Die Natur der Lebensform. Perspektiven in Biologie, Ontologie und praktischer Philosophie [1. ed.] 9783957431691, 9783957437280


131 37 2MB

German Pages XII, 226 [238] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Teil I Biologie und Anthropologie
Der Begriff der Lebensform als typologisches, nicht-normatives Konzept der Biologie
Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen und naturethische Konsequenzen
Von der Spezies zur Lebensform (und wiederzurück?)
Der Mensch als Lebensform
Teil II Ontologie
Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten
Vernunft als Lebensform. Über Natur und Erziehung
Die Person als Lebensform
Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten des Aristotelischen Ethischen Naturalismus
Philosophical Anthropology in Processual Perspective
Teil III Praktische Philosophie
Animalität und Ethnizität
Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform. Ethisch-anthropologische Reflexionen
Lebensform und Philosophie
Recommend Papers

Die Natur der Lebensform. Perspektiven in Biologie, Ontologie und praktischer Philosophie [1. ed.]
 9783957431691, 9783957437280

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Die Natur der Lebensform

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel, Jörg Noller (Hg.)

Die Natur der Lebensform Perspektiven in Biologie, Ontologie und praktischer Philosophie

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2020 mentis Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) www.mentis.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-95743-169-1 (paperback) ISBN 978-3-95743-728-0 (e-book)

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii Martin Hähnel / Jörg Noller

Teil I Biologie und Anthropologie Der Begriff der Lebensform als typologisches, nicht-normatives Konzept der Biologie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Georg Toepfer Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen und naturethische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Christina Pinsdorf Von der Spezies zur Lebensform (und wieder zurück?) . . . . . . . . . . . . . . . 35 Martin Hähnel Der Mensch als Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Ralf Becker

Teil II Ontologie Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Dieter Sturma Vernunft als Lebensform. Über Natur und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Andrea Kern Die Person als Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Jörg Noller Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten des Aristotelischen Ethischen Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Christian Kietzmann

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

vi

Inhalt

Philosophical Anthropology in Processual Perspective . . . . . . . . . . . . . . . 169 Nicholas Rescher

Teil III Praktische Philosophie Animalität und Ethnizität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Alice Crary Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform. Ethisch-anthropologische Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Elif Özmen Lebensform und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Julian Nida-Rümelin

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Einleitung Martin Hähnel / Jörg Noller Der vorliegende Sammelband will sich dem Verhältnis von Normativität und Lebensform aus der Perspektive von Biologie, Ontologie und praktischer Philosophie annähern. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit natürliches Leben selbst als normativ relevant angesehen werden kann und inwiefern ein Übergang vom natürlichen »Sein« zum normativen »Sollen« überhaupt möglich ist. Genereller Bezugspunkt ist der Begriff der Person, der als Horizont aller drei Zugänge fungiert. In den letzten Jahren hat sich die Debatte um das Verhältnis von Normativität und Lebensform vor allem im Kontext der praktischen Philosophie, vorangetrieben durch Michael Thompsons epochemachendes Werk Life and Action,1 weitestgehend ausdifferenziert, so dass eine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Normativität und Lebensform ohne Rückbezug auf biologische Gegebenheiten und ontologische Zuschreibungen auszukommen scheint. Die Lebensform ist dabei zu einer autonomen, rein handlungstheoretisch explizierbaren Urteils- bzw. Reflexionskategorie geworden, welche Normativität aus sich selbst heraus zu beanspruchen und zu begründen vorgibt.2 Allerdings stellt sich hier die Frage, ob dies der tatsächliche Endpunkt einer Auseinandersetzung mit der »Lebensform« sein kann.3 Der Begriff der Lebensform verlangt aus unserer Sicht nach einer ausführlicheren Klärung des Verhältnisses zur Natur – in biologischer, anthropologischer, ontologischer und ethischer Hinsicht. Dabei kommt dem Begriff der Person, der als systematischer Einheitspunkt der drei Dimensionen »Biologie« – »Ontologie« – »Praktische Philosophie« herausgearbeitet werden soll, eine besondere Bedeutung zu. Hier interessiert vor allem die Frage, inwiefern die personale Lebensform (i) eine biologische, (ii) eine ontologische und (iii) eine praktisch-ethische Kategorie ist, geht man davon aus, dass Personalität auf keinen der drei Zugänge allein reduziert werden kann.4 1  Dt. Übersetzung: Michael Thompson, Leben und Handeln - Grundstrukturen der Praxis und des praktischen Denkens, aus dem Amerikanischen von Matthias Haase, Frankfurt a.M. 2011. 2  Vgl. z.B.  Jens Kertscher, Jan Müller (Hg.), Lebensform und Praxisform, Münster 2015. 3  Erste konstruktive Ansätze für eine systematische Weiterbeschäftigung in: Markus Rothhaar u. Martin Hähnel (Hg.), Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?, Berlin/Boston 2015. 4  Ansätze einer Bestimmung der personalen Lebensform finden sich bei Marya Schechtman, Staying Alive. Personal Identity, Practical Concerns, and the Unity of a Life, Oxford 2014,

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

viii

Martin Hähnel / Jörg Noller

Der Band gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil (»Biologie und Anthropologie«) widmet sich der Untersuchung von verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffes »Lebensform« sowohl in der aristotelischen als auch zeitgenössischen Philosophie der Biologie. Der zweite Teil (»Ontologie«) enthält Beiträge, die mittels des Lebensformkonzepts eine Ontologie des Lebens zu entwickeln beabsichtigen. Der dritte Teil (»Praktische Philosophie«) behandelt die Frage, welche normativen Implikationen ein ontologischbiologisch informierter Lebensformbegriff für die praktische Philosophie hat. Georg Toepfer (Berlin) untersucht in seinen Überlegungen den Begriff der »Lebensform« vornehmlich aus einer historisch-systematischen Perspektive. Dabei gibt er zu bedenken, dass ein neoaristotelisches Verständnis des Begriffes nicht dem in der Biologie etablierten Wortgebrauch entspricht. Demzufolge sind Arten als historische Entitäten bzw. Lebensformen als typologische Ähnlichkeitsbeziehungen zu betrachten und zu beschreiben, was sie als konzeptuelle Grundlage und empirisches Datum für die Ableitung einer ethisch relevanten Normativität ungeeignet erscheinen lässt. Aus diesem Grund plädiert Toepfer, im Unterschied zu dem Beitrag von Hähnel, für eine scharfe begriffliche und systematische Trennung von Lebensform und Spezies. Vielmehr besteht für Toepfer die Normativität der Lebensform im sozialen Miteinander von sprachbegabten rationalen Wesen. Der Mensch, welcher zwischen Art- und Lebensformbegriff steht, definiert sich als kollektive Lebensform durch einen kommunikativen Austausch, dessen Erfolg letztlich bestimmt, wie relevant die Zugehörigkeit zur biologischen Spezies für ihre moralische Berücksichtigungsfähigkeit ist. In ihrem Beitrag versucht Christina Pinsdorf (Bonn) den Begriff der Lebensform als einheitsstiftendes Moment konkreter Lebewesen für naturethische Ansätze fruchtbar zu machen. Dabei untersucht sie vor allem die Frage, inwieweit neben der humanen Lebensform auch nicht-humanen Lebensformen normative Bestimmungen zuzuordnen sind. Pinsdorf geht davon aus, dass die zweckmäßige Verfasstheit von Lebewesen das zentrale Bestimmungsmoment der belebten Natur ist, wobei sie ausdrücklich betont, dass diese Zweckmäßigkeit weder im Sinne eines universal-mechanistischen Reduktionismus noch in Form einer intentionalen Universalteleologie zu interpretieren sei. Vielmehr müsse eine wohlverstandene Theorie der naturgemäßen Normativität, in der ferner neuerdings in Jörg Noller (Hg.), Was sind und wie existieren Personen? Probleme und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, Leiden 2019 sowie Bert Heinrichs: Aristotelischer Naturalismus und der Begriff der Person in: Hähnel, Martin (Hg.), Aristotelischer Naturalismus, Stuttgart 2017, 314-330.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Einleitung

ix

alle Lebewesen Berücksichtigung finden, auch moralischen Anerkennungsverhältnissen Rechnung tragen. Martin Hähnel (Eichstätt-Ingolstadt) unterzieht, ähnlich wie Georg Toepfer, die Begriffe ›Lebensform‹ und ›Spezies‹ einer näheren historischsystematischen Betrachtung. Dabei geht er sowohl auf biologische als auch auf philosophische Verwendungsweisen dieser Begriffe ein und arbeitet einige konzeptuelle Strukturanalogien und Inkommensurabilitäten heraus. Schließlich prüft Hähnel, inwieweit sich der Lebensform- und der Speziesbegriff für eine Indienstnahme als normgenerierendes Konzept eignen. Im Anschluss an die Prüfung aktueller neoaristotelischer Ansätze (vgl. auch der Beitrag von Kietzmann in diesem Band) in der Ethik zeigt Hähnel auf, dass ein revidiertes, möglicherweise personales Lebensformverständnis, das nicht allzu weit entfernt von einem nicht-reduktionistischen biologischen Speziesbegriff liegt, durchaus in der Lage sei, die Basis für eine Theorie zur Gewinnung ethischer Normen zu bilden. Der Beitrag von Ralf Becker (Koblenz-Landau) zielt darauf ab, den Menschen nicht als Art einer Gattung zu definieren, sondern als individuelle Lebensform zu beschreiben. Als Mittel zum Zweck dieser Beschreibung wählt Becker den narrativen Ansatz Wilhelm Schapps zu einer Hermeneutik des InGeschichten-Verstrickseins, mit deren Hilfe Becker die Schriften von Linné und Darwin neu deutet. In diesen Schriften kommt der als biologische Art beschriebene Mensch gleichzeitig auch in Geschichten vor, die zu einer bestimmten Kategorien- und Modellbildung herangezogen werden können. Für die adäquate Beschreibung der menschlichen Lebensform müssen demnach passende Strukturformeln gefunden werden, die das Leitmotiv der jeweiligen ,Biographie‹, den Gesichtspunkt, unter dem menschliche Geschichten zusammengefasst werden, bilden. Dieter Sturma (Bonn) reflektiert auf den Begriff der Lebensform und ihre ontologische Einbettung in die Natur. Dabei widmet er sich insbesondere dem Begriff der menschlichen Lebensform als einer »zweiten Natur« und seinen epistemologischen Dimensionen. Sturma plädiert für einen erweiterten Naturalismus, der nicht auf den Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften beschränkt ist, sondern auch kulturelle Phänomene mit einschließt. Ein solcher dynamischer wissenschaftlicher Realismus grenzt sich gleichermaßen von dualistischen wie von supranaturalistischen Positionen ab. Dabei knüpft Sturma an Ludwig Wittgensteins Begriff der Lebensform und ihrer sprachlichen Praxis an. Die humane Lebensform ist immer auch eine sprachliche Praxis und als solche auf einen Raum der Gründe bezogen, der die natürliche Ordnung überformt.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

x

Martin Hähnel / Jörg Noller

Andrea Kern (Leipzig) geht in ihrem Beitrag der Frage nach, wie spezifisch menschliche Erziehung und Bildung vor dem Hintergrund der menschlichen Natur gedacht werden muss. Kern unterscheidet zwischen einer kulturalisti­ schen und einer naturalistischen Position im Anschluss an Aristoteles. Während die naturalistische Position das spezifisch Menschliche in seiner ersten Natur verortet, erkennt die kulturalistische Position dieses in der zweiten Natur. Kern argumentiert dafür, dass beide Positionen menschliche Bildung nicht befriedigend begreifen können und plädiert stattdessen für eine dritte Position. Erziehung und Bildung bedeuten demnach nicht, dass ein Individuum neue Vermögen erwirbt, noch, dass es das angeborene Vermögen der Vernunft nur vollständig entwickelt. Vielmehr beschreibt und expliziert der Begriff der Erziehung die spezifische Form der Entwicklung eines selbstbewussten Wesens. Jörg Noller (München) entwickelt in seinem Beitrag im Unterschied zu Ralf Becker nicht einen Begriff der menschlichen, sondern der personalen Lebensform. Er knüpft dabei an den ökologischen Lebensformbegriff an, der nicht so sehr art-, sondern kontextgebunden ist. Noller argumentiert dafür, dass sich personales Leben formal durch eine höherstufige Selbst- und Fremdbezüglichkeit auszeichnet, aus der Selbstbewusstsein und intersubjektive Normativität weiter verständlich gemacht werden können. Ein solcher Begriff personaler Lebensformen erlaubt es, die Probleme zweier gegenwärtig prominenter Theorien der Person zu lösen: Während der Animalismus personales Leben allein auf die Persistenz des individuellen Organismus reduziert und dabei seine moralische Dimension vernachlässigt, fasst der Konstitutionalismus Person und Leben als voneinander ontologisch getrennt auf und muss somit starke ontologische Verpflichtungen eingehen. Noller zeigt, wie im Begriff der personalen Lebensform Person und Leben (gegenüber dem Konstitutionalismus) identisch gedacht und wie Personen darin zugleich als in einem moralischen Verbund koexistierend verstanden werden können (gegenüber dem Animalismus). In seinem Aufsatz geht Christian Kietzmann (Erlangen) der Frage nach, welche metaphysischen und epistemologische Schwierigkeiten sich neoaristotelische Ethikansätze einhandeln, wenn sie evaluative Aussagen über die Lebensvollzüge und Merkmale a-rationaler Tiere und Pflanzen treffen. In seiner Analyse, die grundsätzlich an die Überlegungen von Michael Thompson anschließt, zeigt Kietzmann verschiedene Wege auf, die es einerseits erlauben sollen, sinnvoll von Lebensformen zu sprechen, ohne dabei überkommene Muster einer metaphysischen Biologie zu bedienen, andererseits Möglichkeiten eröffnen, wie wir die Lebensform des Menschen erkennen können. Die Lebensform ist für Kietzmann dabei eine apriorisch-logische Kategorie, die

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Einleitung

xi

wie eine Art »Brille« funktioniert, mittels deren Denkformen überhaupt erst auf Lebendiges angewendet werden können. Daraus folgt, dass jedes ethisch relevante anthropologische Wissen von unserer Lebensform nicht empirisch, sondern nur durch interne praktische Reflexion auf unsere rationalen Dispositionen gewonnen wird. Nicholas Rescher (Pittsburgh) befasst sich mit der philosophischen Anthropologie aus einer dezidiert prozessontologischen Perspektive. Im Gegensatz zum Substanzbegriff, der Einzelheit und Isolierung impliziert, umfasst der Begriff des Prozesses Relationalität, Interaktion und Reziprozität. Auch das menschliche Leben lässt sich so als ein Prozess beschreiben, der sich evolutionär herausgebildet hat. Prozessualität betrifft thematisch nicht nur physikalische Prozesse, sondern auch intellektuelle, chemische und soziale. Rescher betrachtet vor diesem Hintergrund personale Identität aus prozessontologischer Sicht. Personen sind nicht nur Resultate von diversen Prozessen, sondern Aggregate von Prozessen, die durch Handlungen bestimmt sind. Personen sind insofern mehr als bloß organisch bestimmte biologische Prozesse; sie bestehen darüber hinaus aus Prozessen, die ihre kognitiven Vermögen und ihre Freiheit betreffen. Alice Carry (Oxford) beleuchtet in ihren Ausführungen die Beziehung zwischen der humanen und der nicht-humanen Lebensform vor dem Hintergrund der abwertenden Instrumentalisierung dieses Verhältnisses im Sinne einer sozialer Marginalisierung bzw. in Form des Missbrauchs bzw. der Tötung von Menschen, die ethnischen Minderheiten angehören. Gegen Peter Singers Neutralitätskonzeption, der zufolge man mit einer quasi naturwissenschaftlichen Neutralität und Distanz die empirisch nachweisbaren Eigenschaften und Fähigkeiten von Mensch und Tier in Erfahrung zu bringen sucht, und im Einklang mit der Spätphilosophie Wittgensteins, wonach die relevanten Konzepte zur Beschreibung des menschlichen Verstandes ethische seien, ist es Crarys Anliegen einen moralisch und philosophisch schlüssigen Weg aufzuzeigen, der das menschliche Leben zu würdigen weiß, ohne Menschen in eine normative Sphäre ›über‹ den Tieren zu situieren. Elif Özmen (Gießen) reflektiert auf die Problematik der philosophischen Anthropologie und auf gegenwärtige Tendenzen, anthropologische Fragestellungen in der praktischen Philosophie wieder aufzunehmen. Özmen reflektiert dazu auf verschiedene Ansätze wie den ethischen Naturalismus, die Ethik der menschlichen Lebensformen und die gattungsethische Moralisierung der menschlichen Natur. Aus einer metaphilosophischen Perspektive argumentiert Özmen dafür, dass anthropologische Voraussetzungen unsere normative Theoriebildung strukturieren. Denn die Beantwortung der Frage, was moralisch relevant ist und welches Leben als gut zu bezeichnen ist, hängt

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

xii

Martin Hähnel / Jörg Noller

mit unserem anthropologischen Selbstverständnis zusammen. Der Begriff der Lebensform erscheint so als ein Konzept, mit dem der problematische Begriff einer menschlichen »Natur« ersetzt werden kann, insofern »Lebensform« als eine Reflexionskategorie verwendet wird. Julian Nida-Rümelin (München) argumentiert dafür, dass personale Identität nicht durch Wünsche, sondern durch die Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens eines Individuums konstituiert wird. Gründe betreffen dabei Überzeugungen, Handlungen und selbst Emotionen einer Person. Personale Identität muss demnach gradualistisch verstanden werden, da sie erst im Prozess des Affiziert-Werdens von normativen Gründen, des Deliberierens, in der Einheit der Praxis des Akteurs geformt wird. Personale Identität ist so verstanden rückgebunden an eine soziale Welt. Die Kohärenz einer geteilten Lebensform erweist sich als Voraussetzung dafür, dass ein Individuum handlungsfähig ist. Eine geteilte Lebensform basiert auf rationaler Verständigung und bedeutet gerade nicht, dass Individuen nur ihre eigene Lebensform ausprägen. Die Herausgeber danken Philip Zogelmann M.A. für seine wertvolle Hilfe bei der Redaktion des Bandes.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Teil I Biologie und Anthropologie

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Begriff der Lebensform als typologisches, nicht-normatives Konzept der Biologie Georg Toepfer 1.

Arten und Lebensformen

Von ›Lebensformen‹ ist in den letzten Jahren in der Ethik, Anthropologie und Politischen Philosophie viel die Rede. Der Begriff erscheint prominent in den Schriften der so genannten neo-aristotelischen Philosophen Philippa Foot, Michael Thompson oder Rosalind Hursthouse. Sie haben ein spezielles Verständnis des Begriffs, das nicht dem in der Biologie etablierten Wortgebrauch entspricht. In ihrem Kontext bezeichnet der Ausdruck das Verhältnis eines Individuums zu seiner artspezifischen Natur. Mit dem Begriff ist nach Auffassung der Autoren ein teleologisches Verständnis dieses Verhältnisses verbunden, insofern mit der Zuschreibung einer Lebensform die Tendenz zur Verwirklichung der artspezifischen Natur verbunden wird. Wenn die artspezifische Natur als Norm verstanden wird, transportiert der Begriff der Lebensform zugleich normative Implikationen. Problematisch ist an dieser Argumentation zunächst die Gleichsetzung der Begriffe ›Lebensform‹ und ›Art‹. Diese Gleichsetzung findet sich konzentriert ausgedrückt im Index von Philippa Foots Natural Goodness von 2001: Will man wissen, was Foot unter life form versteht, wird man im Register auf species verwiesen.1 Die Äquivalenz der beiden Begriffe findet sich gleichermaßen in Michael Thompsons Life and Action von 2008. Er will die beiden Begriffe mehr oder weniger äquivalent verwenden, wie er ausdrücklich schreibt.2 Für das biologisches Verständnis der Begriffe ist diese behauptete Äquivalenz allerdings vollkommen irreführend. Irreführend ist sie, weil ›Art‹ biologisch in der Regel als genealogisches Konzept verstanden wird, ›Lebensform‹ dagegen typologisch. Zuerst zum Begriff der Art: Biologische Arten sind historische Entitäten. Spätestens seit Ende des 17. Jahrhunderts, seit John Ray, wird der biologische Artbegriff über den Reproduktionszusammenhang von Individuen definiert.3 1  Foot 2001, 124. 2  Thompson 2008, 28. 3  Vgl. Wilkins 2009, 67.

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_002

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

4

Georg Toepfer

Gemeinsame Abstammung der Individuen von einem Vorfahren ist bei Ray das Kriterium der Artzugehörigkeit. Darin folgen ihm die Mehrzahl der Biologen seit dem 18. Jahrhundert, wie etwa Georges Buffon, der in seiner Naturgeschichte von 1749 der Ansicht ist, man könne das zur gleichen Art rechnen, was sich über das Mittel der Paarung fortpflanzt und die Ähnlichkeit der Art erhält.4 Mit Ernst Mayr kann diese Zusammenfassung von Individuen, die auf der tatsächlichen oder potenziellen Kreuzung von Populationen beruht, als der biologische Artbegriff bezeichnet werden.5 Erweitern lässt sich dieser auch auf asexuell sich fortpflanzende Organismen, indem nicht allein die Kreuzung, sondern jeder beliebige biologische Mechanismus, der den Zusammenhalt von Abstammungslinien nach innen und deren Abgeschlossenheit nach außen bewirkt (z.B. auch ökologische Verhältnisse), als Grundlage der Artbildung akzeptiert wird. In diesem Sinne definiert John Wilkins Arten als Stammeslinien von Organismen (lineages of organisms), die über solche gemeinsame Merkmale verfügen, die sie von anderen Stammeslinien getrennt halten.6 Entscheidend ist dabei – wie besonders in Wilkins’ Definition deutlich wird –, dass das Kriterium der Artzugehörigkeit die gemeinsame Abstammung ist, die zwar auf gemeinsamen Merkmalen beruht – es sind aber nicht die gemeinsamen Merkmale als solche, die über die Artzugehörigkeit entscheiden, sondern allein diejenigen gemeinsamen Merkmale, die den genealogischen Zusammenhang bedingen. Biologische Arten sind damit durch ein relationales Kriterium der Zugehörigkeit definiert. Der Abgrenzung liegen keine intrinsischen Merkmale von Organismen zugrunde, die diese als Mitglieder einer Art ausweisen könnten. Die Mitglieder einer Art können sogar im Prinzip viele ihrer intrinsischen Merkmale (wie Körpergröße, Färbung oder Gestalt) verändern und doch die Kontinuität einer Art aufrechterhalten – wenn sie nur den Abstammungszusammenhang und dessen Abgrenzung zu anderen Stammeslinien bewahren. Es kommt also auf die gemeinsamen Merkmale an, die den Grund für die Trennung einer Stammeslinie von anderen bildet. Wenn die Rotkehlchen in ihrer zukünftigen Evolution allmählich ihre rote Kehle verlieren würden, aber trotzdem ihren Fortpflanzungszusammenhang behalten würden, dann würden sie trotzdem den Status einer gemeinsamen Art bewahren. Die relationalen Eigenschaften sind demnach entscheidend für den Artzusammenhang: Über die Artzugehörigkeit entscheiden die Relationen, in denen ein Individuum zu anderen steht, nicht die Eigenschaften, die es für sich hat. 4  Buffon 1749, 10f. 5  Mayr 1942, 120. 6  Wilkins 2003, 219.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Begriff der Lebensform

5

Biologische Arten sind damit keine natural kinds im Sinne von chemischen Elementen, die über ihre intrinsischen Eigenschaften definiert sind, sondern sie sind historische Entitäten. Grafisch darstellbar sind sie daher als Ausschnitte des Stammbaums des Lebens, in denen der Beginn einer Art (bei sexuell sich fortpflanzenden Organismen) mit der Entstehung von Barrieren der Reproduktion gegeben ist und Artunterschiede durch die Relation der Paarungsbeziehungen stabilisiert werden. Seit den 1970er Jahren haben einflussreiche Philosophen der Biologie aus dieser genealogisch-historisch basierten Abgrenzung von Arten den Schluss gezogen, dass es die Essenz oder das Wesen einer biologischen Art nicht gebe: Organismen gehören zu einer Art, weil sie Teil eines genealogischen Netzwerks sind, nicht weil sie bestimmte intrinsische oder wesentliche Merkmale aufweisen, wie es David Hull 1978 formulierte.7 Insbesondere argumentierte Hull, und mit ihm später auch Michael Ghiselin, dass es ein Wesen oder eine Natur des Menschen nicht gebe; wie die Natur jeder Art, sei auch die des Menschen variabel.8 Es kann nach Hull zwar Merkmale geben, die zu einem Zeitpunkt nur Mitgliedern der Art Homo sapiens zukommen; dies wäre aber ein bloß kontingentes Faktum in einer Phase der Evolution. Als Teile einer relational bestimmten Einheit könnten sich die Merkmale von Menschen, ebenso wie diejenigen von Kohlmeisen oder Rotkehlchen ändern, ohne dass diese deshalb einer anderen Art zugerechnet werden müssten. Allerdings hängt die Absage an ein Wesen oder eine Natur des Menschen an der Voraussetzung, den Ausdruck ›Mensch‹ im Sinne eines biologischen Artnamens zu verstehen. Der Begriff der Lebensform eröffnet dagegen einen Weg, wie vom Menschen gesprochen werden kann, ohne die Vorstellung von einer menschlichen Natur ganz zu verlieren. ›Lebensform‹ ist ein Ausdruck der in biologischer Bedeutung seit langem in Gebrauch ist, mindestens solange wie es die Biologie gibt, mindestens seit 200 Jahren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist von »der niedersten oder der höhern Lebensform« die Rede9, seit den 1820er Jahren von der »Lebens-Form des Thieres«, der Pflanze und des Menschen.10 In terminologischer Verwendung erscheint er seit Ende des 19. Jahrhunderts, zunächst in der Vegetationskunde, seit den 1930er Jahren auch in der Zoologie11. Zusammengefasst werden in 7   Hull 1978, 358. 8  Hull 1978, 358: “No species has an essence in this sense. Hence there is no such thing as human nature.” Ghiselin 1997, 1: “What does evolution teach us about human nature? It tells us that human nature is a superstition”. 9  Roeschlaub 1804, 180f. 10  Butte 1829, 239; 220; 209. 11  Friederichs 1930, 41.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

6

Georg Toepfer

einer Lebensform solche Lebewesen, »die in Ausstattung und in Physiognomie gleich oder doch sehr übereinstimmend sind, mögen sie nahe verwandt oder systematisch weit voneinander entfernt sein.«12 Die Übereinstimmung der nur wenig miteinander verwandten Lebewesen wird damit erklärt, dass sie »an denselben Lebensraum angepasst sind.«13 Es geht also bei den Lebensformen der Biologie nicht um genealogische Beziehungen, sondern um Anpassungskomplexe, um Ähnlichkeiten in Formen und Lebensweisen. Gleiche Lebensformen entstehen durch evolutionäre Konvergenz, durch evolutionäre Veränderungen in unterschiedlichen Verwandtschaftskreisen, die als Anpassungen an ähnliche Umweltbedingungen zu erklären sind, wie etwa die wiederholte Entstehung der Spindelform bei unter Wasser schwimmenden Wirbeltieren. In bekannten Übersichten werden in der Biologie Vertreter verschiedener Verwandtschaftskreise und weit entfernter geografischer Regionen als Angehörige der gleichen Lebensform nebeneinander geordnet, etwa in die Lebensform springender Pflanzenfresser wie des Hasen, unterirdisch grabender Tiere wie des Maulwurfs, nicht fliegender großer Laufvögel wie des Strauß’ oder großer Landraubtiere wie des Löwen. Deutlich wird an dieser Aufzählung bereits, dass der Klassifikation von Lebensformen meist sehr einfache Kategorien zugrunde liegen. Systematische Übersichten über alle Lebensformen der Tiere werden seit den 1930er Jahren vorgeschlagen. So ordnet sie Karl Friederichs 1930 auf der Grundlage des Aufenthaltsortes. Er unterscheidet ortsgebundene Wesen von solchen, die zum Ortswechsel fähig sind und innerhalb dieser die Bewohner flüssiger oder halbflüssiger Medien, die Bewohner fester Medien und Luftbewohner.14 Das umfassendste System einer Ordnung von Lebensformen geht auf den Zoologen Hans-Wilhelm Koepcke zurück, der Anfang der 1970er Jahre mit einer umfangreichen, zweibändigen Monografie zu den Lebensformen den Anspruch verfolgt, die »Grundlagen zu einer universell gültigen biologischen Theorie« zu legen.15 Koepcke gliedert die Lebensformen nach organischen Grundfunktionen und unterscheidet dabei sechs Lebensweisetypen: des Substanzerwerbs (Ernährung), der Lokomotion (Fortbewegung), der Resistenz (Schutzstrategien), der Soziabilität (Formen der Vergesellschaftung), der Brutfürsorge und der Sexualität. Diese haben jeweils diverse Lebensformtypen als Untergruppen. Für jeden der großen biologischen Funktionskomplexe lassen sich mit Koepcke also Lebensformtypen bestimmen, die sich gegenseitig über12  Warming 1896, 4. 13  Gams 1918, 312. 14  Friederichs 1930. 15  Koepcke 1971-74.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

7

Der Begriff der Lebensform

kreuzen. Jedes Lebewesen gehört damit gleichzeitig und je nach momentaner Aktivität unterschiedlichen Lebensformen an. Ein Kormoran beispielsweise gehört je nach seiner Aktivität zur Lebensform der in der Luft fliegenden, auf dem Land sitzenden, im Wasser schwimmenden oder unter Wasser tauchenden Lebewesen. Für Koepcke ist die Lebensformenkunde auch insofern von theoretischer Bedeutung, als er mit ihr die Möglichkeit gegeben sieht, die Biologie nicht nur als eine historische, sondern als eine Gesetzeswissenschaft aufzufassen. Zu diesem Zweck stellt er die von ihm so genannte »Homologienbiologie« der »Analogienbiologie« gegenüber.16 Zur Homologienbiologie gehört die biologische Systematik, Phylogenie und Biogeografie, also alle Zweige der Biologie, die sich um eine Rekonstruktion der Geschichte des Lebens im Laufe der Zeit bemühen. Zur Analogienbiologie rechnet Koepcke dagegen diejenigen Zweige der Biologie, in denen es um Gesetze geht, die über verschiedene Verwandtschaftskreise hinweg Gültigkeit haben. Dazu zählen die Genetik, Physiologie und Ökologie – und eben auch die Lebensformenkunde. Die Differenz von Homologien- und Analogienbiologie lässt sich auch durch die Gegenüberstellung der Begriffe ›Art‹ und ›Form‹ markieren: Biologische Artbegriffe beziehen sich auf historisch-genealogische Zusammenhänge, Formbegriffe auf Verallgemeinerungen und Gesetze unabhängig von historischen Entstehungszusammenhängen. Lebensformen und Arten betreffen in der Biologie also etwas sehr Verschiedenes. 2.

Normativität und Lebensformzugehörigkeit

Michael Thompson plädiert in Life and Action für die Auffassung, dass mit der Zuordnung eines Lebewesens zu einer Lebensform normative Impli­ kationen verbunden sind. Mit der Erkenntnis, dass ein Lebewesen einer Lebensform angehört sind nach Thompson eine besondere Form von Urteilen verbunden: naturhistorische Urteile, wie er sie nennt.17 Wenn etwas eine Eichel genannt wird, dann liege in diesem Urteil nicht nur die Beschreibung eines individuellen Dinges, sondern dieses werde gleichzeitig in einen weiteren Kontext eingebettet. Dieser Kontext weist über das Individuum hinaus auf das Typische einer Art, das Thompson seine Lebensform nennt. Jede Lebensbeschreibung ist für Thompson auch eine Lebensformdarstellung und insofern mit der Klassifikation eines Lebewesens in eine typologische Ordnung 16  Koepcke 1971-74, I, 197. 17  Thompson 2008, 20.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

8

Georg Toepfer

verbunden. Die Identifikation eines Tieres als Rotluchs, Lynx rufus, schließt beispielsweise ein, dass dieses Tier vier Beine hat, bzw. vier Beine haben soll, denn dies ist der Standard für einen Rotluchs.18 Diese generelle Form der Art Rotluchs ist die Form, oder wie Sebastian Rödl sagt, das Maß für jeden individuellen Rotluchs.19 Es soll Form und Maß sein, selbst wenn sie von der Mehrzahl der Instanziierungen der Form nicht erreicht wird: Mit der Identifizierung von etwas als Eichel ist die Lebensformaussage verbunden, dass daraus einmal eine Eiche werden soll, auch wenn die meisten Eicheln dieses Ziel nicht erreichen. Thompson sieht mit Lebensformurteilen daher unmittelbar eine Normativität verbunden. Er entwickelt diese Normativität ausgehend von individuellen Defekten, in denen das, was sein soll, gerade nicht realisiert ist, etwa einem Rotluchs mit nur drei Beinen oder einer Eichel, die sich nicht zur Eiche entwickelt. Thompson schreibt: the judgment of natural defect, so explained, must in a sense reach beyond the ‘facts’ about an individual. It reaches beyond them, though, to what appear equally to be ‘facts’ – namely, facts about its kind or species or life-form. What merely ‘ought to be’ in the individual we may say really ‘is’ in its form.20

Das Sollen für das Individuum soll an der Beschreibung der Form hängen. Die Zuordnung zu einer Lebensform liefert quasi die Brücke über die Sein-SollenSchlucht. Oder wie es Thompson 2004 ausdrückte: Ein Individuum unter eine Lebensform zu bringen, bedeutet zugleich, es unter eine bestimmte Art von Standard zu bringen.21 Kritisch ist gegen diese Vorstellung eines Standards oder einer Norm einer Lebensform, die normative Konsequenzen haben soll, eingewandt worden, dass sie mit dem modernen biologischen Artbegriff nicht vereinbar sei. Biologische Arten sind – darauf haben u.a. Anton Leist und Ursula Wolf verwiesen –, im Rahmen des Darwinschen Evolutionsdenkens nicht mehr typologisch zu verstehen, ausgerichtet an einer Norm, sondern als Populationen, für die Variation essenziell ist.22 Innerhalb des evolutionstheoretisch genealogisch bestimmten Artbegriffs gibt es keinen »Standard«, der als Norm fungieren könnte. Ich denke, diese Kritiker haben insoweit Recht, als es um den biologischen Artbegriff geht. Thompson könnte seine Position nach meiner Ansicht stärken, indem er klar zwischen den Begriffen Art und Lebensform unterscheiden 18  Thompson 2008, 104. 19  Rödl 2003, 114. 20  Thompson 2008, 81. 21  Thompson 2004, 55. 22  Leist 2010; Wolf 2010.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Begriff der Lebensform

9

würde. Innerhalb eines näher zu bestimmenden Begriffs der Lebensform könnte ein Standard definiert werden, an dem eine Form der Normativität hängt. Dieser normativ aufgeladene Begriff wäre aber sicher nicht der in der Biologie tradierte Begriff der Lebensform. Denn dieser ist viel zu vage und offen. Jedem Individuum werden in der biologischen Lebensformenlehre wie gesagt auch nicht nur eine, sondern viele Lebensformen zugeordnet; Lebensformwechsel ist die Regel, nicht die Ausnahme. Der von Thompson mit Normativität ausgestattete Begriff der Lebensform müsste also erst noch näher bestimmt und dabei deutlich von den biologischen Begriffen sowohl der Art als auch der Lebensform unterschieden werden. Dieser Lebensformbegriff könnte durchaus eine biologische Verwurzelung haben, wie jeder weiß, der Naturführer verwendet: In ihnen ist angegeben, wie eine Pflanze oder ein Tier (in einer Phase von deren Evolutionsgeschichte) aussehen muss, wenn es einer bestimmten Art zugeordnet werden soll. Mehr als fraglich ist es aber, dass ein so bestimmter Lebensformbegriff über diesen pragmatischen Kontext der Tier- und Pflanzenbestimmung hinaus eine tiefe Verankerung in modernen biologischen Theorien hat und haben kann. Mir scheint Thompsons Lebensformbegriff in der typologisch denkenden Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts verankert zu sein: Diese hatte für jedes Individuum eine seiner Art gemäße gottgegebene Form postuliert, an der sich zu orientieren eine Norm darstellte. Für die Biologie seit Darwin kann aber nicht eine solche Norm leitend sein, weil nicht die Konstanz einer Art oder Lebensform, sondern gerade die Variation theoretisch zentral ist. An der Variation der Individuen hängt bekanntlich die ganze Dynamik der Evolution. 3.

Normativität und Lebendigkeit

Ein anderer Begriff der Normativität, der in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, geht ebenfalls vom Begriff der Lebensform aus. Bei ihm spielt allerdings der erste Wortbestandteil, das ›Leben‹, die größere Rolle als die ›Form‹. Die Normativität soll sich hier direkt aus der Lebendigkeit ergeben. Philippa Foot hat dafür den Begriff der naturgemäßen Gutheit, natural goodness, vorgeschlagen. Die naturgemäße Gutheit ist für sie eine Besonderheit der Lebewesen, weil allein in Bezug auf Lebewesen von einem Wohlergehen und der Erfüllung von Bedürfnissen die Rede sein könne. Lebewesen würden daher im Gegensatz zu den unbelebten Dingen über ein intrinsisches Gut verfügen. Foot spricht von einer »natürlichen Normativität« (natural normativity) in Bezug auf Lebewesen, Pflanzen ebenso wie Tieren:

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

10

Georg Toepfer ‘natural’ goodness, as I define it, which is attributable only to living things themselves and to their parts, characteristics, and operations, is intrinsic or ‘autonomous’ goodness in that it depends directly on the relation of an individual to the ‘life form’ of its species.23

Die Gutheit hängt hier wesentlich am Lebensbegriff, insofern es zum Begriff des Lebens dazugehört, dass das Bezeichnete gestört und zerstört werden kann. Die Gutheit hängt hier aber auch am Formbegriff, weil dieser, wie bei Thompson, einen Standard für einen bestimmten Typus von Lebewesen liefert. Für die Lebensform des Menschen ist es nach Foot beispielsweise charakteristisch, dass Sehen, Hören, ein Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit zu ihr gehören – daher sei vor dem Hintergrund dieser Fähigkeiten das Gute des menschlichen Lebens zu bestimmen. Diese Vorstellung der Verbindung zwischen dem Lebensbegriff und dem Guten, Wertvollen, Normativen kann auf eine reiche Tradition zurückblicken. Einen vom Leben des einzelnen Individuums – und nicht etwa von seiner Zugehörigkeit zu einer Art oder Lebensform – ausgehenden Begriff von Normativität entwickelt Georges Canguilhem in seiner historischen Analyse der Vorstellungen des Normalen und Pathologischen. Normativität ergibt sich für Canguilhem einfach aus der Funktionalität des Lebens: »Das Leben selbst und nicht erst das medizinische Urteil macht aus dem biologisch Normalen einen Wertbegriff, der mehr als eine bloß statistische Wirklichkeit bezeichnet«.24 In diesem Sinne spricht Hans Jonas von der »fundamentale[n] Selbstbesorgtheit alles Lebens« und dem »absolute[n] Interesse des Organismus an seinem eigenen Dasein«.25 Trotz der wiederholten Kritik an dieser naturalistischen Verankerung der Normativität in Grundkonzepten der Biologie findet diese Position auch in der Gegenwart ihre Anhänger. So behauptet Christina Pinsdorf einen »normativen Status aller Lebewesen« und hält die »Gedeihensfähigkeit« eines Lebewesens für das grundlegende Kriterium seiner moralischen Berücksichtigungswürdigkeit: »Auf der Basis ihrer Gedeihensfähigkeit können allen Lebewesen ein je eigenes Gut sowie daraus folgend bessere resp. schlechtere Zustände zugeschrieben werden.«26 Das Problem dieser Ansätze sehe ich darin, dass sie mit unscharfen Begriffen operieren. Diese Begriffe, wie ›Leben‹, ›Selbstbesorgtheit‹ oder ›Gedeihensfähigkeit‹ bewegen sich auf der Grenze von naturalistischen Beschreibungsbegriffen und normativen Wertbegriffen. Sie müssen sich auf dieser Grenze bewegen, weil sie die beiden an der Grenze zusammen23  Foot 2001, 26. 24  Canguilhem 1943/72 (dt. 1977), 85f. 25  Jonas 1951/66, 160f. 26  Pinsdorf 2016, 155. Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Begriff der Lebensform

11

stoßenden Lager miteinander vermitteln und die Grenze überwinden sollen. Die Begriffe bleiben dabei aber wenig analysiert. In naturalistischer Hinsicht liegt ihnen nichts als die Vorstellung von kybernetischen Sollwerten zugrunde. Es geht darum, das organische Streben nach Selbsterhaltung als normativ relevant auszuzeichnen. Es bedürfte aber einer eigenen Begründung dafür, dass etwas, das auf seine Selbsterhaltung hin stabilisiert ist, intrinsisch gut ist. Ohne weiteres Argument ist nicht einzusehen, warum naturale Mechanismen der kybernetischen Regulation, die Prozessen der Selbsterhaltung zugrunde liegen, ethische oder in anderer Hinsicht normative, über die Rede von Sollwerten hinausgehende Implikationen haben sollten. Unser Umgang mit Lebewesen, die wir trotz ihrer auf Selbsterhaltung angelegten Daseinsweise nicht schätzen und nicht für wertvoll halten, wie dem Pesterreger, weisen in Richtung der ethischen Neutralität oder zumindest ethischen Schwäche der Kategorie der Lebendigkeit. Streben nach Selbsterhaltung oder Gedeihensfähigkeit ist daneben ein Phänomen, von dem nicht klar ist, ob es nicht auch im Bereich des Anorganischen erscheint, etwa bei mineralischen Wachstumsprozessen (Stalaktiten) oder Klimaphänomenen auf der Erde (Lovelocks »Gaia«). Viel spricht für eine moralische Berücksichtigungswürdigkeit auch solcher Entitäten, die nicht leben, wie Ökosystemen, oder auch gänzlich anorganischer Gebilde, die nicht auf ihre Selbsterhaltung ausgerichtet sind wie Berge oder natürliche Flussläufe. Unsere Wertschätzung dieser Dinge ist offenbar weitgehend unabhängig von der Frage, ob sie leben oder auf Selbsterhaltung ausgerichtet sind. Die Kriterien der Lebendigkeit, Selbstbesorgtheit oder Gedeihensfähigkeit sind daher weder hinreichend noch notwendig im Hinblick auf moralische Berücksichtigungswürdigkeit. Ethisch relevante Normativität ergibt sich meines Erachtens nicht automatisch aus der spezifischen Organisationsweise oder kybernetischen Reguliertheit von Systemen. Und sie ergibt sich auch nicht (das sollte der zweite Abschnitt zeigen) aus naturhistorischen Urteilen, die jedes Individuum zu einem Exemplar einer Gattung machen. Ethisch relevante Normativität entsteht erst im sozialen Miteinander von sprachbegabten, rationalen Wesen. Die Konstellation von Faktoren, die das Miteinander dieser Wesen ermöglichen, kann als eine eigene Lebensform verstanden werden. Und ausgehend von dieser Lebensform kann ein ethisch relevanter Begriff der Normativität entfaltet werden – was hier nur angedeutet werden kann. 4.

Die Entstehung von Normativität in der menschlichen Lebensform

In seiner Tierkunde diskutiert Aristoteles die Verschiedenheit der Lebewesen nach der Verschiedenheit ihres Körperbaus und ihres Verhaltens: »Die Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

12

Georg Toepfer

Lebewesen unterscheiden sich in ihren Lebensweisen, ihren Handlungen, ihren Charakteren und ihren Körperteilen«.27 Nach der Vorstellung verschiedener Einteilungsarten, etwa in Land- und Wassertiere, an einem Ort verwurzelte und bewegliche Tiere oder in Fleisch-, Frucht- und Allesfresser, kommt Aristoteles in direktem Anschluss daran zur Lebensform des Menschen, die er durch seine Überlegungsfähigkeit ausgezeichnet sieht.28 In seinen ethischen Schriften knüpft Aristoteles an die Fähigkeit zur Überlegung die Fähigkeit zur Handlung, so dass allein der Mensch »Ursprung von bestimmten Handlungen« sein könne, »er allein unter den Lebewesen, insoferne von keinem anderen gesagt werden könnte, es handle«.29 Urheber seiner Handlungen ist der Mensch nach Aristoteles dort, wo etwas »willentlich und gemäß der Entscheidung des einzelnen geschieht«30 – und dies erfolge nicht bei Tieren und nicht bei Menschenkindern bis zu einem gewissen Alter, »sondern erst dann, wenn schon auf Grund von Überlegung gehandelt wird«.31 Helmuth Plessner, der für eine derartige Charakterisierung eines Wesens den Ausdruck ›Lebensform‹ verwendet, bestimmt den Menschen über eine eigene Lebensform, die er als »exzentrisch« bezeichnet. Die »Exzentrität« sei die Lebensform des Menschen, insofern er auf künstliche Mittel zur Bewältigung seines Lebens angewiesen sei: »Der Mensch lebt also nur, wenn er ein Leben führt.«32 Darin liege eine »Lebensform, die allein das Menschliche am Menschen ausmacht«33 und die Plessner, der Tradition Hegels folgend, als »Geist« bezeichnet: »die mit der eigentümlichen Positionsform geschaffene und bestehende Sphäre«.34 Die historisch verschiedenen Lebensformen des Menschen kommen nach Plessner darin überein, dass sie die gemeinsame Form der Exzentrizität aufweisen und insofern zusammen als eine spezifische (menschliche) Lebensform angesehen werden. Charakteristisch ist für die Lebensform des Menschen nach Plessner auch – wie schon der Begriff des Geistes deutlich macht –, dass sie nicht in erster Linie einzelnen Individuen zukommt, sondern gemeinschaftlich getragen wird. Die geistige Lebensform des Menschen ist also eine kollektive oder, wie es Ludwig Feuerbach ein27  Aristoteles, Historia animalium 487a10-12: διαφοραὶ τῶν ζῴων εἰσὶ κατά τε τοὺς βίους καὶ τὰς πράξεις καὶ τὰ ἤθη καὶ τὰ μόρια. 28  Aristoteles, Historia animalium 488b24-25: Βουλευτικὸν δὲ μόνον ἄνθρωπός ἐστι τῶν ζῴων; vgl. Metaphysik 980b25. 29  Aristoteles, Ethica Eudemica 1222b18-21. 30  Aristoteles, Ethica Eudemica 1223a15. 31  Aristoteles, Ethica Eudemica 1224a30. 32  Plessner 1928, 316; vgl. dazu Wunsch 2018, 484. 33  Plessner 1928, 316. 34  Plessner 1928, 303.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

13

Der Begriff der Lebensform

hundert Jahre vor Plessner ausdrückte: »Sofern ich denke, bin ich Mensch als Gattungswesen [cogitans ipse sum genus humanum], nicht als Einzelner, wie es beim Empfinden, Fühlen, Thun und bei den Lebensfunktionen [quum sentio, vivo, ago] der Fall ist; auch nicht ein beliebiger Jemand, der oder jener, sondern Niemand. Im Denken bin ich allgemein nicht als eine Person, welche ihre Besonderheit für sich hat«.35 Moralisch relevante Normativität entsteht erst in der kollektiv verfassten und getragenen Lebensform des Menschen. Eine Konstellation von verschiedenen Faktoren war an der Entstehung von Normativität in dieser Lebensform beteiligt. Unter anderem spielten dabei eine Rolle: soziale Kooperation, kontrafaktisches Denken und Imaginationsfähigkeit, propositionale Sprache, Fähigkeit zum Argumentieren mit nichtbeobachtbaren Entitäten, Denken in Analogien, Relationen und abstrakten Regeln, Überlegungsfähigkeit, Rationalität, Leben in einem Raum von Gründen, reflektierende Selbstbewertung, theory of mind, Empathie, Zwecksetzungsautonomie und Andershandelnkönnen, Selbst- und Fremdverpflichtung, Versprechens- und Vorwurfskultur. In verschiedenen Theorieansätzen können einzelne dieser Faktoren in den Vordergrund gestellt werden. Viele von ihnen, so bereits die ersten beiden, hängen auch eng zusammen: Das Verstehen der mentalen Zustände von anderen ist eine Form der Imaginationsfähigkeit und gleichzeitig für soziale Kooperation entscheidend.36 5.

›Mensch‹ zwischen Art- und Lebensformbegriff

Als Spezies ist der Mensch ein Tier, ein kleiner Zweig im großen Baum der Tiere (Animalia). Wesentlich verschieden von den Tieren kann der Mensch nach diesem biologischen Speziesverständnis schon deshalb nicht sein, weil biologische Arten keine wesentlichen, intrinsischen Eigenschaften aufweisen. Biologische Arten haben nur relationale Eigenschaften. Der Mensch als biologische Art könnte daher seine Rationalität und Sprache und mit ihnen die Dimension der Normativität verlieren, dabei aber doch die gleiche Art bleiben, wenn er nur seinen Fortpflanzungszusammenhang ohne Abspaltungen von neuen Arten bewahren würde. Als Lebensform ist der Mensch dagegen kein Tier, sondern durch einen Komplex von intrinsischen Eigenschaften und Fähigkeiten gekennzeichnet, die seine Welt von der Daseinsweise der Tiere radikal unterscheidet. Trotzdem ist 35  Feuerbach 1828, 311. 36  Vgl. Suddendorf 2013.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

14

Georg Toepfer

der Speziesbegriff für unser Selbstverständnis als Menschen und die Definition der Alltagskategorie ›Mensch‹ von Bedeutung. Wir halten das biologische Selbstverständnis aufrecht – nicht zuletzt aufgrund von historischer Erfahrungen der Ausgrenzung –, weil es inklusiv ist, weil es auch solche Wesen einschließt, die als Individuen zu einem Zeitpunkt nicht über die genannten Fähigkeiten verfügen, die damit zumindest (gegenwärtig oder dauerhaft) nicht aktiv an der Aufrechterhaltung der menschlichen Lebensform beteiligt sind, wie Säuglinge, schlafende oder geistig schwerkranke Menschen. Auch ihnen schreiben wir eine Würde zu, und auch sie fassen wir selbstverständlich als Menschen auf. In der Unterscheidung von ›Mensch‹ als Art- und Lebensformbegriff liegt eine Trennung des Kriteriums zur Definition der Kategorie Mensch, also des Kriteriums zur Identifikation eines Wesens als Menschen, von der explanativen Ebene, die zentrale explanative Begriffe benennt, über die das Wesen dieser Art, die Natur des Menschen, ausgezeichnet werden kann, wie Sprache, Rationalität usw.37 Ausgehend vom biologischen Artbegriff macht die Rede von der Natur des Menschen keinen Sinn. Als Lebensform kann sie aber expliziert werden: Sprache, Rationalität, Normativität gehören zu dem, was die menschliche Lebensform besonders macht, auch wenn nicht jeder Mensch sprachfähig oder rational ist. Hier zeigt sich also der Wert der Unterscheidung von Art- und Lebensformbegriff. Normativität ist eine Dimension, die ausgehend von einer Lebensform, nicht ausgehend vom biologischen Speziesbegriff entwickelt werden kann. Über Normativität kann eine Lebensform charakterisiert werden, die auch in anderen Spezies als der menschlichen verwirklicht wird. Normativität könnte als ein explanatorisch wichtiger Begriff verstanden werden, der definiert, was die menschliche Lebensform ist und aus dem andere Eigenschaften dieser Lebensform verständlich werden – der aber damit gerade nicht definieren kann, was ein Mensch ist. Die Menge derjenigen Wesen, die für ihre Gemeinschaft Sprache, Rationalität und Normativität für bedeutsam im Hinblick auf ihr Selbstverständnis halten, die also nach traditioneller Auffassung der Lebensform des Menschen angehören, deckt sich zwar nicht mit der Menge der Menschen, verstanden als Angehörige der Spezies Homo sapiens – allein die Angehörigen der Lebensform Mensch definieren aber in ihrem kommunikativen Austausch, wie relevant die Zugehörigkeit zur biologischen Spezies für ihre moralische Berücksichtigungsfähigkeit ist – unsere

37  Vgl. Roughley 2011.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Begriff der Lebensform

15

historische Erfahrung zeigt, dass sie sehr relevant sein sollte. Dies ist aber eine historische Erfahrung, die einen Naturalismus stark macht, den Naturalismus der Verwandtschaft; dahinter verbirgt sich kein apriorisches Argument. Literaturverzeichnis Aristoteles 1962, Eudemische Ethik, übersetzt und erläutert von Franz Dirlmeier, Berlin. — 2013, Historia animalium Buch I und II, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Stephan Zierlein, Berlin. Buffon, Georges-Louis Leclerc de 1749, Histoire naturelle, générale et particulière, Bd. 2, Paris. Butte, Wilhelm 1829, Die Biotomie des Menschen oder, Die Wissenschaft der NaturEintheilungen, Bonn. Canguilhem, Georges 1943/72, Le normal et le pathologique. [dt.: Das Normale und das Pathologische, Frankfurt a.M. 1977.] Feuerbach, Ludwig 1828, De ratione una, universali, infinita, dt. Übers.: Ueber die Vernunft; ihre Einheit, Allgemeinheit, Unbegrenztheit (Erlanger Inaugural-Dissertation), in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, hg. v. Friedrich Jodl, Stuttgart 1910, 299-356. Foot, Philippa 2001, Natural Goodness, Oxford. Friederichs, Karl 1930, Die Grundfragen und Gesetzmäßigkeiten der land- und forstwirtschaftlichen Zoologie, Bd. 1, Berlin. Gams, Helmut 1918, »Prinzipienfragen der Vegetationsforschung. Ein Beitrag zur Begriffsklärung und Methodik der Biocoenologie«, in: Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 63, 293-493. Ghiselin, Michael 1997, Metaphysics and the Origin of Species, Albany. Hull, David 1978, »A matter of individuality«, in: Philosophy of Science 45, 335-360. Jonas, Hans 1951/66, »Is God a mathematician?«, dt. in: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a.M. 1994, 127-178. Koepcke, Hans-Wilhelm 1971-74, Die Lebensformen. Grundlagen zu einer universell gültigen biologischen Theorie, 2 Bde., Krefeld. Leist, Anton 2010, »Naturalismus bei Foot und Hursthouse«, in: Thomas Hoffmann/ Michael Reuter (Hg.), Natürlich gut. Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, Heusenstamm, 121-148. Mayr, Ernst 1942, Systematics and the Origin of Species, New York. Pinsdorf, Christina 2016, Lebensformen und Anerkennungsverhältnisse. Zur Ethik der belebten Natur, Berlin. Plessner, Helmuth 1928, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1975. Rödl, Sebastian 2003, »Norm und Natur«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51, 99-114.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

16

Georg Toepfer

Roeschlaub, Andreas 1804, Entwurf eines Lehrbuches der allgemeinen Jaterie und ihrer Propädeutik, Bd. 1, Frankfurt a.M. Roughley, Neil 2011, »Human natures«, in: Sebastian Schleidgen/Michael Jungert/ Robert Bauer/Verena Sandow (Hg.), Human Nature and Self Design, Paderborn, 11-33. Suddendorf, Thomas 2013, The Gap. The Science of What Separates Us from Other Animals, New York. Thompson, Michael 2004, »Apprehending human form«, in: Anthony O’Hear (Hg.), Modern Moral Philosophy, Cambridge, 47-74. — 2008, Life and Action. Elementary Structures of Practice and Practical Thought, Cambridge, Mass. Warming, Eugenius 1896, Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie, Berlin. Wilkins, John S. 2003, The Origins of Species Concepts. History, Characters, Modes, and Synapomorphies, Phil. Diss., Univ. of Melbourne. — 2009, Species. A History of the Idea, Berkeley. Wolf, Ursula 2010, »Die menschliche Natur und das Gute. Ein Vergleich der Positionen von Aristoteles, Thompson und Foot«, in: Thomas Hoffmann/Michael Reuter (Hg.), Natürlich gut. Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, Heusenstamm, 293-321. Wunsch, Matthias 2018, »Vier Modelle des Menschseins«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66, 471-487.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen und naturethische Konsequenzen Christina Pinsdorf 1. Einleitung In der neuen geochronologischen Epoche des Anthropozäns sind Natur und Kultur mehr denn je augenscheinlich interdependent. Auf asymmetrische Weise werden jedoch die nicht-humane unbelebte wie belebte Natur in großem Umfang allgemeinen anthropogenen Einflüssen ausgesetzt und spezifischen menschlichen Zwecksetzungen unterworfen. Dabei hat auch die Eingriffstiefe erheblich zugenommen: im Rahmen der industriellen Landwirtschaft und weiterer zivilisatorischer Entwicklungen werden Habitate von Tier- und Pflanzenpopulationen stark verändert bzw. durch gentechnische Verfahren der synthetischen Biologie überdies die Organismen selbst. Intensivtierhal­ tung und Nutzpflanzenkultivierung orientieren sich ebenso an anthropozen­ trischen Kalkülen wie die Inwertsetzung von Natur in Bestimmungen von Naturkapital oder Ökosystemdienstleistungen. Diese Szenarien werfen unmittelbar praktische Fragen auf und geben zudem Anlass, das durch Zwecksetzungen der humanen Lebensform dominierte Verhältnis, das der Mensch zur belebten Natur einnimmt, zu hinterfragen. Damit konkrete Frage- und Problemstellungen aus der Praxis von Mensch-Natur-Verhältnissen nicht allein in der Engführung eines normativen Anthropozentrismus verhandelt werden, gilt es zu prüfen, ob neben der humanen Lebensform auch nichthumanen Lebensformen normative Bestimmungen in Form eines moralischen Status zuzuordnen sind. Wenn auch teilweise in deutlich unterschiedlichen Ausprägugungen, vertreten Aristoteles, Kant, Schelling und Hegel die Auffassung, dass die zweckmäßige Verfasstheit von Lebewesen als das zentrale Bestimmungsmoment der belebten Natur auszumachen ist.1 Für alle genannten Autoren zeichnen sich Wesen, die als Naturzweck existieren, dadurch aus, dass sie von sich selbst *  Die hier angestellten Überlegungen beruhen wesentlich auf meiner Monographie Pinsdorf (2016). Die einzelnen Aspekte werden dort ausführlicher diskutiert. 1  Vgl. für thematisch besonders einschlägige Stellen der genannten Autoren: Aristoteles, Phys II 8 199a; Kant, KU B 269; Schelling, Ideen 94; Schelling, Weltseele 215; Hegel, Logik II 476; Hegel, PhG 175.

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_003

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

18

Christina Pinsdorf

zugleich Ursache und Wirkung sind bzw. bei Kant, dass wir sie nicht anders als so zu denken vermögen. Zeitgenössische Autor*innen wie Thompson, Foot, Hursthouse und Kors­ gaard teilen diese Auffassung der zweckmäßigen Verfasstheit von Lebewesen. Sie gehen damit weiterhin davon aus, dass wohlverstandene teleologische Erklärungen erforderlich sind, um die belebte von der unbelebten Natur abzugrenzen. Genannte historische wie zeitgenössische Autor*innen stimmen mithin überein, dass Lebewesen im Gegensatz zu Dingen nicht bloß durch kausal-mechanische Beschreibungen erklärt werden können. Ein universalmechanistischer Reduktionismus ist vor diesem Hintergrund ebenso zurückzuweisen wie eine intentionale Universalteleologie. Beim Menschen, dessen Lebensform zusätzlich Subjektivität auf sich vereinigt, stimmen Natur und Freiheit im Sinne von Naturteleologie und intentionaler Teleologie, also im Sinne von Naturzweck(setzung) und Selbstzweck(setzung) zusammen. Inwiefern ist aber das Konzept (der humanen und ebenso der nicht-humanen) ›Lebensform‹ als grundlegend normatives Konzept zu verstehen und weiter, lassen sich aus ihm naturethische Kon­ sequenzen ableiten? 2.

Lebensform als Form des Denkens

Im ersten Teil seiner vieldiskutierten Schrift »Life and Action« (2008) zeigt Michael Thompson, dass ›Leben‹ eine logische Kategorie repräsentiert und der Lebensformbegriff ausschließlich mit begrifflichen und nicht-empiri­ schen Differenzierungen operiert.2 Ebenfalls legt er dar, dass es kein rein empiristisches Verständnis von Lebensformen geben kann: Wissen über Lebensformen kann nicht allein aus Beobachtungsdaten gewonnen werden – ihm liegt stets notwendig ein kategoriales Lebensformverständnis zugrunde. Bis hierher argumentiert Thompson im Schulterschluss mit Hegels logischer Darstellung der Strukturen des Denkens; bei der Bestimmung empirisch gehaltvoller Lebensformen distanziert er sich allerdings wieder von Hegel, für den der Begriff gegenüber der Natur prioritär und die Natur gegenüber dem Begriff prinzipiell defizitär bleibt. Thomspon hebt indes eine wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung zwischen deskriptiven und normativen Beschreibungen hervor, die in der empirisch gehaltvollen Lebensform zusammenfallen und vielmehr – nun eher im Sinne der Schelling’schen Naturphilosophie – einen Wirklichkeitszusammenhang von Lebewesen und Lebensform nahelegen, als eine Vorrangstellung des Lebensformbegriffs. Während die Begriffe ›Leben‹, 2  Vgl. Thompson 2008, 1-82. Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen

19

›Lebensform‹ usw. für Thompson analytische Begriffe a priori darstellen, die als logische Kategorien unmittelbar durch die Vernunft gegeben sind, ist die empirisch gehaltvolle Lebensform als integratives Konzept aufzufassen, das reinen Lebensformbegriff und empirisch gegebene Lebewesen miteinander vermittelt.3 Die empirisch gehaltvolle Lebensform kann auch trefflich als materialbegrifflich-generisches Wissen bezeichnet werden.4 In der empirisch gehaltvollen Lebensform sind Einzelheit und Allgemeinheit verschränkt, da hier die mannigfaltigen Instanziierungen der Exemplare unter die Einheit des Begriffs gebracht werden. Der für die von Thompson gewählte Untersuchungsmethode zentrale Begriff ist der der Urteilsform. In Anlehnung an Kant und Gottlob Frege ist Thompson der Überzeugung, dass die Unterscheidungen zwischen den Stufen des Seins nicht empirisch, sondern logisch fundiert sind: »It is because in the end we will have to do with a special form of judgment, a distinct mode of joining subject and predicate in thought or speech, that I am emboldened to say that the vital categories are logical categories.«5 Thompson gelten die verschiedenen Formen des Denkens und Urteilens zunächst als grundlegende intellektuelle Vermögen des Menschen, die diesem das Fassen wohlgebildeter Gedanken ermöglichen. Im Rahmen seiner Urteilstheorie knüpft er bei Frege an, der zeigt, wie reine Begriffe anhand der Form des Denkens und Urteilens zu verstehen sind. Auch wenn sich die Frege’schen Leitbegriffe6 – u.a. Gegenstand, Begriff, Beziehung – von denjenigen Thompsons – Leben, Lebewesen, lebendiger Prozess, Lebensform – unterscheiden, handele es sich in beiden Fällen um strukturell vergleichbare gehaltvolle Begriffe, deren zugrunde liegende Urteilsform Thompson analysiert. Zur Veranschaulichung einer Urteilsform wählt Thompson das Beispiel ›x überfuhr y‹. Jedes Urteil, welches diese Form exemplifiziere, beinhalte auch die allgemeinere Form des relationalen Ausdrucks F(x, y); also beispielsweise auch die Urteile ›x ist größer als y‹ und ›x ist das imposanteste Bauwerk in y‹. Sie können, wie dergleichen Urteile mehr, als gehaltvolle oder inhaltliche Formen des Denkens bezeichnet werden. Obschon sie im Vergleich zur Form F(x, y) bereits relativ gehaltvoll seien, handele es sich immer noch um Formen, welche noch gesättigt, d.h. mit weiterem Inhalt gespeist werden müssen, damit sie zu wohlgebildeten Gedanken werden, auf welche die Wahrheitsfrage angewandt werden könne (gesättigte Urteile wären etwa ›Müller überfuhr Schmitt‹, ›sechs ist größer als vier‹ 3  Auch im Sinne des Aristotelischen eidos sind Stoff (empirisch) und Form (begrifflich) zwei in der Lebensform vereinte Momente. Vgl. Aristoteles, Phys II 1 192b–193b; Aristoteles, Phys II 2 194 a. 4  Vgl. Stekeler-Weithofer 2011, 413. Vgl. hierzu auch Hoffmann 2015, 49f. 5  Thompson 2008, 48. 6  Vgl. Frege 1892, 192-205. Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

20

Christina Pinsdorf

oder ›der Kölner Dom ist das imposanteste Bauwerk in Nordrhein-Westfalen‹ etc.). F(x, y) sei die allgemeine oder logische Form, die in jeder der aufgeführten gehaltvollen Formen materialisiert sei und von Kant als reine Urteilsform bestimmt werde. Nun ist Thompson zufolge das Frege’sche System bezüglich der in ihm enthaltenen Urteilsformen beschränkt und mündet in eine verarmte Interpretation des Seins, d.h. dessen wie Etwas gemäß der formalen Möglichkeiten etwas sein könne. Somit sei Freges ›Urteilstafel‹ (»›table of forms of judgment‹«7) unvollständig. Angeleitet von der für ihn zentralen Überzeugung, dass bestimmte Klassen vollständig gehaltvoller Gedanken Formen teilen, die durch Freges Urteilsformen nicht abgebildet werden, die aber dennoch im Unterschied zu ›x überfuhr y‹ und ebenso wie ›F (x,y)‹ rein seien, begibt sich Thompson auf die Suche nach nichtfregeschen Formen des Denkens und Urteilens. Fündig wird er auf der Stufe des Lebendigen bzw. im Rahmen der Kategorie ›Leben‹. Die Herausforderung bestehe nun darin, eine spezifische Form allgemeinen Urteilens zu isolieren, mit denen die empirisch gehaltvolle Lebensform erfasst werden könne. Thompson nennt die Urteile, anhand derer die gesuchte Urteilsform ausgedrückt werden kann, naturhistorische Urteile (›naturalhistorical judgments‹). Diese seien als nichtfregesche Formen des Denkens geeignet, empirisch gehaltvolle Lebensformen zu charakterisieren, indem sie auf eine besondere Weise ausdrücken, wie Etwas etwas sein kann. Paradigmatisch für naturhistorische Urteile seien Formulierungen, die typischerweise in Begleitkommentaren des dokumentarischen Naturfilms geäußert werden, wie etwa ›Rotluchse haben im Frühjahr Junge‹ oder ›Die Hauskatze hat vier Beine‹.8 Auch wenn sich die genannten Urteile ihrem Inhalt nach eindeutig unterscheiden, verbinde sie – als entscheidende Gemeinsamkeit – die Form des Denkens, die unter jene Kategorie falle, welche Thompson zu etablieren strebt: die Kategorie der Lebensform. Eine besonders bedeutsame These stellt Thompson zum Ende des ersten Teils auf, indem er dem System naturhistorischer Urteile zubilligt, mit dem empirisch gehaltvollen Lebensformbegriff einen naturgemäßen Standard für dessen Exemplare bereitzustellen. Schließlich sei mit der folgenden einfachen Regel des Schließens eine abstrakte Kategorie des ›naturgemäßen Defekts‹ implizit definiert: »[F]rom: ›The S is F‹, and: ›This S is not F‹, to infer: ›This S is defective in that it is not F‹.«9 Genau dies sei der Sinn, nach welchem naturhistorischen Urteilen Normativität zukomme. 7  Thompson 2008, 16. 8  Vgl. Thompson 2008, 20. Für typische Formulierungen vgl. auch die zoologischen Schriften des Aristoteles, wie z.B. Über die Teile der Tiere. 9  Thompson 2008, 80. Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen

3.

21

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen

Dem normativen Potenzial, das sein integrativer Ansatz der Beschreibung von Lebensformen mittels naturhistorischer Urteile für eine Ethik der belebten Natur entfalten kann, geht Thompson nicht weiter nach, sondern wendet sich im zweiten und dritten Teil seiner Schrift handlungstheoretischen und praktischen Aspekten der menschlichen Lebensform zu. Er arbeitet zwar heraus, dass alle Lebensformen einen natural standard für ihre Exemplare enthalten, deutet diesen allerdings nur evaluativ-normativ im Sinne einer naturgemäßen Gutheit10 oder Mangelhaftigkeit von individuellen Lebewesen als Exemplare einer spezifischen Lebensform aus. 3.1 Naturgemäße Gutheit (›gut als‹) Philippa Foot greift die Idee des natural standard von Thompson auf und entwickelt sie unter der Bezeichnung natural normativity weiter. Sie untersucht die normativen Implikationen naturhistorischer in der spezifischen Ausprägung naturteleologischer Urteile. Im Rahmen ihres neoaristotelischen Naturalismus11 beschreibt Foot eine spezifische Art der Evaluation: Sie bezeichnet die logische Form der Bewertung als »natural goodness and defect in living things«12. Unter naturgemäßer Gutheit und naturgemäßer Mangelhaftigkeit versteht Foot die Gutheit oder Mangelhaftigkeit eines individuellen Lebewesens bzw. seiner Verfasstheit, Charakteristika oder Tätigkeiten in Relation zu seiner spezifischen Lebensform. So sei bei Lebewesen – ob nun Pflanze, Tier oder Mensch – eine logisch spezifische Form der Evaluation möglich, die sich von der Bewertung ihrer als nützlich oder gefährlich, schön oder hässlich, unterscheide, innerhalb der Moralphilosophie jedoch vernachlässigt worden sei. Sie weist darauf hin, dass naturhistorischen Urteilen resp. Aristotelischkategorischen Aussagen Thompsonscher Provenienz eine teleologische Struktur zu eigen ist, die auf etwas verweist, was im Lebenszyklus individueller Lebewesen eine Rolle spielt. Die logisch distinkten naturhistorischen Urteile enthalten ihr zufolge auch normative Elemente und zeigen an, was im Rahmen seines Lebensprozesses von wesentlicher Bedeutung für ein

10  ›Natural goodness‹ wird oftmals mit ›natürlicher Güte‹ übersetzt. Aufgrund missverständlicher Konnotationen beider Begrifflichkeiten (›natürlich‹ als Gegensatz zu ›künstlich‹, ›Güte‹ als Form der Barmherzigkeit oder der Güteklasse einer Ware) wird ›natural goodness‹ hier mit dem philosophischen Begriff ›naturgemäße Gutheit‹ übersetzt. 11  Für eine ernstzunehmende Kritik am zeitgenössischen neoaristotelischen Naturalismus siehe Rothhaar 2015, 117-120. 12  Foot 2001, 3. Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

22

Christina Pinsdorf

Lebewesen ist (matters).13 Die Aristotelischen Notwendigkeiten hängen von den Bedürfnissen der jeweiligen Pflanzen- resp. Tierart ab und bestimmen zusammen mit deren natürlichem Lebensraum und Verhaltensrepertoire, was es für Exemplare einer bestimmten Spezies bedeute, so zu sein, wie sie sein sollten und das zu tun, was sie tun sollten.14 Eine gute Löwin müsse etwa ihre Jungen das Jagen und Erlegen von Beutetieren lehren und eine Biene müsse den Tanz der Bienen beherrschen, um nicht als defektes Exemplar zu gelten. Bei der Bestimmung der Löwin und der Biene als gutes oder mangelhaftes Exemplar ihrer Art handele es sich um objektive Tatsachen. Als gelungen gelte somit alles, was den typischen Lebenszyklus einer Spezies verwirkliche. Foot schreibt: »The good of the oak is its individual and reproductive life cycle, and what is necessary for this is an Aristotelian necessity in its case. Since it cannot bend like a reed in the wind, an oak that is as an oak should be is one that has deep and sturdy roots.«15 Gemeinhin spreche man also davon, wie jedes Exemplar einer Spezies sein müsse und was es tun müsse, um zu gedeihen ( flourish). Ein Merkmal, das naturhistorische Urteile von statistischen Urteilen (über einige, die Mehrheit oder alle Exemplare einer Art) abgrenze, liege darin, dass erstere auf die Teleologie der Lebensform bezogen seien. Sie zeigen direkt oder indirekt an, wie Leben funktioniere, wie etwa Essen, Wachsen und Verteidigung bei einer bestimmten Spezies in einem konkreten Habitat zustande kommen. Aufgrund dessen könne man mittels naturhistorischer Urteile Normen und

13  Vgl. Foot 2001, 32f. Christine Korsgaard rückt im Rahmen ihres neokantianischen Ansatzes das weiterführende Phänomen, dass Lebewesen sich selbst etwas bedeuten (matter to themselves), ins Zentrum ihrer Argumentation und fordert auf dieser Grundlage sodann direkte Pflichten des Menschen gegenüber der animalischen Natur ein, die sie als Zweck an sich selbst begreift (vgl. Korsgaard 2004, 103, 108). 14  Foot verwendet hier den Begriff ›species‹, räumt aber unter Verweis auf Thompson ein, dass es möglicherweise sinnvoller wäre, an dieser Stelle stattdessen von dem Begriff ›life form‹ Gebrauch zu machen (vgl. Foot 2001, 15 FN 14). Wie zuvor bereits dargelegt räumt Thompson seinerseits wiederum ein, dass der Speziesbegriff durchaus als adäquates Synonym für den Lebensformbegriff gebraucht werden kann (vgl. Thompson 2008, 28 FN 5). Sebastian Rödl teilt die Auffassung Thompsons und Foots. Er nennt »die einfachste Gestalt einer Bestimmung, die Maß und Wesen ist, […] eine Lebensform oder Spezies oder Art des Lebendigen« (Rödl 2003, 104) und legt eine synonyme Begriffsverwendung nahe. Im Allgemeinen wird der Speziesbegriff jedoch als biologischer Begriff im Sinne von ›Gattung‹ oder ›Art‹ verwendet, wohingegen dem Lebensformbegriff eine genuin philosophische Bedeutung zukommt. Foot tendiert stärker zu einer nichtsynonymen Verwendungsweise der Begrifflichkeiten wie etwa ihr Verweis auf »the relation of an individual to the ›life form‹ of its species« (Foot 2001, 27) anzeigt. 15  Foot 2001, 46. Vgl. hierzu auch Rothhaar 2015, 119.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen

23

nicht bloß statistische Normalitäten ausdrücken.16 Im Schnittfeld zweier verschiedener Urteile – eines naturhistorischen Urteils (als auf eine Spezies bezogene Lebensformbeschreibung) und eines Urteils über einzelne Lebewesen (als Gegenstand der Bewertung) – sei die Evaluierung des naturgemäß Guten eines individuellen Lebewesens daher auch ohne Verweis auf menschliche Interessen oder Wünsche möglich.17 In diesem Rahmen äußert sich Foot vereinzelt zwar auch über ein für Lebewesen Gutes, widmet ihre Ausführungen jedoch hauptsächlich der guten oder mangelhaften Qualität von Lebewesen als Instanziierungen einer spezifischen Lebensform. Die naturgemäße Gutheit von individuellen Lebewesen, ihr evaluativnormatives Wohlgebildetsein als Exemplar, ist aber nur eine Seite naturgemäßer Normativität. Mit Blick auf naturethische Implikationen ist die andere, von Thompson und Foot vernachlässigte Seite die eigentlich entscheidende. Diese andere Seite naturgemäßer Normativität kann als naturgemäße Zuträglichkeit bezeichnet werden:

Naturgemäße Normativität Naturgemäße Gutheit

Naturgemäße Zuträglichkeit

‚gut als‘ Exemplar

‚gut für‘ Exemplar

wohlgebildetsein

eigenes Gut haben

evaluativ-normativ

ethisch-normativ

16  Für eine vergleichbare Erklärung generischer Urteile siehe auch Stekeler-Weithofer 2011, 412, 418. 17  Vgl. Foot 2001, 33. Anton Leist lehnt Foots These, dass der empirisch-induktiven Beobachtung von Lebewesen eine besondere logische Struktur vorausgeht, die bereits teleologische sowie normative Urteile impliziert, mit dem Hinweis ab, dass derartige Vorstellungen von Lebewesen aus der Perspektive der modernen Evolutionsbiologie obsolet erscheinen müssten (vgl. Leist 2010, 133).    Zur Evolutionstheorie äußert Foot sich nicht ausführlich, insofern diese ihren Untersuchungsgegenstand unberührt lässt, der nicht darin besteht, wie Lebewesen sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben, sondern vielmehr darin, wie Lebewesen epistemologisch und ontologisch korrekt erfasst werden können bzw. was für ihr Überleben zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt notwendige Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen sind. Insofern ist ihre Konzeption zwar nicht auf die Evolutionstheorie bezogen, bleibt mit dieser jedoch kompatibel. Vermutlich würde sie sagen, dass ihre Theorie überhaupt erst die begriffliche Basis für eine tragfähige Evolutionstheorie liefert (vgl. Foot 2001, 40 FN 1. Vgl. hierzu auch Nagel 2012, 123).

