich in Abschnitt 4.2.7 gezeigt.
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Im letzten Abschnitt haben wir gesehen, wie zentral die Rolle der Urteilskraft bei der Herleitung empirischer Naturgesetze ist. Nicht nur ist die Urteilskraft mit ihrem Prinzip der Systematizität unentbehrlich wenn es um das Auffinden empirischer Naturgesetze geht. Der Verstand allein, ohne die Hilfsfunktion der Urteilskraft, ist auch nicht in der Lage, die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite muss nun ausgleichend darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der Funktion der Urteilskraft dennoch in gewisser Weise lediglich um eine Hilfsfunktion handelt, die in erster Linie epistemischer Natur ist und nur aufgrund der spezifischen epistemischen Beschränkungen von uns Menschen erforderlich ist. Obwohl die Funktion der Urteilskraft erforderlich ist, um die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze zu erkennen, so möchte ich in diesem Abschnitt argumentieren, ist es letztlich dennoch der Verstand, der diese Notwendigkeit konstituiert. Ein entscheidender Punkt, der die Rolle der Urteilskraft im Prozess der Erkenntnis der empirischen Gesetze unentbehrlich macht, ist die Tatsache, dass wir nicht die vollständige Erfahrung, wie sie am idealen Endpunkt der Untersuchung vorliegt, antizipieren können.Wir müssen auf der Grundlage einer stets endlichen Anzahl empirischer Beobachtungen operieren und versuchen, daraus ein System von empirischen Naturgesetzen zu entwerfen, das eine möglichst enge Verbindung zu den transzendentalen Gesetzen des Verstandes aufweist. Wie wir oben gesehen haben, ist die Urteilskraft im Zusammenhang mit den dafür erforderlichen induktiven Extrapolationen unentbehrlich. Da wir nie in einem Zustand sind, in dem wir über eine vollständige Erfahrung verfügen, ist die Urteilskraft gleichsam unsere epistemische Krücke für einen induktiven Vorgriff auf Teile des idealen Gesamtsystems. Kant hebt die Tatsache, dass die Urteilskraft zur Erkenntnis der empirischen Gesetze deshalb erforderlich ist, weil wir nicht über eine vollständige Erfahrung verfügen, auf eine indirekte Weise hervor. Dies tut er dadurch, dass er in einer der zahlreichen Formulierungen des Prinzips der Urteilskraft unseren menschlichen Verstand kontrastiert mit einem (möglichen) anderen Verstand, der im Unterschied zu unserem in der Lage ist, der Natur nicht nur die Form vorzuschreiben, sondern zugleich den vollständigen materialen Gehalt der Erfahrung zu erzeugen: Nun kann dieses Prinzip kein anderes sein, als daß, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur (obzwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur) vorschreibt, die besonderen empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte. (KU, AA 5: 180; meine Hervorhebung)
6.4 Die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze
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Wie wir oben in Abschnitt 6.4.1 gesehen haben, ist dies eine der Stellen, die Guyer dazu veranlassen, Kant die These zuzuschreiben, dass das Prinzip der Systematizität die Grundlage für die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze darstellt. Kant betont in dieser Passage, dass die Grundsätze des Verstandes die empirischen Gesetze unterbestimmt lassen und wir deshalb auf das Prinzip der Systematizität zurückgreifen müssen. Interessant ist nun jedoch Kants genaue Formulierung dieses Prinzips an dieser Stelle, denn er drückt das Prinzip so aus, dass es uns vorschreibt, uns die Natur so vorzustellen, als ob ein anderer Verstand als unserer der Natur die empirischen Gesetze vorgeschrieben hätte. Guyer, der die Notwendigkeit der empirischen Gesetze ausschließlich auf ihren systematischen Zusammenhang miteinander zurückführen möchte, erwähnt Kants Einführung dieses fiktiven Verstandes und deutet folgende Überlegung an: This [formulation of the principle of reflecting judgment] obviously differs from the formulation of the principle in the first draft in making explicit Kant’s assumption that all laws must originiate in mind – what we might think of as a profoundly Neoplatonic assumption underlying Kant’s entire philosophy – so if some laws do not originate in our mind, they must be thought of as if they originate in a mind more capacious than our own. But in context, it also makes clear that laws must be thought of as part of a system in order to give them the necessity they need in order to be laws but cannot otherwise possess. (Guyer 2008, 216 f.)
Im ersten Satz greift Guyer Kants Bemerkung bezüglich des vorgestellten anderen Verstandes auf und erklärt diese Denkfigur durch die Feststellung, dass Kant offenbar allgemein Gesetzmäßigkeit als etwas versteht, was auf einen Verstand zurückzuführen sein muss. Dieser Gedanke, der eigentlich erneut dafür spricht, Kant so zu verstehen, dass Systematizität alleine nicht hinreichend für die Notwendigkeit der empirischen Gesetze ist, sondern dass eine Verbindung der empirischen Gesetze zu einem Verstand ausschlaggebend ist, wird von Guyer dann jedoch im zweiten Satz relativiert und im Folgenden von ihm nicht weiter berücksichtigt. Ich denke jedoch, dass Kants Denkfigur des anderen Verstandes an dieser Stelle ernster genommen werden sollte. Zunächst einmal ist natürlich klar, dass wir Kant nicht so verstehen dürfen, dass er behaupten will, dass es einen solchen anderen Verstand, der der Gesetzgeber der empirischen Gesetze ist, tatsächlich gibt. Dies wird deutlich durch die Formulierung, dass wir uns die Natur so vorstellen sollen, als ob es einen solchen Verstand gäbe. Die Antwort auf die Frage, woher die empirischen Gesetze ihre Notwendigkeit beziehen, besteht also sicherlich nicht darin, dass es diesen anderen Verstand tatsächlich gibt und er durch seine gesetzgebende Kraft für die Notwendigkeit der empirischen Gesetze aufkommt. Dennoch glaube ich, dass
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man die Stelle so verstehen kann, dass sie zeigt, dass Kant zufolge ein Verstand der Grund für die Notwendigkeit der empirischen Gesetze ist – unser Verstand.⁸⁹ Die Überlegung dahinter ist die Folgende: Die empirischen Gesetze sind deshalb durch die Struktur unseres Verstandes unterbestimmt, weil unser Verstand als ein diskursiver Verstand nur die Form der Erfahrungswelt, also die allgemeine Gesetzmäßigkeit, nicht jedoch die Materie und somit die konkreten empirischen Gesetze der Natur hervorbringen kann. Wenn wir uns jedoch einen anderen, nicht-diskursiven Verstand vorstellen, der auch die Materie der Erfahrung hervorbringt⁹⁰, dann können wir uns die Natur so vorstellen, als ob dieser Verstand die transzendentalen Gesetze kraft dieser Fähigkeit zu empirischen Gesetzen spezifiziert. Ausgehend von den transzendentalen Gesetzen erzeugt er also ein System von Gesetzen, in dem die transzendentalen Gesetze an der Spitze stehen und die von diesem Verstand ebenfalls erzeugten empirischen Gesetze als Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze enthalten sind. Dabei sollen wir uns diesen Verstand so vorstellen, dass er diese Spezifizierung in einer Weise vornimmt, die zweckmäßig für unsere Erkenntnisinteressen ist („zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen“): Wir sollen uns die Natur so vorstellen, als ob dieser andere Verstand die transzendentalen Gesetze unseres Verstandes so zu empirischen Gesetzen spezifiziert hätte, dass sich insgesamt ein System ergibt, das für uns Menschen gut erfassbar ist. Wenn wir uns die Natur so vorstellen, als ob sie von einem Verstand erschaffen worden wäre, der sie hinsichtlich ihres materialen Gehaltes auf unsere Erkenntnisinteressen zugeschnitten hat, bedeutet dies, dass wir sie uns so vorstellen, als wenn sich der materiale Gehalt unserer Erfahrung so organisieren ließe, dass sich die empirischen Gesetze der Natur innerhalb eines Systems als Spezifizierungen unserer Verstandesgrundsätze darstellen lassen. Es gibt zwar keine Garantie für die Wahrheit der im Prinzip der Urteilskraft enthaltenen Voraussetzung, dass die transzendentalen Gesetze in der Natur derart zu empirischen Gesetzen spezifiziert sind, dass sich ein System von Gesetzen ergibt, das für uns Gemeint ist damit natürlich nicht ein einzelner menschlicher Verstand, sondern dass, was man in Kants Terminologie als den menschlichen Verstand überhaupt bezeichnen könnte. Es handelt sich hierbei um einen intuitiven Verstand, den Kant in der „Dialektik der teleologischen Urteilskraft“ erneut ins Spiel bringt. Da ein solcher intuitiver Verstand auch die Materie der Erfahrung und nicht nur ihre Form hervorbringt, gilt für ihn, dass „jene Zufälligkeit der Zusammenstimmung der Natur in ihren Produkten nach b e s o n d e r e n Gesetzen zum Verstande nicht angetroffen wird“ (KU, AA 5: 406; Hervorhebung im Original). Dadurch, dass dieser Verstand nicht nur die transzendentalen, sondern – im Unterschied zum menschlichen Verstand – auch die empirischen Gesetze vollständig selbst hervorbringt, kann er also sowohl die Systematizität der Natur hinsichtlich ihrer empirischen Gesetze als auch die Anbindung dieser Gesetze an die transzendentalen Gesetze garantieren.
