Die Moderne in Lateinamerika: Zentren und Peripherien des Wandels. Hans Werner Tobler zum 65 Geburtstag 9783964562067

Mit Beiträgen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den durch die Herausforderungen der Moderne in Gang geset

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German Pages 446 Year 2009

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Hommage
Einleitung: Zentren und Peripherien des Wandels - Die Moderne in Lateinamerika
I. Zentren und Peripherien: Ambivalenzen der Moderne
Lateinamerikas internationale Zukunft. Der Subkontinent zwischen „Dependencia" und Globalisierung
Mexiko-Stadt - vom Industrialisierungsmotor zur Dienstleistungsmetropole?
Mestizisierung und Moderne in Mexiko
Sklaven und Moderne - eine unerträgliche, aber nicht unverträgliche Kombination
II. Akteure: Aushandlung der Moderne
Francisco de Saavedra y Sangrois, 1746-1819: Der Versuch einer Autobiographie eines spanischen politischen Akteurs zwischen Reform, Revolution und Reaktion
Limantour und die Mexikanische Revolution
Der konservative Impuls: Eliten und Modernisierung in Lateinamerika (eine Skizze)
Zwischen Tradition und Moderne: Frauenbewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur soziopolitischen Modernisierung in Lateinamerika
Kleinbauern in Lateinamerika - die moderne Herausforderung oder die Moderne herausfordern?
III. Wandel als Konstante: Modernisierungsprojekte
Die verpasste Modernität: Zum Fehlschlag des ökonomischen Fortschritts im Mexiko des 19. Jahrhunderts
Imperialistische Modernisierung und ihre Widersprüche: Das „feudale" Regime der Dollardiplomatie unter der US-amerikanischen Besatzung in Nicaragua, 1912-1927
Lateinamerika als Modernisierungsvorbild? Universalistische, korporatistische und neoliberale Modelle der Sozialpolitik
Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika - eine unfertige Agenda
Aperçu: Die Teufelchen von Chalco - oder das göttliche Licht des Präsidenten
Die Autorinnen und Autoren
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Die Moderne in Lateinamerika: Zentren und Peripherien des Wandels. Hans Werner Tobler zum 65 Geburtstag
 9783964562067

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Stephan Scheuzger / Peter Fleer (Hg.) Die Moderne in Lateinamerika Zentren und Peripherien des Wandels Hans Werner Tobler zum 65. Geburtstag

Stephan Scheuzger / Peter Fleer (Hg.)

Die Moderne in Lateinamerika Zentren und Peripherien des Wandels Hans Werner Tobler zum 65. Geburtstag

Vervuert • Frankfurt am Main 2009

Bibliografie information published by Die Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliografie data are available on the Internet at http://dnb.ddb.de

© Vervuert Verlag 2009 Elisabethenstr. 3-9 D-60594 Frankfurt am Main [email protected] www.ibero-americana.net ISBN 978-3-86527-461-8 D.L.: SE-1968-2009

Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Umschlagbild: © Chute & Brooks: Pier von Pocitos am La Plata, 1880. Trotz intensiver Nachforschungen konnten keine an dem Bild noch bestehenden Rechte ermittelt werden.

Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier gemäß ISO-Norm 9706

Gedruckt in Spanien Printed by Publidisa

INHALT

Vorwort

7

Jean-François Bergier Hommage

9

Stephan Scheuzger / Peter Fleer Einleitung: Zentren und Peripherien des Wandels - Die Moderne in Lateinamerika I

15

Zentren und Peripherien: Ambivalenzen der Moderne

Manfred Mols Lateinamerikas internationale Zukunft. Der Subkontinent zwischen „Dependencia" und Globalisierung

51

Peter Feldbauer / Christof Parnreiter Mexiko-Stadt - vom Industrialisierungsmotor zur Dienstleistungsmetropole?

71

Stephan Scheuzger Mestizisierung und Moderne in Mexiko

101

Béatrice Ziegler Sklaven und Moderne - eine unerträgliche, aber nicht unverträgliche Kombination

139

II

Akteure: Aushandlung der Moderne

Horst Pietschmann Francisco de Saavedra y Sangrois, 1746-1819: Der Versuch einer Autobiographie eines spanischen politischen Akteurs zwischen Reform, Revolution und Reaktion

161

Friedrich Katz Limantour und die Mexikanische Revolution

189

Peter Waldmann Der konservative Impuls: Eliten und Modernisierung in Lateinamerika (eine Skizze)

211

Inhalt Barbara Potthast Zwischen Tradition und Moderne: Frauenbewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur soziopolitischen Modernisierung in Lateinamerika

237

Peter Fleer Kleinbauern in Lateinamerika - die moderne Herausforderung oder die Moderne herausfordern?

261

III

Wandel als Konstante: Modernisierungsprojekte

Walther L. Bernecker Die verpasste Modernität: Zum Fehlschlag des ökonomischen Fortschritts im Mexiko des 19. Jahrhunderts

303

Michel Gobat Imperialistische Modernisierung und ihre Widersprüche: Das „feudale" Regime der Dollardiplomatie unter der US-amerikanischen Besatzung in Nicaragua, 1912-1927

341

Monica Budowski / Christian Suter Lateinamerika als Modernisierungsvorbild? Universalistische, korporatistische und neoliberale Modelle der Sozialpolitik

377

Rolf Kappel Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika eine unfertige Agenda

405

David Gugerli Aperçu: Die Teufelchen von Chalco - oder das göttliche Licht des Präsidenten

441

Die Autorinnen und Autoren

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VORWORT Der vorliegende Band ehrt den Historiker Hans Werner Tobler anlässlich seines 65. Geburtstags. Die Herausgeber waren bestrebt, das Festschriften eigene Spannungsverhältnis zwischen Persönlichem und Wissenschaftlichem fruchtbar zu machen, indem sie sich bemühten, den beitragenden Kolleginnen und Kollegen, ehemaligen Mitarbeitern und Schülern von Hans Werner Tobler einen am Werk des Geehrten orientierten thematischen Rahmen vorzuschlagen, der einen anregenden Diskussionszusammenhang bietet und zugleich dazu einlädt, seinen Gegenstand unter einer Vielfalt von fachlichen Perspektiven zu erörtern. Vor allem etablierte und dazu auch einige jüngere Autorinnen und Autoren haben sich in diesem Buch aus der Warte ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Schwerpunkte mit der vielschichtigen und nach wie vor kontrovers debattierten Thematik der lateinamerikanischen Moderneerfahrungen auseinandergesetzt. Lässt sich in der Breite des Spektrums des wissenschaftlichen Interesses von Hans Werner Tobler, die ihren Ausdruck sowohl in der Lehre als auch in der Forschung gefunden hat, mühelos ein geographischer Schwerpunkt auf dem lateinamerikanischen Subkontinent ausmachen, so kann darüber hinaus ein grundlegender inhaltlicher Zusammenhang zwischen den verschiedenen Forschungsbereichen in der Frage der Moderne gesehen werden. Zahlreiche Arbeiten von Hans Werner Tobler haben sich mehr oder weniger ausdrücklich der Problematik von Modernisierungsprozessen gewidmet. Als Inbegriff des abrupten Bruchs sowie des tief greifenden und nachhaltigen Wandels von politischen Systemen und unter Umständen auch sozialen Verhältnissen, aber vor allem auch durch die ihnen zugrunde liegende Vorstellung der menschlichen Gestaltungsmacht über die politischen und gesellschaftlichen Ordnungen lassen sich Revolutionen als elementar moderne Phänomene bezeichnen. Die transatlantische Migration wiederum stellt als tragende Komponente des Globalisierungsprozesses einen prominenten Aspekt einer sich universalisierenden Moderne dar. Bezüglich der vergleichenden Geschichte schließlich kann auf der einen Seite festgehalten werden, dass dem Stellenwert der systematisch und methodisch reflektiert betriebenen Komparation in den Geistesund Sozialwissenschaften maßgeblich moderne Entwicklungen wie die dramatische Weitung der Beobachtungshorizonte oder der Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende allgemeine Reorganisationsprozess in den Wissenschaften zugrunde lagen, aber auch moderne Schlüsselkategorien wie diejenigen der „Kultur" oder der „Nation". Auf der anderen Seite ist ebenfalls zu vermerken, dass die Beschäftigung mit der Moderne die Komparation eigentlich voraussetzt.

Vorwort

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Unser Dank gilt zuallererst den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge, die das Thema des Bandes unter unterschiedlichen (teil-)disziplinären Voraussetzungen und mit Blick auf verschiedene historische Zeitabschnitte und Aspekte angehen - ein Dank, in den wir besonders auch Jean-François Bergier fur die persönliche Hommage und David Gugerli für sein unterhaltsames Aperçu einschließen. Dank schulden wir ferner der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und der Gemeinde Stäfa, die die Publikation finanziell unterstützt haben. Und zu danken haben wir schließlich ganz besonders auch Hans Werner Tobler selbst, der mit seinem Wirken und Werk diesem Band Pate gestanden hat. Die Herausgeber

Jean-François Bergier

HOMMAGE „Hommage" (auf Deutsch „Lehnseid") bezeichnete im Altfranzösischen, wie auch im Lateinischen, den feierlichen Akt, durch den ein Vasall sich zum „Mann" („Homme") seines Herrn erklärte.1 Mit dem Akt war eine Unterwerfung verbunden, die gewöhnlich durch das Privileg eines Lehens vergolten wurde; der Akt beruhte aber auch auf einem Verhältnis des Vertrauens, der Solidarität, ja oft der Freundschaft zwischen den beiden Beteiligten. Bald jedoch benannte „hommage" jenseits dieser formellen Bedeutung im feudalen Recht auch eine Bezeugung des Respekts, der Dankbarkeit und der Anerkennung zwischen Gleichen. Es ist eine „Hommage" in diesem zweiten Wortsinn, die ich hier in wenigen Zeilen an Hans Werner Tobler richten möchte. Natürlich war in den über dreißig Jahren unserer Zusammenarbeit und Freundschaft nie der eine des anderen Vasall oder Herr. Als Kollegen standen wir uns stets sehr nahe, waren gewissermaßen Zwillingsbrüder, die man zwar nicht verwechseln, von denen man aber doch in gewissen Funktionen, die wir beide wahrnahmen, den einen für den anderen einsetzen konnte (etwa in der Direktion des Instituts für Geschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule oder in der Delegation für die Eidgenössische Stipendienkommission). Dass diese Jahrzehnte der Zusammenarbeit von keinem Sturm und nicht einmal vom leichtesten Schatten getrübt wurden, möchte ich als Glück bezeichnen - für das Institut, für unsere Mitarbeitenden, für unsere Studenten - , indessen nicht als Zufall. Und wenn ich über die Hecke unseres kleinen gemeinsamen Gartens blicke, darf ich feststellen, dass dies eine Leistung war. Meinungsverschiedenheiten, die es selbstverständlich auch gab, betrafen so Unbedeutendes, dass sie sich stets bei einem guten Glas Wein in einem herzlichen Lachen auflösten und dass ich mich heute schon gar nicht mehr an sie zu erinnern vermag. Zehn Jahre älter als Hans Werner Tobler, kam ich 1969, nach sechs Jahren als Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Genf, an die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH), um die Nachfolge von Jean-Rodolphe von Salis am französischsprachigen Lehrstuhl für Geschichte anzutreten. Es war Herbert Lüthy gewesen, der mich überzeugt hatte, den Ruf nach Zürich anzunehmen. Der Vorstellung, mit ihm den Geschichtsunterricht zu teilen - jeder in seiner Sprache, jedoch im selben Geist - , konnte ich nicht widerstehen. Der Beitrag ist von den Herausgebern aus dem Französischen übersetzt worden.

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Jean-François Bergier

Mit dem Wechsel verzichtete ich darauf, Studierende des Fachs Geschichte auszubilden, gewann dafür aber auch neue Freiheiten. Ich sah mich vor derselben Herausforderung, vor der bald schon auch Hans Werner Tobler stehen sollte: der Herausforderung eines generalistischen Unterrichts, der die großen Linien der Geschichte, die Bezüge zur Gegenwart über gründliche Detailliertheit und erschöpfende Bibliographien stellt. Es ging darum, bei den freien Zuhörern ein Interesse zu wecken, ihnen Elemente einer historischen Kultur zu vermitteln, die ihnen in ihrer beruflichen Tätigkeit und an ihrem Platz in der Gesellschaft helfen sollten, die Welt, in der sie sich entwickelten, zu verstehen und zu fundierten Urteilen zu gelangen. Hans Werner Tobler sollte dies anhand seiner eigenen Forschungsgebiete in vorzüglicher Art und Weise in die Tat umzusetzen wissen. Nun, nach nur zwei Jahren dieses zweistimmigen Konzerts (während denen ich noch bemüht war, meine Stimmlage zu finden), verließ mich Herbert Lüthy und folgte dem Ruf an die Universität Basel, was er, so glaube ich, später bereut hat. Der deutschsprachige Lehrstuhl - man sagte damals noch „Lehrstuhl" (Hans Werner Tobler und ich sprachen allerdings auch gerne von „Lehrkanapee"...), „Professur" setzte sich erst später durch - war somit vakant geworden. Das Wichtigste für mich war, einen Kollegen begrüßen zu können, mit dem ich mich verstehen würde, der, mit anderen Worten, einen ähnlichen Zugang zur Geschichte pflegte, der aber zugleich andere Forschungsgebiete abdeckte und dadurch das Lehrangebot erweiterte. Das reglementarische Auswahlverfahren führte zu keinem überzeugenden Resultat. Gewiss gab es eine Handvoll interessanter und qualifizierter Kandidaten keine Frau - , die indessen alle dem gewünschten Profil nicht ganz entsprachen. Es war dann 1972 oder ganz am Anfang des Jahres 1973, als mich Max Silberschmidt zum Mittagessen einlud. Max Silberschmidt unterrichtete Wirtschafts- und amerikanische Geschichte an der Universität Zürich. Er publizierte wenig, war aber ein außergewöhnlicher Lehrer, der sich um junge Talente kümmerte, denen er zu einem Lehrstuhl verhelfen wollte. Sein Tisch war ein privilegierter Ort der Begegnung und ausgesuchter Geselligkeit. An diesem Tag stellte er mir einen jungen Forscher und seine Frau vor, die gerade aus Mexiko zurückgekehrt waren, von wo sie eine Tochter und ein Habilitationsprojekt über die Mexikanische Revolution mitbrachten. Wir unterhielten uns angeregt über dieses Projekt, und ich lud Hans Werner Tobler ein, ein Referat vor meinen Hörern zu halten. Ganz beiläufig - wenn auch durchaus nicht ohne Hintergedanken - informierte ich ebenfalls die Mitglieder der Nominationskommission. Die Herren ließen sich überzeugen: Am 1. Oktober 1973 trat Hans Werner Tobler die Nachfolge von Herbert Lüthy an. So entstand unsere Freundschaft.