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

24

Christina Pinsdorf

3.2 Naturgemäße Zuträglichkeit (›gut für‹) Vor dem Hintergrund des Lebensformkonzepts und einer wohlverstandenen Teleologie, d.h. einer zielgerichteten, jedoch nicht notwendig bewusstseinsgesteuerten oder absichtsgeleiteten Zweckmäßigkeit, eröffnet sich ein ethischnormativer Zugang zur belebten Natur. Denn naturhistorisch-naturteleologische Urteile weisen unter dem Gesichtspunkt naturgemäßer Zuträglichkeit auch darauf hin, unter welchen Bedingungen ein Exemplar einer Spezies gedeiht. Als Exemplare einer Lebensform zeichnen sich alle Lebewesen durch eine für sie naturgemäße Zuträglichkeit aus, die auf ein für sie je eigenes Gut im Sinne eines ihnen Zuträglichen verweist und erlaubt, sie als in besseren bzw. schlechteren Zuständen befindlich zu beurteilen. Naturhistorisch-naturteleologische Urteile verweisen demnach nicht nur auf die naturgemäße Gutheit von, sondern auch auf die naturgemäße Zuträglichkeit für individuelle Lebewesen als Exemplare einer spezifischen Lebensform und drücken aus, dass etwas gut für sie ist.18 Wie auch alle anderen Formen naturhistorischer Urteile werden sie im Rahmen der integrativen Lebensformbeschreibung generiert, die den für jede Auseinandersetzung mit Lebewesen konstitutiven Lebensformbegriff mit den mannigfaltigen Daten und Fakten empirisch gegebener Einzellebewesen vermittelt. Lebensformbeschreibungen – und so auch die in ihnen enthaltenen Urteile naturgemäßer Gutheit und naturgemäßer Zuträglichkeit – sind zugleich empirisch gehaltvoll wie begrifflich vorstrukturiert. Diese Art von Naturalismus wird u.a. als fregeanischer bzw. analytischer Aristotelismus19 oder auch hermeneutischer Naturalismus20 bezeichnet und kann von einem szientifischen Naturalismus á la Quine, Sellars oder Blackburn abgegrenzt werden.21 Im Gegensatz zu letzerem ist der analytische Aristotelismus nicht reduktionistisch oder gar eliminativ, sondern basiert zuvorderst auf einem im Hegel’schen Sinne recht verstandenen Begriff des Begriffs und im Falle der normativen Bewertung von Lebewesen auf einem richtigen Verständnis des besondere Merkmale aufweisenden Begriffs der Lebensform. Die Lebensform bildet den Referenzrahmen für die Beurteilung von Lebensprozessen als gedeihlich bzw. von Zuständen von Lebewesen als besser oder 18  Foots Spezifizierung der naturgemäßen Normativität arbeitet diesen Aspekt nicht klar genug heraus. Auch Rosalind Hursthouse erwähnt allenfalls beiläufig, dass Lebewesen, die gute Exemplare ihrer je spezifischen Lebensform sind, auch ein für sie gedeihliches Leben führen (vgl. Hursthouse 1999, 205). 19  Thompson 2008, 13, 22. 20  Hoffman 2015, 52-54. 21  Vgl. für einen differenzierten Definitionsversuch der verschiedenen Naturalismen auch Keil 2008.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen

25

schlechter. Es ist nicht erforderlich, dass ein Lebewesen auch nur prinzipiell dazu in der Lage sein muss, Interessen – im Sinne bewusster Präferenzen – ausbilden zu können, damit Urteile über seine naturgemäße Zuträglichkeit gebildet und Handlungen an ihm als für sein eigenes Gut zu- oder abträglich bewertet werden können. Denn der Zugehörigkeit eines Lebewesens zu einer bestimmten Lebensform kann auch ohne sein eigenes Wissen darum entnommen werden, was für seinen teleologisch verfassten Lebensprozess zuoder abträglich ist. Das bewusste Empfinden des eigenen Wohls stellt somit keine notwendige Voraussetzung für die Bestimmung naturgemäßer Zuträglichkeit dar. Vielmehr ist selbst niederen Tieren und Pflanzen ein eigenes, vom Menschen unabhängiges Gut nach Maßgabe ihrer spezifischen Lebensform zuzuschreiben. Selbstbewusste, bewusste und bewusstseinslose, d.h. alle Lebewesen zeichnen sich durch ihre Fähigkeit gedeihen zu können aus. Alle verkörpern einen individuellen Standpunkt in der Welt und allen kann ein je eigenes Gut zugeschrieben werden. Insofern sind vor dem Hintergrund der in der Lebensform verankerten naturgemäßen Zuträglichkeit die Zustände aller Lebewesen unabhängig von menschlichen Interessen ethisch-normativ beurteilbar. 4.

Konsequenzen für eine Ethik der belebten Natur

Da also auch der Umgang mit niederen Tieren und Pflanzen als für diese schädlich beurteilt werden kann, ist schon allein aufgrund von Konsistenzbedingungen nicht einsichtig, weshalb Schädigungen von Menschen und höher entwickelten Tieren einer moralischen Bewertbarkeit unterstehen sollten, jene von niederen Tieren und Pflanzen hingegen nicht. 4.1 Gedeihensfähigkeit als Schwellenkriterium Für einen langen Zeitraum waren der Anthropozentrismus und mit ihm die Überzeugung, dass allein Menschen um ihrer selbst willen moralisch zu berücksichtigen sind, vorherrschend. Seit einiger Zeit ist die anthropozentrische allerdings von der pathozentrischen Sichtweise abgelöst worden, die mittlerweile zum nicht hinterschreitbaren Standard avanciert ist. Im Zentrum des Pathozentrismus steht ein Ausweitungsargument, gemäß welchem das Kriterium eines genuinen Interesses an Leidensvermeidung bei Menschen auf leidens- bzw. empfindungsfähige nicht-humane Lebewesen extrapoliert wird. Autor*innen, die Ansätze dieser Art vertreten, gehen davon aus, dass nichtempfindungsfähigen Lebewesen keine Interessen zugeschrieben werden können. Als Konsequenz ergebe sich, dass ihnen auch kein Wohl oder Wehe zugefügt werden könne. Joel Feinberg ist etwa der Ansicht, es sei nicht

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

26

Christina Pinsdorf

möglich, interessenlosen Wesen zu schaden.22 So unterscheide sich etwa das für Pflanzen Gute nicht von einem Guten für bloße Dinge. Man sage zwar, dass eine bestimmte Art von Anstrich gut oder schlecht für die Innenwände eines Hauses sei, dies verpflichte den Menschen jedoch nicht zu einer Auffassung von Wänden als Entitäten, die ein eigenes Gut oder ein Wohl um ihrer selbst willen besitzen. Wie bloße Dinge werden gemäß dem Pathozentrismus auch niedere Tiere und Pflanzen gänzlich von moralischer Berücksichtigungswürdigkeit ausgeschlossen. Treffen die zuvor ausgeführten Thesen zur naturgemäßen Zuträglichkeit jedoch zu, gilt, dass das für Lebewesen Gute ihr Gedeihen begünstigt.23 Die pathozentrische Sichtweise, die das Kriterium der Empfindungs- bzw. Leidensfähigkeit als Schwellenkriterium für die Zuschreibung moralischer Berücksichtigungswürdigkeit begreift und somit alle nicht bewusstseinsfähigen Lebewesen für moralisch irrelevant erachtet, ist demnach durch eine gemäßigte biozentrische Argumentationsfigur zu ersetzen, welche die Fähigkeit gedeihen zu können als Minimalanforderung für die Zuschreibung basaler moralischer Berücksichtigungswürdigkeit versteht. 4.2 Asymmetrisch/nicht-reziproke Anerkennungsverhältnisse Die individuellen Instanziierungen von Lebensformen lösen bei ihrer Wahrnehmung (dem Erkennen) durch ein moralisches Subjekt in diesem bereits eine normativ konnotierte Wahrnehmung (ein Anerkennen) aus. Dieser Umstand rührt nicht zuletzt von der besonderen Form des Denkens, welche die Kategorie der Lebensform darstellt, her. Wie zuvor ausgeführt umfasst die Kategorie der Lebensform unter anderem den Aspekt naturgemäßer Normativität und erlaubt dem moralischen Subjekt, ethisch-normative Urteile bezüglich der für Exemplare einer Lebensform naturgemäßen Zuträglichkeit zu bilden. Das Erkennen von Lebewesen als Exemplare einer spezifischen Lebensform mit einer entsprechenden naturgemäßen Zuträglichkeit fordert in moralepistemologischer Hinsicht bereits ein Anerkennen ihrer. Denn in praktischer Hinsicht sind aktual vernunft- und moralfähige Personen, die über den Lebensformbegriff verfügen und somit einen Zugang zu der aus der Lebensform ableitbaren naturgemäßen Zuträglichkeit haben, unter Berücksichtigung der ethischen Prinzipien der Universalisierung und Unparteilichkeit sowie aufgrund der für ihre eigene Lebensform typischen Existenzweise als moralische Subjekte dazu angehalten, das je eigene Gut von Lebewesen anzuerkennen, 22  Vgl. Feinberg 2002, 55. 23  Vgl. hierzu auch Korsgaard 2004, 102, 106 FN 69.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen

27

d.h. sie ihrem moralischen Status entsprechend zu berücksichtigen. Daher ist trotz der unumstößlichen Geltung des epistemischen Anthropozentrismus, ein Anthropozentrismus in normativer Hinsicht als partikularistisch sowie parteiisch zurückzuweisen.24 Fichtes These, dass Personen durch ihre bloße Gegenwart andere Personen zu ihrer Anerkennung nötigen, kann somit nicht nur untermauert, sondern radikal erweitert werden. Denn auch für nicht-humane Lebewesen gilt, dass ihre bloße Existenz jede über das Konzept der Lebensform verfügende Person dazu nötigt, sie als Wesen mit je eigenem Gut zu erkennen und auf der Basis der ethischen Prinzipien der Universalisierung und Unparteilichkeit als moralisch berücksichtigungswürdig anzuerkennen.25 Mit ethischen Normen verbindet sich ein kategorischer Verbindlichkeitsanspruch, der ein Abstrahieren von interessengeleiteten Erwägungen verlangt. Weil moralische Subjekte sich vor allem dadurch auszeichnen, von ihren eigenen Interessen abstrahieren und absehen zu können, impliziert die moralische Anerkennung nicht-humaner Lebewesen dem Anspruch nach nicht nur die korrekte Identifikation eines Lebewesens (das Erkennen), sondern eine seiner Lebensform adäquate moralische Berücksichtigung (das Anerkennen). Traditionelle Anerkennungskonzeptionen, unter anderen jene von Kant, Fichte und Hegel, aber auch modernere Auseinandersetzungen mit Anerkennung in vertragstheoretischer oder diskursethischer Hinsicht, bestimmen Anerkennungsverhältnisse ausschließlich als wechselseitigen und egalitären Prozess zwischen Personen.26 Wechselseitigkeit und Gleichheit sind jedoch keine notwendigen Kriterien für moralische Anerkennung: Gewiss konstituieren Personen den Kern moralischer Anerkennungsverhältnisse, da erst durch sie als moralische Subjekte ethische Bestimmungen entstehen. Der Personstatus kommt allen Menschen unabhängig von ihren Eigenschaften und Fähigkeiten zu, die Menge aller Personen untergliedert sich allerdings in Subjekte und Objekte der Moral. Subjekte der Moral weisen eine aktualisierte Vernunft- und Moralfähigkeit auf. Nach diesem Verständnis sind alle aktual vernunft- und moralfähigen Personen zugleich Subjekte und Objekte der 24  Vgl. hierzu auch Sturma 2013, 144, 147, 149, 151f. 25  Vor dem Hintegrund der ethischen Prinzipien der Universalisierung und Unparteilichkeit vermeidet das integrative Konzept der Lebensform als Richtmaß für die Bestimmung naturgemäßer Zuträglichkeit resp. des für Lebewesen Guten sowohl einen deskriptivis­ tischen als auch einen naturalistischen Fehlschluss. Vgl. zum deskriptivistischen Fehlschluss David Hume (Hume, Treatise SB 469-SB 470) sowie zum naturalistischen Irrtum George Edward Moore (Moore 1996, 61-72). 26  Für einschlägige Passagen der genannten Autoren siehe Kant, GMS 401 FN 2, Kant, TL 462; Fichte, GdN 44f.; Hegel, PhG 128f.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

28

Christina Pinsdorf

Moral, während alle aktual nicht vernunft- und moralfähigen Personen ausschließlich als Objekte der Moral zu begreifen sind. Die Menge der moralischen Subjekte ist somit nicht deckungsgleich mit der Menge aller Menschen. Vor diesem Hintergrund kann eine Theorie moralischer Anerkennungsverhältnisse entwickelt werden, innerhalb derer einzig aktual vernunft- und moralfähige Personen als Subjekte moralischer Anerkennung operieren, als Objekte moralischer Anerkennung hingegen nicht nur alle Personen, sondern auch alle nicht-humanen Lebewesen grundsätzlich Berücksichtigung finden können. Aus der Andersartigkeit der möglichen Objekte moralischer Anerkennung ergeben sich drei verschiedene Anerkennungsrelationen: 1. symmetrisch/reziproke, 2. symmetrisch/nicht-reziproke und 3. asymmetrisch/ nicht-rezi­proke Anerkennungsverhältnisse. ›Symmetrie‹ und ›Reziprozität‹ sind für den anerkennungstheoretischen Diskurs gängige Termini, die jedoch synonym bzw. undifferenziert gebraucht werden. Mit der folgenden begrifflichen Differenzierung kann die Komplexität moralischer Anerkennungsdimensionen adäquater abgebildet werden: 1. Symmetrie: Der moralische Status von anerkennendem Subjekt und anerkanntem Objekt ist gleich. Dem Anerkennenden und dem Anerkannten kommt der absolute moralische Status der Menschenwürde zu. 2. Asymmetrie: Der moralische Status von anerkennendem Subjekt und anerkanntem Objekt ist ungleich. Dem Anerkennenden kommt der absolute moralische Status der Menschenwürde zu, das Anerkannte ist von bloß wägbarer moralischer Berücksichtigungswürdigkeit. 3. Reziprozität: Das Anerkennungsverhältnis wird wechselseitig realisiert. 4. Nicht-Reziprozität: Das Anerkennungsverhältnis wird einseitig realisiert. Demnach unterscheiden sich moralische Anerkennungsverhältnisse mit Blick auf den substanziellen moralischen Status ihrer Adressat*innen (Symmetrie/ Asymmetrie) sowie bezüglich der prozeduralen Realisierung des moralischen Verhältnisses (Reziprozität/Nicht-Reziprozität). Die Dimensionen moralischer Anerkennungsverhältnisse können vor diesem Hintergrund wie folgt gefasst werden:

symmetrisch asymmetrisch

reziprok

nicht-reziprok

avm* Person / avm Person

avm Person / anvm** Person avm Person / nicht-humane Lebewesen

* aktual vernunft- und moralfähige Person ** aktual nicht vernunft- und moralfähige Person

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen

29

Symmetrisch/reziproke Anerkennungsverhältnisse bilden die traditionelle Konzeption moralischer Anerkennungsrelationen ab, für die zwischen zwei oder mehreren aktual vernunft- und moralfähigen Personen ein gleichrangi­ ges und wechselseitiges Anerkennungsverhältnis besteht. Eine Reduktion des moralischen Raums auf zwischenmenschliche Beziehungen, die sich durch ein reziprokes Verhältnis auszeichnen, wird der Verantwortung, die vernunft- und moralfähige Personen gegenüber nicht vernunft- und moralfähigen Personen haben, jedoch nicht gerecht. Da der moralische Status aller Menschen als Personen gleich ist, ist auch ihr Verhältnis auf der Abstraktionsebene ihres moralischen Status gleichrangig, d.h. symmetrisch. Hierin gründet die Möglichkeit eines symmetrischen, jedoch einseitigen Anerkennungsverhältnisses. Von ebendieser Art sind auch solche Relationen, die hinsichtlich der sozialen Rolle asymmetrisch, hinsichtlich des Personstatus jedoch symmetrisch sind, wie etwa Anerkennungsverhältnisse zwischen Eltern und Kleinkindern, Ärzt*innen und komatösen Patient*innen, Betreuer*innen und Menschen mit schwerer geistiger Behinderung. Da allen Genannten der absolute moralische Status der Menschenwürde in gleichem Maße zukommt, sind Anerkennungsverhältnisse zwischen ihnen symmetrisch und gebührt allen dieselbe moralische Anerkennung. Bezüglich der Realisierung moralischer Anerkennung bestehen jedoch auch innerhalb der Menge aller Personen gravierende Unterschiede. Schließlich zeichnen sich aktual vernunft- und moralfähige Personen insbesondere durch ihre Pflichten, aktual nicht vernunft- und moralfähige Personen hingegen gerade durch ihre Rechte und Schutzansprüche aus. Ersteren obliegt es ihre Pflichten aktiv auszuüben, letztere beanspruchen ihre Rechte bloß passiv qua ihres Personseins. Folglich sind Anerkennungsverhältnisse zwischen aktual vernunft- und moralfähigen und aktual nicht vernunft- und moralfähigen Personen symmetrisch/nichtreziprok, da die Realisierung moralischer Anerkennung ausschließlich vonseiten der aktual vernunft- und moralfähigen Person erfolgt. Unter der Voraussetzung, dass moralische Subjekte ihre ethische Urteilsbildung überpersonal und unparteilich ausrichten, gilt, wie bereits erläutert, dass die Erkenntnis, dass Lebewesen ein je eigenes Gut zugeschrieben werden kann, hinreichend für die Anerkenntnis ihres moralischen Status ist. Allerdings bleibt das Anerkennungsverhältnis zwischen Personen und nicht-humanen Lebewesen grundsätzlich nicht-reziprok und asymmetrisch, da letztere weder moralisch verpflichtbar sind noch moralisch absolut verpflichten. Obwohl für nicht-humane Lebewesen als Exemplare einer Lebensform naturgemäße Zuträglichkeit bestimmt und ihnen ein moralisch relevanter Standpunkt zugeordnet werden kann – sie besitzen ein je eigenes Gut und befinden sich in

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

30

Christina Pinsdorf

für aktual vernunft- und moralfähige Personen beurteilbaren besseren oder schlechteren Zuständen – ist ihr moralischer Status nicht mit jenem von Personen identisch. Auf der Basis der scala naturae eröffnet sich vielmehr ein hierarchischer Biozentrismus, in dessen Rahmen graduelle Abstufungen hinsichtlich des moralischen Status von Lebewesen vorgenommen und den Exemplaren verschiedener Lebensformen verschiedene Grade moralischer Berücksichtigungswürdigkeit zugeschrieben werden können.27 Die Abstu­ fungen des normativen Status reichen von absoluter moralischer Berücksichtigungswürdigkeit, die allen prinzipiell vernunft- und moralfähigen Wesen zukommt, bis hin zu wägbarer moralischer Berücksichtigungswürdigkeit, die allen nicht-humanen Lebewesen zugeschrieben werden muss. Mit der Auszeichnung nicht-humaner Lebewesen als Entitäten mit je eigenem Gut ergibt sich für die aktual vernunft- und moralfähige Person somit eine moralische Berücksichtigungswürdigkeit aller nicht-humanen Lebewesen, der es im Rahmen asymmetrisch/nicht-reziproker Anerkennungsverhältnisse gerecht zu werden gilt. Innerhalb asymmetrisch/nicht-reziproker Anerkennungsverhältnisse ist das moralische Subjekt zwar die Quelle des normativen Urteils, fällt dieses jedoch nicht beliebig. Vielmehr richtet es sein normatives Urteil an der je spezifischen Lebensform nicht-humaner Lebewesen aus, die ihm einen Zugang zu deren naturgemäßer Zuträglichkeit erlaubt und die Bewertung ihrer Zustände als besser oder schlechter ermöglicht. Als moralischem Subjekt ist es der aktual vernunft- und moralfähigen Person zugleich aufgegeben, nicht-humane Lebewesen als Objekte der Moral anzuerkennen. 5. Fazit Bereits Aristoteles charakterisiert die Naturbeschaffenheit von Lebewesen als untrennbare Vereinigung von Stoff und Form, wobei die Form das wesentliche Moment von Lebewesen ausmacht, ihre teleologische Verfasstheit bestimmt 27  Für die ursprüngliche Konzeption von Aristoteles, auf die mit dem Begriff ›scala naturae‹ Bezug genommen wird, vgl. etwa Part. an. IV 5, 681a; Part. an. II 10, 656a. Vgl. zu graduellen Abstufungen innerhalb der belebten Natur auch die Konzeptionen von Schellings dynamischer Stufenfolge und Hegels System von Stufen als Rangfolge im Reich der Natur sowie als kontinuierliche Entwicklung zur Subjektivität. Anhand ihrer Eigenschaften und Fähigkeiten werden Lebensformen innerhalb einer Skala verortet, die keine harten Brüche, sondern fließende Übergänge zwischen den verschiedenen Lebensformen aufweist. Vgl. für eine hierarchische Stufenstruktur des Seienden außerdem Lovejoy 1970, 247ff.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen

31

und auf ihre entelecheia verweist. Die Lebensform kann als einheitsstiftendes Moment konkreter Lebewesen verstanden werden und bestimmt ähnlich dem Aristotelischen Formbegriff das für Lebewesen Wesentliche sowie deren teleologische Ausrichtung. Systematisch folgt das hier vertretene Verständnis der Lebensform auch Einsichten von Schelling und Hegel, die im Kern besagen, dass in jedem Lebewesen ein formverleihender Begriff liegt, der ihre Zweckmäßigkeit bestimmt. Die Lebensform stellt einen festen Typus dar, an welchem normative Urteile über Lebewesen ausgerichtet werden können. Am stärksten speist sich das hiesige Lebensformverständnis aus den Ausführungen Thompsons, für den die Lebensform als Form des Denkens die Vielgestaltigkeit ihrer Instanziierungen, i.e. Lebewesen, unter eine Einheit bringt und so dem Menschen erst das Erkennen und Verstehen von Lebewesen ermöglicht. Erst auf der Basis des Konzepts der Lebensform können Lebewesen als Ganzheiten mit zugehörigen Eigenschaften, Fähigkeiten, Phasen und Vollzügen erfasst werden, denn erst die Lebensform vereint zugleich die diversen Eigenschaften und Fähigkeiten eines gegebenen Lebewesens sowie die verschiedenen Phasen und Vollzüge seines Lebensprozesses. Infolgedessen liegt der Lebensformbegriff der Klassifikation lebendiger Individuen notwendig zugrunde und wird nicht etwa von ihren Eigenschaften und Fähigkeit abstrahiert. Mit Blick auf alle Lebewesen kann mit Hilfe eines als Richtmaß verstandenen Lebensformkonzepts eine logisch spezifische Form der Evaluation angestellt werden, die eine begründungstheoretische Grundlage für ein evaluatives Naturverständnis bietet und einen naturalistischen resp. deskriptivistischen Fehlschluss vermeidet. Anknüpfend an Thompson und Foot ist festzuhalten, dass die die Lebensform repräsentierenden Urteile – naturhistorische Urteile – aufgrund ihrer teleologischen Struktur anzeigen, was im und für das Leben eines Lebewesens von wesentlicher Bedeutung ist. Durch ihre spezifische Urteilsstruktur, die auf Fakten über die empirisch gehaltvolle Lebensform und den Lebensprozess eines Lebewesens bezogen ist, drücken naturhistorische Urteile nicht bloß statistische Normalitäten, sondern von menschlichen Interessen unabhängige Normen aus. Naturhistorisch-naturteleologischen Urteilen ist ein evaluativ-normativer Zugang zur belebten Natur inhärent und sie zeigen an, wie jedes Exemplar einer Spezies sein sollte, um ein gutes Exemplar seiner Art zu sein. Vor dem Hintergrund des explizierten Lebensformkonzepts und einer wohlverstandenen Teleologie eröffnet sich darüber hinaus ein ethisch-normativer Zugang zur belebten Natur. Denn naturhistorisch-naturteleologische Urteile weisen auch darauf hin, unter welchen Bedingungen ein Exemplar einer Spezies gedeiht. In Orientierung an ihrer spezifischen Lebensform und der für ihre Exemplare naturgemäßen Zuträglichkeit kann allen Lebewesen ein

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

32

Christina Pinsdorf

je eigenes Gut im Sinne eines ihnen Zuträglichen zugeschrieben werden, sodass besser/schlechter-Zustandsbeschreibungen mit Blick auf pflanzliche Lebewesen ebenso möglich sind wie mit Blick auf nicht-humane Tiere und Menschen. Empfindungsfähigkeit als in der Naturethik häufig zugrunde gelegtes Schwellenkriterium ist für moralische Berücksichtigungswürdigkeit insofern zurückzuweisen und durch die deutlich basalere Gedeihensfähigkeit zu ersetzen. Auf der Basis einer scala naturae können verschiedene Tiefen eines Sinns von ›gut für‹ ein Lebewesen ausgewiesen werden, die graduelle Abstufungen hinsichtlich des moralischen Status von Lebewesen untermauern. Im Ergebnis entspricht die moralische Berücksichtigungswürdigkeit von Personen – die sich vormerklich durch ihre Vernunft- und Moralfähigkeit auszeichnen – dem Status der Menschenwürde und ist von absoluter Geltung, während die moralische Berücksichtigungswürdigkeit nicht-humaner Lebewesen – die höher entwickelten Tieren insbesondere auf der Basis ihrer Empfindungsund niederen Tieren sowie Pflanzen schließlich allein auf der Basis ihrer Gedeihensfähigkeit zugeschrieben werden muss – ceteris paribus gilt, jedoch wägbar bleibt. Unter Rückgriff auf das Konzept der Lebensform können der moralische Status eines Lebewesens beurteilt und damit verbundene Ansprüche an das moralische Subjekt abgeleitet werden. Das durch das moralische Subjekt gesollte Anerkennen eines Lebewesens als Entität mit je eigenem, vom Menschen unabhängigen Gut im Sinne eines für das Lebewesen Zuträglichen ist universal geboten und hat insofern die epistemische Zugänglichkeit zum Standpunkt des Lebewesens, d.h. ein Verständnis seiner Lebensform, zur notwendigen Voraussetzung. Dass die naturgemäße Zuträglichkeit für Exemplare einer Lebensform und das hieraus ableitbare eigene Gut von nicht-humanen Tieren, aber auch von pflanzlichen Lebewesen aktual vernunft- und moralfähigen Personen prinzipiell zugänglich ist, ergibt sich aus dem Verständnis der Lebensform als Form des Denkens. Die moralische Anerkennung aller nicht-humanen Lebewesen ist nicht nur möglich, sondern geboten. Vor dem Hintergrund der fundamentalen ethischen Prinzipien der Universalisierung und Unparteilichkeit folgt diese Forderung daraus, dass unter Hinzuziehung des Lebensformkonzepts als Richtmaß für naturgemäße Zuträglichkeit allen Lebewesen ein je eigenes Gut im Sinne eines ihnen Zuträglichen zuschreibbar ist. Im Rahmen einer diesem Umstand gerecht werdenden Theorie moralischer Anerkennungsverhältnisse sind ausschließlich aktual vernunft- und moralfähige Personen als Subjekte moralischer Anerkennung denkbar, als Adressat*innen moralischer Anerkennung hingegen alle Lebewesen. Zwischen aktual vernunft- und

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturgemäße Normativität nicht-humaner Lebensformen

33

moralfähigen Personen bestehen symmetrisch/reziproke, zwischen aktual vernunft- und moralfähigen und aktual nicht vernunft- und moralfähigen Personen symmetrisch/nicht-reziproke und zwischen aktual vernunft- und moralfähigen Personen und nicht-humanen Lebewesen schließlich asymmetrisch/nicht-reziproke Anerkennungsverhältnisse. Die für die Untersuchung leitende Überzeugung, dass eine solide Auseinandersetzung mit konkreten Frage- und Problemstellungen des menschlichen Umgangs mit der belebten Natur dringend einer ethisch fundierten Beurteilung des grundlegenden moralischen Status der belebten Natur sowie einer moralphilosophisch belastbaren Einschätzung des Verhältnisses zwischen Personen und nicht-humanen Lebewesen bedarf, hat zu der Einsicht geführt, dass alle Lebewesen moralisch berücksichtigungswürdig sind und in eine Theorie moralischer Anerkennungsverhältnisse integriert werden können und sollten. Literaturverzeichnis Aristoteles 1978, Über die Teile der Tiere [= Part an], hg. v. A. v. Frantzius, Aalen. — 1987, Physik. Vorlesung über Natur. Erster Halbband: Bücher I–IV [= Phys], hg. v. Hans Günther Zekl, Hamburg. Feinberg, Joel 2002, »The Rights of Animals«, in: David Schmidtz/Elizabeth Willott (Hg.), Environmental Ethics, New York, 50-58. Fichte, Johann Gottlieb 1971, »Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre« [= GdN] [1796], in: Fichtes Werke III. Zur Rechts- und Sittenlehre I, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin. Foot, Philippa 2001, Natural Goodness, Oxford. Frege, Gottlob 2008, »Über Begriff und Gegenstand« [1892], in: Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. v. Günther Patzig, Göttingen, 192-205. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2003, Wissenschaft der Logik II [= Logik II] [1832-1845], hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. — 2006, Phänomenologie des Geistes [= PhG] [1807], hg. v. Wolfgang Bonsiepen, Reinhard Heede, Hamburg. Hoffmann, Thomas 2015, »Lebensform – Natur, Begriff und Norm«, in: Markus Rothhaar/Martin Hähnel (Hg.), Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?, Berlin, 45-64. Hume, David 2009, A Treatise of Human Nature. Book 3. Of Morals [= Treatise] [1739/1740], hg. v. David Fate Norton, Mary J. Norton, Oxford. Hursthouse, Rosalind 1999, On Virtue Ethics, Oxford.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

34

Christina Pinsdorf

Kant, Immanuel 1999, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [= GMS] [1785], hg. v. Bernd Kraft/Dieter Schönecker, Hamburg. — 2008, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil [= TL] [1797], hg. v. Bernd Ludwig, Hamburg. — 2009, Kritik der Urteilskraft [= KU] [1790], hg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg. Keil, Geert 2008, »Naturalimus und menschliche Natur«, in: Der Ort der Vernunft in einer natürlichen Welt. Logische und anthropologische Ortsbestimmungen, hg. v. Wolf-J. Cramm/Geert Keil, Weilerswist, 192-215. Korsgaard, Christine M. 2004, »Fellow Creatures: Kantian Ethics and Our Duties to Animals«, in: The Tanner Lectures on Human Values, Bd. 25/26, hg. v. Grethe B.  Peterson, Salt Lake City, 79-110. Leist, Anton 2010, »Naturalismus bei Foot und Hursthouse«, in: Thomas Hoffmann/ Michael Reuter (Hg.), Natürlich gut. Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, Frankfurt a.M., 121-148. Lovejoy, Arthur O. 91970, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge. Moore, George Edward 1996, Principia Ethica [1903], hg. v. Burkhard Wisser, Stuttgart. Nagel, Thomas 2012, Mind and Cosmos: Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is Almost Certainly False, New York. Pinsdorf, Christina 2016, Lebensformen und Anerkennungsverhältnisse – Zur Ethik der belebten Natur, Berlin. Rödl, Sebastian 2003, »Norm und Natur«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51/1, 99-114. Rothhaar, Markus 2015, »Natürliche Zwecke und vernünftige Normen«, in: Markus Rothhaar/Martin Hähnel (Hg.), Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?, Berlin, 117-132. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 1994, Ideen zu einer Philosophie der Natur [= Ideen] [1797], hg. v. Jörg Jantzen/Thomas Buchheim/Wilhelm G. Jacobs/Siegbert Peetz, Stuttgart. — 2000, Von der Weltseele – Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus [= Weltseele] [1798], hg. v. Jörg Jantzen/Thomas Buchheim/ Wilhelm G. Jacobs/Siegbert Peetz, Stuttgart. Stekeler-Weithofer, Pirmin 2011, »Wissen und Begriff. Zum normativen Status generischer Sätze«, in: Carl F. Gethmann/Jan C. Bottek/Susanne Hiekel (Hg.), Deutsches Jahrbuch Philosophie. Lebenswelt und Wissenschaft, Bd. 2, Hamburg, 410-430. Sturma, Dieter 2013, »Naturethik und Biodiversität«, in: Ludger Honnefelder/Dieter Sturma (Hg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik Bd. 17, Berlin, 141-155. Thompson, Michael 2008, Life and Action, Cambridge, Mass.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform (und wieder zurück?) Martin Hähnel 1. Einleitung Die fachliche Diskussion zur Speziesproblematik hat sich in den letzten Jahrzehnten vorwiegend auf die Beantwortung der Frage konzentriert, inwiefern Arten als taxonomische Einheiten zu verstehen seien bzw. wie sie als Klassifizierungstools in verschiedenen disziplinären Kontexten gebraucht werden. Diese Diskussion, auf deren Grundzüge ich in diesem Beitrag etwas genauer eingehen werde, hat sich in den letzten Jahren dergestalt ausdifferenziert, dass dabei einige Fragen und Probleme aus dem Blick geraten sind, deren Thematisierung jedoch unerlässlich ist, um zu einem reichhaltigen Verständnis dessen zu gelangen, was wir unter »Natur« oder »Leben« verstehen. So hat man aus meiner Sicht vor allem zwei grundlegenden Fragen wenig Beachtung geschenkt: (1) Wie gewinnt Leben eigentlich seine typische(n) Form(en)? (2) Wie wird der Begriff der menschlichen Natur, wenn er nicht eine reine façon de parler ist oder darstellen soll, durch unser Verständnis darüber, was eine Spezies ist, beeinflusst? Vor dem Hintergrund dieser beiden Leitfragen werde ich zunächst das Verhältnis zwischen Arten/Spezies und Lebensformen aus historisch-exegetischer Perspektive untersuchen. Dabei gehe ich auf in ihren Deutungsmustern voneinander abweichende Begriffsgeschichten ein und versuche, einschlägige Stellen herauszuarbeiten, mit deren Hilfe ein grundlegender Bedeutungswandel in der Verwendung der Begriffe von »Spezies« und »Lebensform« nachgewiesen werden kann. Im Anschluss daran charakterisiere ich aus systematischer Perspektive sowohl den Speziesbegriff als auch den Terminus der Lebensform vor dem Hintergrund aktueller Einsichten aus der Philosophie der Biologie. Der von mir gewählte historisch-begriffsanalytische Zugang dient dabei dem Ziel zu prüfen und gegebenenfalls zu bestätigen, dass nur eine ›ganz bestimmte‹ Rede über Lebensformen geeignet erscheint, Probleme zu vermeiden, die im Zuge des Gebrauchs des Speziesbegriffs auftauchen. Somit kann mit einiger Berechtigung auch die Frage gestellt werden, in welchen Hinsichten der Ausdruck »Lebensform« imstande ist den Speziesbegriff zu

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_004

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

36

Martin Hähnel

beerben bzw. ob Spezies oder Arten in gewisser Weise schon Lebensformen sind bzw. diese präfigurieren. Schließlich ist es mein Anliegen, Kriterien einzuführen, die als notwendig erachtet werden müssen, damit eine ›ganz bestimmte‹ Rede über Lebensformen normative Urteile enthalten kann. Inwieweit dabei wieder auf den Speziesbegriff zurückgegriffen werden muss, lasse ich offen. Dies muss Gegenstand einer anderen Untersuchung sein. 2.

Das moderne Speziesverständnis und seine Tauglichkeit für kategoriale Lebensbeschreibungen

Wie wir spätestens seit Charles Darwin wissen, kann sich die Rechtfertigung der Rede über Spezies nicht mehr allein auf die Annahme einer Existenz natürlicher Arten, die sich vornehmlich durch ihren essentiellen Charakter auszeichnen, berufen. Diese Auffassung, welche vor allem in der Antike vertreten worden ist – z.B. bei Platon, für den Arten nichts anderes als Ideen sind, und bei Aristoteles, der in diesen Arten spezifische Formen, welche Lebewesen naturgemäß anstreben, sieht –, wurde insbesondere aus nominalistischer Perspektive, der zufolge es keine wesensgleichen Einzeldinge geben könne, infrage gestellt. Diese philosophiehistorisch belegte Abkehr von der Idee, dass Individuen eine gemeinsame Gattung besitzen, konnte jedoch nicht verhindern, dass moderne analytisch geprägte Autoren wie Saul Kripke und Hilary Putnam an der Existenz natürlicher Arten festgehalten haben und diese im Rahmen einer Bedeutungstheorie rehabilitieren wollten.1 Diese Position, welche von vielen Kritikern auch als Essentialismus bezeichnet wird, wurde vor allem in der Philosophie der Biologie, wo man sich auf Darwins Entdeckung, der zufolge Arten vielmehr Ergebnisse eines Entwicklungsprozesses sind, in dessen Verlauf morphologische, genetische und verhaltensbezogene Merkmale von Organismus nicht mehr als feste speziesrelative Qualitäten erscheinen können, scharf angegriffen. Dieser Befund hat unter anderem dazu geführt, dass sich ein Rekurs auf biologische Arten streng genommen nicht mehr auf Essenzen, sondern vielmehr auf Individuen oder Kollektive von Individuen bzw. Gruppen von Organismen beziehen dürfe. Seither befinden sich die beiden Lager der Essenzialisten und Nominalisten in einer schier 1  Vgl. Kripke 1980; Putnam 1975. Neuerdings ist sogar wieder von einem »neuen biologischen Essentialismus« (Okasha 2002; LaPorte 2004) die Rede, welcher Arten als Essenzen auffasst, insofern stabile Relationen zwischen Organismen bzw. zwischen Organismen und ihrer Umwelt bestehen, die als notwendig und hinreichend für Spezieszugehörigkeit angesehen werden.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

37

endlos anmutenden, zugestandenermaßen nicht gerade konsensträchtigen Auseinandersetzung und schreiben damit eine Debatte fort, die seit dem Mittelalter als »Universalienstreit« bekannt ist. Viele im Zuge dessen vorgenommenen Versuche der Vermittlung drohen immer wieder zu scheitern oder werden erst gar nicht unternommen, denn wer sich in der Diskussion zur biologischen Speziesfrage nicht für eine bestimmte Position entscheiden kann, hat immer noch die Möglichkeit, einen Pluralismus im Hinblick auf die zahlreich vorhandenen Spezieskonzeptionen zu vertreten.2 Hier wie dort wird indes deutlich, dass nach dem von den meisten nominalis­ ti­schen Theoretikern ausgerufenen »Tod des Essentialismus« die Spezies – wie bereits erwähnt – zumindest noch die Funktion zugeschrieben werden kann, eine rein taxonomische Größe und dabei vermutlich auch die grundlegendste Einheit für den Aufbau biologischer Klassifikationssysteme zu sein. Damit verliert der Spezies- bzw. Artbegriff allerdings seinen Status als universeller ontologischer Platzhalter, den er bislang auch deswegen behalten konnte, weil er seine Bedeutung vornehmlich durch den sprachpraktischen Kontext erhalten hat.3 Interessanterweise nähert sich so manche nicht-essentialistische Rede von Spezies (z.B. bei W.v.O. Quine) früher oder später wieder Problemstellungen an, die für Philosophen, welche eine essentialistische Position vertreten, gerade durch die Annahme gelöst werden, dass es Arten trotz ihrer individuellen Instantiierung universell sind. Wenn dagegen nach Quine Arten nur als Klassen zu beschreiben sind, die sich aus Individuen zusammensetzen, welche mit logischer Notwendigkeit unter diese oder jene Klasse fallen müssen, dann kann m.E. auch niemals klar werden, wie das Leben irgendeine Form gewinnen kann. 2  Einen in dieser Hinsicht konfliktvermeidenden Weg hat z.B. John Dupré eingeschlagen: »[I]t is widely recognized that Darwin’s theory of evolution rendered untenable the classical essentialist conception of species. Perfectly sharp discontinuities between unchanging natural kinds could no longer be expected.« (Dupré 1999, 3). Das zentrale Argument für Dupré ist hierbei, dass der Speziesbegriff, wenn er auf natürliche Arten referiert, ontologisch vage ist. Allerdings hat Marc Ereshefsky als Vertreter einer nominalistischen Auffassung recht, wenn er behauptet, dass Speziespluralisten wie Dupré begrifflich weiterhin an der Spezieskategorie festhalten, weil sie nicht angeben, was diese heterogenen Konzepte neben der Tatsache, dass sie alle auf den Speziesbegriff referieren, noch zusammenhält (vgl. Ereshefsky 1998). Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass Speziespluralisten hier bewusst keine Angaben zum epistemischen und ontologischen Status von Arten machen wollen, was den Verdacht erhärtet, dass sich hinter dieser agnostischen Haltung ebenfalls eine nominalistische Auffassung der Arten verbirgt. 3  Siehe dazu mein Exkurs unter 3.3. Zum Beispiel bringt sich der Spezies- bzw. Artbegriff, dessen Gebrauch ein Grundbestandteil unserer Alltagsontologie ist, über irreduzible ›Familienähnlichkeiten‹ zum Ausdruck.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

38

Martin Hähnel

Für Quine, der im Unterschied zu Aristoteles eine sogenannte nicht-sortale Ontologie vertritt, gibt es keine raumzeitlich eindeutig bestimmbaren Dinge, sondern nur als Raumzeit-Gebiete quantifizierte und damit an sich formlose Entitäten. Für Quine ist die Welt damit gerade nicht nach Arten gegliedert, die Gegenständen eine spezifische, mithin lebendige Form geben können und damit auch unseren lebensweltlichen Intuitionen entgegenzukommen scheinen, sondern von Dingen bewohnt, die als amorphe Haufen vorkommen und eine anonyme »Wüstenlandschaft«4 besiedeln. In dieser »Wüstenlandschaft« unterscheidet sich der Form nach kein existenter (oder nicht-existenter) Gegenstand mehr vom anderen, insofern alle darin vorkommenden Entitäten ausschließlich über ihre Extensionsbedingungen definiert werden. Dagegen sind bei Aristoteles Arten auch intensional definiert, was die Möglichkeit eröffnet, Individuen Essenzen zusprechen zu können. Wenn also der Artbegriff im Rahmen einer nicht-sortalen Ontologie auf seine bloße Klassifizierungsfunktion beschränkt bleibt, dann fällt damit ein wichtiges Identitätskriterium weg, welches ermöglicht, morphologische und organismische Ähnlichkeiten zwischen Lebensformen ausmachen zu können. Denn gerade im naturgemäß unscharfen Bereich des Lebendigen begegnen uns allenthalben zahllose Ähnlichkeiten. Übrigens ist es in diesem Zusammenhang auch kaum verwunderlich, dass wir mit Quine vielleicht einen der größten Kritiker von klassischen und modernen Ähnlichkeitsontologien, die logische Klassifizierungsmodelle unterlaufen bzw. in Frage stellen, vor uns haben. Für Quine ist nämlich das Phänomen der Ähnlichkeit, das bereits für Aristoteles problematisch war,5 etwas »logisch abstoßendes«, das es für die Philosophie mit Bausch und Bogen zu verwerfen gilt.6 Lassen wir für den Augenblick diese besonderen Eigenheiten von Quine’s Antiessentialismus beiseite, so fällt in unserer Problemannäherung auf, dass in der heutigen Diskussion häufig versucht wird, die Schwächen des Speziesbegriffes über eine revisionäre Interpretation und Explikation des 4  Quine 1953, 4. 5  Z.B. NE 1139b 19. Allerdings weist Aristoteles der Ähnlichkeit eine bedeutende epistemische Rolle zu, wenn zum Beispiel »das allgemeine Art-/Gattungsgefüge Lücken aufweist oder sich die sonst verbindlichen Genauigkeits- und Rationalitätsstandards als nicht anwendbar erweisen.« (Rapp 1992, 526f.) 6  Quine selbst behauptet für den Bereich des Lebendigen, dass darin konstatierte Ähnlichkeiten reduziert werden können, indem man ausschließlich auf der Ebene der Gene und ihrer Funktionen operiert (Quine 1969, 161). Allerdings kehrt gerade auf dieser nichtmorphologischen Ebene die »Ähnlichkeit« wieder: So sind wir als Menschen, was den Genound nicht den Phänotyp angeht, den Mäusen fast ebenso ähnlich wie den Menschenaffen, die uns wiederum vom Phänotyp her gesehen weitaus ähnlicher sind als die Mäuse.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

39

Speziesbegriffes selbst zu beheben. Damit droht jedes Spezieskonzept allerdings irgendwann zu implodieren, da die eigenen begrifflichen Ressourcen nicht mehr ausreichen, um die konzeptuellen Schwachstellen kompensieren zu können. Das langwierige Vorhaben, den Speziesbegriff vollständig zu entkernen, um damit den Weg für dessen Pluralisierung zu ebnen, muss deshalb dazu führen, dass sich das alltagssprachliche Verständnis von Arten nicht mehr mit den verschiedenen wissenschaftlichen Speziesbegriffen decken lässt. Der Begriff der Spezies, sobald man ihn gebraucht, stellt aber immer noch den kognitiv sedimentierten Archetypus einer biologisch-ontologischen, oder wenn man so will, essentialistischen Erklärung dar, deren Gehalt fest in unseren natürlichen Intuitionen verankert ist.7 Dieser Gehalt bzw. der damit verbundene generische Erklärungswert hat sich indes aufgrund zahlreicher begrifflicher Modifikationen und empirischer Widerlegungsversuche im Laufe der Begriffsgeschichte nahezu verflüchtigt, sodass der Gebrauch eines gehaltvollen Speziesbegriffes wissenschaftlich nicht mehr redlich erscheint.8 Selbst moderne Prozessontologien bzw. -biologien,9 die im Einklang mit der Evolutionstheorie gegen das klassisch aristotelische Substanzverständnis vorgehen, ohne sich dabei einzugestehen, dass auch ihre Ansätze auf essentialistischen Restbeständen beruhen, erscheinen als Promotoren dieser Verfallsgeschichte, ohne dass sie damit begännen, ein neues Paradigma zu begründen.10 Überdies hat das gegenwärtige nominalistische Projekt einer zumeist statisch zu verstehenden Klassifizierung – nicht nur von lebendig existierenden, sondern auch von allen anderen möglichen Objekten – dazu geführt, dass Lebewesen keine besonderen Arten mit einer spezifischen Identität mehr darstellen können.11 Dieser Konventionalismus in der Tradition von Quine und Mill macht letztlich keinen Unterschied zwischen den jeweiligen arteigenen Merkmalen eines Lebewesens und ihrer Natur, d.h. ihrem spezifischen Gewordensein. Hinzu kommt, dass der auf diese Weise definierte Speziesbegriff gegenüber evolutionären Erklärungen entweder indifferent 7  Vgl. Altran 1999. 8  Anhand der aktuellen Diskussion zur Rassismus- und Epigenesisproblematik zeigt sich vor allem eine Abkehr von der traditionellen Gleichsetzung von Essentialität mit Generizität und eine Hinwendung zur sozialen Konstruktion von Normativität (z.B. Haslanger 2014). 9  Vgl. Nicholson/Dupré 2018. 10  Gute Beispiele für die Re-Essenzialisierung bzw. Platonisierung biologischer Prozesse bieten die naturphilosophischen Ansätze von Alfred N. Whitehead und Nicolai Hartmann. Siehe dazu mein Beitrag: Hähnel 2019. 11  Vgl. Inwagen 1990.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

40

Martin Hähnel

bleibt oder diese Erklärungen, was ihre kontextinvariante Plausibilität angeht, bewusst herabstuft. Etwaige Versuche, die Sortierungsfunktion des Speziesbegriffes dahingehend beizubehalten, indem man glaubt damit evolutionären Erklärungsmodellen Rechnung zu tragen, sind sicherlich ein gangbarer Weg die tatsächliche Form von Lebewesen beschreiben, wenngleich die Frage offen bleibt, inwieweit Spezies, die z.B. nach John Wilkins weiterhin Arten mit Essenzen darstellen, sich in ihrer Essenzialität fortentwickeln können.12 3.

Die Lebensform: Ein neuer Schlüsselbegriff am Rande der Speziesdebatte

3.1 Dem Leben eine Form geben? Geht das und wenn ja, wie? Wenn wir die Frage, wie Leben seine Form gewinnt, weiterhin ernst nehmen wollen und dabei auch nicht sofort auf genuin essentialistische Konzepte zurückgreifen mögen, müssen wir nach einem Konzept Ausschau halten, das für die moderne Speziesdiskussion anschlussfähig bleibt, allerdings darüber hinaus auch eine theoretische wie praktische Kontexterweiterung ermöglicht. Sicherlich ist es richtig, dass Leben seine Form maßgeblich über die Zeit (d.h. als Naturgeschichte) gewinnt, allerdings nicht allein durch sie. Vielmehr erklärt sich die Form des Lebens auch über die jeweiligen Lebensformen und deren Merkmale, wobei sich einige dieser Merkmale ändern können, andere wiederum bestehen bleiben. Die explizite Rede über sogenannte »Lebensformen« (engl. life forms) hat sich vor allem in den wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Diskussionen der letzten Jahrzehnte herauskristallisiert, zumeist weil der Begriff des »Lebens« aus folgenden Gründen an Erklärungskraft und Anschaulichkeit eingebüßt hat: (1) Der Begriff des Lebens wird aufgrund seiner Äquivozität nicht selten als Großmetapher oder »umbrella term« gebraucht, was dazu führt, dass nicht mehr genau gesagt werden kann, wer oder was Träger des Lebens ist und was es überhaupt heißt, zu leben. (2) Der Lebensbegriff bietet die Vorlage für seine eigene Ontologisierung und Logifizierung. »Leben« wird damit zu einer reinen Reflexionskategorie, die in Anschlag gebracht wird, wenn es darum geht, die Logik von Begriffen, welche »Leben« (verstanden als ›Leben des Geistes‹, d.h. als Mentales) zum Inhalt haben, zur Darstellung zu bringen. 12  Vgl. Wilkins 2010.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

41

(3) Der Lebensbegriff, welcher auf konkret Lebendiges angewendet wird, ist der Horizont für die Explikation von in Lebewesen sich vollziehenden Prozessen und Funktionsweisen. Die spezifische Organisiertheit alles Lebendigen wird damit zum alleinigen Maßstab der Erklärung dieser Prozesse bzw. Funktionsweisen und löst sich damit von dem Horizont ab, vor dem sie entstanden ist. Es ist hierbei unschwer zu erkennen, dass der Lebensbegriff seine qualitativen Strukturen, die er anhand seiner Instanziierbarkeit als verschiedene Lebensformen gewinnt, durch eine globale Analyse wieder verlieren kann. Doch gerade die Beantwortung der Frage, was eine ›Lebensform‹ ist, könnte Aufschluss darüber geben, dass sich Lebendiges nicht nur sortieren, sondern auch konkretisieren lässt. Hierbei gilt es zu betrachten, dass es wie beim Speziesbegriff auch eine doppelte, d.h. eine historisch-deskriptive und eine systematisch-normative Tradition des Begriffes ›Lebensform‹ gibt, der ich mich im Folgenden zuwenden möchte. Zunächst ist es mein Ziel, einen Blick in die Wissenschaftsgeschichte zu werfen, während dieser der Begriff der Lebensform, vor allem in der Biologie, eine interessante Karriere genommen hat. Danach versuche ich zu zeigen, in welchen Bereichen – ich beziehe mich vor allem auf die Wittgensteinsche Tradition – ebenfalls die Rede von ›Lebensformen‹ ist, um schließlich Beispiele anzugeben, wo Spezies oder Arten Lebensformen sind bzw. diese repräsentieren und darüber hinaus als Träger normativer Bedeutung verstanden werden können. Die ›Lebensform‹: Ein eröffnender Blick in die Wissenschaftsgeschichte der Biologie Der Begriff Lebensform ist, wie sich nachweisen lässt, insbesondere eine deutsche Erfindung13 und gelangte gegen Ende des 19. Jahrhunderts als lifeform in den englischsprachigen Diskurs14. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive lässt sich dabei vor allem feststellen, dass der Ausdruck zumeist auf zwei Weisen gebraucht worden ist: Einerseits bezeichnet Lebensform in der Botanik die Verhaltensweise einer Pflanze, andererseits wird Lebensform im Sinne eines Klassifikations- und Repräsentationsbegriffes verwendet.15 Gerade 3.2

13  Weitere, eher biologiewissenschaftliche Einzelheiten dazu finden sich bei Toepfer 2011. 14  Vgl. Helmreich/Roosth 2010, 30. 15  Toepfers Begriffsgeschichte zur ›Lebensform‹ (siehe auch sein Beitrag in diesem Band) ist im Unterschied zu Helmreich detaillierter ausgearbeitet und ausführlicher belegt. Außerdem betont der Autor immer wieder, dass sich ein terminologischer Rückgriff auf ›Lebensformen‹ vor allem dort anbietet, wo Ähnlichkeitsrelationen beschrieben werden. Aus diesem Grund scheint für Toepfer der Lebensformbegriff auch kein geeigneter Kandidat für die Entwicklung bestimmter Taxonomien zu sein: »Die Mannigfaltigkeit der

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

42

Martin Hähnel

diese Sortierungsfunktion, auf welche sich der Lebensformgedanke aber nicht vollständig reduzieren lässt, bringt ihn in die Nähe des Speziesbegriffs. Helmreich und Rooth weisen in ihrer umfassenden begriffs- und ideengeschichtlichen Studie zum Lebensformbegriff aber auch darauf hin, dass ein Rekurs auf die Lebensform von ganz anderer Art ist als der Rückgriff auf die Spezieskategorie. Während Spezies und Art eo ipso auf Archetypisches verweisen, also auf etwas, das in gewisser Weise auch der tradierte Lebensformgedanke abzubilden versucht hat, bezieht sich ›Lebensform‹ in einem modernen, d.h. postdarwinistischen Sinne vornehmlich auf die noch offene Zukunft. Lebensformen sind, mit Helmreich und Rooth gesprochen, »future types, not archetypes.«16 Gerade im Bereich der zeitgenössischen, sich ständig weiterentwickelnden Lebenswissenschaften ist diese Elastizität des Begriffs überaus gefragt: »The multiple meanings of life form are fundamental to its prevalence in the life sciences; the term’s elasticity, its capacity to gesture toward senses and doctrines beyond itself, allows it to operate as a frame through which biological thinking can be worked out.«17 Damit fungiert die Lebensform auch als “scouting operator”18 und nimmt in dieser heuristischen Funktion gegenwärtig den Platz ein, den früher teleologische Erklärungsmodelle für sich beansprucht haben.19 Doch wie ist es zu diesem eigentümlichen Verständnis der Lebensform gekommen? Helmreich und Rooth zeigen in ihrer Studie auch auf, dass in der neueren deutschen Geistesgeschichte der Lebensformbegriff seine maßgebliche Prä­ gung durch Goethes Morphologieverständnis und Kants Überlegungen zum Naturzweck erhalten hat. Vor allem konzentrieren sich Goethe und Kant – im Unterschied zur gegenwärtigen, eher kausalistisch-funktionalen Lesart – auf den Formcharakter alles Lebendigen: Lebendige Formen sind für sie in erster Linie wahrnehmbar, selbstdeterminierend, teleologisch strukturiert und auf deduktive Weise vorhersehbar. Alexander von Humboldt transformiert dieses Begriffsverständnis, das noch sehr stark von der Idee einer archetypischen Vorgestalt der Form beeinflusst ist, indem er die Lebensform als Habitus der organischen Welt, in der auch Umwelteinflüsse eine große Rolle spielen, auffasst. Bekanntlich übte diese Ansicht Humboldts, so die beiden Autoren der Studie, einen großen Einfluss auf Darwins Verständnis der Arten aus und Formen und die Optionen der Anpassung sind zu heterogen, als dass sie eine konsistente Klassifikation ermöglichen würden.« (Toepfer 2011, 495) 16  Helmreich/Roosth 2010, 38. 17  Helmreich/Roosth 2010, 29. 18  Helmreich/Roosth 2010, 29. 19  Vgl. Spaemann/Löw 2005.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

43

leitete damit den Wechsel von einem deduktiven hin zu einem induktiven Verständnis des Lebensformbegriffes ein. So spricht Darwin auch explizit von einer allgemeinen Sukzession in den Lebensformen (»general succession in the forms of life«20). Um diese allgemeine Sukzession adäquat zu erfassen, war es für Darwin vor allem wichtig, dass sich Form auf die besondere Konstitution und Gestalt lebendiger Wesen bezieht.21 Diese zur Disposition stehenden Formen ( forms at stake) sind in seiner Evolutionstheorie, nota bene, die Arten. Daraus folgt, dass die genuine Form des Lebens davon abhängig ist, ob man sie als dauerhafte, aber sich in sich verändernde genealogische Einheiten, die sich in Arten konkretisieren, auffasst oder sie in Typen, die einen Raum physischer, metabolischer und ökologischer Möglichkeiten besetzen, kategorisiert. Dass mit Darwin der archetypische Anteil der Lebensform dennoch nicht vollständig exkludiert werden konnte, mag an den späteren Arbeiten von Ernst Haeckel gelegen haben, der die Lebensform auf eine sehr breite biologische Basis gestellt hat und dabei gegen Darwin an Goethes Idee der vergangenen Archetypen und Urphänomene festhält, was in seiner berühmten Aussage, dass die Ontogenese die Phylogenese rekapituliere, paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Im Zuge der im 20. Jahrhundert stattfindenden verstärkten Theoretisierung der Biologie verliert der Lebensformbegriff immer mehr an explikativer Kraft. Meist ist jetzt von verwandten Konzepten wie »Organisation«, »Morphologie« oder »Muster« die Rede. Indes gibt die theoretische Biologie damit schrittweise ihren Bezug zum lebendigen Material auf, sodass die genuine Form des Lebendigen eine Instanziierung einer viel allgemeineren logischen Form darstellt. Das führt unter anderem dazu, dass Biologen auf den Begriff der lebendigen Form fortan komplett verzichten. Zum Beispiel schreibt Waddington, dass »biological forms seem to me to originate as consequences of biological activities, rather than being primary causes of them.«22 Anstatt weiter von einer genuinen Form des Lebendigen zu sprechen, geht man dazu über, die Form des Lebendigen über seine Fähigkeit zur Selbstorganisation (grch. autopoiesis) zu bestimmen. Die allseits bevorzugte Rede über den Organismus und seine besondere Funktionalität macht daher die Rede über seine eigentliche Form schon allein deswegen überflüssig, weil es von vornherein und erst recht seit Darwin klar sein muss, dass ein Organismus verschiedene Formen 20  Darwin 1859, 328. 21  »As life comes to modify form, rather than being designated by form’s self-generation, life form becomes the subject of Darwinian attention, and form refers to particular arrangements and shapes of living beings.« (Helmreich/Roosth 2010, 38) 22  Waddington 1968, 111.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

44

Martin Hähnel

annehmen kann, was wiederum Rückschlüsse über spezifische Qualitäten des Organismus erlaubt. Die Form des Lebens wird also in der Folge über nichts anderes als ihre spezifische Organisiertheit erklärt, was es auch mit sich bringt, dass technische Computermodelle entwickelt werden, die diese Organisiertheit als logische Form abbilden. Diese extreme Platonisierung des Lebensformverständnisses ist aus heutiger Sicht alles andere als zu bestreiten und hat unter anderem dafür gesorgt, dass die theoretische Biologie des 20. Jh. vieles daran gesetzt hat, ein umfassendes theoretisches Framework des Lebens zu schaffen, ohne sich dabei der Tatsache bewusst zu werden, dass das Leben auch Dimensionen besitzt, die sich dieser Art von Theoretisierung entziehen. Jene Platonisierung bzw. Logifizierung des Lebensformbegriffes im Zuge der Entkopplung von der Idee einer archetypischen Form des Lebendigen ist aus meiner Sicht auch die Grundlage dafür gewesen, dass die Rede von Lebensformen Eingang in das Science-Fiction-Genre gefunden hat (»außerirdische Lebensformen«). Ferner sind Lebensformen als ›scouting operator‹ auch gut geeignet, um das Ziel von noch ungewissen biotechnologischen Hervorbringungen zu sein. Wir alle kennen die Rede von »neuen Lebensformen«, welche sich nicht auf die Frage, ob Leben künstlich hergestellt werden kann, bezieht, sondern sich der in meinen Augen weitaus kontroverseren Frage zuwendet, ob genetische Manipulationen des Erbgutes von Menschen oder Tieren auch deren naturgegebene Spezieszugehörigkeit verändern können.23 Exkurs: Wittgensteinsche Lebensformen und ihre Bedeutung für die theoretische Biologie Wenn wir auf die Geschichte des Begriffes der »Lebensform« schauen, dann dürfen wir natürlich nicht jenen, auf den ersten Blick etwas abseitig erscheinenden Traditionsstrang unberücksichtigt lassen, der auf Wittgensteins Arbeiten zu diesem Thema zurückgeht. Die heutige Forschungsliteratur geht davon aus, dass Wittgenstein mit seinen Äußerungen zur Lebensform keinen nicht-grammatischen Bezug zu realen Tatsachen in der Welt, erst recht nicht zu biologischen Tatsachen, herzustellen beabsichtigt. Sein Referenzrahmen ist und bleibt ein linguistischer, insofern darin Sprachhandlungen, darunter fallen auch Lebensbeschreibungen, ihre Bedeutung gewinnen.24 Allerdings ist 3.3

23  Über bioethische Implikationen des Lebensformbegriffes: Rothhaar/Hähnel/Kipke 2018. 24  Christian Martin zufolge handelt es sich bei Wittgenstein um ein rein logisch-linguistisches Verständnis der Lebensform: »What is meant by a ›logico-linguistic understanding‹ of ›form of life‹ in contrast to a biological or ethnological one shall be shortly indicated. It is not uncommon to identify what Wittgenstein calls ‘form(s) of life’ (Lebensform, Lebensformen) with biological facts about ‘human nature’ – or with ‘cultures’ qua ways of living

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

45

auch der Lebensformbegriff bei Wittgenstein schillernder als man vermutet. So hat zum Beispiel J.F.M. Hunter vier Deutungen von Wittgensteins Lebensformbegriff in die Diskussion eingebracht. a) Sprachspielinterpretation: Lebensformen sind mit aktuellen Sprachspielen identisch. Wir nehmen diese Sprachspiele wahr, ohne dass sie im gewöhnlichen Leben direkt ausgeübt und darüber ermittelt werden können. b) Behavioristische Interpretation: Lebensformen sind formalisierte Verhaltensmuster, die mit Sprachspielen korrelieren (Gesichtsausdruck, Gesten etc.). Sprachspiele implizieren, dass man ihnen im Verhalten Ausdruck verleiht, indem man z.B. Wörter ausspricht bzw. mit diesen agiert. c) Kulturhistorische Interpretation: Lebensform als ‘way of life, or a mode, manner, fashion, or style of life’. Lebensformen in dieser Lesart haben etwas mit der gesellschaftlichen Stellung, mit Werten, der Religion, mit bestimmten sozioökonomischen Verhaltensweisen, die eine bestimmte Gruppe charakterisieren, zu tun. d) Naturhistorische Interpretation: Indem vor allem von »Leben« gesprochen wird, wird der biologische Aspekt der Lebensform betont. Leben ist dann dasjenige, was anzeigt, was alles zu ihm zu gehören hat, damit es seine Form, d.h. Lebensform erhält.25 Während sich a) – c) auf die formale Dimension von »Form« konzentrieren, nimmt d) als einzige Interpretationsweise das Leben in seiner biologischen oder organischen Dimension ernst.26 Die Bedeutung einer naturhistorischen bzw. organischen Interpretation der Lebensform tritt vor allem dann hervor, wenn wir behaupten, dass es maßgeblich zur menschlichen Natur gehöre, eine Sprache zu besitzen und dass der Nichtbesitz der Sprache der Lebensform des Menschen widerspräche bzw. einen natürlichen Defekt beschreibe. together which specific communities of human beings share in – or with both as ‘mixed’ reading do. […] Conceiving of ‘form of life’ as a logico-linguistic notion is ot taking it for granted that there is, as a matter of fact, something called ‘form(s) of life’, whatever it might be, which is somehow involved in meaning and thought, functioning as their ‘background’. It is rather starting with topics and concepts such as ‘language’, ‘meaning’, ‘thought’, ‘logic’, ‘truth’ or ‘judgement’ and developing lines of argument which show that these topics and concepts cannot be coherently understood, unless one takes recourse, at some point or other, to life and its ‘form(s), thereby exhibiting internal connections between concepts whose logico-linguistic character is uncontroversial and ‘form(s) of life’.« (Martin 2018, 1f.) 25  Vgl. Hunter 1968; Anscombe 2005. 26  »Because they are patterns, regularities, configurations, Wittgenstein calls them forms; and because they are patterns in the fabric of human existence and activity on earth, he calls them forms of life.« (Pitkin 1972, 132)

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

46

Martin Hähnel

In diesem Sinne kann auch die Wittgensteinianerin Elisabeth Anscombe verstanden werden: “All men not too young and not incapacitated have the blessing of language. They may be incapacitated by brain damage; or again because they are deaf and have not been taught to speak. That a new-born baby is speechless is the same sort of fact as a new-born kitten’s being blind. Earthworms are not blind: it does not belong to their nature to be sighted; they have no organ of sight.”27 Anscombe ist es auch, die mehrere Gründe dafür anführt, die bezeugen sollen, dass der späte Wittgenstein der Sprachspiele und Lebensformen kein linguistischer Idealist gewesen sei, sondern vielmehr jemand war, der auf einen Bezug zu den Gegenständen in der Welt, erst recht wenn diese lebendig sind, nicht verzichten konnte.28 Lebensformen sind daher auch nicht von der Grammatik erschaffen, wenngleich man diese sprachpraktischen Lebensformen nicht mit den Lebensformen, wie sie uns die Biologie präsentiert, gleichsetzen darf. Dennoch besteht an dieser Stelle ein evidenter Zusammenhang, der auch für unsere Diskussion zur Speziesfrage nützlich sein kann. Für Anscombe hängen nämlich als Artbegriffe artikulierte Lebensformen wie »Pferd« nicht von unserer linguistischen Praxis ab, obwohl das Wesen des »Pferdes« oder der »Pferdheit« in der Grammatik ausgesprochen wird. Würden Lebensformen tatsächlich und ausschließlich von unserer linguistischen Praxis abhängen, dann könnten wir nicht wissen, ob die eigene Praxis des Sprachspiels einem Irrtum aufruht oder nicht. Daher gilt, dass sich für die Generierung wahren praktischen Wissens der linguistische Idealismus als untauglich erweisen muss. Dass Wittgenstein einen »weichen Naturalismus« der praktischen Lebensformen vertritt, vermutet auch Peter Strawson.29 So heißt es bekanntlich in den PU §25: »Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen.«30 Diese Parallelisierungen setzen sich auch auf der Ebene des Mensch-Tier-Vergleiches fort, wo Wittgenstein immer wieder die kulturell erworbenen Geistestätigkeiten von den naturgegebenen Fähigkeiten der Tiere abgrenzt. Obwohl Wittgenstein seinen »weichen Naturalismus« nicht rein biologisch fundiert, ist doch die Tatsache erstaunlich, dass er von einer relativen Stabilität der anthropologischen »Naturtatsachen« ausgeht. Der Mensch denkt, spielt, trinkt oder hofft, seit er existiert, ungeachtet dessen, dass er diese Fähigkeiten im Laufe der Zeit weiter verfeinert konnte. 27  Anscombe 2005, 27. 28  Vgl. Anscombe 2014. 29  Vgl. Strawson 1985. 30  Wittgenstein 1982, 28.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

47

3.4 Zwischenergebnis Fassen wir die vorhergehenden Punkte nochmals zusammen: Spezies oder Arten sind, bereits seit Aristoteles, paradigmatische taxonomische Einheiten für biologische Klassifikationsmodelle, wobei sie im Zuge des Erfolges der Evolutionstheorie vor allem zu Elementen diverser, nicht-essentialistischer Modelle geworden sind. Diese Beschränkung des Speziesverständnisses auf seine klassifizierende Funktion geht jedoch mit einigen Einbußen der Erklärungskraft einher: So wird darin nicht mehr zum Ausdruck gebracht, welche konkreten artspezifischen Merkmale Lebewesen aufweisen müssen, um ihre Zugehörigkeit zu ihrer Art zu bestätigen. (Wie Wittgenstein übrigens im Nachlassregister treffend bemerkt, ist die Klasse der Katzen selbst keine Katze.) Es ist zudem ein Leichtes, sich dem empirischen Anspruch, dem zufolge sich Arten entwickeln, zu entziehen, indem man diese Arten einfach mathematisiert und als logische Klassen restituiert.31 Ähnlich verhält es sich mit dem historischen Lebensformbegriff, der für Modelle Platz machen musste, die die Form des Lebendigen über die spezifische Organisiertheit von Lebewesen erklären. Der ›Tod des Essentialismus‹ ist aber nicht zugleich der Sieg des biologischen Funktionalismus bzw. der Tod der Idee, dass lebendige Wesen eine arteigene Form haben, die sie auszeichnet und nach der sie bewertet werden können. Gerade ein an diesen Problemen geschulte Rede von Lebensformen könnte hier in die explanatorische Presche springen. So zeichnen sich Lebensformen zwar durch ihre konzeptuelle Offenheit aus, was aber nicht heißen soll, dass sie ontologisch unabhängig von einem Speziesbegriff wären, der sich jetzt nicht mehr über den Besitz einer Artessenz, sondern über Eigenschaften, die notwendig sind, damit ein Exemplar der Lebensform X ein normales Exemplar dieser Lebensform sein kann, definiert. Diese Eigenschaften geben dem Leben genau die Form, die es braucht, um Lebewesen als Konkretisierungen dieser Form erscheinen zu lassen. Diese Eigenschaften bezeichnen dabei nicht nur empirische Merkmale, sondern auch Aktivitäten, die den jeweiligen Lebensformen eigen sind und nur von diesen als solche erkannt und gewusst werden können. An dieser Stelle hilft uns besonders Wittgensteins Deutung der als Sprachspiel zu verstehenden Lebensform weiter. Ihm zufolge können Sprachhandlungen durchaus analog zu biologischen Tatsachen verstanden werden. Sie beschreiben damit eine als Kulturgeschichte verkleidete Naturgeschichte des Menschen, die sich in relativer Stabilität vollzieht. Wittgenstein gelingt es mit seiner Sprachspieltheorie der Lebensform auf geschickte Weise, den Essentialismus, auch den Essentialismus der Arten, an unsere menschliche 31  Ähnlichkeitsrelationen bestünden dann nur noch zwischen Klassen und nicht mehr zwischen Individuen ein und derselben Spezies.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

48

Martin Hähnel

Grammatik zu binden, ohne ihn vollständig aus dieser Grammatik heraus begründen zu müssen. Damit gibt Wittgenstein den entscheidenen Anstoß für spätere neoaristotelische Ethiken, welche das Ziel haben, eine Grammatik des Guten mit einer operationalisierbaren und empirisch informierten TeleoOntologie der Lebensformen zu verbinden. 4.