6.4 Die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze
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prinzipiell erfassbar ist. Aber es gibt zumindest eine berechtigte Hoffnung, die sich darauf gründet, dass uns in der Erfahrung des Schönen die Natur zumindest in einzelnen Objekten so entgegentritt, als wäre sie für unsere Erkenntnisvermögen angemessen gestaltet (s.o., Abschnitt 6.2). Und wenn sich diese Hoffnung tatsächlich bewahrheitet, dann bedeutet dies, dass der unendliche Prozess unserer Untersuchung der Natur sich einem idealen Endpunkt annähert, der in einem Erfahrungssystem besteht, dem zufolge die empirischen Gesetze der Natur in einer systematischen Ordnung als Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze des menschlichen Verstandes erkannt werden können. Entscheidend ist nun, dass dies nach Kants Konzeption von Wirklichkeit (s.o., Abschnitt 3.4.3) bedeuten würde, dass die empirischen Gesetze tatsächlich Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze unseres Verstandes sind, denn dieser Konzeption zufolge sind die im idealen System am Ende der Untersuchung enthaltenen Gesetze die tatsächlichen Gesetze der Natur. Die Tatsache, dass die tatsächlichen Gesetze Spezifizierungen der transzendentalen Gesetzes des menschlichen Verstandes sind, ist es, was ihre Notwendigkeit konstituiert. Die Notwendigkeit wird also letztlich (zumindest in dem Fall, dass sich die rationale Hoffnung auf eine systematische Verfasstheit der Natur erfüllt) durch unsere Verstandesprinzipien grundgelegt. Auch wenn wir nie imstande sein werden, das vollständige System vorzulegen, durch das wir diese Notwendigkeit endgültig einsehen könnten, ist es doch so, dass das Prinzip der Urteilskraft und die durch die Erfahrung des Schönen gegebene rationale Hoffnung uns die Möglichkeit geben, diejenigen Gesetze, die Bestandteil unseres noch unvollständigen, vorläufigen Systems sind, vorläufig als notwendig aufzufassen.⁹¹ Die Einbettung eines bestimmten Gesetzes in unser vorläufiges System ist aufgrund der Vorläufigkeit und Unvollständigkeit dieses Systems keine Garantie für die Notwendigkeit des empirischen Gesetzes, aber zumindest gibt sie uns vor dem Hintergrund des Prinzips der Urteilskraft Kant zufolge eine gewisse fallible Rechtfertigung für die Annahme, dass sich dieses Gesetz am (nie erreichbaren) Ende der Untersuchung als Teil des idealen Systems der Erfahrung erweisen wird und entsprechend in diesem idealen System dann durch eine Verbundenheit mit den transzendentalen Gesetzen des Verstandes mit Notwendigkeit gelten wird. Während es also der Verstand ist, der für die Konstituierung der Notwendigkeit der empirischen Gesetze im Rahmen der idealen Theorie verantwortlich zeichnet, ist die Urteilskraft vor dem Hintergrund der In diesem Sinne heißt es in der Analytik der Grundsätze in der Kritik der reinen Vernunft: „Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundsätze des empirischen Verstandesgebrauchs betrachtet werden, führen zugleich einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die Vermutung einer Bestimmung aus Gründen, die a priori und vor aller Erfahrung gültig sein, bei sich.“ (KrV, A 159 / B 198)
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Unvollständigkeit unserer bisherigen Erfahrung für die Rechtfertigung notwendiger empirischer Gesetze unverzichtbar.
6.5 Fazit In diesem Abschnitt soll ein Fazit gezogen werden, das die Ergebnisse dieses Kapitels in den Gesamtzusammenhang der gesamten Arbeit einordnet. Insbesondere werden die in der Einleitung dieser Arbeit aufgeworfenen Grundfragen zur Notwendigkeit empirischer Naturgesetze anhand der Ergebnisse dieses Kapitels noch einmal aufgegriffen. Dabei wird sich ein Gesamtbild von Kants Konzeption der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze ergeben, das auch auf die Ergebnisse der anderen Kapitel des II. Teils dieser Arbeit zurückgreift. Zunächst möchte ich die Frage aufwerfen, wodurch Kant zufolge die Notwendigkeit der empirischen Naturgesetze konstituiert wird. Wie wir in den letzten Abschnitten gesehen haben, besteht Kants Antwort auf diese Frage darin, dass den empirischen Naturgesetzen dadurch Notwendigkeit zukommt, dass sie im idealen System am Ende der Untersuchung der Natur, innerhalb eines Systems eingebettet, Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze des Verstandes darstellen. Die Notwendigkeit ist also letztlich ihrem Zusammenhang mit den Gesetzen des Verstandes zu verdanken.⁹² Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Folgefrage, wie dieser Zusammenhang mit den Gesetzen des Verstandes genau den empirischen Gesetzen Notwendigkeit verleiht. Diese Frage wiederum hängt eng zusammen mit einer anderen Frage, die wir hier hinzuziehen müssen, nämlich der, was es Kant zufolge eigentlich heißt, dass empirischen Gesetzen Notwendigkeit zukommt. Ich werde nun auf zwei mögliche Antworten auf diese Frage eingehen, die, wie bereits in Abschnitt 3.2.3 gesehen, für Kant eng miteinander zusammenhängen dürften. Für beide dieser Antworten darauf, was im Zusammenhang mit empirischen Naturgesetzen unter Notwendigkeit verstanden werden kann, werde ich dann erläutern, inwiefern ein Zusammenhang der empirischen Gesetze mit den transzendentalen Gesetzen des Verstandes den empirischen Gesetzen die jeweilige Art von Notwendigkeit verleiht. Die entsprechende Unterscheidung, auf die bereits in Abschnitt 3.2.3 eingegangen wurde, ist diejenige zwischen einer notwendigen Verknüpfung, die einem empirischen Kausalgesetz oder einem empirischen Wechselwirkungsgesetz unterliegt, und einer Notwendigkeit dieses Gesetzes selbst. Wenn beispielsweise eine
Der Rolle der Urteilskraft wende ich mich noch einmal gegen Ende dieses Fazits zu.