Hommage

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Wir beschlossen, eng zusammenzuarbeiten. Wir hatten unterschiedliche Interessengebiete: er Lateinamerika und ganz allgemein die Entwicklungsländer; ich die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz und der Alpenländer vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Aber wir hatten dasselbe Publikum und somit auch dieselbe einzigartige didaktische Aufgabe, von der bereits die Rede war. Mehr noch, wir hatten (und haben immer noch) im Grundsatz die gleiche Vorstellung von unserem Metier als Historiker, die gleichen methodologischen Ausrichtungen und zum großen Teil die gleichen Referenzpunkte. Jeder von uns bewahrte also seine Eigenständigkeit in der Forschung, was uns aber nicht daran hinderte, unsere Projekte, unsere Ideen - oder unsere Enttäuschungen eingehend miteinander zu diskutieren. Gleichzeitig stimmten wir unsere Lehrangebote so ab, dass sie sich ergänzten. In regelmäßigen Abständen führten wir auch gemeinsame Vorlesungen und Seminare durch: Konfrontation der Erfahrungen, aber Harmonie im Zugang, in der Methode, in der Denkweise. Gemeinsam luden wir auch mitunter sehr angesehene, auswärtige Kollegen ein, öffentliche Vorträge an der ETH zu halten - unter ihnen - natürlich auch französische Amerikanisten wie François Chevalier, Frédéric Mauro oder Ruggiero Romano. Um der beabsichtigten Zusammenarbeit Gestalt, Sinn und Sichtbarkeit zu verleihen, benötigten wir jedoch wenigstens eine minimale Infrastruktur. Es gab überhaupt keine. Wir befanden uns noch im „antiken" Zeitalter, in dem die Professoren der „Freien Fächer" zu Hause arbeiteten und nur an der ETH erschienen, um ihre Veranstaltungen abzuhalten - zwei Mal in der Woche zwischen 17 und 19 Uhr. Keine Räumlichkeiten vor Ort, kein Sekretariat, keine Assistenten. Was war da zu tun? Wir stellten die Frage dem neuen Präsidenten der ETH, Heinrich Ursprung. Er entschied sogleich, das Institut für Geschichte zu gründen. Das war 1974. Wir erhielten also mit dem Notwendigen ausgestattete Räumlichkeiten (die wir in der Folge mehrere Male wechseln sollten: von Auf der Mauer ins Hauptgebäude, von der Scheuchzerstraße an den Hirschengraben). Wir konnten auf die Unterstützung einer Sekretärin zählen und auf einen verhältnismäßig großzügigen Kredit für die Bibliothek, die Einladung ausländischer Gelehrter, Teilnahmen an Kongressen, Kolloquien usw.; Assistenten jedoch konnten wir erst ab 1990 anstellen. Dem Institut wurde das von Klaus Urner auf privater Basis gegründete, später unter meiner Patronage an der ETH beheimatete Archiv für Zeitgeschichte angegliedert. Formell wechselten Hans Werner Tobler und ich uns in der Leitung des Instituts ab, tatsächlich übten wir sie einfach gemeinsam aus. Diese Zusammenarbeit führten wir während fünfundzwanzig Jahren fort, bis zu meiner Pensionierung, und sogar darüber hinaus, da ich mein altes Büro bis 2007 „besetzt" hielt.

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Jean-François Bergier

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Es steht mir nicht zu, eine Würdigung des wissenschaftlichen Werks von Hans Werner Tobler vorzunehmen. Lateinamerika ist nicht mein Gebiet, obschon ich mich früher durchaus dafür interessiert habe. Ich habe Veranstaltungen über die spanische und portugiesische Kolonisierung durchgeführt, den Kontinent wiederholt besucht (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Chile), und ich habe sogar in den Archiven von Buenos Aires Recherchen über die Arbeit in den Minen von Potosi im 16. Jahrhundert unternommen - viel ist dabei indessen nicht herausgekommen. In diesem weiten und faszinierenden Feld bin ich bloß ein Laie, immerhin ein mehr oder weniger aufgeklärter (was ich zum großen Teil Hans Werner Tobler zu verdanken habe). Unter diesem Vorbehalt will ich an dieser Stelle dennoch dreierlei zur Karriere und zum Werk meines Freundes anmerken. Eine erste Bemerkung, die mir besonders am Herzen liegt, bezieht sich auf seine beharrliche Aufmerksamkeit gegenüber den Individuen, nicht gegenüber den großen Figuren der Geschichte, sondern gegenüber der großen Zahl derjenigen, die oftmals ihre unfreiwilligen Akteure und nicht selten auch ihre Opfer sind - die Bauern, die Migranten, die Revolutionäre, die Widerstandskämpfer. Dies kam schon bei seinem Doktorat über Silvio Trentin zum Ausdruck. Nie hat Hans Werner Tobler diese Menschen aus dem Blick verloren, ja sie stehen eigentlich im Zentrum seines gesamten Werks. Zweifellos gehört er damit einer Strömung an, welche die Historiographie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat und die unter anderen von der Bewegung der Anales vorangetrieben worden ist. Es ist nicht zuletzt in der Zugehörigkeit zu dieser Strömung gewesen, wo er und ich uns wissenschaftlich nahe gestanden sind. Bei Hans Werner Tobler war diese Sicht weder das Resultat einer Mode noch eines erworbenen Reflexes. Sie ist - davon bin ich fest überzeugt - einer unerschütterlichen sozialen Überzeugung entsprungen, von der er auch in seinen übrigen Aktivitäten im Dienst der Universität und des Gemeinwesens Zeugnis abgelegt hat. Zum zweiten möchte ich darauf hinweisen, dass Hans Werner Tobler stets der Mann eines großen Themas - der Mexikanischen Revolution - geblieben ist. Es hat ihn nicht gereizt, sich aller möglichen anderen Dinge anzunehmen. Dies ist nicht der Ausdruck eines Mangels an Neugierde, es ist vielmehr ein Beweis für das leidenschaftliche Interesse an diesem Thema gewesen (und es gibt keine guten Historiker ohne Leidenschaft), für die Bescheidenheit und für eine große Weisheit - die mir selber nicht beschieden gewesen ist. Allerdings weitete er, ausgehend von seinem Gegenstand, den er in allen Aspekten in der longue durée beherrschte, allmählich, ja vielleicht zögerlich, seine Perspektive und wagte sich - ihrer Risiken und Gefahren wohl bewusst - an eine verglei-

Hommage

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chende Betrachtung; mit den anderen Teilen Spanisch-Amerikas, mit den Vereinigten Staaten und darüber hinaus mit China und mit Russland. Zugleich hat er sich auch mit Fragen der Migration und der Besiedlung beschäftigt. Untersuchungen zur schweizerischen Auswanderung nach Lateinamerika erlaubten ihm, ein Kapitel der Geschichte seines Landes mit jener „seines" Kontinents zu verbinden. Es ist dieser Ausdruck von Kohärenz, der mich beeindruckt. Schließlich möchte ich die große Bedeutung hervorheben, die Hans Werner Tobler dem Begriff des Wandels beigemessen hat. Das Wort „Wandel" kehrt unter seiner Feder immer wieder; es erscheint in den Titeln von mehreren seiner Publikationen, zuerst in der großen Schrift von 1984, manchmal in Varianten: Transformation, Veränderung, Modernisierung, usw. Dieses Interesse ist nicht nur an das Phänomen der „Revolution" gebunden gewesen, das er in seiner mexikanischen Version betrachtet hat. Wandel und Revolution hat Hans Werner Tobler nicht als Synonyme verstanden, insofern als die Revolution einen Akt, ein unmittelbar fassbares Ereignis darstellt, während die Veränderung erst erkennbar wird, nachdem sie sich vollzogen hat. In der Tobler'sehen Perspektive ist diese Veränderung der Übergang in die Moderne. Aber was ist die Moderne? Die Frage ist sehr in Mode gekommen wodurch der Diskurs vor allem vieldeutiger geworden ist. Der Moderne wohnt eine relative Bedeutung inne, da sie eine Wirklichkeit bezeichnet, die sich von der vorangehenden unterscheidet, welche nun als archaisch betrachtet wird. Die Moderne verfugt aber auch über eine absolute Bedeutung, weil sie einen Zustand der Zivilisation, ja eine mehr als jahrhundertealte Epoche beschreibt. Die Lehrbücher beschwören die „Neuzeit", die das Mittelalter abgelöst haben soll. Schaut man jedoch genauer hin, findet man Modernität seit dem 13. Jahrhundert (in der Ablösung der traditionellen Scholastik durch spekulatives Denken; in der Konstituierung großer, zentralisierter Territorialstaaten; in der Globalisierung des Handels), während auf der anderen Seite Archaismen bis ins Zeitalter der Aufklärung (beispielsweise im Dämonenkult oder in der Hexenjagd) und sogar bis in unsere Zeit (etwa in der Ablehnung der Darwinschen Evolutionslehre) überdauern. Hans Werner Tobler ist kein Dogmatiker. Mit Scharfsinn und Intelligenz setzt er die theoretischen Konzepte ein, aber er ist sich bewusst, dass man daraus kein Gefängnis fiir die Geschichte errichten darf, in welchem diese unter Torturen gezwungen wird, sich der Theorie zu beugen. Gerade weil er diese Wahrnehmung des Wandels besitzt, weiß er, dass nichts in der Geschichte feststehend ist und sich durch Definitionen einschließen lässt. Es ist die Dynamik der Geschichte, die er aus innerer Überzeugung in seiner Analyse festhält. Dies bezeugt die Freiheit und die Unabhängigkeit dieses Historikers. Er hat sich weder von den Versuchungen der theoretischen Modelle noch vom

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Jean-François Bergier

Reiz einer Geschichte der intersäkularen Strukturen, der „unbeweglichen" Geschichte verfuhren lassen. Durch diese Qualitäten hat sich Hans Werner Tobler als eine Persönlichkeit der Geschichtsschreibung über Lateinamerika durchgesetzt, an der, wie man zu sagen pflegt, „kein Weg vorbeifuhrt", und die der Wissenschaft unseres Landes zur Ehre gereicht.

Stephan Scheuzger / Peter Fleer

EINLEITUNG: ZENTREN UND PERIPHERIEN DES WANDELS - DIE MODERNE IN LATEINAMERIKA

Mit der Etablierung der „Globalisierung" als neuem Leitbegriff gesellschaftswissenschaftlicher Gegenwartsdiagnose und zeitgeschichtlicher Forschung sind auch die „Moderne" und ihre Geschichte revidierten Befragungen und Rekonzeptualisierungen unterzogen worden. Ausdruck davon ist nicht zuletzt eine zunehmende Attributierung des Begriffs der Moderne in den letzten mindestens zwei Jahrzehnten gewesen. So ist unter anderem von einer verwobenen,1 einer reflexiven, 2 einer alternativen, 3 einer multiplen, 4 einer radikalisierten,5 einer kolonialen, 6 einer liquiden7 oder einer globalen 8 Moderne die Rede gewesen. Verbunden mit dem Blick auf eine sich globalisierende Welt waren ein verändertes Verständnis gesellschaftlicher Differenz und damit eine Vervielfältigung der Möglichkeiten, Grenzen zwischen sozialen Sphären zu ziehen. Die Vorstellung einer einheitlichen Moderne ist in ihren universalistischen, diffusionistischen und eurozentrischen Grundannahmen immer nachdrücklicher in Frage gestellt worden. Die Differenzierung ging mit einer Pluralisierung einher: Statt von der Moderne ist immer öfter von den Modernen gesprochen worden. Dass der „Westen" seine Repräsentationshoheit der Moderne eingebüßt hatte, hatte nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die Moderne mittlerweile praktisch überall auf der Welt anzutreffen war.

Universalität und Partikularität der Moderne War das Wort „modern" schon Jahrhunderte zuvor bekannt, so erhielt die Vorstellung der einen Moderne ihre Prägung in der Aufklärung. Sie war zum einen gebunden an das Versprechen menschlicher Emanzipation, die auf der Grundlage eines Regimes der Vernunft zu verwirklichen war. Die rationale Lebensordnung sollte namentlich die zunehmende Kontrolle über die natürli-

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S. Randeria: Geteilte Geschichte und verwobene Moderne. Vgl. U. Beck / W. Bonß / Ch. Lau: Theorie reflexiver Modernisierung. D.P. Gaonkar: On Alternative Modernities. Vgl. S.N. Eisenstadt: Multiple Modemities. Vgl. J. Rohbeck: Technik - Kultur - Fortschritt. S. Dube / I.B. Dube / W.D. Mignolo (Hg.): Modernidades coloniales. Z. Bauman: Liquid Modernity. A. Dirlik: Globalization Now and Then.

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che Umwelt herbeiführen sowie Formen politischer Organisation der Gesellschaft etablieren, die von der Willkür der Machtausübung befreit waren und der menschlichen Natur entsprachen. Zum anderen war es auch im Kontext der Aufklärung, zunächst in der Querelle des Anciens et des Modernes von 1687, dass die Idee einer der vorangegangenen Zeit überlegenen modernen Gegenwart als einer menschheitsgeschichtlichen Epoche formuliert wurde. Auch wenn sich ihnen im Zuge der Industrialisierung und der imperialen Ausdehnung Europas die Ambivalenzen und Widersprüche der Moderne bereits deutlich offenbarten, bauten auch die Protagonisten der nordatlantischwestlichen Moderne des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts ihr Projekt letztlich auf derselben optimistischen Grundhaltung. Sie waren überzeugt davon, dass die von ihnen modellierte Moderne, basierend auf wissenschaftlicher Rationalität, technischem Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und individueller Freiheit, sich langfristig, unter der Umformung unterschiedlicher traditioneller Gesellschaftsorganisationen weltweit durchsetzen würde. Als politisch-kulturelle Grundeinheit der zur globalen Entfaltung drängenden Moderne wurde der Nationalstaat entworfen. Auf der Basis eines neuen Verhältnisses zur Territorialität einte er nach innen und grenzte nach außen ab. Regionale und lokale Identitäten wurden transzendiert und durch die neue „imaginierte Gemeinschaft" der nationalen Großgruppe ersetzt.9 Ein abstraktes, allgemeine Gültigkeit beanspruchendes Rechtssystem löste differenzierte gewohnheitsrechtliche, oft auf persönlichen oder familiären Loyalitäten beruhende Normensysteme ab, die verschiedenen Rechtsverbände wurden in der Staatsbürgerlichkeit fusioniert. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich in den meisten westlichen Ländern - in durchaus unterschiedlichen Graden die grundlegenden Institutionen dieses nationalstaatlichen Modells herausgebildet: kapitalistische Marktwirtschaft, politische Demokratie und Rechtsstaat. Der universelle Anspruch des Modells wurde allgemein mit der menschlichen Emanzipation, konkreter sowohl mit bereits erreichten als auch mit in Aussicht gestellten Wohlstandsgewinnen und politischen Partizipationsmöglichkeiten für alle Bevölkerungsteile legitimiert. Gesellschaftlicher Fortschritt war demnach nur als Modernisierung denkbar, die Übernahme des westlichen Entwicklungsmodells wurde zur weltweiten Voraussetzung für Wohlstand und Freiheit erklärt. Die westliche Moderne erhielt in dieser Teleologie den Status der letzten Etappe im Prozess der Entfaltung und globalen Durchsetzung der abendländischen Zivilisation zugewiesen. Indessen setzte sich die Moderne auch in Europa weder flächendeckend noch einheitlich durch.10 Die fundamentalste Differenzierung des modernen

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Vgl. B. Anderson: Die Erfindung der Nation; E. Gellner: Nationalismus und Moderne. Björn Wittrock hat beispielsweise angeführt, dass sich selbst für Westeuropa die Epoche der Moderne auf die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg reduziere, wenn als

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Projekts im 20. Jahrhundert war nicht das Produkt einer Transformation unter den abweichenden kulturellen Voraussetzungen einer nicht-europäischen Gesellschaft, sondern tief im kulturellen Programm des europäischen Zentrums der Moderne verankert: Das kommunistische Modernemodell11 teilte mit dem liberalen die Wurzeln in der europäischen Aufklärung, die Vorstellung eines sich auch in revolutionären Brüchen vollziehenden Emanzipationsprozesses der Menschheit, die Grundlagen wissenschaftlicher Rationalität oder den Glauben an einen von technologischer Innovation getragenen Fortschritt. Und es etablierte gleichfalls einen Entwicklungspfad, der Modernisierung zentral mit Industrialisierung, Urbanisierung und bürokratischer Durchdringung des sozialen Lebens verband. Diametral unterschied sich das kommunistische Modernemodell jedoch vom liberalen hinsichtlich des zugrunde gelegten Freiheitsbegriffs. Im Vordergrund stand hier nicht das Individuum, sondern das Kollektiv, die Klasse und die Gesellschaft. Noch deutlicher traten die Unterschiede zwischen den beiden Modellvarianten in der institutionellen Ausgestaltung hervor: staatlich gesteuerte Planwirtschaft statt kapitalistischer Marktwirtschaft, „Demokratischer Zentralismus" und „Volksdemokratie" statt repräsentativer Demokratie. Wie der Liberalismus entwarf auch der Kommunismus sein politisches Programm entlang einer Dialektik von Nationalisierung und Internationalisierung. Das Programm der Klassensolidarität und der historische Materialismus mit einer teleologischen Vision, die in ihrem Endpunkt auf den Zerfall staatlicher Machtstrukturen zulief, stellten indessen die grundlegenden modernen Konzepte der Nation und des Nationalstaates in einen elementar verschiedenen geschichtlichen Sinnzusammenhang. Die Katastrophen der beiden Weltkriege und besonders das nationalsozialistische Schreckensregime erschütterten zwar den unvoreingenommenen Optimismus in Bezug auf das der Moderne innewohnende Emanzipationspotenzial, stellten aber das westliche Modernemodell nicht grundsätzlich in Frage. In gewissem Sinn konnten die Niederringung des Nationalsozialismus und der bald darauf einsetzende europäische Einigungsprozess ebenso wie der Aufstieg der USA zur globalen Hegemonialmacht geradezu als Belege für die Selbstheilungskräfte des westlichen Modells der Moderne gelten. Zugleich schienen die Konsolidierung des sowjetischen Herrschaftsbereichs sowie die mindestens in einzelnen Aspekten durchaus spektakuläre wissenschaftlichtechnische und wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern des so genannten Ostblocks nach dem Zweiten Weltkrieg das kommunistische Modememodell Maßstab zur Bestimmung der Moderne die Durchsetzung einer Anzahl gesellschaftlicher Schlüsselinstitutionen, wie einer parlamentarischen Demokratie, verwendet werde. „Modernity would barely have arrived in time to witness its own demise as heralded by the prophets of postmodernism." Modernity, S. 36. Allgemein zu Kommunismus und Moderne vgl. J.P. Arnason: Communism and Modernity.