Sind Spezies Lebensformen? Antwortversuche aus normativer Perspektive

4.1 Das neoaristotelische Paradigma: Foot und Thompson Bislang ging es in unserer Untersuchung hauptsächlich um die Frage, wie sich der Begriff der Lebensform in verschiedene Dimensionen untergliedern lässt (linguistisch, kulturhistorisch, naturgeschichtlich etc.) und welche Stellung er gegenüber dem biologischen Speziesbegriff einnimmt. Keine Rede war bislang von der Möglichkeit, dem Lebensformbegriff eine bestimmte normative Relevanz zuzusprechen, ohne dass dieser nur die Neuauflage eines philosophisch immer fragwürdiger gewordenen essentialistischen oder biologistischen Speziesverständnisses ist. Im aktuellen Neoaristotelismus, der gerade diese normative Relevanz der ›Lebensform‹ betont, kommt die Verwendung des selbigen Begriffes daher weitestgehend ohne historische Reminiszenzen, empirisch verengte Bezugnahmen und systematische Vorklärungen aus. Vielmehr erscheint es so, als ob der Ausdruck einer ›Lebensform‹ Platzhalter bzw. Zielpunkt einer spezifischen normativen Theorie sei, deren möglicher Rekurs auf objektive Tatsachen, Handlungsweisen und Sprachpraktiken (zum Zwecke der Rechtfertigung des eigenen Ansatzes) nur eine Folgeerscheinung des begrifflichen framework ist, das Vertreterinnen und Vertreter dieser Theorie, angefangen mit Elisabeth Anscombe über Philippa Foot und Michael Thompson bis hin zu Rosalind Hursthouse und John Hacker-Wright, seit mehreren Jahrzehnten entwerfen.32 Wie lässt sich der neoaristotelische Lebensform- bzw. Speziesbegriff näher spezifizieren? In der aktuellen Debatte zum ethischen Neoaristotelismus bzw. zu aristotelisch zu verstehenden Lebensformen verwenden Autoren wie Philippa Foot oder Michael Thompson die Begriffe von »Spezies« und »Lebensform« zumeist synonym.33 Foot bemerkt allerdings in Natural Goodness, dass der 32  Einen Überblick über diesen Theorieansatz in der Ethik gibt: Hähnel 2017. 33  Es ist unbestritten, dass Autorinnen wie Philippa Foot und G.E.M. Anscombe, die sich dezidiert der sprachkritischen Absicht Ludwig Wittgensteins angeschlossen haben, kein naives, biologistisches Lebensformkonzept entwickelt haben. Einen interessanten

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

49

von Thompson in die Diskussion eingeführte Terminus der »Lebensform« womöglich besser geeignet zu sein scheint als der Ausdruck »Spezies«34. In späteren Passagen verwendet Foot den Begriff der Lebensform entgegen früherer Behauptungen eher im attributiven Sinne des genitivus possessivus als »Lebensform der Spezies«35. Somit sind »Lebensform« und »Spezies« gerade nicht mehr synonym zu gebrauchen, sondern die Lebensform ist etwas, das die Spezies näher bestimmt oder charakterisiert. Michael Thompson gesteht seinerseits zu, dass er einen »crude use«36 der Begriffe von Lebensform, Art oder Spezies, die für ihn mehr oder weniger äquivalent sind, macht. Allerdings nimmt er auch folgende Differenzierung vor: “The concept life form might be kept strictly parallel to the concept language or form of discursive interaction; the concept species might then be understood as parallel with the concept linguistic community; finally the concept of a given kind of living thing would be parallel to that of a given ‘speaker-kind,’ i.e., the concept speaker of L for a given language L.”37 Thompson möchte sich insbesondere auf die erste von Wittgenstein eingeführte Bedeutung, der zufolge Lebensformen Sprachspiele sind, konzentrieren, was bereits darauf hindeutet, dass Thompson kein substantielles Verständnis der Lebensform zu verfolgen beansprucht. Ferner grenzt sich Thompson in »Apprehending human form« dezidiert von einer empirischen Bestimmung des Lebens- bzw. Spezieskonzeptes ab und führt an dessen Stelle die Idee ein, dass die Lebensform »a pure, or a apriori, or perhaps a logical concept«38 darstellen müsse. Nun bleibt allerdings die Frage weiterhin bestehen, ob und inwieweit logische Lebensformbegriffe mit empirischen korrelieren, denn Thompson spricht unter anderem auch davon, dass man das logische Konzept der menschlichen Form an eine bestimmte Lebensform anlegen müsse (»attaching to«).39 Versuch, das linguistische Anliegen Wittgensteins mit einer naturhistorischen Interpretation des Lebensformbegriffes (durchaus in Anlehnung an den modernen Neoaristotelismus) zu verbinden, stammt von Martin Gustafsson. Schlüssel zu dem richtigen Verständnis dieser Beziehung sind für den Autor die Gedanken Wittgensteins zur Morphologielehre Goethes (die den Begriff der Urform bzw. des Urphänomens in den Mittelpunkt stellt), welche auch schon für die von Helmreichs und Rooth verfasste Geschichte des Lebensformbegriffes entscheidend ist (vgl. Gustafsson 2018). 34  Foot 2004, 32. 35  Foot 2004, 132. 36  Thompson 2004, 53. 37  Thompson 2004, 53. 38  Thompson 2004, 57. 39  Thompson 2004, 57. Womöglich glaubt Thompson eher daran, dass im Unterschied zum Lebensformbegriff der Speziesbegriff eine empirische Fundierung erfahren kann: »It may be that the word ‘species’ is best left to express some such more determinate conception,

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

50

Martin Hähnel

Thompson klärt den Leser aber nicht auf, was er mit »anlegen« meint und provoziert damit eine repräsentationalistische bzw. idealistische Lesart seines Lebensformansatzes. Ohne diese Frage weiter zu vertiefen, geht Thompson davon aus, dass es eine nicht-empirische, also eine begriffliche Beziehung (man könnte es auch eine analogische Beziehung nennen), zwischen einen empirischen und einem logischen Lebensformbegriff gibt. Egal wie diese Relation beschrieben wird oder aussieht, so steht doch fest, dass Thompson eine gemeinsame Art oder teilbare Natur voraussetzt, die es ermöglicht, einen Zusammenhang zwischen praktischen Fähigkeiten wie Urteilen und natürlichen Eigenschaften wie Sehkraft herzustellen. Diese Bewertungsstruktur, welche durchaus schon bei Aristoteles grundgelegt ist,40 bildet für Thompson letztlich auch die Grundlage für normative Aussagen, denn sobald von Lebensformen die Rede ist, muss es sich dabei auch um normative Urteile handeln. Doch wie lässt sich dieser Zusammenhang noch verständlicher erläutern? Bei diesem Zusammenhang handelt es sich wohl um eine strenge Analogie, deren Wahrheit allein durch das praktische Wissen, das ich von dieser Analogie habe, garantiert wird.41 Wird diese Analogie verletzt, z.B. indem ich darin kein Entsprechungsverhältnis erkenne, muss irgendein Fehler oder Defekt vorliegen. Ob dieser Fehler in der Natur liegt, d.h. in der empirischen Lebensform selbst zu suchen ist, oder ein Defekt im eigenen Urteil ist, der dieses Urteil auch falsch machen kann, darüber gibt Thompson keine nähere Auskunft. Thompson begnügt sich hier weitestgehend mit verschiedenen Abgrenzungen: So ist der Speziesbegriff für ihn keine Realdefinition, auch beschreibt er nichts Zirkuläres; erst recht darf er nicht zum Inbegriff einer organizistischen Metaphysik gemacht werden.42 Übrig bleibt am Ende die Bestimmung, dass die Lebensform eine Urteilsform ist, die einer eigenen Logik folgt, der zufolge lebendige Kategorien mit Hilfe dieser Logik in ihrer Form erst erfasst und transformiert werden können.43 and only the word ‘life-form’ retained for our properly philosophical purposes, but I will not so leave it.« (Thompson 2008, 59) 40  Vgl. Rapp 2017. 41  Anstatt den Begriff der »Lebensform« von der empirischen Beobachtung abzuleiten, geht Thompson davon aus, dass wir ihn unmittelbar, d.h. »through the first person« (Thompson 2004, 66), gewinnen können. 42  Vgl. Thompson 2008, 48. 43  Thompson würde die Lebensform auch gern psyche nennen. Moosavi 2019 kritisiert in einer neueren Arbeit, dass Thompsons Ansatz naturhistorischer Urteile antiindivualistisch sei, was meint, dass zu den einzelnen Lebensformen nicht nur ihre biologischen, arteigenen Funktionen (z.B. Reproduktion und Selbsterhaltung), sondern auch der Kontext, in dem sie existieren, dazugehört. Da der neoaristotelische Ansatz zur

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

51

4.2 Aristotelische Lebensformen und biologische Speziestheorien Bei einer näheren Betrachtung des klassischen neoaristotelischen Paradigmas fällt ins Auge, dass Foot und Thompson keine oder bloß kursorische Bezüge zu Diskussionen suchen, die in der aktuellen Philosophie der Biologie im Schwange sind. Meist bleibt es hier bei bloßen Andeutungen oder Verweisen, welche entweder die Autorität der eigenen Aussagen stützen oder Angebote formulieren, die zeigen sollen, wie eine normative Moraltheorie wieder mit biologischen Fragestellungen in Verbindung gebracht werden kann, ohne damit einen naturalistischen Fehlschluss zu begehen.44 Dagegen zeigt sich ein Teil der jüngeren Arbeiten zum Neoaristotelismus durchaus aufgeschlossen gegenüber den Befunden der theoretischen Biologie und Umweltethik. So vertritt im Unterschied zu Foot und Thompson Ronald Sandler ein dezidiert substantielles Verständnis der Lebensform in Bezug auf die Spezies, insofern er damit seine spezifische, vor allem für die Umweltethik relevante Tugendtheorie rechtfertigt. Sandler zufolge gehört es nämlich zur Spezies Mensch gemäß seiner Lebensform, d.h. natürlich, zu gedeihen. Sandler führt die Idee, wonach Arten Lebensformen sind, mit dem Ziel ein, eine alternative Theorie zu Speziespluralismus und Speziesmonismus zu finden. Arten sind für Sandler nichts anderes als »groups of biologically related organisms that are distinguished from other groups of organisms by virtue of their shared form of life.«45 Sandler deutet dabei die Forderung Thompsons, der zufolge die Spezies oder Lebensform einen weiteren Beschreibungskontext impliziere, gewissermaßen empirisch aus, indem er die Lebensform einer Spezies aus den Beziehungen der Mitglieder einer Population untereinander und aus den Beziehungen dieser Mitglieder zu dem ökologischen Kontext und der Geschichte der Population, der sie angehören, hervorgehen. Im Unterschied zu Thompson gibt es für Sandler keine Inkommensurabilität zwischen einem biologischen und einem nicht-empirischen, d.h. logischen Konzept der Spezies oder Lebensform: »The form of life conception of species classifies

natürlichen Gutheit individuenübergreifend ist, schlägt Moosavi vor, diesen zu revidieren, um antiindivualistische Konsequenzen zu vermeiden. Dieser Ansatz weist letztlich – unter Zuhilfenahme neoaristotelischen Vokabulars – Ähnlichkeiten zur Speziesdebatte zwischen Essentialisten und Nominalisten auf und plädiert dabei für die letzte Option. 44  »The Neo-Aristotelian views surveyed here are also aimed at offering resources for a rapprochement between biology and normative moral theory, but one that does not require thinking in terms of reproductive success.« (Woodford 2016, 23) 45  Sandler 2012, 6.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

52

Martin Hähnel

organisms by something that is both biological real and explanatory useful. It’s a legitimate species concept.«46 Anders als Sandler versucht Jesse Mulders seine Lebensformkonzeption der Spezies in erster Linie gegen materialistische und biologistische Engführungen in Anschlag zu bringen.47 Lebensbeschreibungen im Sinne Thompsons, die nicht auf physikalische Kategorien zu reduzieren sind, sind Mulders zufolge in der Lage, einen Mittelweg zwischen evolutionistischen und essentialistischen Biologiemodellen zu ebnen. Mulders führt diesbezüglich vor allem drei Gründe an, die für zahlreiche begriffliche Konfusionen im Hinblick auf die Frage, ob Arten Lebensformen sind, geführt haben: (1) Zunächst sollte man nicht erwarten, dass man erfolgreich auf Spezies­ definitionen, die logischer Art sind, zurückgreifen kann, wenn es um Lebensformen geht. Lebensformen sind vielmehr komplexe, teleologisch verknüpfte Prinzipien, die den gesamten Lebenszyklus ihrer Instanziierungen einschließlich der Austauschbeziehungen zu anderen Lebensformen bestimmen. (2) Ferner gibt es stets Eigenschaften, die nicht von allen Mitgliedern einer Art geteilt werden können. Was demnach nicht geteilt werden kann, kommt als Defekt vor und erscheint typischerweise in Beschreibungskategorien des Lebendigen. Mulders zeigt sich davon überzeugt, dass dies ein Erbe des Essentialismus darstellt, mit dem man arbeiten kann und muss. (3) Es gibt noch einen enormen empirischen Forschungsbedarf hinsichtlich der Frage, wie Lebensformen eigentlich biologische Realität konstituieren. Lebensformen sind in epistemologischer Hinsicht also noch komplexer als physikalische natürliche Arten. Es wäre außerdem notwendig, die eigentliche Lebensweise von Lebensformen näher zu untersuchen – das bezieht sich sowohl auf speziesrelevante Prozesse von der Molekularebene bis hin zu genetischen, morphologischen, physiologischen und behavioralen Phänomenen bzw. von der Rolle von Lebensformen in Ökosystemen bis zurück zu ihren evolutionsgeschichtlichen Wurzeln. Wie Mulders an mehreren Stellen klarstellt, geht es ihm in erster Linie darum, die Vorteile eines essentialistischen Spezieskonzepts mit den Vorteilen eines nicht-essentialistischen Lebensformkonzeptes zu verbinden. Sein Anliegen ist dabei mit der von John Wilkins entwickelten Idee eines generativen Artbegriffes 46  Sandler 2012, 7. Allerdings bekennt Sandler, dass sein Speziesbegriff unvollkommen ist (Sandler 2012, 8), insofern er bemerkt, dass Arten für ihn Produkte ungerichteter evolutionärer Prozesse sind. 47  Vgl. Mulder 2016.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

53

verwandt.48 Gerade der Bezug auf Lebensformen scheint für Mulders auch am besten geeignet zu sein, um sich vom biologischen Essentialismus geschickt abzusetzen und im gleichen Atemzug das Konzept des Speziespluralismus wieder aufzunehmen und weiterzuentwickeln. In Übereinstimmung mit den anfangs aufgeführten wissenschaftshistorischen Befunden von Helmreich und Rooth bleibt damit ein substantielles Verständnis des Lebensformbegriffes von der Darwinschen Evolutionstheorie unberührt. Denn die Frage, was es heißt ein Mitglied der Art X zu sein, habe sich vor und nach Darwin, so Mulders, gar nicht geändert.49 Vielmehr waren es die zahllosen Interpreten Darwins, welche behaupteten, dass Mitglied-einer-Spezies-Sein nichts anderes bedeute als das Verfügen-können über eine Spezies-Essenz. In der aktuellen Diskussion über Spezies geht es aber vielmehr um generelle epistemologische Fragen als um die allgemeine ontologische Frage, was es heißt bzw. wie es ist, Mitglied einer Spezies zu sein. Mulders zufolge ist es Darwin nicht gelungen, uns von einem falschen Verständnis des Essentialismus und Materialismus zu befreien, was dafür gesorgt hat, dass davon auch unser Verständnis der Lebensformen in Mitleidenschaft gezogen worden ist und wir vielleicht erst jetzt wieder den Versuch starten können, diese Begriffsverwirrung zu beenden.50 Der Weg von der Lebensform zurück zur Spezies ist also steinig, aber nicht unpassierbar. 5. Fazit Wir haben in diesen historisch-analytischen Ausführungen gesehen, dass die Lebensform ein multidimensionales Konzept darstellt, das epistemologische, ontologische, biologische, sprachliche und praxeologische Aspekte des Lebens umfasst und integriert, ohne unreflektiert auf empirisch gewonnene Tatsachen zurückgreifen zu müssen. Vor allem die menschliche Lebensform und damit auch ihre Natur können nicht mehr ausschließlich essentiell verstanden werden, sondern nur im Kontext von Abstammungsrelationen oder als mehr oder weniger persistierender Teil-einer-Linie. Dieser Umstand impliziert jedoch nicht, dass sich aus diesen Prämissen keine normativen Gesichtspunkte ableiten ließen. Es geht ja gerade bei der Frage nach der Spezieszugehörigkeit stets um die natürliche Form des Menschen, die sich in lebendigen Kategorien 48  Vgl. Mulder 2016, 179. 49  Vgl. Mulder 2016, 178. 50  »It is no overstatement, then, to say that the Darwinian and genetic revolutions have not freed us from an inadequate form of essentialism, but have rather turned our understanding of what life forms are, which was already a difficult matter, frankly into a conceptual mess.« (Mulder 2016, 179)

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

54

Martin Hähnel

beschreiben lässt und Grundlage für eine Logik des Lebens ist, mit deren Hilfe evaluative Urteile gefällt werden können. Ein sicher schwer zu behebendes Manko jeder auf den Menschen bezoge­ nen normativen Spezies- oder Lebensformtheorie besteht allerdings weiterhin in der Tatsache, dass diese Theorie selbst keine Ressourcen enthält, mit deren Hilfe geklärt werden könne, wodurch sich die menschliche Lebensform in ihrer Art (und damit vielleicht auch in ihrer Würde) von nicht-menschlichen Lebensformen unterscheidet. Eine metaphysische Ontologie wird uns hier ebenso wenig weiterhelfen wie transformative Ansätze zur Begründung der anthropologischen Differenz.51 Eine wirklich zukunftsträchtige Theorie der Lebensform müsste deshalb die verschiedenen Weisen des Existierens dieser oder jener Lebensform näher untersuchen, denn die jeweils über den Abgleich von Eigenschaften verifizierte Zugehörigkeit eines Exemplars zur Spezies Biene sagt relativ wenig über die spezifische Lebensweise Biene aus. Ähnlich verhält es sich mit dem Menschen: Seine Gattungsnatur gibt keinerlei Auskunft darüber, wie er als Person lebt bzw. wie er sich als Person zu anderen Personen seiner Art verhält bzw. verhalten sollte. Literaturverzeichnis Altran, Scott 1999, »The Universal Primacy of Generic in Folkbiological Taxonomy«, in: Robert Wilson, Species, Cambridge, 231-261. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margarete 2005, »Human Essence«, in: Mary Geach/ Luke Gormally (Hg.), Human Life, Action and Ethics: Essays by G. E. M. Anscombe, Exeter, 27-38. — 2014, »Ist Wittgenstein linguistischer Idealist?«, in: Gertrude Elizabeth Margarete Anscombe, Aufsätze, Frankfurt a.M., 316-355. Darwin, Charles 1859, On the Origin of Species, Cambridge. Dupré, John 1999, »On the Impossibility of a Monistic Account of Species«, in: Robert Wilson (Hg.), Species: New Interdisciplinary Studies, Cambridge. Ereshefsky, Marc 1998, »Species Pluralism and Anti-Realism«, in: Philosophy of Science 65/1, 103-120. Foot, Philippa 2004, Die Natur des Guten, Frankfurt a.M. Gustafsson, Martin 2018, »Language-Games, Lebensform, and the Ancient City«, in: Christian Martin (Hg.), Language, Form(s) of Life, and Logic, Berlin/New York, 173-192. Hähnel, Martin 2017, Aristotelischer Naturalismus, Stuttgart. 51  Vgl. Kietzmann 2017.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Von der Spezies zur Lebensform

55

— 2019, »Der Vorrang der Vorgänge. Hartmann, Whitehead und Aristoteles über Werden und Vergehen«, in: Horizon. Studies in Phenomenology 8/1, 123-139. Haslanger, Sally 2014, »The normal, the natural and the good: Generics and ideology«, in: Poetica and Societa 3, 365-392. Helmreich, Stefan/Roosth, Sophia 2010, »Life Forms: A Keyword Entry«, in: Representations 112/1, 27-53. Hunter, J.F.M. 1968, »‘Forms of Life’ in Wittgenstein’s Philosophical Investigations«, in: Elmer Daniel Klemke (Hg.), Essays on Wittgenstein, Chicago, 273-297. Inwagen, Peter 1990, Material Beings, Ithaca. Kietzmann, Christian 2017, »Eine transformative Konzeption der anthropologischen Differenz«, in: Philosophisches Jahrbuch 124/1, 43-59. Kripke, Saul 1980, Naming and Necessity, Oxford. LaPorte, Joseph 2004, Natural Kinds and Conceptual Change, Cambridge. Martin, Christian (Hg.) 2018, Language, Form(s) of Life, and Logic: Investigations after Wittgenstein, Berlin/Boston. Moosavi, Parisa 2019, »Natural Goodness and Natural-Historical Goodness«, in: Martin Hähnel (Hg.), Aristotelian Naturalism: A Research Companion, Cham, in Vorbereitung. Mulder, Jesse 2016, »A Vital Challenge to Materialism«, in: Philosophy 91/2, 153-182. Nicholson, Daniel J./Dupré, John 2018, Everything Flows. Towards a Processual Philosophy of Biology, Oxford. Okasha, Samir 2002, »Darwinian Metaphysics: Species and the Question of Essentialism«, in: Synthese 131, 191-213. Pitkin, Hanna F. 1972, Wittgenstein and Justice, Berkeley. Putnam, Hilary 1975, “The Meaning of ‘Meaning’ ”, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science 7, 215-271. Quine, Willard van Orman 1953, »On what there is«, in: Willard van Orman Quine, From a Logical Point of View, Cambridge, Mass, 1-19. — 1969, Natural kinds. In Ontological relativity and other essays, New York. [dt.: Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975.] Rapp, Christof 1992, »Ähnlichkeit, Analogie und Homonymie bei Aristoteles«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 46/4, 526-544. — 2017. »Was ist aristotelisch am Aristotelischen Naturalismus«, in: Martin Hähnel (Hg.), Aristotelischer Naturalismus, Stuttgart, 19-41. Rothhaar, Markus/Hähnel, Martin/Kipke, Robert 2018, Der manipulierbare Embryo. Potentialitäts- und Speziesargumente auf dem Prüfstand, Münster. Sandler, Ronald 2012, The Ethics of Species, Cambridge. Spaemann, Robert/Löw, Reinhard 2005, Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederent­ deckung des teleologischen Denkens, Stuttgart. Strawson, Peter 1985, Scepticism and Naturalism: Some Varieties, London.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

56

Martin Hähnel

Thompson, Michael 2004, »Apprehending Human Form«, in: Anthony O’Hear (Hg.), Modern Moral Philosophy, Cambridge, 47-74. — 2008, Life and Action, Cambridge, Mass. Toepfer, Georg 2011. »Lebensform«, in: Historisches Wörterbuch der Biologie: Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Stuttgart, 484-496. Waddington, Conrad Hal 1968, Towards a Theoretical Biology: An IUBS Symposium, Chicago. Wilkins, John S. 2010, »What is a species? Essences and Generation«, in: Theory in Biosciences 129, 141-148. Wittgenstein, Ludwig 1982, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. Woodford, Peter 2016, »Neo-Darwinists and Neo-Aristotelians: how to talk about natural purpose«, in: History and Philosophy of the Life Sciences 38, 23.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform Ralf Becker Wenn uns jemand die Frage stellt: »Was ist der Mensch?«, dann sind wir versucht, mit einer Definition zu antworten. Die abendländische Philosophie belegt zahllose Fälle, in denen dieser Versuchung nachgegeben wurde. Mal augenzwinkernd wie Platons »ungefiederter Zweibeiner«, mal ernsthaft wie Aristoteles’ zoon logon echon, hat die Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, immer dieselbe Form: Die Art (species) ›Mensch‹ wird von einer anderen Art der gleichen Gattung (genus proximum) durch eine spezifische Differenz (differentia specifica) unterschieden. Das klassische Definitionsschema erlaubt die Darstellung in einer so genannten Arbor Porphyriana, die die jeweilige Spezifikation einer Gattung durch Verzweigung in zwei Äste veranschaulicht. So unterteilt Platon die Gattung der Zweibeiner in die Art der Gefiederten und die der Federlosen, während Aristoteles die Gattung der Lebewesen in die Art der Vernunftbegabten und die der Vernunftlosen aufspaltet. Die spezifische Differenz wird hier durch das obere Erkenntnisvermögen, dort durch die unteren Extremitäten bestimmt. Das logische Prinzip der Definition nach Gattung und Art ist nicht mit der Taxonomie der empirischen Biologie identisch, die unter einer Gattung durchaus mehr als zwei Arten versammelt und über ihr weitere Taxa wie Familie und Ordnung ansetzt. Gleichwohl erfolgt auch in der biologischen Systematik die Einteilung von zu Arten zusammengefassten Organismen nach spezifischen Eigenschaften bzw. in der neueren Zeit nach dem Grad der stammesgeschichtlichen Verwandtschaft, so dass eine Zuordnung zu jeweils höheren Taxa möglich wird. Für die leitende Fragestellung nach dem Begriff des Menschen ergibt sich aus der Logik der Definition grundsätzlich das Problem der Abgrenzung von ähnlichen bzw. verwandten anderen Arten derselben Gattung. Je nach Schema unterscheidet sich der Mensch dann als ein anderes Tier oder von den Tieren überhaupt. Der folgende Beitrag soll den Menschen nicht als Art einer Gattung definieren, sondern als individuelle Lebensform beschreiben. Der Lebensformbegriff unterläuft den Artbegriff. Gelegentlich werden zwar ›Lebensform‹ und ›Spezies‹ synonym verwendet, aber im biologischen wie im philosophischen Gebrauch gewinnt die Lebensform eine eigenständige Bedeutung gegenüber der sinnverwandten Art. Der biologische Begriff der Lebensform fasst supraspezifisch, also artübergreifend, die Anpassungen an einen bestimmten Lebensraum zusammen: »Allgemein wird seit Ende des 19. Jahrhunderts

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_005

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

58

Ralf Becker

unter einer Lebensform die Gestalt eines Organismus verstanden, in der sich sein Verhältnis zur Umwelt ausdrückt.«1 Beispiele für pflanzliche Lebensformen wären etwa: Bäume, Schlingpflanzen, Kräuter; Beispiele für tierische Lebensformen sind dagegen: Wasser-, Luft- und Landtiere. Die Einteilung von Organismen nach Lebensformen deckt sich weder mit der Linnéschen Systematik noch mit evolutionären Verwandtschaftsgraden. Entscheidend ist die Ähnlichkeit in der Lebensweise, in der sich die gleichgerichtete Anpassung an Umweltbedingungen bekundet. Lebensformen sind evolutionsbiologisch durch Analogie und nicht durch Homologie bestimmt. Ein Lebewesen kann überdies in verschiedenen Lebensphasen durchaus unterschiedlichen Lebensformen angehören, wenn es, wie z.B. in der Metamorphose der Schmetterlinge, die Lebensweise als kriechende Raupe gegen die Lebensweise als Fluginsekt eintauscht. Der philosophische Begriff der Lebensform kann von dem biologischen darin abweichen, dass er subspezifisch, also innerhalb der ›Artgrenze‹, menschliche Lebensweisen, z.B. in verschiedenen Kulturen, bezeichnet. Wenn Wittgenstein schreibt: »eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen«,2 dann bezieht er Sprachen auf Kontexte von Handlungen und Ansichten, in die sie eingebettet sind. Diese Kontextbestimmung übernimmt auch Michael Thompson: »Der ›weitere Kontext‹ einer Lebensbeschreibung ist die Lebensform«3. In diesem Sinne ist die menschliche Lebensform ebenso die Grundlage für die Lebensbeschreibung einer menschlichen Praxis, wie die Beschreibung einer Eichel Wissen über die Lebensform der Eiche voraussetzt. Damit wendet sich Thompson gegen den »Fetischcharakter der DNA«,4 also den Glauben, eine Spezies primär anhand ihres Genoms beschreiben zu können. Die Differenzierung von Lebensformen enthält noch nicht die Möglichkeit, diese wiederum zu Gattungen zusammenzufassen. Thompsons Lebensformbegriff ist daher nicht so sehr subspezifisch wie subgenerisch d.h. unterhalb der Bildung von Gattungen angesiedelt: Ich gebe […] zu bedenken, dass die Tatsache, dass irdische Lebensformen aussagekräftige Klassifizierungen in höhere Gattungen erlauben, eine lediglich empirische Wahrheit ist, eine Folge ihrer Evolution aus vorangegangenen Formen.[«] Aber es ist [»]keine bloß empirische Tatsache, dass [Organismen] unter das fallen, was wir ›Lebensformen‹ genannt haben. Die einfache 1  Toepfer 2011, 484. 2  Wittgenstein 1995, 246 (§ 19); vgl. auch 250 (§ 23), 356 (§ 241). Vgl. außerdem Wittgenstein 1994, 122 (§ 630). 3  Thompson 2011, 77. 4  Thompson 2011, 74.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform

59

›Klassifikation‹ einzelner Organismen in Begriffen von Lebensformen geht […] jedem möglichen Urteil über Ähnlichkeit und geteilte Entstehungsgeschichte voraus.5

Die Beschreibung einer Lebensform erfolgt bei Thompson in naturhistorischen Urteilen. Auf die besondere Form dieser Urteile wird am Ende zurückzukommen sein (3.2). Zuvor möchte ich den herkömmlichen Begriff der Naturgeschichte in zwei Schritten rekonstruieren. Zunächst gewinne ich einen originären Begriff von Naturgeschichte aus der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps: Schapp führt Allgemeinbegriffe auf Serien bzw. Reihen zurück (1.1) und stellt sie als Effekte einer gezielten Abblendung heraus (1.2). Die Abblendung der Geschichte, aus der das biologische Definiendum ›Mensch‹ hervorgeht (2), werde ich in einem zweiten Schritt an den Beispielen Linnés (2.1) und Darwins (2.2) vorführen: Linné steht für die Definition des Menschen als Homo sapiens Pate, während Darwin den Menschen bruchlos in die Ahnenreihe natürlich entstandener Tierarten aufnimmt. Eine nicht-essentialistische philosophische Anthropologie versucht, hinter der Abblendung, die den biologischen Gegenstand ›Mensch‹ erzeugt, die in Geschichten verstrickten Menschen (3.1) in naturgeschichtlichen Lebensformbeschreibungen (3.2) wieder sichtbar zu machen. 1.

Leben in Geschichten verstrickt

Für Schapp »tritt an die Stelle des Lebens das In-Geschichten-Verstricktsein. In Geschichten verstrickt sind Menschen, Götter, Dämonen, Teufel, Tiere, Pflanzen.«6 Leben heißt, in Geschichten verstrickt zu sein – leblose Gebilde wie Werkzeuge und Steine kommen in Geschichten nur vor, sind aber nicht in sie verstrickt. Hinsichtlich des Leblosen unterscheidet Schapp zwischen den instrumentellen Wozudingen und dem Auswas der Wozudinge, dem Stoff, aus dem sie gefertigt sind. Die Verstrickung in eine Geschichte setzt eine Beteiligung durch Verhalten, Handeln (zu dem auch Unterlassen gehört) bzw. Interaktion voraus. Zuletzt sind alle Geschichten menschliche Geschichten, in die Götter, Dämonen und Teufel, Tiere und Pflanzen verstrickt sind und in denen Wozudinge vorkommen.7 Der an einer Geschichte Beteiligte oder das

5  Thompson 2011, 88. 6  Schapp 1981, 218. 7  Vgl. Schapp 1953, 179.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

60

Ralf Becker

in Geschichten Vorkommende ist nur durch Geschichten und in Geschichten, wer er oder was er ist.8 1.1 Species est ineffabile:9 Serie und Reihe An die Stelle von Allgemeinbegriffen tritt bei Schapp die Serie (von Wozudingen) bzw. eine Reihe (von Lebewesen). Ein falscher Taler ist nicht aufgrund seines Wesens oder des Wesens echter Taler falsch, sondern weil er nicht zu der Serie gehört, »die unter staatlicher Kontrolle geprägt ist«. Der einzelne echte Taler führt »in seiner Geschichte auf die Serie« zurück, in der für die Fälschung »kein Platz« ist.10 Eine eigene Gattung ›Taler‹ mit den beiden Arten ›echter‹ und ›falscher Taler‹ einzuführen, ist daher unnötig und irreführend. Dies wird noch deutlicher an einem anderen Beispiel. Man könnte fragen, ob der Erfinder des ersten Autos nicht eine ›Idee‹ des Autos besessen hat, die die Grundlage bilden könnte für die Rede von der Gattung, wobei die Idee wieder der Herstellung des ersten Automobils voranginge. Wir sehen aber auch hier in dem, was dem Erfinder vorschwebt, immer nur konkrete Automobile oder Vorversuche zu konkreten Automobilen, die schließlich zu dem ersten brauchbaren Automobil führen.[«] So löst sich [»]die Gattung Automobil […] in den großen Zusammenhang [auf], in dem die Automobile in der Geschichte auftreten.11

Im Horizont des konkreten einzelnen Autos liegt die Serie und liegen vielleicht weiter alle Automobile einer bestimmten Fabrik, dann die Automobile aller Fabriken eines Landes, schließlich die Automobile der Fabriken aller Länder […] Niemals stoßen wir aber auf eine Gattung Automobil im traditionellen Sinne. […] Immer tauchen nur numerische, zahlenmäßig bestimmte oder bestimmbare Individuen in einem großen Zusammenhange auf.12

Was die Serie für Wozudinge ist, ist die Reihe oder das Geschlecht für Lebewesen. Der Einzellöwe reiht sich ein »in das Geschlecht der Löwen und findet in diesem Geschlecht seine bestimmte unvertauschbare Stelle.«13 Es 8   Vgl. Schapp 1953, 204. Das »Verstricktsein in Geschichten« ist für Schapp die »letzte Wirklichkeit« (5); in Philosophie der Geschichten, XVI, bezeichnet Schapp Geschichten auch als »Urphänomene, Urgebilde, urhafter als die Gebilde der Wissenschaft.« 9  Vgl. Schapp 1981, 34: Ohne Geschichten ist jedes Gebilde ein ineffabile. An die Stelle des Allgemeinbegriffs (der species), der traditionell das Individuelle nicht ›ausschöpfen‹ kann, tritt bei Schapp die Serie bzw. die Reihe. 10  Schapp 1953, 57. 11  Schapp 1953, 58. 12  Schapp 1953, 60. 13  Schapp 1953, 62.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform

61

ist dieser Löwe diesen Alters mit diesem Vater, dieser Mutter und diesen Geschwistern, und alle sind wiederum Teil einer Ahnenreihe weiterer Löwen usw. Das Geschlecht der Löwen bildet ebenso ein Individuum »wie der einzelne Löwe Herkules, allerdings ein Individuum von ungeheuren Ausmaßen.«14 Unter dem Gesichtspunkt des Geschlechts betrachtet man das Individuum hinsichtlich seiner »Zugehörigkeit zu einem Ganzen«, während die Gattung auf »Gleichheit und Ähnlichkeit« beruht.15 Die biologische Konstruktion eines spezifischen anatomischen Typus (›Löwen haben so und so viele Krallen, Fangzähne usw.‹) setzt aber in ihrer Angleichung der individuellen Löwenleiber aneinander bereits deren Verbundenheit miteinander über Eltern und Voreltern usw. voraus. Daher ist die Gattung Löwe im Geschlecht der in »Löwengeschichten« verstrickten Löwen fundiert,16 in die überdies Menschen auf die eine oder andere Weise, offensichtlich oder verborgen, mitverstrickt sind (was bereits Schapps Beispiel des »Löwen Herkules« andeutet). Ein plötzlich sich materialisierendes Wesen, das alle physischen Merkmale eines Löwen hätte und sogar Löwen-DNS besäße, wäre so wenig ein Löwe, wie die Fälschung ein Taler ist. 1.2 Erkenntnis als Abblendung Die Naturwissenschaften gewinnen ihre Erkenntnisgegenstände, indem sie von den Geschichten absehen, in die Gebilde ursprünglich eingebettet sind. Der Gegenstand von Physik und Chemie ist der Stoff, das Auswas der Wozudinge, die in Geschichten vorkommen; der Gegenstand der Biologie ist der Leib der Lebewesen, die in Geschichten verstrickt sind. Um das Herauslösen der Gegenstände aus den Geschichten zu charakterisieren, greift Schapp auf die Metapher der Abblendung zurück. Nehmen wir als Beispiel ein Gebilde aus Gold. Der Chemiker blendet konsequent sowohl die Wozudinglichkeit als auch die Geschichte ab, in der das Objekt vorkommt, und blendet lediglich seine stoffliche Beschaffenheit auf. Es geht ihm nicht darum, dass es sich um ein Schmuckstück handelt, das Person X von Erblasser Y vermacht wurde, oder dass es die Grabbeigabe für einen ägyptischen Pharao gewesen ist oder ähnliches. Auch der Physiker teilt nicht das Interesse des Goldschmieds, der möglichst reines Gold kunstmäßig verarbeiten möchte und den Feingehalt des Edelmetalls durch Königswasser überprüft usw. All diese Zusammenhänge, die erst die Frage nach dem »Auswas« aufkommen lassen, bleiben »in

14  Schapp 1953, 62. 15  Schapp 1981, 39. 16  Schapp 1981, 39.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

62

Ralf Becker

Dämmerung oder Dunkelheit« abgeblendet.17 Die Abblendung macht aus dem Edelmetall ein chemisches Element und aus dem Königswasser ein Gemisch aus Salzsäure und Salpetersäure. Ganz entsprechend verfährt der Biologe mit Lebewesen: »Der sogenannte Gegenstand der Biologie, Leib und Leben im Sinne der Biologie, ist eine Abblendung.«18 Für Schapp hat der Leib ebensowenig eine eigenständige Existenz wie der Stoff der Wozudinge. Ein Leib tritt ursprünglich nur in Geschichten auf, z.B. indem uns ein Gesicht etwas erzählt: eine Lebensgeschichte, einen Kummer oder eine durchzechte Nacht. Auch tote Körper erzählen noch Geschichten, z.B. über ein Verbrechen. Der Leib des Menschen (wie auch der tierische Leib) ist »ein Ausdrucksfeld für Geschichten«.19 An die Stelle des Menschen »von Fleisch und Blut […] drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.« »Die Geschichte steht für den Mann.«20 Der Biologe blendet nun das Ausdrucksfeld des Leibes und damit die Geschichten, die er ausdrückt, ab. Die Abblendung kann so weit gehen, dass nur einzelne Zellen oder Zellbestandteile auf dem Objektträger des Mikroskops liegen. Und dennoch bleiben auch die Chromosomen Teil einer Reihe, zu der der ganze Mensch mit seiner Haarfarbe und seinen Geschichten gehört.21 Gegen das Verfahren der Abblendung, aus der der Erkenntnisgegenstand hervorgeht, ist als solches nichts einzuwenden. Problematisch wird die methodische Isolation dann, wenn »von dem Abgeblendeten aus ins Blaue hinein eine Art Welt konstruiert« wird und der Wissenschaftler »aus der Abblendung nicht den Weg zu dem zurückfindet, wovon sie die Abblendung ist«. Dies ist ein Zeichen von »Dekadenz«.22 Der nächste Abschnitt versucht sich an einer gezielten Aufblendung der Geschichten, aus denen die Biologie die Spezies ›Mensch‹ herausgelöst hat. 2.

Metaphysik der Biologie

Weil Physik und Biologie ihre Gegenstände durch Abblendung erhalten, sind die Geschichten, in denen Wozudinge vorkommen und in die Lebewesen

17  Schapp 1953, 195. 18  Schapp 1953, 194; vgl. Schapp 1953, 179. 19  Schapp 1953, 193. 20  Schapp 1953, 105, 100. 21  Vgl. Schapp 1981, 88f. 22  Schapp 1981, 195.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform

63

verstrickt sind, »für die Naturwissenschaft Vorbild und Grundlage«.23 So wie Schapp das Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem in das Verhältnis von Teil und Ganzem übersetzt, so übersetzt er die Beziehung zwischen Aufgeblendetem und Abgeblendetem in die Relation von Figur und Grund. Der Hintergrund läßt die Figur erst hervortreten und tritt dabei selbst zurück. Die Sichtbarmachung der Hintergrundgeschichten ist ein eigenes Unternehmen. Ihm hat Schapp sein letztes Werk Metaphysik der Naturwissenschaft (1965) gewidmet und sich dabei vor allem auf die Physik konzentriert. Die Biologie hat ihre eigenen Geschichten, wie Linnés Klassifikation des Menschen als Homo sapiens und Darwins Evolutionstheorie zeigen. 2.1 Linné: Systema naturae (1758) Die noch heute gültige taxonomische Einordnung des Menschen als biologische Spezies geht auf Carl von Linné (1707-1778) zurück, der in der zehnten Auflage seines Systema naturae (1758) den Homo sapiens als Art der Gattung Homo einführt. Diese Gattung zählt Linné wiederum zur Ordnung der Primaten, die Menschen, Affen, Halbaffen sowie Fledermäuse innerhalb der Klasse der Säugetiere im Reich der Tiere zusammenfasst. Unter der Art Homo sapiens führt Linné sechs subspezifische Varianten ein, darunter nach den seinerzeit bekannten vier Erdteilen mit der jeweiligen Kennzeichnung von Charakterfärbung gemäß der antiken Humoralpathologie, Temperament und Körperhaltung: Homo sapiens americanus (»rot, cholerisch, schlank«), Homo sapiens europaeus (»weiß, sanguinisch, muskulös«), Homo sapiens asiaticus (»blassgelb, melancholisch, starr«) und Homo sapiens afer (»schwarz, phlegmatisch, schlaff«). Diese Einteilung von Rassen wird erweitert durch je eine eigene Kategorie für verwilderte Menschen (sog. ›Wolfskinder‹): Homo sapiens ferus (»vierfüßig, stumm, struppig«) sowie für Individuen mit Fehlbildungen: Homo sapiens monstrosus. Die Gattung Homo enthält bei Linné neben dem Homo sapiens, den er als »Tagmenschen« (Homo diurnus) charakterisiert, auch noch den »Nachtmenschen« (Homo nocturnus) Homo troglodytes, offensichtlich eine Sammelbezeichnung für Fälle von Menschenaffen, die Linné nur aus der Reiseliteratur seiner Zeit kennt und die er nicht eindeutig den Affen (Simia) oder den Menschen zuordnen kann. Am sichersten scheint ihm noch der Orang-Utan (Homo sylvestris) hierhin zu gehören.24 Linnés Kategorienbildung verweist auf gleich mehrere Geschichten. Da sind natürlich die Geschichten von Entdeckern: Der Kontinent Australien ist 23  Schapp 1981, 146. Vgl. Schapp 2009, 118: Das »sogenannte Biologische« gewinnt »überhaupt erst Sinn […] über Geschichten.« 24  Linné 1758, 20-24.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

64

Ralf Becker

noch nicht erkundet, was Linné insofern entgegenkommt, als er nicht um ein fünftes Temperament verlegen sein muss, denn so geht die Zuordnung der vier Erdteile zu den vier Temperamenten auf; er verwebt die Geschichte der geographischen Entdeckungen mit der Medizingeschichte der Humoralpathologie. Linné selbst, das gehört zu seiner eigenen Geschichte, hat Europa nie verlassen, weshalb er auf Reisebeschreibungen angewiesen war. Diese Fremdgeschichten sind die Grundlage sowohl für die Unterscheidung der Menschenrassen als auch für die Zuordnung der heute so genannten Menschenaffen (wie dem OrangUtan zur Gattung Homo). Sie sind die Wirgeschichten anderer europäischer Männer, die sich selbst als weiß, sanguinisch und muskulös sehen. In die Beschreibung der beiden Subspezies Homo sapiens ferus und Homo sapiens monstrosus sind Geschichten von Wilden Kindern, die außerhalb menschlicher Gesellschaft aufgewachsen sein sollen (wie die Hessischen »Wolfskinder«),25 bzw. die Geschichten von (»monströsen«) Mißbildungen eingegangen, die teils über die Literatur, teils durch Kuriositätenkabinette überliefert wurden. Die Unterscheidung zwischen Tag- und Nachtmensch spiegelt eine Tradition von Geschichten über Licht und Dunkel, in der auch Platons Höhlengleichnis (von den Troglodyten) steht. Die natursystematische Darstellung macht aus diesen Geschichten Belegmaterial für die Unterteilung des Menschen nach physiognomischen Gesichtspunkten, allen voran der Hautfarbe. Die Spezies Homo sapiens steht an erster Stelle der gesamten Natursystematik. Anders als bei allen anderen Arten gibt Linné zur Beschreibung des Typus keine morphologischen Kennzeichen (wie z.B. die Anordnung der Zähne) an, sondern richtet sich direkt an seine Leser mit dem Satz: »erkenne Dich selbst« (»nosce Te ipsum«). Die Reduktion auf den Leib ist also noch nicht vollendet. Der Mensch steht vielmehr noch in der Geschichte des Orakels von Delphi mit ihrem schwachen Echo des griechischen Apollokults. In einer Schrift über die Ähnlichkeit von Mensch und Affe hebt Linné die Bedeutung der Kultur für die Verschiedenheit der Menschen innerhalb derselben Spezies hervor, um die geringfügige Differenz zwischen den Primatenspezies (erst in der zehnten Auflage des Systema naturae ersetzte Linné die Ordnung der Anthropomorpha durch die der Primates) auf der körperlichen Ebene plausibel zu machen: Zwar mögten viele glauben, der Unterschied des Menschen und Affen sey wie Tag und Nacht. Allein lasst sie eine Vergleichung zwischen dem größten Europäischen Helden, und dem Hottentotten auf dem Vorgebürge der guten Hofnung anstellen: so werden sie eben so schwer zu überreden seyn, dass beyde von einerley Ursprung sind; oder wenn sie eine geputzte artige Hofdame mit 25  Vgl. dazu Bruland 2008.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform

65

einem im Wald sich selbst überlassenen Menschen vergleichen: so würden sie kaum absehen können, dass jene und dieser zu einerley Gattung gehören. Der rohe Mensch, der keine Erziehung erhalten hat, macht mit dem gebildeten Menschen in seinen Sitten einen größeren Abstand, als der Holzapfel mit seinen Stacheln und herben Früchten, von dem Obstbaum, der umgraben im Garten anmuthsvoll grünet.26

Linné vergleicht drei Unterschiede: Mensch und Affe, europäischer Kulturmensch und »wilde« Menschen (»Hottentotte« bzw. ›Waldmensch‹) sowie Kulturapfel und Holzapfel. Nur die erste Unterscheidung bezieht sich auf eine vermeintlich natürliche Differenz, die beiden anderen setzen menschliche Kulturleistungen (Erziehung bzw. Zucht) voraus. Der kulturelle Unterschied, der zwischen Menschenformen noch größer ist als zwischen kultivierten und wilden Pflanzen, dient als Folie, um den natürlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier als eine Sache von physischen Details erscheinen zu lassen. Linné konzediert, welcher große Unterschied zwischen dem Menschen und dem Vieh herrschet, wenn man beyde von der moralischen Seite betrachtet. Nur der Mensch ist das Geschöpf, welches Gott der Schöpfer gewürdiget hat mit einer unsterblichen Seele zu zieren […] Allein alles dieses gehört nicht hieher. Ich will bey meinem Zweck bleiben, und mich nicht wie jener Schuster vom Leisten entfernen. Ich will als Naturforscher den Menschen nach allen Theilen seines Körpers betrachten; und wann ich dies thue: so finde ich schwerlich ein einziges Merkmal, wodurch der Mensch von Affen unterschieden werden kann.27

Linné ist die Abblendung, die er mit der Beschränkung der Naturforschung auf den Körperaspekt vornimmt, also durchaus noch bewusst. Weniger bewusst ist ihm offensichtlich, welchen Stellenwert kulturelle Lebensformen (Wirgeschichten und Fremdgeschichten) für seine Begründung natürlicher Ähnlichkeit besitzen. Seine Nachfolger verselbständigen zunehmend den aufgeblendeten Ausschnitt zu einem Begriff vom Menschen als tierischem Leib. 2.2 Darwin: The Descent of Man (1871) In dieser Tradition steht auch Charles Darwin (1809-1882). Sein Werk The Descent of Man von 1871 verfolgt erklärtermaßen drei Ziele: »erstens, zu betrachten, ob der Mensch, wie jede andere Species, von irgend einer früher existirenden Form abstammt, zweitens, die Art seiner Entwickelung, und drittens, den Werth der Verschiedenheiten zwischen den sogenannten 26  Linné 1776, 58. 27  Linné 1776, 59.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

66

Ralf Becker

Menschenrassen zu untersuchen.«28 Auf die erste Frage antwortet Darwin, dass der Mensch von einer weniger hoch organisierten Lebensform abstammt. Aufgrund körperlicher Merkmale, in die er auch Ähnlichkeiten der Embryonalentwicklung einbezieht, kommt er zu dem Schluss, der Mensch sei »mit anderen Säugetieren der gleichzeitige Nachkomme eines gemeinsamen Urerzeugers«.29 Unsere nächsten Verwandten unter den Säugetieren sind Affen. Im letzten Abschnitt greift Darwin, um seinen Lesern diese Hypothese plausibel zu machen, nicht noch einmal auf morphologische und embryonale Ähnlichkeiten zurück, sondern verweist auf seine eigene Reise mit der HMS Beagle und die Geschichten, die er mit den Einwohnern Feuerlands erlebt hat. Diese Geschichten sollen dabei helfen, eine Reihe zu konstruieren, die von den Affen über die »Barbaren« zum englischen Gentleman des ausgehenden 19. Jahrhunderts führt: Es lässt sich aber kaum daran zweifeln, dass wir von Barbaren abstammen. Das Erstaunen, welches ich empfand, als ich zuerst eine Truppe Feuerländer an einer wilden, zerklüfteten Küste sah, werde ich niemals vergessen; denn der Gedanke schoss mir sofort durch den Sinn: so waren unsere Vorfahren. Diese Menschen waren absolut nackt und mit Farbe bedeckt, ihr langes Haar war verschlungen, ihr Mund vor Aufregung begeifert und ihr Ausdruck wild, verwundert und misstrauisch. Sie besassen kaum irgend welche Kunstfertigkeit und lebten wie wilde Thiere von dem, was sie fangen konnten. Sie hatten keine Regierung und waren gegen jeden, der nicht von ihrem kleinen Stamme war, ohne Erbarmen. Wer einen Wilden in seinem Heimathslande gesehen hat, wird sich nicht sehr schämen, wenn er zu der Anerkennung gezwungen wird, dass das Blut noch niedrigerer Wesen in seinen Adern fliesst. Was mich betrifft, so möchte ich ebenso gern von jenem heroischen kleinen Affen abstammen, welcher seinem gefürchteten Feinde trotzte, um das Leben seines Wärters zu retten, oder von jenem alten Pavian, welcher, von den Hügeln herabsteigend, im Triumph seinen jungen Kameraden aus einer Menge erstaunter Hunde herausführte, – als von einem Wilden, welcher ein Entzücken an den Martern seiner Feinde fühlt, blutige Opfer darbringt, Kindesmord ohne Gewissensbisse begeht, seine Frauen wie Sclaven behandelt, keine Züchtigkeit kennt und von dem gröbsten Aberglauben beherrscht wird.30

Auf der einen Seite finden wir also jene Erfahrung, die Darwin selbst mit einer ihm fremden Kultur gemacht hat, auf der anderen Seite stehen die in hohem Maße anthropomorph gedeuteten Verhaltensweisen von Affen in Gefangenschaft oder im Kontakt mit Menschen und ihren Haustieren (Hunden). Mir geht es an dieser Stelle nicht um den Doppelschritt einer vorgängigen 28  Darwin 1871, Bd. I, 2. 29  Darwin 1871, Bd. II, 340 (meine Hervorhebung). 30  Darwin 1871, Bd. II, 356.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform

67

Vermenschlichung der Tiere und der anschließenden Vertierlichung des Menschen, auf die Peter Janich hingewiesen hat,31 sondern um die Tier- und Menschengeschichten, die Darwin heranzieht, um die natürliche Abstammung des Menschen überzeugend zu machen. Die menschliche Lebensform, also der Kontext aus Geschichten, in dem menschliches Lebens steht, bildet die Grundlage für die Konstruktion einer natürlichen Stammform. Wie weit Darwin selbst diese Abhängigkeit seiner Argumentation als Naturforscher von Geschichten, in die er mitverstrickt war, bewusst gewesen ist, darf bezweifelt werden, wenn man liest, der Mensch könne »in vielen Beziehungen mit denjenigen Thieren verglichen werden, welche schon seit langer Zeit domesticirt worden sind«.32 Fest steht, dass der Abblendungscharakter seiner Abstammungserzählung später in Vergessenheit geraten ist. Die zweite Frage, nach der Art der Entwicklung des Menschen, führt auf den Begriff der natürlichen Zuchtwahl (natural selection). Dieses Prinzip hat Darwin in The Origin of Species (1859) eingeführt. Eine aufschlussreiche Erläuterung gibt er in The Variation of Animals and Plants under Domestication (1868). Im Kampf um das Dasein überleben diejenigen Nachkommen, die gegenüber den anderen einen Vorteil bei der Lebensbewältigung haben. An der Formel »survival of the fittest« spricht Darwin Herbert Spencer das Urheberrecht zu. Er selbst bevorzugt den Ausdruck ›natürliche Zuchtwahl‹, auch wenn dieser eine bewusste Wahl nahelegt, wo ein nichtintentionaler, natürlicher Vorgang gemeint ist. Es handelt sich daher um einen Anthropomorphismus wie bei der Rede von ›Wahlverwandtschaften‹ in der Chemie oder von ›gegenseitiger Anziehungskraft‹ in der Physik. Aber Darwin verteidigt seine Präferenz mit dem Argument, dass der Terminus »die Erzeugung domesticirter Rassen durch das Vermögen des Menschen zur Zuchtwahl mit der natürlichen Erhaltung von Varietäten und Arten im Naturzustande in Zusammenhang bringt.« Die Personifikation der Natur, die der Ausdruck der Zuchtwahl mit sich bringt, weil er ursprünglich ein menschliches Vermögen bezeichnet, hält Darwin für eine Zweideutigkeit (ambiguity), die eben nur schwer zu vermeiden

31  Vgl. Janich 2010, 51. Janich vertritt die These, dass eine »Naturgeschichte des Menschen« nur sinnvoll ist, wenn man sich auf seine tierischen Eigenschaften beschränkt. Eine Naturgeschichte der Kultur kann es dagegen nicht geben (66). »Der Kulturanfang ist kein Naturereignis.« (181) 32  Darwin 1871, Bd. I, 195. Dieser Satz zeigt besonders prägnant die Begriffsbildung durch Ausblendung der Geschichten: Aus dem Miteinanderverstricktsein von Tier und Mensch durch das menschliche Kultivierungshandeln wird nach Nivellierung des Unterschieds von Handeln und Naturprozeß eine Gattungsähnlichkeit.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

68

Ralf Becker

sei.33 Einige Seiten weiter schildert er, wie er zu dem Konzept der natürlichen Zuchtwahl gefunden hat: Es blieb mir aber lange ein unerklärliches Problem, wie der nothwendige Modificationsgrad [der Arten] erreicht worden sein konnte, und es wäre lange so geblieben, hätte ich nicht die Erzeugnisse der Domestication studirt und mir auf diese Weise eine richtige Vorstellung der Wirkung der Zuchtwahl verschafft. Sobald ich diese Idee völlig in mir aufgenommen hatte, sah ich beim Lesen von Malthus’ Werk über die Bevölkerung, dass natürliche Zuchtwahl das unvermeidliche Resultat der rapiden Zunahme aller organischen Wesen war; denn den Kampf um das Dasein zu würdigen, war ich durch langes Studium der Lebensweise der Thiere vorbereitet.34

Grundlage und Vorbild für das Entwicklungsprinzip, dem auch der Mensch seine Abstammung verdanken soll, ist also zum einen die Geschichte der Domestikation und Kultivierung von Tieren und Pflanzen sowie zum andern Thomas Malthus’ Theorie über die mathematische Disproportion zwischen menschlichem Bevölkerungswachstum und Nahrungsmittelproduktion. Darwin erwartet, dass man von der Implikation einer bewussten Wahl, die dem Ausdruck ›natürliche Zuchtwahl‹ anhaftet, »nach kurzer Gewöhnung absehen« wird.35 In der Tat hat die Gewohnheit ihren Dienst getan und die Abblendung jener Geschichten zugunsten der Naturalisierung menschlicher Kulturleistungen (Domestikation und Wirtschaft) konsequent vollzogen. Damit sind wir bei der dritten Frage angelangt, die Darwin mit seinem Werk über die Abstammung des Menschen klären möchte: der Wert der Unterscheidung verschiedener Menschenrassen. Die Menschen in den verschiedenen Weltregionen unterscheiden sich nach Darwin wenig genug, um sie alle auf einen gemeinsamen menschlichen Urerzeuger zurückführen, und zugleich stark genug, um sie als eigene Subspezies differenzieren zu können. Das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl vermag jedoch die Vielfalt der Formen nicht, oder zumindest nicht allein zu erklären, weil nicht alle Merkmale (wie z.B. die Gesichtsform) einen Vorteil für die unmittelbare Lebensbewältigung verschaffen. Daher führt Darwin die sich erhaltende Verschiedenheit auf »geschlechtliche Zuchtwahl« (sexual selection) zurück. Darunter versteht er die Konkurrenz von in der Regel männlichen Individuen um die Reproduktionspartner. Die Weibchen wählen »die angenehmeren Genossen« aus, und diese Art der Partnerwahl ist für Darwin erneut derjenigen analog, die »der Mensch zwar unbewusst, aber doch wirksam, bei seinen domesticirten Erzeugnissen 33  Darwin 1868, Bd. I, 7f. 34  Darwin 1868, Bd. I, 12. 35  Darwin 1868, Bd. I, 7.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform

69

anwendet, wenn er eine lange Zeit hindurch beständig die ihm am meisten gefallenden oder nützlichsten Individuen auswählt«.36 Die geschlechtliche Zuchtwahl trifft beim Menschen auf die Neigung, die charakteristischen Eigenschaften des eigenen Volksstammes zu »bewundern«,37 was zur Folge hat, dass bestimmte physiognomische Merkmale wie die Kopfform, die Hautfarbe oder die Körperbehaarung über Generationen hinweg durch wechselseitige Präferenz beider Geschlechter vermehrt und mit immer stärkerer Ausprägung weitervererbt werden. Derselbe Prozeß hat nach Darwins Überzeugung übrigens auch die Ausbildung der spezifischen Differenz der menschlichen Geschlechter verstärkt: das körperlich und geistig starke männliche sowie das ihm unterlegene schöne und zarte weibliche Geschlecht.38 Das Modell für die geschlechtliche Zuchtwahl bleibt das der Domestikation. Die Kategorienbildung verschiedener Rassen (Subspezies) und auch der beiden Geschlechter nimmt Darwin im Horizont von Tier- und Pflanzengeschichten vor, genauer gesagt: von Zucht- und Pflanzgeschichten unserer Haus- und Nutztiere bzw. Nutz- und Zierpflanzen. Die gemeinsame Verstrickung in die Geschichte von Ackerbau und Viehzucht löst er auf und naturalisiert menschliches Handeln, um so weitere Geschichten zu naturalisieren: die Erscheinung des Fremden als Wilden sowie die Geschlechterrollen im viktorianischen Zeitalter. Unvermittelt findet Darwin am Ende seines Werkes über die Abstammung des Menschen zu eugenischen Empfehlungen, die er angesichts einer gewissen Sorglosigkeit seiner Artgenossen bei der Partnersuche glaubt geben zu müssen: Der Mensch prüft mit scrupulöser Sorgfalt den Character und den Stammbaum seiner Pferde, Rinder und Hunde, ehe er sie paart. Wenn er aber zu seiner eigenen Heirath kommt, nimmt er sich selten oder niemals solche Mühe. […] Beide Geschlechter sollten sich der Heirath enthalten, wenn sie in irgend welchem ausgesprochenen Grade an Körper oder Geist untergeordnet wären; doch derartige Hoffnungen sind aber utopisch und werden niemals auch nur zum Theil realisirt werden, bis die Gesetze der Vererbung durch und durch erkannt sind. Alles was uns diesem Ziele näher bringt, ist von Nutzen.39

36  Darwin 1871, Bd. II, 350f. 37  Darwin 1871, Bd. II, 338. 38  Vgl. Darwin 1871, Bd. II, 286ff. 39  Darwin 1871, Bd. II, 355. Darwin fährt ebd. fort: »[…] Es muss für alle Menschen offene Concurrenz bestehen, und es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder Gebräuche daran verhindert werden, den grössten Erfolg zu haben und die grösste Zahl von Nachkommen aufzuziehen.«

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

70

Ralf Becker

An dieser Passage wird noch einmal deutlich, welche Folgen die Abblendung haben kann: Menschliches Handeln mit seinen Vorschriften wird zuerst naturalisiert, um aus der naturalisierten und damit gerade nichtintentionalen, unbewussten Gesetzmäßigkeit Normen für eine wiederum bewusst gesteuerte Bevölkerungspolitik abzuleiten. Der Verlust des ursprünglichen Sinnzusam­ menhangs ermöglicht daher nicht nur die Bildung von Kategorien, er hat auch ganz praktische Konsequenzen. 3.

Philosophische Anthropologie als Beschreibung der menschlichen Lebensform

Wie der Blick in Linnés und Darwins Schriften zeigt, verdankt sich die Definition des Menschen als biologische Art einer Abblendung des Mitverstricktseins in genau die Geschichten, die zur Kategorien- und Modellbildung herangezogen werden. Adressiert Linné die Spezies noch an das Leser-Du und erkennt den »moralischen« Unterschied zwischen Mensch und Tier an, so plausibilisiert er ihre natürliche Ähnlichkeit mittels Kultivierungsleistungen. Und ist sich Darwin der Abhängigkeit seines Selektionsmodells vom menschlichen Kultivierungshandeln noch bewusst, so begründet er trotzdem anhand dieses Handlungsprinzips die natürliche Verwandtschaft von Mensch und Affe. Der Autor gewinnt die von ihm behauptete Ähnlichkeit bzw. Verwandtschaft jeweils aufgrund von Geschichten, löst dann den Menschen (sich selbst eingeschlossen) aus seiner (eigenen) Verstrickung heraus, um ihn schließlich als Art einer Gattung zu klassifizieren. Mit anderen Worten: Linné und Darwin naturalisieren Kultur, um Kultur als Naturprodukt herzuleiten. Die Bildung der Art (als biologischen Begriff) erfolgt daher durch Naturalisierung der menschlichen Lebensform, wenn wir darunter den weiteren Kontext der Beschreibung menschlichen Lebens verstehen. Dieser weitere Kontext besteht aus Geschichten, in die Menschen verstrickt sind. Der Versuch, den Menschen nach physischer Ähnlichkeit oder Verwandtschaft zu definieren, basiert auf der Gleichsetzung von Geschichtlichem mit Natürlichem, von menschlichem Handeln mit Naturprozessen und von praktischen Vorschriften (z.B. zur Domestikation) mit Naturgesetzen. Da bei diesem Vorgehen von der menschlichen Lebensform gerade abgesehen wird, fällt der philosophischen Anthropologie die besondere Aufgabe zu, diese Lebensform zu beschreiben. Wo sich der Biologe nur für den Leib interessiert, ist der Anthropologe mit den Geschichten beschäftigt, die das Vorbild und die Grundlage für die Arbeit des Biologen liefern. Dessen Naturalisierung begegnet der Anthropologe mit einer Rehistorisierung der menschlichen Lebensform.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform

71

3.1 Der Mensch als Gebilde und Gegenstand Diese Rehistorisierung macht hinter dem Gegenstand ›Mensch‹ wieder das Gebilde sichtbar. Schapp wählt den Ausdruck ›Gebilde‹, um dessen »Verhaftetsein an Geschichten« im Gegensatz zu dem aus Geschichten herausgelösten Erkenntnisgegenstand hervorzuheben.40 Das Verstricktsein bzw. Vorkommen in Geschichten verhält sich zum Gebilde wie das Erkennen (oder allgemeiner: das Vorstellen) zum Gegenstand. Während die Erkenntnisrelation zumeist als ein Subjekt-Objekt-Verhältnis gedacht wird, ist derjenige, der Gebilde beschreibt, grundsätzlich in dessen Geschichte irgendwie mitverstrickt. »Die Geschichten stehen nur dem Mitverstrickten offen.«41 Das Mitverstricktsein läßt einen neutralen, detachierten Beobachterstandpunkt nicht zu. Denn der Mensch ist immer schon in der Welt, in der er lebt, auf die eine oder andere Weise engagiert. Seine Selbstvergegenständlichung als Art einer Gattung indiziert daher eine Praxisvergessenheit, die den fertigenden, instrumentellen, interagierenden, interessierten usw. Umgang mit ›Gebilden‹ zugunsten einer rein theoretischen, gleichsam von außen unbeteiligt bloß schauenden Haltung ausblendet. Es ist aber am Ende gerade die Praxis, die der Theorie ihre Gegenstände liefert. So wie die reine Geometrie aus der empirischen Feldmeßkunst hervorgegangen ist, so hängt die Evolutionstheorie zumindest teilweise von der Tierzucht ab. Denn man muss nichts von Evolution verstehen, um Pflanzen und Tiere züchten zu können, wohl aber musste Darwin etwas über Domestikation wissen, um in der Lage zu sein, die Artbildung biologisch zu konstruieren. Die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Theorie von einer kulturellen Praxis bringt es mit sich, dass es in einem bestimmten Sinne keine Naturgeschichte vom Menschen geben kann. Denn jede Theorie über seine natürliche Herkunft muss bereits auf die eine oder andere Praxis der menschlichen Lebensform zurückgreifen. Etwas pointierter könnte man diesen Zusammenhang so formulieren: Auch die Naturgeschichte ist eine Geschichte. Den Menschen als Naturgegenstand erfassen zu wollen, heißt, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Diese Einschränkung gilt wohlgemerkt nur für den ganzen Menschen. Selbstverständlich kann der Biologe methodisch den menschlichen Leib ebenso aus menschlichen Geschichten herauslösen wie der Chemiker den Stoff aus den Geschichten der Wozudinge. Es ist für diese Wissenschaften konstitutiv, ihre Gegenstände so zu behandeln, als ob es auf den weiteren, kulturellen Kontext nicht ankommen würde. Für die chemisch-physikalische Beschreibung des Goldes kommt es eben nicht auf Eigentumsverhältnisse 40  Schapp 1981, 81. 41  Schapp 1981, XVII.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

72

Ralf Becker

oder Schürftechniken an. Aber daraus folgt zugleich, dass Gold dann auch nicht darin aufgeht, ein chemisches Element mit der Ordnungszahl 79 zu sein. Für die biologische Beschreibung des Menschen kommt es nicht darauf an, dass er sich in der moralischen Praxis vom Tier unterscheidet. Aber dann ist diese Praxis folgerichtig von der biologischen Modellbildung ausgenommen und kann nicht durch Soziobiologie künstlich wieder eingeholt werden. Eine solche beliebige Weltkonstruktion aus Abblendungsfragmenten ist tatsächlich ein Zeichen für »Dekadenz«, weil das Bewusstsein für jenes Verfahren, Gegenstände nach einer methodischen Vorschrift zu konstituieren, verfällt. Die anthropologische Beschreibung der menschlichen Lebensform konzentriert sich statt dessen auf das, was Menschen tun, und zwar eingedenk der Tatsache, dass dazu auch das beschreibende Tun selbst gehört. 3.2 Eine andere Bedeutung von Naturgeschichte Damit sind wir abschließend bei der Funktion naturhistorischer Urteile für die philosophische Anthropologie angelangt. Wenn diese den Menschen nicht – als einen Gegenstand mit besonderen Eigenschaften – definieren, sondern die menschliche Lebensform beschreiben soll, dann müssen ihre Aussagen einen anderen Status besitzen als die evolutionsbiologischen Urteile über Abstammungsgemeinschaften. Naturhistorische Urteile haben nach Thompson die Form: »Das S ist (oder hat oder tut) F«.42 S steht für die Lebensform (Spezies), F für einen prädikativen Ausdruck, der ein typisches Exemplar dieser Lebensform beschreibt. Beispiele für naturhistorische Urteile sind: »Der Braunbär hält zwischen Oktober und Mai Winterschlaf. Sein Gebiß hat 42 Zähne. Die Braunbärin bringt zwischen ein und vier Jungen zur Welt.« »Das Seepferdchenmännchen brütet den Nachwuchs in seiner Brusttasche aus.« »Der Hasenspringer lebt in Savanne und Grasland.« Naturhistorische Urteile wie diese unterscheiden sich von anderen Urteilsformen durch besondere Eigenschaften: Sie sind grundsätzlich im Präsens formuliert. Das gilt auch für die Beschreibung des Hasenspringers oder Östlichen Hasenkängurus, einer seit Ende des 19. Jahrhunderts ausgestorbenen Art. Zudem genügt niemals ein einzelnes Urteil, um die Lebensform zu beschreiben, vielmehr bilden mehrere Urteile ein Ganzes (wie im Beispiel des Braunbären). Ein Klassiker für derartige Lebensformbeschreibungen im deutschsprachigen Raum ist die zoologische Enzyklopädie Brehms Tierleben (die Beschreibung des Hasenspringers findet man inzwischen auch in Brehms verlorenes Tierleben). Schließlich besitzen naturhistorische Urteile eine irreduzible Allgemeinheit: Sie machen keine Aussagen über alle Individuen derselben Lebensform. Es gibt sicher 42  Thompson 2011, 84.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform

73

auch unfruchtbare Seepferdchen und Braunbären, die weniger als 42 Zähne haben. Sie gelten sogar dann noch, wenn nicht einmal die meisten Individuen die beschriebene Eigenschaft aufweisen. Der Satz »Atlantische Lachse laichen im Süßwasser« liefert eine korrekte Beschreibung, selbst wenn die meisten Individuen gar nicht zum Laichen kommen – sondern auf ihrem Weg beispielsweise von Braunbären gefressen werden. Naturhistorische Urteile sind auch keine statistischen Verallgemeinerungen. Denn für sie gilt im Gegensatz zu statistischen Aussagen der Schluss: »S ist F« und »S ist G«, also folgt »S ist F und G«.43 Sucht man nach naturhistorischen Urteilen in der Anthropologie, böten sich die folgenden Kandidaten an: (1) »Menschen verfolgen gemeinsame Ziele und gehen Verpflichtungen ein, sie stellen gemeinsame Aufmerksamkeit her und kooperieren in einem hohen Maße.«44 Dieser Satz beschreibt zwar typisch menschliche Verhaltensweisen, trifft aber keineswegs auf alle Individuen der menschlichen Lebensform zu. Es hätte auch wenig Sinn, von Anlagen oder Dispositionen zu sprechen. Denn es gibt auch Menschen, die ohne die physischen Voraussetzungen für Kooperation oder Sprache geboren werden – und dennoch Menschen sind! (So wie es Menschen mit der »Anlage« zu mehr oder weniger als 32 Zähnen gibt.) (2) »Menschen lassen sich von der Vorstellung (subjektiver Geist) von Gesetzen leiten und geben sich eine Rechtsordnung (objektiver Geist).« (3) »Menschen stiften kulturelle Institutionen, indem sie Gegenständen Statusfunktionen nach dem Schema zuweisen: x gilt als y in (Kontext) c.« Der in diesen beiden Beispielsätzen angesprochene Komplex sozialer bzw. kultureller Tatsachen läßt sich unter anderem mit Searles Begriff der Statusfunktion45 erläutern: Ein Papierschein zählt als Geld mit einem Wert im Zahlungsverkehr (der durch ein komplexes Geflecht mit Noten- und Geschäftsbanken usw. reguliert ist). Eine Steingruppe gilt als Denkmal in einer bestimmten Kultur. Angela Merkel gilt als Bundeskanzlerin in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Die Erfüllung der Statusfunktionen hängt von ihrer Anerkennung unter spezifischen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen ab. (4) »Menschen bezeichnen mittels Sprache Abwesendes, vollziehen Negationen (S ist nicht P), erzählen Geschichten (!), verstehen Implikationen (z.B. die Implikation von Ehe im Begriff des Junggesellen), können Sachverhalte 43  Vgl. Thompson 2011, 85-91. 44  Vgl. Tomasello 2010. 45  Vgl. Searle 2011, 49ff.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

74

Ralf Becker

ausdrücken wie: ›Da habe ich mich geirrt‹, ›Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl‹, ›Ein Zentimeter auf dieser Karte entspricht zehn Kilometern in der Wirklichkeit‹ – und schweigen.«46 Auch diese Urteile dürften in einer Lebensformbeschreibung des Menschen nicht fehlen. Zugleich charakterisieren sie die menschliche Sprache und unterscheiden sie von tierischen Kommunikationsformen durch praktische Vollzüge. Aus einer solchen Beschreibung hervorgehende anthropologische Formeln wie animal rationabile (Kant), homo pictor (Jonas) oder homo absconditus (Plessner) haben nicht den Status einer Artbestimmung wie Linnés Homo sapiens. Das zeigt sich rein äußerlich schon darin, dass der erste Ausdruck meistens klein geschrieben wird; animal oder homo bezeichnet dann nicht die Gattung von Arten. Kants animal rationabile ist keine eigene Art neben dem animal rationale, sondern die geschichtsphilosophische Anzeige einer Emanzipationsgeschichte der Menschheit. Hans Jonas’ homo pictor bestimmt nicht den rezenten Hominiden, sondern bildet die Überschrift für eine Geschichte von Raumfahrern, die Bildwerke als Spuren ›transanimalischer‹ Wesen interpretieren. Helmuth Plessners homo absconditus kann nicht ernsthaft einen Untersuchungsgegenstand bezeichnen, der durch Verborgenheit definiert ist. Ganz im Gegenteil, Plessner verweist mit seiner Erinnerung an die biblische Geschichte des Deus absconditus auf die Ungegenständlichkeit des Menschen, der kein Ding mit Eigenschaften ist. Für die Beschreibung der Lebensform können Strukturformeln gefunden werden, die aber nicht Definitionen nach dem Schema ›Gattung und Art‹ sind. Sie benennen vielmehr das Leitmotiv der jeweiligen ›Biographie‹, den Gesichtspunkt, unter dem menschliche Geschichten zusammengefaßt werden. Was der Mensch ist, sagen ihm seine Geschichten. Literaturverzeichnis Bruland, Hansjörg 2008, Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit. Geschichten von der Natur des Menschen, Stuttgart. Darwin, Charles 1868, Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication, übers. von J. Victor Carus, 2 Bde., Stuttgart. [i.O.: The Variation of Animals and Plants under Domestication, 2 Bde., London 1868.]

46  Vgl. für diese und weitere Beispiele Westerkamp 2016.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Der Mensch als Lebensform

75

— 1871, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, übers. von J. Victor Carus, 2 Bde., Stuttgart. [i.O.: The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, 2 Bde., London 1871.] Janich, Peter 2010, Der Mensch und andere Tiere. Das zweideutige Erbe Darwins, Berlin. von Linné, Carl 101758, Systema naturae per regna tria naturae, secundum classes, ordines, genera, species, cum characteribus, differentiis, synonymis, locis, Bd. 1, Stockholm. — 1776, »Vom Thiermenschen«, in: Des Ritters Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft, Leipzig, 57-70. [i.O.: »Anthropomorpha, quae, praeside D.D. Car. Linnaeo, proposuit Christianus Emmanuel Hoppius, Petropolitanus. Upsaliae 1760, Septemb. 6«, in: Amoenitates academicae, seu dissertationes variae, physicae, medicae, botanicae, Bd. 6, Leiden 1764, 63-76.] [in Schwedisch Menniskans cousiner, Uppsala u.a. 1955.] Schapp, Wilhelm 1953, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg. — 1981, Philosophie der Geschichten (1959), Frankfurt a.M. — 32009, Metaphysik der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M. Searle, John R. 2011, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, übers. von Martin Suhr, Berlin. [i.O.: The Construction of Social Reality, New York u.a. 1995.] Thompson, Michael 2011, Leben und Handeln. Grundstrukturen der Praxis und des praktischen Denkens, übers. von Matthias Haase, Frankfurt a.M. [i.O.: Life and Action. Elementary Structures of Practice and Practical Thought, Cambridge, Mass. 2008.] Toepfer, Georg 2011, Art. »Lebensform«, in: Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, 3 Bde., Bd. 2, Stuttgart, 484-496. Tomasello, Michael 2010, Warum wir kooperieren, übers. von Henriette Zeidler, Berlin. [i.O.: Why We Cooperate, Cambridge, Mass., London 2009.] Westerkamp, Dirk 2016, »Animalia symbolica? Sprachphilosophische, ethologische und kulturtheoretische Argumente«, in: Philosophie der Tierforschung, Bd. 2: Maximen und Konsequenzen, hg. v. Kristian Köchy, Matthias Wunsch u. Martin Böhnert, Freiburg/München, 119-162. Wittgenstein, Ludwig 61994, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Bd. 1, Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a.M. — 101995: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Teil II Ontologie

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten Dieter Sturma 1. Einleitung Die Lebensform konstituiert das tatsächliche und mögliche Verhalten von Individuen einer Spezies. Der Begriff der Lebensform bezieht sich zum einen auf eine spezifische Weise der Anwesenheit in der Natur sowie zum anderen auf Formen entwickelten Lebens im Allgemeinen. In seiner Anwendung ist er nicht auf die humane Lebensform beschränkt. Sein phänomenaler Ausgangspunkt ist nicht die biologische Konstitution im engeren Sinne, sondern das System von Eigenschaften und Fähigkeiten, welche bei den Individuen einer Art in ihren Lebensvollzügen tatsächlich zum Tragen kommen. Lebensformen sind in ihrem Entstehen und Vergehen fest in die Naturgeschichte eingebettet. Dieser Sachverhalt hat in der traditionellen Metaphysik seinen Ausdruck in der Figur der scala naturae gefunden, die mithilfe von Gattungsbestimmungen und spezifischen Differenzen den metaphysischen Ort von unbelebten und belebten Daseinsformen konstruiert. Auch wenn dieses starre Modell im Zuge der Herausbildung der neuzeitlichen Wissenschaftsdisziplinen verworfen worden ist, bestehen bis heute Schwierigkeiten, die prozessualen Übergänge in der Natur konzeptionell sicher und präzise zu erfassen. Das gilt insbesondere für die Emergenz der humanen Lebensform, die auch mit den methodischen Mitteln neuerer evolutionsbiologischer Ansätze nicht gut verstanden wird. Der Begriff der Lebensform zeigt eine spezifische epistemische Konstellation innerhalb der Natur an, die im Fall der humanen Lebensform seit der Antike mit dem Ausdruck altera natura1 angesprochen wird. In dieser Hinsicht ist der Begriff der Lebensform eine metatheoretische Bestimmung der Selbstverständigung von Akteuren, die als das epistemisch Spätere des historisch Früheren – d. i. die Entwicklung der Lebensformen – auftreten. Aufgrund dieser epistemologischen und ontologischen Konstellation enthält der Begriff 1  Siehe Cicero 1988, 332-334, 380-382. [V. 24-26, 73-74]. Wird die metaphorische Redeweise von der zweiten oder anderen Natur wörtlich genommen, ergibt sich ein Dualismussyndrom, das es aus naturalistischer Sicht unbedingt zu vermeiden gilt. Personen durchlaufen in ihrem Leben Phasen, die deutlich voneinander zu unterscheiden sind, aber sie haben nur eine Natur, an der keine Aufzählungen vorgenommen werden können, ohne dualistische oder sogar supranaturalistische Aufteilungen zu erzeugen.

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_006

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

80

Dieter Sturma

der Lebensform in verdichteter Form eine systematische Naturgeschichte spezifischer Eigenschaften und Fähigkeiten. Der sachliche Zusammenhang zwischen Naturgeschichte und Lebensform ist metatheoretisch überaus folgenreich. Die natur- und entwicklungsgeschichtliche Einbettung von Leben erzwingt geradezu die Einnahme eines naturalistischen Standpunkts. Darunter ist in einer ersten Annäherung ein Ansatz zu verstehen, der bei der Erfassung und Erklärung von dem, was es gibt, den Bereich der Natur im weitesten Sinne nicht verlässt.2 Diese Ausrichtung ist in der Regel mit einem Vorrang naturwissenschaftlicher Untersuchungsverfahren verbunden worden. Bei der Beschreibung und Untersuchung der humanen Lebensform erweist sich die vorrangige methodische Bindung an die Naturwissenschaften allerdings als zu eng. Der Begriff der humanen Lebensform erzeugt einen metatheoretischen Rahmen, der gleichermaßen eine Festlegung auf den naturalistischen Standpunkt sowie eine inhaltliche und methodische Erweiterung erzwingt. 2. Naturalismus Naturalisten beziehen einen dezidiert monistischen Standpunkt. Sie gehen davon aus, dass sich unter den Bedingungen moderner wissenschaftlicher Standards keine rechtfertigungsfähigen Gründe ergeben, Modelle und Theorien außerhalb des Bereichs der Natur zu verankern. Sie schließen supranaturalistische und dualistische Modelle aus, weil diese den Bereich der zu erklärenden Phänomene verlassen und damit schon vom Ansatz her über kein methodisch belastbares Beschreibungs- und Erklärungspotenzial für das verfügen, was tatsächlich der Fall ist. Unabhängig von der nötigen Zurückweisung überzogener Reduktionen beziehungsweise Eliminationen, die unter Naturalisten verbreitet sind, hat auch der emphatische Verteidiger der humanities einzuräumen, dass bei der Erfassung der humanen Lebensform die Natur, in die alle Lebensprozesse eingebettet sind, nicht gleichsam speku­ lativ übersprungen werden sollte. Das metatheoretische Primat des naturalistischen Standpunkts ist oft im Sinne einer Einheitswissenschaft ausgelegt worden.3 Es gibt aber keine 2  Der Option eines supranaturalistischen Schöpfungsgedankens wird im Weiteren nicht nachgegangen. 3  Unter »Einheitswissenschaft« wird in der Regel eine kleine Gruppe von Disziplinen verstanden, in der eine Disziplin den ontologischen Zugang zur Wirklichkeit reguliert. Zur physikalistischen Version der Einheitswissenschaft siehe Carnap 1932, Neurath 1932, 1935.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten

81

wissenschaftliche Disziplin, die alle Tatsachen der Welt in einem einheitlichen methodischen Zugriff erfassen könnte. Die jeweiligen Methoden entwickeln und bewähren sich im Kontext eingeschränkter Phänomenbereiche, die oft nur durch die dabei eingesetzten Messverfahren überhaupt erst kenntlich werden. Der wissenschaftliche Standpunkt unterliegt im Hinblick auf seine analytische Tiefe und Reichweite starken Einschränkungen. Vor allem ist er in seinen Theorie- und Modellbildungen auf jeweils enge Anwendungsfelder begrenzt und deshalb nicht in der Lage, eine Theorie von Allem zu liefern – was vereinfachende naturalistische Weltmodelle4 zumindest unter der Hand unterstellen. Bei der Bewertung der wissenschaftlichen Praxis der jeweiligen Disziplinen muss neben dem begrenzten Zuständigkeitsbereich auch beachtet werden, dass sich ihre Welt- und Erklärungsmodelle in einem Prozess ständiger Revision befinden. Eine einzelne Disziplin hat weder die inhaltlichen noch die formalen Mittel für eine umfassende Welterklärung.5 Dieser Sachverhalt wird von eliminativen naturalistischen Ansätzen übersehen, die eine Neigung dazu haben, einzelnen Disziplinen – wie in der Vergangenheit etwa der Physik oder Biologie – ontologische Priorität einzuräumen. Sie operieren dabei mit Weltbeschreibungen, die in Gänze von einem spezifischen naturwissenschaftlichen Paradigma abhängig gemacht werden. In dieser eliminativistischen Version einer Theorie von Allem konvergieren generalisierende Überhöhun­ gen und Unüberbietbarkeitsthesen, die Beiträge aus anderen Disziplinen von vornherein ausschließen. Schaut man auf die Entwicklung des Naturalismus der letzten zweieinhalbtausend Jahre zurück, dann ist es sein Anspruch gewesen, sich methodisch am state of the art wissenschaftlicher Praxis zu orientieren. Zu einem solchen Anspruch verhalten sich generalisierende Überhöhungen wie Unüberbietbarkeitsthesen dogmatisch, denn sie verschließen sich dem wissenschaftsgeschichtlich gut dokumentierten Sachverhalt, dass der methodische und inhaltliche Rahmen von ontologischen Feststellungen zu dem, was es gibt, starken Veränderungen unterworfen ist und über ihn entsprechend nicht im Vorgriff oder ein für alle Male entschieden werden kann.