6.5 Fazit
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Ursache A eine Wirkung B zur Folge hat, dann unterliegt die entsprechende Kausalverknüpfung Kant zufolge stets einem empirischen Kausalgesetz. Ursache und Wirkung sind in dem Sinne notwendig miteinander verknüpft, dass das Auftreten von A, gegeben das empirische Kausalgesetz, das Auftreten von B mit Notwendigkeit nach sich zieht. Hierbei handelt es sich um eine Notwendigkeit der Verknüpfung relativ zu einem Kausalgesetz. Davon kann man zunächst die Frage unterscheiden, ob dieses Kausalgesetz selbst mit Notwendigkeit gilt. Kant scheint, wie gesagt, beide Fragen nicht klar voneinander zu unterscheiden und geht offenbar davon aus, dass eine notwendige Verknüpfung nur dadurch bestehen kann, dass die Verknüpfung einem seinerseits notwendigen empirischen Gesetz unterliegt.⁹³ Ich werde diese beiden Fragen hier trotzdem getrennt betrachten. Was es Kant zufolge bedeuten kann, dass ein solches empirisches Gesetz selbst mit Notwendigkeit gilt, obwohl es durch die transzendentalen Gesetze des Verstandes unterbestimmt ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie Kant sich die Fundierung dieser Notwendigkeit eines empirischen Gesetzes durch die transzendentalen Gesetze vorstellt. Beginnen wir also mit dieser Fundierung der Notwendigkeit der empirischen Gesetze, bevor wir uns dann anschauen, inwiefern auch die notwendigen Verknüpfungen, die diesen empirischen Gesetzen unterliegen, einer Fundierung durch die transzendentalen Gesetze des Verstandes bedürfen. Das Modell für ein Verständnis der Fundierung einer Notwendigkeit der empirischen Gesetze durch den Verstand bietet die nach Friedmans Interpretation exemplarische Herleitung des Gravitationsgesetzes. Dieses geht Friedmans Interpretation zufolge hervor aus den empirisch ermittelten Keplerschen Gesetzen, die anhand der Gesetze der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft – insbesondere der Gesetze der Mechanik – in das Gravitationsgesetz umgewandelt werden (s.o., Abschnitt 4.6.3). Die Gesetze der metaphysischen Anfangsgründe wiederum gehen hervor aus einer Anwendung der transzendentalen Grundsätze des Verstandes auf den Begriff der Materie. Wie wir in Abschnitt 4.6.5 gesehen haben, erläutert Friedman dann vor dem Hintergrund dieser Herleitung die Notwendigkeit des Gravitationsgesetzes anhand von Kants Konzeption von Notwendigkeit im Rahmen der Postulate des empirischen Denkens überhaupt. Die drei Postulate sind diejenigen Grundsätze des Verstandes, die den drei Modalitäts-Kategorien zugeordnet sind, wobei das dritte Postulat die Kategorie der Notwendigkeit charakterisiert. Friedman argumentiert, dass das Gravitationsgesetz aufgrund der von ihm rekonstruierten Herleitung anhand der Gesetze der Mechanik als notwendig im Sinne des dritten Postulates des
Dieser Zusammenhang kam oben in Abschnitt 3.4.2 zur Sprache.
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empirischen Denkens überhaupt (und damit im Sinne der Kategorie der Notwendigkeit) verstanden werden kann. Nach dem dritten Postulat ist nämlich dasjenige notwendig im Sinne der Kategorie der Notwendigkeit, was gemäß den allgemeinen Bedingungen der Erfahrung mit dem durch die Erfahrung als wirklich Erkannten verknüpft ist (KrV, A 218 / B 266).Wenn man dies so auslegt, dass es sich bei den allgemeinen Bedingungen der Erfahrung um die Analogien der Erfahrung und die unter ihnen stehenden Gesetze der Mechanik handelt und dass die empirisch ermittelten Keplerschen Gesetze etwas sind, was durch die Erfahrung als wirklich erkannt wurde, dann ergibt sich tatsächlich, dass das Gravitationsgesetz in dem Sinne notwendig ist, dass es gemäß den Gesetzen der Mechanik aus den als wirklich erkannten Keplerschen Regeln hergeleitet wurde.⁹⁴ Dieselbe Idee kann auch im Rahmen von Plaass’ Interpretation angebracht werden, nach der das Gravitationsgesetz dadurch entwickelt wird, dass ein zuvor aus transzendentalen Überlegungen hervorgegangenes Rumpfgesetz durch empirische Messungen, die der Bestimmung der Gravitationskonstante dienen, ergänzt wird (s.o., Abschnitt 4.6.6). Auch in diesem Fall ist das Gravitationsgesetz ein Ergebnis davon, dass bestimmte empirisch erhobene Belege als gegeben betrachtet werden und dass auf dieser Grundlage zusammen mit den transzendentalen Gesetzen des Verstandes das entsprechende Gesetz mit Notwendigkeit folgt. Somit liegt im Rahmen von Kants Ansatz ein Verständnis davon vor, inwiefern das Gravitationsgesetz, trotz eines in es eingegangenen empirischen Gehaltes, als notwendiges Gesetz verstanden werden kann. Es handelt sich um eine Notwendigkeit relativ zu diesem empirischen Gehalt. ⁹⁵ Interessant ist nun, dass im angestrebten idealen System am Ende der Untersuchung, dessen Inhalt darüber entscheidet, welches die tatsächlichen empirischen Gesetze der Natur sind, im optimalen Fall nicht nur das Gravitationsgesetz, sondern auch alle anderen empirischen Gesetze eine entsprechende Anbindung an die transzendentalen Gesetze erhalten haben. Sofern die empirischen Gesetze im Rahmen des idealen Wir haben in Abschnitt 4.6.5 gesehen, dass es sich hierbei streng genommen nicht um eine direkte Auslegung der Postulate handelt, sondern dass Friedman die Postulate für diese Anwendung auf die Herleitung des Gravitationsgesetzes in einer bestimmten Weise umdeuten beziehungsweise auf eine höhere Ebene heben muss. Es handelt sich jedoch um eine durchaus wohlmotivierte Erweiterung von Kants Ansatz, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil hierdurch der im gegenwärtigen Zusammenhang im Vordergrund stehende Punkt der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze auf eine Weise geklärt werden kann, die innerhalb des Rahmens von Kants Ansatz folgerichtig erscheint. Analoges gilt, wie in Abschnitt 4.2 ausführlich entwickelt, auch schon für die Gesetze der metaphysischen Anfangsgründe, in die der Gehalt des empirischen Begriffes der Materie eingegangen ist.