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gerade auch für asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Gesellschaften zu einer ernstzunehmenden Option zu machen. Die Modernisierung, die im Kontext der Systemkonkurrenz der Nachkriegszeit von der Ersten und von der Zweiten Welt aus für die Dritte Welt propagiert wurde, sah die Durchsetzung von Ensembles technologischer und institutioneller Entwicklungen vor, die im Kern auf die Steigerung der Wirtschaftskraft abzielten.12 Aus der Sicht der westlichen Modernisierungstheorien der Nachkriegsjahrzehnte hatten die in der herkömmlichen binären Unterscheidung als „traditionell" qualifizierten Gesellschaften oder gesellschaftlichen Sektoren demnach eine nachholende Entwicklung auf der Grundlage des Transfers von Technologie, politischen Strukturen, wirtschaftlichen Praktiken und kulturellen Werten aus dem Westen zu vollziehen. Die Modernisierungspfade konnten dabei auch in der Theorie je nach konkreter Ausgangssituation durchaus unterschiedlich verlaufen; so konnten mitunter auch „Entwicklungsdiktaturen" in Kauf genommen werden, die Demokratie und Menschenrechte im Interesse des wirtschaftlichen Fortschritts - und der Blockzugehörigkeit - außer Kraft setzten. Das Leitbild der Modernisierungstheoretiker blieb jedoch in den Grundzügen stets dasselbe: Es war die Moderne der demokratisch verfassten, kapitalistischen Industrie- und Wohlstandsgesellschaft westeuropäisch-US-amerikanischen Zuschnitts.13 Als sich dann spätestens ab Beginn der 1980er Jahre die Schwächen des kommunistischen Modells immer deutlicher abzeichneten und gleichzeitig der breite Durchbruch der Informationstechnologie in den westlichen Industrieländern eine beispiellose wirtschaftliche Dynamik in Gang setzte, schienen vielen die Versprechen dieses westlichen Modernemodells in globalem Maßstab realisierbar - einigen schien der Zusammenbruch der sozialistisch verfassten Staaten Osteuropas und schließlich der Sowjetunion in diesem Sinn gar das „Ende der Geschichte" zu verheißen.14 Es stellte sich jedoch nicht ein genereller Konsens über die Moderne ein, sondern vielmehr eine wachsende politische Sichtbarkeit von Positionen und Projekten, die in dem Sinn modernisierungskritisch waren, dass sie das dominante nordatlantisch-westliche

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Gleiches galt letztlich auch für die vereinzelten Versuche eines „Dritten Wegs", die sich jedoch zwischen den konkurrierenden Modellen im Kalten Krieg nicht dauerhaft zu etablieren vermochten. Dieser Modemisierungsprozess - und sein Scheitern - ist aus unterschiedlichen Blickwinkeln und anhand diverser Fallbeispiele in einer Reihe prominenter Studien beschrieben worden, vgl. D.E. Apter: Political Protest and Social Change; B. Moore: Social Origins of Dictatorship and Democracy; A. Oerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective; P.W. Kuznets: Economic Growth and Structure in the Republic of Korea; D.S. Landes: Wealth and Poverty of Nations; W.A. Lewis: Economic Development with Unlimited Supplies of Labour; W.W. Rostow: The Stages of Economic Growth. F. Fukuyama: The End of History and the Last Man.

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Modememodell herausforderten. Die Herausforderungen gingen sowohl von den Zentren dieser Moderne selbst aus, wo unter anderem die Thematisierung der Ressourcen- und Umweltproblematik den fortschrittsoptimistischen Wachstumsvorstellungen entgegengestellt wurde, als auch von den als Peripherien der Moderne identifizierten Regionen, wo sich die Entwicklungsanstrengungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als weit weniger erfolgreich erwiesen hatten, als sie es gemäß den Annahmen der Modernisierungstheorien hätten sein müssen. Die Grundannahmen, auf denen das nordatlantisch-westliche Modernemodell seinen universalen Geltungsanspruch formuliert hatte, hatten an Plausibilität eingebüßt. Der Glaube an einen notwendigen Nexus zwischen der Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsformen und politischer Demokratisierung war ebenso nachhaltig erschüttert worden wie das Vertrauen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem genügend Reichtum erzeugte und die demokratischen Mechanismen des Interessenausgleichs ausreichend gerechte Allokationsmodi bereitstellten, um allen, die einen legitimen Anspruch darauf erheben konnten, Wohlstandsgewinne zu ermöglichen. Selbst die herkömmliche Abgrenzung von Zentrum und Peripherie wurde zunehmend in Frage gestellt, insbesondere durch transnationale Verflechtungen, die nicht nur das herrschende Modernisierungsmodell ablehnende soziale Bewegungen verbanden, sondern ebenso die politischen und gesellschaftlichen Träger desselben. Auf wissenschaftlichem Gebiet waren namentlich Poststrukturalismus, postcolonial studies oder die Weltsystem-Theorie an der Erodierung von Gewissheiten über die Moderne beteiligt. Auf die - in der Regel auf dem gedanklichen Boden der Moderne argumentierende15 - Kritik am Universalitätsanspruch der einen Moderne und die Dekonstruktion des Eurozentrismus folgte die Forderung nach einer Hinwendung zu den ambivalenten Interaktionen in asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen aneinander gebundenen kulturellen Formationen in einer polyzentrischen Welt. Die insbesondere auch modernisierungstheoretisch verankerten Vorstellungen der Geschlossenheit der Moderne, auf deren Basis die binäre Unterscheidung ganzer Gesellschaften oder Gesellschaftsteile als entweder „traditionell" oder „modern" operierte, wurde spätestens ab den achtziger Jahren nachhaltigen Revisionen ausgesetzt. Die kolonialistische europäische Expansion wurde nicht mehr nur als Modus der Ausbreitung der Moderne, sondern zunehmend auch als historische Bedingung derselben gesehen. So fanden nicht nur die Zusammenhänge von Kolonialismus und Industrialisierung eine wachsende Beachtung, auch der Umstand wurde verdeutlicht, dass Europa erst im kolonialen Expansions-

So hat etwa Ulrich Beck geltend gemacht, dass die vollständige Durchsetzung moderner Prinzipien das Moderneprojekt selbst gefährde, dass die Moderne insofern stets nur eine „halbe" sein könne. Vgl. U. Beck: Risikogesellschaft.

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prozess ein Bewusstsein seiner selbst und damit der Moderne erlangt hatte. Unter einer derart historisierenden, relationalen Betrachtung verloren die eurozentrischen Topographien und die etablierten Meister-Erzählungen der einen Moderne an Bedeutung. Die Moderne, die sich weder einseitig noch linear von einer europäisch-US-amerikanischen Kernzone über den Rest der Welt ausbreitete, sondern sich durch Übertragungen in unterschiedliche kulturelle Kontexte unter fortwährenden Transformationen globalisierte, kannte wandelnde Mittelpunkte und variierende Deutungen. Dabei etablierte sie zugleich ein immer weniger umgehbares Referenzsystem eines geteilten Erwartungshorizontes, innerhalb dessen selbst die Gegner des nordatlantischwestlichen Moderneprojekts ihre Positionen formulierten. Heute scheinen diese vielschichtigen, phasen- und teilbereichsweise konvergierenden und divergierenden Entwicklungen offener denn je, und die zahlreichen Versuche neuer sinnstiftender Meister-Erzählungen kommen denn auch zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Sehen die einen in der beispiellosen Verdichtung der transkulturellen Kontakte im globalen Maßstab einen „Clash of Civilizations", verstehen andere darunter ein „Rendez-vous des Civilisations". Sprechen die einen über einen neuen, von transnationalen Konzernen vorangetriebenen Imperialismus, beklagen andere das „Ende der westlichen Weltherrschaft".16

Die Moderne als Zeitalter und als Wandel Die Peripherie, die in der Geographie der Moderne insbesondere die Erdteile außerhalb einer europäisch-US-amerikanischen Ursprungsregion bezeichnet hat, ist viel weniger ein Ort der Herausforderung der Moderne gewesen als ein immenser Übersetzungsraum derselben. Es hat zur ambivalenten Natur der Moderne gehört, entlang des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie gleichzeitig Aus- und Einschluss zu betreiben. Zwischen Gesellschaften und zwischen gesellschaftlichen Gruppen wurde das Moderne vom Nicht-Modernen geschieden, zugleich musste die Moderne in ihrem universellen Anspruch aber auch die Grenzen zwischen Metropolen und Randzonen verschwimmen lassen. Die Instabilität im Verhältnis von Zentrum und Peripherie hat nicht zuletzt in den verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten begründet gelegen, die der Moderne eigen gewesen sind. Der Begriff der Moderne kann einer epochalen Abgrenzung dienen. Eine mittels bestimmter vereinheitlichender Eigenschaften in die Kategorie des Zeitalters erhobene gesellschaftliche Gegenwart wird dabei von einer Vergan16

Y. Courbage / E. Todd: Le Rendez-vous des Civilisations; S. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of the World Order; R. Kagan: The Return of History and the End of Dreams; N. Klein: The Shock Doctrine; M. Lilla: The Stillborn God; J. Ross: Was bleibt von uns?

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genheit abgesetzt. Das Moderne ist in diesem Sinn das Neue, das dem Alten gegenübergestellt wird. Die Moderne wird im Singular angesprochen. Die Bezeichnung der Zäsur bedarf der inhaltlichen Angabe dessen, was modern ist, sie setzt die Bestimmung der Eigenschaften der Moderne beziehungsweise des Grades ihrer Durchsetzung voraus. Das Ergebnis kritischer Anstrengungen, die Moderne zu fixieren, ist indessen meist die Konstatierung deren Unvollständigkeit gewesen, sei es im globalen, in einem kontinentalen oder einem nationalstaatlichen Betrachtungsmaßstab, sei es in einer Zivilisationen oder Kulturen unterscheidenden Perspektive. Eine flächendeckend durchgesetzte Moderne ist nicht mehr modern. Indem das Moderne darauf angewiesen ist, sich vom Nicht-Modernen abzugrenzen, wird der Wandel selbst zum unterscheidenden Merkmal der Moderne. So kann das Moderne in einer weiteren Bedeutungsmöglichkeit als das Vorübergehende verstanden werden, das sich vom Beständigen abhebt. Die Gegenwart wird vor allem in ihrer beschleunigten Transformierung wahrgenommen, sie wird gleichsam als „Vergangenheit einer zukünftigen Gegenwart" gedacht.17 Das Bekenntnis zur Moderne erscheint hierbei in erster Linie als Bekenntnis zum Wandel. Entsprechend wurden Metaphern der Bewegung zentral zur Beschreibung des Modernen: „Revolution", „Fortschritt", „Emanzipation", „Entwicklung", „Krise".18 In der Geschichte der Moderne sind die beiden Bedeutungsvarianten nebeneinander anzutreffen gewesen. Indem es der Anspruch der Moderne gewesen ist, die Gestaltung der Gegenwart der Autorität der Tradition, der bestimmenden Kraft des Hergebrachten, des Klassischen zu entziehen, musste sie im programmatischen Bruch mit dem geschichtlichen Kontinuum, in ihrer Hinwendung zur Gegenwart selbst normativ werden. Im Sinn ihrer ersten Bedeutungsvariante wurde die Moderne anhand von bestimmten Institutionen und Werten gefasst, welche es erlaubten, sie abzugrenzen, Grade der Modernität zu unterscheiden und sich oder anderen Modernisierung zu verordnen. Es war die Aufklärung, welche als Stifterin des Weltbildes, das die Moderne ermöglichte, die historisch nachhaltigsten zivilisatorischen „Kristallisationen"19 der für die Moderne grundlegenden Leitidee der menschlichen Emanzipation hervorbrachte. Vorstellungen allgemeiner Menschenrechte, konstitutioneller Restriktion politischer Macht und einer Herrschaft des Volkes, einer Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre, einer Expansion industrieller Produktion, eines bürokratisch administrierten Staates, einer säkularen Gesellschaft, von Rationalität und wissenschaftlicher Erkenntnis oder ein individualisiertes Verständnis des Selbst stellten Konzepte dar, die bis heute als kon-

17 18 19

H.U. Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, S. 96. Vgl. V. Schelling: Introduction, S. 4. In der Begrifflichkeit von S.N. Eisenstadt: Multiple Modernities.

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stitutiv für die Moderne gelten und in gewissen Ensembles schließlich ihrerseits so etwas wie eine Tradition der Moderne entstehen ließen. Unter dem Gesichtspunkt ihrer zweiten Bedeutungsvariante verfugte die Moderne aber gleichzeitig über das Vermögen, sich selbst zu reflektieren. Karl Marx, Max Weber oder Sigmund Freud gehörten zu den prominenten modernen Denkern, die bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert einflussreich moderne Entwicklungen kritisierten und im Denken der Aufklärung verankerte Prämissen der Moderne in Frage stellten. Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion ermöglichte der Moderne auch, sich Essenzialisierungen ihrer selbst zu entziehen. Wenn die Moderne unter der Betonung des Wandels vor allem einen „nach vorne offene[n] Raum der Handlungsplanung"20 bezeichnete, war ihr auch ein (Selbst-)Bewusstsein für die Vielfalt historischer Entwicklungen und für die Geschichtlichkeit der eigenen Prämissen eigen. Die Vorstellung einer Vielzahl von Modernen ist in der Moderne angelegt gewesen. Die Entwicklung der Moderne ist gekennzeichnet gewesen durch die dialektischen Bewegungen zwischen Konvergenz und Divergenz, durch das Spannungsverhältnis zwischen der einen Moderne und den vielen Modernen. Alternative Modernen hatten ihre Ursache weniger im Wesen der Moderne als universellem Projekt, das sich von seinem ursprünglichen kulturellen Zusammenhang aus global auf auch entfernte andere Kulturräume auszudehnen beanspruchte, sie lagen davor bereits in der grundsätzlichen Mehrdeutigkeit der Moderne begründet. In ihrer Unvollständigkeit musste die Moderne als geteilte wahrgenommen werden. Der vielleicht prominenteste Ausdruck davon dürfte die Differenzierung zwischen einer sozioökonomischen und einer kulturellen Moderne gewesen sein. Die Moderae bot sich stets als Auswahl an. Zugleich zeichnete sie eine gewisse Unausweichlichkeit aus, indem der Kontakt mit ihr, Wandel auslösen musste. Sich der Moderne zu entziehen, wurde im Verlaufe der Zeit immer schwieriger. Sich der Moderne entgegenzustellen, hinterließ in jedem Fall Spuren; der Widerstand gegen sie trug praktisch immer auch moderne Züge. Die Moderne wurde ebenso auferlegt wie gewählt. Sie schuf einen Zwang zur Selektion. Die selektive Integration in die Moderne, die auswählend betriebene Modernisierung transformierte auch die Moderne. In der Dialektik zwischen Angleichung und Absetzung nahm die Moderne Gestalt an und entfaltete ihre Wirkung in Verbindung mit nichtmodernen Vorstellungen, Werten und Institutionen. Dabei veränderte sie sich, deutete die Verhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie um, schuf immer wieder neue Zentren und Peripherien. In dieser vielfaltigen Entwicklung vermochte die Moderne keinem Masterplan zu folgen - und sie zeitigte auch Konsequenzen, die schließlich die im modernen Verständnis des Wandels existenzielle Idee des Fortschritts in Frage stellten.