4  Die Formel vereinfachender Weltmodelle lautet »x ist nichts anderes als y«, mit der die Vielfalt von dem, was der Fall ist, als Anwendungsfall eines paradigmatischen Ansatzes ausgewiesen werden soll – wie das etwa im Französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts sowie im frühen Logischen Empirismus und Eliminativen Materialismus des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist. Mit der Formel »x ist nichts anderes als y« verbinden sich etliche Fehlschlüsse; vgl. Sturma 2005, 26-35, 112-119. 5  Vgl. Rescher 1985, 57-73.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

82

Dieter Sturma

Ein sich aus der jeweiligen wissenschaftlichen Praxis heraus begründender Naturalismus weist den wissenschaftlichen Standpunkt als eine Einstellung aus, die sich auf rechtfertigungsfähige Weise auf das bezieht, was es gibt. Das Kernstück dieser Bezugnahme ist eine nicht-private Beobachtungssituation. Dabei kann es sich etwa um komplizierte messtechnische Nachweise von Neutrinos genauso handeln wie um Sprachverhalten im sozialen Raum, an dem sich normative Einstellungen und Regeln ablesen lassen. Die Methoden der Bezugnahme unterscheiden sich von Fall zu Fall. Deshalb hat der wissenschaftliche Standpunkt immer ein epistemologisch und wissenschaftstheoretisch gesichertes Verständnis der epistemischen Möglichkeiten und Grenzen einzuschließen. Entsprechend steht im Zentrum des erweiterten Naturalismus der epistemologisch geklärte wissenschaftliche Realismus,6 der im Einzelfall über den ontologischen Rahmen und Zugang zur Wirklichkeit entscheidet. Mit dem wissenschaftlichen Realismus verbindet sich die Vorgabe, vom methodischen Ansatz her Eliminationsszenarien genauso wie generalisie­ rende Ansätze zu vermeiden und Theorieräume zu erschließen, die ohne dogmatische Ausgrenzungen operieren. Konzeptionen, die sich metatheoretisch am wissenschaftlichen Realismus orientieren, sollten den Zugang zur Wirklichkeit methodisch und inhaltlich erweitern, nicht etwa verkleinern. Die Erträge, die in die Wirklichkeitsauffassungen des wissenschaftlichen Realismus eingehen, dürfen dementsprechend nicht ausschließlich aus einer vorgeblich paradigmatischen Disziplin entnommen werden.7 Das wissenschaftliche Weltbild setzt sich aus Teilontologien zusammen, die spezifische methodische Zugangsweisen zur Wirklichkeit enthalten. Eli­ minativen Ansätzen unterläuft der folgenreiche Fehlschluss, objektiv oder intersubjektiv zugängliche Phänomene, die in der von ihnen präferierten Ontologie nicht vorkommen, als nicht-existent auszuweisen. Die fehlenden naturwissenschaftlichen Nachweise für Eigenschaften und Fähigkeiten der humanen Lebensform, die in der Lebenswelt direkt oder indirekt beobachtbar sind, bieten keinen Anlass für Eliminationen, sondern für methodische Erweiterungen, die sich auf soziale Institutionen genauso richten wie auf lebensweltliche Phänomene. Eine folgenreiche Konsequenz aus der methodischen und ontologischen Offenheit des wissenschaftlichen Standpunkts ist schon in der klassischen Philosophie der Neuzeit gezogen worden: Lebensweltliche Gewissheiten müssen naturwissenschaftlichen Modellen aus epistemologischen wie aus 6  Vgl. Rescher 1987, 1-25. 7  Siehe Sturma 2014, 396-401.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten

83

lebenspraktischen Gründen nicht prinzipiell untergeordnet werden. Insbesondere Jean-Jacques Rousseau hat im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit eliminativen Ansätzen des Französischen Materialismus in Zweifel gezogen, dass naturwissenschaftliche Theoriemodelle wegen ihrer formalen und inhaltlichen Begrenztheit eine grundsätzliche Vorrangstellung beanspruchen können.8 Es ist nicht zu bestreiten, dass naturwissenschaftlichen Weltmodellen im metatheoretischen Rahmen des wissenschaftlichen Realismus eine zentrale Rolle zukommt. Gleichwohl darf nicht außer Acht gelassen werden, dass naturwissenschaftliche Modelle immer nur Ausdruck einzelner disziplinärer Ansätze sind, deren Beiträge zur wissenschaftlichen Wirklichkeitserfassung nur einen sehr eingeschränkten Bereich abdecken. Sie liefern beispielsweise keine Antwort auf die Frage, mit welchen formalen musikalischen Ausdrucksformen wir es bei einem akustischen Phänomen gegebenenfalls zu tun haben. Diese Frage wird unangesehen des Sachverhalts, dass Töne mit naturwissenschaftlichen Verfahren identifiziert werden können, ohne musikwissenschaftliche Kompetenz nicht zu beantworten sein. Dem wissenschaftlichen Realismus wird in der Regel ein feststehender Theorierahmen unterstellt. Eine solche Annahme vermittelt ein zu einfaches Bild. Der wissenschaftliche Realismus ist keineswegs ein stehendes und bleibendes Gebilde, sondern repräsentiert den dynamischen Prozess neuester disziplinärer Entwicklungen. Im Zuge seines Fortgangs kommt es zu Revisionen herkömmlicher Überzeugungen genauso wie zu inhaltlichen Erweiterungen und methodischen Innovationen. Das bedeutet vor allem, dass der wissenschaftliche Realismus von engen, ausschließlich an ausgewählten naturwissenschaftlichen Disziplinen orientierten Weltbildern befreit werden muss. Wissenschaftliche Beschreibungen sind nur in dem Bereich phänomengerecht, in dem sie methodische Kompetenz entfalten können. Sollen thematische Ausweitungen vorgenommen werden, sind entsprechende methodische Anpassungen oder Innovationen unumgänglich.9 8  Siehe Rousseau 1969, 57. 9  Im Rahmen seiner Verteidigung des Primats des wissenschaftlichen Weltbilds verweist Wilfrid Sellars auf die Notwendigkeit methodischer Innovationen. Für die Analyse des personalen Lebens fordert er formale und inhaltliche Erweiterungen und wendet sich gegen die in den Naturwissenschaften verbreitete Praxis der Elimination: »[T]he conceptual framework of persons is not something that needs to be reconciled with the scientific image, but rather something to be joined to it. Thus, to complete the scientific image we need to enrich it not with more ways of saying what is the case, but with the language of community and individual intentions, so that by construing the actions we intend to do and the circumstances in which we intend to do them in scientific terms, we directly relate the world as conceived by scientific theory to our purposes, and make it our world and no longer

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

84

Dieter Sturma

Der wissenschaftliche Realismus lässt sich deshalb nicht auf den Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften beschränken, sondern muss sich auch auf ethische und ästhetische Sachverhalte sowie auf soziale Regeln, Konventionen und Institutionen erstrecken. Der erweiterte Naturalismus schließt eine dynamische Konzeption des wissenschaftlichen Realismus ein. Er geht von der ontologischen Einheit der Wirklichkeit aus und verwirft dualistische Konzeptionen genauso wie supranaturalistische Weltverdoppelungen. Seine interdisziplinäre Offenheit ist allerdings nicht grenzenlos. Interdisziplinarität bedeutet die Eröffnung von Zugangsweisen für andere wissenschaftliche Standpunkte zu eigenen fachlichen Erträgen. In der interdisziplinären Praxis geht es insofern vor allem darum, Anlässe für die Aufnahme dieser Erträge durch andere Disziplinen zu schaffen. Auch der erweiterte Naturalismus gibt dem wissenschaftlichen Standpunkt Vorrang bei der Beantwortung der Frage nach dem, was es gibt. Dieser Vorrang ist jedoch nicht bedingungslos und steht immer unter dem Vorbehalt epistemologischer und wissenschaftstheoretischer Überprüfung. Vor allem läuft er nicht auf das Primat einer vermeintlichen Leitwissenschaft beziehungsweise vereinheitlichenden Wissenschaft hinaus.10 Der erweiterte Naturalismus geht von einer methodischen Arbeitsteilung aus, die Zuständigkeiten im Raum der Gründe und im Raum der Ursachen nach Maßgabe methodischer Leistungsfähigkeit und Phänomengerechtigkeit verteilt. Über ontologische Festlegungen kann nicht methodisch vorentschieden werden, vielmehr sind sie davon abhängig, auf welchen mikro-, meso- oder makroskopischen Ebenen man sich bewegt und welche Elemente des semantischen Felds des Naturbegriffs jeweils zur Anwendung kommen. Derartige Erweiterungen widersprechen keineswegs den methodischen Vorgaben

  an alien appendage to the world in which we do our living. We can, of course, as matters now stand, realize this direct incorporation of the scientific image into our way of life only in imagination. But to do so is, if only in imagination, to transcend the dualism of the manifest and scientific images of man-of-the-world.« (Sellars 1963, 40) 10  Der Logische Empirismus hat bekanntlich im Zuge seiner wissenschaftstheoretischen und epistemologischen Weiterentwicklung des Naturalismus für die moderne Physik das Primat der Leitwissenschaft eingefordert; siehe Carnap 1935. Otto Neurath entwickelt ein physikalistisches Programm, das ohne leitwissenschaftliche Verengungen auskommen will. Für ihn ist das Projekt der Enzyklopädie Ausdruck wissenschaftlicher Praxis, die gerade im Hinblick auf die Lebenswelt Widersprüche und Konflikte zulassen kann, solange sie nicht den etablierten Standards von direkten oder indirekten empirischen Nachweisen und methodischer Rechtfertigungsfähigkeit widersprechen; siehe Neurath 1936.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten

85

von Naturalismus und wissenschaftlichem Realismus.11 Sie sind geradezu sachlich erzwungen, weil zu ihren Vorgaben vor allem die angemessene Erfassung von direkt oder indirekt beobachtbaren Phänomenen und Sachverhalten gehört. Der historisch und systematisch sinnfällige Ausdruck wissenschaftlicher Praxis ist nicht die leitwissenschaftliche Elimination, sondern das Projekt der Enzyklopädie, das Lebenswelt und wissenschaftliche Praxis zusammenführt.12 Eine Enzyklopädie umfasst nicht nur eine Übersicht zu Natur, Lebenswelt und wissenschaftlichem state of the art, in ihr finden sich auch Hinweise auf Kontroversen, Irrwege und Grenzen der Wissenschaften. Gewissheiten der Lebenswelt sind vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet Wirklichkeitsauffassungen, die in der Regel einer methodischen Überprüfung zugänglich sind. Im Rahmen einer solchen Überprüfung wird sich nicht zuletzt herausstellen, ob herkömmliche Methoden angemessen sind oder neue Zugangsweisen eröffnet werden müssen. Bei der Beantwortung der Frage nach dem, was es gibt, kann deshalb nicht nur auf eine Disziplin allein zurückgegriffen werden. Vielmehr ist von unterschiedlichen disziplinären Zuständigkeiten auszugehen, über die von Fall zu Fall zu entscheiden ist. Beschreibungen, Modelle und Theoriebildungen aus allen Bereichen der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften leisten unter der Voraussetzung der Erfüllung explikativer und begründungstheoretischer Stan­ dards einen Beitrag zum System des wissenschaftlichen Realismus. Sie alle geben direkt oder indirekt Auskunft darüber, was der Fall ist.

11  Mit der methodischen Arbeitsteilung findet ein konstruktiver Zug Eingang in den Naturalismus beziehungsweise wissenschaftlichen Realismus; vgl. Goodman 1978, 2f.: »If I ask about the world, you can offer to tell me how it is under one or more frames of reference; but if I insist that you tell me how it is apart from all frames, what can you say? We are confined to ways of describing whatever is described. Our universe, so to speak, consists of these ways rather than of a world or of worlds. […] Much more striking is the vast variety of versions and visions in the several sciences, in the work of different painters and writers, and in our perceptions as informed by these, by circumstances, and by our own insights, interests, and past experiences. Even with all illusory or wrong or dubious versions dropped, the rest exhibit new dimensions of disparity. Here we have no neat set of frames of reference, no ready rules for transforming physics, biology, and psychology into one another […].« Nelson Goodman weist in diesem Zusammenhang mit Nachdruck darauf hin, dass methodische Arbeitsteilung nicht auf einen platten Relativismus hinausläuft: »[W]illingness to welcome all worlds builds none. […] A broad mind is no substitute for hard work.« (Goodman 1978, 21) 12  Vgl. Neurath 1936, 187-189.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

86

Dieter Sturma

3. Lebensform Weil die Lebensform die spezifische Verfassung einer Manifestation von Leben anzeigt, ist sie methodisch gut geeignet, als Ausgangspunkt für naturalistische Erweiterungen zu fungieren. Ein systematisch bedeutsamer Beitrag zum semantischen Feld des Begriffs der Lebensform ist in Ludwig Wittgensteins später Sprachphilosophie entwickelt worden. Lebensform wird in ihr nicht als etwas behandelt, das man im Sinne einer differentia specifica identifizieren könnte. In den Eingangspassagen der Philosophischen Untersuchungen führt Wittgenstein vor, wie die humane Lebensform unmittelbar mit sprachlicher Praxis verbunden ist. Dabei operiert er nicht mehr mit herkömmlichen Erklärungsmodellen. Sprachliche Bedeutungen stellen sich ihm zufolge im Vollzug komplexer Ausdrucks- und Handlungssituationen ein, die weder in generalisierenden Bestimmungen zusammengefasst noch auf im sozialen Raum Gegebenes zurückgeführt werden können. Sprache bestimmt als Manifestation der humanen Lebensform13 die soziale Praxis von Personen insgesamt. Diese ist durch ein Sprachverhalten gekennzeichnet, welches tiefer reicht als die bloße Anwendung von Kommunikationsmitteln. Sprache bestimmt mittelbar oder unmittelbar alle Aspekte sozialer Praxis. Auch die vermeintlich nonverbale Kommunikation ist durch sprachliche Einstellungen und Regeln bestimmt.14 Deshalb ist die deiktische Situation des Auf-etwas-Zeigens in der Gestalt geteilter Aufmerksamkeit bei anderen animalischen Lebensformen zumindest in dieser komplexen Form nicht nachweisbar. Tiere warnen einander vor Gefahren, aber sie zeigen dabei nicht auf etwas. Die genaue Bestimmung des Verhältnisses der Ausdrücke »Sprache« und »Lebensform« erweist sich als schwierig. Offensichtlich geht Wittgenstein nicht von einer semantischen Koextension aus. Allerdings ist zumindest im Fall der humanen Lebensform nicht zu ersehen, wie sie unabhängig voneinander bestimmt werden könnten. Sprachliche Normen und Klassifikationen sind konstitutive Bestimmungen sozialer Praxis und die Handlungen und Haltungen von Personen im sozialen Raum richten sich durchgängig an normativen Regeln des Sprachverhaltens aus. Das Regelfolgen15 ist gleichsam die Grammatik des Ausdrucks der humanen Lebensform, das an seinen Auswirkungen in der sprachlichen Praxis von Personen erkennbar 13  Siehe Wittgenstein 1984a, § 19: »Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.« 14  Siehe Abschnitt 4. 15  Siehe Wittgenstein 1984a, § 202.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten

87

ist. Sprachverhalten verfügt in seinen Manifestationen über eine Innen- und eine Außenseite, und das Regelfolgen bestimmt die Einstellungen und Handlungen der Subjekte des jeweiligen Sprachverhaltens genauso wie dessen Interpretation seitens anderer Akteure im sozialen Raum. Als beobachtbare Manifestation der humanen Lebensform im sozialen Raum ist Sprachverhalten allerdings nicht nur als Kommunikationsmittel zu verstehen, vielmehr nimmt es die Gestalt eines naturgeschichtlichen Faktums an, das nicht auf tiefergehende Bestimmungen zurückgeführt werden kann.16 Sprachspiele, familienähnliche semantische Felder und normative Regeln nehmen für die einzelne Person die Gestalt eines natürlichen Rahmens ihrer Bildung und Entwicklung an. Wittgensteins Begriff der Lebensform stellt den naturalistischen Standpunkt vor konzeptionelle Schwierigkeiten, weil er so ausgelegt ist, dass weder dualistische oder supranaturalistische Ausdeutungen noch einfache Repräsentationsmodelle in seinem semantischen Feld einen Anhalt finden können. Das macht ihn für Erweiterungen des Naturalismus methodisch und inhaltlich so bedeutsam. Gleichwohl scheint es nicht möglich zu sein, auf den Begriff der Lebensform herkömmliche naturalistische Ableitungen anzuwenden. Tatsachen, die unmittelbar die Lebensform betreffen, bezeichnet Wittgenstein auch metaphorisch als unhintergehbare »Urphänomene«,17 und es finden sich entsprechend immer auch Hinweise auf den Zusammenhang von Sprachspiel, Lebensform und Naturgeschichte.18 Sprache erscheint als diejenige Dimension der humanen Lebensform, über die Ableitungsversuche nicht hinausgelangen können. Wenn mit Hilfe des Begriffs der Lebensform Erweiterungen am natu­ ralistischen Standpunkt vorgenommen werden sollen, ist es unumgänglich, seinen konzeptionellen Rahmen zu verändern. Mit den im Naturalismus verbreiteten eliminativen Ansätzen ist eine solche Erweiterung von vornherein ausgeschlossen. Es ist zudem auffällig, dass in den Hauptströmungen des Naturalismus Sprache methodisch keine herausragende Rolle spielt und erst im 20. Jahrhundert mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist aber gerade die methodische Aufwertung des Sprachverhaltens, mit der die Erweiterungen des naturalistischen Standpunkts auf den Weg gebracht werden können. 16  Siehe Wittgenstein 1984b, § 559: »Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben.« Demnach liefern Sprachspiele Gründe, ohne auf einen Grund zurückführbar zu sein. 17  Wittgenstein 1984a, § 654. 18  Vgl. Wittgenstein 1984a, §§ 25, 415.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

88

Dieter Sturma

Wittgenstein leuchtet mit seinen sprachlichen Überlegungen die humane Lebensform von Innen aus. Das geschieht auf eine Weise, die es ermöglicht, Erleben, Verhalten und Handeln so zu konturieren, dass sie sowohl in subjektiver Perspektive wie vom Standpunkt eines äußeren Beobachters aus betrachtet Gestalt annehmen: Die Evolution der höheren Tiere und des Menschen und das Erwachen des Bewußtseins auf einer bestimmten Stufe. Das Bild ist etwa dies: Die Welt ist, trotz aller Ätherschwingungen, die sie durchziehen, dunkel. Eines Tages aber macht der Mensch sein sehendes Auge auf, und es wird hell. Unsere Sprache beschreibt zuerst einmal ein Bild. Was mit dem Bild zu geschehen hat, wie es zu verwenden ist, bleibt im Dunkeln. Aber es ist ja klar, daß es erforscht werden muß, wenn man den Sinn unserer Aussage verstehen will. Das Bild aber scheint uns dieser Arbeit zu überheben; es deutet schon auf eine bestimmte Verwendung. Dadurch hat es uns zum Besten.19

Die Emergenz der Sprache nimmt bei Wittgenstein letztlich die existenzielle Bedeutung einer epistemischen creatio ex nihilo an. Die sprachliche Dimen­ sion ermöglicht erst den Blick auf die eigene Lebensform und den auf andere animalische Lebensformen. Sie erschwert dadurch von vornherein die Erforschung des Sinns unserer Aussagen. Diese unhintergehbare Innenausleuchtung ist für Wittgenstein ein entscheidender Grund dafür, warum es so viel Mühe bereitet, in Interpretationen und Ausdeutungen über die bestimmte Verwendungsweise von Ausdrücken in verallgemeinernder Absicht mit semantischen Transformationen oder Übersetzungen hinauszugelangen. Die Grammatik der Lebensform ist in dieser Hinsicht umfassend. Im Sprachverhalten als dem Ausdruck der humanen Lebensform ist ein ganzes System inferenzieller Beziehungen der Weltauffassungen und Handlungsspielräume enthalten, an denen sich das Leben von Personen im sozialen Raum ausrichtet. Wittgenstein bezeichnet dieses System metaphorisch als Mythologie: »In unserer Sprache ist eine ganze Mythologie niedergelegt.«20 Im Unterschied zu den kulturgeschichtlichen Erscheinungsformen von Mythologien bezieht sich Wittgenstein auf die Form des sich in der sprachlichen Praxis manifestierenden Weltbilds, das die Überzeugungen und Regeln strukturiert, denen Akteure im sozialen Raum folgen. Demnach verfügen Personen über dieses Weltbild nicht, weil sie sich von seiner Richtigkeit überzeugt haben oder von ihm überzeugt sind, sondern weil es den Hintergrund 19  Wittgenstein 1984a, Teil II, vii, 293. Wittgenstein warnt an dieser Stelle auch ausdrücklich vor voreiligen Ableitungs- und Erklärungsversuchen. 20  Wittgenstein 1989, 38.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten

89

der Fähigkeit bildet, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.21 Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, gehören für Wittgenstein »zu einer Art Mythologie« und ähneln in ihrer Funktion Spielregeln. Er fügt noch hinzu, dass man »das Spiel auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen« könne.22 Die metaphorische Redeweise von einer Mythologie macht darauf aufmerksam, dass Sprache unmittelbarer Ausdruck der geronnenen Erfahrung der Akteure der Sprachgemeinschaft und nicht etwa bloß ein Kommunikationsmittel ist. Die in die Lebensform sprachlich eingehende Erfahrung erzeugt eine eigene Dynamik. Das jeweilige Überzeugungs- und Bedeutungssystem ist ein Hintergrund, der sich im Zuge der in der Sprachgemeinschaft gemachten Erfahrungen verändern kann und von Fall zu Fall auch tatsächlich verändert: Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssige würden. Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.23

Geronnene Erfahrung und Veränderung kennzeichnen den Prozess einer Kulturgeschichte von Einstellungen, Haltungen und Überzeugungen, die sich in einem Sprachverhalten vollzieht, in dem semantische und syntaktische Regeln gelten, die von der unmittelbaren Gegenwart dessen, worüber gesprochen wird, unabhängig sind. Der tiefere Sinn von Sprache zeigt sich entsprechend nicht in Zeichen oder Gesten, sondern in epistemischen, moralischen und ästhetischen Einstellungen und Verhaltensweisen. Als artspezifische Manifestation ist die Lebensform von biologischen Eigenschaften abhängig. Im Fall der humanen Lebensform muss von einem komplexeren und naturgeschichtlich neuen Modell ausgegangen werden. Personen sind nicht allein aufgrund ihrer biologischen Ausstattung in der Lage, sich als Akteure des sozialen Raums zu verhalten. Sie können ihre natürlichen Anlagen und Dispositionen nur entfalten, wenn sie Zugang zum Raum der Gründe finden. Dieser Zugang öffnet sich im Rahmen der Bildung zur Person, welche die kreatürliche Existenz menschlicher Individuen kulturell überformt.

21  Siehe Wittgenstein 1984b, § 94. 22  Siehe Wittgenstein 1984b, § 95. 23  Wittgenstein 1984b, §§ 96, 97.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

90

Dieter Sturma

Leben bedeutet in einem ganz allgemeinen Sinne die Manifestation von organischen Einheiten, die sich selbst erhalten, indem sie eigene Ordnungen qua negativer Entropie24 etablieren. Vor dem Hintergrund der Zunahme von Entropie ist es einem lebenden Organismus möglich, lokal und temporal begrenzt dem thermischen Gleichgewichtszustand und damit vorübergehend seiner Zerstörung zu entgehen. Das geschieht auf dem Wege der biologischen und kulturellen Etablierung von Ordnungen, die sich durch die Verringerung der Ordnung der Umgebung erhält. Im Fall der humanen Lebensform entwickelt die menschliche Natur die Fähigkeit, die gegebenen natürlichen Ordnungen mit eigenen Ordnungen zumindest partiell einzuschränken. Diese neuen Ordnungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Verbindlichkeiten erzeugen, ohne biologisch determiniert oder in ihrer internen Struktur unveränderlich zu sein. Die Dimension der humanen Lebensform ist die um den Raum der Gründe erweiterte Lebenswelt. Im Unterschied zum Raum der Ursachen, in dem kausale Abhängigkeiten erfasst werden, steht der Raum der Gründe für das System inferenzieller Beziehungen, die zwischen syntaktischen und semantischen Regeln bestehen.25 Wenn sich eine Person in einem epistemischen Zustand befindet, dann bezieht sie sich nicht unmittelbar auf ein in der Anschauung Gegebenes, sondern bewegt sich mit sprachlichen Identifikationen und Klassifikationen im Raum der Gründe. Dieser konstituiert die Erfahrungssituationen und Interaktionen von Personen, welche die humane Lebensform über die Zeit hinweg durchläuft. Dabei bilden sich durch die Anpassung und Verfeinerung der syntaktischen und semantischen Normen Verhaltensstrukturen heraus, mit denen Personen auf ihre Lebenswelt wie auf ihre weitere Umwelt zugehen und reagieren. 4.

Dichte Beschreibung der humanen Lebensform

Mit dem Begriff der humanen Lebensform wird eine spezifische Form von Verbindlichkeit und Veränderbarkeit in das naturalistische Weltbild eingeführt, die sich darin ausdrückt, dass menschliche Individuen – in der Regel – das Leben einer Person führen. Ihr Verhalten steht in einem direkten Zusammenhang mit zumindest teilweise bewussten Einstellungen und Handlungen, die auf ihre Gründe hin befragt werden können. Personen sind prinzipiell in der Lage, zu ihren Einstellungen und Handlungen wie zu denen anderer Personen

24  Siehe Schrödinger 1989, 126. 25  Siehe Sellars 1997, § 36.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten

91

Stellung zu nehmen. Diese Stellungnahmen verweisen auf die sprachliche Verfassung von Handlungssituationen im sozialen Raum. Die Handlungsepisoden einer Person vollziehen sich sowohl in ihrer eigenen Perspektive als auch in der Perspektive äußerer Beobachter immer unter Bedingungen epistemischer Unsicherheit. Der jeweilige Handlungsspielraum ist weder für die einzelne Person noch für äußere Beobachter vollständig durchsichtig. Dieser Sachverhalt ist kein Grund für eine grundsätzliche Skepsis gegenüber propositionalen Einstellungen und epistemischen Selbstverhältnissen. Wenn die Handlungssituation bekannt ist, kann immer von einer stark begrenzten Anzahl möglicher Erklärungen für das jeweilige Verhalten ausgegangen werden. Etliche Elemente, wie etwa Handlungsroutinen, stehen Personen, die mit der Lebensführung des Akteurs vertraut sind, sogar oftmals deutlicher vor Augen als diesen selbst. Deshalb sind handelnden Personen nahestehende äußere Beobachter oft imstande, deren Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit vorauszusagen – und oftmals sogar besser als der Akteur selbst.26 Der erweiterte Naturalismus kann sich bei der Erfassung der humanen Lebensform auf ein Sprachverhalten beziehen, in dem Prädikationssituationen aus einem systematischen Zusammenhang von Referenz und Selbstreferenz hervorgehen. Das System der Perspektiven der ersten, zweiten und dritten Person beziehungsweise der Perspektiven des Akteurs, des Gegenübers und des Beobachters, erfassen in einem inferenziellen Wechselspiel Verhaltensweisen und Handlungen von Personen, in denen sich gleichsam die Innen- und Außenseite von Akteuren der humanen Lebensform zeigt.27 26  Siehe Ryle 2009, 75-78. Die körperliche Haltung kann in dialogischen Handlungssituationen über Absichten Auskunft geben. Das lässt sich eindrucksvoll an Zügen in Mannschaftssportarten exemplifizieren; vgl. Handke, 1970, 124f.: »Ein Elfmeter wurde gegeben. […] ‚Wenn der Schütze anläuft, deutet unwillkürlich der Tormann, kurz bevor der Ball abgeschossen wird, schon mit dem Körper in die Richtung, in die er sich werfen wird, und der Schütze kann ruhig in die andere Richtung schießen‘, sagte Bloch.« Der Tormann kann die körperliche Haltung seinerseits dazu einsetzen, den Schützen über seine Absichten zu täuschen. In Handkes fiktivem Beispiel bleibt er einfach in der Mitte des Tores stehen, und der Schütze schießt ihm den Ball in die fangbereiten Hände. 27   Personen verwenden bei Selbstthematisierungen und Thematisierungen der Einstellungen von anderen Personen denselben narrativen und prädikativen Rahmen; vgl. Strawson 1959, 29, 106: »Yet it is a single picture which we build, a unified structure, in which we ourselves have a place, and in which every element is thought as directly or indirectly related to every other; and the framework of the structure, the common, unifying system of relations is spatio-temporal. By means of identifying references, we fit other people’s reports and stories, along with our own, into the single story about empirical reality; and this fitting together, this connexion, rests ultimately on relating the particulars which figure in the stories in the single spatio-temporal system which we

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

92

Dieter Sturma

Das Verhalten von Personen kann in einer dünnen beziehungsweise schwachen Beschreibung, die sich allein an dem orientiert, was einem unbeteiligten äußeren Beobachter erscheint, nicht phänomengerecht erfasst werden. Gilbert Ryle hat den epistemisch und methodisch gewichtigen Unterschied zwischen einer dünnen und einer dichten Beschreibung am Beispiel des Zuckens von Augenlidern vorgeführt. Schaut man nur auf die erratische Bewegung des Augenlids, ist nicht zu entscheiden, ob wir es mit einem nervösen Zucken oder mit einer stillen Kommunikation in der Gestalt von Zuzwinkern zu tun haben. Der Sachverhalt der stillen Kommunikation erschließt sich nur, wenn das Wechselspiel zwischen körperlichen Bewegungen, Absichten und Regeln durchschaut wird. Überdies kommt die stille Kommunikation nur dann zustande, wenn im Zuge der Zeichenverwendung und deren Entschlüsselung etliche Voraussetzungen sowohl von dem Akteur wie dem Adressaten erfüllt werden. In Ryles Exemplifizierung zeichnet sich deutlich der weite Rahmen von Sprachverhalten ab. Es kann sich ohne öffentliche Rede im Zeigen, Zuzwinkern, aber auch »beredtem Schweigen« manifestieren. Die Akteure dieses Sprachverhaltens folgen Regeln und erfüllen Voraussetzungen, die über den Erfolg der beabsichtigten Handlung oder Kommunikation entscheiden.28 Eine dünne Beschreibung enthält nur die Zusammenstellung von Beobachtungsdaten, die ein äußerer Beobachter an der Oberfläche des Verhaltens von Personen abliest. Demgegenüber erfasst die dichte Beschreibung Bedeutungszusammenhänge zwischen Einstellung, Sprache, Verhalten, Verstehen und Handlung, die von spezifischen menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten abhängen. An einer dichten Beschreibung ist ablesbar, wie sich Personen als Akteure der humanen Lebensform in Übereinstimmung mit der humanen Welt von Bedeutungen und Anliegen bewegen.29 Es ist diese ourselves occupy. […] There is no sense in the idea of ascribing states of consciousness to oneself, or at all, unless the ascriber already knows how to describe at least some states of consciousness to others.« 28  Siehe Ryle 1971, 494f.: »From a cinematograph-film of the two faces there might be no telling which contraction, if either, was a wink, or which, if either, was a mere twitch. Yet there remains the immense but unphotographable difference between a twitch and a wink. For to wink is to try to signal to someone in particular, without the cognisance of others, a definite message according to an already understood code. It has very complex success-versus-failure conditions. The wink is a failure if its intended recipient does not see it; or sees it but does not know or forgets the code; or misconstrues it; or disobeys or disbelieves it; or if anyone else spots it. A mere twitch, on the other hand, is neither a failure nor a success; it has no intended recipient; it is not meant to be unwitnessed by anybody; it carries no message. It may be a symptom but it is not a signal.« 29  Peter F. Strawson spricht in diesem Zusammenhang von »common human nature«, siehe Strawson 1959, 112.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten

93

Teilhabe an der sprachlichen Praxis, die es Personen erlaubt, sich wechselseitig über ihre Absichten und Gründe zu verständigen und sich an diesen zu orientieren.30 Die Beobachtung von Verhalten und Sprache erlaubt Rückschlüsse auf das, was in der Perspektive der ersten Person möglicherweise vor sich geht. Um über Erlebnisse von Personen sprechen zu können, muss man nicht nach Privatem suchen. Wilfrid Sellars hat einen Gedankengang entwickelt, wie Sprachverhalten ohne die Voraussetzung eingeschlossener privater Erlebnisse zu Selbstverhältnissen führt: Seine Figur des Genius Jones stellt die Vermutung an, dass Individuen nicht nur dann intelligentes Verhalten zeigen, wenn sie öffentlich sprechen. Intersubjektiv zugängliches Sprachverhalten ist ihm zufolge die Kulmination eines Vorganges, der mit innerer Rede beginnt. Sprachverhalten ist danach der Ausdruck von Gedanken, die als solche nicht beobachtet werden können. Diese sind als unbeobachtete und theoretisch angenommene innere Episoden zu betrachten, die über beobachtbares Verhalten von Personen Auskunft geben. Was sich in öffentlicher Rede zeigt, ist eine Bestimmung von Sprachverhalten, die mehr oder weniger verlässliche Rückschlüsse auf öffentlich nicht beobachtbare Einstellungen, Absichten oder Überlegungen erlaubt. Was zunächst als eine Sprache mit einer rein theoretischen Funktion begonnen hat, nimmt im Hinblick auf Selbstverhältnisse nach und nach eine berichtende Rolle an. Die Fähigkeit, Gedanken zu haben, wird im Laufe des Erwerbs der öffentlichen Sprache ausgebildet und erst nachdem sich die öffentliche Sprache fest etabliert hat, kann innere Rede auftreten.31 Es darf in diesem Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden, dass sprachliche Selbstverhältnisse zumindest im abendländischen Denken der Neuzeit, Moderne und Postmoderne zu spekulativen Reifikationen neigen. Einstellungen und Absichten von Anderen, zu denen wir Vermutungen anstellen, sind die einer Person – nicht die eines Ich oder Selbst.32 Wenn wir uns mit mentalen Zuständen und Akten auseinandersetzen, steht uns im Fall der dichten Beschreibung ein umfassendes semantisches Feld zur Verfügung, dem Begriffe zugrunde liegen, die eine kennzeichnende Funktion bei der Erfassung des beobachtbaren Verhaltens von Akteuren der humanen Lebensform erfüllen. Bei der Einführung des Begriffs der Lebensform in den 30  Siehe Sturma 2015. 31  Siehe Sellars 1997, § 59: »For once our fictitious ancestor, Jones, has developed the theory that overt verbal behavior is the expression of thoughts, and taught his compatriots to make use of the theory in interpreting each other’s behavior, it is but a short step to the use of this language in self-description. […] What began as a language with a purely theoretical use has gained a reporting role.« 32  Siehe Sturma 2005, 62-73.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

94

Dieter Sturma

Eingangspassagen der Philosophischen Untersuchungen hat Wittgenstein Vorschläge zu einer dichten Beschreibung gemacht, mit denen nicht zuletzt auch die Komplexität des Ausdrucks im Sprachverhalten offenkundig wird. Er führt auf ungeordnete Weise sprachlich vermittelte Vorgänge und Fähigkeiten auf: Befehle, Handeln nach Befehlen, Beschreiben eines Gegenstands nach Augenschein oder Messung, Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung oder Zeichnung, Berichten über einen Hergang, über den Hergang Vermutungen anstellen, eine Hypothese aufstellen und prüfen, Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme, eine Geschichte erfinden und lesen, Theater spielen, Reigen singen, Rätsel raten, einen Witz machen und erzählen, ein angewandtes Rechenexempel lösen, aus einer Sprache in die andere übersetzen, Bitten, Danken, Fluchen, Grüssen und Beten.33 Im Hinblick auf das Verhältnis von Naturalismus und Lebensform sind Wittgensteins Exemplifizierungen folgenreich. Er bezieht sich auf vertraute Vorgänge der Lebenswelt, die öffentlich gut beobachtbar sind. Für sie gilt aber vor allem, dass sie in ihrem Zustandekommen von einer komplexen Sprachpraxis abhängig sind. Damit werden zumindest implizit entscheidende Voraussetzungen für die Aufnahme von Bestimmungen in die dichte Beschreibung skizziert: Sie lassen sich nur auf Personen beziehungsweise Akteure im Raum der Gründe anwenden und drücken in dem Sinne Eigenschaften und Fähigkeiten der humanen Lebensform aus, dass im Falle ihrer Abwesenheit personales Leben als eingeschränkt erscheint. Vor dem Hintergrund des aufwändigen Anforderungsprofils für die Aufnahme von Begriffen in die dichte Beschreibung drängt sich in naturalistischer Perspektive die Frage auf, ob im Unterschied zu Wittgensteins noch ungeordneter Aufzählung methodische Klassifikationen möglich sind. Für philosophische Klassifikationen ist nahegelegt, sich an begriffs-, ideenund kulturgeschichtlichen Rekonstruktionen der sprachlichen Mittel zu orientieren, die bei Thematisierungen und Beschreibungen der humanen Lebensform eingesetzt werden. Um nicht auf vorkritische Verfahrensweisen der philosophischen Anthropologie zurückzufallen, muss die dichte Beschreibung lebensweltliche Nähe sicherstellen und semantische Reifikationen genauso vermeiden wie vermögensmetaphysische Spekulationen. Ihre Bestimmungen haben sich auf direkt oder indirekt beobachtbare Einstellungen und Verhaltensweisen zu richten. Von ihnen hat weiterhin zu gelten, dass ausschließlich Personen mit ihnen beschrieben werden können, weshalb etwa 33  Siehe Wittgenstein 1984a, § 25; vgl. §§ 285-308.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten

95

Verletzlichkeit in der dichten Beschreibung nicht vorkommt, da sie auch von Individuen anderer animalischer Lebensformen ausgesagt werden kann. Das Leben von Personen sieht sich mit natürlichen, psychischen, subjektiven, epistemischen und sozialen Abläufen konfrontiert. An diesen unterschiedlichen Vorgaben kann sich die dichte Beschreibung in einer ersten Annäherung orientieren. Auf einem hohen und mittleren Abstraktionsniveau ergibt sich etwa folgende Einteilung: a) natürliche Bestimmungen: Leib (le corps propre34), Sinneswahrnehmung, Identität über die Zeit hinweg; b) psychische und subjektive Bestimmungen: Erleben, Emotionalität, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Reflexionsfähigkeit, Selbstachtung, personale Identität über die Zeit hinweg; c) soziale Bestimmungen: Ausdruck, Sprache, Bildung zur Person, Empfänglichkeit für Gründe, epistemische, moralische, ästhetische und religiöse Einstellungen, Gerechtigkeitssinn, kulturelle Praxis, kalkulierte Grausamkeit; d) epistemische Bestimmungen: Erfahrung, Intelligenz, Wissen, Einbildungskraft, Umgang mit möglichen Welten und Dummheit. Die in der Lebenswelt beobachtbaren Handlungen von Personen lassen sich dann von Fall zu Fall den jeweiligen Positionen der dichten Beschreibung zuordnen. Die dichte Beschreibung liefert das Vokabular für Antworten auf die Frage, was eine Person als Person jetzt tut, getan hat oder tun wird. Während die dünne Beschreibung mechanistisch interpretierbare Vorgänge aufzeichnet, erfasst die dichte Beschreibung eine konkrete Handlung in der Lebenswelt. Eine Person reagiert auf eine negativ empfundene Situation gegebenenfalls mit Empörung, die semantisch komplexer ausfällt als etwa Ärger. Empörung äußert sich in einer Einstellung, die bereits ein moralisches Urteil im Sinne reaktiver Haltungen35 enthält. Die Empörung einer Person unterscheidet sich von dem Ärger, den ein Tier unter vergleichbaren Umständen situationsbedingt zum Ausdruck bringt. Im Fall von dummen oder grausamen Handlungen, die in dieser Form von Individuen anderer animalischer Lebensformen nicht begangen werden können, bewegen sich Personen nicht auf der epistemischen beziehungsweise moralischen Höhe anderer in der dichten Beschreibung

34  Der Körper einer Person ist nicht etwa ein materielles Substrat, sondern Ausdruck ihrer Existenz in einer Welt von anderen Personen, Dingen und Phänomenen, siehe MerleauPonty 1945, 114-127, 347-351; Hampshire 1959, 53-57, 85-89. 35  Zur Bestimmung reaktiver Haltungen siehe Strawson 1974, 4-13.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

96

Dieter Sturma

erfassten Eigenschaften und Fähigkeiten. Insofern erweist sich die dichte Beschreibung auch als normative Vorgabe für Kritik und Selbstkritik. Die kritische Funktion der dichten Beschreibung besteht darin, die inhaltliche und methodische Unvollständigkeit eliminativer Versionen des Naturalismus kenntlich zu machen, die im Fall der Einstellungen und Handlungen von Akteuren der humanen Lebensform auf der Ebene einer dünnen Beschreibung verbleiben. Eliminativisten versuchen dieses Defizit mit Nivel­ lierungsformeln wie »x ist nichts anderes als y« auszugleichen, wobei y in den Bereich fällt, der naturwissenschaftlich zugänglich ist.36 Weil so die phänomenale Mannigfaltigkeit des personalen Standpunkts konstruktiv verdeckt wird, kann sich bei der Thematisierung der humanen Lebensform kein explikatives Potenzial entwickeln. Die dichte Beschreibung findet auf dem Weg der Analyse des Sprachverhaltens Zugang zu den Erlebnissen, Dispositionen und Handlungen von Personen. Dieser Zugang sichert der dichten Beschreibung den naturalistischen Zuschnitt. Sprachverhalten ist gleichermaßen ein öffentlich beobachtbarer Vorgang und das Ergebnis von subjektiven Einstellungen und inneren Episoden. Diese sind keine in den Tiefen der Seele verschlossene Vorgänge, sondern Ausdruck von Phänomenen, die sich innerlich und äußerlich manifestieren. Eine Person überlegt, wie sie in den Lauf der Dinge eingreifen kann. In welcher Weise sie das tut, wird sich in der sozialen Praxis zeigen. Das gilt auch für den Fall, dass sie untätig verharrt. Ihre Untätigkeit wäre dann ein Unterlassen. Beobachtbares Sprachverhalten ist Ausdruck innerer Vorgänge, die als solche nicht direkt zugänglich sind. Versucht man in eliminativer Absicht die Außenseite von der Innenseite zu trennen, wird das Phänomen konstruktiv verflüchtigt. Die Aufzählungen der dichten Beschreibung bilden keine geschlossene Liste. Epistemische Unsicherheiten, die Dynamik personalen Lebens,37 die Entdeckung von bislang unbekannten empirischen Sachverhalten sowie die Weiterentwicklung selbstthematisierender Untersuchungsmethoden verhin­ dern, dass die dichte Beschreibung jemals abgeschlossen werden könnte. Die dichte Beschreibung hat es immer nur mit einem spezifischen Abschnitt zu tun, der in seinen natur- und kulturgeschichtlichen Bedingungen weit zurückreicht. Während diese zumindest in Teilen rekonstruierbar sind, können über zukünftige Entwicklungen allenfalls Vermutungen angestellt werden. Das Denken hat keinen Begriff davon, wie seine Zukunft ausfallen wird. Es kann 36  Siehe Anmerkung 4. 37  Vgl. Strawson 1974, 23: »Inside the general structure or web of human attitudes and feelings […], there is endless room for modification, redirection, criticism, and justification.«

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Naturalismus, Lebensform und Sprachverhalten

97

nicht einmal unterstellt werden, dass die Veränderungen immer Fortschritte in der Bewusstseinsentwicklung sind. Es können sich neue Eigenschaften und Fähigkeiten herausbilden und andere gleichzeitig verblassen oder verschwinden. Im Unterschied zu anderen Lebensformen ist die Bildung zur Person integraler Bestandteil der humanen Lebensform. Daraus folgt allerdings nicht, dass aktive Teilhabe an der humanen Lebensform über ethische Berücksichtigung entscheidet. Die existenzielle Bedeutung von Sprachverhalten besteht darin, dass mit ihr menschliche Anliegen zum Ausdruck kommen. Auf diesen Sachverhalt macht Wittgenstein anlässlich seiner Überlegungen zum menschlichen Hoffen aufmerksam. Für ihn zeigt der Zustand des Hoffens an, wie kompliziert die humane Lebensform ausgelegt ist.38 Hoffnung ist eine Einstellung von Personen zur Wirklichkeit, die in ihrem Zustandekommen an Sprachverhalten gebunden ist, das normative Regeln und praktisches Wissen im Hinblick auf den Umgang mit wirklichen und möglichen Welten verfügbar macht. Auch anderen animalischen Lebensformen wird nicht prinzipiell abzusprechen sein, in irgendeiner Form Erwartungen zu haben. Zu ihnen dürfte aber nicht die existenziell ausgeprägte Hoffnung gehören, die immer mit der Kritik des gegenwärtigen Zustands und Vorstellungen möglicher Welten einhergeht. Mit der dichten Beschreibung zeichnet sich eine Welt menschlicher Anliegen ab, die unsere Lebensform von anderen animalischen Lebensformen abhebt, aber nicht von der Welt, die wir mit ihnen teilen. Von diesem Sachverhalt nimmt der erweiterte Naturalismus seinen Ausgang und findet schließlich in der sprachlichen Praxis von Personen einen methodisch rechtfertigungsfähigen Zugang zur humanen Lebensform. Literaturverzeichnis Carnap, Rudolf 1932, »Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft«, in: Erkenntnis 2, 432-465. — 1935, »Über die Einheitssprache der Wissenschaft. Logische Bemerkungen zum Projekt einer Enzyklopädie«, in: Actes du Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 60-70. 38  Wittgenstein 1984a, Teil II, i: »Kann nur hoffen, wer sprechen kann? Nur der, der die Verwendung einer Sprache beherrscht. D.h., die Erscheinung des Hoffens sind Modifikationen dieser komplizierten Lebensform. (Wenn ein Begriff auf einen Charakter der menschlichen Handschrift abzielt, dann hat er keine Anwendung auf Wesen, welche nicht schreiben.)«

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

98

Dieter Sturma

Cicero, Marcus Tullius 1988, Über die Ziele menschlichen Handelns. De finibus bonorum et malorum. Lateinisch-deutsch, München/Zürich. Goodman, Nelson 1978, Ways of Worldmaking, Indianapolis. Hampshire, Stuart 1959, Thought and Action, London. Handke, Peter 1970, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Frankfurt a.M. Merleau-Ponty, Maurice 1945, Phénoménologie de la perception, Paris. Neurath, Otto 1932, »Soziologie im Physikalismus«, in: Erkenntnis 2, 393-431. — 1935, »Einheit der Wissenschaft als Aufgabe«, in: Erkenntnis 5, 16-22. — 1936, »L’Encyclopédie comme modèle«, in: Revue de Synthèse XII, 187-201. Rescher, Nicholas 1985, Die Grenzen der Wissenschaft, Stuttgart. — 1987, Scientific Realism. A Critical Reappraisal, Dordrecht. Rousseau, Jean-Jacques 1969, Œuvres completes, VOL. IV: Émile: Éducation – Morale – Botanique, Paris. Ryle, Gilbert 1971, »The Thinking of Thoughts. What is ‘le Penseur’ doing?«, in: Ders., Collected Essays 1929-1968, Bd. II, London, 494-510. — 2009, The Concept of Mind, London. Sellars, Wilfrid 1997, Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge, Mass. — 1963, »Philosophy and the Scientific Image of Man«, in: Ders., Science, Perception and Reality, Atascadero. Schrödinger, Erwin 1989, Was ist Leben?, München. Sturma, Dieter 2005, Philosophie des Geistes, Leipzig. — 2014, »Naturalismus und moralischer Realismus«, in: Markus Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin, 396-417. — 2015, »Handeln. Freiheit im Raum der Ursachen und im Raum der Gründe«, in: Sebastian Muders, Bettina Schöne-Seifert und Markus Rüther (Hg.), Willensfreiheit im Kontext: Interdisziplinäre Perspektiven auf das Handeln, Münster, 19-42. — 2019, »Persons: A Thick Description of the Human Life form«, in: Jörg Noller (Hg.), Was sind und wie existieren Personen? Probleme und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, Paderborn, 147-165. Strawson, Peter F. 1959, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysiscs, London. — 1974, »Freedom and Resentment«, in: Ders., Freedom and Resentment and Other Essays, London, 13-25. Wittgenstein, Ludwig 1984a, Philosophische Untersuchungen, in: Ders., Werkausgabe Band 1, Frankfurt a.M. — 1984b, Über Gewißheit, in: Ders., Werkausgabe Band 8, Frankfurt a.M. — 1989, »Bemerkungen über Frazers Golden Bough«, in: Ders., Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt a.M., 29-46.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform Über Natur und Erziehung Andrea Kern 1. Dass das menschliche Leben in wesentlicher Weise durch Erziehung geprägt ist, entgeht denen, die dieses Leben führen, nicht. Kant sah sich gar zu der Behauptung veranlasst, der Mensch sei »nichts als was die Erziehung aus ihm macht«.1 Ebenso offenkundig wie der Umstand, dass das menschliche Leben nichts ist ohne Erziehung, ist jedoch auch der Umstand, dass Erziehung nicht alles sein kann, was das Leben zu einem spezifisch menschlichen Leben macht. Denn Menschen sind es, die erzogen werden. Und nur Menschen können in der Weise erzogen werden, wie dies für Menschen charakteristisch ist. Dies legt es nahe, den wesentlichen Unterschied, der das menschliche Leben vom nicht-menschlichen Leben abgrenzt, darin zu sehen, dass Menschen eine Potentialität haben, die kein anderes Lebewesen hat und die derart ist, dass sie diese Erziehbarkeit des Menschen erklärt: die Potentialität der Vernunft. Das ist bekanntlich der Vorschlag, den Aristoteles in De Anima macht. Für die Deutung dieses Vorschlags ist dabei bedeutsam, dass Aristoteles meint, dass wir zwei Bedeutungen der Idee der Potentialität voneinander unterscheiden müssen, um die Idee des Lebens verstehen zu können. Während der eine Sinn von Potentialität impliziert, dass das Lebewesen, dem diese Potentialität zugeschrieben wird, Akte der fraglichen Art vollzogen hat, impliziert der andere Sinn von Potentialität dies nicht.2 Nach Aristoteles soll diese Unterscheidung zweier Bedeutungen der Idee von Potentialität – einer 1. und einer 2. Potentialität – es uns erlauben, mit Bezug auf das menschliche Leben zwei Dinge zusammen zu bringen: den Gedanken, dass das menschliche Leben sich vom Leben nicht-menschlicher Tiere darin unterscheidet, dass sein Leben die Form der Vernunft hat, mit dem Gedanken, dass es Menschen gibt, etwa kleine Kinder, die noch keine jener Fähigkeiten aufweisen, die paradigmatisch für diese Form des Lebens sind, wie etwa das Sprechen, Urteilen und Denken. Ich will im Folgenden zeigen, dass der Aristotelische Vorschlag in der zeitgenössischen Diskussion über die Vernünftigkeit des Menschen auf zwei sehr unterschiedliche Weisen aufgegriffen wurde und zu zwei einander 1  Kant 1977, 699. 2  Vgl. Aristoteles 1995, II, 5.

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_007

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

100

Andrea Kern

widerstreitenden Positionen geführt hat. Auf der einen Seite wird die Aristotelische Unterscheidung zweier Bedeutungen der Idee von Potentialität von einer Position verwendet, die behaupten möchte, dass das spezifisch Menschliche wesentlich eine Sache der Bildung und Erziehung ist. Dieser Position zufolge sind die Kennzeichen, durch die sich menschliche von nichtmenschlichen Lebewesen unterscheiden, vorwiegend Teil ihrer zweiten Natur. Dem steht eine Position gegenüber, die dieselbe Aristotelische Unterscheidung zweier Bedeutungen von Potentialität verwendet, um für die gegenteilige Auffassung zu argumentieren, der zufolge das menschliche Leben einzig durch eine Auffassung der menschlichen Natur verstanden werden kann, die das spezifisch Menschliche bereits in der ersten Natur des Menschen verankert. Ich werde im Folgenden die erste Position die kulturalistische Position nennen, und die zweite Position die naturalistische Position, wobei allerdings zu beachten ist, dass die Ausdrücke »kulturalistisch« und »naturalistisch« in diesem Zusammenhang eine spezifische Bedeutung haben, da sie einen Gegensatz zweier Positionen beschreiben, die sich beide innerhalb eines im weitesten Sinn Aristotelischen Theorierahmens bewegen.3 Beide Lesarten der Aristotelischen Unterscheidung, so werde ich argumentieren, sind mit einem für sie jeweils unlösbaren Problem konfrontiert. Diese Probleme lassen sich nur auflösen, wenn wir eine dritte Position erwägen, die die in der Debatte angenommene Vorstellung des Verhältnisses zwischen den Ideen der Natur und der Erziehung unterläuft.4 2. Aristoteles führt die Unterscheidung zweier Bedeutungen von Potentialität, die er für das Verständnis jedes Lebens für unverzichtbar hält, in De Anima anhand eines Beispiels ein, in dem er zwei Weisen unterscheidet, von einem Menschen zu sagen, er habe die Fähigkeit zu theoretischer Erkenntnis. Dem ersten Sinn zufolge können wir von jemandem sagen, sie sei zu theoretischer Erkenntnis fähig, ohne damit zu sagen, dass sie besonderes theoretisches Wissen erworben hätte, wie etwa das Wissen von der Grammatik. Dass wir ihr 3  Vgl. Thompson 2013. 4  Die folgenden Ausführungen beruhen zum großen Teil auf Überlegungen, die ich in meinem Aufsatz »Human Life, Rationality, and Education« ausführlicher und partiell mit etwas anderem Fokus entwickelt und begründet habe. Während die dort ausgeführten Überlegungen in erster Linie kritisch, insbesondere mit Bezug auf den relevanten Fähigkeitsbegriff, intendiert sind, geht es hier mehr darum, die gemeinsame Aristotelische Grundlage beider Positionen sowie die Konsequenzen der Kritik an ihnen in den Blick zu bringen.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

101

die Fähigkeit zur theoretischen Erkenntnis zuschreiben, liegt hier nicht darin begründet, dass sie tatsächlich ein bestimmtes Wissen hat, sondern darin, dass sie als Mensch einer Art angehört, die zu theoretischem Erkennen in der Lage ist. Theoretische Erkenntnis ist für sie eine Möglichkeit, jedoch in keinem Sinn eine Wirklichkeit. Einem anderen Sinn zufolge beinhaltet unsere Rede davon, jemand sei zu theoretischer Erkenntnis in der Lage, die Tatsache, dass sie ein bestimmtes Wissen erworben hat. In diesem Fall ist das Wissen etwa von der Grammatik keine bloße Möglichkeit mehr, sondern in einem gewissen Sinne verwirklicht. Das bedeutet nicht, dass jemand, der zu theoretischer Erkenntnis in diesem Sinne fähig ist, ihre erworbene Fähigkeit ausübt, etwa indem sie weitere Grammatikregeln studiert. Sie kann zum Beispiel gerade schlafen oder sich einen Film ansehen. Es bedeutet vielmehr, dass der Sinn, in dem ihr Wissen von der Grammatik für sie eine Möglichkeit ist, also etwas, das nicht verwirklicht ist, darauf beruht, dass es einen anderen Sinn gibt, in dem es für sie eine Wirklichkeit ist. Aristoteles schreibt: Man muß auch beim Vermögen/der Möglichkeit und der Vollendung einen Unterschied machen, denn jetzt sprechen wir in einfacher Weise über sie. Es gibt nämlich ein solches wissenschaftliches Verstehen, wie wir einen Menschen wissenschaftlich nennen, weil der Mensch zu den wissenschaftsfähigen Wesen gehört und zu denen, die Wissenschaft haben. Wir können aber Wissenschaftler (auch) denjenigen nennen, der schon die Grammatik(-Wissenschaft) besitzt. Jeder von beiden ist nicht auf dieselbe Weise fähig, sondern der eine ist es, weil die Gattung (Lebewesen) und Materie von solcher Art ist, der andere aber, weil er, wenn er will, zur (wissenschaftlichen) Betrachtung übergehen kann, sofern von den äußeren Umständen nichts hindert. Wieder ein anderer ist derjenige, der schon betrachtet, der sich in der Vollendung befindet und in eigentlichem Sinn etwas, z.B. dieses A wissenschaftlich versteht. Die beiden ersten sind also zwar dem Vermögen nach Wissenschaftler, aber der eine ist es dadurch, daß er durch Lernen sich verändert hat und vielmals in eine entgegengesetzte übergewechselt ist, der andere dadurch, daß er die Wahrnehmung oder die Grammatik besitzt, aber in einer anderen Weise nicht tätig ist, hin zur Betätigung.5

Der Aristotelische Gedanke ist, dass diese Unterscheidung zweier Bedeutu­ ngen von Potentialität der Schlüssel ist, um zwei Behauptungen miteinander verbinden zu können: Die Behauptung, (1) dass sich das menschliche Leben, qua vernünftiges Leben, formal von jedem anderen Leben unterscheidet, mit der Behauptung, (2) dass kleine Kinder noch keine jener Tätigkeiten aufweisen, durch die wir verstehen, was es bedeutet, ein vernünftiges Wesen zu sein, wie etwa Denken und Urteilen, das Sprechen einer Sprache, das Angeben 5  Aristoteles 1995, II, 5. 417a21-417b2 (zitiert ohne die in spitzen Klammern eingefügten Ergänzungen des Herausgebers).

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

102

Andrea Kern

und Fordern von Gründen, usw. Sowohl die kulturalistische wie auch die naturalistische Position knüpfen an diesen Gedanken an. Beide Positionen sind der Auffassung, dass die Aristotelische Unterscheidung zweier Bedeutungen der Idee von Potentialität zentral ist, um die Behauptungen (1) und (2) miteinander verbinden zu können. Doch beide Positionen interpretieren die Aristotelische Unterscheidung in je unterschiedlicher Weise. Ich will im Folgenden zeigen, wie diese unterschiedlichen Interpretationen mit einem je anderen Verständnis des Sinns der beiden Behauptungen einhergeht, die durch diese Unterscheidung miteinander verbunden werden sollen. 3. Ehe ich dies tue, ist es jedoch sinnvoll, sich zunächst auf einer abstrakten Ebene die gemeinsame Grundlage beider Positionen zu vergegenwärtigen, um auf diese Weise den Gegenstand der Debatte in den Blick zu bekommen. Wir können die gemeinsame Grundlage beider Positionen durch zwei Punkte charakterisieren, die – im Zusammenhang unserer Fragestellung – bedeutsam sind. Beide Positionen teilen den Gedanken, dass das Spezifische des menschlichen Lebens in seiner »Form« besteht. Dieser Gedanke setzt beide in einen Gegensatz zu einem Großteil der zeitgenössischen Philosophie. Denn er besagt, dass man die sogenannte anthropologische Differenz nicht durch die Idee bestimmter Fähigkeiten begreifen kann, von denen man annimmt, dass menschliche Wesen sie haben und nicht-menschliche Wesen nicht. Die Idee, dass die anthropologische Differenz in der Differenz bestimmter Fähigkeiten besteht, ist die zumeist fraglos geteilte Annahme weiter Teile der zeitgenössischen Debatte. Die Aristotelische Grundlage beider Positionen, um die es im Folgenden geht, ist die, dass sie bestreitet, dass man das Spezifische des menschlichen Lebens begreifen kann, indem man bestimmte Fähigkeiten heraushebt, so als würden dem menschlichen Leben einfach andere Prädikate des Lebens zukommen als dem nicht-menschlichen Leben. Das menschliche Leben hat vielmehr eine andere Form des Lebens, durch die es sich grundlegend vom nicht-menschlichen Leben unterscheidet. Was dies genau bedeutet, wird im Folgenden unser Thema sein. Auf einer ersten Ebene, die von beiden Positionen geteilt wird, soll damit folgendes gesagt werden: Es soll damit gesagt werden, dass das Spezifische des menschlichen Lebens in demjenigen besteht, durch das all jene Fähigkeiten, kraft derer ein Mensch lebendig ist, eine Einheit bilden. Denn die Idee einer solchen Einheit – die Einheit eines Lebewesens – ist die Voraussetzung

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

103

dafür, dass wir eine Fähigkeit als etwas verstehen können, das die Antwort auf die Frage ist, was es ist, das ein Wesen lebendig macht. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir auf ein Subjekt Prädikate anwenden können, die wir als Prädikate des Lebens verstehen, wie wir es tun, wenn wir Sätze bilden der Form »S schläft« oder »S verdaut« oder »S hat Hunger«, oder »S wartet auf Beute« etc. Die anthropologische Differenz, so lautet der geteilte Gedanke, liegt nicht in den verwendeten Prädikaten, die von den jeweiligen Lebewesen ausgesagt werden, sondern in der Form ihrer Prädikation. Sie liegt nicht in dem, was von diesen Lebewesen ausgesagt wird bzw. ausgesagt werden kann, sondern in der Weise, wie es von ihnen ausgesagt wird. Werfen wir hierfür einen Blick auf De Anima. Aristoteles unterscheidet bekanntlich drei Formen des Lebens voneinander, das vegetative Leben, das tierische Leben, und das vernünftige Leben. Fragt man nun, wie Aristoteles diese drei Formen des Lebens voneinander unterscheidet, so könnte man auf den ersten Blick meinen, dass Aristoteles diese drei Lebensformen einfach dadurch voneinander unterscheidet, dass er die verschiedenen Fähigkeiten aufzählt, die sie jeweils haben. So schreibt er: Von den Vermögen der Seele kommen die genannten bei den einen (Lebewesen) alle vor, wie wir gesagt haben, bei den anderen einige von ihnen, bei einigen nur ein einziges. Als Vermögen nannten wir das nährende, strebende, wahrnehmende, örtlich bewegende und denkende. Den Pflanzen kommt nur das Nährvermögen zu, den anderen sowohl dieses, als auch das Wahrnehmende.6

Man könnte dies so verstehen, als wolle Aristoteles hier sagen, der Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren bestehe darin, dass Pflanzen nur ein Nährvermögen haben, wohingegen bei Tieren noch ein weiteres Vermögen hinzukommt, nämlich das Wahrnehmungsvermögen. Dasselbe Verständnis einer bloßen Anreicherung von Fähigkeiten könnte auch der folgende Satz nahelegen, wenn Aristoteles, nachdem er Wesen mit Tastsinn und Strebevermögen beschrieben hat, anfügt: »Einigen Lebewesen kommt zu diesen (Vermögen) auch das örtlich bewegende hinzu, wieder anderen auch das denkfähige und die Vernunft, wie den Menschen.«7 Auch diesen Satz könnte man, für sich genommen, so verstehen, als wolle Aristoteles hier sagen, der Unterschied zwischen den einzelnen Lebewesen bestehe darin, dass manche ein paar Vermögen weniger haben als andere und andere eben ein paar Vermögen mehr.

6  Aristoteles 1995, II.3, 414a29-b1. 7  Aristoteles 1995, II.3, 414b16-19.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

104

Andrea Kern

Doch das ist nicht Aristoteles Auffassung. Wenn Aristoteles behauptet, dass zwischen den einzelnen Lebewesen formale Unterschiede bestehen, die derart beschaffen sind, dass er glaubt, drei verschiedene Formen des Lebens voneinander unterscheiden zu können, dann schließt dies den Gedanken aus, dass der Unterschied zwischen dem pflanzlichen und dem tierischen Leben und der Unterschied zwischen dem tierischen und dem vernünftigen Leben einfach darin besteht, dass hier jeweils ein paar weitere Fähigkeiten hinzukommen. Aristoteles ist vielmehr der Meinung, dass der Unterschied zwischen diesen Lebewesen von einer Art ist, die sich nicht auf einzelne Fähigkeiten bezieht, die ein Lebewesen hat oder nicht hat, sondern auf das Prinzip, kraft dessen diese Fähigkeiten Teil der Einheit eines Lebewesens sind. Der Unterschied zwischen diesen Lebewesen ist einer, der das Prinzip betrifft, kraft dessen etwas die Art von Einheit hat, die ein Lebewesen ausmacht, und nicht einer, der die Fähigkeiten betrifft, die Teil einer solchen Einheit sind. Wenn Aristoteles daher die verschiedenen Fähigkeiten beschreibt, durch die eine bestimmte Art von Lebewesen lebendig ist, etwa dadurch, dass er sagt, manche hätten bloß das Nährvermögen, während andere noch ein Wahrnehmungsvermögen hätten, dann will er das nicht so verstanden wissen, als handelte es sich hierbei um unabhängige Teile eines Ganzen – dem Lebewesen –, zu dem man einfach weitere Teile hinzufügen kann. Vielmehr will er sagen, dass diese Fähigkeiten – etwa das Wahrnehmungsvermögen – nur dadurch überhaupt als Fähigkeiten des Lebens verständlich sind, weil sie Teil einer wesentlichen Einheit von Fähigkeiten sind, deren Einheit die Antwort auf die Frage danach ist, was es heißt, dass etwas lebendig ist. Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Arten von Lebewesen ist daher nicht das einer fortschreitenden Anreicherung von Fähigkeiten zu einer immer größer werdenden Einheit. Was sich verändert ist das Prinzip ihrer Einheit, welches Aristoteles ihre »Seele« nennt und das in den drei verschiedenen Formen des Lebens jeweils anders bestimmt ist. Andernfalls müsste man behaupten, es gebe eine einzige, grundlegende Antwort auf die Frage danach, was es heißt, dass etwas lebendig ist, die für alle Lebewesen die gleiche wäre und entsprechend auf alle Lebewesen anwendbar wäre. Und genau das bestreitet Aristoteles, wenn er schreibt: (Es) ist lächerlich, bei diesen wie auch bei anderen Dingen den gemeinsamen Begriff zu suchen, der von keinem der existierenden (Dinge) ein eigentümlicher Begriff sein soll. […] Daher ist im einzelnen zu fragen, welches die Seele eines jeden (Wesens) ist, wie z.B. welches die der Pflanze und welches die des Menschen oder des Tieres.8 8  Aristoteles 1995, 414b25-32.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

105

Der Schritt vom vegetativen Leben zum tierischen Leben ist nach Aristoteles folglich kein Schritt, in dem einfach ein weiteres Prädikat dem Leben hinzugefügt wird – so als käme zur Ernährung nun einfach die Wahrnehmung hinzu. Es ist vielmehr ein Schritt von einem Leben, dessen Einheitsprinzip das Nährvermögen ist und das dadurch einen spezifischen Sinn dessen festlegt, was es für ein solches Wesen heißt, zu leben, hin zu einem Leben, dessen Einheitsprinzip das Wahrnehmungsvermögen ist, in dem das Nährvermögen enthalten ist und damit einen weiteren, spezifischen Sinn dessen festlegt, was es für ein Wesen heißt, zu leben. Einen Sinn, der gegenüber dem Begriff des Lebens, der das pflanzliche Leben charakterisiert, transformiert ist. Und in derselben Weise ist auch der Schritt zum vernünftigen Leben zu verstehen. Der Schritt vom tierischen Leben zum vernünftigen Leben ist kein Schritt, in dem einfach ein weiteres Prädikat des Lebens hinzukommt – so als käme zum Wahrnehmen einfach das Denken hinzu. Es ist ein Schritt hin zu einem Leben, dessen Einheitsprinzip das Vernunftvermögen ist, in dem das Wahrnehmungsvermögen und das Nährvermögen enthalten sind und damit abermals ein weiterer, spezifischer Sinn dessen festgelegt wird, was es für ein Wesen heißt, zu leben. Unsere Frage im Folgenden lautet: Wie ist die Logik dieses Schritts zu verstehen? Was heißt es zu behaupten, dass das Vernunftvermögen die Form des menschlichen Lebens ist? 4. Die kulturalistische Position, die in jüngerer Zeit unter anderem von John McDowell vertreten wird, beantwortet die Frage nach der Vernunft als Form des menschlichen Lebens mit Blick auf die Aristotelische Unterscheidung zweier Bedeutungen von Potentialität wie folgt:9 Der Begriff der Vernunft, so der grundlegende Gedanke, bezeichnet ein System von Fähigkeiten, die durch die Fähigkeit zum Selbstbewusstsein konstituiert sind. Das heißt, es sind Fähigkeiten, die man nur so und nur dadurch haben kann, dass man versteht, was es heißt, sie zu haben. Die paradigmatische Fähigkeit dieses Systems von Fähigkeiten, so McDowell, ist die Fähigkeit, Begriffe in Urteilen anzuwenden, für die man Gründe anführen kann, die diese Urteile als wahr ausweisen. Die Aufgabe von Bildung respektive Erziehung besteht darin, ein Individuum, das diejenigen Fähigkeiten, die dieses System von Fähigkeiten ausmachen, nur der Möglichkeit nach besitzt, in ein Individuum zu verwandeln, das sie tatsächlich besitzt. 9  Siehe vor allem McDowell 1996.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

106

Andrea Kern

Nach dieser Position sind vernünftige Lebewesen das Ergebnis eines Bildungs- respektive Erziehungsprozesses, der ein Wesen, das nur der Möglichkeit nach im Besitz vernünftiger Fähigkeiten ist, in ein Wesen verwandelt, das diese Fähigkeiten tatsächlich besitzt. Menschen sind Lebewesen, die aufgrund dessen, dass sie eine vernünftige Form haben, charakteristischerweise einen Bildungsprozess durchlaufen, an dessen Ende ein vernünftiges Lebewesen steht. Kleine Kinder sind nach dieser Auffassung nur der Möglichkeit nach vernünftige Lebewesen, doch nicht der Wirklichkeit nach.10 Zwei Punkte sind für diese Position kennzeichnend: Erstens die Art und Weise, wie sie den Anfang und das Ende der Erziehung beschreibt. Erziehung beginnt mit einem »bloß biologischen Einzelding« und endet mit einem vernünftigen Lebewesen, das ein »frei handelndes Subjekt« ist.11 Metaphysisch betrachtet besteht hier kein Unterschied zwischen kleinen Kindern und nichtmenschlichen Tieren. Das Grundprinzip ihrer Tätigkeiten wird durch Fähigkeiten beschrieben, die noch nicht jenes System von Fähigkeiten enthalten, das Vernunft ausmacht.12 Zweitens und damit verbunden, ist entscheidend, wie dabei die Rolle von Erziehung verstanden wird: Erziehung wird als ein Prozess verstanden, der eine metaphysische Transformation von einem nichtvernünftigen Wesen in ein vernünftiges Wesen, von einem unfreien Subjekt in ein frei handelndes Subjekt bewirkt. Erziehung, so die Idee, bringt ein metaphysisch verschiedenartiges Individuum hervor. Kennzeichnend für die kulturalistische Lesart der Aristotelischen Unterscheidung sind damit die beiden folgenden Annahmen: Erstens die Annahme, dass es möglich ist, den Begriff des Menschen zu instanziieren, ohne Vernunft zu instanziieren. Und zweitens die Annahme, dass menschliche Entwicklung darin besteht, dass eine Form in einem Lebewesen zur Verwirklichung kommt, das diese Form, bevor Erziehung stattgefunden hat, noch nicht verwirklicht. Folgen wir dieser Position, dann haben der Begriff des menschlichen Lebens und der Begriff des vernünftigen Lebens eine je verschiedene Bedeutung. Obwohl der Begriff des menschlichen Lebens den Begriff des vernünftigen Lebens enthält, sind sie nicht identisch. Denn nach dieser Auffassung ist es möglich, ein Mensch zu sein, ohne zugleich ein vernünftiges Tier zu sein.13 10  Vgl. u.a. McDowell 2009. 11  McDowell 2009, 172, 166 (meine Übersetzung). 12  Dass McDowell keinen wesentlichen Unterschied zwischen Kleinkindern und nichtmenschlichen Tieren macht, wird auch in seinem Essay »Two Sorts of Naturalism« deutlich, in: McDowell 1998. 13  Eine detailliertere Darstellung von McDowells Position und des damit einhergehenden Fähigkeitsbegriffs habe ich in »Human Life, Rationality, and Education« (2020) unternommen (vgl. dort vor allem Abschnitt 3). In »Kant über selbstbewusste Sinnlichkeit und

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

107

5. Der naturalistische Neo-Aristotelismus, wie er in jüngerer Zeit unter anderem von Michael Thompson verteidigt wird, argumentiert dagegen, dass das kulturalistische Verständnis der Aristotelischen Unterscheidung zweier Bedeutungen von Potentialität, wie sie auf das menschliche Leben Anwendung findet, inkohärent ist. Der Vorwurf lautet, dass der kulturalistische Neo-Aristotelismus sowohl die Idee einer formalen Differenz zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, wie sie in der Behauptung (1) ausgedrückt wird, wie auch die Idee einer Differenz der Kinder, wie sie in Behauptung (2) ausgedrückt wird, missversteht. Das kulturalistische Verständnis ist inkohärent, so das Argument, weil es genau jene Idee, die in dieser Deutung die zentrale Rolle hinsichtlich der Erklärung der Vernunft spielen soll, nicht ausweisen kann: die Idee der Erziehung, oder wie McDowell sagt, der Bildung.14 Ich komme auf den Unterschied von Bildung und Erziehung im weiteren Verlauf noch zurück. Für den Augenblick können wir ihn zurückstellen. Das Dilemma, in welches die kulturalistische Position gerät, so lautet der Einwand des naturalistischen Neo-Aristotelikers, besteht darin, dass sie die Frage nach der Natur jener Tätigkeiten, kraft derer ein menschliches Wesen Vernunft erwirbt, prinzipiell nicht beantworten kann. Was ist die Natur jener Tätigkeiten, die ein menschliches Individuum vollzieht, von dem gesagt werden soll, dass es durch diese Tätigkeiten Vernunft erwirbt? Das ist eine sinnvolle Frage für eine Position, die es erlaubt, menschliche Wesen anzunehmen, die derart sind, dass sie die Form der Vernunft noch nicht instanziieren. Sobald wir jedoch mit dieser Frage konfrontiert sind, lässt sich, so das Argument, nicht vermeiden, dass man in ein Dilemma mit Bezug auf die Natur dieser Tätigkeiten gerät, aus dem man sich nicht befreien kann. Denn dann ist man mit den beiden folgenden Alternativen konfrontiert: Man kann dann entweder behaupten, diejenige Tätigkeit, die man vollzieht, wenn man erzogen wird, sei selbst schon eine vernünftige Tätigkeit. Wenn man das behauptet, dann kann Vernunft jedoch nicht ihr Ergebnis sein. Oder man behauptet, es sei keine vernünftige Tätigkeit. Dann aber kann, was immer auch das Ergebnis dieser vernunftlosen Tätigkeit ist, Vernunft nicht ihr Ergebnis sein.