6.5 Fazit
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Systems am Ende der Untersuchung als Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze des Verstandes betrachtet werden können, kann gesagt werden: Die empirischen Gesetze gelten, gegeben bestimmte empirische Begriffe oder empirisch erhobene Regularitäten (die am Ende der Untersuchung im Rahmen der allumfassenden Erfahrung vollständig vorliegen), vor dem Hintergrund der transzendentalen Gesetze des Verstandes mit Notwendigkeit. In diesem Sinne kommt den empirischen Gesetzen im Rahmen von Kants Ansatz also eine sozusagen empirisch bedingte Art von Notwendigkeit zu, auch wenn sie aus den transzendentalen Gesetzen allein nicht deduktiv gefolgert werden können. Kommen wir nun zu der Notwendigkeit der Verknüpfungen, die den empirischen Gesetzen unterliegen. Bei dieser Notwendigkeit der Verknüpfungen handelt es sich um eine objektive Notwendigkeit, das heißt um eine Notwendigkeit, die den Verknüpfungen zwischen den Objekten unserer Erkenntnis und nicht nur den Verknüpfungen zwischen unseren Vorstellungen von den Objekten zukommt.⁹⁶ Dies ist ein Punkt, der Kant sehr wichtig ist und den er wiederholt gegen Hume betont (s.o., Abschnitte 1.4.3, 3.3.7 und 3.4.1). Die notwendigen Verknüpfungen zwischen den Objekten der Erkenntnis kommen, ganz im Sinne der kopernikanischen Wende, dadurch zustande, dass wir als epistemische Subjekte durch die Anwendung von empirischen Gesetzen den Objekten unserer Erkenntnis eine Zeitordnung auferlegen. Dies tun wir zunächst nur vorläufig mit Gesetzeshypothesen, die später anhand neuer Erfahrungen vor dem Hintergrund des Prinzips der Systematizität revidiert werden können. Die tatsächlichen empirischen Gesetze der Natur sind letztlich diejenigen, die nach allen Revisionsprozessen am Ende der Untersuchung im idealen System enthalten sind (s.o., Abschnitt 3.4.3). Bei der Auferlegung einer objektiven Zeitstruktur handelt es sich also letztlich um eine Idee, deren Verwirklichung wir nie erreichen, sondern der wir nur entgegenstreben können. Um in diesem Sinne der Natur durch die Anwendung von empirischen Gesetzen eine objektive Zeitordnung auferlegen zu können, müssen wir den Analogien der Erfahrung zufolge die drei Relationskategorien (Substanz, Kausalität und Gemeinschaft) auf die Objekte unserer Vorstellungen anwenden. Entscheidend ist hierbei, dass der Begriff der objektiven notwendigen Verknüpfung als Teilbegriff in allen drei Relationskategorien enthalten ist (Prol, AA 4: 310 f.). Dieser
Wir haben in Abschnitt 3.4.1 gesehen, dass es auch im Rahmen von Kants Ansatz eine subjektive Form der Notwendigkeit gibt. Anders als bei Hume ist es nach Kant allerdings so, dass die subjektive Notwendigkeit (bei der es sich um eine Art Nötigung handelt, unsere subjektiven Wahrnehmungen in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen) auf einer Anwendung des Begriffes der objektiven notwendigen Verknüpfung basiert, dass also der Begriff der objektiven notwendigen Verknüpfung für Kant grundlegender ist.
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6 Die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft
Teilbegriff, der also insbesondere in den beiden Relationskategorien der Kausalität und der Gemeinschaft und damit auch in jeder empirischen Gesetzeshypothese zumindest implizit enthalten ist, ist für Kant das entscheidende Merkmal für ein wirkliches Gesetz im Unterschied zu einer bloßen Regel. Durch diesen Teilbegriff stellt jede Anwendung der Relationskategorien und damit auch jede Anwendung eines empirischen Naturgesetzes auf die Objekte unserer Vorstellungen zugleich eine Anwendung des Begriffes der objektiven notwendigen Verknüpfung dar. Nun gilt (hierin folgt Kant Hume) dass der Begriff der objektiven notwendigen Verknüpfung sich nicht aus empirischem Material ableiten lässt. Es ist (hierdurch setzt sich Kant von Hume ab) ein Begriff, der nur a priori aus dem Verstand entspringen kann. Kant zufolge entspringt er zusammen mit den drei ihn enthaltenen Relations-Kategorien aus den ihnen zugrunde liegenden logischen Funktionen des Verstandes (s.o., Abschnitt 3.3.7). Die Analogien der Erfahrung, als diejenigen transzendentalen Grundsätze, die diesen drei Kategorien zugeordnet sind, sind die höchsten Gesetze, in denen der Begriff der objektiven notwendigen Verknüpfung enthalten ist. Dadurch, dass die empirischen Naturgesetze sich im idealen System am Ende der Untersuchung als Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze des Verstandes und insbesondere der Analogien der Erfahrung zeigen, kann also insbesondere eine Verbindung hergestellt werden zwischen dem Begriff der objektiven notwendigen Verknüpfung, der in den empirischen Naturgesetzen enthalten ist, und dem aus dem Verstand entsprungenen apriorischen Begriff der objektiven notwendigen Verknüpfung, der in den drei Analogien der Erfahrung enthalten ist. Insofern kann die Verbindung der empirischen Gesetze mit den transzendentalen Gesetzen des Verstandes innerhalb des idealen Systems sichern, dass der in den empirischen Gesetzen enthaltene Begriff der objektiv notwendigen Verknüpfung nicht „als angedichtet und für bloßen Schein zu halten“ (Prol, AA 4: 311) ist, sondern tatsächlich Bestandteil dieser empirischen Gesetze sein kann. Die Verbindung mit den transzendentalen Gesetzen verleiht den empirischen Gesetzen also auch diese zweite Art von Notwendigkeit. Vor diesem Hintergrund kann abschließend noch einmal die (im Prinzip in Abschnitt 6.4.7 vorgreifend beantwortete) Frage danach aufgegriffen werden, wie die Notwendigkeit empirischer Gesetze gerechtfertigt werden kann. Da die Notwendigkeit der empirischen Gesetze, wie gesehen, daher rührt, dass sie sich am Ende der Untersuchung im Rahmen der idealen Theorie als Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze erweisen, kann die Frage nach der Rechtfertigung der Notwendigkeit dieser Gesetze wie folgt umformuliert werden: Wie lässt sich die Annahme rechtfertigen, dass ein hypothetisch angenommenes Gesetz auch tatsächlich am Ende der Untersuchung im idealen System enthalten ist? Kants Antwort hierauf lautet, dass wir gemäß dem Prinzip der Systematizität eine solche
6.5 Fazit
401
Annahme dadurch fallibel rechtfertigen können, dass wir das hypothetisch angenommene Gesetz in unser vorläufiges, noch unvollständiges System von Gesetzen einbetten. Wenn dies gelingt, besteht Anlass zu der rationalen Hoffnung, dass das angenommene Gesetz auch am Ende der Untersuchung im idealen System enthalten sein wird und somit als Spezifizierung der transzendentalen Gesetze des Verstandes tatsächlich mit Notwendigkeit gilt.
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Personenregister Allison, Henry E. 4, 70, 107 – 109, 113, 130, 136, 139, 156, 164, 288 – 290, 292 f., 302, 305, 317 f., 329 – 333, 351 f., 364, 367, 369 Anderson, R. Lanier 158 f., 183 Aschenberg, Reinhold 57 Basile, Giovanni Pietro 18 Beattie, James 27 f., 48 – 50 Beauchamp, Tom L. 25 Beck, Lewis White 21, 33, 40, 43, 46, 48 f. Bennett, Jonathan 57 Bielefeldt, Heiner 315, 360 Bird, Graham 263 Brandt, Reinhard 21, 24, 27, 49, 51, 98, 302 Briesen, Jochen 304 Buchdahl, Gerd 4, 10 f., 107, 292, 369, 373 Carl, Wolfgang 117 Carrier, Martin 238 f., 249, 251 Chignell, Andrew 15, 314 – 316 Cohen, I. Bernard 264 Cramer, Konrad 194 – 198 Crusius, Christian August 43, 73 Day, J. P. 339 De Pierris, Graciela 22, 40, 43, 46, 267 Descartes, René 60 f., 68 Engelhard, Kristina 3, 193, 292, 374 – 377 Engstrom, Stephen P. 59, 86 Erdmann, Benno 43, 71 Evren, Şahan 15, 308, 361 f. Falkenburg, Brigitte 24 Floyd, Juliet 41, 336, 339, 364, 367 Fogelin, Robert J. 29, 33 – 35 Förster, Eckart 345, 356 Forster, Michael 9, 56 – 65, 67 f., 70, 74 – 76, 79 – 81, 89 Freudiger, Jürg 113, 164 Friedman, Michael 4, 11, 13, 16 f., 22, 40, 43, 46, 107 – 109, 131 f., 134 – 136, 138, https://doi.org/10.1515/9783110697209-010
189, 198 – 200, 203, 206 – 211, 214, 217, 219 – 223, 225, 227 – 233, 237 – 242, 246 – 248, 250 – 257, 259 – 280, 283 – 290, 293, 325, 373 f., 378 – 380, 382 – 389, 391, 397 f. Garrett, Don 34 Gawlick, Günter 23 – 28 Ginsborg, Hannah 302, 334, 338 Gloy, Karen 203 f. Göhner, Julia F. 374 Goldberg, Nathaniel Jason 310 Grüne, Stefanie 117, 119 – 123, 349 Guyer, Paul 4, 9, 11, 33, 35, 40 f., 56 – 68, 70, 74 – 76, 79 f., 84, 89, 100, 110, 129 f., 134, 138 f., 145 f., 148, 150 f., 155 – 157, 160, 162 f., 292, 327, 330 f., 336, 338, 340 – 342, 347 – 349, 358, 369 f., 388, 393 Haag, Johannes 115, 120, 125 Hamann, Johann Georg 26 – 28, 38, 50 f., 53, 55, 71 Hatfield, Gary 9, 56 – 59, 67 – 76, 79 f., 83, 92 Heidemann, Dietmar Hermann 60 Henrich, Dieter 57, 117 Hoeppner, Till 98 Höffe, Ottfried 93 Hoppe, Hansgeorg 57, 125, 128, 164, 204 Horstmann, Rolf-Peter 295, 297, 301 – 303, 308, 312, 330 Hume, David 7 – 10, 21 – 60, 62 – 81, 83 f., 88, 91 f., 95 – 97, 102 f., 107, 120, 132, 135, 137, 151, 160 – 163, 165 – 169, 171 – 175, 179 f., 283, 364 f., 389, 399 f. Kemp Smith, Norman 21, 27, 33, 295 Kepler, Johannes 2, 222, 264 – 266, 269, 271 – 274, 277 f., 283 – 286, 385 – 388, 397 f. Kitcher, Philip 3 f., 109, 175, 288, 292, 295, 369, 373 f.