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H.U. Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderae, S. 120.

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Obwohl in der erneuerten wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema der Moderne bereits seit einiger Zeit und zunehmend nachdrücklich eine relationale Betrachtung der Moderne und eine größere Aufmerksamkeit für die spezifischen Moderneerfahrungen außerhalb des nordatlantisch-europäischen Kontextes eingefordert werden, ist die Auseinandersetzung mit der Moderne in verschiedenen hergebracht als peripher gekennzeichneten Weltregionen vor allem noch eine theoretische geblieben. Empirische Untersuchungen über Beschaffenheiten und Dynamiken der Moderne gerade auch in lateinamerikanischen Gesellschaften sind noch selten.21

Die Moderne in Lateinamerika Der Hinweis darauf, dass Lateinamerika unter den der Peripherie zugeordneten Weltregionen in der Geschichte der Moderne eine Sonderstellung einnimmt, ist in der Diskussion über die Moderne auf dem Subkontinent beinahe zur Konvention geworden. Der amerikanische Doppelkontinent war der erste Erdteil, mit dessen Geschichte sich die Moderne von Europa aus nachhaltig verband. Die „Neue Welt" war der Ausgangspunkt einer neuen Vorstellung der Welt und eines neuen Selbstverständnisses der Europäer, sie hatte teil an der „verflochtenen" Geschichte der entstehenden Moderne in Europa. Die meisten lateinamerikanischen Staaten erlangten ihre Unabhängigkeit in einer Zeit, in der die Modernisierung der europäischen Gesellschaften in vielerlei Hinsicht Rückschläge hinnehmen musste. Und die Eliten in Lateinamerika verhandelten ihre Moderne bereits mehrere Generationen lang unter den politischen Voraussetzungen formal souveräner Republiken als beispielsweise die lokalen Eliten fast überall in Afrika und in weiten Teilen Asiens dies erst unter den Bedingungen kolonialer Beherrschung taten. Auch kennzeichnete die Aushandlung der Moderne durch die lateinamerikanischen Eliten eine deutlich geringere zu überwindende kulturelle Distanz zu den europäischen Modellen als dies in anderen postkolonialen Kontexten der Fall war. In den Diskursen der lesenden und schreibenden Eliten auf dem Subkontinent dominierte seit den Unabhängigkeitsbewegungen der Wille zur Abgrenzung von autochthonen Traditionen. Zwar gab es, wie beispielsweise in Mexiko, durchaus prominente Bestrebungen, die Ressource der präkolumbischen Geschichte zu nutzen; diese verfolgten indessen in aller Regel das Ziel, die mit den Folien einer europäisch-US-amerikanischen Moderne entworfenen gesellschaftlichen Ordnungen mit einer Identität stiftenden kulturellen Differenz zu versehen. Gleichwohl wurde Lateinamerika zu einem - ersten - peripheren Raum der Moderne, während im Norden Amerikas die Vereinigten Staaten sich immer Nicht nur auf einer theoretischen Ebene mit der Moderne in Lateinamerika beschäftigen sich unter anderem E. Roldän Vera / M. Caruso (Hg.): Imported Modernity in PostColonial State Formation; V. Schelling (Hg.): Through the Kaleidoscope.

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stärker im Zentrum derselben sahen, während die „westliche Moderne" geographisch zunehmend im nordatlantischen Raum beheimatet wurde. Die Moderne wurde in Lateinamerika vor allem als ein Zukunftsversprechen wahrgenommen. Als dessen Referenzpunkte galten zunächst vor allem Frankreich und England (aber etwa auch Italien), später dann zunehmend die Vereinigten Staaten. Dennoch war Lateinamerika nicht einfach ein Ort der Nachahmung der Moderne, wie ein weit verbreitetes Stereotyp behauptete. Ebenso wenig beherbergte es aber zusammen mit anderen zur Peripherie erklärten Regionen, die Ursprünge der Moderne, wie dies zur Überwindung eurozentrischer Sichtweisen in der Invertierung etablierter Perspektiven ebenfalls postuliert worden ist.22 Wenn modern zu sein bedeutete, anders zu sein, Differenz zum Herkömmlichen herzustellen, so manifestierte sich dies im Diskurs der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten Lateinamerikas zunächst in der Abgrenzung von den eigenen Bevölkerungsmehrheiten, von den Volkskulturen der ländlichen, der indigenen, der mestizischen oder der schwarzen Bevölkerungen. Diese waren, aus der Sicht gerade am Liberalismus orientierter Intellektueller und Politiker, den unproduktiven und irrationalen Schattenzonen der Traditionalität zu entreißen und in eine im Sinn der europäischen Moderne zivilisierte Gesellschaft zu transformieren. Allerdings war das Lob der Moderne bereits in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit nicht ungebrochen, das Vordringen der Zivilisation zulasten traditioneller Lebensformen wurde vielfach auch von den intellektuellen Eliten durchaus ambivalent beurteilt. Dies kam selbst in jener Erzählung von Domingo Faustino Sarmiento zum Ausdruck, deren Titel Civilización y barbarie (1845) gleichsam das die Modernisierungsprogramme um die Mitte des 19. Jahrhunderts charakterisierende Leitmotiv der Differenz in seine prägnanteste Kurzformel goss. 23 Unter den kolonisierten Weltregionen dürfte Lateinamerika mit dem Legat der größten soziokulturellen Heterogenität die Unabhängigkeit erlangt haben. 24 Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erachteten die Eliten die Überbrückung der Kluft zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft angesichts der weit hinter den Erwartungen zurückbleibenden Modernisierungserfolgen zunehmend als schwierig. Ihren Niederschlag fanden diese Auffassungen gegen Ende des Jahrhunderts nicht zuletzt in den an Bedeutung gewinnenden rassentheoretischen Begründungen nationaler Identität und kultureller Differenz. In den vom Positivismus inspirierten Entwicklungsagenden der zweiten Hälfte des Jahrhunderts koexistierten das Vertrauen in die transformierende Kraft der Bildung und ein deterministischer Pessimismus, der die

22 23 24

Z.B. A. King: Introduction, S. 8. D.F. Sarmiento: Civilización y barbarie. V. Schelling: Introduction, S. 8, 29.

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Modernisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften von der Immigration weißer Europäer abhängig sah. Die unter den ideologischen Voraussetzungen des Positivismus argumentierenden und agierenden Eliten suchten ihre Modernisierungsprogramme trotz des europäischen und des US-amerikanischen Vorbilds an die spezifischen lateinamerikanischen Verhältnisse anzupassen, etwa wenn sie im Zeichen von „Ordnung und Fortschritt" - der Festigung der staatlichen Machtstrukturen und der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung - einem Aufschub der Demokratisierung und der Limitierung der Volksrechte das Wort redeten, da die einheimischen Gesellschaften von abstrakten liberalen Freiheitsideen überfordert seien und der Lenkung durch eine „ehrbare Tyrannei"25 oder eine kraft ihrer überlegenen, wissenschaftlichen Einsicht legitimierten Führungsschicht bedürften. Die sich aus diesen Ansätzen entwickelnden Nationalstaaten integrierten sich wirtschaftlich als Rohstofflieferanten durchaus dynamisch in die moderne Weltwirtschaft, reproduzierten jedoch politisch unter der Fassade republikanischer Verfassungen traditionelle klientelistische Herrschaftsmuster, die die Macht in den Händen autoritärer caudillos konzentrierten. In der Tat kam es zu einem Neben- und Miteinander eines abstrakten modernen Nationalbewusstseins, das sich unter anderem in den Mythen einer gemeinsamen Geschichte und in ihren Heldendenkmälern manifestierte, und eines konkreten, personenbezogenen Loyalitätsgeflechts, das in Form eines vielschichtigen Systems von power brokerage von den einfachen Bauern auf dem Land bis zum Staatspräsidenten in der Hauptstadt reichte. Nach der Jahrhundertwende suchte der aufkommende Antiimperialismus eine deutlichere Abgrenzung gegenüber der europäisch-US-amerikanischen Moderne. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des US-amerikanischen Hegemonialanspruchs über die Hemisphäre und der immer deutlicher zu Tage tretenden Krise des oligarchischen Modernisierungsmodells erfuhr das Spannungsverhältnis zwischen dem Streben nach Integration in die vom US-amerikanischen und von europäischen Vorbildern repräsentierte Moderne und dem Willen zur Eigenständigkeit, zur Selbstbehauptung der lateinamerikanischen Gesellschaften in der Moderne profiliertere politische Artikulationen. Die Kritik am Modell einer „westlichen" Moderae US-amerikanischer Provenienz und an deren Nachahmung wurde in den Kategorien der Moderne formuliert.26 Es waren soziale Gruppen, die längst in der Moderne angekommen So in Mexiko Francisco G. Cosmes. Zitiert nach: L. Zea: El pensamiento latinoamericano, S. 391. Diese Kritik stellte durchaus nicht nur eine Gegenreaktion auf die Positionen des Positivismus dar, sondern baute vielmehr auf wesentlichen, modernen Aspekten desselben auf. So betonte auch sie die Wissenschaftlichkeit ihrer Einsichten, setzte ihr Vertrauen in den technologischen Fortschritt oder adaptierte evolutionistische Grundannahmen über die gesellschaftliche Entwicklung. Oscar Terán hat darauf hingewiesen, dass das

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waren, die in der spezifischen Art und Weise, wie die lateinamerikanischen Länder der Moderne ausgesetzt waren, nun die hauptsächlichen Ursachen für deren mangelhafte Modernisierung erkannten. Die moderne Dialektik von Ausschluss und Einschluss vollzog sich zunehmend auch als Differenzierungsprozess innerhalb des Projekts einer lateinamerikanischen Variante der Moderne. Auf der Grundlage der modernen Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den eigenen Gesellschaften27 schieden nationalistische oder regionalistische Diskurse eine kulturelle von einer ökonomischen Moderne, beanspruchten für die erste Sphäre nicht nur Eigenständigkeit, sondern bisweilen selbst eine Überlegenheit der lateinamerikanischen Gesellschaften und bauten darauf das Versprechen für die Zukunft, auch eine an den Maßstäben der einen Moderne gemessene erfolgreiche wirtschaftliche Modernisierung zu realisieren. Die erneuerten Identitätsentwürfe moderner Intellektueller und Künstler in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts konnten sich auf die Beiträge von Vordenkern eines lateinamerikanischen Identitätsdiskurses wie dem Uruguayer José Enrique Rodó oder dem Kubaner José Martí stützen. Während Rodó in Ariel (1900) seine Kritik der lateinamerikanischen nordomania und seine Absetzung von der - als materialistisch gering geschätzten - US-amerikanischen Moderne in einem Rekurs auf eine hispanoamerikanische Identität betrieb, betonte Marti für den subkontinentalen Emanzipationskampf in Nuestra América (1891) weniger das mit Europa geteilte kulturelle Erbe als die Notwendigkeit einer Besinnung auf die autochthonen Kulturen Lateinamerikas. Die Neubewertung der Rolle der indigenen, aber auch der schwarzen Kulturen für die Identität der lateinamerikanischen Gesellschaften durch eine künstlerische und intellektuelle Avantgarde besaß eine ihrer Quellen - so beispielsweise bei den mexikanischen Muralisten - allerdings gerade auch in der selektiven Aneignung von Elementen der europäischen modernistischen Ästhetik. Eine Losung wie „Seamos Estados Unidos", die noch in den 1880er Jahren von Sarmiento ausgegeben worden war,28 war im 20. Jahrhundert undenkbar geworden. Eine US-Amerikanisierung oder Europäisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften wurde nicht mehr anvisiert. Damit wurden jedoch nicht maßgebende Normen der nordatlantisch-europäischen Moderne widerrufen. So lag der Revalorisation der Rolle der indigenen und schwarzen Bevölkerungsteile in den lateinamerikanischen Gesellschaften nach wie vor die aus dem Blick auf die europäischen Erfahrungen abgeleitete Vorstellung nationa-

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positivistische Denken in Lateinamerika nicht nur die - bisweilen fatalistische - Annahme des Imperialismus als unabwendbare Gegebenheit zu unterstützen brauchte, sondern durchaus auch antiimperialistische Haltungen anleiten konnte. O. Terán: América Latina, S. 10-13. Vgl. T. Hedrick: Mestizo Modernism, S. 25 f. D.F. Sarmiento: Conflicto y armonías de las razas en América, S. 456.

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ler Einheit als kultureller Einheitlichkeit zugrunde. Die Zukunft der afrikanischstämmigen und der indigenen Bevölkerungen sollte in deren Auflösung in homogenisierten Nationalkulturen liegen, die nun nicht mehr weiß, sondern mestizisch oder mulattisch geprägt sein sollten. Auch dort, wo ab den 1920er Jahren die kommunistische Ideologie die antiimperialistische Differenzierung des Moderneentwurfs mit anleitete, wurden die indigenen und schwarzen Bevölkerungssektoren selten anders denn als rückständig und vormodern begriffen. Allenfalls in der Vorstellung, dass die Grundlage eines in den Produktions- und Besitzformen der indigenen comunidades persistenten primitiven Kommunismus die Einfuhrung des Sozialismus in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern unter Umgehung einer vollständigen Entfaltung des Kapitalismus ermöglichen könnte, wurde den indígenas eine gewisse Progressivität attestiert.29 Und auch im Nationalismus der Mexikanischen Revolution wurde die bäuerliche Bevölkerung nur in einem subalternen Status zu einem Akteur der Modernisierung gemacht, indem ihr - mindestens faktisch Entscheidungsgewalt über Entwicklungsziele und -wege der Nation nach wie vor weitgehend vorenthalten blieb. Wie in anderen lateinamerikanischen Ländern sollte die bäuerliche Bevölkerung auch in Mexiko in erster Linie als Produzentin billiger Nahrungsmittel und weniger als Konsumentin von „modernen" Konsumgütern in die nationale Gesellschaft integriert werden, um das Modernisierungsprojekt einer nachholenden Industrialisierung tragfahig zu machen. Insgesamt führten die Modernisierungsprozesse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb Lateinamerikas indessen zu einer deutlichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Differenzierung. Während in den großen Flächenstaaten die Industrialisierungsbestrebungen zumindest in Teilbereichen durchaus zu einer Ausweitung der nationalen Handlungsspielräume beitrugen, verstärkte sich in kleineren Ländern ohne Industrialisierungspotenziale die Einflussnahme ausländischer, meist US-amerikanischer Großkonzerne. Ihren prägnantesten Ausdruck fand diese Konstellation aus Korruption, schwachen staatlichen Institutionen und Abhängigkeit in dem auf die zentralamerikanischen Staaten bezogenen Typus der „Bananenrepublik". In den Ländern, in denen Industrialisierungserfolge zu verzeichnen waren wie in Argentinien, Brasilien und Mexiko kristallisierten sich populistische Regime heraus, die die traditionellen Herrschaftsmuster durch klientelistisch durchzogene Massenorganisationen ergänzten, um die Partizipationsansprü-

Eine tragende Rolle spielte die Vorstellung eines vorspanischen, bis in die Gegenwart unter indigenen Dorfgemeinschaften vorfindlichen Agrarkommunismus etwa in der Konzeption der sozialistischen Revolution in Peru durch José Carlos Mariátegui. Vgl. Secretariado Sudamericano de la Internacional Comunista: El movimiento revolucionario latinoamericano, S. 279; J.C. Mariátegui: Siete ensayos de interpretación de la realidad peruana.