die Idee menschlicher Entwicklung« vergleiche ich McDowells Position mit Kants Auffassung von Selbstbewusstsein und argumentiere, dass Kant auf interessante Weise keine kulturalistische Position vertritt, in: Kern/Kietzmann 2017. 14  Siehe McDowell 1996, 84-88.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

108

Andrea Kern

In den Augen des naturalistischen Neo-Aristotelikers ist der kulturalistische Neo-Aristoteliker inkonsequent, wenn er glaubt, er müsse die Idee einer zweiten Natur bemühen, um die Idee der Vernunft als Teil der menschlichen Natur verständlich zu machen. In seiner Kritik am kulturalistischen NeoAristoteliker schreibt Michael Thompson: The concepts of second nature, practice, culture, habituation and so on are of course of decisive importance in practical philosophy; my difficulty is with the role of concepts of first nature in his (McDowell’s, A.K.) account. We must indeed make some such formal distinction as McDowell expresses in the terms ‘first vs. second nature’. But we must also make a certain formal distinction among first natures. The break with vulgar bald naturalism does not come or does not simply come with an expansion of the concept of a nature that would permit recognition of second natures alongside first; it must come with an expansion of the concept of a first nature that would permit it to cover all that is really contained in such a concept as the human in his theory.15

Nach Ansicht des naturalistischen Neo-Aristotelikers ist jede Position, die leugnet, dass die Vernunft Teil der natürlichen Ausstattung des Menschen ist, verpflichtet anzunehmen, dass die Vernunft eine Form ist, die grundsätzlich auch das Prinzip von Lebenstätigkeiten sein könnte, die nichts mit dem menschlichen Leben zu tun haben. Sie muss annehmen, dass das menschliche Leben nur ein besonderer Fall einer vernünftigen Form des Lebens ist, die sich gleichermaßen auch in einer anderen Lebensform als der menschlichen finden könnte – etwa in einer Lebensform auf dem Mars. Natürlich will der kulturalistische Neo-Aristoteliker nicht bestreiten, dass das menschliche Leben die einzige vernünftige Lebensform ist, die wir kennen. Doch er glaubt, dass die Form des menschlichen Lebens derart ist, dass es möglich ist, den Begriff des menschlichen Lebens und den Begriff dieser Form so voneinander zu lösen, dass das menschliche Leben als eine besondere Art der Gattung vernünftigen Lebens vorgestellt werden kann, die prinzipiell auch andere Arten haben kann. Die kulturalistische Position verpflichtet sich damit auf die beiden folgenden Annahmen: Erstens muss sie annehmen, dass man den Begriff der Vernunft verstehen kann, ohne ihn als eine Beschreibung der Form des menschlichen Lebens zu verstehen. Und zweitens muss sie annehmen, dass man den Begriff der Vernunft verstehen kann, ohne den Begriff der Erziehung zu verstehen. Beide Annahmen hängen intern zusammen. Denn indem die kulturalistische Position sich auf ein Verständnis des Menschen verpflichtet, dem zufolge der Begriff der Vernunft, durch den er analysiert wird, nicht als solcher den Begriff 15  Thompson 2013, 703.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

109

des Menschen enthält, kann sie nicht glauben, dass der Begriff der Vernunft, durch den er analysiert wird, als solcher schon den Begriff der Erziehung enthält. Dadurch kann sie glauben, dass die Frage danach, wie ein Mensch zur Verwirklichung der Vernunft kommt, eine sinnvolle Frage ist. Und sie muss folgern, dass die Behauptung, der Mensch müsse erzogen werden, um vernünftig zu sein, eine gehaltvolle Behauptung ist, die das Verhältnis zwischen dem Vermögen der Vernunft und dem Menschen beschreibt. Sie beschreibt nach dieser Lesart die spezifisch menschliche Art und Weise, die Form der Vernunft zu verwirklichen, neben der prinzipiell auch andere möglich sind. Der naturalistische Neo-Aristoteliker möchte dagegen behaupten, dass der Begriff der Vernunft, durch den das menschliche Leben analysiert wird, nicht vom Begriff des Menschen losgelöst werden kann. Nach dieser Auffassung unterscheidet sich die Art, die ein vollentwickeltes menschliches Individuum instanziiert, metaphysisch nicht von der Art, die Kleinkinder instanziieren. Das liegt ihm zufolge nicht daran, dass Kleinkinder mit Fähigkeiten geboren werden, die der kulturalistischen Position zufolge erst im Laufe ihrer Erziehung erworben werden müssen. Vielmehr liegt das darin begründet, dass der naturalistische Neo-Aristoteliker die Möglichkeit bestreitet, dass der Begriff des Menschen durch etwas anderes analysiert werden kann als etwas, das spezifisch menschlich ist. 6. Die These, die der naturalistische Neo-Aristoteliker verteidigen möchte, ist folgende: Die Idee einer Form des Lebens ist die Idee einer Form sui generis. Sie ist darin genuin und gegenüber anderen Formbegriffen grundlegend, dass es eine Form ist, die als solche die Wirklichkeit dessen erklärt, dessen Form sie ist: in Gestalt von Individuen und Vollzügen, die als Verwirklichungen dieser Form verstanden werden. Es ist dieser explanatorische Sinn, der eine Lebensform von jener Form unterscheidet, die etwa eine Statue hat, wenn sie, z.B., Apollo darstellt. Die Form einer solchen Statue erklärt zwar, warum die einzelnen Teile der Statue so geformt sind, wie sie geformt sind. Doch sie erklärt nicht, warum es diese Teile und also diese Apollo-Statue überhaupt gibt. Was eine Form zu einer Form des Lebens macht, ist, dass sie genau das tut: sie enthält, als solche, ein Prinzip der Erklärung der Wirklichkeit dessen, dessen Form sie ist. Daraus folgt, dass der Begriff der Vernunft, wenn er der Begriff einer Form des Lebens sein soll, einen explanatorischen Sinn haben muss. Er muss ein Prinzip enthalten, das die Wirklichkeit dieser Form des Lebens in Gestalt von Individuen und deren Lebensvollzügen erklärt. Formal lassen sich nun,

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

110

Andrea Kern

so Thompson, zwei verschiedene Prinzipien der Erklärung von Leben voneinander unterscheiden. Die Erklärung durch eine Form des Lebens kann entweder so sein, dass dasjenige, das durch diese Form erklärt wird, sich selbst durch diese Form erklärt und somit die Selbsterklärung eine Bedingung des explanatorischen Sinns dieser Form ist, oder nicht. Die Idee der Vernunft, so können wir daraus schließen, was auch immer sie sonst noch bezeichnen mag, hat ihren grundlegenden Sinn darin, eine solche Form des Lebens zu bezeichnen: eine Form des Lebens, für deren explanatorischen Sinn es konstitutiv ist, dass das Leben, das sie erklärt, sich selbst durch diese Form erklärt. Thompson beschreibt die Idee einer vernünftigen Lebensform und den Kontrast zu einer nicht-vernünftigen Lebensform entsprechend wie folgt: In representing any animal as thinking or as in pain, I bring it to a certain formally distinctive unity; in representing it as bearing self-knowledge of these things, I represent the animal as bringing itself to a unity of the same type. Selfconsciousness is always implicitly form consciousness. [...] [T]his will have to be a feature of the life form itself: it belongs to the prosecution of such life to see things in the light of it, as we might say. Its representation is a part of it.16

Eine vernünftige Lebensform ist eine Form, die dadurch eine Erklärung der Lebenstätigkeiten ihrer Individuen bereitstellt, dass die fraglichen Individuen die Fähigkeit haben, diese Erklärung auf sich selbst anzuwenden. Es ist eine Lebensform, zu deren Begriff es gehört, dass dieser Begriff in Akten der SelbstPrädikation verwendet wird, in denen die fraglichen Individuen ihr eigenes Tun unter Bezugnahme auf ihre Lebensform erklären. Es ist, so können wir sagen, eine wesentlich selbstbewusste Lebensform. Der Begriff der Vernunft, den wir oben zur Charakterisierung der menschlichen Lebensform angewendet haben, hat seine grundlegende Bedeutung nach dieser Auffassung darin, einen spezifischen Sinn dessen festzulegen, was es heißen kann, dass eine Lebensform etwas ist, das sich in und durch die Tätigkeit von Individuen verwirklicht. Seine Rolle ist es, eine Lebensform zu beschreiben, für deren Verwirklichung es konstitutiv ist, dass ihre Träger ein Bewusstsein dieser Form haben. In seiner grundlegenden Verwendung ist der Begriff der Vernunft daher nicht als der Begriff einer bestimmten Fähigkeit zu verstehen, die man von anderen Fähigkeiten unterscheiden könnte, so wie man zum Beispiel die Fähigkeit zur Wahrnehmung von der Fähigkeit zur Urteilskraft oder die Fähigkeit zur Sprache von der Fähigkeit zum Gehen oder zum Schwimmen usw. unterscheiden kann. Der Begriff der Vernunft gibt in dieser Verwendung vielmehr die spezifische Bedeutung an, die 16  Thompson 2013, 727.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

111

die abstrakte Idee der Verwirklichung hat, durch die das Verhältnis zwischen einem Individuum und seiner Lebensform charakterisiert ist. Die spezifische Bedeutung, die die Idee der Verwirklichung hat, wenn sie auf das Individuum einer vernünftigen Lebensform angewendet wird, besteht darin, dass eine vernünftige Lebensform die Lebenstätigkeiten ihrer Individuen auf eine Weise erklärt, die die Fähigkeit der fraglichen Individuen einschließt, diese Erklärung auf sich selbst anzuwenden. Im Falle einer vernünftigen Lebensform nimmt die Idee der Verwirklichung, die das Verhältnis zwischen Individuen und ihrer jeweiligen Lebensform charakterisiert, die Bedeutung an, eine wesentlich erst-personale Form der Erklärung zu beschreiben. Subjekt einer vernünftigen Lebensform zu sein, heißt nach diesem Verständnis, Tätigkeiten zu vollziehen, die ein Bewusstsein der eigenen Form manifestieren, dessen entwickelte Gestalt sodann in der Fähigkeit besteht, das, was man denkt und tut, dadurch erklären zu können, dass man es als eine Verwirklichung eben jener Lebensform vorstellt, die sich in dieser Erklärung manifestiert. Das, so argumentiert der naturalistische Neo-Aristoteliker, ist der formale Begriff einer vernünftigen Lebensform. Er ist formal, weil und insofern er von denjenigen Bestimmungen dieser Form abstrahiert, die in ihm dadurch enthalten sind, dass es um eine Form geht, die verwirklicht ist. D.h. er abstrahiert davon, dass er ein Begriff ist, der als solcher eine Wirklichkeit beschreibt: nämlich eine Wirklichkeit, die unter anderem in der Wirklichkeit von Urteilen besteht, in denen Individuen ihr Denken und Tun dadurch erklären, dass sie es als eine Verwirklichung jener Lebensform vorstellen, deren Wirklichkeit, unter anderem, in diesen Urteilen besteht. Der Begriff einer vernünftigen Lebensform, der von diesen Bestimmungen nicht abstrahiert, ist ihr materieller Begriff. Der materielle Begriff einer vernünftigen Lebensform enthält über die obigen formalen Bestimmungen hinaus diejenigen Bestimmungen, kraft derer der Begriff einer vernünftigen Lebensform eine Wirklichkeit beschreibt, die unter anderem in Urteilen besteht, in denen Individuen diesen Begriff auf sich selbst anwenden. Der Begriff des Menschen, so folgert Thompson aus diesen Überlegungen, ist nichts anderes als dies: Es ist der materielle Begriff einer Lebensform, deren formaler Begriff der Begriff einer vernünftigen Lebensform ist, wie wir ihn oben bestimmt haben.17 Ihr materieller Begriff unterscheidet sich von ihrem formalen Begriff nicht dadurch, dass letzterer die Gattung beschreibt, die menschliches Leben als eine Spezies unter sich begreift. Sondern der Unterschied liegt darin, dass der Begriff des Menschen diejenigen Bestimmungen dieses Begriffs enthält, kraft derer er eine Wirklichkeit beschreibt, die er zugleich erklärt. 17  Vgl. Thompson 2004 sowie 2003.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

112

Andrea Kern

Dies schließt es aus, den Begriff des Menschen auf ein Lebewesen anzuwenden, ohne ihm dabei ein – wie auch immer weit entwickeltes – Bewusstsein von der menschlichen Lebensform zuzuschreiben, in dessen Besitz es kraft dessen ist, dass es Subjekt der menschlichen Lebensform ist. Daraus folgt, dass die Frage, wie ein Mensch Selbstbewusstsein erhält, keinen Sinn hat, wenn sie für die Frage gehalten wird, wie ein Wesen, das noch kein Selbstbewusstsein aufweist, zu einem Wesen wird, das Selbstbewusstsein aufweist. Die Verwendung des Begriffs des Menschen enthält als solche, dass das in Frage stehende Individuum als Subjekt von Lebenstätigkeiten begriffen wird, die Selbstbewusstsein aufweisen. Nach der naturalistischen Lesart der Aristotelischen Unterscheidung zwischen zwei Bedeutungen der Idee von Potentialität verwirklicht ein voll entwickeltes menschliches Individuum in der Tat eine metaphysisch andere Lebensform als jedes nicht-menschliche Individuum. Diesen metaphysischen Unterschied auszuweisen, schließt aber nicht aus, sondern setzt vielmehr den Gedanken voraus, dass schon die Lebenstätigkeiten von Kleinkindern, egal in welchem Entwicklungsstadium und welchem Alter, diesen Unterschied manifestieren. 7. Die kulturalistische Position ist durch den Gedanken motiviert, dass jede Position, die der Erziehung nicht die Rolle einer metaphysischen Transformation von einem sinnlichen Wesen zu einem vernünftigen Tier zuschreibt, zu der Ansicht verpflichtet ist, dass die Fähigkeit zum Selbstbewusstsein, durch die der formale Unterschied zwischen einer bloß tierischen Lebensform und der menschlichen Lebensform charakterisiert wird, eine Fähigkeit ist, die der Mensch »von Natur aus« besitzt, so wie etwa eine Maus die Fähigkeit zum Atmen besitzt. Dass er genau dieses Bild ablehnt, macht den kulturalistischen Neo-Aristotelismus zu einer attraktiven Position. Selbstbewusstsein kann keine angeborene Fähigkeit sein, wendet er ein. Das aber macht das Dilemma unausweichlich, dass wir dann nicht erklären können, wie eine vernünftige Lebensform jemals eine Wirklichkeit sein kann. 8. Der naturalistische Neo-Aristoteliker ist der Ansicht, dass Selbstbewusstsein kein Vermögen ist, für das sich die Frage stellen kann, wie ein einzelnes

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

113

Lebewesen in seinen Besitz gelangt. Diese Frage kann nicht verständlich gestellt werden, weil Selbstbewusstsein als ein Prinzip zu begreifen ist, das eine bestimmte Bedeutung dessen festlegt, was es heißt, Fähigkeiten zu haben, die man in seinen Tätigkeiten verwirklicht. Doch was genau meint der naturalistische Neo-Aristoteliker, wenn er meint, diese Frage sei »nicht verständlich«? Gemäß unserer Darstellung muss diese Position diesen Gedanken so verstehen: Diese Frage kann man deswegen nicht verständlich stellen, weil Selbstbewusstsein zur Natur eines menschlichen Lebewesens gehört, im Gegensatz zu jenen Fähigkeiten und Eigenschaften, die es durch Erziehung und die mit ihr verbundene Art der Übung erwirbt. Aus diesem Grund ist es unmöglich, die Frage nach dem Erwerb von Selbstbewusstsein mit Bezug auf einen Menschen zu stellen, ohne sie bereits beantwortet zu haben. Etwas als menschliches Individuum aufzufassen bedeutet, das Vermögen des Selbstbewusstseins als Teil seiner natürlichen Ausstattung zu begreifen und nicht als etwas, das das menschliche Individuum durch Erziehung und Übung erwirbt. Nur dadurch können wir überhaupt verstehen, so der Gedanke, wie ein lebendiges Individuum für die Art von Tätigkeit empfänglich sein kann, aus der Erziehung besteht. Selbstbewusstsein durch Natur zu erklären, bedeutet für den naturalistischen Neo-Aristoteliker also vor allem, die Art von Erklärung abzulehnen, die der kulturalistische Neo-Aristoteliker in den Mittelpunkt seiner Theorie der Vernunft stellen will, nämlich ihre Erklärung durch Erziehung, respektive Bildung. Die Voraussetzung für dieses Verständnis des Selbstbewusstseins, ebenso wie seine Ablehnung, ist jedoch folgende: Beide Positionen müssen annehmen, dass es sich bei den hierbei konkurrierenden Arten von Erklärung – d.h. die Erklärung von Vermögen eines Individuums »durch Natur« einerseits und die Erklärung ihres Besitzes »durch Erziehung und Übung« andererseits – um zwei Arten der Erklärung handelt, deren Bedeutung unabhängig davon bestimmbar ist, auf welche Lebensform sie angewendet wird. Im Falle der menschlichen Lebensform scheint es für beide Seiten offensichtlich zu sein, dass wir beide Erklärungen anwenden müssen. Einige Fähigkeiten müssen wir als von Natur aus im Individuum vorhanden charakterisieren, andere sind nur durch Übung und Erziehung im Individuum gegenwärtig. Der Streit um die Frage, die beide Positionen bewegt, setzt voraus, dass diese beiden Formen der Erklärung und die in ihnen verwendeten Begriffe der Natur, der Erziehung und der Übung, unabhängig von ihrer Anwendung auf den Menschen eine bestimmte Bedeutung haben, so dass dann die Frage auftauchen kann, in welcher Weise diese beiden Formen der Erklärung auf die verschiedenen Lebensformen Anwendung finden. Die gemeinsame Antwort beider Positionen lautet dann in einem ersten Schritt, dass der Begriff der

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

114

Andrea Kern

selbstbewussten Lebensform beide Formen der Erklärung beinhaltet. Der Streit zwischen beiden Positionen entzündet sich sodann an der Frage, wie man nun das Selbstbewusstsein selbst, das die Form des Menschen ausmachen soll, erklären kann. Der naturalistische Neo-Aristoteliker ist der Meinung, dass wir das Selbstbewusstsein nur dann als die Form des menschlichen Lebens begreifen können, wenn wir das Selbstbewusstsein als etwas betrachten, das menschliche Individuen »von Natur aus« besitzen. Nur auf dieser Grundlage können wir auch ihre Empfänglichkeit für Erziehung verstehen. Der kulturalistische Neo-Aristoteliker hingegen ist der Meinung, dass wir Selbstbewusstsein als etwas betrachten müssen, das man »durch Erziehung und Übung« erwirbt, wofür wir nicht mehr voraussetzen müssen, als dass das Individuum hierfür eine vorherige Empfänglichkeit »von Natur aus« aufweist. Ich denke, die Debatte zwischen beiden Positionen zeigt, dass die Annahme, auf der sie beruht, ein Missverständnis sein muss. Es muss ein Missverständnis sein zu glauben, dass die Begriffe, die wir verwenden, um zwischen zwei Arten der Erklärung des Besitzes von Vermögen zu unterscheiden, eine Bedeutung haben, die unabhängig von der Lebensform bestimmbar ist, die das fragliche Individuum aufweist, auf das diese Begriffe angewendet werden, um seinen Besitz von Vermögen zu erklären. Wenn Aristoteles in grundlegender Weise zwischen drei Lebensformen unterscheidet, dann möchte er genau diese Annahme bestreiten. Er möchte sagen, dass die Bedeutung der Begriffe, die wir in der Unterscheidung der beiden Formen der Erklärung verwenden, abhängig ist von der Lebensform, die das jeweilige Individuum aufweist, um dessen Vermögen es geht. Meine These im Folgenden ist, dass der Streit zwischen der naturalistischen und kulturalistischen Position darin gründet, dass beide den Gedanken nicht zu Ende denken, der gleichzeitig ihr gemeinsames und zentrales Aristotelisches Motiv ist. Ihr gemeinsamer Gedanke ist, dass das Vorliegen von Selbstbewusstsein in einem Lebewesen genau deswegen, weil Selbstbewusstsein zur Form dieses Wesens gehört, die Bedeutung jedes Prädikats des Lebens, das wir auf dieses Wesen anwenden, transformiert, im Vergleich zu jener Bedeutung, die dasselbe Prädikat mit Bezug auf ein Lebewesen hat, das ohne Selbstbewusstsein ist. Diese Einsicht zu Ende zu denken, so will ich im Folgenden zeigen, heißt einzusehen, dass wir die Bedeutung der Begriffe der »Natur« und der »Erziehung« und die Bedeutung ihres Unterschieds nicht unabhängig von der Lebensform bestimmen können, die das betreffende Individuum manifestiert, auf die wir diese Begriffe und die mit ihnen verknüpfte Erklärung anwenden.18 18  Zur weiteren Diskussion transformativer Theorien siehe die Beiträge in Kern/Kietzmann 2017.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

115

9. Eine Lebensform, so haben wir argumentiert, enthält als solche eine Erklärung der Wirklichkeit des Individuums, das diese Form manifestiert. Formunterschiede müssen demnach Unterschiede im Prinzip der Erklärung enthalten, das mit ihnen einhergeht. Wir wollen diese Unterschiede im Prinzip der Erklärung im Folgenden näher bestimmen. Betrachten wir den Fall eines Löwen. Ein Löwe manifestiert eine tierische Lebensform, nämlich die Löwen-Form. Das grundlegende Prinzip einer tierischen Lebensform, durch welches diese sich in den Tätigkeiten der fraglichen Individuen, etwa den Tätigkeiten eines Löwen, verwirklicht, ist die Sinnlichkeit. Durch die Aktivität seiner Sinne bildet der einzelne Löwe eine körperliche Einheit, durch die er sich von anderen Löwen wie auch von Nicht-Löwen unterscheidet. Indem er seine Sinnlichkeit ausübt, verwirklicht er seine Lebensform. Das heißt, er tut das, was Löwen im Allgemeinen tun. Wenn ein Löwe etwa eine Gazelle sieht, dann tut der Löwe das, was Löwen im Allgemeinen tun, wenn sie eine Gazelle sehen: Er jagt sie und frisst sie. Zu jedem sinnlichen Vermögen gehört dabei ein entsprechendes Organ. Zum Sehen gehört das Auge, zum Riechen die Nase, etc. Daraus ergibt sich ein spezifischer Begriff der Entwicklung, die ein Tier durchläuft, wenn es sich von einem Individuum, das seine Lebensform noch nicht vollständig verwirklicht, zu einem Individuum entwickelt, das seine Lebensform vollständig verwirklicht. Es ist der Begriff einer Entwicklung, deren Gegenstand die sinnlichen Vermögen eines Individuums sind, für deren Ausübung jeweils ein bestimmtes Organ wesentlich ist. Die Entwicklung seiner Vermögen muss daher vor allem darin bestehen, dass seine Organe sich entwickeln. Wir können den spezifischen Begriff der Entwicklung, der sich hieraus ergibt, als den Begriff der »biologischen Reifung« bestimmen. Der entscheidende Punkt der Unterscheidung zwischen zwei Bedeutungen der Idee der Potentialität, angewandt auf ein Individuum, das eine tierische Lebensform manifestiert, besteht demnach darin, zwei Stadien eines Prozesses der biologischen Reifung zu unterscheiden: Ausgehend von einem Stadium, in dem ein sinnliches Vermögen noch nicht einsatzbereit ist, hin zu einem Stadium, in dem es durch biologische Reifung einsatzbereit geworden ist. Vermögen von Natur aus zu haben, heißt im Falle einer tierischen Lebensform, Vermögen zu haben, deren Entwicklung wesentlich darin besteht, biologisch zu reifen. Betrachten wir dagegen ein Wesen, das eine vernünftige Lebensform manifestiert. Selbstbewusstsein, so haben wir argumentiert, ist das grundlegende Prinzip einer vernünftigen Lebensform, durch welches sich eine vernünftige Lebensform in den Tätigkeiten ihrer Individuen verwirklicht. Wenn also ein selbstbewusstes Wesen eine Lebenstätigkeit vollzieht, dann tut es

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

116

Andrea Kern

dabei, ganz gleich welches bestimmte Vermögen auch immer es dabei ausübt – etwa Wahrnehmen, Essen, Trinken oder Verdauen –, stets zwei Dinge zugleich: Es verwirklicht einerseits ein bestimmtes Vermögen – z.B. sieht es X – und andererseits bildet es durch diese Tätigkeit, etwa das Sehen von X, den Inhalt jenes Selbstbewusstseins, das es selber ist und das es in allem, was es tut, manifestiert. Der Sinn, in dem jede einzelne Verwirklichung eines Vermögens den Inhalt des Selbstbewusstseins »bildet«, das es manifestiert, ist dabei spezifisch für das, was durch diese Tätigkeit gebildet wird: Die Bildung des Selbstbewusstseins kann nicht darin bestehen, dass das Subjekt das Bewusstsein eines Inhalts erwirbt, von dem es zuvor noch kein Bewusstsein hatte. Denn dann wäre das, dessen es sich bewusst ist, nicht identisch mit ihm selbst. Die Bildung des Selbstbewusstseins kann nicht in einem Zuwachs an Inhalt bestehen. Sie muss vielmehr darin bestehen, dass dem Subjekt die verschiedenen Vermögen, die seine Lebensform ausmachen, in ihrer Verschiedenheit zu Bewusstsein kommen, bis das Subjekt in der Lage ist, sie selbst voneinander unterscheiden und als je bestimmte Vermögen seines eigenen Lebens begreifen zu können. Jede Ausübung eines Vermögens, das zur Natur eines selbstbewussten Wesens gehört, bildet in diesem Sinn zugleich sein Selbstbewusstsein, indem sie dazu beiträgt, dieses Bewusstsein zu differenzieren und dadurch seinen eigenen Begriff für das Subjekt zu entwickeln. Es ist diese Idee der Selbstbildung, die uns den grundlegenden Begriff der Form der Tätigkeit eines selbstbewussten Wesens gibt. Selbstbewusste Wesen, was auch immer sie tun, bilden sich durch ihr Tun selbst. Der Begriff der Erziehung, so werde ich im Folgenden behaupten, hat hier seinen ursprünglichen Ort hat: in der Beschreibung einer spezifischen Gestalt dessen, was in grundlegender Weise eine Tätigkeit der Selbstbildung ist. Die spezifische Gestalt von Selbstbildung, die der Begriff der Erziehung hierbei beschreibt, ist die, bei der es für das Individuum darum geht, einen Übergang zu vollziehen von einem noch nicht vollkommen entwickelten Individuum einer vernünftigen Lebensform hin zu einem vollkommen entwickelten Individuum, das seine Lebensform mit Blick auf seine Entwicklung vollkommen manifestiert. Die Rolle des Erziehungsbegriffs ist es, diesen Übergang zu beschreiben: den Übergang zwischen zwei verschiedenen Entwicklungsstadien des Selbstbewusstseins des Subjekts, der seinen Ausgang nimmt von einem Stadium, in dem das Selbstbewusstsein des Subjekts noch wenig differenziert und begrifflich artikuliert ist, hin zu einem Stadium, in dem es genau dies ist. Aus dieser Bestimmung der Rolle des Erziehungsbegriffs ergibt sich unmittelbar ihre grundlegende Form: In ihrer grundlegenden Gestalt ist Erziehung ein Verhältnis des Lehrens (im weitesten Sinn) und Lernens zwischen

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

117

(mindestens) zwei vernünftigen Wesen, vermittels dessen ein begrifflich noch wenig differenziertes vernünftiges Wesen in den Besitz eines begrifflich differenzierten Bewusstseins jener Lebensform kommt, die beide Subjekte miteinander teilen und die der Grund ihres Erziehungsverhältnisses ist. Damit erweist sich der Begriff der Erziehung als ein logisch notwendiges Element einer vernünftigen Lebensform. Denn er beschreibt die spezifische Weise der Entwicklung der Vermögen eines Lebewesens, das Träger einer Lebensform ist, die sich in Individuen und Tätigkeiten verwirklicht, die ein begrifflich artikuliertes Bewusstsein ihrer Lebensform haben. Seine logische Bedeutung besteht darin, zu beschreiben, was es für ein vernünftiges Lebewesen heißt, seine eigenen Vermögen zu entwickeln: Es heißt, einen Begriff dieser Vermögen zu entwickeln, durch den das Subjekt sein eigenes Tun erklären kann. Worauf es hierbei ankommt ist, dass, ganz gleich ob die Dinge gut mit dem Kind laufen oder nicht, in Bezug auf eine vernünftige Lebensform die Idee der Natur eines Individuums Vermögen beschreibt, deren Entwicklung, als solche, in einem Prozess der Erziehung besteht. Wir können die durch Erziehung erworbenen, begrifflich differenzierten und artikulierten Vermögen des Individuums sodann als seine »zweite Natur« bezeichnen. Dies würde uns ermöglichen zu sagen, dass die Idee der Natur, wenn sie auf vernünftige Wesen angewendet wird, die Bedeutung hat, sich aufzuspalten in eine erste und eine zweite Natur, was im Falle des tierischen Lebens keinen Sinn ergibt. Daraus folgt nicht, dass es nicht Tiere geben kann, die durch Nachahmung ihrer Eltern für sie wichtige Fähigkeiten erwerben. Wie wir aus Beobachtung wissen, ist es für einige Vögel notwendig, sich die Fähigkeit des Nestbaus von ihren Eltern anzueignen. Im Falle der Vögel ist das Lernen durch Nachahmung eine weitere, zusätzliche Weise, in den Besitz bestimmter Fähigkeiten zu kommen, die jene Weise ergänzt, die darin besteht, bestimmte Fähigkeit von Natur aus zu haben. Im Falle vernünftiger Wesen ist das nicht so. Im Falle vernünftiger Wesen ist Erziehung keine zu ihrer natürlichen Ausstattung hinzukommende zusätzliche Weise, bestimmte Fähigkeiten zu erwerben, die sie von Natur aus nicht haben. Sie ist vielmehr die spezifische Gestalt, die die Entwicklung ihrer natürlichen Fähigkeiten annimmt, um das zu werden, was sie ihrer Lebensform nach sind: Fähigkeiten, die einen Begriff von sich selbst haben. 10. Nach der Neo-Aristotelischen Konzeption des Lebens, die beide Positionen teilen, die wir betrachtet haben, beinhaltet jede Vorstellung der Vermögen

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

118

Andrea Kern

eines Lebewesens, dass wir dieses Wesen entweder als Subjekt einer vernünftigen Lebensform oder als Subjekt einer nicht-vernünftigen Lebensform verstehen. Es gibt keine Konzeption von Vermögen, die neutral zwischen beiden steht und auf beide Lebensformen gleichermaßen anwendbar ist. Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, so habe ich behauptetet, dann muss man anerkennen, dass der Begriff der Natur in Anwendung auf Wesen, die eine vernünftige Lebensform manifestieren, eine Bedeutung annimmt, die nicht vom Begriff der Erziehung losgelöst werden kann. In Anwendung auf eine vernünftige Lebensform kann die Unterscheidung zwischen Vermögen, die ihre Träger von Natur aus besitzen, und denen, die sie durch Erziehung und Übung besitzen, folglich nicht so verstanden werden, dass sie eine Grenze zwischen zwei Formen der Erklärung des Besitzes ihrer Vermögen zieht, die logisch unabhängig voneinander sind. Vielmehr müssen wir den Begriff der Erziehung als einen Begriff verstehen, der eine logische Bedeutung hat: Seine Rolle ist es, die Idee der Natur näher zu bestimmen, die auf Individuen einer vernünftigen Lebensform Anwendung hat. Er beschreibt damit nicht etwas, das im Gegensatz zur Idee der Natur steht, sondern ein Moment derselben. Er beschreibt die spezifische Gestalt dessen, was es für Individuen einer vernünftigen Lebensform bedeutet, sich zu einem voll entwickelten Exemplar ihrer Lebensform zu entwickeln. Es liegt auf der Hand, dass der Begriff eines »voll entwickelten Individuums« dabei ebenfalls eine spezifische Bedeutung annimmt. Im Falle einer vernünftigen Lebensform ist damit nicht oder nicht in erster Linie gemeint, dass das Individuum nun diejenigen Fähigkeiten erworben hat, die alle voll entwickelten Exemplare seiner Lebensform haben, wie das bei nicht-selbstbewussten Lebewesen der Fall ist. Vielmehr ist damit gemeint, dass es ein Individuum ist, dessen Selbstbewusstsein einen begrifflich differenzierten Charakter angenommen hat, kraft dessen es seine eigenen Tätigkeiten als eine Verwirklichung der menschlichen Lebensform verstehen und dieses Verstehen in Akten der Selbstprädikation von Fähigkeiten artikulieren kann. Es wäre eine eigene Aufgabe, nun herauszuarbeiten, welche genaue Bedeutung der Begriff eines voll entwickelten Individuums im Falle einer vernünftigen Lebensform im Unterschied zu einer tierischen Lebensform annimmt. Für unser Thema jedoch genügt der obige abstrakte Punkt. Denn er macht deutlich, dass die Unterscheidung zwischen zwei Bedeutungen der Idee von Potentialität, mit der wir begonnen haben, im Falle einer vernünftigen Lebensform eine Unterscheidung zwischen zwei Stadien dessen ist, was vom ersten Moment an als eine spezifische Form der Entwicklung eines selbstbewussten Lebewesens zu begreifen ist: eine Entwicklung, die in Erziehung besteht.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

119

Erziehung in dem Sinn, in dem damit die Entwicklung eines selbstbewussten Wesens beschrieben wird, ist demnach nur bei selbstbewussten Wesen möglich. Nicht, weil nicht-selbstbewusste Wesen aus kontingenten Gründen nicht in diesem Sinn erzogen werden können. Sondern weil der Begriff der Erziehung, der die Entwicklung eines selbstbewussten Wesens beschreibt, intern mit seinem Selbstbewusstsein verknüpft ist. Mit Bezug auf ein nicht-selbstbewusstes Wesen ist seine Anwendung darum widersinnig. 11. Erziehung setzt Selbstbewusstsein voraus. Sowohl auf der Seite des zu erziehenden Individuums wie auch auf der Seite des erziehenden Individuums. Sie setzt Selbstbewusstsein jedoch nicht als ein Vermögen voraus, das grundlegender ist als die Erziehung selbst. Vielmehr setzt Erziehung Selbstbewusstsein in dem Sinn voraus, dass der Begriff der Erziehung die besondere Form der Entwicklung dessen beschreibt, was von der ersten Minute an ein selbstbewusstes Wesen ist. In einem bestimmten Sinn erklärt daher Erziehung das Vorliegen von Selbstbewusstsein. Sie erklärt es jedoch nicht in dem Sinn, dass sie erklärt, wie ein Individuum, das noch kein Selbstbewusstsein hat, dazu gelangt, es zu haben. Sie erklärt es vielmehr in dem Sinn, in dem der Begriff der biologischen Reifung ein erklärender Begriff ist. Erziehung erklärt Selbstbewusstsein, indem sie erklärt, wie jemand, der noch kein voll entwickeltes Individuum einer vernünftigen Lebensform ist, sich zu einem solchen entwickelt. Daraus folgt, dass der Begriff der Erziehung keine Tätigkeit beschreibt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort im Leben eines Kindes einsetzen könnte. Erzogen zu werden bedeutet vielmehr, auf dem Weg zu sein, ein vollentwickeltes Individuum einer vernünftigen Lebensform zu werden. Die Idee der Erziehung, so habe ich dargelegt, beschreibt die spezifische Form der Entwicklung eines selbstbewussten Wesens. Diese besteht in grundlegender Weise darin, dass das zu erziehende Kind vom erziehenden Erwachsenen lernt, einen Begriff seiner selbst als vernünftiges Wesen zu entwickeln. Dies tut es dadurch, dass es vom Erwachsenen lernt, Tätigkeiten zu vollziehen, die für ein vernünftiges Leben charakteristisch sind und deren Vollzug der Erwachsene genau dadurch erklärt. Unter anderem wird es dabei lernen, sein eigenes Tun durch Begriffe zu erklären, die es als Teil einer Beschreibung dessen versteht, was es heißt, ein vernünftiges Leben zu führen. Daraus folgt, dass es ganz richtig ist zu denken, wie McDowell dies tut, dass Urteilen und die damit verknüpfte Form des Erklärens die paradigmatische

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

120

Andrea Kern

Tätigkeit des Selbstbewusstseins ist, mit der die Idee einer vernünftigen Lebensform steht und fällt. Auch nach unserer Auffassung ist das so. Die Idee des Urteilens ist zentral für die Idee einer vernünftigen Lebensform. Aber diese Idee wird beschädigt, wenn man verkennt, dass die Idee des Urteilens in den Kontext eines Verständnisses von Selbstbewusstsein gehört, demzufolge Selbstbewusstsein die Form eines Lebewesens ist, dessen Tätigkeit, als solche, in der Selbstbildung besteht. Nach diesem Verständnis ist Erziehung keine Weise, aus einem nicht-vernünftigen Wesen ein vernünftiges Wesen zu machen, sondern die spezifische Form der Entwicklung eines Wesens, das vom ersten Moment an Tätigkeiten ausübt, die sein Selbstbewusstsein bilden. Damit ist es uns möglich, die beiden eingangs gemachten Behauptungen zu kombinieren: die Behauptung, dass das menschliche Leben eine spezifische Form hat, die durch den Begriff der Vernunft bezeichnet wird, mit der Behauptung, dass ein kleines Kind jene Tätigkeiten noch nicht ausüben kann, hinsichtlich derer wir verstehen, was es bedeutet, vernünftig zu sein, wie etwa zu urteilen, eine Sprache zu sprechen, Gründe anzugeben oder Versprechen einzuhalten. Der Erwerb einer begrifflich bestimmten Fähigkeit, deren Besitz das Subjekt von anderen Fähigkeiten begrifflich unterscheiden und dessen Ausübung es erklären kann, ist in der Tat eine Frage der Übung und der Erziehung im oben beschriebenen Sinne. Aber Selbstbewusstsein, verstanden als das Bewusstsein der Lebensform, die man manifestiert, ist nicht das Ergebnis von Tätigkeiten der Übung und Erziehung. Es ist die Form dieser wie auch jeder anderen Tätigkeiten des Menschen. Als die Form seiner Tätigkeiten kennzeichnet das Selbstbewusstsein die Gesamtheit der Vermögen eines Menschen, einschließlich derjenigen, die er als wie auch immer kleines Kind ausübt, wenn sein Bewusstsein der Lebensform noch nicht von einem anderen Menschen in der Weise gebildet wurde, dass er dieses Bewusstsein begrifflich artikulieren und in entsprechenden Formen des Nachdenkens und Erklärens manifestieren kann. Die Idee der Erziehung beschreibt nach dieser Auffassung keinen Gegensatz zur Natur. Erziehung gehört vielmehr zur Natur des Menschen, indem sie bestimmt, was es für ein vernünftiges Wesen heißt, das vollkommen zu werden, was es immer schon ist. Sie ist daher auch keine Technik oder Kunst, die wir Menschen erfunden haben, nachdem wir herausgefunden haben, dass sich die Vernunft unserer Kinder ohne Erziehung einfach nicht entwickelt. Es gab nichts, was man hier herausfinden konnte oder musste. Wenn eine vernünftige Lebensform darin besteht, dass ihre Individuen durch Erziehung zu dem werden, was sie ohne Erziehung noch nicht vollkommen sind, dann heißt

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Vernunft als Lebensform

121

dies, dass jeder, der in einer solchen Lebensform aufwächst und sich ihr gemäß entwickelt, genau dies immer schon weiß.19 Literaturverzeichnis Aristoteles 1955, Über die Seele (De Anima), hg. von Horst Seidl, Hamburg. Kant, Immanuel 1977, Ü ber Pädagogik, in: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XII, Frankfurt/M. Kern, Andrea 2017, »Kant über selbstbewusste Sinnlichkeit und die Idee menschlicher Entwicklung«, in: Andrea Kern/Christian Kietzmann (Hg.), Selbstbewusstes Leben. Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität, Berlin, 270-301. — 2020, »Life and Mind. Varieties of Neo-Aristotelianism: Naive, Sophisticated, Hegelian«, in: Hegel Bulletin, vol. 41, 40-60. — 2020 (im Erscheinen), »Human Life, Rationality and Education«, in: David Bakhurst (Hg.), Teaching and Learning: Epistemic, Metaphysical and Ethical Dimensions. Journal of Philosophy of Education, 54.2. McDowell, John 1996, Mind and World, Cambridge Mass. — 1998, »Two Sorts of Naturalism«, in: John McDowell, Mind, Value and Reality, Cambridge Mass., 167-197. — 2009, »Towards a Reading of Hegel on Action in the ‘Reason’ Chapter of the Phenomenology«, in: John McDowell, Having the World in View, Cambridge Mass., 166-184. Thompson, Michael 2003, »Three Degrees of Natural Goodness«, in: Iride 38, 191-197. [in italienischer Übersetzung.] — 2004, »Apprehending Human Form«, in: Anthony O’Hear (Hg.), Modern Moral Philosophy, Cambridge, 47-74. — 2013, »Forms of nature: ‘first’, ‘second’, ‘living’, ‘rational’ and ‘phronetic’«, in: Gunnar Hindrichs/Axel Honneth (Hg.), Freiheit: Stuttgarter Hegel Kongress 2011, Frankfurt/M., 701-735.

19  In meinem Aufsatz »Life and Mind: Varieties of Neo-Aristotelianism« diskutiere ich die obigen Spielarten des Neo-Aristotelismus im Kontext von Hegels Auffassung zum Verhältnis von Geist und Leben und lege nahe, dass wir bei Hegel eine ähnliche Auffassung zum Verhältnis von Natur, Selbstbewusstsein und Erziehung, wie ich sie oben entfaltet habe, finden können (vgl. bes. 51-60).

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Die Person als Lebensform Jörg Noller 1.

Die Natur der Person

In der gegenwärtigen Debatte wird die Frage, »was wir grundlegend sind«, kontrovers diskutiert.1 Diese Debatte ist durch zwei entgegengesetzte Standpunkte charakterisiert. Vertreter des Animalismus, wie etwa Eric T. Olson, argumentieren, dass wir wesentlich (menschliche) Tiere sind, und nur unwesentlich bzw. akzidentell Personen.2 Unsere Persistenzbedingungen sind diejenigen eines tierischen Organismus. Wir existieren nur insofern und so lange, wie dieser Organismus lebendig ist, und mit seinem Tod endet unsere Existenz. Daraus folgt, dass unsere Existenz- und Persistenzbedingungen nicht an das (faktische) Vorliegen mentaler Eigenschaften wie etwa Selbstbewusstsein gebunden sind.3 Wir mögen zwar phasenweise personale Fähigkeiten an den Tag legen, doch insgesamt betrachtet – gerade auch mit Blick auf den Anfang und das Ende unseres Lebens – sind wir lebendige Organismen – nichts mehr, aber auch nichts weniger. Dem Animalismus entgegen steht der Konstitutionalismus (»constitutionalism« bzw. »constitution view«), als deren Hauptvertreterin Lynne Rudder Baker (1944-2017) gelten darf.4 Die Konstitutionsthese besagt, dass wir in erster Linie Personen, und nur in zweiter Linie Tiere sind. Genauer besagt sie, dass die Person ontologisch nicht auf einen tierischen Organismus reduziert werden kann (gegenüber der Auffassung des Animalismus), dass aber auf der anderen Seite auch nicht Körper und Person zwei ontologisch getrennt voneinander existierende Dinge darstellen (gegenüber der Ansicht eines Substanzdualismus cartesischer Prägung). Entscheidend für den Status einer Person ist eine spezifische mentale Qualifikation, die Baker als Vermögen einer ersten-Person-Perspektive, der Subjektivität, bestimmt. Sobald ein Organismus eine erste-Person-Perspektive 1  Vgl. dazu neuerdings den Titel von Reuter 2019. 2  Vgl. Olson 2003, 320: »‘Animalism’ is […] the view that we are essentially or most fundamen­ tally animals. We are essentially animals if we couldn’t possibly exist without being animals.« Eine leicht modifizierte Form des Animalismus vertritt neuerdings Reuter 2019. Für einen umfassenden Überblick über Positionen, Argumente und Probleme des Animalismus vgl. Blatti 2019. 3  Vgl. dazu den Untertitel von Olson 1997: »Personal Identity without Psychology«. 4  Zu dieser ontologischen Theorie vgl. allgemein den umfassenden Überblick bei Wassermann 2018.

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_008

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

124

Jörg Noller

ausbildet, tritt eine neue Entität in Gestalt der Person auf, die nicht mit ihm identisch ist.5 Demnach gibt nicht die Biologie unsere Identitätsbedingungen vor, wie dies im Animalismus der Fall ist, sondern eine spezifische Ontologie der Subjektivität. Baker bringt ihre Position durch die Formel »Ontology need not follow biology«6 auf den Punkt und führt dazu weiter aus: [B]iology does not fully reveal our nature. So, perhaps we should say that biology may well reveal our animal nature, but that our animal nature does not exhaust our nature all things considered. Rather, self-consciousness distinguishes us ontologically from the rest of the animal kingdom. This is to say that selfconsciousness – and thus personhood – is an ontologically significant property.7

Diese neue Entität der Person, die durch ihren Körperorganismus zwar konstituiert wird, aber nicht mit ihr identisch ist, ist gemäß dem Konstitutionalismus keine zusätzlich zum Körperorganismus existie­rende Entität, wie dies bei einem Substanzdualismus der Fall ist.8 Baker möchte einen Mittelweg zwischen Animalismus und Substanzdualismus beschreiten. Sowohl der Körperorganismus als auch die durch ihn konstituierte Person haben eine erste-Person-Perspektive, jedoch im Sinne eines differenten Modus des Habens. Baker nennt diesen Modalismus auch »key distinction«9. Demnach hat die Person die erste-Person-Perspektive auf eine unabgeleitete, privilegierte Weise, während der die Person konstituierende Körper sie nur auf abgeleitete Weise, gewissermaßen ›aus zweiter Hand‹ hat. Dementsprechend sind manche mentalen Zustände der menschlichen Person, wie etwa das Hoffen auf ein bestimmtes zukünftiges Ereignis, irreduzibel und primär personaler Natur, während solche mentalen Zustände wie Schmerzen irreduzibel organischer Natur sind, sie aber gleichwohl auch von der Person – auf eine abgeleitete Weise – gehabt werden.10

5   Vgl. Baker 2000, 98: »[W]hen an animal has a first-person perspective or the capacity for one, a new entity comes into being: a person.« 6  Baker 2016, 56. 7  Baker 2002, 387. 8  Vgl. zu neueren dualistischen Auffassungen etwa Swinburne 1997, 145: »I understand by substance dualism the view that those persons which are human beings (or men) living on Earth, have two parts linked together, body and soul. A man’s body is that to which his physical properties belong. If a man weighs ten stone then his body weighs ten stone. A man’s soul is that to which the (pure) mental properties of a man belong. If a man imagines a cat, then, the dualist will say, his soul imagines a cat.« 9  Baker 2016, 53. 10  Vgl. Buchheim/Noller 2016, 162. Für einen historisch-systematischen Überblick über die verschiedenen Begriffe der Person vgl. Noller 2019a.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

125

Die Person als Lebensform

Sowohl Konstitutionalismus wie auch Animalismus weisen gravierende Probleme auf, wenn es darum geht, genau zu bestimmen, was wir eigentlich sind. Der Konstitutionalismus etwa ist von der »too many minds objection«11 bzw. vom »too many thinkers problem«12 betroffen. Dieser Einwand kann durch folgendes Argument weiter plausibilisiert werden: (P1) (P2) (P3) (C)

Presently sitting in your chair is a human animal. The human animal sitting in your chair is thinking. You are the thinking being sitting in your chair. Therefore, the human animal sitting in your chair is you.13

Wenn wir zugeben, dass es ein Tier gibt, welches denkt und welches sich an derselben Raum-Zeit-Stelle wie wir befindet, dann scheinen wir gezwungen zu sein, uns mit diesem denkenden Tier zu identifizieren. Denn andernfalls würden sich zwei denkende Wesen am selben Ort befinden: ein denkendes Tier und wir – als davon verschiedene denkende Person. Wir müssen also, wenn wir den Animalismus ablehnen wollen, eine der Prämissen des obigen Arguments mit guten Gründen zurückweisen. Man könnte hier nun – wie es Baker tut – einwenden, dass das Tier – also unser Körperorganismus – nicht eigentlich, sondern nur auf abgeleitete Weise denkt, und insofern P2 angreifen. Bakers modale Unterscheidung zwischen dem abgeleiteten und dem unabgeleiteten Haben bestimmter Eigenschaften kann diesem Vorwurf jedoch nur bedingt – terminologisch, aber nicht ontologisch – begegnen. Denn wie soll ein Körperorganismus eine erste-Person-Perspektive auf abgeleitete Weise ontologisch haben? Entweder er besitzt sie, oder er besitzt sie nicht. Falls er sie besitzt, dann sind wir denkende Tiere – nichts mehr, aber auch nichts weniger. Falls nicht, so scheinen wir uns als denkende Substanzen verstehen zu müssen, die unabhängig und getrennt von ihrem Körperorganismus existieren. Eine »unity without identity«14 – die raumzeitliche Koinzidenz von Organismus und Person ohne ihre Identität –, wie Baker sie behauptet, ist ontologisch unverständlich.15 Doch auch der Animalismus ist nicht unproblematisch. Denn die Annahme, wir seien wesentlich tierische Organismen, konfligiert mit unserem praktischen Selbstverständnis, wonach wir als Menschen die Fähigkeit zur 11  Shoemaker/Strawson 1999, 291. 12  Parfit 2012, 7. 13  Blatti 2019. 14  Baker 2002, 33. 15  Zum Problem der »coincident objects« im Rahmen des Konstitutionalismus siehe ausführlich Wassermann 2018.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

126

Jörg Noller

freien Selbstbestimmung haben und insofern eine individuelle, unverletzbare Würde genießen. Lynne Baker hat dieses Problem der ontologischen Indifferenz des Animalismus folgendermaßen formuliert: [A]ccording to Animalism […], there is no ontological distinction between us and earthworms. By contrast, I think that metaphysics should tell us about what is fundamental to our being the kind of thing that we are (as opposed to earthworms), and about what is significant about us.16

Diese Auffassung, wonach wir als Personen von anderen Lebewesen kategorisch verschieden sind, teilen auch andere Philosophen. Harry Frankfurt etwa hat dafür argumentiert, dass »one essential difference between persons and other creatures is to be found in the structure of a person’s will.«17 Dieser Wille ist ein freier Wille, der uns autonom und insofern auch verantwortlich handeln lässt. David Shoemaker hat dieses Problem des Animalismus, das in seiner praktischen Unterbestimmtheit besteht, die aus seiner ontologischen Indifferenz folgt, in folgendes Argument gebracht: (1) animalism lacks the proper fit with the set of our practical concerns; (2) if a theory of personal identity lacks the proper fit with the set of our practical concerns, it suffers a loss in plausibility; thus, (3) animalism suffers a loss in plausibility (in particular to psychological criteria of identity).18

Während also der Konstitutionalismus unserem praktischen Selbstverständnis entgegenkommt, insofern er die Rolle des Selbstbewusstseins als ontologisch signifikant für unsere Identität ausweist, sich damit jedoch gravierende ontologische Probleme (wie die »too many minds objection«) einhandelt, kann der Animalismus seine ontologische Überzeugungskraft nur dadurch gewinnen, dass er bezüglich seines Identitätskriteriums vollständig mit der Biologie konform geht und von praktischen und normativen Aspekten unserer Existenz absieht, diese aber gerade mitentscheidend für unser Selbstverständnis – unsere Individualität, Autonomie und Würde – sind. Doch der Begriff der Person ist, wie Daniel Dennett gezeigt hat, »inescapably normative«19. Wie aber können wir einen Begriff unserer Existenz und Persistenz entwickeln, der sowohl ontologisch wie praktisch plausibel ist und die Probleme von Animalismus und Konstitutionalismus vermeidet? Eric T. Olson 16  Baker 2016, 58. 17  Frankfurt 1971, 6. 18  Shoemaker 2016, 303f. 19  Dennett 1976, 193.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Die Person als Lebensform

127

hat auf die Notwendigkeit eines solchen Einheits- oder Koinzidenzbegriffs der Person hingewiesen: [N]o account of our identity has yet been proposed that guarantees […] the coincidence of what is important in our identity with the actual conditions of our identity. […] [A]n account of our identity must be ontologically coherent as well as ethically plausible.20

Auch Daniel Dennett argumentiert für einen Einheitsbegriff der Person: »The moral notion of a person and the metaphysical notion of a person are not separate and distinct concepts but just two different and unstable resting points on the same continuum.«21 Ich werde im Folgenden für einen dritten Weg jenseits von Animalismus und Konstitutionalismus bezüglich der Identität von Personen argumentieren. Dabei werde ich einen Begriff einer personalen Lebensform entwickeln, der die Probleme beider Theorien vermeiden und zwischen Animalismus und Konstitutionalismus vermitteln soll. Die Frage, ob wir wesentlich Personen oder Tiere sind, wird sich dadurch als falsch gestellt erweisen: Wir sind als Personen Lebewesen, doch in der Form und im Vollzug unseres Lebens von anderen Lebensformen verschieden. Der Begriff der personalen Lebensform soll im Folgenden aus ontologischer und praktischer Perspektive weiter expliziert werden. Dabei wird auf die spezifische Form des Lebens fokussiert, welche Personen instanziieren, realisieren und teilen.22 2.

Personales Leben

Der Begriff der personalen Lebensform eignet sich besonders, um die jeweiligen Probleme von Animalismus und Konstitutionalismus zu lösen. Er betrifft sowohl das einzelne Leben wie auch das kollektive Leben im Rahmen einer bestimmten, klar von anderen unterscheidbaren Form. Diese Unterscheidbarkeit liegt in einer Vielzahl von Relationen begründet, welche die Lebensform aufrecht erhält: Es sind nicht einzelne Eigenschaften, die Lebensformen (und ihre Mitglieder) von anderen Lebensformen unterscheiden, sondern generelle Muster oder Züge, die eher Richtungen oder Verhältnisse beschreiben. Michael Thompson hat den Begriff der Lebensform folgendermaßen charakterisiert: 20  Olson 1999, 165. 21  Dennett 1976, 193. 22  Vgl. dazu auch Noller 2019b. Einen lebens(form)zentrierten Ansatz zur Bestimmung der Person unternehmen in unterschiedlicher Ausgestaltung Spaemann 1996, Thompson 2011, Schechtman 2014, Buchheim 2019, Noller 2019b und Wunsch 2019.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

128

Jörg Noller

»[T]he ‘wider context’ of vital description is the life-form«23. Und auch Georg Toepfer bestimmt den Lebensformbegriff aus biologischer Sicht wie folgt: »Eine Lebensform ist ein ökologisch-morphologischer Typ von Organismen, der als Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen entstanden ist. Grundlage für die Zuordnung von Organismen zu einer Lebensform ist somit nicht ihre genealogische Verwandtschaft, sondern ihre Ähnlichkeit in (äußerer) Gestalt und Lebensweise.«24 Lebensformen sind also nicht mit Artbegriffen zu verwechseln, sondern stehen gewissermaßen quer zu diesen, da unterschiedliche Arten dieselbe Lebensform teilen können.25 Die Lebensform betrifft damit relationale Kontextverhältnisse, die weniger Gegenstand der Biologie als der Ökologie sind; die Lebensform betrifft die »Gestalt eines Organismus […], in der sich sein Verhältnis zur Umwelt ausdrückt«26. Dieses »Verhältnis zur Umwelt« lässt sich in einem höherstufigen Sinne personal weiter explizieren.27 Bakers Konstitutionalismus begreift das Verhältnis von Person und leben­ digem Organismus in Analogie zum Verhältnis von Statuen und ihrem Material. Beide sind durch Materie konstituiert, ohne damit identisch zu sein.28 Doch diese Analogie hinkt: Personen sind mereologisch nicht bloße Aggregate von Teilchen, sondern hochkomplexe Organisationen, die durch eine höherstufige Form des Lebens ausgebildet werden. Materielle Teilchen konstituieren nicht einfach von ihnen verschiedene Personen, sondern komponieren sie in der Form des Lebens. Im Unterschied zur KonstitutionsRelation besteht die Kompositions-Relation zwischen materiellen Teilchen und Person in strikter numerischer Identität, so dass sich hier das »too many thinkers problem« nicht stellt.29 Im Gegensatz zu Bakers Konstitutionalismus, der den ontologischen und moralischen Status der Person unabhängig vom Begriff des Lebens, sondern nur durch Bezug auf das Selbstbewusstsein betrachtet, soll im Folgenden ein Begriff des Lebens entwickelt werden, der die Person als eine besondere Form oder Gestalt von Leben verständlich werden lässt. Damit sind zwei Dimensio­

23  Thompson 2011, 58. 24  Toepfer 2011, 484. 25  Für einen solchen Begriff von Lebensform vgl. Buchheim/Noller 2016, 164ff. sowie Buchheim 2019. 26  Toepfer 2011, 484. 27  Vgl. dazu etwa Helmut Plessners (1981, 385) Theorie der »exzentrischen Positionalität«. 28  Baker 2007, 266: »According to the Constitution View […] human persons are wholly constituted by human bodies (= human animals), just as marble statues are wholly constituted by pieces of marble.« 29  Vgl. Lewis 1991, 82.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Die Person als Lebensform

129

nen des Lebens angesprochen: das individuelle personale Leben, das den einzelnen Organismus und seine verschiedenen Vermögen betrifft, aber auch – und untrennbar damit verbunden – die von allen Individuen instanziierte, reali­ sierte und geteilte Lebensform. Durch diese Doppelperspektive auf das Leben kann gegenüber dem Konstitutionalismus erreicht werden, dass Person und Organismus identisch sind, ohne jedoch die praktische Indifferenz des Animalismus und die Vernachlässigung von personalen Akten und Vermögen teilen zu müssen. Dazu soll ein in sich differenzierter Begriff des Lebens entwickelt werden, der unserem ontologischen und moralischen Selbstverständnis von Personen gleichermaßen entspricht.30 Die Position des Animalismus wird sich dabei durch ihre alleinige Konzentration auf den einzelnen Organismus als eine unterbestimmte und abstrakte Form des Lebens erweisen, die nicht zwischen verschiedenen Lebensformen und -stufen – personalen und nicht-personalen – begrifflich zu unterscheiden vermag. Ein komplexer, in sich differenzierter formaler Begriff Lebens erweist sich mithin als geeignete Basis, die jeweiligen Probleme von Animalismus und Konstitutionalismus zu lösen. Leben ist nicht so sehr material zu verstehen, wie es Animalismus und Konstitutionstheorie tun, sondern formal. Diese formale Struktur des Lebens erlaubt es, es durch relationale Anreicherung und Komplexität personal auszulegen und gleichermaßen seine ontologische wie auch moralische Dimension einzubeziehen.31 Der Begriff des Lebens soll im Folgenden deshalb möglichst formal gefasst werden, um ihn dann auf den Begriff der Person anwenden zu können. Durch diese formale Bestimmung ist der im Folgenden verwendete Lebensbegriff vollständig mit einem biologischen Lebensbegriff kompatibel, da er nur innerhalb des relational komplexen Begriffs Lebens weiter differenziert wird, jedoch keine weiteren ontologischen Verpflichtungen eingeht, wie etwa die Annahme immaterieller Substanzen. Ein solch formaler Lebensbegriff findet sich prominent bei John Locke im Kontext seiner Erörterung personaler Identität und wird in Analogie zum Selbstbewusstsein als eine Einheitsform bzw. Einheitsfunktion bestimmt.32 Auch Peter van Inwagen bestimmt Leben als eine besondere Art von selbsterhaltenden und selbstbezüglichen Ereignissen, die es erlauben, eine Entität 30  Zum Selbstverständnis von Personen vgl. Crone 2016. 31  Für einen ähnlichen Ansatz, wenngleich unter Absehung der transformativen Dimension von Personen, vgl. Buchheim 2019, 49ff. 32  Locke, 1975; 11690, 336: »Different Substances, by the same consciousness (where they do partake in it) being united into one Person; as well as different Bodies, by the same Life are united into one Animal, whose Identity is preserved, in that change of Substances, by the unity of one continued Life.«

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

130

Jörg Noller

eindeutig und stabil zu individuieren.33 Der Ausdruck »Leben« bezeichnet nach van Inwagen immer ein konkretes lebendiges Individuum und ist insofern ein zählbares Substantiv (»count-noun«). Genauer genommen sind Leben (im Plural) die einzigen Entitäten, die von materiellen Partikeln im strengen Sinn komponiert werden können, so dass sie mereologisch damit identisch sind (van Inwagen 1990, 82). Doch worin unterscheiden sich Leben von ähnlichen Phänomenen wie selbsterhaltenden Flammen oder Wellen, die ihre Form trotz des Austauschs ihrer Teilchen mehr oder weniger beibehalten und damit persistieren? Während sich Wellen beim Aufeinandertreffen gleicher Phasenlage für einen Moment zu einem Wellenberg aufaddieren können, also dieselben Wassermoleküle zum selben Zeitpunkt zwei Wellen bilden, ist dies im Falle von Leben unmöglich. Leben sind so eifersüchtig (»jealous«), dass die sie komponierenden Teilchen unmöglich zum selben Zeitpunkt zwei Leben komponieren können.34 Die Metapher der Eifersucht bedeutet formal eine Selbstbezüglichkeit, die an ihrer alleinigen Aufrechterhaltung interessiert ist und Zwecke verfolgt, welche alles Lebendige auszeichnet. Leben ist daher kein Zustand, sondern eine permanente Leistung. Doch greift van Inwagens Metapher der Eifersucht als alleinige Charakterisierung des Lebendigen zu kurz. Lebendiges ist nämlich nicht nur durch individuelle ›eifersüchtige‹ Selbstbezüglichkeit charakterisiert, sondern durch seine ökologische Dimension immer fremdbezüglich verfasst, und damit auf eine zweifache Weise relational. Auch diese Relationalität von Leben ist kein bloßer Zustand, sondern eine Leistung, ein Verhalten. Die gesamte Lebensleistung als ›eifersüchtige‹ Selbst- und kommunikative Fremdbeziehung wiederum kann in verschiedenen Formen und Stufungen auftreten. Während einfache Organismen eine rudimentäre Form von Selbst- und Fremdbezüglichkeit aufweisen (sie besitzen kein Selbstbewusstsein und existieren nicht in geordneten sozialen Verbünden), ist die Relationalität bei Personen überaus komplex.35 Nicht nur verfügen sie normalerweise über Selbstbewusstsein, sondern sie beziehen Position in einen personalen Raum, den sie in ihrer Relationalität selbst eröffnen und mit aufrecht erhalten. Vor diesem Hintergrund eines in sich differenzierten, formalen Lebensbegriffs, können Subjektivität und Rationalität als Formen personalen Lebens verstanden werden, ebenso wie komplexe Sozialstrukturen – selbst juristische Personen – in diesem formalen Lebensbegriff fundiert sind. Eine solche formale Lebensfundierung der Subjektivität ist nach Lynne Bakers Konstitutionalismus aber gerade nicht notwendig für Personen. Es 33  van Inwagen 1990, 87. 34  van Inwagen 1990, 88f. 35  Vgl. Buchheim 2019. Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Die Person als Lebensform

131

genügt ihr zufolge allein, dass wir Selbstbewusstsein aufweisen, damit wir Personen sind: A sufficient condition for being a person […] is having a first-person perspective. So, what makes something a person is not the ‘stuff’ it is made of. It does not matter whether something is made of organic material or silicon or, in the case of God, no material ‘stuff’ at all. If a being has a first-person perspective, it is a person.36

Baker (und Locke) ist darin Recht zu geben, dass die Materie, aus der eine Person besteht, für ihre Identität irrelevant ist. Entscheidend für ihre Identität ist vielmehr die Form ihres Lebens. Doch scheint Selbstbewusstsein als Form der Person, wie es John Locke wirkmächtig in den philosophischen Diskurs eingeführt hat, ontologisch zu schwach zu sein, um ihre Persistenz zu begründen. Selbstbewusstsein als solches ist nicht kontinuierlich genug, es weist Lücken auf, etwa dann, wenn wir Schlafen oder uns in einem komatösen Zustand befinden. Unser ontologisch-moralisches Selbstverständnis als Personen impliziert jedoch, dass wir auch in solchen Situationen existieren und eine unverletzbare Würde besitzen. Um das Prinzip des Selbstbewusstseins zu ergänzen, hat Leibniz im Ausgang von Locke personale Identität von der Zuschreibung und Mit-Erinnerung einer Personengemeinschaft abhängig gemacht: »[L]a conscience n’est pas le seul moyen de constituer l’identité personelle, et le rapport d’autruy ou mêmes d’autres marques y peuvent suppléer«37. Selbstbewusstsein weist damit über sich hinaus und schließt andere Personen, die mich als Subjekt und Objekt wahrnehmen können, mit ein. Dieser Vorschlag lebt in gegenwärtigen Narrativitätstheorien fort, nach denen Personen sich selbst und andere durch Erzählungen konstituieren.38 Doch stellt sich hier die Frage nach der ontologischen Einheit dieser verschiedenen Perspektiven. Ein weiteres Problem des Selbstbewusstseins besteht in seiner Zirkularität, auf die bereits Lockes Zeitgenosse Joseph Butler hingewiesen hatte: [A] Person has not existed a single Moment, nor done one Action, but what he can remember; indeed none but what he reflects upon. And one should really think it Self-evident, that Consciousness of personal Identity presupposes, and therefore cannot constitute, personal Identity, any more than Knowledge in any other Case, can constitute Truth, which it presupposes39.

36  Baker 2005, 29f. 37  Leibniz, 1996; 11704, 220. 38  vgl. Schechtman 1996. 39  Butler 1906; 11736, 258. Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

132

Jörg Noller

Selbstbewusstsein ist ontologisch sekundär bzw. parasitär. Es kann sich nicht aus sich selbst heraus begründen und bedarf eines anderen, in dem fundiert ist, um überhaupt auftreten zu können. Hierzu soll im Folgenden auf den Begriff des Lebens rekurriert werden, welches in seiner rudimentären Form als Organismus bereits schwach selbstbezüglich strukturiert ist. Dadurch lassen sich personale Eigenschaften wie Selbstbewusstsein und freie Selbstbestimmung als eine Funktion bzw. als eine höherstufige Form oder Steigerung des Lebens – weiter explizieren.40 Somit kann dem Problem begegnet werden, dass Subjektivität entweder zu schwach ist, um stabile personale Identität zu leisten – dies betrifft alle Narrativitätstheorien – oder aber zu stark gewichtet wird, so dass damit die Persistenzbedingungen von Leben und Person divergieren – dies betrifft Bakers Konstitutionalismus. Doch wie verhalten sich Leben und Selbstbewusstsein genau zueinander? Einen solchen Begriff von Selbstbewusstsein, das nicht einfach auf die menschliche Natur gepfropft wird, sondern in sie so verwoben ist, dass sie dadurch überformt wird, vertreten aktuelle transformative Ansätze.41 Sie fassen Subjektivität nicht als etwas Additives auf, sondern als etwas, was das gesamte Gefüge der Vermögen eines Lebewesens verändert. Matthew Boyle argumentiert etwa dafür, dass Vernünftigkeit keine zur tierischen Existenz modular hinzutretende Eigenschaft oder ein Vermögen ist, sondern vielmehr die tierischen Vermögen auf eine rationale Weise neu konfiguriert. Es handelt sich demnach nicht um eine Eigenschaft, die auf derselben Ebene wie Wahrnehmung oder Wollen angesiedelt ist, sondern eine Eigenschaft zweiter Stufe, die diese Eigenschaften erster Stufe determiniert: »Vernünftig« bestimmt die Art von Rahmen, in dem jede konkrete Beschreibung dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein, verortet ist. Denn sie spezifiziert nicht eine einzelne Eigenschaft, die wir haben, sondern unsere besondere Art, Eigenschaften zu haben. Das ist, glaube ich, die Bedeutung der Aussage, dass ›vernünftig‹ die Form des Menschen charakterisiert. Eine substanzielle Art ist, wie wir gesehen haben, das Subjekt, von dem wesentliche Eigenschaften prädiziert werden; und da, wo wir eine andere Form der Art haben, können die Prädikate, die die Art per se charakterisieren, und folglich die Prädikate, die auf das Individuum nur insofern zutreffen, als diese Individuen zu der entsprechenden 40  Vgl. Jonas 1973, 13f.: »[U]nsere Behauptung ist in der Tat, daß schon der Stoffwechsel, die Grundschicht aller organischen Existenz, Freiheit erkennen läßt – ja, daß er selber die erste Form der Freiheit ist. […] In diesem fundamentalen Sinn genommen kann uns der Begriff der Freiheit in der Tat als Ariadnefaden für die Deutung dessen dienen, was wir ›Leben‹ nennen«. 41  Vgl. Boyle 2016, Boyle 2017.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Die Person als Lebensform

133

Art gehören, eine andere Art von Bedeutung annehmen als die, die sie in der Anwendung auf Arten anderer Form haben würden. Das Prädikat, das eine Lebensform von einer anderen unterscheidet, benennt somit nicht eine konkrete Eigenschaft (oder eine Reihe von Eigenschaften), die bestimmte Spezies von lebendigen Dingen besitzen; es markiert die Möglichkeit einer anderen Form der Prädikation von Eigenschaften des Lebendigseins.42

Wenngleich transformative Ansätze wie derjenige Boyles bezüglich Subjekti­ vität und Rationalität zahlreiche Probleme zu lösen vermögen, insofern sie diese in einer sie fundierenden Lebensbasis ontologisch verankern, so vermögen sie nicht, unser ontologisch-moralisches Selbstverständnis als Personen vollständig einzufangen. Transformative Ansätze fokussieren in der Regel auf den Begriff des Selbstbewusstseins oder des selbstbewussten Lebens,43 nicht aber auf den (Einheits-)Begriff der Person als Lebensform. Boyle versteht seine Überlegungen denn auch nur »als die Skizze eines Programms, den Begriff vernünftiges Tier zu begründen«44 und lässt den Begriff der Person außer Acht. Gegenüber transformativen Ansätzen menschlicher Rationalität und Subjektivität soll im Folgenden der Begriff der Lebensform exponiert werden, der sich als Bezugsrahmen für die ontologische wie moralische Dimension von Personen eignet. Diesen Begriff hat in der gegenwärtigen Debatte Michael Thompson ins Spiel gebracht: [A] life form is like a language that physical matter can speak. It is in the light of judgments about the life form that I assign meaning and significance and point and position to the parts and operations of individual organisms that present themselves to me.45

Die Lebensform liegt allen individuellen Lebensäußerungen zu Grunde: »The life form underwrites the applicability of […] diverse state- and process-types in individual cases.«46 Der Begriff des Lebens wird dabei rein formal gefasst, er ist »a pure or a priori, perhaps a logical, concept«. Er ist »more akin to such logical or quasi-logical notions as object, property, relation, fact, or process.«47 42  Boyle 2017, 98. 43  Vgl. den von Christian Kietzmann und Andrea Kern 2017 herausgegebenen Sammelband »Selbstbewusstes Leben«. 44  Boyle 2017, 118 Fn. 45  Thompson 2005, 54. 46  Thompson 2005, 67. 47  Thompson 2005, 63. Vgl. auch ebd., 65: »The opposition of individual organism and life form is, as we might say, a more determinate form of the opposition of individual and universal in general, and shares the a priori character the latter.«

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

134

Jörg Noller

Thompson betont zugleich, dass der Lebensformbegriff praktische und moralische Dimensionen eröffnet: [C]oncepts like life and life-form inevitably enter even into the properly ethical parts of practical philosophy. Kant’s supreme practical principle is supposed to attach to practical reason somehow generally considered – that is, as something that appears in people, Martians, God and angels alike.48

Vor dem Hintergrund transformativer Ansätze und dem Begriff der Lebensform lässt sich die zweite Prämisse des Animalismus-Arguments (P2) The human animal sitting in your chair is thinking.

auf eine andere Weise als in Bakers Konstitutionalismus kritisieren: Nicht ein menschliches Tier sitzt auf meinem Stuhl und denkt, sondern eine menschliche Person, deren Leben – unter anderem – durch das Denken überhaupt erst qualifiziert und geformt ist und dadurch auch moralische Signifikanz erhält. Personalität ist demnach nichts Akzidentelles, was phasenweise zum menschlichen Organismus hinzutritt und auf ihn reduziert werden kann, wie der Animalismus argumentiert, sondern eine Qualifikation oder ein Modus eines relational hochkomplexen Lebens (einer Lebensform). Gemessen an der relationalen Komplexität der personalen Lebensform erscheint der vom Animalismus betrachtete menschliche Organismus nur als eine Abstraktion oder eine Einengung des Lebens unter Absehung wesentlicher Lebensvollzüge und -kontexte. Personales Leben ist jedoch extensional nicht identisch mit menschlichem Leben, da sehr wohl andere personale Lebensformen außer dem Menschen möglich sind.49 Im Folgenden soll diese überindividuelle Form, die die ontologische und moralische Dimension der Person betrifft, weiter bestimmt werden. Ich werde hierbei nicht an der selbstbezüglichen Struktur des Lebens allein ansetzen, sondern auch an seiner fremdbezüglichen Dimension. Diese fremdbezügliche personale Struktur des Lebens eröffnet und garantiert einen relationalen 48  Thompson 2008, 28. 49  Vgl. auch Frankfurt 2001, 66: »Unser Begriff von uns selbst als Personen darf also nicht als ein Begriff von notwendig artspezifischen Attributen verstanden werden. Es ist denkbar, daß Mitglieder noch zu entdeckender oder auch bekannter nichtmenschlicher Arten Personen sein könnten.« Frankfurt hält es auch für denkbar, dass »daß einige Mitglieder der Spezies ›Mensch‹ keine Personen sind« (2011, 66). Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass zwar nicht alle Personen Menschen, jedoch alle Menschen Personen sind. Zur Kritik des Animalismus als Abstraktion vgl. Schechtman 2014, 203.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Die Person als Lebensform

135

Raum, der sich als normativer Raum der Verbindlichkeit weiter bestimmen lässt, innerhalb dessen Personen (ko)existieren. 3.