Personenregister
Kraus, Christian Jakob 27 f. Kreimendahl, Lothar 21, 23 – 28, 43, 45, 47 f., 51 Krüger, Lorenz 98 Kuehn, Manfred 23 – 28, 46, 51
Reich, Klaus 98 Rescher, Nicholas 339 Rohs, Peter 152, 175 Rorty, Richard 57 Rueger, Alexander 15, 308, 361 f.
Lipps, Theodor 172 Longuenesse, Béatrice 107, 109, 119, 138, 158 f., 164, 178, 288, 329, 331, 333 Löwisch, Dieter-Jürgen 72
Scholz, Oliver R. 339 Schönecker, Dieter 359 Schopenhauer, Arthur 151 Seide, Ansgar 369 Seidel, Markus 374 Stan, Marius 239, 248 Stang, Nicholas F. 179 – 181, 183 f. Stern, Robert 57, 59, 76 – 81, 83 Strawson, Peter F. 142 – 145, 150 Stroud, Barry 29, 32 f., 36, 57 Sulzer, Johann Georg 25
Melnick, Arthur 101, 110, 117, 145, 167, 175 – 177, 195 Mertens, Helga 329 f. Miller, Alfred E. 283, 389 Miller, Maria G. 283, 389 Nadler, Josef 26 Newton, Isaac 2, 13, 33, 108, 189, 199, 222 f., 229, 239, 248 – 252, 255, 261 – 274, 278, 285, 287, 373, 384 f., 387 Norton, David Fate 25, 36 Norton, Mary J. 36 O’Shea, James R.
310
Pistorius, Hermann Andreas 25 Plaass, Peter 12 f., 197 f., 201 – 206, 211 – 216, 218, 263, 267, 279 – 288, 290, 388 – 390, 398 Pollok, Konstantin 25, 93, 164, 193, 222, 235, 239, 256 f., 265, 280 f. Prauss, Gerold 164 Rang, Bernhard
175
411
Thöle, Bernhard 53 f., 86, 90, 98 f., 101, 117, 121 f., 138 f., 150 f., 164, 305 f., 310 f., 314 Vaihinger, Hans 21, 27, 40, 49, 56 f., 74, 82, 86, 89 – 91, 96, 101, 195 Walker, Ralph C. S. 57, 198 Warda, Arthur 25 Warren, Daniel 220, 233 Watkins, Eric 7, 30, 59, 150 f., 157, 203, 212, 239, 243 – 245, 247 Wiesing, Lambert 25, 34 Wolff, Michael 98, 161 f., 164 Wolff, Robert P. 25, 27, 40, 49, 57, 70 Wood, Allen W. 359
Sachregister Affinität (siehe auch Kontinuität) 300, 322, 336, 354, 386 Alltagserfahrung (siehe auch Alltagswissen) 10, 58, 73 f., 92, 102 Alltagswissen (siehe auch Alltagserfahrung) 70 Analogien der Erfahrung (siehe auch Grundsätze des Verstandes) 101, 108 – 110, 112, 114, 116, 127 f., 139, 161, 179, 194, 229, 235, 240 f., 243, 275, 277 f., 286, 398 – 400 – Erste Analogie der Erfahrung 128 – 131, 160, 241 – 244 – Zweite Analogie der Erfahrung 6, 10 f., 30, 48, 52, 70, 101, 104, 107 – 187, 188, 206, 244, 246, 276 f., 288, 311, 323, 331, 335, 379 – Dritte Analogie der Erfahrung 124, 128, 140, 160, 179, 242, 247, 254 f., 323 analytische Methode 59, 82, 84 – 87, 161 f. analytische Urteile 13, 44, 211, 213 – 215, 226 f., 240, 243, 286 Anschauung 98 – 100, 113 – 118, 120 – 122, 124 f., 128, 146, 148, 154, 194 – 196, 207, 217 f., 220, 227, 229, 231, 275, 298, 309, 315 f., 318, 347 f., 356 – 358 – Anschauungsformen (siehe auch Raum, Zeit) 87, 113, 117, 126 f., 194 f., 202 f., 276 – empirische Anschauung (siehe auch Wahrnehmung) 113 – 116, 119 f., 124, 194, 202, 334, 349, 356 f. – reine Anschauung 86, 116, 119, 208 f., 211, 218 f., 221, 223, 226 – 231, 263, 356 Antinomie der reinen Vernunft 22 – 24, 51, 61, 67, 180, 359 Bewegung 30, 44 f., 47, 140, 154, 197 – 201, 203, 205, 207 – 209, 215 f., 221 – 223, 228 – 233, 235 – 240, 244, 246 – 248,
https://doi.org/10.1515/9783110697209-011
250 – 254, 256 – 266, 268 – 274, 277, 284 f., 307, 379, 385 – 387 – geradlinige Bewegung 199, 246, 249, 256 – 259, 272, 284 – gleichförmige Bewegung 230, 246, 249 – kreisförmige Bewegung 199, 230, 258 f., 262, 272, 284 – scheinbare Bewegung 13, 256 f., 262 – wirkliche Bewegung 13, 250, 256, 258 f., 261 – 263, 265 – 269, 271 f., 274, 277, 284, 388 Biologie 193 Chemie 189, 193, 287, 371 Common Sense 51, 67, 72 Deduktion 59, 73, 75, 89, 101, 110, 178, 295, 308 – 314, 317, 320, 350, 357, 362, 366 f. – metaphysische Deduktion 98, 161 f., 168 f. – transzendentale Deduktion 14 – 16, 59, 70, 73, 86, 89, 98 f., 101, 109 f., 114, 116, 132, 134, 148, 162 f., 168 f., 178, 224, 295, 298, 302 f., 308 f., 311 f., 314, 316 f., 319 f., 326, 338 – 342, 350, 353, 361 – 364, 366 f. – A-Deduktion 1, 112, 115 f., 120, 125 – 127, 138, 148, 154 f., 181, 323, 348 f. – B-Deduktion 4, 100 f., 113, 137, 163, 168, 240, 286, 368 Einbildungskraft 50, 52, 62, 115, 117 – 120, 123, 146, 167 f., 173, 207, 346 – 350, 352, 358 f., 361 Eindruck 29 – 32, 36 – 39, 41, 50 – 52, 62, 120, 166, 168, 171 f. – Reflexionseindruck 37, 39, 50, 171, 173 – Sinneseindruck 36 f. Empfindung 113, 116 – 120, 122 – 126, 148, 154, 172, 179, 194 f., 275 Empirismus 66, 73, 75
Sachregister
Erfahrung des Schönen 15, 294, 326, 343 – 345, 351 f., 356, 361, 363 f., 366 f., 395 Erfahrungsurteile 73, 163 – 165, 213 Gemeinschaft (siehe auch Wechselwirkung) 8, 64, 75, 110, 112, 124, 136, 161, 219, 247, 254, 260, 269, 399 f. Gesetze der Mechanik 235, 239 – 241, 243, 246, 272, 275, 277 f., 286 f., 385, 397 f. – Erstes Gesetz der Mechanik 239, 241 – 244 – Zweites Gesetz der Mechanik 151, 205 f., 244, 246, 258, 260, 265 f., 272, 274, 379 – Drittes Gesetz der Mechanik 239, 246 – 250, 252 – 255, 260, 266, 268 f., 272, 274 Gesetz (siehe auch Naturgesetz) 1 – 7, 10 – 14, 16, 49, 85 – 87, 89, 93, 100 – 103, 107 – 109, 129 – 138, 149, 152 f., 156, 160, 164 – 166, 174 – 179, 181 – 189, 191 – 193, 205, 217, 221, 226, 235, 239 f., 243, 246 f., 249 – 253, 255, 265, 273 – 276, 278 f., 281 – 284, 286 f., 289 f., 292 f., 296, 301, 303 – 