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che wachsender Mittelschichten in das politische System zu integrieren, ohne dabei das oligarchische Machtkartell zu sprengen. Die widersprüchliche Bewegung der lateinamerikanischen Modernisierung, die sich von den Normen der US-amerikanisch-europäischen Moderne distanzierte und sie sich gleichzeitig zu eigen machte,30 leitete auch die Wirtschaftspolitik der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg an. Der theoretische Rahmen der Modernisierungspolitik wurde sowohl von außen - in der Form der Modernisierungstheorien - als auch von innen - im desarrollismo und später mit den Dependenztheorien - entworfen. Die Politik der importsubstituierenden Industrialisierung strebte - mindestens in ihrer im Verlaufe des Prozesses formulierten theoretischen Begründung - die Emanzipation der lateinamerikanischen Volkswirtschaften in einer industriellen Moderne an, indem sie den zur selben Zeit in den Zentren postulierten (aber dort selber nicht realisierten) Idealen von Freihandel und der wirtschaftlichen Zurückbindung des Staates als global gültige Blaupausen für erfolgreiche Entwicklung ein auf die Verhältnisse der Dritten Welt zugeschnittenes Gegenmodell entgegenstellte. Mit den Industrialisierungsprozessen der Nachkriegsjahre verband sich ein vielschichtiger sozialer Wandel. Dieser war nicht zuletzt von einer Transformation und Vervielfältigung der Konsummuster, von einer bisweilen eindrücklichen Ausweitung der Bildungsangebote und einer sich beschleunigenden Urbanisierung geprägt. Mit dem umfangreichen Transfer von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft in urbane Beschäftigungen war bis in die sechziger Jahre eine insgesamt beträchtliche soziale Mobilität verbunden. Unter einer kleinen Ober- beziehungsweise oberen Mittelschicht bildete sich eine nur schwierig abzugrenzende, wachsende Mittelschicht (die sich weniger über die Höhe des Einkommens als über die Länge der formalen Ausbildung definierte) sowie eine Arbeiterschaft in der Industrie, im Bau- und Transportgewerbe und im Dienstleistungsbereich. Doch die formellen Arbeitsmärkte der rasch wachsenden Städte vermochten nicht alle in die Urbanen Zentren migrierenden Arbeitskräfte aufzunehmen, und es begannen sich jene spezifisch Urbanen Formen der Unterbeschäftigung und Marginalität herauszubilden, die bis heute ein prägendes Charakteristikum lateinamerikanischer Städte und Metropolen geblieben sind. Während die soziale Ungleichheit von den offiziellen Modernisierungsdiskursen lange Zeit überdeckt wurden, machten bereits in den fünfziger und frühen sechziger Jahren Studien auf den Ausschluss größerer städtischer Gesellschaftsgruppen aus den Strukturen der formellen Beschäftigung und den dichter gewobenen Netzen der sozialen Sicherheit aufmerksam. Dass die Modernisierungsprozesse nicht nur Wohlstandsgewinne für immer weitere Teile 30

Vgl. C.J. Alonso: The Burden of Modernity, S. 28.

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der Gesellschaften generierten, sondern auch Randständigkeit und Ausschluss hervorbrachten, wurde bereits deutlich, bevor das Entwicklungsmodell der importsubstituierenden Industrialisierung an seine Grenzen stieß. Als in den sechziger Jahren die importsubstituierende Industrialisierung als Entwicklungsstrategie an Dynamik verlor und sich vielerorts in Lateinamerika auf dem Land und in den Städten die sozialen Konflikte zu häufen und zu verschärfen begannen, hatte die Modernediskussion auf dem Subkontinent mit dem Erfolg der Kubanischen Revolution im Kontext des Kalten Krieges bereits eine neue Dimension erhalten. Das marxistische Argument, Entwicklung sei für Lateinamerika als periphere Weltregion im kapitalistischen System nicht zu erreichen, erhielt angesichts der real existierenden sozialistischen Modernisierungsalternative neues politisches Gewicht. Die Vereinigten Staaten intervenierten in der Folge mit einer doppelten Strategie, um sicherzustellen, dass der Wandel in Lateinamerika in den Bahnen einer kapitalistischen Modernisierung ablief. Die „Allianz für den Fortschritt" versprach umfangreiche finanzielle Unterstützung für eine, in den Worten von Präsident John F. Kennedy, „peaceful revolution of hope".31 Auf der anderen Seite leiteten die USA im Namen der Doktrin der Nationalen Sicherheit die Guerillabekämpfung in Lateinamerika an, indem sie die lateinamerikanischen Streit- und Sicherheitskräfte mit Know-how und Ausrüstung versorgten. Beide Teilstrategien waren indessen eng miteinander verflochten. So waren bezeichnenderweise Teile der US-amerikanischen counterinsurgency-Vrogtamme, unter dem Dach der Entwicklungsbehörde U.S. Agency for International Development angesiedelt.32 Während in zahlreichen Ländern Lateinamerikas eine „erste Welle" von Guerilla-Organisationen für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft kämpfte, verfolgten die kubanischen Revolutionäre ihren vorerst noch radikal divergenten Modernisierungsweg, dessen Utopie kurzzeitig nichts weniger als die Schaffung eines „neuen Menschen" in Aussicht stellte.33 Nachdem in den vierziger und fünfziger Jahren das politische Leben auf dem Subkontinent von einer allgemeinen Tendenz der demokratischen Öffnung gekennzeichnet gewesen war, stieß die Kapazität der lateinamerikanischen Demokratien zum gesellschaftlichen Interessenausgleich in den sechziger und siebziger Jahren an ihre Grenzen. Mit der Machtübernahme der Generäle in den meisten Ländern Süd- und Zentralamerikas wurden die dominierenden Modernisierungsstrategien neu ausgerichtet. Die neuen, „bürokratischautoritären" Regime modernisierten in der Überwindung des traditionellen

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So John F. Kennedy bei seiner Rede zum Amtsantritt als Präsident der Vereinigten Staaten am 20. Januar 1961. Vgl. T.E. Skidmore / P.H. Smith: Modern Latin America, S. 418. Vgl. E. Che Guevara: Der neue Mensch.

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caudillistischen Militarismus zuvorderst einmal die Diktatur selbst. Zwar waren gerade reformistisch und nationalistisch eingestellte Militärregime - in Peru, in Bolivien oder in Panama - durchaus nicht frei von populistischen Haltungen. Insgesamt stellte der vorherrschende Typus der neuen Militärherrschaft auf politischer Ebene indes gerade auch eine Reaktion auf die Krise des Populismus dar, der - mit dem Höhepunkt in den dreißiger und vierziger Jahren - einflussreich versucht hatte, die durch die wirtschaftliche Modernisierung entstandene strukturelle Lücke zwischen der zunehmenden sozialen Mobilisierung (insbesondere der Urbanen Massen) und den unzulänglichen demokratischen Institutionen zu schließen. Die neuen Militärdiktaturen wandten sich von den desarrollistischen Modernisierungsstrategien und damit auch von einem der Absetzung gegenüber US-amerikanischen und europäischen Modernitätsleitbildern verpflichteten Weg in die Moderne ab. Die wirtschaftliche Entwicklung sollte stattdessen über eine erneuerte Integration in die Weltwirtschaft betrieben werden, wirtschaftspolitische Anpassungen erfolgten in der Regel im Sinn der (neo-)liberalen Norm der westlichen Industrieländer. Das unter den bürokratisch-autoritären Regimen verfolgte Modell der selektiven Modernisierung verfehlte selbst die von seinen Befürwortern gesetzten Ziele. Wo die Militärdiktaturen überhaupt ein namhaftes wirtschaftliches Wachstums zu erzielen vermochten - wie etwa in Brasilien - , standen diesem in der Bilanz extreme Einkommensdifferenzen und eine weitere Ausbreitung der Armut gegenüber. Die soziale Ungleichheit spitzte sich unter den Militärdiktaturen noch einmal zu. Zudem spaltete der Staatsterror, der im Namen der Reformstrategien der Generäle gegen große Teile der Bevölkerung ausgeübt wurde, die Gesellschaften auf lange Zeit, weit über die Überwindung der Regime hinaus und hemmte die Entwicklung einer ohnehin schwachen Zivilgesellschaft stark. Entgegen ihrer eigenen Legitimationsrhetorik trugen die Militärdiktaturen auch nicht zur Überwindung, sondern vielmehr zur Verfestigung notorischer Grundübel lateinamerikanischer politischer Systeme wie der Korruption und der Vetternwirtschaft bei. Die Ära der neuen Militärdiktaturen in Lateinamerika fiel vielerorts aber auch mit einer Zeit kultureller Modernisierung zusammen. Die Entstehung einer „Kulturindustrie" in den siebziger Jahren gerade in Ländern mit einem großen Binnenmarkt wie Brasilien, Argentinien oder dem politischen Sonderfall Mexiko definierte die „Volkskultur" neu und begründete veränderte Zuschreibungen von Zentralität und Peripherität. Das Populäre wurde zunehmend weniger mit Tradition identifiziert, die Populärkultur bezeichnete immer mehr Güter eines kulturellen Massenkonsums, der ein moderner war. 34 Auch dieser Wandel war mehr als ein Angleichungsprozess an universalisierte Kulturmuster. So transformierten beispielsweise Fernsehanstalten wie Globo 34

Für Brasilien vgl. R. Ortiz: Popular Culture, Modernity and Nation, S. 1 3 4 - 1 3 9 .

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in Brasilien oder Televisa in Mexiko herkömmliche TV-Formate nicht nur, um namentlich US-amerikanische Produkte auf dem Heimmarkt zu konkurrenzieren, sie wurden mit den telenovelas ihrerseits zu Exporteuren von Kulturprodukten in einer weltweit führenden Position auf dem Serienmarkt. In den achtziger Jahren wurde Modernität in Lateinamerika zusehends weniger als Zukunftsversprechen angesprochen und trotz eines aus wirtschaftlicher Sicht „verlorenen Jahrzehnts" mit der Verschuldungskrise und einer weiteren Zunahme des Gefälles der Vermögens- und Einkommensstruktur stattdessen in vielen gesellschaftlichen Bereichen als alltägliche Realität wahrgenommen. Das bedeutete auch, dass gleichzeitig die Moderne vermehrt in Frage gestellt zu werden begann. Während die sandinistische Revolution in Nicaragua noch einmal im Zusammenhang des ideologischen Gegensatzes des Kalten Krieges das Versprechen einer alternativen Moderne erneuerte, löste andernorts in Lateinamerika die neoliberale Politik das Modernisierungsprojekt nun aus dem Rahmen nationaler Emanzipation heraus. Diese zunehmende Dissoziation von Staat und Nation und die sich im Zuge der (Re-)Demokratisierung intensivierende zivilgesellschaftliche Partizipation an den politischen Entscheidungsprozessen bildeten endogene Voraussetzungen einer wachsenden Differenzierung der politisch artikulierten Moderneerfahrungen, die sich in den neunziger Jahren vertiefte. Dass sich Differenz zu den Universalität beanspruchenden Modernemodellen immer weniger über die einseitige Zuschreibung von Rückständigkeit normalisieren ließ, zeigten namentlich die indigenen Bewegungen, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts als ernst zu nehmende politische Akteure etablierten. Nachdem die indigenen Völker seit dem Bestehen der Nationalstaaten als Inbegriff des Gegensatzes zu Fortschritt und moderner Zivilisation stigmatisiert - und mitunter auch verklärt - worden waren, wurde nun in vielen Ländern Lateinamerikas auch eine „indianische Modernität" 35 denkbar. Dass dadurch etwa die Nation nicht aufgehört hatte, ein progressives Konzept zu sein, illustrierte unter anderem der Diskurs des Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) in Mexiko. Die indigene Guerilla-Organisation, die sich Anfang 1994 im Gliedstaat Chiapas gegen die mexikanische Regierung erhob, trat nicht mit einem politischen Gegenprojekt zum Nationalstaat auf, sondern stellte die Nation gerade in den Mittelpunkt ihres Kampfes. Der EZLN, der sich - auch wenn dies wiederholt unternommen worden ist - kaum sinnvoll als postmoderne Guerillabewegung beschreiben lässt, forderte eine Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens in der Nation, auf der Basis eines Rechts auf Differenz, getreu der Losung „El mundo que queremos es uno donde quepan muchos mundos". 36 Die grundlegenden Kategorien der Mo-

35 36

Vgl. C. Lomnitz: Modernidad indiana. Vgl. Y. Le Bot: Subcomandante Marcos, S. 119.

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derne lösten sich weder im Fall der indigenen noch im Fall anderer sozialer Bewegungen in politischer Bedeutungslosigkeit auf, das Spiel von Exklusion und Inklusion, das über diese Kategorien betrieben wurde, nahm jedoch an Komplexität zu. Die Identitätsoptionen und die Grenzziehungen in den Prozessen gesellschaftlichen Wandels vervielfältigten sich. In den neunziger Jahren beschleunigte sich unter den veränderten geostrategischen Rahmenbedingungen auch in Lateinamerika die Auflösung hergebrachter struktureller Grundmuster. So akzentuierte sich nach dem Ende des Kalten Krieges der Trend zur ideologischen, aber auch zur politisch anerkannten kulturellen Vielfalt. Nation und Klasse bildeten nicht mehr die dominierenden identitätsstiftenden Bezugsgrößen, Loyalitäten etwa zu Regionen, ethnischen Gruppen, transnationalen Beziehungsnetzen oder religiösen Sekten wurden ihnen zur Seite gestellt oder überlagerten sie. Wie dies zuvor bereits im Rahmen der Nation der Fall gewesen war, wurde die Frage der Moderne nun aber auch innerhalb dieser zu neuen Bedeutungen gelangten Identitätszusammenhänge diskutiert und nicht nur zwischen denselben. Zu den augenfälligen Aspekten dieser strukturellen Transformationen gehörten unter anderem die quantitativen und qualitativen Veränderungen im Migrationsgeschehen, die intensivierten regionalen Integrationsbestrebungen im Spannungsfeld zwischen US-amerikanischem Panamerikanismus und lateinamerikanischem Bolivarismus, der Aufstieg von Regionalmächten, allen voran Brasiliens, zu fuhrenden Wirtschaftsmächten im globalen Maßstab, die - damit einhergehende - weitere Relativierung der US-amerikanischen Vorherrschaft in der Hemisphäre sowie die Verschiebungen im politischen Spektrum vieler Staaten, die unter anderem auch eine evidente neue Rolle der indigenen Bevölkerung in der nationalen Politik mit sich brachten.