Personaler Raum

Transformative Ansätze der Person vermögen die Einheit und Identität von Leben und Person derart zu begreifen, dass personale Vollzüge nicht als etwas Akzidentelles daran erscheinen, sondern selbst Formen oder Manifes­ tationen des Lebens sind. Damit vermeiden sie die gravierenden Probleme des Animalismus und Konstitutionalismus. Durch die alleinige Konzentration auf personale Vermögen und Eigenschaften wie Rationalität und Selbstbewusstsein verlieren transformative Ansätze jedoch leicht die moralische Bedeutung der Person aus dem Blick. Es stellt sich so die Frage, ob Menschen auch dann noch Personen sind, wenn sie kein Selbstbewusstsein mehr besitzen. Um auch in diesem Fall noch von Personen sprechen zu können, hat Marya Schechtman im Rahmen ihrer »person life view« vor allem auf die Lebensform Bezug genommen, die Personen teilen und instanziieren. Ihr zufolge sind unsere Verhaltensweisen »never purely animal […] but are always infused with forensic significance and structure.«50 Schechtman wendet sich dabei ausdrücklich gegen ein additives oder modulares Verständnis von Personen: »A person life is not simply an animal life with some extra capacities or interactions added on. The forensic capacities permeate the whole of our lives, and animal and forensic elements are part of a single integrated whole.«51 Dabei stellt Schechtman auch die Bedeutung personaler Lebensvollzüge heraus: »To be a person is to live a person life; particular persons are individuated by individuating person lives; and sameness of person over time is defined in terms of the sameness of a person life.«52 Entscheidend ist nach Schechtman, dass sich personales Leben immer intersubjektiv realisiert. Dieses Phänomen hat Schechtman als »personspace« bezeichnet: »Being brought into the form of life of personhood may be described as being accorded a place in person-space.«53 Genauer besteht der »person-space« in einer transzendentalen Struktur. Er ist ein »set of practices and institutions that provides the backdrop within which the kinds of activities

50  Schechtman 2014, 132. 51  Schechtman 2014, 119. 52  Schechtman 2014, 7. 53  Schechtman 2014, 114.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

136

Jörg Noller

that make up the form of life of personhood become possible.«54 Der »personspace« ist nicht so sehr ein Zustand oder eine Situation, sondern eine kollektive Leistung: »[T]his infrastructure confers personhood on all humans, including those that lack forensic capacities, and […] this conferral is non-arbitrary.«55 Schechtman berücksichtigt allerdings nicht die Frage, wie genau dieses personale Leben verstanden werden muss und warum die Aufnahme in den Kreis der Personen nicht-willkürlich, sondern vielmehr notwendig sein soll. So stellt sich etwa die – von Schechtman selbst in den Raum geworfene – Frage, warum nicht etwa Haustiere ebenfalls in den Personenstand erhoben werden können. Schechtman argumentiert hier so, dass wir an aporetische Personen, wie ich im Folgenden etwa demente oder komatöse Personen nennen möchte,56 andere Erwartungen richten als an Haustiere. Eine bloße Erwartungshaltung ist jedoch ontologisch und normativ zu schwach, um die starke ontologische These des personalen Lebens begründen zu können.57 Offen bleibt überhaupt die Frage, wie sich personales zu bloß tierischem Leben verhält. Es scheint, dass Schechtman hier einen Lebensbegriff im Sinne einer »zweiten Natur« nach John McDowell gebraucht: »Human beings acquire a second nature in part by being initiated into conceptual capacities, whose interrelations belong in the logical space of reasons.«58 McDowell versteht die zweite Natur im Sinne eines Bildungs- und Sozialisierungsprozesses: »[H]uman beings are intelligibly initiated into this stretch of the space of reasons by ethical upbringing, which instils the appropriate shape into their lives.«59 Wir werden nach McDowell als ›bloße Tiere‹ geboren, jedoch im Zuge eines Bildungsprozesses, der wesentlich mit unserer Sprache zusammenhängt, zu menschlichen Personen transformiert. Er selbst gesteht jedoch, dass diese Transformation von der 54  Schechtman 2014, 113. 55  Schechtman 2014, 131. 56  Marya Schechtman bezeichnet solche Individuen als Personen mit »atypical deve­ lopmental trajectory« (2014, 119). 57  Vgl. Schechtman 2014, 123: »PLV sees humans with atypical developmental prognosis as persons for much the same reason that it sees human infants as persons – because there is a default expectation that such infants will develop into beings with the full complement of forensic capacities; an expectation which is over-ridden in the atypical cases but does not disappear or cease to do work even when we know that expectation will not be met.« Vgl. auch Schechtman 2014, 124: »We do not grant other humans a place in person-space simply because they look like us, we do so because they are embodied like us and this has all kinds of implications for the sorts of interactions we can have with them.« Schechtman bestimmt hier nicht weiter, was sie genau unter »embodied« versteht. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass es die Instanziierung der personalen Lebensform ist. 58  McDowell 21996, XX. 59  McDowell 21996, 84.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Die Person als Lebensform

137

bloß tierischen zur menschlichen Lebensform (»mode of living«) geheimnisvoll (»mysterious«) erscheinen könnte. Tatsächlich zeigen McDowell und Schechtman nicht, wie diese Transformation ontologisch zu verstehen ist. Im Gegensatz zu McDowells und Schechtmans bildungstheoretischen Lebensbegriff möchte ich deshalb im Folgenden an den im vorigen Teil entwickelten formalen Lebens(form)begriff anknüpfen und diesen so weiter entwickeln, dass darunter auch interpersonale Vollzüge fallen. Leben zeichnet sich formal durch Selbst- und Fremdbezüglichkeit aus, und zwar so, dass sich diese Phänomene jeweils qualitativ different in komplexen angereicherten Lebensformen realisieren können. Lebendige Selbstbezüglichkeit ist qualitativ steigerbar zu Formen des Selbstbewusstseins, wie es sich in Personen manifestiert. Lebendige Fremdbezüglichkeit ist nun aber ebenso qualitativ steigerbar wie lebendige Selbstbezüglichkeit, und reicht von bloßen Kooperationen und Verbindungen im Rahmen eines ökologischen Kontextes bis hin zu sprachlich vermittelten normativen Verbindlichkeiten, Gesetzen und Institutionen, die durch Selbstbewusstsein objektiv realisiert werden können.60 Die bloß quantitative Steigerung der personalen Verbindlichkeit erzeugt bestimmte Werte (die steigen oder fallen können), während die qualitative Steigerung der Verbindlichkeit zu einer Konzeption von unantastbarer Würde führt. Personen fallen demnach nicht aus dem Kreis der Personen heraus, wenn ihnen bestimmte personal konnotierte Fähigkeiten abhanden kommen. Einer solchen Ansicht liegt ein additives Modell personaler Existenz zugrunde, wie ihn auch der Konstitutionalismus vertritt: Sobald einem lebendigen Körper das Selbstbewusstsein fehlt, vermag dieser nicht mehr eine Person zu konstituieren und sinkt auf das Niveau von ›bloßen Tieren‹ herab. Nach einem transformativen Verständnis im Sinne einer personalen Lebensform sind dagegen nicht einzelne Vermögen oder Vollzüge des lebendigen Organismus personaler Natur, sondern von Grund auf das gesamte Leben in seiner Ausrichtung – auch aporetische Personen sind demnach personal ausgelegt. Die Aufnahme von aporetischen Personen in den »person-space« ist nicht willkürlich, sondern gründet in der immer schon geteilten Lebensform.61 Die personale Lebensform ist insofern normativ, als aporetische Personen 60  So hat etwa John Searle darauf hingewiesen, dass bestimmte kulturelle Realitäten und Institutionen wie Geld nur durch kollektive Übereinkunft und Anerkennung existieren. Vgl. Searle 2016, 54. 61  Dies schließt nicht aus, dass Personen unter bestimmten Umständen andere Personen fälschlicherweise aus dem Kreis der Personen ausgeschlossen haben und immer noch ausschließen. In diesen Fällen wird strukturell ein additives Personenverständnis zugrunde gelegt oder aber gar aufgrund bestimmter (äußerlicher) Eigenschaften auf das Nichtvorhandensein des Personstatus geschlossen.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

138

Jörg Noller

nicht aus ihrer Kategorie herausfallen, sondern nur an ihr als aporetisch beurteilt werden können. Aporetische Personen sind nie ganz auf der Stufe von Tieren angesiedelt; ihre Grundorganisation ist personal qualifiziert, auch wenn diese quantitativ oder partiell nicht vollständig realisiert ist.62 Auch aporetische Personen existieren deshalb im Modus personalen Lebens, wenn auch in mancher Hinsicht weniger intensiv.63 Der »person-space« lässt sich damit als eine höherstufig lebendige Einheit von Selbst- und Fremdbeziehung verstehen: Aporetische Personen werden dadurch inkorporiert, dass sich die anderen Personen mit ihnen auf Basis der geteilten Lebensform identifizieren. Der Raum der Person ist ein Raum, der normativ besetzt ist. 4.

Personale Existenz

Die zuvor behandelte Frage nach der personalen Lebensform wirft verschiedene Probleme auf. Zum einen kann der Einwand vorgebracht werden, dass hier ein Speziesismus vertreten wird, dass also die Person nur durch ihre Zugehörigkeit zur Art »Mensch« ihre Bedeutung und Würde erhält. Wäre dem so, dann handelte es sich um eine willkürliche Zuschreibung, die Ausdruck eines Anthropozentrismus ist.64 Diesem Einwand kann dadurch begegnet werden, dass die personale Lebensform nicht nur durch Menschen instanziiert werden kann. Es lassen sich andere natürliche Arten denken, deren lebendige Selbst- und Fremdbezüglichkeit ebenso oder sogar noch höherstufiger ausgebildet sind als im Falle des Menschen. Es stellt sich ferner die Frage, ob Personen auch alleine (d.h. außerhalb des personalen Raumes) existieren können, oder ob sie nur im Verbund Personen sind. Bezogen auf den Begriff personalen Lebens bedeutet die alleinige Existenz einer Person, dass sie keine Lebensform mehr teilt, jedoch immer noch auf andere Personen ausgerichtet ist. Personale Existenz ist nicht ein bloßer Zustand eines Individuums, sondern eine Leistung, die im Intendieren, Teilen und Aufrechterhalten einer Lebensform besteht. 62  Vgl. Schechtman 2014, 120: »While it may be that these humans will predictably never engage in forensic interactions, or do many of the other things that mature persons do, they nevertheless live as persons in myriad ways.« Schechtman beschreibt jedoch damit nur den faktischen Umgang mit aporetischen Personen, ohne ihn weiter zu begründen. 63  Dieses Argument ist kompatibel mit biologischen Theorien der DNA, die für menschliche Personen zu einem spezifisch anders gearteten ›Bauplan‹ des Lebens als bei anderen Lebensformen führen. 64  Vgl. Morton 1990, 39: »[T]he view that human life is valuable just because it is human, is a moral mistake« sowie Singer 2002, 6: »Speciesism […] is a prejudice or attitude of bias in favor of the interests of members of one’s own species and against those of members of other species.« Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Die Person als Lebensform

139

Fördervermerk Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten wissenschaftlichen Netzwerks »Ontologien personaler Identität« (NO 1240/3-1). Literaturverzeichnis Baker, Lynne Rudder 2000, Persons and Bodies. A Constitution View, Cambridge. — 2002, »The Ontological Status of Persons«, in: Philosophy and Phenomenological Research 65/2, 370-388. Blatti, Stephan 2019, »Animalism«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2019 Edition), hg. v. Edward N. Zalta, https://plato.stanford.edu/archives/fall2019/ entries/animalism. Boyle, Matthew 2016, »Additive Theories of Rationality: A Critique«, in: European Journal of Philosophy 24/3, 527-555. — 2017, »Wesentlich vernünftige Tiere«, in: Selbstbewusstes Leben Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität, hg. v. Andrea Kern u. Christian Kietzmann, Berlin 2017, 78-119. Buchheim, Thomas/Noller, Jörg 2016, »Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen? Zu Robert Spaemanns philosophischer Bestimmung der Person«, in: J. Kreiml/M. Stickelbroeck (Hg.), Die Person – ihr Selbstsein und ihr Handeln. Zur Philosophie Robert Spaemanns, Regensburg, 145-179. Buchheim, Thomas 2019, »What Are Persons? Reflections on a Relational Theory of Personhood«, in: Jörg Noller (Hg.), Was sind und wie existieren Personen? Probleme und Perspektiven der neueren Forschung, Leiden, 31-55. Butler, Joseph 1906; 11736, The Analogy of Religion, Natural and Revealed, London u.a. Crone, Katja 2016, Identität von Personen. Eine Strukturanalyse des biographischen Selbstverständnisses, Berlin/Boston. Dennett, Daniel 1976, »Conditions of Personhood«, in: A. Oksenberg Rorty (Hg.), The Identities of Persons, Berkeley/Los Angeles/London, 175-196. Frankfurt, Harry G. 2001, »Willensfreiheit und der Begriff der Person«, in: Ders., Freiheit und Selbstbestimmung, hg. v. Monika Betzler u. Barbara Guckes, Berlin, 65-83. Jonas, Hans 1973, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen. Kern, Andrea/Kietzmann, Christian 2017 (Hg.), Selbstbewusstes Leben. Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität, Frankfurt a.M.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

140

Jörg Noller

Leibniz, Gottfried Wilhelm 1996; 11704, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, in: Philosophische Werke in vier Bänden, Bd. 3, Hamburg. Lewis, David 1991, Parts as Classes, Oxford. Locke, John 1975; 11690, An Essay Concerning Human Understanding, Ed. P. H. Nidditch, Oxford. McDowell, John 21996, Mind and World, Cambridge/London. Morton, Adam 1990, »Why there is no Concept of a Person«, in: C. Gill (Hg.), The Person and the Human Mind: Issues in Ancient and Modern Philosophy, Oxford, 3959. Noller, Jörg 2018, »Personale Tiere? Probleme und Perspektiven der analytischen Anthropologie«, in: Philosophische Rundschau 65/1,16-26. — 2019a, Artikel »Person« (dt./engl), in: Online-Lexikon-Naturphilosophie, https:// doi.org/10.11588/oepn.2019.0.65542. — 2019b: »Personale Lebensformen«, in: Jörg Noller (Hg.), Was sind und wie existieren Personen? Probleme und Perspektiven der neueren Forschung, Paderborn, 167-184. Olson, Eric T. 1997, The Human Animal. Personal Identity without Psychology, New York/ Oxford. — 2003, »An Argument for Animalism«, in: Personal Identity, hg. v. Raymond Martin u. John Barresi, Oxford u.a., 318-334. Parfit, Derek 2012, »We Are Not Human Beings«, Philosophy 87/1, 5-28. Plessner, Helmuth 1981, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. v. Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M. Reuter, Gerson 2019, Was wir grundlegend sind. Menschen unter anderen biologischen Einzeldingen. Überlegungen zu unserer Natur und unseren transtemporalen Identitätsbedingungen, Frankfurt a.M. Schechtman, Marya 1996, The constitution of selves, Ithaca/London. — 2014, Staying Alive. Personal Identity, Practical Concerns, and the Unity of a Life, Oxford 2014. Searle, John 2006, »Social Ontology: Some Basic Principles«, in: Anthropological Theory 80, 51-71. Shoemaker, David 2016, »The Stony Metaphysical Heart of Animalism«, in: Stephan Blatti/Paul F. Snowdon (Hg.), Animalism: New Essays on Persons, Animals, and Identity, Oxford, 303-328. Singer, Peter 2002; 11975, Animal Liberation, New York. Spaemann, Robert 1996, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart. Swinburne, Richard 1997, The Evolution of the Soul, Revised Edition, Oxford. Thompson, Michael 2004, »Apprehending Human Form«, in: A. O’Hear (Hg.), Modern Moral Philosophy, Cambridge, Mass, 47-74.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Die Person als Lebensform

141

— 2008, Life and Action. Elementary Structures ofPractice and Practical Thought, Cambridge, MA. Toepfer, Georg 2011, Art. »Lebensform«, in: Ders. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart, 484-496. van Inwagen, Peter 1990, Material Beings, Ithaka /NY. Wassermann, Ryan 2018, »Material Constitution«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2018 Edition), hg v. Edward N. Zalta, https://plato.stanford.edu/ archives/fall2018/entries/material-constitution.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten des Aristotelischen Ethischen Naturalismus Christian Kietzmann Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu essen, bitte sehr! Es macht ihn ein Geschwätz nicht satt, das schafft kein Essen her. […] Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er auch noch Kleider und Schuh‹. Es macht ihn ein Geschwätz nicht warm und auch kein Trommeln dazu. […] Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum hat er Stiefel ins Gesicht nicht gern. Er will unter sich keinen Sklaven sehn und über sich keinen Herrn. Bertolt Brecht

Der Kerngedanke des sogenannten Aristotelischen Ethischen Naturalismus (AEN) besteht in einer These über die Grammatik ethischer Evaluationen.1 Ethische Evaluationen sind Aussagen darüber, dass eine bestimmte Handlung, ein Charakterzug oder eine Person im ethisch-moralischen Sinn gut oder schlecht ist. Solche Aussagen sind, so die Vertreter des AEN, in ihrer Grammatik in vielen Hinsichten mit evaluativen Aussagen über die Lebensvollzüge und Merkmale arationaler Tiere und Pflanzen vergleichbar. Hier wie dort werden einzelne Vorgänge oder Eigenschaften am Maßstab einer Lebensform gemessen und anhand dieses Maßstabes für gut oder schlecht befunden. Der Maßstab der Bewertung soll also in beiden Fällen in einer allgemeinen

1  Diesen Kerngedanken vertreten etwa G.E.M. Anscombe, Peter Geach, Philippa Foot, Rosalind Hursthouse, Anselm W. Müller, Michael Thompson sowie in jüngster Zeit John Hacker-Wright und Micah Lott.

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_009

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

144

Christian Kietzmann

Vorstellung davon zu finden sein, was die Angehörigen einer natürlichen Art, die Exemplare einer Spezies, tun und wie sie beschaffen sind. Die Vertreter des AEN behaupten also, dass Aussagen wie »Du hast gut gehandelt, als Du ihm Deine Hilfe angeboten hast« oder »Paul ist arrogant, herrisch und ungerecht; er ist ein schlechter Mensch« vor dem Hintergrund der Spezies, der Art oder Lebensform Mensch verstanden werden müssen. Diese These stößt jedoch auf eine Reihe von Schwierigkeiten. Ich will in diesem Aufsatz einige dieser Schwierigkeiten genauer untersuchen und dabei ausloten, wie der AEN am besten auf sie antworten kann. Dabei werde ich mich auf zwei Problemkomplexe konzentrieren: erstens metaphysische Schwierigkeiten, die sich an die Fragen knüpfen, ob man überhaupt sinnvoll von Lebensformen in dem Sinn sprechen kann, den der AEN unterstellt, und wenn ja, ob es so etwas auch für den Menschen gibt (§2); sowie zweitens das epistemologische Problem, wie wir diese Lebensform des Menschen gegebenenfalls erkennen können (§3). Zuvor werde ich jedoch noch etwas ausführlicher an einige Kernthesen des AEN erinnern (§1). 1.

Foots Aristotelischer Ethischer Naturalismus

Philippa Foot gilt als die paradigmatische Vertreterin des AEN. Deshalb werde ich mich im folgenden Überblick auf ihre Thesen konzentrieren. In ihrem Buch Natural Goodness grenzt sich Foot von drei Gegnern ab: erstens von G.E. Moores Behauptung, »gut« sei eine einfache, unanalysierbare und nicht-natürliche, d.h. nicht in empirischen Begriffen explizierbare Eigenschaft; zweitens von A.J. Ayers Emotivismus und R.M. Hares Präskriptivismus, die moralische Urteile an subjektive Einstellungen knüpfen; und drittens von Kants Moralphilosophie, die moralische Urteile in reiner praktischer Vernunft gründet. Positiv hält sie eine Erläuterung moralischer Urteile dagegen, die mindestens vier charakteristische Behauptungen beinhaltet: (a) Foot macht sich Peter Geachs Beobachtung zu eigen, dass »gut« im Normalfall attributiv und nicht prädikativ gebraucht werde: die Aussage »NN ist ein guter Lehrer« kann man nicht in die Aussagen »NN ist ein Lehrer« und »NN ist gut« zerlegen, da »NN ist gut« für sich genommen unverständlich bleibt. »Gut« ist nämlich, wie z.B. auch »groß« oder »schnell«, nur im Zusammenhang mit einem Artbegriff verständlich, der einen Maßstab der Bewertung vorgibt. Das gelte nun insbesondere auch für die Bewertung von Lebewesen, ihren Eigenschaften und ihrem Verhalten. Solche Bewertungen beziehen – jedenfalls im begrifflich grundlegenden Fall – ihren Maßstab aus der Lebensform, zu der das bewertete Individuum gehört, und sind damit unabhängig von den Wünschen, Interessen usw. des Bewertenden. Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

145

(b) Moralische Bewertungen von Menschen, ihrem Charakter und ihren Handlungen haben dieselbe grammatische Struktur wie Bewertungen von Lebewesen, ihren Eigenschaften und ihrem Verhalten. Solche Aussagen sind also deskriptiv (statt expressiv oder präskriptiv) und wahrheitswertfähig. Bei moralischen Bewertungen stehe allerdings insbesondere der menschliche Wille im Fokus. (c) Als Tugenden bezeichnen wir diejenigen Charaktermerkmale, die es ihrem Besitzer erlauben, ein guter Mensch zu sein und ein gutes menschliches Leben zu führen. Sie qualifizieren das Handeln, Denken und Fühlen ihres Besitzers, denn sie disponieren ihn dazu, vorgegebene Situationen in bestimmter Weise zu »sehen«, in ihnen bestimmte Umstände als moralisch relevant zu erkennen und in ihrem Fühlen und Handeln angemessen auf diese zu reagieren. Solche Dispositionen sind Tugenden, wenn ihr Besitz für das menschliche Gedeihen erforderlich oder zumindest dienlich ist, wenn es also zu einem gelingenden menschlichen Leben gehört, ihnen entsprechend zu handeln, zu denken und zu fühlen. (d) Unsere praktische Rationalität ist selbst ein Merkmal der menschlichen Natur. Foot übernimmt von Warren Quinn den Gedanken, dass eine angemessene Konzeption praktischer Rationalität nicht auf vorgefassten Meinungen über praktische Gründe beruhen sollte – und dabei insbesondere nicht auf einer neo-humeanischen Konzeption von praktischer Rationalität als optimaler Wunschbefriedigung. Welches Handeln praktisch rational ist, ergebe sich vielmehr daraus, welche Verhaltensdispositionen zum menschlichen Gedeihen beitragen. Mit dieser lebensformspezifischen Konzeption praktischer Rationalität grenzt sich Foot sowohl gegenüber einer humeanischen Vorstellung von Rationalität als auch gegenüber Kants Vorstellung von reiner praktischer Vernunft ab. Im Zentrum dieser Überlegungen steht der Begriff der Lebensform. Foots Kerngedanke lautet, dass sich an diesen Begriff eine besondere Grammatik knüpft, die überall im Reich des Lebendigen und also auch beim Menschen einschlägig ist und unter anderem die Möglichkeit einer besonderen objektiven Art von Bewertung einzelner Exemplare der Lebensform eröffnet. Diese These mit dem Namen »Aristotelischer Naturalismus« oder »Ethischer Naturalismus« zu belegen, mag irreführend sein, denn es ist nicht klar, wie viel das mit Aristoteles zu tun hat und in welchem Sinn eine solche Position naturalistisch genannt werden kann. Beide Fragen brauchen uns jedoch nicht weiter zu interessieren, denn sie sind systematisch kaum von Interesse.2 2  Eine sinnvolle Antwort könnte so lauten: Der AEN ist eine Spielart des Ethischen Naturalismus, weil er Moores pauschale Kritik an den von ihm sogenannten naturalistischen Fehlschlüssen für bestimmte Fälle zurückweist: aus einer allgemeinen faktischen Aussage Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

146

Christian Kietzmann

Wichtig ist hingegen die methodische Behauptung von Foot, dass es ihr nicht um ein Fundierungs-, Begründungs- oder Reduktionsprogramm geht. Foot will keine positive Moraltheorie (wie etwa der Utilitarismus) entwerfen, sie will ethische nicht aus biologischen Tatsachen herleiten oder erstere auf letztere reduzieren, und sie will ethische Urteile auch nicht mit Hilfe »natürlicher«, nicht-normativer Tatsachen begründen. Sie verfolgt vielmehr ein an Wittgensteins Analyse von Sprachspielen angelehntes Programm, das versucht, die grammatischen Strukturen bestimmter Bereiche unserer Sprache und ihre Verwobenheit mit außersprachlichen Praktiken aufzudecken. Es geht Foot darum, ethisches Urteilen verständlich zu machen durch eine Einordnung in die Gesamtheit des menschlichen Lebens und das Aufzeigen von grammatischen Analogien zu anderen Arten der Bewertung, die allgemein für Lebendiges charakteristisch sind. 2.

Metaphysische Schwierigkeiten: Was sind Lebensformen? Gibt es eine Lebensform des Menschen?

Foot knüpft in ihren Überlegungen an Gedanken von Michael Thompson zum Begriff der Lebensform an. Thompson argumentiert, dass unser Denken über und Wahrnehmen von Eigenschaften und Lebensvorgängen individueller Lebewesen immer vor dem Hintergrund einer Vorstellung von einer Lebens­ form stattfindet. Lebensformen werden gedanklich erfasst in Aussagen mit besonderen logisch-grammatischen Eigenschaften, sogenannten naturhisto­ rischen Urteilen, z.B. »Europäische Luchse jagen in der Dämmerung und nachts« oder »Sauerkirschen blühen im April oder Mai«. Naturhistorische Urteile sind weder Allaussagen (nicht alle Europäischen Luchs jagen in der Dämmerung und nicht jeder Kirschbaum blüht im April/Mai) noch Aussagen über statistische Häufigkeiten (wie G.E.M. Anscombe einmal bemerkt, haben Menschen 32 Zähne, obwohl die meisten Menschen faktisch weniger im Mund haben), sondern generische Aussagen.3 Aussagen über konkrete Eigenschaften oder Lebensvollzüge sind Thompson zufolge in drei Hinsichten von naturhistorischen Urteilen abhängig: Erstens sind Aussagen über Lebensformen interpretatorisch grundlegend, denn die Merkmale eines Individuums über die Spezies und einer partikularen faktischen Aussage über die Beschaffenheit eines Individuums folgt ihnen zufolge logisch eine evaluative Aussage. Der AEN ist aristotelisch, insofern er ethische Evaluationen über uns Menschen auf unser Menschsein zurückbezieht und nicht darauf, was wir wollen, woran wir Lust empfinden oder was wir als Personen sind oder sein sollten. 3  Anscombe 1958, 38.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

147

und das, was es tut, werden nur vor dem Hintergrund naturhistorischer Urteile überhaupt als bestimmte Merkmale oder Vollzüge verständlich. So hielt man beispielsweise die Hectocotyli, die sich regelmäßig in den Mantelhöhlen von Papierbooten fanden, lange für eine eigene Art, einen parasitisch lebenden Fadenwurm, bevor man erkannte, dass es sich in Wahrheit um das abgetrennte männliche Geschlechtsorgan dieser Kopffüßer handelt, das nach der Befruchtung in der Mantelhöhle des Weibchens verbleibt. Zweitens sind naturhistorische Urteile explanatorisch grundlegend, denn sie erklären in charakteristischer Weise, warum ein bestimmtes Merkmal vorliegt oder ein bestimmter Vorgang erfolgt. Dass Rehe dämmerungsaktiv sind, erklärt beispielsweise, warum gerade jetzt, in der Dämmerung, ein Reh durch den Wald läuft. Es zeigt, dass das kein Zufall ist, weil solches Verhalten für Exemplare der Lebensform Reh der Normalfall ist und in ihrer Lebensweise einen bestimmten Sinn hat. Drittens liegen naturhistorische Urteile einer spezifischen Art von Bewertung zugrunde. Ein Eurasischer Luchs, der in der Dämmerung jagt, ist so, wie er gemäß seiner Art sein sollte, denn Eurasische Luchse sind Dämmerungs- und Nachtjäger. Würde er am hellichten Tag seiner Beute nachzustellen versuchen, wäre er hingegen als Exemplar seiner Art defekt, also irgendwie krank. Diese dritte Hinsicht, in der naturhistorische Urteile Aussagen über Einzelfälle zugrunde liegen, ist natürlich diejenige, die für Foots metaethische These zentral ist. Naturhistorische Aussagen hängen aber nicht nur mit Einzelfallurteilen zusammen, sondern sind auch untereinander in besonderer Weise verknüpft. Diese Verknüpfung erfolgt nämlich teleologisch, mit Hilfe von Konjunktionen wie »um zu« oder »um willen von«. Das Herz von Hunden pumpt Blut, um so deren Blutkreislauf in Gang zu halten, um ihre einzelnen Körperteile mit Sauerstoff und Nähstoffen zu versorgen und Abfallprodukte abzutransportieren usw. Naturhistorische Urteile bilden durch ihre teleologische Verknüpfung untereinander eine Art Netz, das als Ganzes die Lebensform charakterisiert. Die Einheit einer Lebensform liegt in diesem teleologischen Netzwerk. Es ermöglicht seinerseits teleologische Aussagen im Einzelfall. Eine konkrete Lebensform ist also definiert durch das System von Lebensformaussagen, durch das sie beschrieben wird. Das allein genügt schon, um zu sehen, dass Thompsons Überlegungen nicht auf die Wiederbelebung einer unzeitgemäßen, metaphysisch aufgeladenen aristotelischen Biologie hinauslaufen.4 Thompsons Lebensform-Begriff unterscheidet sich nämlich 4  Für eine Kritik des aristotelischen ethischen Naturalismus, die ihm einen Rückgriff auf Aristoteles’ »metaphysische Biologie« vorwirft, vgl. etwa MacIntyre 2007, 58, 148, 162, 196f.; MacIntyre 2002; Williams 1985, 44, 52; Williams 1993, 161; Leist 2010; Wild 2017.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

148

Christian Kietzmann

grundlegend von Aristoteles’ Begriff des eidos einer natürlichen Art. Das Projekt einer aristotelischen Biologie besteht im Wesentlichen darin, charakteristische (d.h. nur dieser Spezies zukommende) Eigenschaften von Spezies zu identifizieren und diese zu erklären. Aristoteles identifiziert Gruppen zusammengehörender eigentümlicher Merkmale von Arten und versucht dann, zwischen diesen Gruppen explanatorische Beziehungen zu etablieren. Diejenigen eigentümlichen Merkmalsgruppen, die selbst nicht erklärt werden, aber den Rest erklären können, bilden sozusagen die unerklärten Erklärer der Biologie. Sie sind die Wesenheiten oder Formen (eide), die in biologischen Definitionen nach dem Schema Genus – spezifische Differenz erfasst werden.5 Metaphysisch ist daran wohl vor allem die Annahme, dass alle charakteristischen Merkmale einer Art von einem eidos erklärt werden, d.h. im Lichte des eidos als notwendig der Art zukommend erscheinen. Nichts, was Thompson sagt, beinhaltet nun allerdings, Lebensformen in diesem aristotelischen Sinn zu definieren oder auch nur explanatorische Hierarchien innerhalb der Merkmale einer Lebensform zu etablieren. Sein Projekt ist also keine »metaphysische Biologie«, jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem man so etwas bei Aristoteles findet. Thompsons Lebensform Mensch und Aristoteles’ eidos anthropos sind einfach unterschiedliche Begriffe, denn laut Aristoteles erklärt eine Wesensdefinition die übrigen eigentümlichen Eigenschaften einer Spezies, während Thompson zufolge naturhistorische Aussagen, die eine Spezies beschreiben, die arttypischen Merkmale und Verhaltensweisen von einzelnen Exemplaren dieser Spezies erklären. Der Vorwurf, der AEN verlasse sich auf eine überholte metaphysische Biologie, mag noch zwei andere Bedenken beinhalten.6 Zum einen kann er auf die Vorstellung zielen, Spezies seien zeitlose Gebilde. Diese Idee scheint im Widerspruch zu Darwins Einsicht zu stehen, dass natürliche Arten im Laufe der Zeit entstehen und auch wieder vergehen. Thompson behauptet nun tatsächlich, dass naturhistorische Urteile zeitlos sind, d.h. dass diese Aussagen nicht vom Hier und Jetzt (im Gegensatz zu einem Früher oder Später anderswo) handeln. Das ist einfach eine grammatische Charakterisierung solcher Aussagen. Sie steht jedoch nicht im Widerspruch damit, dass Spezies entstehen und vergehen. Sie schließt nämlich nicht aus, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt Populationen der entsprechenden Art zum ersten Mal auftauchen oder zu einem späteren Zeitpunkt auch wieder aussterben. Die Wandelbarkeit natürlicher Arten wird von Thompson also nicht geleugnet, sondern nur in einer bestimmten (und vielleicht ungewohnten) Weise beschrieben. 5  Kullmann 1974, Gotthelf/Lennox 1987, Lennox 2001. 6  Ich danke Sascha Settegast für diesen Hinweis.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

149

Der zweite Punkt, auf den die Kritik an einer metaphysischen Biologie möglicherweise abzielt, ist die Vorstellung einer Teleologie in der Natur. Die Rede von natürlichen Zwecken, so glauben heute viele, müsse entweder auf evolutionsbiologisch akzeptable Begrifflichkeiten zurückgeführt oder ganz aufgegeben werden.7 Zum Teil steht dahinter wohl die Sorge, dass natürliche Zwecke nicht ohne eine Zweckgerichtetheit der Natur im Ganzen und diese wiederum nicht ohne einen göttlichen Zwecksetzer zu haben sei. Diese Sorge ist jedoch unbegründet. Erstens gibt es in Thompsons Bild einzig und allein artimmanente natürliche Zwecke, also teleologische Verknüpfungen zwischen den Lebensvollzügen und Merkmalen innerhalb einer Spezies. Für Thompson sind solche Verknüpfungen gleichsam grammatisch in die Vorstellungen von Leben und Lebewesen eingebaut; diese These werde ich unten noch genauer erläutern. Die Vorstellung einer artübergreifenden oder gar kosmischen Teleologie weist er dagegen zurück.8 Zweitens ist keineswegs klar, weshalb es einer externen Instanz, z.B. eines Schöpfergottes, bedürfen sollte, um solche teleologischen Verknüpfungen verständlich zu machen. Das kann wohl nur jemand glauben, der implizit der Auffassung ist, der einzige intellektuell respektable Zweckbegriff sei der, den wir aus unserem Handeln kennen und der irgendwie auf Gegenstände der theoretischen Erkenntnis projiziert werde, wenn man ihre Merkmale oder ihr Verhalten als zweckmäßig begreift. Diese Auffassung übersieht jedoch, dass wir einen anderen Zweckbegriff schon dort bemühen müssen, wo es darum geht, verständlich zu machen, was es bedeutet, nach Zwecken zu handeln.9 Zurück zu Thompsons Begriff einer Lebensform. Er unterscheidet sich nicht nur signifikant von Aristoteles’ eidos-Begriff, sondern ebenfalls deutlich vom Artbegriff der modernen Evolutionsbiologie. Nach Ernst Mayrs einflussreicher Definition sind Arten Gruppen von sich wirklich oder potentiell untereinander vermehrenden Populationen, die von anderen derartigen Gruppen hinsichtlich ihrer Fortpflanzung isoliert sind.10 Mayr definiert Arten also als Fortpflanzungsgemeinschaften. Eine Artklassifikation vollzieht damit evolutionäre Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse nach. In Thompsons Artbegriff ist aber Fortpflanzung nur eines von vielen Artmerkmalen, das gegenüber allen anderen in keiner Weise ausgezeichnet ist. Außerdem handeln 7   Innerhalb des begrifflichen Rahmens der Evolutionsbiologie definiert etwa Millikan 1984 den Begriff einer »proper function«. 8  Bedenkenswerte Argumente für eine teleologische Entwicklungsrichtung des Natur­ ganzen gibt allerdings Nagel 2012. Auch er will jedoch ohne einen Schöpfergott auskommen. 9  Dafür argumentiert eindrucksvoll Müller 1992. 10  Mayr 1942, 120.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

150

Christian Kietzmann

naturhistorische Urteile nicht von Populationen, sondern von abstrakten Gegenständen, eben von Lebensformen. Lebensformen in Thompsons Sinn und natürliche Arten im Sinn der Klassifikation der modernen Biologie sind also ganz und gar nicht dasselbe und es ist deshalb auch nicht ausgemacht, dass die Klassifikationen, die sich daraus jeweils ergeben, deckungsgleich sein werden. Thompsons Lebensform Mensch und Mayrs natürliche biologische Art Homo sapiens sapiens sind nicht dasselbe, es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Begriffe. Schon aus diesem Grund wäre es ein Missverständnis, hinter der Inanspruchnahme von Thompsons Lebensformbegriff durch den AEN den Versuch einer biologistischen Erklärung oder gar Reduktion ethischer Normativität zu vermuten. Der Kerngedanke des AEN ist nicht biologistisch, weil er sich auf keinen Begriff aus der Biologie stützt.11 Wie sind Thompsons Thesen zum Begriff der Lebensform dann aber gemeint? Den metaphysischen und epistemologischen Status dieses Begriffs erläutert Thompson in Anlehnung an Kant und Hegel. Er schlägt vor, dass »concepts like life, life-form, …, have something like the status Kant assigned to ›pure‹ or a priori concepts« (Thompson 2008, 6). Sie sind, mit anderen Worten, Begriffe, die keine Denkinhalte ausdrücken, sondern Formen des Denkens artikulieren, die konkrete Inhalte aufweisen müssen, um als Inhalte des Denkens verständlich zu sein. Kant zufolge ist etwa Kausalität, das Verhältnis von Ursache und Wirkung, eine Kategorie, die nicht aus der Erfahrung stammt, sondern vielmehr in jeder möglichen Erfahrung vorausgesetzt, in ihr quasi immer schon investiert ist.12 Wir können, so Kant, über die Wirklichkeit nur so denken, dass wir in ihr Kausalverhältnisse vorfinden. Das liegt aber nicht daran, wie die Wirklichkeit an sich selbst beschaffen ist, sondern daran, wie unser Denken beschaffen ist und welche Denkformen wir notwendig an die Wirklichkeit herantragen. Für Kant sind Leben bzw. Lebensform allerdings keine solchen reinen Begriffe, die unser Denken über die Wirklichkeit notwendig strukturieren. Thompson, wie vor ihm schon Hegel, widerspricht ihm hierin jedoch. Für Thompson und Hegel hat auch der Begriff des Lebens den Status einer Kategorie.13 Das bedeutet erstens, dass wir Lebendiges nur insofern denken und wahrnehmen können, als wir die entsprechenden Denkformen auf sie anwenden. Was Leben ist, im Gegensatz etwa dazu, was z.B. ein Andenkondor oder eine Steineiche ist, ergibt sich nicht 11  Wild 2017 sieht ganz richtig, dass am AEN im Grunde nichts naturalistisch ist, wenn man unter Naturalismus eine philosophische Anknüpfung an die Begriffe der modernen Naturwissenschaften, speziell der Evolutionsbiologie, versteht. 12  Vgl. Thompson 2004, 63-65. 13  Vgl. Thompson 2008, 16 und 25-27.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

151

aus den Inhalten unserer Erfahrung, sondern ist in dieser Erfahrung schon vorausgesetzt.14 Zweitens bedeutet es, dass diese Denkformen nicht optional sind, sondern dass wir notwendig immer auch diese Brille aufhaben, wenn wir auf die Wirklichkeit blicken. Thompsons Idee ist also, dass wir Lebewesen überhaupt nur als solche erfassen, in unserem Denken und Wahrnehmen repräsentieren können, wenn wir sie und ihre Merkmale und Lebensvollzüge auf eine bestimmte Lebensform beziehen. Die spezifischen Formen der Repräsentation und ihre wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisse sind dann aber nicht einfach eine Weise unter anderen, über Lebewesen nachzudenken, die sich womöglich im Lichte neuer Erkenntnisse als überholt oder nicht mehr zeitgemäß erweisen kann. Es handelt sich bei diesen Denkformen vielmehr um eine Bedingung der Möglichkeit für jede andere (z.B. wissenschaftliche) Weise, über Leben nachzudenken. Denn nur die von Thompson beschriebenen Formen der Repräsentation stellen sicher, dass das, worüber etwa die biologischen Wissenschaften sprechen, Leben und Lebendiges ist. Diese Denkformen sind damit zwangsläufig immer auch logische Voraussetzung wissenschaftlicher Spezies-Begriffe wie etwa die von Aristoteles oder von Ernst Mayr.15 Wenn der AEN von der Lebensform des Menschen spricht, dann ist so etwas gemeint. Aber gibt es das überhaupt im Fall des Menschen? Kann man naturhistorische Urteile über den Menschen identifizieren?16 Erst einmal spricht wenig dafür: Menschen haben kein festes Habitat, sie leben in den unterschiedlichsten Klima- und Vegetationszonen, von den Subpolarregionen Grönlands und Kanadas bis zu den Tropen am Äquator, von Permafrostregio­ nen bis zum tropischen Regenwald und den großen Wüsten. Die Populationen in den jeweiligen Regionen sind in ihrer Lebensweise natürlich sehr gut an die jeweiligen Umweltbedingungen angepasst. Diese Anpassung schlägt sich aber nicht in unterschiedlichen spezifischen Artmerkmalen nieder, sondern sie ist eine kulturelle Leistung. Die arttypischen Eigenschaften der menschlichen Spezies sind deshalb nicht als funktionale Anpassung ihrer natürlichen Ausstattung an ein spezifisches Habitat verständlich, wie das bei anderen Spezies der Fall ist. Über die Art Mensch können wir erst einmal nur wenig sagen. Dazu gehört erstens, dass die natürliche Ausstattung von Menschen relativ dünn ist; Menschen sind im Gegensatz zu anderen Tieren »nicht fest verdrahtet«, denn die meisten Verhaltensdispositionen von Menschen sind nicht einfach 14  McDowell 2009 behandelt Leben als kategorialen Begriff, der menschliche sinnliche Wahrnehmung durchformt. 15  Vgl. dazu auch Kietzmann 2018a. 16  Diese Frage wirft auch Foot 2000, 92-93, auf.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

152

Christian Kietzmann

angeboren, sondern entwickeln sich nur unter dem Einfluss von Prägung und Lernen. Zweitens ist das Verhalten von Menschen reflexiv gebrochen. Menschen handeln nicht nur gemäß Gründen, sondern aus Gründen. Deshalb ist alles, was sie tun, offen für eine reflexive Überprüfung im praktischen Nachdenken. Drittens brauchen Menschen Prägungen und Lernerfahrungen sowie praktisches Nachdenken, um die besonderen kulturspezifischen Verhaltensweisen auszubilden, die es ihnen ermöglichen, in den unterschiedlichsten Habitaten zu leben. Diese drei Punkte gehören zusammen: die große Flexibilität in der Anpassung an unterschiedlichste Umweltbedingungen ist nur dadurch möglich, dass die natürliche Ausstattung des Menschen relativ unspezifisch ist und der kulturellen Überformung und Ergänzung bedarf. Umgekehrt erzwingt die »mangelhafte« natürliche Ausstattung des Menschen aber auch eine solche ergänzende »Kompensation«.17 Entsprechend wird manchmal zwischen zwei Naturen des Menschen unterschieden, einer ersten Natur, die die naturwüchsige, angeborene Ausstattung des Menschen umfasst, und einer zweiten Natur kultureller Lebensformen. Ihre zweite Natur erwerben Menschen im Laufe ihrer Sozialisation, indem sie in bestehende soziale Praktiken, ein Geflecht von tradierten Normen und Verhaltensweisen, eingeführt werden und so lernen, bestimmte Überlegungen als Gründe anzusehen und ihnen entsprechend zu handeln.18 Die generischen Aussagen mit interpretativer, explanatorischer und evaluativer Potenz, mit denen wir es zu tun haben, wenn wir Handlungen und den Willen von Menschen bewerten, erfassen eher Ensembles solcher Praktiken, d.h. zweite Naturen. Lebensformen sind damit beim Menschen unhintergehbar kulturelle Gebilde. Es liegt dann nahe, solche erworbenen zweiten Naturen mit einer ersten Natur des Menschen zu kontrastieren, die dessen naturwüchsige Ausstattung umfasst. Man würde dann erwarten, dass zu dieser Ausstattung sowohl bestimmte körperliche Merkmale gehören als auch diejenigen Merkmale des Menschen, die gleichsam die angeborene »Infrastruktur« für den Erwerb einer zweiten Natur bildet. Zu dieser Infrastruktur zählt vermutlich insbesondere die besondere Sozialität des Menschen, seine Fähigkeit und Neigung zu kooperativem Verhalten und intersubjektivem Perspektivwechsel, die sowohl kulturelles Lernen als auch die Ausbildung von Traditionen und überzeitlichen Normen, propositionaler Sprache und objektivem Denken

17  So die zentrale These von Gehlen 1962. 18   Einen solchen Naturalismus der zweiten Natur vertritt etwa John McDowell; vgl. McDowell 1994 und 1998a.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

153

ermöglichen.19 In der zeitgenössischen philosophischen Debatte wird der Begriff der ersten Natur aber überraschender Weise etwas anders gebraucht.20 John McDowell, der die Unterscheidung von erster und zweiter Natur wiederbelebt hat, erläutert sie vor dem Hintergrund einer (von Kant inspirierten und von Wilfrid Sellars übernommenen) Unterscheidung zwischen einem objektiven, durch kausale Zusammenhänge gegliederten und normfreien »realm of law« einerseits und dem nur von innerhalb einer rationalen Perspektive erfassbaren, durch das konstitutive Ideal der Rationalität gegliederten und normativen »space of reasons« andererseits. Zweite Naturen gehören für ihn in diesen Raum der Gründe, während erste Naturen im Reich der Naturgesetze angesiedelt sind.21 Die erste Natur des Menschen umfasst für McDowell also all diejenigen Aspekte des Menschseins, die sich naturwissenschaftlich beschreiben lassen. Michael Thompson protestiert gegen diese Begriffsbildung.22 Ihm zufolge gibt McDowell seinem naturalistischen Gegner zu viel zu, wenn er den Begriff der ersten Natur für die naturwissenschaftlich objektivierbare Seite des Menschen reserviert. Für Thompson ist die erste Natur des Menschen vielmehr eine wesentlich vernünftige Speziesnatur, die sich nur aus der Innenperspektive ihrer Angehörigen, gleichsam reflexiv und durch die verschiedenen kulturellen Lebensformen hindurch, angemessen erfassen lässt. Die erste Natur des Menschen bildet damit so etwas wie den Kern seiner zweiten Naturen. Ich werde die Begriffe einer ersten und zweiten Natur des Menschen im Folgenden im Sinne von Thompson gebrauchen. Doch warum sollten wir davon ausgehen, dass es einen solchen Kern des Menschseins überhaupt gibt? Ich will hier eine schwache empirische und eine starke begriffliche Antwort auf diese Frage kurz skizzieren. Die schwache, empirisch fundierte Antwort lautet, dass es faktisch über kulturelle Grenzen und historische Abstände hinweg relativ stabile invariante menschliche Grundbedürfnisse gibt. Martha Nussbaum hat beispielsweise immer wieder dafür argumentiert, dass sich solche Bedürfnisse aus allgemein menschlichen Grundbefähigungen ergeben, die jeder Mensch braucht, um ein gelingendes Leben zu führen. Nussbaum versucht, eine (offene) Liste solcher Grundbefähigungen zu identifizieren und Belege dafür anzuführen, dass jede

19  Michael Tomasello hat vorgeschlagen, dass die Fähigkeit zu Kooperation und sozialer Kognition der menschlichen Kultur, menschlichem Denken und Sprechen sowie menschlicher Moral zugrunde liegt. Vgl. Tomasello 1999, 2008, 2014 und 2016. 20  Darauf hat mich Sascha Settegast hingewiesen. 21  Siehe McDowell 1994, 84-88. 22  In Thompson 2013, 702-703.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

154

Christian Kietzmann

von ihnen in allen menschlichen Kulturen als etwas Erstrebenswertes gilt.23 Wenn das stimmt, dann gibt es so etwas wie einen normativ gehaltvollen Kern der menschlichen Natur, der sich in allen menschlichen Kulturen wiederfinden lässt. Eine stärkere, begrifflich begründete Antwort auf unsere Frage versucht zu zeigen, dass nicht Beliebiges als kulturelle Lebensform, als zweite Natur, verständlich ist. Solchen transzendentalen Argumenten zufolge sind Gemeinsamkeiten, die über geteilte zweite Naturen hinausgehen, die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass andere, fremde zweite Naturen überhaupt als solche verständlich sind und das auf ihnen beruhende Denken und Handeln als solches intelligibel werden kann.24 Und eine solche Gemeinsamkeit ist das geteilte Menschsein, im Sinne einer geteilten ersten Natur. Nehmen wir also an, es gibt neben den zweiten Naturen auch noch eine gehaltvolle erste Natur des Menschen, die gewissermaßen den Kern dessen bildet, was uns als zweite Natur begegnet oder begegnen kann. Wie müssen wir dann das Verhältnis von erster und zweiter Natur beschreiben? Was genau bedeutet die Metapher von einem »Kern«? Ich möchte vorschlagen, dass sich die erste zur zweiten Natur in vielen Hinsichten so verhält wie ein determinable zu seinen determinates, also etwa der determinable »Farbe« zu seinen determinates »rot«, »grün«, »blau«, »gelb« usw.25 Ein Gegenstand kann nicht einfach nur farbig sein; dass er farbig ist, bedeutet, dass er einen bestimmten Farbton hat. Umgekehrt ist jeder blaue, grüne usw. Gegenstand aber immer auch farbig. So auch im Fall der ersten und zweiten Natur des Menschen: ein (erwachsener) Mensch kann nicht einfach nur Mensch sein, ohne eine bestimmte zweite Natur aufzuweisen; dass er Mensch ist, bedeutet, dass er eine solche zweite Natur erwirbt oder erworben hat. Andererseits ist jeder, der eine solche zweite Natur besitzt, damit auch Mensch. Ein Aspekt des menschlichen Lebens, an dem dieses Verhältnis von erster und zweiter Natur besonders klar hervortritt, ist die menschliche Sprache.26 Es gibt nicht »die« menschliche Sprache, sondern nur einzelne Sprachen; und jeder menschliche Sprachverwender ist ein solcher, weil er eine (oder mehrere) dieser natürlichen Sprachen spricht. Trotzdem kann man sinnvoll vom Menschen als einem 23  Vgl. etwa Nussbaum 1993. Ganz ähnlich argumentiert Foot 2001: sie bemerkt, dass der menschliche Lebenszyklus zwar komplexer sei als bei anderen Tieren (51), sich aber dennoch gewissermaßen ein Kern menschlicher Bedürfnisse und entsprechender Fähigkeiten isolieren lasse, die jeder Mensch für ein gutes Leben benötige (43, 76). 24  Die wohl bekannteste Variante eines solchen Arguments ist Davidson 1974. Vgl. auch Müller 1976. Kritisch setzt sich mit solchen Argumenten Williams 1995 auseinander. 25  Vgl. dazu Ford 2011, 83-90. 26  Für das Verhältnis von menschlicher Sprache und menschlicher Natur vgl. auch Hursthouse 2012, 170-171.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

155

sprachlichen Wesen und von menschlicher Sprache oder Sprachfähigkeit als einem allgemeinen Artmerkmal sprechen: nämlich als determinable zu den determinates Englisch, Französisch, Deutsch usw. Bei Beziehungen dieser Art sind normalerweise die determinates begrifflich primär, die determinables dagegen begrifflich sekundär: »Farbe« und »Sprache« sind allgemeine Begriffe, die durch Abstraktion aus konkreten Farben und Sprachen gewonnen werden. Man versteht nicht, was Farbe oder Sprache ist, wenn man nicht einzelne Farben oder Sprachen kennt. Wenn die von mir vorgeschlagene Analogie zutrifft, sollte dasselbe auch für das Verhältnis von erster und zweiter Natur gelten: wir verstehen die erste Natur des Menschen nur durch Abstraktion aus den konkreten zweiten Naturen, d.h. aus den verschiedenen kulturellen Ausprägungen des Menschseins. Ich werde auf diesen Punkt im nächsten Abschnitt zurückkommen. Die Beziehung der ersten zur zweiten Natur verhält sich in vielen Hinsichten wie eine determinate-determinable-Beziehung, aber nicht in allen: in anderen Hinsichten verhält sie sich eher wie die Beziehung von Perfektion und Privation.27 Rot, blau, gelb und grün sind gleichermaßen Farben, aber keine von ihnen ist als Farbe besser oder schlechter; Griechisch, Englisch und Japanisch sind menschliche Sprachen, doch keine von ihnen ist als Sprache besser, vollkommener, perfekter als die anderen. Zweite Naturen können die erste Natur des Menschen dagegen vollkommen und unvollkommen realisieren. Die erste Natur bildet dabei einen internen Maßstab der Vollkommenheit für zweite Naturen, d.h. einen, der ihnen als zweiten Naturen innewohnt. Eine zweite Natur ist als solche unvollkommen, wenn sie von der ersten Natur des Menschen abweicht oder mit ihr in Konflikt steht. Dieser Umstand ermöglicht eine genuine Form der internen Kritik an zweiten Naturen: Wenn in jede von ihnen der Anspruch eingebaut ist, eine konkrete Ausgestaltung der menschlichen ersten Natur zu sein, kann man jede von ihnen jederzeit daraufhin prüfen, ob sie diesem Anspruch gerecht wird. Wenn zweite Naturen von sich aus den Anspruch haben, menschlich oder menschenwürdig zu sein, kann und muss man sie an diesem Anspruch messen und unmenschliche oder menschen­ unwürdige Gestalten kritisieren. Damit ist nun aber wohlgemerkt nur ein formales Ziel der Kritik benannt, das für sich genommen noch keine konkreten Kriterien beinhaltet. Es ist damit nur gesagt, als was oder in welcher Hinsicht man zweite Naturen kritisiert, und dass eine solche Kritik einen Maßstab anlegt, der dem Begriff der ersten Natur entnommen ist. Aus all dem folgt, dass die erste Natur in der Dimension der Bewertung primär ist, die zweiten Naturen dagegen in dieser Hinsicht sekundär sind. 27  Vgl. Ford 2011, 90-94.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

156 3.

Christian Kietzmann

Epistemologische Schwierigkeiten: Wie erkennen wir die menschliche Lebensform?

Ich komme nun zum zweiten Problemkomplex – den epistemologischen Schwierigkeiten des AEN. Denn selbst wenn wir zugestehen, dass es sinnvoll ist, von der menschlichen Lebensform im Sinn einer kulturinvarianten Artnatur zu sprechen, stellt sich die weitere Frage: Woher wissen wir, worin diese Lebensform besteht? Wie erkennen wir die naturhistorischen Urteile, die beim Menschen einschlägig sind? Besonders brisant ist diese Frage nach den Quellen des Wissens von unserer Lebensform aus zwei praktischen Gründen. Der erste Grund liegt in der Rolle, die solches Wissen in unserem Leben spielt. Es befriedigt nicht nur irgendein theoretisches Interesse an der Beschaffenheit und Funktionsweise eines Gegenstandes in der Welt, analog etwa zum Interesse am Lebenszyklus des Andenkondors, den Gesetzen der Planetenbewegung oder der Chemie der Photosynthese. Im Fall der Lebensform Mensch sind der Gegenstand wir selbst und Wissen von dieser Lebensform ist auch und gerade praktisch relevant, so jedenfalls die These des AEN. Dieser These zufolge leitet uns dieses Wissen nämlich in unserem Urteilen darüber an, was gut und schlecht, was zu tun und was zu unterlassen ist, und bildet so einen Leitfaden für unser Handeln. Der zweite Grund für die Brisanz der Frage, woher wir von unserer Lebensform Kenntnis haben, liegt in einem Einwand, den Kant gegen die Idee erhebt, die Lebensform des Menschen sei die Quelle der Verbindlichkeit praktischer Urteile. Kant hält dagegen: »eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden« (Kant (MS), 217). Kant vertritt diese Ansicht, weil er glaubt, dass anthropologische Einsichten nur empirisch zu gewinnen sind. Wissen über die Lebensform des Menschen ist demnach empirisches Wissen. Das hat für ihn zwei Konsequenzen: Erstens sind Inhalte, die in dieser Weise gewusst werden, immer kontingent und nicht notwendig: die Dinge könnten immer auch anders sein, als sie faktisch sind. Praktische Urteile, die in der Metaphysik der Sitten verhandelt werden, weisen jedoch das Merkmal der Verbindlichkeit auf, und das ist eine Form von Notwendigkeit: praktische Notwendigkeit. Kontingentes kann jedoch nie Notwendigkeit begründen. Empirisches Wissen vom Menschen hat also einfach nicht die richtige modale Gestalt, um praktische Sollensaussagen zu fundieren.28 Die zweite Konsequenz, die Kant 28  Vgl. Kant (GMS), 389: »Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

157

aus dem empirischen Charakter des Wissens vom Menschen zieht, wird sichtbar, wenn man sich klarmacht, dass empirisches Wissen immer von Dingen handelt, die von uns verschieden sind und die wir deshalb in ihrem Sosein einfach als etwas Gegebenes vorfinden. Kant zufolge sind die von einer Anthropologie erfassten Eigenschaften des Menschen von dieser Art: sie sind etwas Vorgefundenes, mit dem wir uns irgendwie arrangieren müssen. Nun gilt allgemein, dass wir, wenn wir uns das Gesetz unseres praktischen Urteilens und Handelns von Vorgefundenem vorgeben oder gar vorschreiben lassen, fremdbestimmt sind. Wir sind dann nicht mehr selbst Quelle der entsprechenden praktischen Gesetze, sondern ihre Quelle liegt in dem Vorgefundenen, das über uns bestimmt. Unser Handeln nach solchen Gesetzen ist nicht autonom, sondern heteronom. Diejenigen Gesetze, die in einer Metaphysik der Sitten verhandelt werden, sollen aber Gesetze der Freiheit sein. Also müssen sie, so Kant, verschieden von den Gesetzen der menschlichen Natur sein. Michael Thompson reagiert auf Kants Einwand nicht mit einer Kritik von dessen Argumentation, sondern indem er ihre Voraussetzung zurückweist.29 Thompson bestreitet nämlich, dass wir ausschließlich empirisches Wissen vom Menschen haben. Viel anthropologisches Wissen mag, so Thompson, diesen empirischen Charakter haben, etwa unser medizinisches Wissen über die Funktionsweise menschlicher Organe oder unser anatomisches Wissen über die Struktur unseres Skeletts.30 Daneben gibt es aber laut Thompson auch selbstbewusstes und damit nicht-empirisches Wissen von zumindest einem Teil der Lebensform des Menschen – nämlich von demjenigen Teil, der als normativer Maßstab für unser Handeln und Wollen in Frage kommt. Thompson entwickelt seine These in mehreren Schritten.31 Erstens argumentiert er dafür, dass der Begriff der Lebensform ein Begriff a priori und damit ein nicht-empirischer Begriff ist. Zweitens weist er darauf hin, dass die erste Person, »ich«, eine nicht-empirische Vorstellung ist: im Unterschied zur Verwendung von Namen oder von deiktischen Ausdrücken wie »dies« setzt die Verwendung von »ich« keinen sinnlichen Kontakt zu ihrem vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten, und so alle übrige eigentliche Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Principien der bloßen Erfahrung gründet, und sogar eine in gewissem Betracht allgemeine Vorschrift, so fern sie sich dem mindesten Theile, vielleicht nur einem Bewegungsgrunde nach auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann.« 29  Siehe Thompson 2004. 30  Vgl. Thompson 2004, 56-57. 31  Vgl. Thompson 2004, 63-72.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

158

Christian Kietzmann

Referenzgegenstand voraus. Aus diesen beiden Punkten ergibt sich drittens, so Thompson, dass wir einen nicht-empirischen Begriff von »meiner Lebensform« oder »der Lebensform, der ich angehöre« bilden können, indem wir den a priori Begriff der Lebensform mit der a priori Vorstellung der ersten Person verknüpfen. »Mensch« ist für Thompson nur ein Name für diese nichtempirische Repräsentation unserer eigenen Lebensform – und damit selbst kein empirischer Begriff. Viertens erinnert Thompson daran, dass wir von verschiedenen unserer eigenen Lebensvollzüge beobachtungsfreies, d.h. nichtempirisches Wissen besitzen. Das gilt einerseits von Zuständen wie Schmerz und Hunger sowie von Aktivitäten wie unserem Denken, andererseits aber, wie G.E.M. Anscombe in ihrem Buch Intention betont hat, von unserem absichtlichen Handeln und Wollen. Solches selbstbewusstes Wissen ist, wie Anscombe an anderer Stelle ebenfalls betont hat, eng mit der Verwendung von »ich« verknüpft.32 Fünftens erinnert Thompson an seine These, dass jedes Urteil über einen Lebensvollzug ein Urteil über die Lebensform, die in diesem Lebensvollzug exemplifiziert wird, voraussetzt. Das muss, so denkt er, auch für selbstbewusste Urteile über z.B. unser Denken und Handeln gelten. Sie setzen ebenfalls Urteile über unsere Lebensform, d.h. Urteile über den Menschen, voraus. Thompson folgert daraus, dass jeder, der selbstbewusst von seinem Denken und Handeln weiß, von den entsprechenden allgemeinen Merkmalen selbstbewusstes Wissen erwerben kann. Er kann, so Thompson, durch Reflexion explizites allgemeines Wissen über zumindest einen Teil der Lebensform Mensch erlangen, nämlich über denjenigen Teil, der die logische Voraussetzung für unser selbstbewusstes Wissen über unser eigenes Denken und Handeln bildet. Thompson zufolge können wir allein durch Reflexion explizites Wissen von unserer eigenen Lebensform erlangen, das dann den Status von Wissen a priori hat. Doch warum erlangen können und nicht besitzen? Diese Frage drängt sich auf, wenn man genauer über Thompsons Argument nachdenkt. Er entwickelt seine These ausgehend vom praktischen Wissen im Sinne von Anscombe, und dieses Wissen haben wir, wann immer wir handeln. Hier bedarf es keines zusätzlichen Reflexionsschrittes, um zu diesem Wissen zu gelangen, sondern es ist mit dem absichtlichen Handeln immer schon vorhanden, denn praktisches Wissen ist »the cause of what it understands«33. Thompson zufolge setzt weiterhin jegliches Verständnis eines einzelnen Lebensvollzugs logisch ein Verständnis der Lebensform voraus, die sich darin manifestiert. Wenn also erstens absichtliches Handeln ein Lebensvollzug ist und damit Wissen von 32  In Anscombe 1975 . 33  Anscombe 1957, 87.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

159

diesem Handeln logisch von Wissen von der eigenen Lebensform abhängt, und zweitens jeder Handelnde praktisch von dem weiß, was er absichtlich tut, dann sollten wir erwarten, dass auch die logische Voraussetzung dieses praktischen Wissens, also Wissen von der eigenen Lebensform, in derselben Weise beim Handelnden vorliegt wie sein praktisches Wissen. Wir sollten erwarten, dass es nicht immer schon irgendwie implizit vorliegt, so dass es noch eines zusätzlichen Reflexionsschritts bedarf, um es explizit zu machen, sondern dass es in derselben Weise explizit vorliegt wie das praktische Wissen selbst. Aus Thompsons Argument scheint also mehr zu folgen, als er selbst schlussfolgert. Es ist allerdings leicht zu sehen, weshalb Thompson die schwächere Schlußfolgerung vorzieht. Die stärkere These ist nämlich aus mindestens drei Gründen unplausibel. Erstens können die wenigsten von denen, die sehr gut und eloquent darüber Auskunft zu geben in der Lage sind, was sie gerade absichtlich tun und warum, ebenfalls viel darüber sagen, worin ihre, die menschliche, Lebensform besteht. Das scheint die These zu widerlegen, dass jeder von uns »immer schon« explizites Wissen von der eigenen Lebensform besitzt. Zweitens streiten wir uns in der Regel nicht darüber, was jemand hier und jetzt tut, sehr wohl aber darüber, wie wir als Menschen leben sollen und was gerecht und was ungerecht ist. Dieser faktische Dissens, der mitunter sehr tief geht, könnte gar nicht auftreten, wenn jede der Streitparteien »immer schon« explizites Wissen über diese Dinge hätte. Drittens spricht einiges dafür, dass unser praktisches Wissen von dem, was wir gerade tun, eine Folge oder ein Ausdruck davon ist, dass wir uns im Handeln selbst bestimmen. Unser absichtliches Handeln passiert uns nicht, es vollzieht sich nicht an uns, sondern wir vollziehen es, indem wir uns dazu bestimmen, so zu handeln. Wir wissen von unserem absichtlichen Handeln, weil wir die Autoren dieses Handelns sind.34 Wenn die grundlegende These des AEN zutrifft, dann ist Wissen von unserer Lebensform in irgendeiner Weise die Grundlage dieser Selbstbestimmung zum Handeln, d.h. solches Wissen liefert uns in irgendeiner Weise Gründe für unsere praktische Selbstbestimmung. Gerade deshalb ist es jedoch fraglich, ob wir in derselben Weise, d.h. durch Selbstbestimmung, von unserer eigenen Lebensform wissen. Das wäre dann der Fall, wenn wir im absichtlichen Handeln diese unsere Lebensform immer auch mit hervorbringen, wenn wir uns also in jedem Akt der Selbstbestimmung zu dieser oder jener absichtlichen Handlung zugleich immer auch zu Angehörigen dieser Lebensform machen oder uns selbst diese Lebensform geben.35 Dieser Gedankengang führt jedoch 34  Vgl. Moran 2001 und Kietzmann 2019. 35  Nach Korsgaard 2009 geben wir uns selbst, indem wir handeln, immer auch eine praktische Identität.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

160

Christian Kietzmann

geradewegs in ein Dilemma: Stellen wir uns einerseits das selbstbewusste Wissen von unserer Lebensform nach dem Modell des selbstbewussten Wissens durch Selbstbestimmung vor, dann wird unklar, anhand welcher Kriterien wir diese Selbstbestimmung vornehmen. Die Selbstbestimmung zu dieser oder jener Handlung bezieht ihre Kriterien in irgendeiner Weise aus der Lebensform und diese Kriterien sind, aus der Perspektive dessen, der sich so auf eine konkrete Handlung festlegt, vorgegeben. Doch wenn sich die Lebensform, und damit die Kriterien selbst, noch einmal einem Akt der Selbstbestimmung verdanken sollen, dann fragt sich, anhand welcher Kriterien dieser Akt vollzogen wird. Denn ohne vorgegebene Kriterien kann es eine vernünftige Selbstbestimmung nicht geben, sondern bestenfalls grundlose Akte der Willkür. Wenn uns dieser Gedankengang nun aber andererseits dazu bringt, das Modell des selbstbewussten Wissens durch Selbstbestimmung ganz aufzugeben und das Wissen von unserer Lebensform als Wissen von etwas Vorgefundenem und nicht von etwas Gemachtem zu betrachten, dann wird fraglich, wie wir überhaupt noch am selbstbewussten Charakter dieses Wissens festhalten können. Müssen wir nicht zu allem Vorgefundenen in irgendeiner Art von rezeptiver Beziehung stehen, um Wissen davon zu erlangen? Und ist darüber hinaus nicht alles rezeptive Wissen kontingent in dem Sinn, dass eine rezeptive Beziehung nicht notwendig zustande kommt und das auf ihr beruhende Wissen damit immer nur zufällig vorhanden ist? Wir können also anscheinend zwischen zwei gleichermaßen unattraktiven Optionen wählen: entweder wir betrachten das Wissen von unserer Lebensform als selbstbewusst, die Lebensform selbst aber als Ergebnis eines willkürlichen Aktes der Selbstbestimmung; oder wir betrachten die Lebensform als etwas Vorgegebenes, das Wissen von ihr aber als rezeptiv und damit als bloß kontingent vorhanden. Zurück zur schwächeren These, die Thompson selbst aus seinem Argument ableitet. Ihr zufolge können wir jederzeit durch Reflexion explizites Wissen von unserer Lebensform erlangen. Auf diese schwächere These läuft auch eine alternative Antwort auf Kant hinaus, die ich vorschlagen möchte. Der Kern dieser Alternative liegt erstens in einer Erinnerung daran, dass unsere Lebensform wesentlich rational ist, und zweitens in der Unterscheidung zwischen zwei Perspektiven auf unsere Lebensform. Zum ersten Punkt: Wir Menschen handeln aus Gründen und unsere Lebensform stellt uns solche Gründe bereit. Sie tut das nicht direkt: wir handeln nicht mit der Absicht, unsere Lebensform zu verwirklichen, oder aus dem Grund, dass wir so unsere Lebensform manifestieren.36 Die Lebensform liefert uns indirekt praktische Gründe: dass wir praktisch rationale Wesen sind, bedeutet, dass 36  Vgl. Kietzmann 2015.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

161

wir Dispositionen ausbilden, bestimmte vorliegende Umstände nicht nur als Tatsachen, sondern als Handlungsgründe zu begreifen und entsprechend zu handeln. So bilden beispielsweise viele von uns die Disposition aus, den Umstand, ein Versprechen gegeben zu haben, als hinreichenden praktischen Grund dafür zu betrachten, das Versprochene zu gegebener Zeit auch tatsächlich zu tun. Einen Umstand als praktischen Grund zu begreifen und entsprechend zu handeln, beschreiben eine Reihe von Autoren als praktische Schlussfol­ gerung.37 Dem möchte ich mich hier anschließen. Als rationale Dispositionen möchte ich weiterhin Dispositionen beschreiben, solche praktischen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wie alle Schlussfolgerungen erheben praktische Inferenzen den Anspruch, gültig zu sein. Sie beanspruchen, dass ihre Konklusion tatsächlich aus den Prämissen folgt. Die zentrale These des AEN verstehe ich nun so: Die Gültigkeit praktischer Schlussfolgerungen bemisst sich daran, ob so zu folgern ein gelingendes menschliches Leben ermöglicht. Jede rationale Disposition kann deshalb anhand des Maßstabs unserer Lebensform beurteilt werden. Sie ist, gemessen an diesem Maßstab, entweder menschengemäß oder unmenschlich; die sie manifestierenden praktischen Folgerungen sind entweder gültig oder ungültig; die Disposition selbst ist eine Tugend oder ein Laster. Eine zweite Natur ist zum Teil ein Ensemble solcher rationaler Dispositionen.38 Da jede zweite Natur ein Versuch der konkreten Ausgestaltung der menschlichen Natur, ein determinate zum determinable unserer Lebensform, zu sein vorgibt, erhebt jede rationale Disposition den Anspruch, eine partielle Manifestation der menschlichen ersten Natur zu sein. Nun zum zweiten Punkt: Gegenüber unserer eigenen Lebensform können wir zwei Perspektiven einnehmen. Zum einen können wir in einer theoretischen und beschreibenden Außenperspektive darüber nachdenken.39 Eine solche Perspektive nimmt etwa der Biologe, Zoologe oder Ethologe ein, der sich das Verhalten von Menschen als Vertreter seiner Wissenschaft ansieht. In dieser Perspektive würden auch Vertreter anderer rationaler Arten, sollte es sie denn geben – also beispielsweise die Bewohner von Jupiter und Venus, von denen Kant in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels spricht40 –, über die menschliche Lebensform nachdenken. Zum anderen können wir selbst, und nur wir selbst, unsere Lebensform aber auch in einer 37  So etwa Aristoteles (De Motu). In neuerer Zeit haben daran Anscombe 1957, Müller 2004 und 2011, sowie Fernandez 2016 angeknüpft. Die handlungstheoretischen Überlegungen, die ich hier nur kurz anreiße, entwickle ich ausführlicher in Kietzmann 2017 und 2018b. 38  Ich sage »zum Teil«, um Raum dafür zu lassen, dass auch Dispositionen z.B. des Fühlens, des Wahrnehmens und des theoretischen Denkens zu einer zweiten Natur gehören. 39  Vgl. Hursthouse 1999 und Nussbaum 1996. 40  Kant (ANTH), 349-368.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

162

Christian Kietzmann

praktischen und rechtfertigungsorientierten Innenperspektive in den Blick nehmen. Diese Perspektive nehmen wir immer dann ein, wenn wir praktisch auf unsere eigene Lebensform oder einen Teil von ihr reflektieren. Normalerweise behandeln wir Umstände als praktische Gründe, indem wir sie als Anlass für und Rechtfertigung von Handlungen nehmen. Wir können von diesem Motivations- und Rechtfertigungszusammenhang jedoch reflexiv zurücktreten und uns fragen, ob und warum die Umstände wirklich gute Gründe für solches Handeln sind. Das wird vor allem dann geschehen, wenn uns Zweifel daran kommen, ob das wirklich so ist. Eine solche Reflexion ist praktisch, weil ihr Ausgangspunkt im Rechtfertigungs- und Motivationszusammenhang liegt und wir auf ihn in praktischer Absicht reflektieren. Das zeigt sich darin, dass solches Reflektieren praktische Konsequenzen hat: wenn wir nicht mehr davon überzeugt sind, dass die vermeintlichen Gründe wirklich Gründe sind, dann werden wir nicht mehr ohne weiteres durch die betreffenden Umstände motiviert, oder nur noch mit schlechtem Gewissen oder halbherzig. Kommen wir zu dem Schluss, dass diese Umstände in Wahrheit kein Grund sind, so zu handeln, dann verlieren die Umstände ihre motivierende Kraft. Kommen wir hingegen zu dem Schluss, dass es sich wirklich um einen triftigen Grund handelt, erlangen sie wieder solche motivierende Kraft. Was geschieht nun, wenn wir in dieser Weise von innen reflektieren? Wir prüfen unsere Ansicht darüber, ob ein vermeintlicher Grund wirklich für das von ihm vermeintlich Begründete spricht. Doch was bedeutet es, dass wir es hier wirklich mit einem Grund zu tun haben? Laut dem AEN bedeutet es, dass die rationale Disposition, diese Umstände als Gründe für diese Handlungen zu behandeln, eine konkrete determinierte Teilrealisierung der menschlichen Lebensform ist. Wenn wir von innen auf die Berechtigung unserer vermeintlichen Gründe reflektieren, prüfen wir also, ob die rationale Disposition, die betreffenden Umstände als Gründe zu behandeln, zur menschlichen Lebensform passt. Doch wie überprüft man das? Sicher nicht, indem wir aus einer Außenperspektive identifizieren, was das menschliche Leben ausmacht, und diese Erkenntnis dann mit der betreffenden Disposition vergleichen. Da unsere Reflexion praktisch ist und von innen stattfindet, verbietet sich eine solche Beschreibung. Wie aber überprüft man die Gültigkeit praktischer Schlussfolgerungen aus der Innenperspektive? Ich denke, es ist wichtig zu sehen, dass wir unsere rationalen Dispositionen immer nur punktuell überprüfen. Das bedeutet, dass eine solche Überprüfung immer vor einem breiten Hintergrund von unhinterfragt akzeptierten rationalen Dispositionen stattfindet.41 Wir können 41  Diesen Gedanken entwickelt Wittgenstein 1960. Für eine Anwendung von Wittgensteins Überlegungen auf die Ethik vgl. Müller 1994.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

163

uns diesen Hintergrund an unproblematisierten, akzeptierten rationalen Dispositionen allerdings ebenfalls partiell reflexiv klarmachen und uns fragen, ob die für uns fragwürdige Disposition zu den Übrigen passt. Wir fragen uns dann etwa: »Gegeben dass es in den und den Umständen richtig ist, A zu tun, muss ich dann nicht auch in den in Frage stehenden Umständen A tun?,« oder wir sagen uns: »Wenn ich dort B tue, dann kann ich hier nicht sinnvoll A tun«. Kurz gesagt, wir überprüfen, ob sich die in Frage stehende Disposition kohärent in den Hintergrund bereits akzeptierter rationaler Dispositionen einfügt.42 Jede solche reflexive Überprüfung rationaler Dispositionen ist damit immer auch eine wenigstens punktuelle Reflexion von Innen auf uns selbst, denn um sie durchzuführen, müssen wir uns reflexiv einen Teil des Hintergrundes an von uns bereits akzeptierten rationalen Dispositionen klarmachen. Was hat das nun aber mit der menschlichen Lebensform zu tun? Wir haben als praktisch vernünftige Wesen eine genuin praktische und normative Perspektive auf uns selbst als Menschen, sozusagen ein allgemeines Selbstbild, das mit ethischen Normen verwoben ist. Dieses Selbstbild kommt darin zum Ausdruck, dass wir nicht nur bestimmte Umstände als praktische Gründe behandeln, sondern diese rationale Disposition immer auch in einer bestimmten Weise verstehen. Wir begreifen sie als eine Disposition, in der es beispielsweise um mehr geht als darum, sich zu amüsieren, wie bei einem Spiel. Wir begreifen sie als Disposition, deren Ausübung zu einem Ganzen beiträgt, dass sich als gelingendes menschliches Leben begreifen lässt. Und jede reflexive Überprüfung einer solchen Disposition ist immer auch eine Überprüfung der Annahme, dass ihre Ausübung zu unserem Gedeihen als Menschen beiträgt. Wenn also die Frage nach einer Begründung oder Rechtfertigung für bestimmte Verhaltensweisen auftaucht, nehmen wir auf dieses Selbstbild Bezug, das mit unseren rationalen Dispositionen verknüpft ist und das wir uns reflexiv klar machen können. Das, was wir uns so klar machen, ist eine bestimmte Konzeption dessen, worin menschliches Leben besteht. Dieser Punkt passt im Übrigen auch gut zu meinem Punkt aus dem vorangegangenen Abschnitt dieses Aufsatzes, dass wir die erste Natur des Menschen nur aus den zweiten Naturen heraus reflexiv erschließen können. Ich habe diesen Abschnitt mit Kants Einwand begonnen, dass anthropologische Aussagen über den Menschen empirische theoretische Aussagen seien und so niemals praktisch-normative Aussagen begründen können, weil sich aus Kontingentem nichts Notwendiges ableiten lässt und weil autonome Selbstgesetzgebung die Bestimmung durch Vorgefundenes ausschließt. 42  Vgl. McDowell 1998a, 187, 189, 191 und 197, und 1998b, 36-38, über »Neurathian reflection«. Hursthouse 1999, 165-166, greift die Metapher von Neuraths Boot auf.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

164

Christian Kietzmann

Wir können diesen Einwand nun zurückweisen, weil sich herausgestellt hat, dass das ethisch relevante anthropologische Wissen von unserer Lebensform nicht empirisch gewonnen wird, sondern durch interne praktische Reflexion auf unsere rationalen Dispositionen. Die Aussagen, die die Biologie, die Medizin, die Ethologie über den Menschen machen, sind tatsächlich theoretische Aussagen. Wer sie macht, nimmt dabei eine Außenperspektive auf unsere rationalen Dispositionen ein. Der AEN sollte aber behaupten, dass diese Perspektive für praktische Fragen einfach nicht zuständig ist. Er sollte das auch behaupten, um dem Einwand zu begegnen, dass sein Kerngedanke auf eine biologistische Begründung ethischer Aussagen hinauslaufe. Der AEN will nämlich gar nicht aus empirisch erkannten theoretischen Wahrheiten über den Menschen irgendwelche Normen ableiten oder Normen durch solche Wahrheiten begründen. Für den AEN sind nur Aussagen, die aus der praktischen Innenperspektive auf uns selbst und unsere rationalen Dispositionen gewonnen werden, praktisch relevant. Nur auf sie beziehen wir uns in unseren ethische Begründungen. Solche Aussagen sind aber gleichwohl anthropologische Aussagen über den Menschen, nur eben praktisch-reflexive und nicht theoretisch-empirische.43 Literaturverzeichnis Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 1957, Intention, Oxford. — 1958, »Modern Moral Philosophy«, in: Ethics, Religion and Politics. Collected Papers VOL. III, Oxford 1981, 26-42. — 1975, »The First Person«, in: Mind and Language, hg. v. Samuel D. Guttenplan, Oxford, 45-65. Aristoteles (De Motu), De Motu Animalium/Über die Bewegung der Lebewesen, griechischer Text ediert von Oliver Primavesi, übersetzt von Klaus Corcilius, Hamburg 2018. Fernandez, Patricio A. 2016, »Practical Reasoning: Where the Action Is«, in: Ethics 126, 869-900. Foot, Philippa 2001, Natural Goodness, Oxford. Ford, Anton 2011, »Action and Generality«, in: Anton Ford/ Jennifer Hornsby/Frederick Stoutland (Hg.), Essays on Anscombe’s Intention, Cambridge/MA, 76-104.