307, 310, 313, 321 f., 324 f., 327 – 336, 338 – 342, 344 f., 351 f., 354 f., 359 f., 362, 364 – 386, 388 f., 391 – 401 – Gesetzesannahme (siehe auch Gesetzeshypothese) 16, 109, 124, 149, 156 – 158, 184 – 186, 306, 341, 366, 387 – Gesetzeshypothese (siehe auch Gesetzesannahme) 11, 146, 149, 152, 155, 158 f., 163, 170, 173 – 177, 184 f., 187, 288, 306, 372, 383, 391, 399 f. Gleichförmigkeit 335, 354, 380 Gleichförmigkeitsprinzip 35, 40 Gott 23, 61, 65, 68 f., 92, 296 f., 310, 322 Gravitationsgesetz 2, 13, 16, 108, 136, 153, 189, 250, 255 f., 262 – 265, 267 f., 270 – 275, 277 – 280, 282 – 288, 290, 293, 382 – 385, 387 – 389, 397 f. Grenzziehung 70, 75, 83, 92 Grundsätze des Verstandes (siehe Verstandesgrundsätze) Hoffnung 51, 303, 333 f., 340 – 344, 352, 355, 360 f., 363
413
rationale Hoffnung (auch: berechtigte Hoffnung) 16, 327, 339, 342 – 344, 352 f., 355 f., 361, 364, 366 f., 395 Homogenität 298 – 300, 302 f., 308, 313 f., 317, 319, 337, 353, 386 Idee der Systematizität (siehe auch Prinzip der Systematizität) 296, 304, 310, 312, 314, 316 – 320, 322, 326 f., 337, 341, 343, 352 – 355, 357 Ideen (siehe Vernunft → Vernunftideen) Induktion 2 – Induktionsproblem 165, 283, 364 – 367, 389 f. – Induktionsskeptizismus 165, 367 – induktive Verallgemeinerung 17, 265, 274, 283, 307, 370, 387 f., 392 – induktiver Schluss 40, 305 f., 365, 387, 389, 391 Intentionalität 11, 158 f. Kategorien (siehe auch Verstandesbegriffe) 1, 8, 12, 48, 59, 64 f., 68, 70 f., 73 – 76, 79, 81 f., 85 – 87, 89, 96 – 101, 109 f., 112 – 114, 116 f., 124, 127 – 129, 134, 136, 148, 161 – 165, 168 f., 172, 178, 183, 186, 188, 191 f., 197, 203, 208 f., 214, 216, 219 f., 224 – 227, 231, 233 f., 240, 242 f., 257 f., 271, 275 f., 278, 295, 298, 308 – 312, 319, 324, 331, 338, 340, 356, 389 f., 397 – 400 Kausalität (siehe auch Verursachung) 7 – 11, 22 – 25, 27 – 31, 33 – 35, 37 – 40, 46 – 51, 53 f., 56 – 59, 62 – 69, 72 f., 75, 77 – 80, 96 f., 100, 102, 110 – 112, 124, 129, 132 f., 135 – 138, 143 – 146, 149, 151, 160 – 172, 174, 179 f., 183 – 186, 198, 219 f., 276 f., 331, 334, 337, 357, 359, 399 f. – allgemeines Kausalprinzip (siehe auch Analogien der Erfahrung → Zweite Analogie der Erfahrung) 10, 32 f., 39 – 41, 48 – 50, 62, 64 – 66, 70, 78, 107, 112, 129, 133, 160, 166 f., 169, 331 – empirisches Kausalgesetz (siehe auch Naturgesetz → empirische Naturgesetze) 11, 63, 104, 111, 131 – 138, 143, 150, 152,
414
Sachregister
154 – 158, 164, 169 – 174, 176 – 178, 185 f., 276 – 278, 323, 331, 335, 396 f. – Kausalitätsskepsis (siehe Skeptizismus → Humescher Skeptizismus) – Kausalverknüpfung (siehe auch Notwendigkeit → notwendige Verknüpfung) 33, 62, 160, 174, 397 Keplersche Gesetze 2, 264 – 266, 269, 271 – 274, 277 f., 283 – 286, 385 – 388, 397 f. Kohärenz 183 – 185 Kontinuität (siehe auch Affinität) 298, 300, 303, 308, 313 f., 317, 337, 353 Kraft 36, 46 f., 51, 172, 209, 220, 230, 232 – 236, 238, 248 f., 251, 253, 258 f., 262, 266 – 268, 274, 279 – 282, 287, 386 – Anziehungskraft 210, 214, 232 – 234, 236, 238, 248, 252, 255, 260, 267 f., 279 – 282, 287, 388 – Ausdehnungskraft 209 f., 220 f., 233 f., 237 – durchdringende Kraft 238, 280 – 282 – dynamische Kraft 236, 238, 252 – 255 – Gravitationskraft 152, 255, 274, 279, 287 – Grundkräfte 214, 220, 231 – 233, 235 f., 267, 301, 317, 322 – mechanische Kraft 232, 235, 238, – Zurückstoßungskraft 123, 214, 232 f., 235 f., 253, 280 Mannigfaltiges 54, 111, 116 – 119, 121 f., 139 f., 148, 150, 194 f., 207, 298, 301, 304 f., 307, 322, 347 – 349, 351, 368, 385 Materie 193 – 203, 206, 209 – 211, 213 f., 216, 219 – 229, 231 – 246, 253 – 258, 260, 267, 270 f., 279 – 282, 287, 317, 390 – Begriff der Materie 12 f., 17, 183, 192 – 194, 196 – 216, 218 – 228, 230 – 232, 234 – 236, 240 f., 243, 245 f., 275, 286, 324 f., 371 f., 378 f., 383, 389 – 391, 397 f. – Materie der Erfahrung 310 f., 394 – Materie der Erscheinung 194 f. Mathematik 59, 66 f., 70, 73 f., 79, 82, 85 – 88, 134, 152, 203 – 205, 207 – 209, 211, 216 – 230, 232 – 234, 236 f., 240, 257, 263, 265 f., 268, 279 – 281, 286, 372, 386
Metaphysik (siehe auch Skeptizismus → metaphysischer Skeptizismus) 9, 21 f., 34, 38, 42, 52 f., 55 f., 61, 64 – 69, 77, 79, 89, 92 f., 102, 167 f., 190 – 192, 198, 204, 206 f., 213, 216, 221 f., 224 – 226, 234, 241, 244, 247, 283, 313 f. – dogmatische Metaphysik (siehe auch traditionelle Metaphysik, transzendente Metaphysik) 9 f., 58, 69, 76 – 81, 83 – Metaphysik der Erfahrung 65, 67, 72, 75 f., 92 – Metaphysik der Natur 190 – 192, 198, 205, 227 – besonderer (auch: spezieller) Teil der Metaphysik der Natur 191 – 193, 201, 204 f., 224, 226 f., 235, 286 – 288, 377 – 379 – transzendentaler (auch: allgemeiner) Teil der Metaphysik der Natur 191 f., 204, 206, 216, 227, 241, 244, 247 – Metaphysik der Sitten 190 f., 359 – traditionelle Metaphysik (siehe auch dogmatische Metaphysik, transzendente Metaphysik) 65 – transzendente Metaphysik (siehe auch dogmatische Metaphysik, traditionelle Metaphysik) 53, 56, 65, 67, 72, 76 – 78, 82 f., 101 f. Möglichkeit 181, 258, 275 – 277 – logische Möglichkeit 202, 217 f., 315, 356 – reale Möglichkeit 202 f., 217 – 219, 314 – 317, 319, 326, 352 f., 355 – 357 Naturgesetz (siehe auch Gesetz) 2, 73, 108 f., 153 f., 177, 187, 275, 277, 288, 292, 304 f., 321 – 323, 333 f., 339, 360, 369, 371, 375 – 377, 380 f., 385, 392, 395 – allgemeine Naturgesetze (siehe auch Grundsätze des Verstandes) 86, 101, 304, 321 f., 333, 369, 392 – empirische Naturgesetze 1 – 8, 10 – 12, 14, 16 – 18, 24, 55, 84, 102 f., 107 – 109, 131 f., 136, 138, 152 f., 155, 170, 178, 180, 186 – 190, 235, 240, 255, 264, 271, 273 – 275, 277 f., 286 – 290, 292 f., 304 f., 320 – 325, 332 – 335, 339 f., 364 f., 367 –