Dialektik der Moderne Lateinamerika war gleichsam das „Erstgeborene" der Moderne,37 und stand als solches sowohl im Mittelpunkt der Moderne als auch an deren Peripherie. In Lateinamerika hat es „viel Moderne" gegeben.38 Der Subkontinent war nicht nur unauflöslich mit der Herausbildung eines modernen europäischen Selbstverständnisses verbunden, seine Gesellschaften konnten zu verschiedenen Zeiten im Hinblick auf grundlegende Erfahrungen der Moderne durchaus als moderner als die zeitgenössischen europäischen bezeichnet werden. Gleichwohl wurde der Diskurs über die Moderne in Lateinamerika in erster Linie unter der Prämisse der Kondition als ehemals kolonisierte Region gefuhrt. Lateinamerika wurde gerade auch dadurch Teil der Moderne, indem es 37 38

B. Ashcroft: Modemity's First Born. Claudio Lomnitz hat für Mexiko konstatiert, dass es in dem Land „mucha modernidad" gegeben habe. C. Lomnitz: Modernidad indiana, S. 9.

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deren eurozentrischen Anspruch übernahm. Das bedeutete nicht, dass die Modernisierung ausschließlich zu einer imitierenden Politik des Nachvollzugs verkam. Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten, aber auch subalterne Gruppen traten der Moderne jedoch entsprechend zwiespältig gegenüber. Die Gemengelage aus Angleichungs- und Absetzungstendenzen in den Haltungen gegenüber der Moderne stellte sich in Lateinamerika komplexer dar als anderswo.39 Der Subkontinent stand der nordatlantischen Kernzone der Moderne so nahe wie keine andere Weltregion außerhalb Europas und Nordamerikas (und später noch Australiens) - so nahe, dass hier die Diskussion über die Moderne und ihre Grenzen auch eine Diskussion über den historischen Platz Lateinamerikas in der westlichen Welt war. Die kulturelle Affinität zu Europa stellt die Frage nach der einen und den vielen Modernen auf dem Subkontinent in einer zugespitzten Form. Diese Nähe begünstigte eine Deutung von Differenz als Rückständigkeit, sie half, die Idee einer Verspätung Lateinamerikas auf die Entwicklungen der Moderne zu festigen. Charakterisierte die Moderne in den europäischen und US-amerikanischen Zentren eine Gegenwart im Gegensatz zu einer eigenen Vergangenheit (oder zu einer fremden Gegenwart, in der sich - in evolutionistischen Interpretationsschemata - die eigene Vergangenheit zu erkennen gab), so wurde die Moderne in Lateinamerika im 19. und 20. Jahrhundert die längste Zeit mit der Zukunft assoziiert - auch wenn sich einzelne Teile der lateinamerikanischen Gesellschaft stets als modern begriffen. Bis vor kurzem ging es auch in Lateinamerika nicht um eine Suche nach alternativen Modernen. Ein Spezifikum lateinamerikanischer Reflexionen über die Moderne dürfte jedoch darin bestanden haben, dass sie sich in einer besonders prominenten Art und Weise mit dem generellen modernen Dilemma auseinanderzusetzen hatten, wie man zur selben Zeit gleich und anders sein kann. Die zahlreichen rezenten Anstrengungen, die Beurteilung moderner Prozesse von eurozentrischen Maßstäben zu befreien und die globale Vielfalt von Moderneerfahrungen mit einem konzeptionellen Rahmen zu versehen, haben kaum befriedigende Antworten auf die Frage vorzulegen vermocht, worin das Moderne an den multiplen Modernen, worin gleichsam der „gemeinsame Kern der Moderne"40 besteht. Die Moderne in Lateinamerika entwickelte sich in der Bewegung zwischen der Herausbildung von Konvergenzen und Divergenzen mit den geistigen und institutionellen Phänomenen, die herkömmlich als modern galten. Von diesen dialektischen Prozessen gingen selbstverständlich transformie39

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Carlos J. Alonso hat mit Blick auf diese Widersprüchlichkeit, spezifischer auf die Simultaneität von Gehorsam und Abweichung in den Positionen der Intellektuellen vor der Moderne, von der „Last der Moderne" auf dem Subkontinent gesprochen. C.J. Alonso: The Bürden of Modernity. S.N. Eisenstadt: Multiple Modemities, S. 3.

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rende Rückwirkungen auf die Referenzbestände von Modernität aus: Die Moderne selbst bestimmte die Kategorien, in denen die Trennung zum Traditionellen vorgenommen wurde, das Selbstverständnis der Moderne war gleichfalls dem Wandel unterworfen. Die Dialektik zwischen Konvergenz und Divergenz lief indessen keineswegs - wie oft behauptet - einfach über die Grenze der Unterscheidung zwischen einer sozioökonomischen, institutionellen Moderne einerseits und einer kulturellen Moderne andererseits hinweg. Prozesse sozialer Modernisierung produzierten ebenso Abgrenzungen wie solche kultureller Modernisierung Angleichungen hervorbrachten. Aufgehoben war die Aushandlung der Moderne aber in deren Doppelcharakter als Routine und als Wandel. Die Geschichte der Moderne ist somit als Geschichte eines „multizentrischen" Prozesses zu betrachten.41 Die Moderne brachte immer wieder neue Zentren und Peripherien hervor, zahlreiche Schauplätze der Moderne veränderten ihren Status in der Topographie der Moderne über die Zeit, andere waren zugleich Zentrum und Peripherie. Die Moderne produzierte auch in Lateinamerika machtvolle Tendenzen der Angleichung, der Vereinheitlichung und ebenfalls der Gleichstellung. Das Ziel der Herstellung einer modernen Gesellschaft begründete Integrationsprojekte für und von Gruppen, die von außen der Sphäre des Vormodernen zugerechnet wurden und / oder die sich selbst von der Partizipation an der Entwicklung, die die Moderne versprach, ausgeschlossen sahen, wie Indigene, Frauen, Arbeiter oder Kleinbauern. Die Moderne brachte in den von markanten sozialen und kulturellen Gegensätzen geprägten lateinamerikanischen Gesellschaften indessen auch effektive Mechanismen der Abgrenzung, des Ausschlusses und der Hierarchisierung hervor. Sie manifestierte sich in Lateinamerika demnach beispielsweise ebenso im Indigenismus oder im Aufbau sozialstaatlicher Institutionen wie in rassistischen Diskursen oder der Marginalisierung von scheinbar für die nationale Entwicklung verzichtbaren Gruppen der Gesellschaft. Und sie manifestierte sich ebenso in Demokratien wie in Militärdiktaturen, in der Sklaverei wie in der Abolition, in der Realisierung technologischer Großprojekte wie im Protest dagegen. Im Gegensatz zu dem, was die Modernisierungsdiskurse in der Regel in Aussicht stellten, bildeten Tradition und Moderae keinen Widerspruch, der dadurch beseitigt worden wäre, dass sich die eine in der anderen auflöste. Vielmehr verbanden sich Tradition und Moderne in komplexen Beziehungen, nicht zu geschlossenen Zusammenhängen, sondern vielmehr zu hybriden Konstellationen, die eine fragmentierte Moderne entstehen ließen und die Standpunktabhängigkeit der Zuschreibung von Modernität und Traditionalität verdeutlichten - dass die Moderne je nach Beobachtungsstandort verschiedene Konturen annimmt, kann zu den bedeutenderen Einsichten gezählt werden, die die Reflexionen

Vgl. C.A. Bayly: The Birth of the Modern World, S. 41.

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über alternative oder multiple Modernen zwar nicht hervorgebracht, aber in Erinnerung gerufen haben.42 Diese schillernde Qualität des Modernen brachte in Lateinamerika etwa der Mestizisierungsdiskurs zum Ausdruck, der unter dem Projekt der Verschmelzung moderner und vormoderner Bevölkerungsteile zu einer „rassischen" oder kulturellen Einheit Argumentationsspielräume öffnete, in denen gleichzeitig der Anschluss an die Modellgesellschaften der Moderne wie auch der Rekurs auf autochthone Traditionen, die im universellen Angleichungsprozess Unverwechselbarkeit versprachen, betrieben werden konnten. Die Frage nach der Moderne in Lateinamerika ist somit auch die Frage danach, mit welchen Bedeutungen die Moderne in den je konkreten historischen Zusammenhängen ausgestattet wurde. Der Blick hat sich entsprechend zum einen darauf zu richten, wie moderne Gleichförmigkeiten entstanden sind, zum anderen aber wohl noch stärker darauf, wie im Zeichen der Moderne Differenz hergestellt wurde. Unter den spezifischen historischen Bedingungen der gesellschaftlichen Aushandlung von Moderne sind insbesondere die Repräsentationen des Wandels zu betrachten. Die Überwindung eurozentrischer Einstellungen in der globalgeschichtlichen Beschäftigung mit der Moderne und damit auch von Betrachtungsweisen, die Komplexität als Defizienz behandeln - impliziert auch die Historisierung der eurozentrischen Ansprüche der Moderne. Die Unmöglichkeit, Europa (nicht einzelne Teile Europas) in einer Geschichte der modernen Welt zu provinzialisieren - wie das bisweilen aus postkolonialer Warte gefordert worden ist -, 4 3 vermag gerade die lateinamerikanische Geschichte deutlich zu machen. Die zentralen Kategorien der lateinamerikanischen Modernediskurse - wie „Nation", „Bürger", „Rationalität", „Öffentlichkeit", „Kapitalismus" und andere mehr - waren europäischer Provenienz; sie wurden durch die Eindeutung in andere Sinnzusammenhänge zwar transformiert - Resignifikationen, mit denen sich jede Beschäftigung mit der Moderne in Lateinamerika auseinanderzusetzen hat - , präfigurierten aber gleichwohl das Nachdenken über die Moderne. Aus heuristischer Perspektive befördert die historische Beschäftigung mit dem Gegenstand der Moderne vergleichende, aber auch beziehungsgeschichtliche Fragestellungen. Das Konzept der Moderne verweist auf globalhistorische Zusammenhänge und besitzt die Anlagen, limitierende Fixierungen auf nationalgeschichtliche Analyseeinheiten zu lockern. Im günstigen Fall ermöglicht die Anleitung durch den Modernebegriff auch eine Öffnung des Blicks auf die Interdependenzen politischer, wirtschaftlicher und kultureller Prozesse. In der Untersuchung der Grenzen, Eigenschaften und Bedeutungen der Moderne in Lateinamerika werden in einem vielschichtigen Beziehungs-

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Vgl. D.P. Gaonkar: On Alternative Modernities, S. 15. Vgl. D. Chakrabarty: Europa provinzialisieren.

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geflecht diachron und synchron „vielfaltige Logiken der Entwicklung"44 beobachtbar. Aus den mannigfachen Artikulationen von Tradition und Wandel bildeten sich Erscheinungsformen heraus, die wiederholt als spezifische Charakteristika einer lateinamerikanischen Moderne benannt worden sind bezeichnenderweise haben sich solche Phänomenologien meist auf „Mangelerscheinungen" bezogen: Populismus, Klientelismus, schwache Zivilgesellschaften, politische Instabilität oder Koexistenz alternativer Normensysteme zulasten der Wirksamkeit des Rechtsstaates, um nur einige Schlagwörter anzuführen.45 Bedenkenswert erscheint das Argument, dass aus der (dialektischen) Integration Lateinamerikas in die moderne Welt eine im globalen Vergleich außerordentliche soziokulturelle Heterogenität resultierte.46 Die historische Untersuchung lateinamerikanischer Moderneerfahrungen ist damit nicht nur gefordert, gleichsam im Blick „durch das Kaleidoskop",47 die Vielfalt und die unterschiedlichen Betrachtungswinkel derselben zu berücksichtigen. Eine kritische Geschichtsschreibung hat sich auch den Interessen zuzuwenden, die in konkreten Machtkonstellationen die Aushandlung des Wandels im Namen der Moderne anleiteten und das Spiel von Ein- und Ausschluss bestimmten. Nicht nur ist es der Moderne eigen, dass sie sich nie vollständig durchsetzen lässt, sie wollte von den Trägem der Modernisierungsprozesse auch kaum je umfassend verwirklicht werden. Vormoderne Strukturen überlebten nicht nur aufgrund eines partiell erfolgreichen Widerstandes gegen die Vereinnahmung durch die Moderne. Wenn Modernisierung stets nur selektiv betrieben wurde, so auch aufgrund konkreter Interessen ihrer Protagonisten, die bestimmte gesellschaftliche Bereiche der Moderne entzogen sehen wollten. Die Aufwertung und Essenzialisierung von Traditionen waren weniger Reaktionen auf eine als Bedrohung empfundene Moderne als vielmehr Resultate spezifischer Strategien der Modernisierung. Der Wille zur Modernisierung der Gesellschaften war durchaus nicht auf die Eliten und später auch noch auf die Mittelschichten beschränkt, sondern breit in den verschiedenen Bevölkerungsschichten verankert. So wenig wie die Moderne einfach „von außen" nach Lateinamerika übertragen wurde, so wenig kam sie einfach „von oben" über die Gesellschaften des Subkontinents. Der Vielfalt der Moderne lag nicht zuletzt die Vielzahl der sozialen Standpunkte zugrunde, von denen aus sie verhandelt wurde. Subalterne Protestbewegungen, von den Herrschenden nicht selten als anti-modern gebrandmarkt, wiesen nicht nur meist moderne Eigenschaften auf, sie standen vielfach auch für Projekte alternativer Modernen. Der ausgehandelte Charakter und damit die Veränderlichkeit dessen, was 44 45

46 47

N. Garcia Canclini: Culturas hibridas, S. 23. Für einen solchen Katalog spezifischer Elemente einer lateinamerikanischen Moderne vgl. J. Larrain: Modernity and Identity, S. 32-38. Vgl. V. Schelling: Introduction, S. 8. Vgl. V. Schelling (Hg.): Through the Kaleidoscope.

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als modern galt, werden indessen gerade auch in den Haltungen der dominierenden Eliten gegenüber diesen gesellschaftlichen Gruppen und ihren Anliegen ersichtlich. Nicht nur in Lateinamerika fand die Moderne auf komplexe Weise, verbunden mit, durchdrungen von oder gebrochen an Nicht-Modernem zu ihrer Existenz.