43  Für einen ausführlichen und sehr hilfreichen schriftlichen Kommentar zu einer früheren Fassung des Aufsatzes danke ich Sascha Settegast.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

165

Gehlen, Arnold 1962, Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt a.M. Gotthelf, Allan/Lennox, James G. 1987, Philosophical Issues in Aristotle’s Biology, Cambridge. Hursthouse, Rosalind 1999, On Virtue Ethics, Oxford. — 2012, »Human Nature and Aristotelian Virtue Ethics«, in: Royal Institute of Philoso­ phy Supplement 70, 169-188. Kant, Immanuel (ANTH), Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Welt­ gebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, in: Kant’s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen/Deutschen Akademie der Wissenschaften, Band I.1, Berlin, 215-368. — (GMS), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften, he­ rausgegeben von der Königlich Preußischen/Deutschen Akademie der Wissenschaften, Band IV, Berlin, 385-463. — (MS), Metaphysik der Sitten, in: Kant’s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen/Deutschen Akademie der Wissenschaften, Band VI, Berlin, 203-493. Kietzmann, Christian 2015, »Lebensform und praktische Vernunft«, in: Jens Kertscher/ Jan Müller (Hg.), Lebensform und Praxisform, Münster, 53-76. — 2017, »Wille und praktische Vernunft«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 71/4, 495-514. — 2018a, »Ethik und menschliche Natur«, in: Philosophische Rundschau 65/3, 175-196. — 2018b, Handeln aus Gründen als praktisches Schließen, Freiburg/Br. — 2019, »Does Intention Involve Belief?«, in: European Journal of Philosophy 27/2, 426-440. Korsgaard, Christine 2009, Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity, Oxford. Kullmann, Wolfgang 1974, Wissenschaft und Methode: Interpretationen zur aristoteli­ schen Theorie der Naturwissenschaft, Berlin. Leist, Anton 2010, »Wie moralisch ist unsere menschliche Natur? Naturalismus bei Foot und Hursthouse«, in: Thomas Hoffmann/ Michael Reuter (Hg.), Natürlich gut. Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, Heusenstamm, 121-148. Lennox, James G. 2001, Aristotle’s Philosophy of Biology: Studies in the Origins of Life Science, Cambridge. MacIntyre, Alasdair 2002, »Virtues in Foot and Geach«, in: Philosophical Quarterly 52, 621-631. — 1981, After Virtue: A Study in Moral Philosophy, Notre Dame/Indiana. Mayr, Ernst 1942, Systematics and the Origin of Species, New York. McDowell, John 1994, Mind and World, Cambridge/MA.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

166

Christian Kietzmann

— 1998a, »Two Sorts of Naturalism«, in: Mind, Value, and Reality, Cambridge/MA, 167-197. — 1998b, »Some Issues in Aristotle’s Moral Psychology«, in: Mind, Value, and Reality, Cambridge/MA, 23-49. — 2009, »Avoiding the Myth of the Given«, in: Having the World in View: Essays on Kant, Hegel, and Sellars, Cambridge, 256-272. Millikan, Ruth Garrett 1984, Language, Thought and Other Biological Categories, Cambridge/MA. Moran, Richard 2001, Authority and Estrangement: An Essay on Self-Knowledge, Princeton/N.J. Müller, Anselm Winfried 1976, »Conformity as a Condition for Human Intention«, in: Gilbert Ryle (Hg.), Contemporary Aspects of Philosophy, Stocksfield, 188-201. — 1992, »Mental Teleology«, in: Proceedings of the Aristotelian Society 92, 161-183. — 1994, »Has Moral Education a Rational Basis?«, in: Luke Gormally (Hg.), Moral Truth and Moral Tradition: Essays in Honour of Peter Geach and Elizabeth Anscombe, Blackrock, 203-225. — 2004, »Acting Well«, in: Anthony O’Hear (Hg.), Modern Moral Philosophy: Royal Institute of Philosophy Supplement 54, Cambridge, 15-46. — 2011, »Backward-Looking Rationality and the Unity of Practical Reason«, in: Anton Ford/Jennifer Hornsby/Frederick Stoutland (Hg.), Essays on Anscombe’s Intention, Cambridge/MA, 242-269. Nagel, Thomas 2012, Mind and Cosmos: Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is Almost Certainly False, Oxford. Nussbaum, Martha 1993, »Non-Relative Virtues: An Aristotelian Approach«, in: Martha Nussbaum/Amartya Sen (Hg.), The Quality of Life, Oxford, 242-269. — 1996, »Aristotle on Human Nature and the Foundations of Ethics«, in: J.E.J. Altham/Ross Harrison (Hg.), World, Mind, and Ethics, Cambridge, 86-131. Thompson, Michael 2004, »Apprehending Human Form«, in: Anthony O’Hear (Hg.), Modern Moral Philosophy. Royal Institute of Philosophy Supplement 54, Cambridge, 47-74. — 2008, Life and Action: Elementary Structures of Practice and Practical Thought, Cambridge/MA. — 2013, »Forms of Nature: ‘first’, ‘second’, ‘living’, ‘rational’, and ‘phronetic’«, in: Gunnar Hindrichs/Axel Honneth (Hg.), Freiheit. Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt a.M., 701-735. Tomasello, Michael 1999, The Cultural Origins of Human Cognition, Cambridge/MA. — 2008, Origins of Human Communication, Cambridge/MA. — 2014, A Natural History of Human Thinking, Cambridge/MA. — 2016, A Natural History of Human Morality, Cambridge/MA.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Metaphysische und epistemologische Schwierigkeiten

167

Wild, Markus 2017, »Was ist biologisch am Aristotelischen Naturalismus?«, in: Martin Hähnel (Hg.), Aristotelischer Naturalismus, Stuttgart, 89-106. Williams, Bernard 1985, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge/MA. — 1993, Shame and Necessity, Berkeley/CA. — 1995, »Saint-Just’s Illusion«, in: Making Sense of Humanity, Cambridge, 135-150. Wittgenstein, Ludwig 1960, Über Gewissheit, in: Suhrkamp Werkausgabe, Band 8, Frankfurt a.M. 1984, 113-257.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Philosophical Anthropology in Processual Perspective Nicholas Rescher 1.

Process Philosophy

Process philosophy differs from its more familiar alternative, substance philosophy, in prioritizing occurrences over things. For its exponents, processes, connected series of happenings, are fundamental, and things are no more than waves of stability in a sea of process. And as process philosophers view the human condition, our very being is defined not by stabilities and fixities, but by actions – interactions both with nature and our fellows. Substancehood is the Robinson Crusoe of ontology before the arrival of Man Friday: a substance by definition stands alone and isolated; it exists by itself and must be conceived by itself. Process, by contrast, involves relationship, interaction, reciprocity. For process philosophers, then, a thing is what it does, and its processuality lies at the very core of its being. This process approach has significant advantages. In particular, it smoothly accommodates our pervasive awareness of the inherent transiency of natural and human affairs and the impermanence of everything substantial in the world. After all, human life is a process – or rather an ongoingly concatenated series of processes that have a beginning, a middle, and an end. An individual life has little of substantive fixity about it, and social dealings are invariably interactive processes. Many distinctions are relevant to the identification and characterization of processes. The principal factors at issue here will include: Thematic orientation. Its subject matter is perhaps the most fundamental feature of a process. Is it a physical process (such as raining) or an intellectual one (such as deciding)? Is it a chemical process (such as fermentation) or a social process (such as coming into fashion)? Duration. Its duration is also a key feature of a process. Is the process brief (e.g. crossing a t or dotting an i) or is it prolonged (e.g. learning or language)? Does it proceed slowly or swiftly? Is it linear or repetitively cyclic? Is it virtually instantaneous (e.g., a sneeze) or long and drawn out (e.g., an ice-age)? Range or extent. Is the process localized (an automobile crash) or extensive and widespread (an epidemic)?

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_010

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

170

Nicholas Rescher

Occurrence frequency. Is the process a one-time affair (e.g., a creature’s death) or a repetitive occurrence (e.g., a sunrise)? Motive Agency. What is the force or agency that drives the process? Is it an organism, a mechanism, a force of nature, a social process, or whatever? Worrying can be done only by persons, aging is something anything can do. Agent-Correlativity. Some processes must be owned by specifiable agents who also can carry them on. Some of these are personal, others not. Studying the calculations, for example, or writing a novel are processes that only intelligent beings can manage. Other processes are strictly impersonal. Thus sleeping is a personally owned process – where there is sleeping there must be a sleeper. By contrast, raining is an unowned process: when there is raining there is no agent save the rain itself. However, there are many »specialized« processes in which only a certain type of item can be engaged: rusting ~ iron; molting ~ bird; evaporating ~ liquid; dissolving ~ solid; thinking ~ intelligent beings. Activity/Passivity. Some agent-managed processes do not require the agent to do anything in the way of activity. Thus waiting or growing older requires no action on their owner’s part. Any mode of action or inaction, or change or stability can be considered from the angle of its inherent processuality. Result or end-product. Processes that issue in what is not merely an end-state but an end-product can be characterized as productive. Such processes can be either natural (volcanos) or artificial (basket weaving). Memorizing is resultproducing, aging is not. Purposive/ateleological. A process that not only issues in a product but is in some sense aimed or directed at its realization is purposive or teleological. Plant pollination, by insects is a purposively teleological process, volcanic eruption is not. Constructive/Destructive. Housebuilding or shoemaking are constructive; rotting or exploding are not. Some processes issue in the realization of result. Addition issues in sums, pie baking in pies. But other processes have no specifiable outcomes. Yawning, for example, or sleeping or wondering about something. And yet others rather than leading to a product or positive result of some sort, some processes are distinctive and lead to the elimination or unravelling of something. Adjectival mode or manner. Does the process proceed normally or abnormally, smoothly or fittingly? As such features indicate, there is bound to be virtually endless variety of processes. The idea at issue is one of vast range and variation. And this of course means that any theorizing about these matters must make it clear just exactly what sorts of processes and what sector of their aspect is to be at issue.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Philosophical Anthropology in Processual Perspective

2.

171

Personal Identity

The core thesis of process metaphysics is that those items that are traditionally characterized as substances or real things are in fact nothing but constellations of processes. For them to be is, in effect, to be a manifold of process. As they see it, processuality is the essence of being and processuality constitutes the realm of reality. Physical reality is a constellation of processes. So is organic life. So is the life of a human being. By prioritizing activity and agency, process metaphysics highlights the world’s temporality and renders it only natural and to be expected that things function through successive developmental stages and phases. And so, as process philosophy sees is, processes define people. As process philosophy sees it, personal identity is not a nature of any temporal uniformity of substance. It is not a matter of the continuing experience of any single particular thing or substance along the line of a Leibnizian dominant monad. It is, rather, a matter of processual continuity – of one set of activities flowing seamlessly into another. Personal identity is akin to the uniformity of a river. And Heraclitus was wrong: You can step into the same river repeatedly, not because the material substance remains the same in your locale, but because the processual modalities of flow remain uniform and connected over time. Persons then are not only the results of processes, but are themselves systemic manifolds of process both involucrated and perpetuated through the integrated concatenation of processes. And what identifies a person as the individual he is is exactly the aggregate uniqueness of pertinent processuality. A person becomes who he is by what he does. In reading history the real question is not »Who was this person« as an individual object on the world’s stage, but rather we want to be told about what that individual did and their formative happenings. The Aristotelian categories of action and passion become the crux in their collective particularity. 3.

Mankind’s Evolved Place in Nature

The process approach in philosophy lends itself naturally to an anthropology that provides a systemic account of humans and their ways in terms of their modus operandi. The life of a human being is a coordinated sequences of developments beginning with conception and ending with physical decay. And this is a component factor within the processuality of nature at large – a manifold of ongoing development that witnesses the sequential emergence of mankind’s salient processual capacities.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

172

Nicholas Rescher

Like the rising and setting of the sun, some processes are cyclic and repetitive. Others like the fall of meteorites are irregular and anarchic. Still others such as the growth of a plant, are developmental, product directed, and teleological. And virtually all of the processes in which humans are involved – even out »mere diversions« – teleological processes, carried on with a view to an inherent purpose. For humans are more than the biological processes that comprise their organic existence – they are creatures of cognition, evaluation, and choice that function on a processual level that transcends the organic. At one level of complexity we are an organic system of systems for nourishment, blood circulation, reproduction, and the like. And at another level we manage mental processes of cognition and evaluation and volition and affiliation that define us as the sort of being we are. All of the humanly definitive capacities are processual in nature: we say that »man is an intelligent being« but mean that man is capable of the range or activities that characterize intelligent behavior. Human life, then, is a process characterized by a manifold of characteristic processes that it is the evolutionary product of a series of developmental processes. The gift of evolution to rational agents is the capacity to operate as of intelligence – operating mental processes that define these agents as the particular and peculiar sort of beings they are. Until there are intelligent beings none of those human characteristic operations is possible; after such beings have emerged their achievement becomes practicable although often difficult. Man (homo sapiens) is the product (albeit one can hardly say the »end product«) of a long and complex chain of processual development. This process can certainly be described as creative: it has brought new and distinctively significant modes of operation into being: cognition, evaluation, choice, and free agency among them. Consider free will in particular as an example. A typical free decision is one that issues from a thought process combining cognition, evaluation, and choice. All this is the product of the evolutionary development of intelligent agents. None of it would have come into existence save in the context of beings whose processual modus operandi encompasses this range of capacities. 4.

Problems of Progress

As the interacting wavelets of a large body of water coordinate in providing a homogeneous sea-surface, so the intending humans conjoin to constitute a culture. And in functioning within such an operationally interlinked manifold individuals form the basis for cultural self-constitution. Different versions of cultural development emerge through such procedural patterns.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Philosophical Anthropology in Processual Perspective

173

Can the evolutionary development of homo sapiens be considered as progress? That pivots on the question of whether what has come into being is not just new and different but also of greater value and superior in some plausible sense of these terms. This of course depends critically on whom is doing the evaluating at issue. Bertrand Russell somewhere quipped that while we humans see the move from amoeba to man as a great progressive advance, nobody has asked the amoeba, who might well see the matter in a different light.) But of course it is we – not the ameba – that is asking, and it is we – not the ameba – that requests being satisfied in the matter. So that affirmative answer is we, who are asking the question, will be well advised to accept (at least until such time as the ameba raises doubts in the matter). A world whose natural course of development leads to the emergence of intelligent agents of beings capable of operating the instrumentalities of intelligence etc. that characterize us humans in this realm of things – cannot but be seen (as least by us) as a fundamentally progressive world. 5.

Optimism vs. Pessimism

But is such a view of the matter not unduly optimistic? Progressivism is the standpoint that things are getting better: its outlook is optimistic. (Its opposite, retrogressivism, has it that things are getting worse: its outlook is pessimistic.) In such matters everything depends on the standard for assessing improvement and betterment. And even with such a standard in hand, several different modes of improvement/betterment are possible: – an increase of the positive – a decrease of the negative A further prospect, of course, is a combination of the two. Then too there is the issue of a proliferation of respects. Does the phenomenon of concern relate to: – – – –

the standard of living the quality of life the sophistication of available knowledge the level of normativity and ethics

The life of a human being involucrate a vast variety of processes in point of cognitive, practical, social, ethical, and multiple other modes of activity. And

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

174

Nicholas Rescher

even if progress betterment is realized in one dimension, there is no necessary implications for progress in another. An across-the-board optimism of utopian perfection is impracticable. The reciprocal incompatibility of ideal desiderata renders it untenable. A dwelling should be large for convenience but small for ease of maintenance. An auto must be heavy for safety but light for maneuverability. A blade must be sharp for cutting but dull for safety. Yet we cannot even it both ways: to secure more of one desideratum one must accept less of the other. Perfection – concurrent maximization of all positivities – is unrealizable in the very nature of things. And so it is with the processes that characterize life. The shorter the lifespan, the less scope there is for individual development but the greater the prospects for species evolution. Throughout the range of conditions that characterize organic or cultural life, virtually every realizable alternative is bound to some degree of merit and some degree of demerit. But only in the ideal case will the two stand in perfectly harmonious balance. And how this is best achieved is – in practice if not in theory – critical to the definitive course of the individual person at issue. 6.

The Moral Imperative

Processuality incorporates the potential for change. At any rate almost every one of us has some opportunity, small though it be, to contribute to the world’s positivity. And in pursuing this prospect we invariably have the chance to do or at least endeavor to do something to make the world a better place than it would otherwise be. In the end there is really no valid excuse for refusing to take a positive, optimistic approach and at least make an effort at processual meliorism.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Teil III Praktische Philosophie

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität Alice Crary Wie sollen wir mit der langen und beschämenden Geschichte von Tiervergleichen umgehen, die ein wesentliches Element der Rhetorik der sozialen Marginalisierung, des Missbrauchs und der Tötung von Menschen darstellt, die als Mitglieder nicht-dominanter ethnischer Gruppen identifiziert werden? Gibt es angemessene Antworten auf diese Geschichte, Antworten, die uns die Mittel an die Hand geben, um auf die moralische Gleichheit von Menschen zu insistieren, ohne dabei die Herabwürdigung von Tieren in unserem politischen und moralischen Diskurs einfach zu wiederholen? Ist es möglich, ein Bild von Tieren als intrinsisch moralisch wertvoll mit dem Einstehen für die Gleichheit der menschlichen Würde zu verbinden? Dieser Beitrag entwickelt eine positive Antwort auf die letzte Frage, und er tut dies in der Form eines Kommentars von zwei Erzählungen von J.M. Coetzee, in denen eine Person auftritt, die versucht, die Schrecklichkeit der Dinge zu evozieren, die Menschen Tieren antun, indem sie sich auf den Holocaust bezieht. Als der südafrikanische Schriftsteller J.M. Coetzee eingeladen wurde, im Herbst 1997 die Tanner Lectures in Princeton zu geben, brach er mit der etablierten Konvention, einen »philosophischen Essay« zu präsentieren und stellte sich stattdessen vor das Universitätspublikum, um eine Erzählung vorzulesen.1 Die Hauptperson von Coetzees Geschichte ist Elizabeth Costello, eine etwa siebzig Jahre alte Schriftstellerin.2 Zu der Zeit, in der die Handlung der Geschichte spielt, ist Costello dazu eingeladen, eine Ehrenvorlesung in einer kleinen Universität in Massachusetts zu geben. Die Einladung erfolgte als Würdigung ihrer schriftstellerischen Arbeit. Doch Costello bricht mit der Konvention und stellt die literarische Themen hintenan, um stattdessen einen Vortrag über das Entsetzen zu halten, das sie angesichts der Dinge verspürt, die Menschen Tieren in industriellen Schlachthäusern und Laboratorien antun. Costello enttäuscht die Erwartung ihres Gastgebers nicht nur mit ihrer Themenwahl. Wie Coetzee entfernt auch sie sich in formaler Hinsicht von einer gewöhnlichen Vorlesung. Costello gibt eine lose organisierte, mäandernde und expressive Rede, in welcher sie sich als »verletzt« von ihrem Wissen um den

* Aus dem Englischen übersetzt von Malte Fabian Rauch. 1  Vgl. Coetzee et al. 1999, 3. 2  Für Costellos Alter vgl. Coetzee et al. 1999, 15 und Coetzee 2003, 1.

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_011

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

178

Alice Crary

menschlichen Umgang mit Tieren darstellt.3 In ihrem Versuch, das Ausmaß des Schreckens zu beschreiben, bezieht sie sich auf die Todeslager der Nazis und verbindet jene Grausamkeiten, von denen sie ihre Gedanken nicht losreißen kann, mit dem Holocaust. Offen erklärt sie: Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war, ja es noch in den Schatten stellt, weil unser System kein Ende kennt, sich selbst regeneriert, unaufhörlich Kaninchen, Ratten, Geflügel, Vieh für das Messer des Schlächters auf die Welt bringt.4

Costellos Verbindung des Holocausts mit der Behandlung von Tieren kränkte einen Teil ihres Publikums, und ein älterer jüdischer Dichter der Fakultät, Abraham Stern, bezichtigte sie der Blasphemie.5 An dem Tag, an dem Coetzee die Geschichte dieser fiktionalen Begebenheiten vorlas, kommentierten vier Akademiker die Erzählung, welche durch einen fünften ergänzt wurden, als die im Rahmen der Vorlesung präsentierten Texte zwei Jahre später veröffentlicht wurden. Laut dem Kommentator versammelt Costello »empirische und philosophische Argumente, die für die ethische Frage von Bedeutung sind, wie Menschen mit Tieren umgehen sollen«6. Der Philosoph und Bioethiker Peter Singer war einer der akademischen Kommentatoren, und er geht noch weiter, wenn er nahelegt, Coetzee benutze seine Geschichte über Costello, um derartige Argumentiere zu lancieren, ohne dafür die uneingeschränkte intellektuelle Verantwortung zu übernehmen.7 Stellen wir die Frage nach der Angemessenheit dieser Charakterisierung von Coetzees literarischer Vorstellung zunächst zur Seite. Es ist angebracht, zu sagen, dass Coetzee einen Grund hätte, sich von seinem Argumentationsgang zu distanzieren, wenn er tatsächlich ein Argument präsentiert, das von einem Vergleich zwischen dem Holocaust und der Behandlung von Tieren ausgeht, um diesen Vergleich dann dafür zu nutzen, um den Schluss auf das moralische Unrecht dieser Behandlung zu unterstützen. Denn der Vergleich zwischen dem Holocaust und dem Schlachten von Tieren ist heftig umstritten. Vergleiche dieser Art sind seit der Zeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg im Umlauf. Einige Jahrzehnte später, ungefähr seit den 1980er-Jahren, 3  Coetzee et al. 1999, 26. 4  Coetzee 2000, 20. 5  Vgl. Coetzee et al. 1999, 49. 6  So Amy Gutmann in Coetzee et al. 1999, 4; für ähnliche Interpretationen, s. Peter Singer auf 91, Wendy Doniger auf 93 und Barbara Smuts auf 107. 7  Vgl. Singer bei Coetzee et al. 1999, 90-92; für diese Beobachtung über Singer vgl. Diamond 2007, 100.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

179

begannen verschiedene Akteure in der Tierschutzbewegung, mit der Idee der Ähnlichkeit zwischen den Naziverbrechen und der Behandlung von Tieren in entwickelten Industriegesellschaften zu arbeiten. Teil der losen Gruppe von Aktivisten, die – ob um diese Geschichte wissend oder nicht – die Idee entwickelten, bei der Schlachtung von Tieren handele es sich um einen »neuen Holocaust«, waren Personen, die für bedeutende Tierschutzorganisationen arbeiteten. Teil der Gruppen waren auch Künstler wie Sue Coe und Judy Chicago, die in ihrer künstlerischen Arbeit die grausame wie gefühllose Behandlung von Tieren in Schlachthöfen mit dem Holocaust assoziierten,8 und auch eine bedeutende Zahl von Personen, die selbst Überlebende des Holocausts waren oder deren Kinder oder nahe Verwandte.9 In den Jahrzehnten seit Coetzees Tanner Lecture von 1997 ist das Interesse von Tierrechtlern am Holocaust als einem Referenzpunkt zur Aufklärung des Leids von Tieren wohl noch gestiegen, was einige ausführliche akademische Diskussionen der Parallelen zwischen dem Holocaust und der Tierschlachtung10 sowie einer Reihe von Kampagnen von Tierschutz-Organisationen, die auf diese Parallelen bestehen, zur Folge hatte. Die bekannteste dieser Kampagnen war die Wanderausstellung der PETA von 2003, die den Titel »Holocaust auf Ihrem Teller« trug und aus 18 fünfeinhalb Meter hohen Tafeln bestand, auf denen Aufnahmen von menschlichen Opfern des Holocausts unmittelbar neben Fotos von Tieren in Massenhaltung platziert wurden.11 Die Ausstellung wurde auf breiter Front verurteilt, beispielsweise von Interessenverbänden, die sich der Bekämpfung des Antisemitismus widmen, wie der Anti-Defamation League und dem United States Holocaust Memorial Museum. Die Empörung, die PETA auslöste, muss vor dem Hintergrund einer Darstellung davon verstanden werden, wie der Holocaust den Status einer Grundfigur des Leids eingenommen hat. Eines der Ergebnisse dieser Entwicklung war, dass diverse Personen und Interessenverbände, also nicht nur jene, die mit der Not von Tieren befasst sind, Gebrauch von HolocaustVergleichen machten. Dazu zählen Mitglieder einer Reihe von sozialen Bewegungen wie etwa solchen, die im Namen der indigenen Bevölkerung Amerikas oder den Palästinensern agieren.12 Aneignungen der Idee des Holocausts wie derjenigen von Tierrechtsaktivisten werden oft als missbräuchlich angesehen, teilweise aufgrund des Arguments, dass jede Rede von 8  Vgl. Coe 1995 und Chicago 1993. 9  Zur Diskussion von Mitgliedern dieser letzten Gruppe von Tieraktivisten vgl. Patterson 2002, 138-202. 10  Vgl. beispielsweise Syztbel 2006 und Davis 2005. 11  Für eine Auswahl von Bildern der Panels vgl. Sharp 2008. 12  Vgl. z.B. Klüger 2001, 63.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

180

Alice Crary

Ähnlichkeiten die Singularität des Schreckens des Holocausts abschwächt oder als bloße Metapher behandelt.13 Doch in einer gewissen Hinsicht wird die Übertragung auf das Anliegen von Tieren als besonders anstößig und schädlich erachtet. Was die Übertragung besonders anstößig scheinen lassen kann, hat mit der Rolle von herabwürdigenden Tiervergleichen zu tun, die in der Rhetorik der Nazis dazu benutzt wurden, um den sozialen Ausschluss und den Mord an den europäischen Juden zu begründen. Die Kategorie des »Juden«, die während der Kriegszeit in Nazi-Deutschland in Gebrauch war, wurde benutzt, um Personen zu selektieren, die als »untermenschliche Tiere« angesehen wurden. Eine Person als Juden zu klassifizieren, hieß typischerweise, sie zu animalisieren, und dies in einem Sinne, der die überlegene Stellung des Menschen gegenüber dem Tier voraussetzt und daher im Wesentlichen eine Erniedrigung bedeuten sollte.14 Die Geschichte des Gebrauchs von Tiervergleichen zur Erniedrigung von bestimmten Menschengruppen ist lang,15 und im konkreten Fall des Antisemitismus in Deutschland vom Beginn bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war die Logik der Animalisierung keine einfache und keine einheitliche. Vielmehr gab es voneinander unabhängige, widersprüchliche und sich dennoch wechselseitig verstärkende Mechanismen. Dieser Mangel an Einheitlichkeit fand seinen Ausdruck im Gebrauch von verschiedenen Formen von diffamierenden Tiervergleichen. Einerseits wurden Juden oft in der Begrifflichkeit von Bakterien und Pest beschrieben, als Parasiten, wie etwa Läuse, oder als Schädlinge, wie Ratten. Andererseits wurden sie oft als Affen oder als andere große Säugetiere wie Schweine oder Hunde beschrieben. Die Offenheit der Nazis sowohl gegenüber modernen und wissenschaftlichen wie auch gegenüber antimodernen Erklärungen des Ursprung des Menschen erlaubte es ihnen »schließlich eine Art des wissenschaftlichen Rassismus mit der verbreiteten Form des deutschen Antisemitismus zu verbinden, welcher mit einem völkischen Antimodernismus assoziiert war«16. Während die erste, wissenschaftliche Linie des Antisemitismus für einen Vergleich mit Affen und Schweinen als unseren evolutionär nächsten Verwandten steht, wird in der zweiten Linie vor allem der Vergleich mit Parasiten und Ungeziefer betont. 13  Für Kritik an Holocaust-Vergleichen vgl. z.B. Alexander 1980, Katz 2009 und Snyder 2015, 762; für allgemeine Überlegungen über die Singularität des Holocausts vgl. Améry 1980, viii und x sowie Klüger 2001, 63 und 92. 14  Zur Diskussion der Idee der »Animalisierung« vgl. Roberts 2008, ix-x. 15  Vgl. z.B. Steuter und Wills 2011. 16  Fredrickson 2002, 89.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

181

Diese antimoderne Linie beinhaltete zugestandenermaßen nicht die moderne Form des biologischen Determinismus, die manche Theoretiker als Kennzeichen des voll ausgeprägten Rassismus betrachten.17 Das Phänomen, auf den der Begriff »Rassismus« zielt, ist manchmal so verstanden worden, dass es durch Vorstellungen des niedrigeren Status von Mitgliedern einer ethnischen Gruppe sowie durch Praktiken konstituiert sei, die diesen Status durchsetzen, wobei die infrage stehenden Vorstellungen und Praktiken wiederum an wahrgenommene Unterschiede gebunden sind, welche als biologisch und damit als unauslöschlich gelten, und zwar in dem Sinne, dass es für eine Person unmöglich ist, sich ihrer zu entledigen und sich einer dominanteren Gruppe zu assimilieren. Allerdings haben einige Theoretiker argumentiert, dass »Rassismus« auch ein nützlicher Begriff ist, um historische Muster zu erfassen, sofern wir es gestatten, dass die ins Auge gefassten Unterschiede das Produkt von religiösen oder kulturellen Formen der Determination sind, die, obschon sie nicht als biologisch gelten können, dennoch als »vererbbar und unveränderlich« betrachtet werden.18 Ausgehend von dieser elementaren Konzeption von »Rassismus« als einer analytischen Kategorie haben verschiedene Theoretiker vorgeschlagen, dass man mit Blick auf die Gesetze der Blutreinheit, welche in Spanien im Zuge der Inquisition eingeführt wurden, von einer wichtigen Vorstufe des modernen – also des biologisch-deterministischen – antisemitischen Rassismus sprechen kann. Das Interesse dieser Gesetze liegt darin begründet, dass sie die Konversion zum Christentum als Weg ausschlossen, um soziale Exklusion und Verfolgung zu überwinden. Jude zu sein wurde nicht bloß als ein niedriger Status betrachtet, sondern auch als ein untilgbarer, im Blut begründeter, als ein Status, an dem das Verhalten nichts zu ändern vermag.19 Es gibt Verbindungslinien zwischen dem iberischen Antisemitismus des späten Mittelalters und der volkszentrierten, antimodernen Form des Antisemitismus der Nazis. Eine beachtliche Zahl öffentlicher wie privater Dokumente spiegelt jene religiös geprägte Ansicht von Ahnenschaft wider, welche die Ablehnung der Vorstellung, dass Juden und Christen von »einem 17  Für eine kritische Diskussion des Denkens solcher Theoretiker vgl. Holt 2004, 436, Nirenberg 2009, 235 und 243-247 sowie Torres 2012, 12. 18  Vgl. Fredrickson 2002, 170; für andere Darstellungen dieser prinzipiellen Ansicht, wie es hilfreich ist, die Kategorie »Rassismus« so zu verstehen vgl. Aubert 2004, Chaves 2012, Graizborg 2012, Herzog 2012, Niremberg 2009, insb. 238 und 247-260, und Torres 2012. 19  Vgl. z.B. Graizborg 2012, 62-63 und 68; Herzog 2012, 15; Katz 1999, 460 und Torres 2012, 16; vgl. auch Bildhauer 2003, 91; Katz 1999, 441 und 448 sowie Savy 2007, 181 über Verbindungen zwischen der Vorstellung von kontaminiertem jüdischem Blut und Behauptungen, dass jüdische Männer menstruieren.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

182

Alice Crary

Blut« seien, zu rechtfertigen scheint. Die bekannteste Form dieser Ansicht im Nationalsozialismus trug Züge der Romantischen Idee der wesentlichen Eigenheit individueller Kulturen. Und während es angemessen scheint, zu sagen, dass manche Denker der Romantik dieses Bild von Kulturen mit der löblichen Absicht der Verteidigung eines toleranten Pluralismus entwickelten,20 »stellte die Behauptung, dass jede ethnische Gruppe oder Nation einen einzigartigen und vermutlichen ewigen Volksgeists besitze, die Grundlage für eine kulturellcodierte Form des Rassismus bereit«21. In dem völkischen Antisemitismus, der sich aus dieser Romantischen Tradition entwickelte und in Deutschland während der Nazizeit voll entfaltete, setzte sich der Einfluss der Metapher von verschiedenem und unreinem Blut fort. Diese antimoderne Mythologie des Blutes ist Teil dessen, was die Nazis dazu trieb, die Metaphorik von Ansteckung und Verseuchung zu benutzen. Ein großer Teil der Nazi-Schriften betont das Risiko der Verunreinigung, das von den Juden als Parasiten und Ungeziefer dargestellt werde.22 Heinrich Himmler erklärte einmal, dass »Antisemitismus genau dasselbe wie Entlausung sei«23, und Hitler selbst bediente sich oft der Rhetorik der Ansteckung, wie als er über Juden sagte, dass sie »die Parasiten im Volkskörper« seien.24 Die Vorstellung von Juden als rattengleichen Verursachern der Ansteckung war in Hitlers Reden ebenso üblich wie in der Nazirhetorik überhaupt. Die Vorstellung von Juden als »untermenschlichen Tieren« ist ein integraler Bestandteil nicht nur der antimodernen Linie des nationalsozialistischen Antisemitismus, sondern auch ihres wissenschaftlichen Gegenstücks. Dieser wissenschaftliche Rassismus ist eine Form von »Rassen-Darwinismus«, der zunächst in England entstand und dann von Eugenikbewegungen in den USA und in Deutschland aufgenommen wurde. Der in diesem Zusammenhang relevante Teil von Darwins Werk ist seine recht späte Theorie der »Abstammung des Menschen«25. Es handelt sich dabei um eine monogenistische Erzählung, in der ein gemeinsamer Ursprung für die gesamte Menschheit behauptet wird, und es gibt gute Belegte dafür, dass Darwin von einer tiefsitzenden Ablehnung der Sklaverei dazu bewegt wurde, dergestalt auf der »Einheit des Menschen« zu insistieren.26 Doch in gewisser Hinsicht stellte Darwins Die Abstammung des Menschen von 1871 eine direkte Unterstützung 20  Vgl. z.B. Eze 1997, Kapitel 5; vgl. auch Lukes 2003, 87-89. 21  Fredrickson 2002, 70. 22  Vgl. z.B. Raffles 2007, 526 und 528 sowie Patterson 2002, 44. 23  Für dieses Zitat vgl. Raffles 2007, 522. 24  Vgl. Patterson 2002, 45. 25  Darwin 1909. 26  Vgl. Desmond 2009, insb. 24 sowie 1008f.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

183

für rassistische Einstellungen dar. Wie viele seiner Zeitgenossen privilegierte Darwin die Vorstellung einer linearen menschlichen Entwicklung, in der manche »Rassen« noch »tiefer« stehen und »wilder« als andere sind.27 Er wählt etwa ausdrücklich den »Schwarzen und den Australier [den Aborigini]«28 aus und warnt davor, dass wenn man es diesen Menschengruppe gestatte, »ihre Art zu verbreiten«, dies zu einer »Degeneration« der menschlichen Spezies führen werde.29 Insofern Darwin mit der Rede von »niedrigeren« Rassen dazu einlädt, seine evolutionäre Leiter in normativen Begriffen zu denken, und insofern jene Menschengruppen, die er als »tieferstehend« darstellt, evolutionär betrachtet näher an Primaten und anderen Tieren stehen sollen, kann die Logik dieses Gedankengangs selbst als Befürwortung einer entwürdigenden »Animalisierung« unterjochter ethnischer Gruppen betrachtet werden. Es überrascht darum nicht, dass Darwins nationalsozialistische Erben Vergleiche mit eben den Tieren, die uns evolutionär am nächsten stehen, als Strategie der Unterwerfung benutzten. Ein verbreitetes, von Darwin inspiriertes Thema der Nazirhetorik war, dass Juden kein »authentisches Volk«, sondern vielmehr das degradierte Ergebnis einer Mischung ‘niederer’ Rassen seien, womit ihnen ein Bastardstatus zukäme, der auf eine Ähnlichkeit mit Hunden hinweise.30 Alternativ wurden Juden als bis zu dem Punkt degradiert dargestellt, dass sie Affen gleich seien.31 Diese Skizze einiger der verschiedenen und sich wechselseitig verstärkenden Formen, in denen Strategien der ‘Animalisierung’ den Antisemitismus der Nazis unterstützten, erlaubt es, den Gebrauch von Vergleichen zwischen der Behandlung von Tieren und dem Holocaust seitens Tierrechtler zu bewerten. Tierrechtler argumentieren, dass Tiere intrinsisch moralisch wertvoll sind. Diese Position bringt sie in Opposition zu der Tendenz moderner Industriegesellschaften, die Tiere weitestgehend als moralisch indifferente Objekte zu behandeln, welche nicht von sich aus Respekt oder Fürsorge verdienen. Die Sichtweise, nach der Tiere keinen moralischen Wert besitzen, ist zugestandenermaßen seit Jahrzehnten von Aktivisten und Akademikern angegriffen worden.32 Doch es ist eine Sichtweise, die auf der ganzen 27  Vgl. Desmond 2009, 977-982. 28  Darwin 1909, 156 und 169-171. 29  Darwin 1909, 206. 30  Das eingefügte Zitat stammt von Sax 2000, 119; zum Thema Vergleiche zwischen Juden und Hunden vgl. auch Améry 1980, 86; Klüger 2001, 23; Raffles 2007, 526. 31  Ein scheinbareres Rätsel liegt in der Tatsache, dass die Nazis mit die striktesten Tierschutzrechte der Welt hatten. Dieses Rätsel löst sich bei genauerer Betrachtung auf, doch in Anbetracht des begrenzten Raumes lasse ich dieses Thema außen vor. 32  Vgl. Crary 2018a.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

184

Alice Crary

Welt in die Tat umgesetzt wird, in der Intensivtierhaltung, in industriellen Schlachthäusern, Aquafarmen, in Jagdgründen auf dem Land und im Meer, in Laboratorien und in der Umwandlung großflächiger Tropen- und anderer Wälder. Vor dem Hintergrund dieser fest verankerten Sicht auf Tiere als bloße Objekte sollte es klar sein, dass Aktivisten, die sich daranmachen, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Tiere intrinsisch moralisch wertvoll sind, ein ungemein ambitioniertes Projekt verfolgen: ein Projekt, dessen Gelingen die radikale Transformation des Verständnisses des moralischen Werts von Tieren zur Voraussetzung hat. Jene, die auf Holocaust-Vergleiche zurückgreifen, tun dies als Teil dieser einschüchternden Aufgabe, sie tun dies in der Hoffnung, uns den Eindruck zu vermitteln, dass die gefühllose »Verarbeitung« von Millionen von Tieren in Schlachthöfen, Laboratorien und Jagdgründen in ihrer Bedeutung und in ihrem Schrecken dem Holocaust ähnelt. Die infrage stehenden Aktivisten versuchen, unsere Bewertung von Tieren auf eine Weise zu verändern, welche den Strategien der Animalisierung, die historisch ein zentrales Instrument der Objektivierung von Menschen waren, ihre schädlichen Kraft nehmen würde.33 Doch auch wenn man die Schlüssigkeit der Neubewertung des Lebens von Tieren, welche die treibende Kraft der Bemühungen der Aktivisten darstellt, zugesteht, folgt daraus nicht, dass der Gebrauch einer spezifischen Ähnlichkeit zwischen dem Unrecht, das Tieren angetan wird und jenem, das rassifizierten Menschen angetan wird, gerechtfertigt werden kann. Vor allem gibt es Gesichtspunkte, unter denen die Entwicklung von Vergleichen zwischen der Behandlung von Tieren und dem Massenmord an den Juden im Holocaust eindeutig unhaltbar ist. Denn diese Vergleiche laufen Gefahr, das Ausmaß zu verdecken, in dem die Methoden der Nationalsozialisten dazu entworfen waren, spezifisch menschliche Schwachstellen zu treffen. Denn die Instrumente des Naziterrors dienten der Zerstörung spezifisch menschlicher Formen der Würde, die wesentlich sowohl die soziale Anerkennung als auch den Selbstrespekt beinhalten. Das Ziel war es, Menschen bis zu dem Punkt zu erniedrigen, an dem sie das entmenschlichte Bild ihrer selbst akzeptieren würden.34 Doch die Struktur, um hier ein Beispiel zu nennen, der PETA-Ausstellung »Der Holocaust auf Ihrem Teller« neigt gerade dazu, jedes Erkennen dieses Projekts einer eigentümlich menschlichen Form der Erniedrigung zu verklären. Eine der großen Tafeln in der Ausstellung platziert eine Fotografie von ausgemergelten Männern mit geschorenen Köpfen, dicht gedrängt auf den Pritschen eines Konzentrationslagers, neben dem Bild von Hühnern, die in gestapelten Metallkäfigen in einer 33  Vgl. z.B. Steuter und Wills 2011, 45-49. 34  Vgl. z.B. Améry 1980, 40; Klüger 2001, 46-47; Levi 1959, 144.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

185

geschlossenen Fütterungsanlage eng zusammengepfercht wurden.35 Diese Gegenüberstellung erfasst Parallelen zwischen den Kontrolltechnologien des Naziterrors und den Technologien des industriellen Tierhaltung.36 Doch sie unterdrückt schließlich auch jeden Gedanken an die spezifisch entmenschlichende Funktion dieser Mechanismen im Fall der Nazis. Die Techniken, die auf menschliche Gefangene angewandt wurden, fügten ihnen nicht nur die Form von Leid zu, die Tiere durch die entsprechenden Technologien der industriellen Tierhaltung erfahren. Sie verursachten nicht bloß körperliche Schmerzen, den Verlust der Bewegungsfreiheit und die Zerstörung sozialer Beziehungen von der Art, die für Menschen und soziale Tiere üblich ist. Indem sie ihnen alle persönlichen Habseligkeiten nahmen, ihnen die Köpfe schoren, sie dazu zwangen, eng zusammengedrängt zu leben, indem sie ihre Namen mit Zahlen ersetzen,37 indem sie mit ihnen in einer Sprache redeten, aus der alle auf Respekt hinweisenden Wendungen getilgt waren,38 indem sie sie komplexen Auflagen unterwarfen, ohne die für deren Erfüllung notwendigen Ressourcen bereitzustellen,39 zielten diese Techniken darauf, Menschen auf einen Zustand zu reduzieren, in dem sie nicht mehr wiederzukennen waren als Wesen, die über Würde verfügen, ja in dem sie es nicht einmal mehr selbst vermochten, sich als solche zu erkennen – eine sehr spezielle Form der Erniedrigung, der sie gezielt als Menschen ausgesetzt wurden.40 Und es gibt noch weitere Gründe, warum Aktivisten den Gebrauch von Holocaust-Analogien vermeiden sollten. Die Vorstellung, dass Tiere bloße Dinge seien, ist, wie bereits erwähnt, in das materielle Gefüge industrieller Gesellschaften eingewoben. Wenn Tierrechtler sich eines Vergleichs zwischen der Behandlung von Tieren und der von marginalisierten sozialen Gruppen bedienen, gibt es eine wirkliche Gefahr, dass ihre Anstrengungen nach hinten losgehen und das Ansehen von Mitgliedern dieser Gruppen weiter erodieren, ohne dabei etwas für das Anliegen der Tiere zu erreichen. Zudem gibt es einen allgemeinen Vorbehalt, der jede Aneignung der Holocaust-Idee instruieren sollte. In egal welchem Kontext von einem »neuen Holocaust« zu sprechen, läuft Gefahr, die Aufmerksamkeit von fortbestehenden Formen des Antisemitismus abzulenken, welche zum Erbe des Holocaust gehören. Theoretiker, die den Holocaust in der Vergangenheit verorten und neue Beispiele anführen, 35  Vgl. Sharp 2008. 36  Vgl. Sztybel 2006 für eine detaillierte Darstellung solcher Parallelen. 37  Vgl. Améry 1980, 94 und 100; Klüger 2001, 96; Levi 1959, 16, 32, 115 und 137. 38  Vgl. Klüger 2001, 93; Levi 1959, 7, 18 und 39. 39  Vgl. z.B. Améry 1980, 10. 40  Vgl. Améry 1980, 40; Klüger 2001, 46-47; Levi 1959, 46 und 144; für eine aufschlussreiche allgemeine Diskussion dieser Fragen vgl. Bernstein 2015.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

186

Alice Crary

neigen dazu, zu verdecken, wie »Hate-Groups in vielen Ländern weiterhin an den Hitler’schen Mythos glauben, laut dem die Welt von einer jüdischen Verschwörung bedroht sei«41; sie neigen dazu, zu verdecken, wie diese Gruppen weiterhin heimtückische antisemitische Traktate wie Die Protokolle der Weisen von Zion zirkulieren lassen; wie Hassverbrechen gegen Juden in verschiedenen Teilen der Welt zunehmen; wie, vor allem in den USA, die Zahl dieser Verbrechen in einem erheblichen Maße zugenommen hat seit 2016, seit der Wahl eines Präsidenten, der ein Sympathisant der White Supremacy ist; und wie, aus all diesen Gründen, das, was Jean Améry einmal die »legitime Angst vor einem neuen [Kataklysmus]« genannt hat, in vielen Teilen der Welt als ein untrennbarer Teil der sozialen Identität von Juden fortbesteht.42 Aus allem, was ich bisher gesagt habe, folgt allerdings nicht, dass wir die Belange aufgeben müssen, die Tierrechtler ursprünglich dazu bewegten, sich auf den Holocaust zu berufen. Antirassistische Aktivisten reagieren manchmal auf die Verwendung von Animalisierungsstrategien, indem sie darauf bestehen, dass die Mitglieder von rassifizierten und sozial benachteiligten Gruppen – als menschliche Wesen – ‘über’ den Tieren stehen, mit denen sie verglichen werden. – Damit reagieren sie auf eine Weise, in der die Herabwürdigung von Tieren wiederholt und verstärkt wird, die dem rassistischen Diskurs, gegen den sie argumentieren, immanent ist. So forderten etwa im 19. Jahrhundert in den USA Gegner der Sklaverei oft, versklavte Personen wie Menschen und nicht wie Tiere zu behandeln, womit sie sich auf eben jene Mensch-Tier-Hierarchie beriefen, die in der Unterwerfung dieser Menschen verwendet wird und zur Aufrechterhaltung der »Erniedrigung von Tieren« beiträgt.43 Ähnlich beschreibt Améry die Würdelosigkeit der Nazi-Opfer, die dazu gezwungen werden, wie Tiere in einer engen und armseligen Einsperrung zu leben und zu sterben, und er tut dies, ohne die weit verbreitete Annahme zu hinterfragen, dass es annehmbar sei, Tiere diesen Bedingungen auszusetzen. Obwohl Formen solcher humanistischer Gesten tatsächlich dazu beitragen, die Unterordnung von Tieren zu verstärken, die dem animalisierten Rassismus immanent ist, ist es möglich, eine angemessene Haltung des Widerstands gegenüber Formen rassistischer Unterdrückung, die eine Animalisierung involvieren, einzunehmen und dennoch auf der Seite jener Tierrechtler zu stehen, die Tiere als in sich moralisch wertvolle Wesen behandeln. Um dies zu tun, benötigen wir eine Weise, um vom Wert des menschlichen Lebens zu sprechen, die Menschen nicht als ›bloßen Tieren‹ überlegen 41  Fredrickson 2002, 143. 42  Das eingefügte Zitat stammt von Améry 1980, 99. 43  Vgl. Kim 2018.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

187

darstellt und sich also keiner Form der »menschlichen Vorherrschaft« bedient.44 Es mag angebracht scheinen, sich dafür einer Reihe von Ansätzen zum Thema des moralischen Status zuzuwenden, die derzeit in der Bioethik dominant sind und manchmal mit der Arbeit von Philosophen wie Jeff McMahan, James Rachels und Peter Singer verbunden werden.45 Diese Ansätze sind üblicherweise von einem tiefsitzenden philosophischen Weltbild durchdrungen, in dem die Eigenschaften der empirisch beobachtbaren Realität keine Eigenschaften sein können, die moralisch bedeutsam sind.46 Die Bioethiker, deren Arbeit hier zur Diskussion steht, setzen diese Sicht voraus und nehmen üblicherweise ebenfalls als gegeben an, dass die schlichte Tatsache, ein Mensch zu sein, und die schlichte Tatsache, ein Tier zu sein, empirische oder durch Beobachtung erkennbare Tatsachen sind. Daher scheint es jenen Theoretikern, dass diese Tatsachen – die Tatsache des Mensch- und Tierseins – in sich moralisch indifferent sind. Aus demselben Grund scheint ihnen keine moralische Berücksichtigung, die ein Mensch oder Tier verdient, eine Funktion ihrer Zugehörigkeit zu einer Lebensform oder Gruppe wie »menschliche Wesen« oder »Schildkröte« sein zu können. Vielmehr muss jede solche Berücksichtigung durch das begründet sein, was ein Theoretiker als einen Grund dafür etabliert hat. Die am weitesten akzeptierten Arten von Theorien, die in diesem Zusammenhang vorgeschlagen werden, stellen den moralischen Wert eines Menschen oder Tiers als Funktion ihrer individuellen Fähigkeiten dar. Vertreter dieser Theorien unterscheiden sich darin, welche spezifische Fähigkeiten sie als relevant betrachten, wobei sich manche zum Beispiel für das Empfindungsvermögen47, andere für die Subjektivität48 oder andere Fähigkeiten aussprechen. Unabhängig davon, welche Fähigkeiten sie als relevant betrachten, weisen sie oft darauf hin, dass es ihnen zufolge außer Frage stehe, Menschen auf Kosten von Tieren wertzuschätzen. Den relevanten ethischen Ansätzen zufolge sei es nämlich nicht nur so, dass die bloße Tatsache des Menschseins moralisch ohne Bedeutung sei. An dieser Stelle wird vielmehr auch deutlich, dass ein menschliches Wesen (zum Beispiel mit einer schwerwiegenden geistigen Beeinträchtigung) ebenso wenig mit den ‘moralisch relevanten Fähigkeiten’ ausgestattet sein kann wie einige Tiere, und darum ebenso wenig moralische Achtung verdient wie sie.49 Doch trotz ihres scheinbaren Versprechens, ein Antidot gegen die menschliche Vorherrschaft zu sein, 44  Vgl. Kymlicka 2017. 45  Vgl. McMahan 2005, Rachels 1990 und Singer 2010. 46  Zur Diskussion von Singers Zustimmung zu dieser Weltanschauung vgl. Crary 2016, 19-25. 47  So z.B. Singer 2009 und 2010. 48  So z.B. Regan 1983. 49  Vgl. McMahan 2005 und Singer 2010.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

188

Alice Crary

sind diese Konzeptionen des moralischen Status moralisch inakzeptabel. Sie sind untrennbar von der erschreckenden Tendenz, den moralischen Status derjenigen sozial schwachen Menschen abzuwerten, die schwerwiegende geistige Behinderungen haben und die zumindest zu einem gewissen Grad nicht über diejenigen Fähigkeiten verfügen, die als ‘moralisch relevant’ erachtet werden.50 Diese Konzeptionen des moralischen Status sind auch philosophisch ungenügend, insofern ihre Attraktivität auf einem philosophischen Bild der empirischen Welt beruht, das massiv unter Kritik gekommen ist, ohne dass eine mögliche Antwort auf diese Kritik evident wäre.51 Es gibt moralisch und philosophisch schlüssige Wege, um das menschliche Leben zu würdigen, ohne Menschen damit in einer normativen Sphäre ‘über’ den Tieren zu situieren. Ein sinnvoller Weg, um damit zu beginnen, besteht darin, die Arbeit der zahlreichen zeitgenössischen Philosophen fortzusetzen, die überzeugend für die Ablehnung der philosophisch fragwürdigen – ‘moralisch neutralen’ – Metaphysik argumentieren, welche die meisten Diskussionen des moralischen Status in der Bioethik kennzeichnet. Diese ablehnende Geste öffnet den Raum für eine Perspektive, in der manche Eigenschaften, über die die empirisch Welt erkennbar verfügt, in sich moralisch bedeutsam sind, wobei zunächst offen bleibt, welche Eigenschaften in diese Kategorie fallen. Die unmittelbar relevante Frage ist nun, ob diese Kategorie Eigenschaften beinhaltet, über die menschliche Wesen wahrnehmbar verfügen. Es ist mithin schlüssig, dass es beispielsweise Argumentationsstrategien gibt, von denen einige mit Wittgensteins Spätphilosophie verbunden werden, die eine Abgrenzung von der ›moralisch-neutralen‹ Metaphysik voraussetzen und dafür optieren, nicht nur Menschen, sondern auch Tiere als Wesen zu konzipieren, die über wahrnehmbare moralische Qualitäten verfügen. Im Zentrum der relevanten Wittgenstein’schen Argumentationsstrategie steht eine Theorie mentaler Begriffe, gemäß derer Begriffe ethisch bedingte Kategorien sind, die sich einer sinnvollen Reduktion oder Übersetzung in neutrale Termini verweigern, und die zugleich metaphysisch aufschlussreich sind, und zwar in dem Sinne, dass sie erhellen, wie die Dinge empirisch sind. Manche Philosophen verteidigen einen solchen Ansatz mit Bezug zumal auf Menschen, indem sie argumentieren, dass die praktischen Einstellungen und Reaktionen, die wir üblicherweise im Zuge unserer frühen Sozialisierung erlernen, immanent zu unserem Vermögen beitragen, nicht-interferenziell die 50  Vgl. Crary 2018b und Crary 2018c. 51   Vgl. z.B. Conant 2005 und 2006, Crary 2016, Daston/Galison 2007, Diamond 1991, McDowell 1983 und 1996, Putnam 2004 und Wiggins 2002; für einen Überblick vgl. Crary 2018d.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

189

psychologische Bedeutung des wirklichen Ausdrucks und Verhaltens unserer Mitmenschen wahrzunehmen.52 Obwohl Diskussionen dieser Art mit Bezug auf Tiere seltener sind, unternehmen es manche Philosophen, zu zeigen, dass unsere primitiven Reaktionen gegenüber Tieren »unseren elementarsten Begriffen des Denkens, des Fühlens, der Intention, des Glauben, des Zweifel und so fort«53 immanent sind. Unabhängig davon, ob sie nun ausschließlich an Menschen interessiert sind, oder ob sie auch von Tieren sprechen, neigen Anhänger dieser elementaren Theorie des Geistes dazu, die Idee, dass unsere Reaktionsmodi unserem Verstehen mentaler Begriffe immanent sind, mit dem plausiblen Vorschlag zu verbinden, dass die praktischen Reaktionsmodi, die dem psychologischen Verstehen eines (menschlichen oder nichtmenschlichen) Wesens immanent sind, etwas davon vermitteln, was wichtig ist für die infrage stehenden (menschlichen oder nicht-menschlichen) Wesen. So ergibt sich ein Ansatz, in dem wir ethische Ressourcen benötigen, um in der Ethik jenen Eigenschaften des menschlichen und tierischen Lebens in der Welt Genüge zu tun, ein Ansatz, in dem wir das Leben von menschlichen und tierischen Wesen in einer ethischen Perspektive auf ihr Leben betrachten müssen, um diese Eigenschaften überhaupt in den Blick zu bekommen.54 Den psychologischen Ausdruck eines Menschen oder Tieres deutlich zu sehen, ist, gemäß dieser Argumentationsstrategie, untrennbar davon, das in Frage stehende Wesen als ein Individuum zu betrachten, für das gewisse Dinge wichtig sind, und zwar schlicht aufgrund der Tatsache ihres Mensch- oder Tierseins. Das bedeutet, dass Menschen und Tiere in einem legitimen, welt-orientierten moralischen Denken ihren Platz haben als Wesen, die bestimmte Formen der Aufmerksamkeit schlicht als diejenigen Arten von Wesen verdienen, die sie sind.55 Das Ergebnis ist eine Konzeption des moralischen Status, die es ermöglicht, die Menschlichkeit zu schätzen, ohne Menschen dabei ‘über’ Tiere zu stellen. Wir können so das Unrecht verschiedener Formen des Rassismus aufklären, ohne dabei die Herabwürdigung von Tieren zu praktizieren, die einem Großteil der rassistischen Rhetorik immanent ist. Und wir können auf diese Weise auch ein Bekenntnis zur moralischen Gleichheit des Menschen mit einer Ablehnung der menschlichen Vorherrschaft verbinden. Diese Theorie des moralischen Status ist nicht nur deswegen beachtenswert, weil sie eine Konzeption der Bedeutung des Menschen in Reichweite 52  Vgl. z.B. Crary 2016, Chapter 2; Gaita 2002, 44-47; Hacking 2009a, 2009b und 2010; Winch 1987. 53  Gaita 2002, 61; vgl. auch Crary 2016, Kapitel 3. 54  Vgl. Crary 2016, 4.2 und 4.3 sowie Hacking 2009b. 55  Vgl. Crary 2016, 4.3.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

190

Alice Crary

bringt, die ohne den Topos der »menschlichen Vorherrschaft« auskommt. Die Theorie hat auch Implikationen dafür, wie wir versuchen könnten, die Anliegen von Tierrechtlern zu bekräftigen, die darauf hoffen, zeigen zu können, dass die grausame indifferente Behandlung von Tieren in Schlachthäusern und an anderen Orten ein beinahe unbeschreibliches Grauen darstellt. Denn diese Theorie vermittelt ein bestimmtes Bild davon, wie man Tiere auf eine Weise in den Blick nehmen kann, die für die Ethik relevant ist. Die Idee ist hier, dass wir, um das weltliche Leben von Tieren in der Ethik in den Blick zu bekommen, dieses Leben im Lichte einer ethisch gehaltvollen Konzeption dessen betrachten müssen, was für Wesen dieser Art wichtig ist. Zudem ist es, wenn uns das gelingen soll, notwendig, dass wir unsere gegenwärtigen ethischen Konzeptionen verfeinern und erweitern. Es gibt nicht einen vorgeschriebenen Weg, wie bei diesem Projekt vorzugehen ist. Wir können Fortschritte in der Verfeinerung unseres ethischen Bildes des Lebens von Tieren einer bestimmten Art machen, indem wir sie zum Beispiel beobachten oder mit ihnen oder Tieren einer anderen Art interagieren. Oder auch, indem wir uns in journalistische Texte, Ethologie, Dokumentarfilme, Literatur, narrative Filme oder andere Formen von Kunst vertiefen, die unsere Einstellung Tieren gegenüber prägen und damit unser Verständnis dessen leiten, was für sie wichtig ist. Die Aufgabe, von diesen Formen der Beschäftigung zu lernen, muss eine kritische sein. Das heißt, sie muss mit der Bereitschaft einhergehen, von jeder neuen Einstellung, von jeder Form der Wertschätzung Abstand zu nehmen und zu fragen, ob diese neuen Einstellungen verzerrend sind – oder ob sie es uns stattdessen ermöglichen, das, was vor uns ist, deutlicher zu sehen. Doch dies steht im Einklang mit dem Argument, dass das Projekt, ein Verständnis dessen zu erlangen, was für Tiere einer bestimmten Art wichtig ist, der Aufgabe immanent ist, ihre empirische Existenz in der Ethik in den Blick zu bekommen. Diese Reflexionen geben uns den Umriss einer Strategie, um zu zeigen, dass die Dinge, die Menschen Tieren unter Bedingungen wie denen des Schlachthauses antun, jene Formen des Schreckens darstellen, für die Tierrechtler sie halten. Relevant sind dabei Methoden, die unsere Einstellungen auf eine Art prägen können, die immanent zu unserer Fähigkeit beitragen, das weltliche Leben von Tieren in der Ethik in den Blick zu bekommen. Und ein Ort, an dem sich der Einsatz solcher Methoden finden lässt, sind Texte mit literarischen Qualitäten. In einem Essay von 1982 über ethischen Vegetarismus mit dem Titel »Die erste Stufe« begegnet Leo Tolstoi dem, was er als die Brutalität der Schlachthäuser betrachtet, nicht nur unmittelbar mit Argumenten, sondern auch durch den Gebrauch von formalen, literarischen Mitteln, die

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

191

dazu bestimmt sind, uns auf bestimmte Weisen anzusprechen.56 Nehmen wir Tolstois Beschreibung davon, wie er sich in einen Teil des Schlachthauses wagte, in dem die Schlachtung kleiner Tiere vorgenommen wird, und wie er die Tötung eines jungen Schafes mit ansah: In dem vom Geruch des Bluts durchdrungenen Raum war die Arbeit getan. Es waren nur noch zwei Metzger dort. Einer von ihnen rieb mit der Hand den angeschwollenen Bauch des Tieres. Der andere, ein junger Kerl, der eine blutbeschmierte Schürze trug, rauchte eine Zigarette.57

Ein ehemaliger Soldat betritt nun den Raum, erzählt Tolstoi weiter: »Er trug ein schwarzes Lämmchen, das einen Fleck an der Kehle hatte und dessen Beine gefesselt waren.« Die Art des Soldaten war lässig. Er platzierte das Tier auf einem der Tische »wie auf einem Bett«, und fing dann mit dem Schlächter eine Unterhaltung über die Arbeitszeiten an.58 Nachdem Tolstoi so die sorglos menschliche Atmosphäre im Raum geschildert hat, wendet er sich dem Leid der gefesselten Kreatur zu. »Das lebende Lamm«, schreibt Tolstoi, »war so unbeweglich wie der tote, aufgeblähte Hammel, mit dem Unterschied, dass sein kurzer Schwanz rege wedelte und sich seine Rippen schneller als sonst bewegten«.59 Auf diese zärtliche Darstellung der Verletzlichkeit der verängstigten Kreatur folgt ohne Vorbereitung eine Beschreibung davon, wie der Schlachter, »ohne seine Rede zu unterbrechen, mit der linken Hand den Kopf des Lammes ergriff und ihm die Kehle durchschnitt«60. »Das Opfer«, erzählt Tolstoi weiter, »schüttelte sich und der kleine Schwanz hörte auf zu wedeln«, während der Schlachter damit »begann, sich seine Zigarette wieder anzuzünden« und darauf wartete, dass das Blut herablaufen würde.61 Tolstoi lenkt unsere Reaktionen hier in einer Weise, die es uns erlaubt, den tödlichen Ernst dessen zu erkennen, was der Schlächter einer kleinen hilflosen Kreatur antut, und er versucht zudem, uns den Kontrast erkennen zu lassen zwischen den horrenden Umständen und der Nonchalance des Schlachters. Auf diesem Weg, indem er also unsere Reaktionen in bewusst kalkulierte Bahnen lenkt, hofft Tolstoi, uns dazu zu bringen, etwas zu sehen, was die in der Handlung involvierten Männer nicht sehen: das Ausmaß des Schadens, den sie dem Lamm zufügen. 56  Vgl. Tolstoi 2009. 57  Tolstoi 2009, 43. 58  Tolstoi 2009, 43. 59  Tolstoi 2009, 43. 60  Tolstoi 2009, 43. 61  Tolstoi 2009, 43.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

192

Alice Crary

Zudem – und ich führe den Punkt hier an, obwohl ich ihn nicht ausführen kann – gibt es gute Gründe dafür, es Tolstoi anzurechnen, dass er uns, durch den Gebrauch dieser Art von formalen Mitteln, genau eine solche Lektion über die Ungeheuerlichkeit des Tötens von Tieren erteilt, wie auch Tierrechtler sie zu vermitteln suchen. Teil davon, was so schrecklich ist am industriellen und in der Tat auch an gewissen vorindustriellen Formen der Schlachtung, ist die unerbittliche Wiederholung des Tötens. Diese Wiederholung ist eine Herausforderung für Aktivisten und auch für all jene, die unsere Aufmerksamkeit auf das lenken wollen, was beim Töten von Tieren auf dem Spiel steht, denn, wie Costello in Cotzees Erzählung es sagt, »den Tod von anderen können wir nur als Einzelfall begreifen«62. Und selbst um die Schlachtung eines einzigen Tieres in der Ethik in den Blick zu bekommen, benötigen wir, wie wir gesehen haben, eine Bereitschaft, an uns selbst zu arbeiten und unser Verständnis von dem, was wichtig ist, zu verändern. Dies stellt die Frage nach der Art von Anstrengung, die nötig wäre, um die Praktik der Tierschlachtung zu begreifen, welche ohne Unterlass und in einem massiven Ausmaß betrieben wird. Es gibt gute Gründe zur Annahme, dass ebenso wie die Anstrengung, die Bedeutung des Massenmords an Menschen zu begreifen, uns zunichte machen würde, da sie die Fähigkeiten unseres Geistes grundlegend gefährdet,63 auch die Anstrengung, die hier in Frage steht, uns überwältigen und uns die Orientierung rauben würde, sodass wir keinen klaren Begriff mehr davon hätten, was wir zu tun versuchen. Wenn wir also die Aufgabe verstehen wollen, der jene Tierrechtler gegenüber stehen, die versuchen, unsere Augen für das zu öffnen, was Tieren angetan wird, dann müssen wir ein Gefühl dafür bekommen, wie der Umgang mit diesen Grausamkeiten eine grundlegende Gefahr für die Fähigkeiten unseres Geistes darstellen kann. Und genauso, wie wir uns literarischen Texten wie demjenigen Tolstois zuwenden können, um ein Gefühl für den Schreckens zu bekommen, der Tieren angetan wird, so können wir uns auch der Literatur zuwenden, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie der von vielen Aktivisten unternommene Versuch, diesen Schrecken entgegenzutreten, uns aus dem Gleichgewicht werfen kann. Dies ist ein geeigneter Punkt, um zu der Geschichte von J.M. Coetzee zurückzukehren, mit der ich begonnen habe. Eine von Coetzees Leistungen besteht darin, uns ein Gefühl der mentalen Folter zu geben, das Tierrechtler bei ihren Anstrengungen durchleben, die Monstrosität des modernen, gesellschaftsübergreifenden Umgangs der Menschen mit Tieren zu erfassen. Eine 62  Coetzee et al. 1999, 19. 63  Vgl. Améry 1980.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

193

zweite, damit zusammenhängende Leistung besteht darin, es uns zu ermöglichen, die Berufung auf Holocaust-Analogien seitens der Aktivisten zu verstehen. Die Hauptperson der Geschichte, Elizabeth Costello, wird von ihrem Kampf, die Misshandlung von Tieren sichtbar zu machen, in die psychische Instabilität und Entfremdung von der Gesellschaft getrieben. Während Coetzees gesamten Erzählungen, in denen die Begebenheiten von Costellos Besuch der Appleton-Universität erzählt werden, wird Costello als eine Person dargestellt, die ihr Bewusstsein davon, was Tieren angetan wird, als eine existenzielle Last erlebt. Als sie die Vorlesung gibt, die der eigentliche Grund ihres Besuches ist, stellt sie sich auf diese Weise dar. Costello enttäuscht die Erwartungen ihrer Gastgeber, wie schon erwähnt, nicht nur dadurch, dass sie von Tieren statt literarischen Themen spricht, sie enttäuscht sie auch dadurch, dass sie von ihnen in einer Weise spricht, die mehr evokativ denn argumentativ in einem herkömmlichen Sinne ist. Obwohl ihre Bemerkungen stellenweise mäandernd und unscharf sind, ist ihre Methode doch durchaus konsistent. Statt ein einfaches Argument für die Position zu präsentieren, dass Tiere schlecht behandelt werden, versucht sie vielmehr die Quelle ihres Schmerzes zu evozieren. Sie verlässt sich zum überwiegenden Teil nicht auf die »kühlen« diskursiven Methoden, die oft mit philosophischen Debatten verbunden werden, sondern auf jene »hitzigen« Mittel, welche die Hauptwerkzeuge ihrer Schriftstellerei bilden.64 Eines ihrer zentralen Mittel ist es, zu argumentieren, dass sie wie der Rote Peter sei, jener Affe aus Kafkas Erzählung »Ein Bericht für eine Akademie«, der sich an die Mitglieder einer Gelehrtenakademie wendet und ihnen davon berichtet, wie er sich eine Bildung angeeignet hat, die es ihm erlaubt, in der angesehen Gesellschaft zurechtzukommen.65 So wie der Rote Peter unwiederbringlich von dem Trauma gezeichnet ist, seine Reaktionen und Impulse in eine Form zu zwängen, die für die gebildete Gesellschaft annehmbar ist, so ist auch Costello von dem Trauma gezeichnet, ihre Reaktionen auf die allgegenwärtige Industrie der Tötung von Tieren in einer Weise zu unterdrücken, die es ihr erlaubt, weiterhin unter ihren Mitmenschen zu leben.66 Sie vertritt eine Position wie die von mir skizzierte, eine Position also, in der die ausgebildete Fähigkeit zur Sympathie notwendig ist, um das weltliche Leben von Tieren in einer Weise zu verstehen, die für die Ethik relevant ist.67 Sie verwendet eine Moralpsychologie, die Raum hat für 64  Vgl. Coetzee et al. 1999, 21-22. 65  Vgl. Coetzee et al. 1999, 19. 66  Vgl. Coetzee et al. 1999, 21 und 26; vgl. auch 69. 67  Vgl. Coetzee et al. 1999, 34; vgl. auch die Beschreibung des Seminars, das sie am zweiten Tag ihres Besuchs anbietet, 55-57.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

194

Alice Crary

die Möglichkeit von Eigenschaften der Realität, die so beschaffen sind, dass sie in den Blick zu bekommen nach einer monumentalen, einer vielleicht sogar exzessiven emotionalen Anstrengung verlangen könnte. Sie präsentiert sich dabei selbst als jemand, der sich diesen Eigenschaften in Form der modernen, großflächigen und grausamen Behandlung von Tieren entgegenstellt.68 Ihre Vorlesung in Appleton ist im Wesentlichen ein Aufruf an die Zuhörer, mit ihr in diesem Dilemma zu sympathisieren. Und wir werden auf diesem Wege selbst dazu eingeladen, uns in die Lage einer Person zu versetzen, die von der Anstrengung überwältigt worden ist, die dafür nötig ist, um das Leben von Tieren in den Blick zu bekommen, einer Person, die dies nun als Gefährdung ihrer geistigen Gesundheit erfährt.69 Es ist diese Person, die im Rahmen von Coetzees Erzählungen die Idee einer Analogie zwischen dem Unrecht, das Tieren angetan wird, und dem Holocaust einführt. Beachten Sie, wie weit wir uns von der Darstellung von Coetzees Erzählungen entfernt haben, welche die ursprünglichen Kommentatoren der Tanner Lectures gegeben haben. Im Gegensatz zu dem, was die meisten dieser Kommentatoren nahelegen, befasst sich Costello nicht mit »empirischen und philosophischen Argumenten, die für die ethische Frage von Bedeutung sind, wie Menschen mit Tieren umgehen sollen«. Es ist deswegen falsch, wie Singer, zu behaupten, dass Coetzee Costello benutzt, um einfache Argumente über Tiere und Ethik in einer Weise einzuführen, die ihn nicht verpflichtet, Verantwortung für sie zu übernehmen. Indem Coetzee uns seine Darstellung von Costello anbietet, liefert er eine Illustration davon, wie die Auseinandersetzung mit der Realität des modernen menschlichen Umgangs mit Tieren den Geist erschüttern kann. In dem Maß, in dem uns Coetzes Erzählung ein Gefühl für die Schwierigkeit gibt, deutlich zu sehen, was Menschen Tieren antun, wirft sie auch ein Licht auf das Dilemma von Tierrechtlern, die versuchen, in einer produktiven Weise auf die Katastrophe der modernen Mensch-TierBeziehungen zu reagieren. Sie versetzt uns in eine Lage, in der wir würdigen können, wie einen der Versuch, dieser Katastrophe unmittelbar gegenüberzutreten, an die »Grenzen des Geistes«70 führen kann. Auf diese Weise gewährt sie uns einen Einblick, wie Tierrechtler dazu verleitet werden können, das horrende Leid, das Menschen Tieren zufügen, mit Verbrechen gegen Menschen wie dem des Holocausts zu verbinden, mit Verbrechen also, die so enorm sind, dass allein der Gedanke daran Gefahr läuft, den Verstand aus der 68  Vgl. Diamond 2007 zur Diskussion dieser Themen unter der Überschrift »difficulties of reality«. 69  Vgl. Coetzee et al., 68. 70  Améry 1980.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

195

Bahn zu werfen. Doch ein Licht darauf zu werfen, warum sich Aktivisten auf Holocaust-Analogien berufen, heißt nicht, diese Praktik zu verteidigen. Der Wert von Coetzees Tanner Lectures besteht darin, uns zu zeigen, wie wir uns aus Prinzip weigern können, die von manchen Aktivisten verwendeten Analogien zwischen extremer rassistischer Gewalt und dem ungeheuerlichen Leid, das Tieren angetan wird, zu benutzen, ohne dabei in irgendeiner Weise das Ausmaß und den Schrecken dieses Leids herunterzuspielen.* Literaturverzeichnis Alexander, Edward 1980, »Stealing the Holocaust« in: Mindstream: A Monthly Jewish Review, Vol. 26, No. 9, 46-50. Améry, Jean 1980, At the Mind’s Limits: Contemplations by a Survivor on Auschwitz and Its Realities, Bloomington, IN. Aubert, Guillaume 2004, »‘The Blood of France’: Race and Purity of Blood in the French Atlantic World«, in: The William and Mary Quarterly, Vol. 61, No. 3, 439-478. Bernstein, Jay 2015, Torture and Dignity: An Essay on Moral Injury, Chicago, IL. Bildhauer, Bettina 2003, »Blood, Jews and Monsters in Medieval Culture«, in: Bettina Bildhauer et al. (Hg.), The Monstrous Middle Ages, Toronto, 75-96. Chaves, María Eugenia 2012, »Race and Caste: Other Words and Other Worlds«, in: Max S. Hering Torres et al. (Hg.), Race and Blood in the Iberian World, Wien, 39-60. Chicago, Judy 1993, Holocaust Project: From Darkness into Light, New York, NY. Coe, Sue 1995, Dead Meat, New York, NY. Coetzee, John Maxwell 2000, Das Leben der Tiere, übers. v. Reinhild Böhnke, Frankfurt a.M. — 2003, Elizabeth Costello, New York, NY. Coetzee, John Maxwell et al. 1999, The Lives of Animals, Princeton, NJ. Conant, James 2005, »The Dialectic of Perspectivism I«, in: Sats – Nordic Journal of Philosophy, Vol. 6, No. 2, 5-50. — 2006, »The Dialectic of Perspectivism II«, in: Sats – Nordic Journal of Philosophy, Vol. 7, No. 1, 6-57. Crary, Alice 2016, Inside Ethics: On the Demands of Moral Thought, Cambridge, MA. — 2018a, »Ethics«, in: Lori Gruen (Hg.), Critical Terms in Animal Studies, Chicago, IL. — 2018b, »The Horrific History of Comparisons Between Animals and Cognitively Disabled Human Beings (and How to Move Past it)«, in: Lori Gruen/Fiona Probyn Rapsey (Hg.), Animalides, London. *  Danke für Hilfe mit Literaturnachweisen und Gesprächen an Cora Diamond, Jacob Dlamini, Erika Milam und Silvia Sebastiani.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

196

Alice Crary

— 2018c, »Moral Status and Cognitive Disability«, in: Adam Cureton/David Wasserman (Hg.), The Oxford Handbook of Philosophy and Disability, Oxford. — 2018d, »Objectivity«, in: James Conant/Sebastian Greves (Hg.), Wittgenstein on Objectivity, Intuition and Meaning, Cambridge. Darwin, Charles 1909, The Descent of Man, London. Daston, Lorraine/Galison, Peter 2007, Objectivity, Brooklyn, NY. Davis, Karen 2005, The Holocaust and the Henmaid’s Tale: A Case for Comparing Atrocities, New York, NY. Desmond, Adrian/Moore, James 2009, Darwin’s Sacred Cause: Race, Slavery and the Quest for Human Origins, London. Diamond, Cora 2007, »The Difficulty of Reality and the Difficulty of Philosophy«, in: Alice Crary/Sanford Shieh (Hg.), Reading Cavell, Cambridge, MA, 98-116. — 1991, The Realistic Spirit: Wittgenstein, Philosophy, and the Mind, Cambridge, MA. Eze, Chukwudi Emmanuel 1997, Race and the Enlightenment: A Reader, Oxford. Fredrickson, George M. 2002, Racism: A Short History, Princeton, NJ. Gaita, Raimond 2002, The Philosopher’s Dog, Melbourne. Graizbord, David 2012, »Pauline Christianity and Jewish ‘Race’«, in: Max S. Hering  Torres et al. (Hg.), Race and Blood in the Iberian World, Wien, 61-80. Hacking, Ian 2009a, »Autistic Autobiography«, in: Philosophical Transactions of the Royal Society, Vol. 364, 1467-1473. — 2009b, »Humans, Aliens and Autism«, in: Deadalus, Vol. 138, No. 3, 44-59. — 2010, »How We Have Been Learning to Talk about Autism: A Role for Stories«, in: Licia Carlson/Eva Feder Kittay (Hg.), Cognitive Disability and Its Challenge to Moral Philosophy, Oxford, 261-278. Holt, Thomas C. 2004, »Of Blood and Power: An Introduction«, in: The William and Mary Quarterly, Vol. 61, No. 3, 435-438. Katz, Steven T. 2009, »The Uniqueness of the Holocaust: The Historical Dimension«, in: Alan Rosenblum (Hg.), Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, Boulder, CO, 55-74. Klüger, Ruth 2001, Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered, New York, NY. Kymlicka, Will 2017, »Human Rights Without Human Supremacism«, Unpublished manuscript on Academia.edu. Levi, Primo 1959, Survival in Auschwitz, New York, NY. Lukes, Steven 2003, Liberals and Cannibals: Implications of Diversity, London. McDowell, John 1983, »Aesthetic Value, Objectivity and the Fabric of the World«, in: Eva Schaper (Hg.), Pleasure, Preference and Value, Cambridge, 1-16. — 1996, Mind and World, Cambridge, MA. McMahan, Jeff, 2005, »Our Fellow Creatures«, in: The Journal of Ethics, Vol. 9, 353-380.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Animalität und Ethnizität

197

Nirenberg, David 2009, »Was There Race Before Modernity? The Example of ‘Jewish’ Blood in Late Medieval Spain«, in: Miriam Eliav-Feldon et al. (Hg.), The Origins of Racism in the West, Cambridge, 232-264. Patterson, Charles 2002, Eternal Treblinka: Our Treatment of Animals and the Holocaust, New York, NY. Putnam, Hilary 2004, The Collapse of the Fact/Value Distinction and Other Essays, Cambridge, MA. Rachels, James 1990, Created from Animals: The Moral Implications of Darwinism, Oxford. Raffles, Hugh 2007, »Jews, Lice, and History«, in: Public Culture, Vol. 20, No. 3, 521-566. Regan, Tom 1983, The Case for Animal Rights, Berkeley. Roberts, Mark 2008, The Mark of the Beast: Animality and Human Oppression, West Lafayette, IN. Savy, Pierre 2007, »‘Les Juifs Ont une Queue’: Sur un Thème Mineur de la Construction de L’Altérité Juive«, in: Revue des Études Juives, Vol. 166, No. 1-2, 175-208. Sax, Boria 2000, Animals in the Third Reich, New York, NY. Sharp, Gwen 2008, »PETA’s ‘Holocaust on Your Plate’ Campaign«, https://thesocietypages.org/socimages/2008/05/05/petas-holocaust-on-your-plate-campaign/, accessed December 19, 2017. Singer, Peter 2009, Animal Liberation, New York, NY. — 2010, »Speciesism and Moral Status«, in: Licia Carlson/Eva Feder Kittay (Hg.), Cognitive Disability and Its Challenge to Moral Philosophy, Oxford, 331-344. Snyder, Timothy 2015, Black Earth: The Holocaust as History and Warning, New York, NY. Steuter, Erin/Wills, Deborah 2011, »The Dangers of Dehumanization: Diminishing Humanity in Image and Deed«, in: Susan Dente Ross/Paul Martin Lester (Hg.), Images that Injure: Pictorial Stereotypes in the Media, Oxford, 43-54. Sztybel, David 2006, »Can the Treatment of Animals be Compared to the Holocaust?«, in: Ethics and the Environment, Vol. 11, No. 11, 97-132. Tolstoy, Leo 2009, »The First Step«, reprinted as the Introduction to William Howard, The Ethics of Diet: An Anthology of Vegetarian Thought, Guildford, 11-47. Torres, Max S. Hering 2012, »Purity of Blood«, in: Max S. Hering Torres et al. (Hg.), Race and Blood in the Iberian World, Wien, 11-38. Wiggins, David 2002, Needs, Values, Truth, 3rd ed. Oxford. Winch, Peter 1987, Trying to Make Sense, Oxford.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform Ethisch-anthropologische Reflexionen Elif Özmen 1.