Sachregister
369, 372 – 378, 380 – 385, 389, 391 – 393, 396, 398, 400 Naturwissenschaft 4, 7, 10, 12 – 18, 66 f., 70, 73 f., 88, 108, 138, 151 f., 158, 183, 187 – 193, 197 f., 207, 221 f., 225 f., 283, 287, 293, 324 f., 368 – 371, 373, 376 – 378, 382, 389 – 391, 397 – empirische Naturwissenschaft 10, 12, 18, 192, 201, 216, 234, 299, 324, 371, 373, 391 – reine Naturwissenschaft 59, 70, 79, 82, 85 f., 134, 189 f., 192, 205, 211, 220 f., 324, 372 f., 379, 381, 391 Nötigung 170 – 174, 359, 399 Notwendigkeit 1 – 6, 8, 10 – 14, 16 f., 31, 52 f., 63 f., 75, 96 f., 103, 107 f., 112, 129, 131 – 138, 143, 150, 162 f., 167 f., 170 – 172, 174 – 177, 185, 187, 189, 205, 209, 213, 271 f., 275 – 278, 286 – 290, 292 f., 301 f., 320 f., 335, 337 f., 341 f., 361 – 364, 366 – 372, 374 – 379, 382, 384, 388, 391 – 401 – notwendige Gültigkeit 2 f., 135, 175, 177, 255, 275, 368, 370, 383 f. – notwendige Verknüpfung 8, 30 – 32, 37 – 41, 50, 52, 62, 64, 112, 132 – 136, 138, 144, 161 f., 166, 168, 171 – 174, 178, 277, 396 f., 399 f. – objektive notwendige Verknüpfung 8, 38, 41 f., 52 f., 162, 168 f., 173, 175, 177, 399 f. – subjektive notwendige Verknüpfung 38, 41, 52, 62, 168 Perzeption 29, 38, 52, 62 Physik 4, 12 f., 17 f., 187, 190 f., 193 – 196, 198, 200 – 202, 205, 207 f., 211 – 218, 222 f., 225 – 227, 234, 239, 283, 287, 293, 390 – Newtonsche Physik (siehe auch Gravitationsgesetz) 13, 33 – Postulate des empirischen Denkens überhaupt 89, 136, 179 – 181, 218 f., 275 – 277, 285, 397 f. Prinzip der Systematizität (siehe auch Idee der Systematizität) 4, 10, 14 – 17, 103, 107, 158, 186, 273, 288 – 295, 297 – 308,
415
311 – 314, 316, 318 – 327, 330, 335 – 345, 351 – 355, 361, 364 – 367, 369 f., 372 f., 376, 381 – 383, 385 – 388, 390, 392 f., 399 f. Psychologie 193, 195, 217, 295 Rationalismus 7, 59, 151, 239 Raum (siehe auch Anschauung → Anschauungsformen) 31, 86 f., 97, 100, 114, 117, 126 – 128, 160, 180 f., 194, 196, 198 – 203, 207 – 210, 214 f., 218, 220 – 222, 226 – 228, 230 – 234, 236 f., 239, 242 f., 246 – 248, 250, 252, 254, 256 – 260, 276, 280 – 282, 331, 379 – absoluter Raum 13, 199 f., 230 f., 247 – 249, 258, 262 f., 268 – 271, 274, 284 – empirischer Raum 199 f., 208, 231, 256 – 259 – Raumerfüllung 201, 212, 214, 220, 222, 232, 234, 236, 390 – relativer Raum 200, 230, 248, 250, 252, 257 f. Realität (siehe auch Wirklichkeit) 209, 234, 315, 356 – objektive Realität 12, 111, 202, 204 f., 207, 210, 217 – 220, 312, 314 – 316, 360, 389 – subjektive Realität 111 Rechtfertigung 4, 7, 11 f., 14, 16 f., 26, 34, 40, 48 – 50, 55, 63, 84, 102 – 104, 155 – 160, 163, 166 – 170, 184, 186, 189, 267, 273, 288, 295, 302 – 304, 306, 312, 323, 352, 365 – 367, 376 f., 387 – 389, 395 f., 400 regulative Prinzipien 193, 296, 307, 313, 318 – 320, 342, 367, 382, 387 Schema 98, 100, 162, 224, 242, 318 f., 356 f. Sinnlichkeit 86 f., 116 – 119, 162, 173, 180, 194 f., 209, 298, 313, 318 f., 347, 358 f. – Formen der Sinnlichkeit (siehe Anschauungsformen) Skeptizismus 9, 26, 33 f., 42 f., 50 f., 55 – 63, 65 – 76, 79 – 81, 83, 89, 91 f., 97, 103 – Cartesischer Skeptizismus 60 f., 68
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Sachregister
– Humescher Skeptizismus 9, 22, 53, 56 – 59, 62, 64 f., 67, 74 – 76, 80, 83 f., 91 f., 95, 102, 151, 161, 165, 167, 169, 365 – metaphysischer Skeptizismus 50, 65 f., 69 – Pyrrhonischer Skeptizismus 61, 76 f., 80 f., 83 Spezifikation 298 – 300, 303, 308, 313 f., 317, 319, 337, 353, 355, 375, 380 f. Subsistenz (siehe auch Substanz) 8, 64, 75, 161 Substanz (siehe auch Subsistenz) 30 f., 110, 112, 128, 130, 151, 160, 162, 219 f., 241 – 245, 254, 276, 379, 399 – Substanzerhaltungssatz (siehe auch Analogien der Erfahrung → Erste Analogie der Erfahrung) 241 f. Symbol 15, 343 – 364, 366 f. Synthesis 98, 114 – 127, 132, 148, 154 f., 207, 298, 315, 323, 335, 347 – 349 – Synthesis der Apprehension 118 – 120, 122, 124 – 126, 142, 347 f. – Synthesis der Rekognition 118, 120 – 125, 154 f., 347 – 349 – Synthesis der Reproduktion 118 – 120, 122 – 125, 347 f. synthetische Methode 59, 82, 85, 87 f., 102, 162 synthetische Urteile 44, 85 – synthetische Urteile a posteriori 103, 212, 215 – synthetische Urteile a priori 59, 66, 70 f., 79, 81 – 91, 96 f., 101 – 103, 129, 134, 203, 212 – 214, 226 f., 235, 240, 243, 308 Trägheit 201, 205, 222, 244 – 246, 258, 260, 265 – Trägheitssatz (siehe auch Gesetze der Mechanik → Zweites Gesetz der Mechanik) 230, 244, 258, 260, 265 f., 272, 287 Transzendentale Analytik (KrV) 48, 59, 64 f., 67, 70 f., 75, 83 f., 89, 91, 95, 97 f., 101 f., 134, 161 f., 191, 226, 292, 338, 395 Transzendentale Ästhetik (KrV) 65, 84, 114, 116, 127 f., 180, 194 f.