Die Beiträge Die Beiträge im ersten Teil dieses Bandes versuchen unter verschiedenen Gesichtspunkten, Lateinamerika im Spannungsfeld zwischen Zentren und Peripherien zu verorten und Übergänge zwischen Tradition und Moderne, Dominanz, Abhängigkeit und Eigenständigkeit aufzuzeigen. Manfred Mols geht der Frage nach, inwiefern Lateinamerika mit den gegenwärtigen dynamischen Veränderungsprozessen der Globalisierung wird Schritt halten können oder sogar in der Lage sein wird, sich an deren Gestaltung zu beteiligen. Der Autor geht dabei gleichsam von einer Randlage des Subkontinents als Teil des Westens aus: Der Subkontinent gehöre kulturell der westlichen Verständigungswelt an, habe aber gleichzeitig in vielerlei Hinsicht nicht an der Entwicklung des Westens partizipiert. Zwar sei unverkennbar, dass Lateinamerika sich aus seiner Stellung als Hinterhof der USA und der damit verbundenen Lähmung der Entwicklung habe befreien können. Um seine Position im Prozess der Globalisierung zu stärken, müsse Lateinamerika jedoch insbesondere die anhaltende Gefahr politischer Instabilität beseitigen und die bisher wenig erfolgreichen regionalen Integrationsprojekte entschlossener vorantreiben. Bei der Überwindung von Unterentwicklung erweise sich dabei eine in Lateinamerika als Erbe dependenztheoretischer Analysemuster nach wie vor weit verbreitete Opferperspektive als ein ernst zu nehmendes Hindernis. Der rückwärts gewandte Blick hindere Lateinamerika daran, in einen ebenso offensiven und zukunftsgerichteten Dialog mit den westlichen Industrienationen zu treten wie er von den asiatisch-pazifischen Ländern geführt werde, deren Entwicklungsmodelle trotz eines ausgeprägten Bewusstseins der eigenen kolonialen Vergangenheit von den historischen Erfahrungen nicht belastet würden. Die von den lateinamerikanischen Ländern bisher vor allem betriebene selektiv nachahmende Entwicklung, die keine eigenen umsetzbaren Modernisierungparadigmata hervorzubringen in der Lage ist, sei kein taugliches Modell, um die Position der lateinamerikanischen Länder unter den Bedingungen der Globalisierung international zu stärken. In historischer Perspektive untersuchen Peter Feldbauer und Christof Parnreiter die Entwicklung von Mexiko-Stadt zur Megastadt in den Jahrzehnten nach der Mexikanischen Revolution und schließlich zur „Global City" in der jüngsten Vergangenheit. Unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen Geschichte und Geographie verstehen die Autoren die-

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sen Wandel als eine Verräumlichung von Geschichte, in deren Rahmen die Stadt als gebaute Umwelt und als Universum sozialer Prozesse sowohl Ergebnis wie auch die materielle und soziale Grundlage historischen Wandels ist. Sie wenden sich gegen die Vorstellung, dass die Konzentration von Bevölkerung und sozioökonomischer Infrastruktur in Mexiko-Stadt während der importsubstituierenden Industrialisierung die Ursache von Unterentwicklung gewesen sei, und machen diese Prozesse stattdessen als Folge und Bedingung abhängiger, peripherer Entwicklung kenntlich. Entgegen der immer noch weit verbreiteten Katastrophenszenarien, die in der rasanten Verstädterung ein gesellschafts- und umweltzerstörendes Entwicklungshindernis sehen, argumentieren Feldbauer und Parnreiter, dass die Entstehung der Megastadt gerade eine unabdingbare Voraussetzung für die dynamische soziale und wirtschaftliche Entwicklung Mexikos ab den 1930er Jahren dargestellt habe. In dieser Sichtweise werden auch die seit den achtziger Jahren erkennbaren demographischen Dezentralisierungstendenzen nicht einfach als Indikatoren eines Bedeutungsverlusts von Mexiko-Stadt gedeutet. Sie werden vielmehr als Ausdruck einer veränderten interurbanen Arbeitsteilung verstanden, in deren Herausbildung Mexiko-Stadt zur „Global City" geworden ist, die als Teil eines „World City Networks" wichtige wirtschaftliche Steuerungs- und Kontrollfunktionen im internationalen Kapital- und Warenverkehr ausübt. Mit der Mestizisierung beleuchtet Stephan Scheuzger einen zentralen Aspekt lateinamerikanischer Identitätsfindung in der Moderne. Im 19. Jahrhundert wurde in zahlreichen Ländern des Subkontinents in den Entwürfen des nation-building die Modernisierung der Gesellschaften eng an den Prozess der Mestizisierung gekoppelt. Das im rassentheoretischen Denken verankerte und von namhaften Autoren immer wieder aufgenommene Konzept der Mestizisierung produzierte gleichzeitig Angleichung und Differenzierung; es konstruierte Abgrenzung sowohl gegenüber den als vormodern stigmatisierten Indigenen als auch - mit der Zeit immer deutlicher - gegenüber den „Weißen", die die europäisch-nordamerikanische Moderne repräsentierten, es verband zugleich jedoch auch Distinktion ermöglichende Tradition mit den universellen Modellen der Moderne. Am Beispiel Mexikos untersucht der Beitrag den Bedeutungswandel des Konzeptes der Mestizisierung in der Diskussion über die Modernisierung des Landes seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Zuge der Umdeutung erfuhren die Kategorien des Indigenen und des Mestizen eine Aufwertung gegenüber dem ursprünglichen Ideal des „Weißen". Dabei lassen sich durchaus relevante ideengeschichtliche Kontinuitätslinien über den historischen Bruch der Mexikanischen Revolution hinweg feststellen. Im 20. Jahrhundert wurde das Mestizentum zum kulturellen Fundament des Entwurfs einer in der Moderne eigenständigen mexikanischen Nation, die sich von der US-amerikanischen und den europäischen Vorbildgesellschaften abgrenzte. Gegen innen betrieb der Indigenismus die Überwindung der kulturellen Diffe-

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renz durch die Integration der indigenen Bevölkerung in die mestizische Nation unter Bewahrung eines präcortesianischen Erbes. Bereits seit Ende der 1960er Jahre begannen sich jedoch Risse im engen Gefüge zwischen Modernisierung, mestizischem Nationalismus, Staat und Nation abzuzeichnen. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat sich das Emanzipationsversprechen der Moderne in Mexiko zunehmend von seinem Korrelat der Vorstellung einer einheitlichen Nation abgelöst. Unter Bezugnahme auf die modernisierungstheoretische Diskussion stellt der Beitrag von Béatrice Ziegler den normativen Anspruch des Begriffs der Moderne in Frage. Die Tatsache, dass in Brasilien bis 1888 wirtschaftliche Modernisierung und Sklaverei Hand in Hand gingen, warf schon in den Augen damaliger Zeitgenossen einen Schatten auf den emanzipatorischen Anspruch der Moderne. Besonders deutlich trat die Frage nach dem Verhältnis von Sklaverei und Moderne etwa in der Figur des Sklaven haltenden Einwanderers hervor. Als sich 1863 die Schweizer Regierung mit der Frage auseinandersetzen musste, dass die wirtschaftliche Existenz von Schweizer Emigranten in Brasilien auf Sklavenhaltung basierte, stellte sie den individuellen wirtschaftlichen Erfolg der Auswanderer und die außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Interessen des Landes über das eigene Ideal einer freien Bürgergesellschaft. Der Befund, dass die Sklaverei nicht nur für die Schweizer Auswanderer, sondern auch für die exportorientierte brasilianische Wirtschaft insgesamt von zentraler Bedeutung war, ist mit der Vorstellung einer sich in nationalen Grenzen gegenüber „vormodernen" Strukturen vollständig durchsetzenden Moderne nicht vereinbar. Vielmehr verweist er auf die zentralen Zusammenhänge der Transnationalität und der Hybridität, die der Moderne im Kontext jüngster Globalisierungsprozesse zunehmend zugeschrieben werden, an ihrer Herausbildung aber seit jeher beteiligt waren. Der zweite Teil, der sich Akteuren und Aushandlungsprozessen auf dem Weg in die Moderne widmet, beginnt mit zwei biographischen Beiträgen über Persönlichkeiten, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beziehungsweise um jene vom 19. zum 20. Jahrhundert eine bedeutende Rolle als „konservative" Modernisierer gespielt haben. Beide verbanden auf ihre Weise Lateinamerika und Europa miteinander, der eine ein Spanier mit Dienstaufenthalten in Lateinamerika, der andere ein französischstämmiger Mexikaner, dessen letzte Lebensstation das Pariser Exil sein sollte. In gewisser Weise teilten sie auch ein gemeinsames Schicksal, denn für beide lag ein radikaler Umsturz der bestehenden Herrschafts- und Legitimitätsstrukturen außerhalb ihres Denkhorizonts und beide wurden von den revolutionären Dynamiken ihrer Zeit überwältigt. Mit den Eliten, der Frauenbewegung und den Kleinbauern kommen in den drei anschließenden Beiträgen sodann gesellschaftli-

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che Gruppen aus den Ober-, Mittel- und Unterschichten als Akteure ins Bild, die je spezifische Verhältnisse zum Projekt der Moderne ausgebildet haben. Der Beitrag von Horst Pietschmann hat eine doppelte Stoßrichtung. Zum einen zeichnet er die Biographie einer herausragenden Persönlichkeit im Zeitalter der Bourbonenkönige Karl III. und IV. nach. Zum anderen wirft er ein Licht auf die Probleme und Herausforderungen, die sich im Zusammenhang mit biographischen oder prosopographischen Archivforschungen über die Zeit unmittelbar vor und während der Unabhängigkeitskämpfe der spanischen Kolonien in Lateinamerika stellen. Die bemerkenswerte politische Laufbahn von Francisco de Saavedra y Sangrois, zwischen 1783 und 1788 Intendant der spanischen Krone in Venezuela und später Premierminister der Regierung unter Karl IV., war geprägt von Krisen und revolutionären Umbrüchen. Bei seinem Aufstieg in die höchsten Staatsämter war der theologisch gebildete Offizier Saavedra immer wieder mit wichtigen wirtschaftlichen Modernisierungsprojekten betraut worden. Seine autobiographischen Schriften weisen ihn unzweifelhaft als einen aufgeklärten Reformer aus. Politisch blieb er indessen im bourbonischen Herrschaftssystem verhaftet. So vermochte er trotz seiner guten Kontakte zu wichtigen Entscheidungsträgern und der ihm offensichtlich zur Verfugung stehenden Informationen die revolutionäre Sprengkraft der sich anbahnenden Unabhängigkeitsbestrebungen in Lateinamerika nicht richtig einzuschätzen. Friedrich Katz wirft aus der Perspektive eines der einflussreichsten Modernisierers Mexikos einen Blick zurück auf die für die jüngere Geschichte dieses Landes entscheidenden Jahre vor und nach dem Ausbruch der Revolution. José Yves Limantour, langjähriger Finanzminister in der Regierung von Porfirio Díaz und prominentes Mitglied der so genannten científicos, einer im porfiristischen Regime einflussreichen Gruppe positivistisch inspirierter Technokraten, gehörte zu den wichtigsten Exponenten der „konservativen Modernisierung" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Obschon er zum innersten Machtzirkel des Regimes gehörte, wurde er vom Ausbruch der Revolution überrascht. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass er deren Ursachen weder in den sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der von ihm maßgeblich mitverantworteten porfiristischen Modernisierung noch in der politischen Verkrustung des diktatorischen Regimes suchte, sondern vielmehr die US-amerikanische Politik dafür verantwortlich machte. Von der mexikanischen Oligarchie und Díaz selbst in die Rolle des Retters des bestehenden Systems gedrängt, verfolgte er eine Doppelstrategie von weit reichenden Reformen und Verhandlungen mit den Revolutionären. Das Ziel, den porfiristischen Staat zu retten, erreichte er letztlich nicht. Aus seinem Pariser Exil beobachtete er nicht nur die weiteren Geschehnisse in Mexiko, sondern auch die revolutionären Entwicklungen in Europa. Dabei gelangte der ehemals über-

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zeugte Sozialdarwinist zu Schlussfolgerungen, die sogar Reformen sozialdemokratischen Zuschnitts befürworteten. Peter Waldmann widmet sich in seinem Beitrag am Beispiel der lateinamerikanischen Eliten dem allen Modernisierungsprozessen zugrunde liegenden dialektischen Widerstreit zwischen beharrenden und erneuernden Kräften. Entgegen der häufig anzutreffenden Selbstdarstellung der Eliten auf dem Subkontinent und der ihnen in historischen und sozialwissenschaftlichen Studien entgegenbrachten entsprechenden Rollenerwartung geht Waldmann von einer konservativen Grundhaltung der Eliten aus und untersucht deren Strategien, um meist von außen ausgelöste Modernisierungsschübe auflaufen zu lassen oder sie zum eigenen Vorteil auf Teilbereiche zu beschränken beziehungsweise ihre Stoßrichtung umzulenken. Die Untersuchung fokussiert auf die Herausbildung dieser Grundmuster des Eliteverhaltens während des langen 19. Jahrhunderts. Hierbei kam, so der Autor, der mehrere Generationen umspannenden Großfamilie zentrale Bedeutung zu. Sie stellte die wichtigste Bezugsgröße für das Denken und Handeln der Eliten dar. Demgegenüber blieb deren Loyalität gegenüber Nation und Staat verhältnismäßig schwach. Die konservative Grundhaltung spiegelte sich, laut Waldmann, auch in der gespaltenen Haltung der Eliten gegenüber den Zentren der Moderne und den von diesen ausgehenden Fortschrittsimpulsen. Politisch habe sich dies etwa darin niedergeschlagen, dass zwar republikanische Verfassungen erlassen worden, die Bedeutung von Wahlen und öffentlicher Meinung jedoch begrenzt geblieben seien und autoritäre Muster fortbestanden hätten. Waldmann erkennt in einem von den Eliten praktizierten, für Lateinamerika charakteristischen Doppelcode, der es diesen Gruppen erlaubt habe, je nach Situation auf unterschiedliche Normensysteme zurückzugreifen, den Ausdruck dieser dialektischen Ambivalenz im Verhältnis der Eliten zur Moderne. Die lateinamerikanische Frauenbewegung ist das Thema des Beitrags von Barbara Potthast. Im Gefolge von Industrialisierung und Verstädterung traten gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in einigen lateinamerikanischen Ländern soziale Probleme auf, in deren Zusammenhang eine öffentliche Diskussion über die Rolle der Frauen in Gesellschaft und Politik in Gang kam. Gerade im Cono Sur wussten lateinamerikanische Feministinnen das Selbstverständnis in ihren Gesellschaften aufzunehmen, das die Länder in einem wirtschaftlichen und sozialen Wandel begriffen sah, der insbesondere über verstärkte Anstrengungen in den Bereichen Bildung und Wissenschaft den Anschluss an die am meisten entwickelten Nationen herstellen sollte. Über die herkömmlichen Rollenbilder konnten die Frauen ihre Partizipation und öffentliche Präsenz in diesen Bereichen begründen, was sich nicht zuletzt in einer immer namhafteren Vertretung von Frauen auf internationalen Kongressen sowie in der Organisierung von eigenen Frauenkongressen niederschlug. Auch wenn sich die allgemeine soziale und politische Stellung der Frauen nur

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langsam verbesserte, so waren doch Fortschritte zu verzeichnen. So nahm etwa in den Mittelschichten die Zahl der gebildeten, erwerbstätigen Frauen zu. Auch wurden den Frauen zumindest teilweise die bisher den Männern vorbehaltenen Bürgerrechte zuerkannt. Indem die lateinamerikanischen Feministinnen allerdings mit einer Argumentation, die die Komplementarität männlicher und weiblicher Fähigkeiten betonte, für die Verbesserung der Stellung der Frauen in der Gesellschaft eintraten, bezahlten sie die erzielten Fortschritte mit dem Preis der Zementierung traditioneller Geschlechterstereotypen hinsichtlich der Präsenz im öffentlichen Leben. Potthast zieht denn auch vorläufig eine zwiespältige Bilanz hinsichtlich des Beitrags des lateinamerikanischen Feminismus zur Modernisierung der nationalen Gesellschaften. Peter Fleer untersucht in seinem Beitrag, in welchen Formen die Moderne an kleinbäuerliche Gemeinschaften herantrat und wie diese mit den daraus erwachsenden Herausforderungen umgingen. Anhand eines Vergleichs zweier indianisch-kleinbäuerlich geprägter Hochlandregionen in Guatemala und Peru macht der Beitrag deutlich, dass die Kleinbauern nicht einfach passive Opfer der Modernisierung waren, sondern als Akteure an dieser teilzunehmen suchten und Verlauf und Charakter der Veränderungsprozesse mitgestalteten. Allerdings wird auch deutlich, dass der oft beklagte misstrauische Konservatismus der Kleinbauern nicht einfach prädisponiert war, sondern oft eine Absicherungs- und Überlebensstrategie darstellte gegen eine Moderne, die ihnen nicht in Form verlässlicher staatlicher Institutionen, sondern in Gestalt profitgieriger lokaler Eliten und autoritärer Führerfiguren gegenübertrat. Ungeachtet der meist äußerst prekären Lebensbedingungen der kleinbäuerlichen Bevölkerung erwies sich dieser Gesellschaftssektor im Verlaufe der lateinamerikanischen Moderne als überaus dauerhaft und anpassungsfähig an die fortschreitende Kommerzialisierung und die Ausbreitung kapitalistischer Produktionsweisen. Die vergleichende Betrachtung zeigt, dass die Kleinbauern dabei eine große Vielfalt von Strategien und Handlungsmustern entwickelten, die selektive Adaptation und produktive Umdeutung ebenso umfassten wie Widerstand und Migration. Der dritte und letzte Teil des Bandes, Wandel als Konstante: Modernisierungsprojekte, thematisiert den Wandel als Kategorie eines gewollten, gesteuerten Prozesses. Die in den Beiträgen diskutierten Modernisierungsprojekte verweisen auf grundlegende Fragen nach den Bedingungen erfolgreicher Entwicklung und der Deutung von Veränderungsprozessen im Spannungsverhältnis zwischen Konvergenz und Divergenz mit den dominierenden Modellen. In vergleichender Perspektive zeigen sich ferner die dialektischen Wechselwirkungen zwischen Nachahmung und Abgrenzung, die gegenseitige länder- und regionenübergreifende Lernprozesse vorantreiben.