Über die Probleme der philosophischen Anthropologie

Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen hat einen schweren Stand innerhalb der Philosophie der Gegenwart; die Gründe liegen auf der Hand. Zuvorderst sind sie methodologischer Art. Eine Abgrenzung der geisteswis­ senschaftlichen Anthropologie von ihren empirischen Schwestern fällt chronisch schwer, ebenso ihre Etablierung als eine eigenständige philo­ sophische Disziplin, die sich durch spezifische Problemstellungen und Grund­ begriffe charakterisieren und damit auch von den anderen Teildisziplinen der Philosophie unterscheiden ließe. Auch zeigt der Blick in die Philosophie­ geschichte, dass es sich bei der philosophischen Anthropologie um ein ver­ gleichsweise junges Ansinnen handelt, das seine disziplinäre Dynamik erst spät, im ausgehenden 18. Jahrhundert, entfaltet bis zu einem vorläufigen Höhepunkt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Rahmen der deutschen Philosophischen Anthropologie und des amerikanischen Pragmatismus. Daran schließt eine jahrzehntelange Phase der grundlegenden Skepsis gegen eine philosophische Anthropologie im Ganzen und das Argumentie­ ren mit der Natur im Besonderen an. Jürgen Habermas hat dieser Skepsis in einem einflussreichen Lexikonartikel aus dem Jahre 1958 Nahrung gegeben, wo er feststellt, dass der Gegenstand der philosophischen Anthropologie etwas [ist], das nicht geradewegs zum Gegenstand werden kann: das »Wesen« des Menschen. […] Das Sein des Menschen ist nicht abzutrennen von dem Sinn, zu dem er sich versteht. […] Und dieser Sinn ist nicht ein für allemal der gleiche. Menschen verstehen sich je in ihrer Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Lage auf eine andere Weise.1

Solche Selbst- und Sinndeutungen verlangen hermeneutische Umwege über die Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften und erlauben daher keine Verallgemeinerungen oder Objektivierungen. Von der Natur, dem Wesen des Menschen kann mit Bezug auf die Geschichtlichkeit, Kulturalität und Sozialität der menschlichen Lebensform also gar nicht gesprochen werden. Somit kann es auch eine Lehre vom Menschen, die sich zur philosophischen 1  Habermas 1973, 90.

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_012

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

200

Elif Özmen

Disziplin qualifiziert, nicht geben. Philosophische Anthropologie wäre dann, richtig verstanden, immer nur eine philosophische Kritik der Anthropologie im Sinne einer Kritik der historisch etablierten gesellschaftlichen Menschen­ bilder. Gegen die Verschränkung von Anthropologie und Philosophie drängt sich zudem der Verdacht des Kulturrelativismus, der Ideologie-Blindheit, des haltlosen Essentialismus und des Sein-Sollens-Fehlschlusses auf.2 Kurz gesagt erscheint der Erkenntniswert der philosophischen Anthropologie, vor allem aber die Berechtigung einer moralisch-rechtfertigenden Berufung auf die menschliche Natur, aus guten Gründen eher gering zu sein. Vor diesem Hintergrund erscheint es bemerkenswert, dass die praktische Philosophie in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten zunehmend auf anthropo­ logische Topoi Bezug nimmt, vor allem auf das Konzept der »menschlichen Natur« und der »menschlichen Lebensform«. Ob dieses schon Anlass bietet, von einem anthropological turn der Philosophie (oder gar der Wissenschaften im Ganzen) zu sprechen, sei vorläufig dahingestellt.3 Denn einerseits ist die Frage, Was ist der Mensch und was vermag er zu tun, zu wissen und hoffen?, für die Philosophie keineswegs neu, sondern disziplin- und identitätsstiftend. Vom Menschen handelt die Philosophie immer schon und sowieso; jede theoretische und praktische Philosophie bezieht sich auf ein bestimmtes Ver­ ständnis des Menschen oder setzt dieses voraus. Andererseits wird in maßgeb­ lichen zeitgenössischen Debatten der praktischen Philosophie die Natur und Norm der menschlichen Lebensform in den philosophischen Blick gerückt, so dass durchaus von einem gesteigerten Interesse an anthropologischen Perspektivierungen gesprochen werden muss. Ob sich diese als fruchtbar er­ weisen für ethisch-anthropologische Fragestellungen, muss sich aber nicht zu­ letzt im Lichte der Probleme der Anthropologie als praktisch-philosophischer Disziplin aufklären lassen. Daher werden im Folgenden drei zeitgenössische Ansätze präsentiert werden, die einen distinkten Zusammenhang der menschlichen Natur bzw. der menschlichen Lebensform mit ethischen Normen herstellen: der ethische Naturalismus (2), die Ethik der menschlichen Lebensform(en) (3) sowie die gattungsethische Moralisierung der mensch­ lichen Natur (4). Auch wenn alle drei Ansätze kritische Fragen aufwerfen bezüglich der normativen Berechtigung ihrer spezifischen anthropologischen Auszeichnungen, bestärken sie doch eine metaphilosophische These zum Ver­ hältnis von Philosophie und Anthropologie. Anthropologische Suppositionen haben eine strukturierende Funktion für die normative Theoriebildung; sie

2  Diese Einwände werden erläutert in Özmen 2016, Abschn. 1. 3  Zur anthropologischen Wende vgl. Özmen 2015.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform

201

nehmen vorweg, mit welcher Art von Lebewesen und Lebensformen philosophisch gerechnet wird. 2.

Wie hängen Natur und Naturalismus zusammen?

Insofern es sich beim Naturalismus nicht lediglich um eine allgemeine Respektbekundung an die Naturwissenschaften, sondern um eine philo­ sophische Position handelt, steht er, grob gesagt, für die Unterstellung der Naturalisierbarkeit der Probleme, Perspektiven und Gegenstände, mit denen sich die Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Philosophie des Geistes und die praktische Philosophie gemeinhin beschäftigen. Mit der Naturalisierbarkeits­ these können allerdings verschiedene Vorstellungen und Forderungen ver­ bunden werden, so dass sich nicht über den Naturalismus, sondern nur seine spezifischen Varianten sprechen oder streiten lässt. Wichtige naturalistische Grundpositionen sind etwa:4 – Die Naturbeschaffenheit alles Wirklichen. Alles was es gibt, was wirklich und existent ist, ist Teil einer natürlichen Welt bzw. Teil der Natur. – Die Naturzugehörigkeit des Menschen. Was Menschen sind, dass und wie sie geworden sind und was sie sein können, ist das Ergebnis der Natur- bzw. Evolutionsgeschichte, mithin kontingent. – Das Erklärungsprivileg der Naturwissenschaften. Alles, was es über den Men­ schen zu wissen gibt, ist durch das naturwissenschaftliche Paradigma und seine ontologischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Prä­ missen bestimmt und angeleitet. – Die Überlegenheit der erfahrungswissenschaftlichen Methode und des empirischen Wissens. Beobachtungen, Messungen und gezielte Experimente sind der beste (szientistisch zugespitzt: einzige) Weg zur Überprüfung, d.h. Veri­ fizierung oder Falsifizierung, von wissenschaftlichen Hypothesen. – Die Einheit der Natur. Die Welt als das Gesamt aller natürlichen Objekte ist (primär) materiell-energetisch, sowohl in zeitlicher, wie auch in kausaler Hinsicht. Wenngleich es materiell-energetische Systeme ohne mentale Ei­ genschaften geben kann, gilt die Umkehrung nicht. Alle Objekte sind ein­ heitlich, aus wenigen Elementarbausteinen, aufgebaut. – Die Einheit der Wissenschaft. Für die gesamte Natur gilt eine Einheit der Gesetze, so dass für sie auch eine einzige fundamentale Theorie formuliert werden kann. 4  Vgl. die ausführlichere Würdigung dieser einzelnen Positionen in Keil/Schnädelbach (2000).

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

202

Elif Özmen

Eine Gemeinsamkeit dieser Positionen besteht einerseits in einer meta­ physischen These, nämlich der Gleichsetzung von Natur mit dem Seienden und Wirklichen, andererseits in einer wissenschaftsphilosophischen These, d.h. der Gleichsetzung von Natur mit dem, was überhaupt ein vernünftiger Gegenstand der empirisch-induktiven Natur-Wissenschaften sein kann. Ein ge­ haltvolleres Konzept von Natur ist kein notwendiger Bestandteil des Naturalis­ mus, so dass manche sogar meinen, dass er gegenwärtig »eher ein Ismus der Naturwissenschaften zu sein (scheint) als ein Ismus der Natur«.5 Aber wenn Naturalismus lediglich die Anerkennung der Methoden und Ergebnisse der Naturwissenschaften meinen würde, wäre der anhaltende Disput unerklär­ lich. Anti-Naturalismus wäre dann schlicht eine Form des Obskurantismus; Naturalismus bliebe ohne eine relevante Gegenposition, sozusagen ohne Alternative, und wäre schwerlich noch als eine Position zu betrachten, die es zu begründen und zu verteidigen gilt. Diese Problematik unbenommen birgt der Naturalismus, jedenfalls in seinen physikalistisch-reduktionistischen Varianten, problematische Implikationen für die praktische normative Philosophie, die man als Naturalisierungsdruck bezeichnen könnte. Seine Richtung Towards an Ethics that Inhabits the World beschreibt einen Weg, der der praktischen Philosophie am Ende die Normativität austreiben würde.6 Denn die disziplinstiftenden Gegenstände und Grundbegriffe der praktischen Philosophie, wie etwa Freiheit, Sittlichkeit, (Un)Gerechtigkeit oder Pflicht, können nur um den Preis der normativen Ent­ leerung, und das heißt schlußendlich ihres Verlustes, naturalisiert werden. Die Methoden der praktischen Philosophie können nicht bruchlos an die Wissen­ schaften von der Natur und vom Natürlichen anschließen, weil sie sich nicht in empirischen Untersuchungen oder begrifflichen und logischen Analysen erschöpfen. Gegen den Naturalisierungsdruck des theoretischen Naturalismus muss also die disziplinäre Selbständigkeit der praktischen Philosophie heraus­ gestellt werden. So etwa durch Thomas Nagel: Ethics is [an autonomous theoretical] subject. It is pursued by methods that are continually being developed by methods in response to the problems that arise within it.7 It is the result of a human capacity to subject innate or conditioned prereflective motivational and behavioral patterns to criticism and revision, and to form new forms of conduct.8 5  Keil/Schnädelbach 2000, 13. 6  Railton 2004. 7  Nagel 1978, 203. 8  Nagel 1978, 204. Wie man diese Eigenständigkeit begründet, ist selbst Teil einer philo­ sophischen Kontroverse.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform

203

Während der Naturalismus in der theoretischen Philosophie gegenwärtig eine weit verbreitete Standardposition darstellt,9 kann das für seine praktische Variante, den ethischen Naturalismus, nicht behauptet werden. Überhaupt erscheint es diskussionswürdig, wenngleich selten thematisiert, ob und in welchem Sinne man in beiden Bereichen Naturalistin sein kann.10 Allerdings bedeutet die Position des Naturalismus in der theoretischen und praktischen Philosophie ohnehin etwas anderes. So beruft sich der ethische Naturalis­ mus nicht primär auf Natur im Sinne eines Gegenstandsbereiches oder auf die Natur-Wissenschaft im Sinne einer Methodologie, sondern meint eine Seinsweise. »Natur« bezeichnet hier das eigentliche Wesen oder die essentielle Beschaffenheit einer Entität, wobei der Bezug auf diese Natur nicht nur dazu dient, zu erklären, was diese Entität ist, sondern zugleich dazu, zu recht­ fertigen und zu normieren, wie sie sein, leben, handeln soll. Der naturalistische Gehalt des (meta)ethischen Naturalismus besteht in einer deskriptiven These, dass nämlich ethische Eigenschaften und Tatsachen identisch sind mit (oder supervenieren auf) natürlichen Eigenschaften und Tatsachen, welche natur­ wissenschaftlich beobachtbar und beschreibbar sind.11 Der ethische Gehalt des Naturalismus entfaltet sich in einer zweiten, normativen These: Insofern solche Eigenschaften und Tatsachen für die Natur von Lebensformen konstitutiv sind, ist ein Leben und Sich-Verhalten gemäß der Natur als gut, förderlich, wertvoll oder moralisch geboten zu bewerten.12 Die Natur als Ausgangs- und Bezugspunkt der Ethik zu betrachten erscheint auf den ersten Blick außerordentlich attraktiv. Das gilt nicht nur aus historischer Perspektive, wo die Natur teleologisch oder theologisch interpretiert und mit großer Selbstverständlichkeit zur Grundlage praktischer Normen erklärt wurde. Es gilt auch für eine postmetaphysische und posttraditionelle Ethik, die ihrem universalistischen Anspruch gerecht werden möchte durch Rück­ griff auf ein universales Fundament. Und dieses bietet die Natur: Natur ist von universal und ausnahmslos geltenden Gesetzen beherrscht, sie ist – anders als die Menschenwelt – in ihren Verlaufsformen unwandelbar, ihre Teilelemente – Ereignisse, Prozesse, Gesetzmäßigkeiten – sind objektiv und un­ abhängig von bestimmten kulturell geprägten Perspektiven und Deutungen, 9   Vgl. Papineau 2009. 10  Für einen prägnanten Überblick über die wechselseitigen metaphysischen und methodo­ logischen Implikationen (und Zumutungen) vgl. Tarkian 2004, auch Keil 2017. 11  Für den Aristotelischen Naturalismus als die prominenteste Form des ethischen Naturalismus geht es an dieser Stelle hingegen um empirisch-evaluativ-hybride Tatsachen oder Notwendigkeiten des menschlichen Lebens. Vgl. die Beiträge in Hähnel 2017. 12  Für einen Überblick über den zeitgenössischen Naturalismus in der Ethik vgl. Schmidt/ Tarkian 2011.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

204

Elif Özmen und sie ist – anders als die Menschenwelt – in einer grundlegenden Weise egalitär, indem sie für alle im Prinzip in gleicher Weise kognitiv zugänglich ist und niemanden von ihrer Kenntnis und Erforschung ausschließt.13

Dieser begründungstheoretischen Attraktivität zum Trotz ist die Berufung auf die Natur in moralisch-rechtfertigender Hinsicht mit einer Reihe von Ein­ wänden konfrontiert, die ihre argumentative Kraft seit der Aufklärung nicht verloren haben. Daher lässt sich über die Natur oder Natürlichkeit als Norm erneut und im Besonderen feststellen, was bereits als allgemeine Probleme der Anthropologie als philosophischer Disziplin thematisiert wurde: Selbst wenn wir allen Grund hätten, der Natur Zwecke zuzuschreiben und diese Zwecke wohltätig wären, wäre die Beschaffenheit der Natur für sich genommen kein Grund, ihr im menschlichen Handeln zu folgen. Begründen lässt sich moralisches Handeln nur durch menschliche Zwecke und nicht durch Natur­ zwecke. Auch eine wohltätige ›Mutter Natur‹ hätte keinen Rechtsanspruch, über das Schicksal ihrer Kinder zu bestimmen.14

Durch das Abhandenkommen von metaphysischen Gewissheiten, ins­ besondere bezüglich einer wesenhaften Natur des Menschen, ist, jedenfalls der akademischen Philosophie, auch das Bemühen abhanden gekommen, überhaupt noch Argumente zu formulieren, die auf der Natur des Menschen gründen. Und selbst wenn es gelänge, in einem formal-definieren Sinne »von Natur aus gegebene«, für den Menschen charakteristische Eigenschaften, Ver­ mögen und Fähigkeiten zu benennen, so wäre damit nicht schon etwas in einem ethisch-normierenden Sinne ausgesagt über den Menschen. Als Beleg kann der von Amartya Sen und Martha Nussbaum gemeinsam entwickelte capability approach gelten, welcher menschliche Existenzbedingungen und Grunder­ fahrungen mit charakteristischen menschlichen Grundfähigkeiten verbindet und daraus eine Güter- bzw. Tugendliste ableitet. Diese ist normativ, insofern ihr eine konstitutive Rolle zukommt für eine Theorie der Gerechtigkeit, z.B. für eine Konzeption der Fürsorgepflichten des Staates oder eine Neukonzeption von internationaler Entwicklungshilfe. Aber es handelt sich explizit nicht um eine naturalistische Begründung von Gerechtigkeit und gutem Leben, denn es »gibt keinen Archimedischen Punkt, keinen reinen Zugang zu einer gleichsam jungfräulichen – auch menschlichen – ›Natur‹ an sich. Es gibt nur ein mensch­ liches Leben in seiner gelebten Form.«15 Die Belassung, Bewahrung oder auch Beförderung dessen, was die Natur des Menschen konstituiert, kann gar nicht 13  Birnbacher 2006, 42. 14  Birnbacher 2006, 64. 15  Nussbaum 1999, 260.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform

205

»natürlicherweise« oder »von Natur aus« geboten oder verboten sein.16 Selbst bei dem vorerst letzten Versuch einer normativ gehaltsvollen Philosophischen Anthropologie durch Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmut Plessner wird nicht ein einheitliches Naturwesen des Menschen, sondern seine natürliche Heterogenität herausgestellt: »Der Mensch ist ein so breites, buntes, mannig­ faltiges Ding, daß die Definitionen alle ein wenig zu kurz geraten. Er hat zu viele Enden.«17 3.

Was ist die Natur der menschlichen Lebensform(en)?

Ein zeitgenössischer Versuch, diese vielen Enden doch noch zu einem einheit­ lichen Bild zu verknüpfen und den Menschen auf einen Begriff zu bringen, kreist um das Konzept der »Lebensform«, das seit einigen Jahrzehnten eine breite philosophische Würdigung erfährt. Die Bezugnahmen reichen von der Philosophie der Biologie über die Angewandte Ethik, Phänomenologie hin zur Sprachphilosophie, vom neo-aristotelischen Naturalismus über einen deontologischen Humanismus bis hin zur kritischen Gesellschaftstheorie. Auch für die philosophische Anthropologie wird das Konzept herangezogen, nicht zuletzt, um den problematischen Begriff der menschlichen Natur zu er­ setzen durch eine Reflexions- und Urteilskategorie, die die Eigenschaften und Merkmale des menschlichen Organismus und des menschlichen Lebenszyklus konstruktiv miteinander verbindet. So äußert sich etwa Michael Quante über das Projekt einer pragmatischen Anthropologie: [The] conception of pragmatistic anthropology can be described as an ascrip­ tivist explication of the Lebensform of human personhood.18 The project is not to philosophically explicate THE essence of THE human. Rather the aim is to understand what it means to lead a personal life as a finite organism of a certain type.19 As members of a biological species human persons are […] finite: they are vulnerable, have needs, are fallible and mortal.20

16  Zu den vielfältigen Bedeutungen und möglichen normativen Gehalten von »Natürlich­ keit« und »Künstlichkeit« sowie den systematischen und inhaltlichen Problemen der Gleichsetzung oder Entgegensetzung zu »Natur« siehe Bayertz 2005 und Birnbacher 2006. 17  Scheler, Idee (1915), 324. Für einen systematischen Überblick über diese Tradition siehe Recki 2018. 18  Quante 2018, 13. 19  Quante 2018, 15. 20  Quante 2018, 9.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

206

Elif Özmen

Normativ wirksam wird das Konzept, indem die Lebensform Kriterien enthält und vorgibt, die ein Individuum erfüllen sollte, um ein gelungenes (normales, gutes) Exemplar seiner Art zu sein. Der Beliebtheit des Konzeptes zum Trotz gibt es doch eine widerständige Unklarheit, was mit Lebensform eigentlich gemeint ist. So lassen sich mindestens drei verschiedene Verwendungsweisen innerhalb der praktischen Philosophie unterscheiden. In der ersten, vor allem in der Sprachphilosophie etablierten Bedeutung meint Lebensformen diejenigen Handlungs- und Verständigungsmuster, die unterschiedlichen Lebensäußerungen eine Form geben und eine Überein­ stimmung herstellen darüber, was Menschen sagen und damit meinen, was sie tun, was sie für richtig und falsch halten. Eine solche sprachlich gestiftete ge­ meinsame Bedeutungswelt fungiert als eine (transzendentale oder empirische) Bedingung der Möglichkeit für menschliche Praktiken und Interaktions­ formen, wie etwa »Befehlen und nach Befehlen handeln – Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung – Berichten eines Herganges – Eine Geschichte erfinden; und lesen – Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten«.21 Auch wenn der Ausdruck »Lebensform« in der Spätphilosophie Wittgensteins nur an fünf Stellen beiläufig vorkommt, gibt es eine intensive und anhaltende Debatte, nicht nur über eine mögliche kohärente Interpretation (kann man über Lebensformen etwas sagen und feststellen oder sollen sie eher »gesehen« und »gezeigt« werden?), sondern auch über die Kontext- und Kulturabhängig­ keit der menschlichen Lebensform (sollte man nur im Plural von Lebens­ formen sprechen?).22 Zweitens bezeichnen Lebensformen Lebensweisen und Lebensstile von sozialen Gruppen oder Beziehungsgefügen, die durch bestimmte Struktur­ merkmale (z.B. materielle Grundlagen, gesellschaftliche Einflüsse, Wertvor­ stellungen) charakterisiert werden. Angeleitet von sich wiederholenden, stabilen und sozial bedeutsamen Praxisformen dienen Lebensweisen auch der individuellen und kollektiven Lebensbewältigung, so dass der zunächst deskriptive soziologische und kulturanthropologische Begriff sozialphilo­ sophisch geschärft werden kann. Dann meinen Lebensformen Formen menschlicher Praxis, die historisch gewachsen, kulturell geprägt und normativ angeleitet sind und eine spezifische Art und Weise begründen, sein Leben zu führen und zu gestalten. Lebensformen bieten einen kollektiven Orientierungs­ rahmen sowohl für einzelne Handlungen und Haltungen wie auch für eine spezifische Weise des gemeinschaftlichen Lebens. In Hinsicht auf solche inhärenten Standards (z.B der Funktionalität und Vernünftigkeit, des Gutseins 21  Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1984), 23 (Zitat mit Auslassungen). 22  Für eine kritische Diskussion vgl. Garver 2001.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform

207

oder Gelingens) können Lebensformen einer Beurteilung und Bewertung unterzogen werden, wie es etwa Rahel Jaeggi mit ihrer Kritik von Lebensformen unternimmt. Demzufolge sind Lebensformen »ein normativer Zusammen­ hang, sofern sich mit der Teilhabe an ihnen die Erwartung verbindet, an den sie konstituierenden Praktiken auf angemessene Weise teilzuhaben und den mit ihr gesetzten Interpretationsrahmen zu teilen.«23 Drittens werden als Lebensformen Formen biologischen Lebens bzw. Arten von (pflanzlichen, tierlichen, menschlichen) Lebewesen bezeichnet, die funktionell ähnliche Merkmale aufweisen, z.B. in der Form des Nahrungs­ erwerbs, der Bewegungs- oder Fortpflanzungsweise. Philosophisch relevant wird diese biologische Kategorisierung, wenn es um die Frage geht, welche Merkmale, Funktionen und Güte-Kriterien die spezifisch menschliche Lebens­ form, sei es als Organismus, Lebenszyklus oder Handlungszusammenhang verstanden, ausmachen und normieren. Ethisch gewendet wird die optimale Verwirklichung der spezifischen Fähigkeiten der menschlichen Lebensform zu einem Konzept des guten Lebens und des gelingenden Lebensvollzugs, etwa in Philippa Foots Theorie des natürlichen Gutseins (natural goodness), welches durch artspezifische Funktions- und Gütekriterien bestimmt wird: Aristotelian categoricals geben an, wie etwas im Lebenszyklus dieser Art ge­ schieht. Und alle wahren Aussagen über die Bedeutung dieses oder jenen Merkmals, über seinen Zweck und ggf. seine Funktion, müssen auf diesen Lebenszyklus bezogen sein. Die Art und Weise, wie ein Individuum sein sollte, wird durch das festgelegt, was für Entwicklung, Selbsterhaltung und Fort­ pflanzung notwendig ist.24

Auf welche dieser menschlichen Lebensform(en) sollte sich eine Anthropo­ logie im Sinne einer »ascriptivist explication of the Lebensform of human personhood« verbindlich beziehen? Lassen sich die durchaus unterschied­ lichen Bedeutungen in einem kohärenten Konzept der menschlichen Lebensform verbinden? Kann man überhaupt von der menschlichen Lebens­ form sprechen, oder gibt es stets nur eine Pluralität von Lebensformen, die sich als Selbst- und Sinndeutungen historisch-gesellschaftlich etablieren? Eine Antwort fällt auch mit einem tiefergehenden analysierenden Blick in die Debatten nicht leicht.25 Zudem verbirgt sich hinter den genannten 23  Jaeggi 2014, 149. 24  Foot 2004, 53. Auch Thompson 2008 spricht von life-forms, die auf »natural-historical judgements« gegründet sind. 25   So habe ich in Özmen 2018 kritisch die vielfältigen Verwendungsweisen von »Lebensform(en)« in Jaeggi 2014 evaluiert, ohne diese abschließend auf einen Begriff bringen zu können.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

208

Elif Özmen

Lebensform-Konzepten eine Vielfalt an historischen Referenzen, die von Aristoteles, Schleiermacher, Wundt, Spranger über Hegel, Haeckel, Wittgen­ stein bis hin zu Foucault reicht. Die sich daran anschließende Fülle an Inter­ pretationen und die intellektuelle Produktivität innerhalb der jeweiligen Debatten über die menschliche Lebensform tragen allerdings nicht dazu bei, den Eindruck, dass es sich um ein vages, geradezu undurchsichtiges Konzept handelt, aufzulösen. So ist es wohl kein Zufall, dass auffallend wenige philo­ sophische Lexika und Wörterbücher überhaupt ein Lemma »Lebensform« oder »Forms of Life« führen.26 Und wohlmöglich ist es gerade die semantische Ambiguität bezüglich seiner empirischen, analytischen und normativen Be­ deutungsebenen, die die stetigen Rückgriffe auf das Konzept der Lebensform zu erklären vermag. Damit würde die Ersetzung des Konzepts der mensch­ lichen Natur durch das Konzept menschliche Lebensform(en) den Be­ denken, Einwänden und begründeten Zweifeln an ihren normativ-praktischen Implikationen aber gerade nicht entgehen können. 4.

Was heißt Moralisierung der menschlichen Natur?

Mit dieser Frage leitet Jürgen Habermas seine Reflexionen über Die Zukunft der menschlichen Natur (2001) ein, die mit einer vergleichbaren Intensität, auch über die akademische Philosophie hinaus, rezipiert wurden wie Our Posthuman Future (2002) von Francis Fukuyama und The Case against Perfection (2008) von Michael Sandel im angelsächsischen Raum. Was diese drei vielbeachteten Beiträge eint, ist zum einen der Versuch, eine philosophische Antwort auf die ethischen, soziopolitischen und kulturellen Herausforderungen der neuen Techniken der Selbstoptimierung zu formulieren, welche über die beschränkte Perspektive der Angewandten Ethik hinausgeht. Diese Herausforderungen entstehen durch lebenswissenschaftliche Forschungsfelder und -disziplinen, vor allem die Evolutionsbiologie, Neurowissenschaft, komparative Verhaltens­ forschung und Genetik, sowie die biotechnologischen Interventionsmöglich­ keiten, die mit diesen konvergierenden Technologien einhergehen. Diese Interventionsmöglichkeiten sind transformativ und radikal, wenn sie tiefe und irreversible Eingriffe in unsere körperliche, kognitive, psychische und genetische Verfasstheit ermöglichen. Unter dem Begriff Human Enhancement werden solche mutmaßlichen Verbesserungen »normaler« Eigenschaften, 26  Eine historisch und systematisch höchst informative Ausnahme ist der Beitrag von Liebsch 2011.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform

209

Fähigkeiten und Funktionen von »normal gesunden« Menschen bereits seit den 1990er Jahren kontrovers diskutiert.27 Hierbei hat sich ein breites Spektrum von Pro- und Contra-Positionen herausgebildet, zu dem neben geläufigen moralischen Argumenten, wie dem Autonomie- und Nicht-Schädigungs­ prinzip, Gerechtigkeit, Risikoabwägungen und Dammbruch-Argumenten eben auch eine Wiederkehr des Arguments von der Natur des Menschen gehört.28 Denn, so die zweite, diagnostische Gemeinsamkeit der Autoren Haber­ mas, Fukuyama und Sandel, mit der »in Reichweite rückende(n) Selbsttransformation der Gattung29 […] ist das Verschwimmen der Grenze zwischen der Natur, die wir sind, und der organischen Ausstattung, die wir uns geben«,30 ver­ bunden. Eben das werfe die Frage auf, »ob wir in eine posthumane Zukunft eintreten und uns in einen potentiellen moralischen Abgrund begeben«,31 wobei die »gewohnten Begriffe des moralischen und politischen Diskurses es nur mit Mühe (gestatten), auf den Punkt zu bringen, was daran falsch ist, unsere Natur neu zu arrangieren.«32 Eine dritte, begriffliche Gemeinsamkeit besteht in der Verwendung des Konzepts der menschlichen Natur in normativer Absicht. Aber anders als in schlichten Contra-naturam-Versionen wird hier eine indirekte Argumentationsweise verfolgt. Nicht etwa, weil die menschliche Natur selbst normativ ausgezeichnet wäre, sondern weil sie die unverzichtbare Grundlage für unsere zentralen ethischen Normen und moralischen Praktiken darstellt, seien Eingriffe in diese Natur kritisch zu bewerten. So Fukuyama: Die politische Gleichheit, wie sie in der amerikanischen Unabhängigkeits­ erklärung verankert ist, beruht auf der empirischen Tatsache, daß die Menschen von Natur aus gleich sind. […] [U]ns alle verbindet etwas allgemein Mensch­ liches, das es jedem Menschenwesen im Prinzip ermöglicht, mit jedem anderen Menschen auf diesem Planeten zu kommunizieren und mit ihm eine sittlich ver­ antwortliche Beziehung einzugehen.33

Ähnlich argumentiert Sandel:

27  Für einen Überblick siehe Murray 2007, Bostrom/Savulescu 2009, Schöne-Seifert/Talbot 2009 und Coenen 2010. 28  Hierzu Özmen 2011. 29  Habermas 2005, 42. 30  Habermas 2005, 44; Hervorhebungen im Original. 31  Fukuyama 2004, 35. 32  Sandel 2008, 27. 33  Fukuyama 2004, 24.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

210

Elif Özmen Wenn die genetische Revolution unsere Wertschätzung des Charakters mensch­ licher Fähigkeiten und Erfolge als Gabe aushöhlt, dann verändern sich drei Schlüsselelemente unserer moralischen Landschaft – Demut, Verantwortung und Solidarität.34 Wenn uns die genetische Zurichtung gestattete, die Ergeb­ nisse der genetischen Lottere zu überspielen, […] [würde] vielleicht auch unsere Fähigkeit [verschwinden], uns als diejenigen zu betrachten, die ein ge­ meinsames Schicksal teilen.35

Auch Habermas verweist auf die Abhängigkeit unserer grundlegenden moralischen und politischen Konzepte von »einem vorgängigen, von allen moralischen Personen geteilten ethischen« bzw. »anthropologischen Selbstver­ ständnis«, und fragt, ob die Technisierung der Menschennatur das gattungsethische Selbstver­ ständnis in der Weise verändert, dass wir uns nicht länger als ethisch freie und moralisch gleiche, an Normen und Gründen orientierte Lebewesen verstehen können.36 Die eigene Freiheit wird mit Bezug auf etwas natürlich Unverfügbares erlebt.37

Es geht den Autoren also nicht um die Moral der menschlichen Natur, sondern um ihre Moralisierung auf zweiter Stufe. Bestimmte (essentielle?) Eigen­ schaften der menschlichen Natur (die allerdings weitgehend offengelassen werden) markieren demzufolge normative Grenzen für tiefe, vermeintlich ver­ bessernde Modifikationen; nicht weil es Natur ist, sondern weil die Ethik der Freiheit, Gleichheit und Solidarität darauf gründet. Mit der Natur stünde ge­ wissermaßen auch die Moral der menschlichen Lebensform auf dem Spiel. Die Natur des Menschen im Sinne des Gewachsenen, Nicht-Gemachten, wird als eine anthropologische Voraussetzung unserer normativen Praxis begriffen, so dass das Ende des Menschen gleichsam das Ende der Moral bedeuten könnte. Daher müsse man sich der Frage stellen, ob unter Umständen die wahrgenommene Entdifferen­ zierung zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Subjektivem und Objektivem Folgen haben könnte für die autonome Lebensführung und das moralische Selbstverständnis der programmierten Personen selbst.38

34  Sandel 2008, 107. 35  Sandel 2008, 113. 36  Habermas 2005, 74. 37  Habermas 2005, 101. 38  Habermas 2005, 93.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform

211

Diese Verknüpfung von Norm und Natur unterscheidet sich von der naturalistischen Ethik durch ihre Indirektheit bzw. Vermitteltheit. Mit der Natur des Menschen ist zunächst nur die menschliche Normalnatur gemeint als ein statistisch verallgemeinertes Konzept, das arttypische Eigenschaften empirisch bestimmt. Ein solches biostatistisches Modell ermöglicht es auch mit Bezug auf biologische Funktionalität und statistische Normalität wert­ freie Konzepte von »Normalität«, »Natürlichkeit« und »Gesundheit« zu formulieren.39 Diese benötigt man im Übrigen nicht erst dann, wenn es um die ethische Bewertung von Enhancements geht, sondern bereits bei ihrer begriff­ lichen Bestimmung, d.h. zur Abgrenzung von medizinischer Therapie und Prä­ vention, aber auch zur Bestimmung der Abweichungen von der menschlichen Norm- und Normal-Natur zur Diagnose einer Verschlechterung, Krankheit und Funktionsstörung.40 Ein solches empirisch valides, arttypisches Spektrum dessen, was der Mensch aufgrund seiner körperlichen und geistigen Fähig­ keiten überhaupt vermag, hat primär eine definitorische und erklärende, aber keine moralisch-rechtfertigende Funktion. Erst auf einer zweiten Stufe entwickelt die Normalnatur des Menschen normative Kraft. Bislang endeten ohnehin alle Bemühungen und Sehn­ süchte zur Beherrschung, Veränderung, gar Überwindung der eigenen Natur an unüberwindbaren Hürden für das, was wir – mit unserer sterblichen, schmerzlichen, begrenzten Verfassung – aus uns selber machen können. Aber nunmehr eröffnen einige Biotechniken so tiefgehende und schwerwiegende Möglichkeiten der menschlichen Selbstgestaltung, dass das Humanum seiner quasi-naturalistischen Hürden entledigt scheint. Eigenschaften, Fähigkeiten und Merkmale, die man (bis jetzt) als typisch menschliche Charakteristika betrachtet hat, könnten mittelfristig durch individuelle und kollektive Enhancement-Praktiken verändert und derart die durch charakteristische Be­ stimmungen und natürliche Begrenzungen bestimmte Natur des Menschen grundlegend und nachhaltig modifiziert werden. Zwar hat diese Natur keinen intrinsischen Wert, aber sie fungiert, so die normativ bedeutsame These, als Bedingung der Möglichkeit unserer ethischen Lebensformen und moralischen Praktiken. Gerade weil wir (bislang) nicht über unsere erste, d.h. biologischphysiologisch-physikalische Natur verfügen, sondern diese als kontingentes »Naturschicksal« betrachten müssen, können wir für diese nicht zur Ver­ antwortung gezogen werden. Weil Glück und Pech dieses Naturschicksal 39  Vgl. Boorse 1977. Siehe auch das property cluster-Modell der menschlichen Natur von Kronfeldner 2018, das auf die typischen und zeitlich beständigen Merkmale der mensch­ lichen Spezies aufbaut. 40  Für diesen Zusammenhang vgl. auch Daniels 2000.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

212

Elif Özmen

bestimmen, können und müssen wir uns mitfühlend, solidarisch und ver­ antwortlich füreinander zeigen, denn schließlich hat niemand die zufälligen ungleichen Ergebnisse der natürlichen Lotterie verdient. Ethisch folgerichtig reagieren Dritte auf diese unverdienten Ungleichheiten und Unfreiheiten moralisch sensibel mit der »Überzeugung, dass alle Personen den gleichen normativen Status einnehmen und einander reziprok-symmetrische An­ erkennung schulden.«41 Auch diese raffiniertere Version des indirekten Bezugs auf die mensch­ liche Natur hat ihre Schwachstelle in der normativen Verknüpfung von Natur, Lebensform und Ethik. Es mag für eine Ethik sinnvoll sein, »Merkmale ins Visier zu nehmen, die einzig bei der Gattung Mensch anzutreffen sind, denn sie sind entscheidend für jedes Verständnis von Rechten und Würde des Menschen.«42 Aber wie genau sie normativ »entscheidend sind«, muss argumentativ er­ läutert werden, sonst steht der »Faktor X«, den Fukuyama anführt, wirk­ lich nur für eine normative Leerstelle.43 Ähnlich verhält es sich bei Sandel, der den »Charakter des Lebens als Gabe«44 bemüht, mit explizit religiösen Konnotationen. Und auch Habermas konstatiert statt argumentiert, »dass die abstrakte Vernunftmoral der Menschenrechtssubjekte selber wiederum in einem vorgängigen, von allen moralischen Personen geteilten, ethischen Selbstverständnis der Gattung ihren Halt findet.«45 Das Verhältnis von Philosophie und Anthropologie ist und bleibt wandelbar und schwierig. Allerdings zeigen die skizzierten gegenwärtigen Debatten über die Norm und Natur der menschlichen Lebensform auf, wie eng dieses Ver­ hältnis dennoch beschaffen ist. In einem nicht trivialen Sinne reflektieren die moderne Moralphilosophie und die ihr nachfolgenden ethischen, sozialen und rechtlichen Praktiken die paradigmatische menschliche Lebensform. Sowohl deskriptive, empirisch validierbare, als auch evaluative, einen bestimmten Aspekt unserer natürlichen Fähigkeiten oder Möglichkeiten wertend heraus­ stellende Merkmale der menschlichen Natur gehen in moralphilosophische 41  Habermas 2005, 110. 42  Fukuyama 2004, 197. 43  Fukuyama 2004, 210f.: »Wenn wir eine Person aller zufälligen und nebensächlichen Eigen­ schaften entkleiden, bleibt eine wesentliche menschliche Qualität übrig, die sie eines gewissen Minimalniveaus an Respekt würdig macht – diese Erscheinung wollen wir Faktor X nennen. […] Der Faktor X ist also die Essenz des Humanen.« Fukuyama geht im Folgenden verschiedenen Begründungen dieses Faktors nach (dem Christentum, Kant), um dann einfach eine »Natur der Natur selbst« zu verkünden, »denn die moralische Ordnung geht aus dem Inneren der menschlichen Natur selbst hervor«, Fukuyama 2004, 219. 44  Sandel 2008, 48. 45  Habermas 2005, 9. Hervorhebungen im Original.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform

213

und politikethische Reflexionen ein oder sind, zumeist implizit, mit ihnen ver­ woben. Diese anthropologischen Präsuppositionen haben eine strukturierende Funktion für die normative Theoriebildung, insofern sie vorwegnehmen, mit welcher Art von Lebewesen, welchem Spektrum an Verhaltens-, Entscheidungsund Handlungsweisen und welchen Anwendungsverhältnissen philosophisch gerechnet wird. Das, was wir für moralisch relevant halten, welche Formen des Lebens wir als gelungen und vorbildlich oder misslungen und unsittlich be­ werten, welche Fälle wir als ethisch relevant betrachten, welche moralischen Prinzipien wir anerkennen, hängt offenbar davon ab, als welche Art von Wesen wir uns verstehen, welche Bedürfnisse und Ängste wir für zentral er­ achten, welche charakteristischen Konflikte wir durch allgemeine Regeln ent­ schärfen wollen. So mag die philosophische Anthropologie weiterhin einem »Trümmerfeld« gleichen.46 Aber mit der (meta)philosophischen Offenlegung des anthropologischen Ausgangs- und Bezugspunktes unserer Normenbildung könnte ein Anfang bei der Aufräumarbeit gemacht werden. Literaturverzeichnis Bayertz, Kurt (Hg.) 2005, Die menschliche Natur. Welchen und wieviel Wert hat sie?, Paderborn. Birnbacher, Dieter 2006, Natürlichkeit, Berlin/New York. Boorse, Christopher 1977, »Health as a theoretical concept«, in: Philosophy of Science 44, 542-573. Bostrom, Nick/Savulescu, Julian (Hg.) 2009, Human Enhancement, Oxford. Coenen, Christopher et al. (Hg.) 2010, Die Debatte über »Human Enhancement«. Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen, Bielefeld. Daniels, Norman 2000, »Normal Functioning and the Treatment-EnhancementDistinction«, in: Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics 9, 309-322. Foot, Philippa 2004, Natural Goodness, Oxford. Fukuyama, Francis 2004, Das Ende des Menschen, München. Garver, Newton 2001, »Naturalismus und Transzendalität. Das Beispiel ›Lebensform‹«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6, 873-888. Habermas, Jürgen 1973, »Anthropologie«, in: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt a.M., 89-111. — 2005, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M. 46  Thies 2004, 7.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

214

Elif Özmen

Hähnel, Martin (Hg.) 2017, Aristotelischer Naturalismus. Quellen – Standpunkte – Perspektiven, Stuttgart. Jaeggi, Rahel 2014, Kritik von Lebensformen, Frankfurt a.M. Keil, Geert 2017, »Metaphysischer, szientifischer, analytischer und Aristotelischer Naturalismus«, in: Martin Hähnel (Hg.), Aristotelischer Naturalismus. Quellen – Standpunkte – Perspektiven, Stuttgart, 42-66. Keil, Geert/Schnädelbach, Herbert 2000, »Naturalismus«, in: Geert Keil/Herbert Schnädelbach (Hg.), Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt a.M., 7-45. Kronfeldner, Maria 2018, What’s Left of Human Natur: A Post-essentialist, Pluralist and Interactive Account of a Contested Concept, Cambridge/Mass. Liebsch, Burkhard 2011, »Lebensform/Lebenskunst«, in: Petra Kolmer/Armin Wildfeuer (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, Freiburg/ München, 1404-1418. Murray, Thomas 2007, »Enhancement«, in: Bonnie Steinbock (Hg.), The Oxford Handbook of Bioethics, Oxford, 491-515. Nagel, Thomas 1978, »Ethics as an Autonomous Theoretical Subject«, in: Gunther Siegmund Stent (Hg.), Morality as a Biological Phenomenon, Berkeley/Los Angeles, 196-205. Nussbaum, Martha 1999, Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a.M. Özmen, Elif 2011, »Ecce homo faber! Anthropologische Utopien und das Argument von der Natur des Menschen«, in: Julian Nida-Rümelin/Klaus Kufeld (Hg.), Die Gegenwart der Utopie. Zeitkritik und Denkwende, Freiburg/München, 101-130. — 2015, »The anthropological turn. Über das schwierige, wandelbare, gleichwohl enge Verhältnis von Philosophie und Anthropologie«, in: Jan Heilinger/Julian Nida Rümelin (Hg.), Anthropologie und Ethik, Berlin, 19-35. — 2016, »Wer wir sind und was wir werden können. Überlegungen zu einer (post‑) humanistischen Anthropologie«, in: Elif Özmen (Hg.), Über Menschliches. Anthropologie zwischen Natur und Utopie, Münster, 15-38. — 2018, »Kritik und Krise von Lebensformen. Der Blick von Immerschon«, in: Philosophisches Jahrbuch 2, 268-279. Papineau, David 2009, »Naturalism«, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2009 Edition), http://plato.stanford.edu/archives/ spr2009/entries/naturalism/. Parens, Erik (Hg.) 1998, Enhancing Human Traits: Ethical and Social Implications, Washington. Quante, Michael 2018, Pragmatistic Anthropology, Paderborn. Railton, Peter 2004, »Toward an Ethics that Inhabits the World«, in: Brian Leiter (Hg.), The Future for Philosophy, Oxford, 265-284.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Zur Norm und Natur der menschlichen Lebensform

215

Recki, Birgit 2018, »Mensch und Technik. Eine Bestandsaufnahme in der Philosophi­ schen Anthropologie des 20. Jahrhunderts«, in: Information Philosophie 2, 14-25. Sandel, Michael 2008, Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik, Berlin. Scheler, Max 1915, »Zur Idee des Menschen«, in: Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 1, Leipzig. Schmidt, Thomas/Tarkian, Tatjana (Hg.) 2011, Naturalismus in der Ethik: Perspektiven und Grenzen, Paderborn. Schöne-Seifert, Bettina/Talbot, Davivia (Hg.) 2009, Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn. Tarkian, Tatjana 2004, »Naturalismus und Autonomie der Ethik«, in: Information Philosophie 4, 22-29. Thies, Christian 2004, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt. Thompson, Michael 2008, Life and Action, Cambridge, Mass./London. Vollmer, Gerhard 2000, »Was ist Naturalismus?«, in: Geert Keil/Herbert Schnädelbach (Hg.), Naturalismus. Philosophische Beiträge, Frankfurt a.M., 46-67. Wittgenstein, Ludwig 1984, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Band 1, Frankfurt a.M.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Lebensform und Philosophie Julian Nida-Rümelin I. Die Hume’sche Tradition der praktischen Philosophie meint, dass Rationalität über die jeweils gegebenen Wünsche (desires) und Überzeugungen (beliefs) zu bestimmen sei. Sie stellt sich damit in einen Gegensatz zur stoizistischen und später Kantischen Tradition, wonach es gerade das Spezifikum eines freien und vernünftigen Individuums ist, sich von seinen Wünschen distanzieren zu können. Bei Kant ist diese Distanzierung eingeengt auf moralisch motivierte Handlungen; man sollte aber an der stoizistischen Intuition festhalten, wo­ nach es gerade den Kern der personalen Verantwortung ausmacht, dass wir Stellung nehmen zu unseren eigenen Wünschen und Neigungen und je nach Stellungnahme (das heißt gemäß dem normativen Urteil, zu dem wir am Ende unserer Deliberation kommen) handeln. Damit werden die deskriptive und die normative Stellungnahme einander angenähert: Denn in beiden Fällen haben wir Gründe – für das, was wir glauben, ebenso wie für das das, was wir tun. Meine These ist, dass dies die personale Identität ausmacht. Wünsche und Neigungen kommen und gehen, Gründe bleiben und eine Veränderung von Gründen bedarf selbst wieder einer Begründung. Die sich in der Zeit durch­ haltende personale Identität eines Individuums ist an die Praxis des Gründe­ gebens und Gründenehmens in der sozialen Welt gekoppelt. Intrapersonell manifestiert sich unsere Identität in unserer Fähigkeit zu deliberieren, auch dann, wenn wir von niemandem befragt werden. Wir wägen Gründe – und es sind nicht die Wünsche, die die Identität einer Person bestimmen.1 Nun könnte man meinen, dass damit die gesamte Dimension der Emotionali­ tät ausgespart sei und wir uns auf ein unzulässig verkürztes, rationalistisches Menschenbild festlegten. Dieser Einwand übersieht jedoch, dass wir auch *  Es handelt sich bei diesem Teil um die Verschriftlichung zweier Vorträge mit dem Titel »Philosophie und Lebensform«. Der erste Vortrag wurde auf der Gründungsfeier des Inter­ nationalen Zentrums für Philosophie NRW am 10.02.2009 als erste »Lecture of Excellence« (Ernst-Robert-Curtiums-Vorlesung) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, erschienen in den Proceedings, und der zweite am 04.11.2017 im Rahmen der Tagung »Normativität und Lebensform« an der Ludwig-Maximilians-Universität in München gehalten. 1  Dies behauptet bspw. Harry Frankfurt. Vgl. Frankfurt 1971.

© mentis Verlag, 2020 | doi:10.30965/9783957437280_013

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

218

Julian Nida-Rümelin

für unsere Emotionen – jedenfalls für einen großen Teil von diesen – Gründe haben und vorbringen. Moralische Gefühle sind nicht einfach da oder fehlen, sondern haben gute Gründe für oder gegen sich.2 Wir verändern unsere moralischen Gefühle unter dem Eindruck von überzeugenden Gegengründen. So verabscheuen wir eine Person bspw. nur wenn wir glauben, gute Gründe zu haben für die Annahme, dass sich diese Person bestimmte Handlungen hat zuschulden kommen lassen, dass sie bestimmte Überzeugungen oder Ein­ stellungen hat, die diese Verabscheuung rechtfertigen. Gründe stiften personale Identität in ihrer ganzen Komplexität, die Über­ zeugungen, Handlungen und Emotionen einschließt. Deliberation spielt dabei eine unterschiedlich bedeutsame Rolle, denn dieses Verständnis der personalen Identität ist gradualistisch: Gründe beeinflussen unsere Überzeugungen und Handlungen ebenso wie unsere Gefühle, aber sie erschaffen diese nicht ab ovo. Eigene und fremde Neigungen und Bedürfnisse gehen in die Deliberation ein, verlangen nach Berücksichtigung. Doch basale Wünsche – also Wünsche, die sich von der Abwägung von Gründen in keiner Weise beeinflussen lassen – gibt es nur in pathologischen Fällen. Wünsche sind lediglich eine erste Stellung­ nahme, in sie geht ein zumindest rudimentäres Urteil ein. Aber diese erste Stellungnahme ist für Einwände offen, sie lässt sich angesichts entgegen­ stehender Gründe revidieren. Gründe sind eingebettet in einen Komplex von Wahrnehmungen und Gefühlen, genetischen und epigenetischen Prägungen, situationsspezifischen Bedingungen, probabilistischen Prozessen, die bspw. die Aufmerksamkeit des Individuums beeinflussen und lenken. Die Person ist somit nicht der »unbewegte Beweger«3, sondern eher ein Steuerungselement, das sich von Gründen affizieren lässt. Diejenigen, die den Begriff der Identität stärkeren metaphysischen Konzeptionen vorbehalten wollen, aber auch diejenigen, denen der hier skizzierte Identitätsbegriff schon zu metaphysisch ist, kann das Gesagte durch Verweis auf die Einheit der Praxis erläutert werden. Wir werden uns darauf einigen können, dass es nicht in erster Linie die körperliche Identität, also der äußerliche Anschein, den ein menschliches Individuum über die Zeit hat, ist, wodurch eine Person als Akteur charakterisiert wird. Stattdessen verstehen wir eine Person nur insofern als Akteur, als sich in der Vielfalt ihres Verhaltens Ein­ heit und Stimmigkeit, das heißt bestimmte Invarianzen festmachen lassen. Wir können dem Verhalten einer Person nur einen Sinn beimessen, sofern es nicht von Zeitpunkt zu Zeitpunkt zu stark variiert. Da diese Kohärenzforderung an 2  Für eine ähnliche Position vgl. auch Wallace 1998 sowie Scanlon 2008. 3  Diese Position vetritt bspw. Chisholm 1981.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Lebensform und Philosophie

219

Wünsche nicht zu stellen ist, sind Wünsche, selbst wenn gekoppelt mit Über­ zeugungen, die falschen Kategorien um die Einheit der Praxis einer Person ver­ ständlich zu machen.4 Die Einheit der Praxis und somit personale Identität werden über Deliberation, also die Fähigkeit sich von Gründen affizieren zu lassen, ge­ stiftet. Die Abwägung von Gründen ist demnach ein essentieller Teil unserer lebensweltlichen Praxis. Gründe – theoretische ebenso wie praktische – sind normativ, das heißt sie sprechen für eine Überzeugung oder für eine Handlung und besagen also, dass ich eine Überzeugung haben sollte oder eine Handlung vollziehen sollte. Sich einen Grund zu eigen machen heißt mithin Stellung zu nehmen, dass etwas der Fall ist oder dass eine Handlung gerechtfertigt ist. Gründe sind mit den Institutionen unserer Verständigungs- und Inter­ aktionspraxis unauflöslich verbunden. Diese Institutionen lassen sich nicht, wie oben dargestellt wurde, durch eine Theorie oder durch ein fundamentales Kriterium ersetzen – sie lassen sich bestenfalls durch eine Theorie oder durch ein Kriterium systematisieren. Dies beinhaltet eine irreduzible Vielfalt von Gründen, die unsere Lebensform ausmachen. Zugleich sprechen diese Gründe jeweils für eine Stellungnahme, dass es sich so und nicht anders verhält bzw. dass diese Handlung richtig ist. Diese Objektivität und Normativität der Gründe zwingt – im Sinne eines logischen Zwingens – zur Kohärenz. II. Das traurige Schicksal einer jungen Frau namens Sara ist vielleicht hilfreich, um die Rolle einer geteilten Lebensform für die lebensweltliche Verständigung und die normative Stellungnahme zu verdeutlichen. Der Berliner Tagesspiegel berichtete am 8. August 2008 über Sara, die an Magersucht gestorben ist.5 Der Artikel zitiert aus den Tagebüchern des Mädchens seit seiner Pubertät. Schon damals war es deutlich untergewichtig, aber noch nicht bedenklich magersüchtig. Diese Magersucht setzt erst ein als Sara nicht den Studien­ platz bekommt, den sie sich gewünscht hat und auch sonst im Leben einiges 4  Tatsächlich ändern sich Wünsche, zumal mit ihrer Befriedigung. Wünsche kommen und gehen: Manche weisen zeitliche Zyklen auf, wie etwa der Wunsch seinen Hunger zu stillen; andere variieren mit den jeweiligen Situationen, in denen sich die Person befindet; wieder andere halten sich zumindest dispositionell über längere Zeitabschnitte des Lebens, etwa der Wunsch nach beruflichem Erfolg oder nach Zeit für Freundschaften und Familie. 5  Dieser Artikel ist abzurufen unter http://www.tagesspiegel.de/berlin/Nachrufe-Nachrufe; art127,2588376

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

220

Julian Nida-Rümelin

schiefläuft. In den Tagebüchern stehen Sätze wie »Sara, jetzt freu Dich end­ lich«, »Du hast zugenommen« und »Gut fühlen ist auch dir erlaubt«. Der Autor des Artikels interpretiert dies als eine Art Seelenspaltung, so dass es zwei Saras gibt: Die eine ist stark und verbietet der anderen zu essen, Freude zu haben, zu leben. Die andere ist schwach und unterwirft sich der starken Sara, obwohl sie leben und essen möchte. Die starke Sara ist lebensfeindlich, über alle Maßen selbstbeherrscht und kann den Neigungen des Augenblicks mehr widerstehen als jeder andere: Sie isst wenig, ja fast nichts. Trotzdem treibt sie Sport, hält sich unter Kontrolle, jammert nicht und teilt sich nicht mit. Sie setzt sich über ihre eigenen Be­ dürfnisse hinweg. Sie nimmt Stellung zu ihren Bedürfnissen und hält sie für unbeachtlich, vernachlässigenswert, Ausdruck von Schwäche. Zwischen normativer Stellungnahme und manifestem Verhalten besteht also – wie oben gefordert – weitgehend Übereinstimmung: Wir können ihr Verhalten beschreiben und erkennen eine klare Struktur. Dennoch ist Sara für uns ein Rätsel. Würden wir sie fragen, warum sie nichts isst, könnte sie keine Antwort geben, die für uns in einem anspruchsvollen Sinne verständlich wäre. Würde sie sagen »Ich möchte mich zu Tode hungern, weil ich dieses Leben angesichts all seiner Enttäuschungen nicht mehr fortführen will«, könnten wir diese Äußerung zwar verstehen, aber die darin zum Ausdruck kommende Über­ zeugung nicht billigen, und wir würden uns wünschen, dass Sara ihre Haltung verändert. Wir mögen sagen, sie führe einen Krieg gegen ihren Körper. Aber warum führt sie diesen Krieg? Der Körper hat ihr nichts angetan, warum ist sie ihm gegenüber so feindselig? Die einzelnen Handlungsgründe von Sara lassen sich für uns nicht zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Was uns an Sara verstört, ist, dass wir ihre Handlungsgründe nicht teilen, aber diesen Dissens nicht dadurch beheben können, dass wir eine gemeinsame Basis finden, von der aus ihre Handlungsgründe verständlich wären. Wir würden Sara verstehen, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzen will, weil sie es berechtigterweise als enttäuschend empfindet; doch wir haben andere Kriterien, nach denen wir ein Leben als gut oder als schlecht beurteilen. Denn diese Lebensform differiert zu stark von der unsrigen, als dass wir die Gründe, die diese Lebensform prägen, als gute Gründe akzeptieren können. III. An dieser Stelle ist es sinnvoll, auf die Rolle der Wittgenstein’schen Lebens­ form für lebensweltliche und philosophische Begründungen einzugehen. In Über Gewißheit heißt es:

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Lebensform und Philosophie

221

94. Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit über­ zeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide. 95. Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen. 96. Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungs­ sätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungs­ sätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden. 97. Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flussbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt. 105. Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dieses System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unsrer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente. 220. Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht.6

Diese Zitate von Wittgenstein charakterisieren eine Position, die sich in fünf Thesen zusammenfassen lässt7: (1) Die Regeln des Begründens, die unsere alltägliche Praxis der Verstän­ digung leiten, sind in unserer Lebenswelt vorgegeben; sie sind weder erfunden, noch können sie erfunden oder gesetzt werden. Die Wittgen­ stein’sche Perspektive ist also mit einem radikalen Konstruktivismus unvereinbar. (2) Diese Regeln des Begründens sind nicht vollständig explizierbar; viel­ mehr folgen wir ihnen, ohne sie angeben zu können. Daher müssen wir uns, um die Regeln des Begründens zu umreißen, oft darauf beschrän­ ken, auf Beispiele zu verweisen, in denen eine Regel des Begründungs­ spiels verletzt wurde. Das heißt wir sind gezwungen zu zeigen statt zu beschreiben. (3) Die Regeln des Begründens sind nicht starr. Ebenso wenig lässt sich die Trennung zwischen Meta-Regeln und Regeln – also Regeln, die unser all­ tägliches Begründen steuern, und solchen, die wir anführen, um das ge­ samte Begründungsspiel zu charakterisieren – trennscharf vollziehen. 6  Alle Zitate aus Wittgenstein 1984. 7  Bei diesen fünf Thesen geht es mir nicht um Wittgenstein-Exegese. Die umrissene Position scheint mir plausibel zu sein, auch wenn sie in mancher Hinsicht in scharfem Gegensatz zu Wittgenstein steht, vgl. Nida-Rümelin 2006, Kap. I und III.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

222

Julian Nida-Rümelin

(4) Die Wittgenstein’sche Perspektive beinhaltet einen Gradualismus des Be­ gründens. Es gibt fließende Übergänge zwischen der unhintergehbaren Basis unserer Begründungsspiele und den erst noch zu begründenden einzelnen Überzeugungen, seien diese nun deskriptiver oder normativer Natur. (5) Diese erkenntnistheoretische Position ist anti-kartesianisch. Das heißt es gibt keine letzte Gewissheit durch die Abstraktion von aller Wahrneh­ mung und in dem Vertrauen auf eine von aller Empirie und aller lebens­ weltlichen Praxis abgelöste Rationalität. Wittgenstein spricht von dem Fehler »dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ›Urphänomene‹ sehen sollten. D.h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt.«8 Der Ausdruck Sprachspiel ist untechnisch und unterstreicht das Wittgenstein’sche »denk nicht, sondern schau«9. Die Frage ist berechtigt, warum Wittgenstein gerade die Metapher des Sprachspiels wählt: Spiele kann man so oder so spielen, jedes Jahr werden viele neue Spiele erfunden; Sprachen kann man dagegen nicht so oder so spielen und nie wird eine Sprache wie ein Spiel erfunden. Der Terminus »Sprachspiel« kann also nicht dafür stehen, dass willkürlich immer andere Spiele aufgebracht werden können. Vielmehr soll der Begriff auf Folgendes hinweisen: Wenn der Ball beim Fußballspielen ins Seitenaus rollt, wird Einwurf gegeben. Wenn ein Fußball­ neuling fragt, warum dies so ist, dann ist in der Tat die vernünftigste Antwort: So wird Fußball eben gespielt. Oder: Das ist eine der Regeln des Fußballspiels. Dabei ist es unwichtig, was die Entstehungsgeschichte dieser Regel ist oder ob es möglicherweise bessere Regeln gäbe, um den Ball im Spiel zu halten. Ein Spiel, das erlaubte, den Ball mit den Händen zu nehmen, ist ein anderes, z.B. Football oder Rugby oder eines, das bislang nicht existiert. Das Spiel ist durch Regeln konzipiert, die einen Rahmen zulässiger Praxis spannen. Die je individuelle Praxis ist frei und selbst verantwortet innerhalb dieses Rahmens. Sie ist auf Ziele gerichtet, die Spiel-inhärent sind. Wir ver­ stehen die Praxis nur, wenn wir die Regeln erfasst haben, nach denen gespielt wird. Zu diesen Regeln gehören die Kriterien von Sieg und Niederlage, oder all­ gemeiner die Ziele der Spielpraxis. Die Praxis ist somit deontologisch verfasst, da sie sich im Rahmen bestimmter Regeln entfaltet. Ebenso ist sie teleologisch verfasst, da sie inhärente Werte realisiert. Diese Interpretation richtet sich sowohl gegen die pluralistischen Elemente des späten Wittgenstein als auch gegen den Behaviorismus der meisten seiner Anhänger. Pluralismus und Behaviourismus lassen sich durch eine 8  P U, § 654. 9  P U, § 66.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Lebensform und Philosophie

223

aristotelische Modifikation der Sprachspiel-Metapher kurieren. Damit dieser Befund plausibel wird, müssen die einzelnen Elemente der oben aufgeführten Fußball-Metapher auf sprachliche Verständigung übertragen werden. Die behavioristische Interpretation lässt sich in folgendes Bild passen: Wir sehen ein Muster, eine Struktur individuell interagierenden Verhaltens. Im Zeitab­ lauf wiederholt sich dieses Muster, wir sehen Regularitäten und identifizieren die Bedeutung des jeweiligen Äußerungsverhaltens im Sinne der Gebrauchs­ theorie als ein spezifisches Merkmal dieses Musters. Die sich wieder­ holenden Regularitäten des Musters geben uns die Möglichkeit in dieser Weise Bedeutung zuzuschreiben. Abweichungen von diesen strukturellen Regularitäten irritieren, sie verlangen neue Bedeutungsbestimmungen oder die Identifikation von Fehlern im Verhaltenssystem. Möglicherweise haben wir Indikatoren, die auf Fehler hinweisen, wie Abbruch der Interaktion oder das Ausbrechen von Gewalt. In dieser behavioristischen Interpretation ist für die freie Handlung des Akteurs kein Platz, das Konzept der freien Handlung erschwert es vielmehr, die Bedeutung der Äußerungen und Handlungen zu bestimmen. Für die intentionalistische und deontologische Interpretation, für die ich plädiere10, ist das Phänomen der Freiheit dagegen kein Grund zur Irritation, sondern Voraussetzung bedeutungsvoller Äußerungen und Handlungen. Es sind nicht die Regularitäten des Verhaltensmusters, die wir als Bedeutungs-konstitutiv identifizieren, sondern es sind die Intentionen – spezifischer: die von den Akteuren akzeptierten Gründe zu handeln und zu glauben –, die uns erlauben das Handeln und die Äußerungen dieser Akteure als bedeutungsvoll zu interpretieren. Das Medium der Integration liegt jedoch auf der Hand: Es ist die ge­ teilte Lebensform. Wie oben dargestellt verstehen wir hierunter den Zu­ sammenhang der unterschiedlichen epistemischen und prohairetischen11 Konstituentien der Lebenswelt. Statt »Einheit« oder »Zusammenhang« können wir auch von der Kohärenz der Lebensform sprechen, die Voraus­ setzung ist, damit das Individuum handlungs- und urteilsfähig ist. Die einzel­ nen Begründungsspiele knüpfen sich also zu einem Netz, welches das Ausmaß an epistemischer und prohairetischer Kohärenz sichert, das erforderlich ist, um Individuen handlungsfähig zu machen. Größere Lücken in diesem Netz führen zu unauflöslichen Handlungskonflikten, zu praktischen Dilemmata. Die interne Kohärenz der Lebensform äußert sich in der Fähigkeit jeder einzel­ nen Person zu handeln, Gründe für ihr Handeln anzugeben, Verantwortung 10  Vgl. Nida-Rümelin 2009, Kap. 7. 11  Statt von »prohairetisch« habe ich in früheren Texten von »konativ« gesprochen, vgl. Nida-Rümelin 2001, Kap. 1.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

224

Julian Nida-Rümelin

wahrzunehmen. Die Rolle, die Verständigung dabei spielt, macht deutlich, dass es sich um eine geteilte Lebensform handelt, dass nicht jedes Individuum seine Lebensform ausprägt. Das Wittgenstein’sche Privatsprachen-Argument radikalisiert dieses interpersonelle Verständnis.12 IV. Der einheitsstiftenden Rolle der lebensweltlichen Praxis, der Verständigung innerhalb einer Sprachgemeinschaft und der Handlungskompetenz der Individuen steht die Pluralität von Lebensformen und Lebenswelten, von Sprach- und Kulturgemeinschaften gegenüber. Löst die Partikularität einer spezifischen Lebenswelt bzw. einer spezifischen Sprach- und Kulturgemein­ schaft dann nicht letztlich doch jeden universellen Geltungsanspruch, jede Objektivität und die realistische Interpretation unserer deskriptiven wie normativen Überzeugungen auf? Diese Frage zu bejahen, also anzu­ nehmen, dass unsere in der jeweiligen Lebenswelt verankerten deskriptiven wie normativen Überzeugungen nur in diesem Kontext gelten – dass sie ge­ wissermaßen die Partikularitäten der Kultur, der man angehört, zum Ausdruck bringen – würde zu einer Selbstaufhebung führen. Denn wenn dem so wäre, dann müsste auch dieser Befund selbst als eine dieser Überzeugungen auf den kulturellen Kontext relativiert werden, dann könnte auch für diese These keine universelle Geltung beansprucht werden. Der Austausch von Argu­ menten pro und contra wäre obsolet. Anders formuliert: Wir können gar nicht anders, als für diejenigen Überzeugungen, die uns wohlbegründet erscheinen, universelle Geltung zu beanspruchen, also anzunehmen, dass diese nicht lediglich im Kontext unserer Lebenswelt und unserer Sprachgemeinschaft begründet sind. Auch wenn die Modi der Begründung von den je etablierten Begründungsspielen abhängen, so sind die Ergebnisse doch, gerade weil es sich um genuine Begründungen handelt, davon unabhängig. Ein deskriptives oder normatives Urteil zu begründen heißt nicht lediglich eine Folge von Be­ hauptungen aufzustellen, die günstigstenfalls jeweils durch die vorausgehende begründet sind, sondern bedeutet am Ende rationalerweise anzunehmen, dass die begründete Überzeugung zutrifft bzw. wahr ist. Dieser Wahrheits­ anspruch ist aber gegenüber dem von Descartes geforderten abgeschwächt: Die rationale Person weiß, dass auch die beste Begründung täuschen kann, dass sie zwar rationalerweise von der Wahrheit überzeugt sein darf, dass damit aber keine letzte unrevidierbare Gewissheit verbunden ist. Dieser rationale 12  Vgl. PU, §§ 243-315.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

Lebensform und Philosophie

225

Wahrheitsanspruch ist nicht zertistisch und er mündet daher auch nicht an­ gesichts der Unsicherheiten unseres Urteilens in die radikale Skepsis oder den Relativismus. Wenn die Begründungsspiele, die im Rahmen unterschiedlicher Lebens­ formen und Sprachgemeinschaften gespielt werden, zu immer divergenteren Ergebnissen führten und wenn keinerlei Hoffnung auf Konvergenz der Be­ gründungsspiele über die Lebenswelten und Sprachgemeinschaften hinweg bestünde, dann würden wir unseren lebensweltlichen Realismus nicht auf­ rechterhalten können.13 Dann würde aber auch das Spiel des Begründens innerhalb der einzelnen Lebensformen rationalerweise ein Ende haben. Ich sehe aber keinen hinreichenden Grund für diese Form des epistemischen Pessimismus, der unseren lebensweltlichen Realismus und die universellen Wahrheitsansprüche in Frage stellen würde. Es gibt vielmehr Grund im epistemischen Sinne optimistisch zu sein, das heißt anzunehmen, dass das fortgesetzte Spiel des Begründens zur Konvergenz unserer deskriptiven wie normativen Überzeugungen beiträgt. Der Menschenrechtsdiskurs der ver­ gangenen Jahrzehnte und der kulturinvariante Erfolg wissenschaftlichen Denkens sprechen für diesen epistemischen Optimismus. Wir dürfen hoffen, dass die kritische Prüfung unserer Überzeugungen dazu führt, dass un­ zutreffende verworfen und zutreffende beibehalten werden, dass wir unsere deskriptiven wie normativen Irrtümer korrigieren und den Bereich unseres deskriptiven wie normativen Wissens erweitern. Es ist ein wesentliches Charakteristikum dieses Prozesses, dass Partikularitäten der jeweiligen Kultur, Sprachgemeinschaft und Lebensform in universelle Geltungszusammen­ hänge eingebettet und damit erst für andere Kulturen, Sprachgemeinschaften und Lebensformen verständlich und begründbar gemacht werden. In diesem Prozess gibt es Revisionen in beide Richtungen: Partikularitäten werden auf­ gegeben und universelle Geltungsansprüche revidiert. Ziel ist das, was John Rawls als general reflective equilibrium, als allgemeines Überlegungsgleich­ gewicht bezeichnet hat.14 Das allgemeine Überlegungsgleichgewicht ist in­ klusiv, das heißt es schließt alle ein, die sich an der Begründung und kritischen Prüfung beteiligen wollen und können. Die erkenntnistheoretische Grundlage dieser Inklusivität ist der universelle Geltungsanspruch unserer normativen wie deskriptiven Überzeugungen. Je mehr sich die kritische Prüfung von den spezifischen Partikularitäten der geteilten Lebensform ablöst, desto verläss­ licher ist das Ergebnis. In diesem Prozess werden allerdings nicht nur die einzelnen Lebensformen transzendiert, sondern sie werden in eine universelle 13  Vgl. Nida-Rümelin 2018, I § 3. 14  Vgl. Rawls 2003, 31.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig

226

Julian Nida-Rümelin

Kultur- und Sprachgemeinschaft integriert, die ihrerseits eine Praxis des Be­ gründens voraussetzt und eine – wenn auch im Vergleich zu den lokalen Lebensformen nur ephemere – Lebensform etabliert. Literaturverzeichnis Chisholm, Roderick 1981, First Person: An Essay on Reference and Intentionality, Brighton. Frankfurt, Harry 1971, »Freedom of the Will and the Concept of a Person«, in: The Journal of Philosophy 68, 5-20. Nida-Rümelin, Julian 2001, Strukturelle Rationalität, Stuttgart. — 2006, Demokratie und Wahrheit, München. — 2009, Philosophie und Lebensform, Frankfurt a.M. — 2018, Unaufgeregter Realismus – Eine philosophische Streitschrift, Paderborn. Rawls, John 2003, Justice as Fairness – A Restatement, Cambridge, Mass. Scanlon, Thomas 2008, Moral Dimensions, Cambridge, Mass. Wallace, R. Jay 1998, Responsibility and the Moral Sentiments, Cambridge, Mass. Wittgenstein, Ludwig 1953, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. [=PU] — 1984, Über Gewißheit, Frankfurt a.M.

Martin Hähnel und Jörg Noller - 978-3-95743-728-0 Heruntergeladen von Brill.com09/30/2022 05:47:25PM via Universitat Leipzig