Transzendentale Dialektik (KrV) 59, 61 f., 67, 71, 84, 93, 101, 295 f., 298, 310, 326 – Anhang zur Transzendentalen Dialektik (KrV) 7, 10, 14 f., 103, 152, 158, 182 f., 270, 273, 288, 290, 292 – 325, 326, 330, 335 – 337, 342 f., 352 f., 364, 367, 385 transzendentale Grundsätze (siehe Grundsätze des Verstandes) Transzendentale Methodenlehre (KrV) 48, 69 f., 77, 83, 94, 190 Transzendentaler Idealismus 6, 13, 59, 81 – 83, 88, 102, 109, 178 – 180, 263 transzendentaler Schein 295 – 297, 310 Traum 180 f., 183 Urteilskraft 4 – 6, 10, 16 f., 183, 193, 273, 291, 294, 320, 327 – 332, 338 f., 341, 344 f., 352, 355, 357, 376, 380 – 383, 385, 389 – 392, 395 – 396 – ästhetische Urteilskraft 329, 344 f., 352 – bestimmende Urteilskraft 327 – 331 – Prinzip der Urteilskraft (siehe auch Zweckmäßigkeit → Prinzip der Zweckmäßigkeit) 16, 193, 294, 320, 326, 332, 335, 337 f., 341 f., 344, 352, 361 f., 364, 367, 369 f., 377 f., 380 f., 385, 389 – 392, 394 f. – reflektierende Urteilskraft 15 f., 216, 224, 289 f., 305, 326 – 332, 334 – 339, 342 f., 349, 354, 364 f., 367 – 369, 372, 384, 387, 390 f. Urteilstafel 98, 136 Vernunft 4 f., 10, 14 f., 22 f., 33 f., 37, 41, 46, 52, 54, 61 – 63, 66, 69, 72 f., 75, 78 f., 82, 85, 87, 92 – 96, 167 f., 181 – 183, 189, 193, 283, 289, 291, 295 – 299, 301 – 314, 317 – 320, 322, 326 f., 338, 341, 356, 359 f., 371, 385 – hypothetischer Vernunftgebrauch 305 f., 330, 365 f. – praktische Vernunft 58, 92 – 95, 102, 190, 315 f., 339, 359, 361 – spekulative Vernunft (siehe auch theoretische Vernunft) 77, 92 f.
Sachregister
– theoretische Vernunft (siehe auch spekulative Vernunft) 6, 58, 93 – 95, 190, 294 f., 326 – Vernunftideen (siehe auch Idee der Systematizität) 22, 94 f., 182, 200, 270, 295 – 298, 305, 308 – 311, 314, 316, 356 f., 360 Verstand 1, 3 – 6, 10, 12, 14, 16 – 18, 22, 29, 70 f., 79, 82, 86 f., 98 f., 101, 107, 111, 134, 137 f., 161, 173, 185 f., 188, 194 f., 197, 216, 240, 257 f., 273, 288 – 290, 296 – 299, 301, 303, 305 f., 309 f., 312 f., 317 – 319, 321, 329 – 331, 333 f., 337 – 339, 345 – 352, 355 f., 358 f., 361, 365, 368 – 372, 376, 378, 380 – 385, 388 f., 391 – 395, 397, 400 – intuitiver Verstand 394 – Verstandesbegriffe (siehe auch Kategorien) 64 f., 89, 97 f., 100, 112, 162, 207, 209, 211, 224 f., 318 f., 331, 356, 379 – Verstandesfunktionen 98, 100, 161 f., 400 – Verstandesgrundsätze (auch: transzendentale Gesetze des Verstandes, Verstandesprinzipien) 1 – 6, 12, 16, 48, 64 f., 70 f., 89, 110, 129, 134 f., 137 f., 187 – 189, 191 – 193, 214, 225 – 227, 235, 243, 257, 264, 275 f., 286 – 290, 292 f., 302, 307, 310 f., 324, 330 f., 338 – 340, 342, 366, 368 – 373, 375 – 383, 389, 391 – 401 Verursachung (siehe auch Kausalität) 30 f., 46 Wahrnehmung 1 f., 11, 29, 53, 62 f., 110 – 115, 120, 122, 124 – 128, 139 – 150, 152 – 159, 163 f., 170 – 186, 210 f., 219, 229, 233, 243, 262, 276, 323, 333, 335, 340, 347, 399 Wahrnehmungsurteile 163 – 165 Wechselwirkung (siehe auch Gemeinschaft) 8, 160, 219 f., 247 f., 251, 254 f. – Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung (siehe auch Gesetze der Me-
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chanik → Drittes Gesetz der Mechanik) 246, 248 f., 251 – 255, 260 f., 266 – 269, 272 – Wechselwirkungsgesetze 8, 136, 179, 323, 396 Widerlegung des Idealismus (KrV) 60, 198, 217, 229 Wirklichkeit (siehe auch Realität) 73, 86, 88, 103, 179 – 181, 183 – 185, 259 f., 265, 271 f., 275, 277, 366, 395 Wissenschaft (siehe auch Naturwissenschaft) 1, 9, 13, 21, 53, 56 – 58, 67, 70, 73, 79, 81, 83, 86, 91 f., 96, 102 f., 152, 155, 188 – 193, 202, 207 f., 211 f., 214 – 218, 222, 226 f., 290, 293, 371, 375, 383 Zeit (siehe auch Anschauung → Anschauungsformen) 31, 86 f., 97, 100 f., 117 – 119, 126 – 128, 132, 138 – 141, 143 f., 146 – 148, 154, 159 f., 162, 178, 180 – 182, 194, 203, 217, 221, 226 f., 229, 242, 265, 276, 331, 385 – Zeitbestimmung 101, 128 f., 138, 144, 151, 155, 159, 164, 171 – 174, 176 – 178, 184 f., 242 – Zeitordnung 111 f., 117, 130, 133, 153, 160, 173, 176 f., 184, 186, 194, 244, 399 – objektive Zeitordnung 11, 128, 140, 145, 149 f., 153 f., 164, 173, 175 – 178, 186, 198, 323, 335, 399 – subjektive Zeitordnung 128, 145 – 150, 153, 164, 171 – 174, 177, 186, 399 – Zeitstruktur (siehe Zeitordnung) Zweckmäßigkeit 15, 294, 296, 298, 326, 337 f., 340 f., 343 – 345, 348 – 355, 361 – 363, 366, 394 – Prinzip der Zweckmäßigkeit (siehe auch Prinzip der Urteilskraft) 326, 335 – 337, 344 f., 353 f.