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Am Beispiel des vom damaligen Innen- und Außenminister Lucas Alamân initiierten mexikanischen Modernisierungsversuchs zwischen den 1830er und den 1850er Jahren geht Walther L. Bernecker unter Einbezug verschiedener Interpretationsansätze der Frage nach, warum dieses nationalistisch-autozentrierte Entwicklungsprojekt keine nachhaltigen Fortschrittsimpulse auszulösen vermochte. Die von ihm diskutierten neostrukturalistischen, dependentistischen, historisch-kulturellen und institutionalistischen Ansätze betrachtet Bernecker nicht als sich gegenseitig ausschließende, vielmehr sieht er in ihnen komplementäre Erklärungsversuche für das Scheitern der wirtschaftlichen Entwicklungsanstrengungen Mexikos im 19. Jahrhundert. Obschon in diesem Land zahlreiche „Substitutionen" im Sinne Alexander Gerschenkrons zum Einsatz kamen, um den auf die koloniale Erblast zurückgeführten Industrialisierungsrückstand aufzuholen, wurde das Ziel verfehlt, trotz der beachtlichen Ausweitung des Industriesektors in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts anschließende nachhaltige Phasen wirtschaftlichen Wachstums einzuleiten. Bernecker richtet bei der Frage nach den Gründen für diesen Fehlschlag sein Hauptaugenmerk auf die erforderlichen „Vorbedingungen" für den Rostow'schen „großen Spurt" im Industrialisierungsprozess. Dabei wird deutlich, dass sich nur unter der Berücksichtigung einer breiten Palette ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Faktoren sowie durch eine differenzierte Gewichtung exogener und endogener Entwicklungshemmnisse die „Entwicklung der Unterentwicklung" Mexikos im 19. Jahrhundert befriedigend erklären lässt. Mit seiner Analyse der Dollardiplomatie in Nicaragua zwischen 1912 und 1927 liefert Michel Gobat einen detailreichen Einblick einerseits in die Mechanismen dieser besonderen Form des US-amerikanischen Imperialismus in Lateinamerika und andererseits in die Wahrnehmung dieser Politik durch die lokalen Eliten. Im Zentrum steht dabei die Frage, weshalb diese Eliten in einer Politik, die von US-amerikanischen Technokraten erklärtermaßen als Modernisierungsprojekt entworfen worden war, ein Haupthindernis für die Modernisierung Nicaraguas sahen. Der Beitrag weist nach, dass die Gründe hierzu sowohl in der teilweise inkonsistenten Umsetzung und den unmittelbaren sozioökonomischen Auswirkungen der Dollardiplomatie als auch in der besonderen Konstellation der Elitenrivalität in Nicaragua lagen. Nicht nur wurde das Ziel, durch eine Entpolitisierung der Staatsfinanzen die politische und wirtschaftliche Kultur des Landes zu modernisieren, verfehlt, die Dollardiplomatie löste auch wirtschaftliche Dynamiken aus, die die nicaraguanischen Oberschichten zutiefst verunsicherten und Gegensätze innerhalb der Eliten verschärften. Dabei zeigt der nicaraguanische Fall Paradoxien, an welchen sich die Moderaisierungsprozessen eigenen dialektischen Gleichund Gegenläufigkeiten exemplarisch untersuchen lassen.

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Monika Budowski und Christian Suter untersuchen in ihrem vergleichenden Beitrag die Sozialpolitikmodelle von Chile, Mexiko und Costa Rica, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein Spektrum unterschiedlicher Typen von Sozialpolitik repräsentierten. In diesem Sinne illustrieren die drei Beispiele auch die Bandbreite möglicher Modernisierungswege. Währenddem die chilenische Entwicklung durch den markanten Wechsel von einem konservativen zu einem neoliberalen Modell auffallt, erwies sich das korporatistische Modell Mexikos als äußerst zählebig. Dagegen zeichnete sich die universalistisch geprägte Sozialpolitik Costa Ricas durch kontinuierliche Reformen aus. Ausgehend von der Tatsache, dass Lateinamerika schon früh immer wieder ein eigentliches Experimentier- und Praxisfeld für unterschiedliche Sozialpolitiken war, werfen die Autoren die Frage auf, inwiefern die in den letzten Jahrzehnten auf dem Subkontinent umgesetzten Modelle als Vorbilder für die Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden können. Insbesondere die neoliberalen Privatisierungsreformen Chiles im Bereich der Alterssicherung Anfang der 1980er Jahre erhielten eine weltweite Beachtung. Vor diesem Hintergrund weist die Untersuchung des Wandels der Sozialpolitik in drei diesbezüglich sehr unterschiedlichen lateinamerikanischen Ländern stets auch über den Subkontinent hinaus. Der Vergleich zeigt auf, dass sich die drei untersuchten Sozialpolitikmodelle immer wieder auch gegenseitig beeinflussten. Es wird aber vor allem deutlich, dass sich die Veränderungs- und Transformationsmuster zwischen den Nationen stark unterschieden und dass sich die strukturellen Unterschiede im Verlaufe des 20. Jahrhunderts eher akzentuierten als verringerten. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht untersucht schließlich Rolf Kappel die entwicklungspolitischen Handlungsspielräume Lateinamerikas seit den 1980er Jahren. Den traditionellen, von Interventionismus, Klientelismus und Populismus geprägten Politikmustern in Lateinamerika setzt er das Konzept einer ökonomischen und institutionellen Moderne gegenüber, deren Umrisse sich Ende der achtziger Jahre in den wirtschaftspolitischen Empfehlungen des ersten „Washington Consensus" abzeichneten, Empfehlungen, die darauf abzielten, die lateinamerikanischen Volkswirtschaften mittels Maßnahmen zur Liberalisierung der Märkte, zur Privatisierung unrentabler Staatsunternehmen und zur Sicherung der Eigentumsrechte zu stabilisieren und auf einen dauerhaften Wachstumspfad zu fuhren. Kappel unterstreicht, dass es sich dabei keineswegs um ein „neoliberales" Wirtschaftsprogramm handelte, wie oft fälschlicherweise unterstellt worden ist. Der makroökonomisch ausgerichtete Maßnahmenkatalog des ursprünglichen Consensus erfuhr Ende der neunziger Jahre eine Erweiterung, die den institutionellen Voraussetzungen nachhaltiger Entwicklung größere Beachtung schenkte. Im ursprünglichen und im erweiterten Washington Consensus zusammen erkennt Kappel eine breit gefasste Reformagenda, die den lateinamerikanischen Ländern heute als Richtschnur

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für konkrete nationale Modernisierungsprojekte dienen könne. Während im Bereich der makroökonomischen Stabilisierungsmaßnahmen durchaus bereits Erfolge zu verzeichnen seien, stelle die Umsetzung tief greifender institutioneller Reformen nach wie vor eine große Herausforderung dar. Zwar erachtet Kappel die Funktionen, die diese Institutionen zu erfüllen haben, durch die Anforderungen der globalisierten Wirtschaft als weitgehend vorgegeben, bei der Ausgestaltung der Institutionen würden die lateinamerikanischen Länder aber durchaus über beachtliche Handlungsspielräume verfügen.

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I ZENTREN UND PERIPHERIEN: AMBIVALENZEN DER MODERNE

Manfred Mols

LATEINAMERIKAS INTERNATIONALE ZUKUNFT. DER SUBKONTINENT ZWISCHEN „DEPENDENCIA" UND GLOBALISIERUNG

Wenn man vor gut einem Vierteljahrhundert über Lateinamerikas Zukunft nachdachte, setzte man - ähnlich wie man dies auch heute täte - an den Trends und Tendenzen an, die offenkundig der zeitgenössische historische Prozess anzudeuten schien. Das zentrale Beurteilungskriterium hieß „the capacity to forge his own destiny", 1 „the conscious action of men dedicated to transforming the conditions of their existence." Die eiserne Klammer, die Lateinamerika nach Meinung vieler Politiker und Intellektueller gefangen hielt, hieß „dependencia", die von den großen metropolitanen Zentren, allen voran im 20. Jahrhundert von den Vereinigten Staaten von Amerika, verursacht und gesteuert wurde. Sich von ihr zu befreien, unter Umständen durch Revolution, galt als der eigentliche Mechanismus zur Freilegung der eigenen Entwicklungspotenziale. Heutige Fragestellungen haben einen anderen Akzent. Es wird über den Zusammenhang von Entwicklung und Globalisierung nachgedacht, wobei Globalisierung meist primär als ökonomisches Phänomen verstanden wird 2 (was aus historischer wie politikwissenschaftlicher Sicht deshalb viel zu kurz greift, 3 weil die Wirtschaft nur ein Feld von vielen ist, auf denen sich Globalisierung abspielte und abspielt). Globalisierung steht in einer historischen Kontinuität, die vor Jahrhunderten mit dem Zeitalter der Entdeckungen begann. 4 Ihre heutige Ausprägung zeichnet sich durch die nahezu vollständige, extrem schnelle und faktisch fast ubiquitäre planetarische Ausstrahlung aus, die Zeit und Raum erheblichst zusammenschrumpfen lässt. Die Territorien und „Gesellschaften", die man später Lateinamerika nannte, wurden schon vor ihrer formalen Unabhängigkeit von den Prozessen der damals längst angelaufenen Globalisierung erfasst. Daher gibt es in Lateinamerika eine eindeutige Kontinuität der Globalisierung, auch wenn sich Akzente verschoben haben. Wenn und wo heute in Lateinamerika Globalisierung diskutiert wird, stehen aktuelle Ausprägungen im Vordergrund, nicht

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Hier und zum Folgenden: R. Stavenhagen: The Future of Latin America, S. 207. J.A. Ocampo / J. Martin (Hg.): Globalización y desarrollo. Vgl. M. Mols: Globale Zivilisation und Religion. Einer der ältesten Globalisierungsimpulse geht von Paulus aus, auch wenn man sehen muss, dass er geopolitisch im Rahmen des römischen Weltbildes lebte. Vgl. etwa Galater-Bief Kap. 2 ff. Wichtig wird auch das Markus-Evangelium (16,5).

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Manfred Mols

zuletzt in dem modernen Zusammenhang zwischen „Globalisierung und Entwicklung." Im Folgenden werden drei Argumentationsebenen angesprochen. Erstens wird der Begriff der Globalisierung noch einmal vorgestellt. Zweitens wird die Frage diskutiert, ob und wie die lateinamerikanischen Länder mit der Globalisierung Schritt zu halten versuchen und sich möglichst auch an ihrer Gestaltung beteiligen wollen oder beteiligen können. Drittens: Auch wenn es sich dabei zeigen sollte, dass dies für Lateinamerika schwierig oder für nicht wenige Länder sogar unmöglich bleibt, lautet die sich mehrfach stellende Frage: Unterscheidet sich Globalisierung für Lateinamerika substanziell von der früheren Dependenzklammer in Bezug auf Selbständigkeit?

Zum Begriff der Globalisierung3 Es gibt kaum einen schillernderen Begriff als den der Globalisierung. Unter diesem Vorbehalt: Die Welt ist in extrem vielen Bereichen (Wirtschaft, Politik, Soziales, Kultur im engeren Sinne) 6 in eine früher nicht gekannte Interdependenz geraten. Es stellt sich immer mehr eine planetarische Zivilisation ein, die vielleicht nicht für jeden Flecken auf der Erdoberfläche gilt, aber fast alle Staaten der Erde und ihre Gesellschaften und die immer größer werdenden Welten der Transnationalität und der internationalen Organisationen in ihren Bann zieht. Wann und wo immer wir diese Entwicklungen ansetzen wollen: In ihrer historischen Substanz ist Globalisierung nicht zu trennen vom Phänomen der Verwestlichung der Welt und von der Chance von geeigneten Durchsetzungskräften dieses Programms. Verwestlichung ist eine vieldimensionale Kulturdiffusion, die wenig auslässt und gegebenenfalls Widerstände ausräumt oder sich einfach über sie hinwegsetzt. Der britische Historiker J.M. Roberts 7 hat in einem bemerkenswerten Buch mit dem Titel The Triumph of the West die historisch-kulturellen Schichtungen dieser Kulturdiffusion dargestellt. Eine hochrangig besetzte UNESCO-Forschergruppe unter Leitung des Brasilianers Helio Jaguaribe de Mattos kam in einem fünf Jahre lang laufenden Projekt mit dem Titel A Critical Study of History8 nach einem Vergleich der 16 wichtigsten Weltzivilisationen zu dem Ergebnis, dass die „planetari5

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Vgl. u. a.: M. Mols / R. Ölschläger (Hg.): Lateinamerika in der Globalisierung. In den folgenden Elementen insbesondere M. Mols: Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika. Neuerdings wird in diesen Zusammenhängen auch der internationale Terrorismus als Globalisierangsphänomen angesehen, ebenso Epidemien oder unkontrollierte Migrationen. J.M. Roberts: The Triumph of the West; vgl. auch W.H. McNeill: The Rise of the West; ferner: S. Latouche: The Westernization of the World. H. Jaguaribe: A Critical Study of History; ders.: Un estudio critico de la historia. Der Verfasser war Mitglied der UN-Forschergruppe.

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sehe Zivilisation" der Gegenwart ihr Fundament eindeutig in der „späten westlichen Zivilisation" finde. Das machtpolitisch dynamische Element der Globalisierung, das Durchsetzungsphänomen, kann hier nicht ausgeklammert bleiben: Jede historisch fundierte Ableitung von Westlichkeit wird mit dem Zeitalter der Entdeckungen und der auf dem Fuße folgenden imperialistischen Penetration in der überseeischen Welt anfangen, wobei zur Sakralisierung der imperialen Positionen oft das Argument der Friedenssicherung herhalten sollte.9 Hinzu trat dann sehr rasch der Siegeszug von Kapitalismus und Bürgertum. Nahezu zeitgleich folgten die ersten Ansätze der Technisierung und Säkularisierung der Welt, dann mit der amerikanischen Revolution und dem 19. Jahrhundert jener Durchsetzungsversuch moderner, pluralistischer und für die Räume der Gesellschaft offener Staatlichkeit, die Francis Fukuyama offensichtlich vor Augen hatte, als er etwas voreilig vom Ende der Geschichte sprach. Ein ganz entscheidender aktueller Impuls geht schließlich von der exponentiell anwachsenden Kommunikations- und Informationsdichte unserer Zeitläufe aus. Ich bleibe daher dabei, dass jene enorm verdichteten Interdependenzen auf politischen, kulturellen, ordnungspolitischen, wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Gebieten Ausdruck einer immer eindeutiger heranreifenden planetarischen Zivilisation sind, welche die Marschrichtung unseres gegenwärtigen Geschichtsprozesses bestimmt und die nicht zu trennen ist von der vorher angedeuteten Tendenz der allgemeinen Verwestlichung. Bei all dem bestehen drei Probleme, die nicht zuletzt Lateinamerika betreffen. Erstens ist Globalisierung nicht, wie uns dies viele Ökonomen plausibel zu machen suchen, ein Scheck auf einen Wohlfahrtsgewinn für alle.10 Dies gilt binnenstaatlich genauso wie im internationalen Vergleich. Denn es gibt Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer.11 Dies ist nicht so zu lesen, dass die Verlierer im Regelfall mit ihnen entgangenen Vorteilen die Gewinner ermöglichen, sondern so, dass Globalisierung heute noch mehr als zuvor zu einem Spiel zwischen rule makers und rule takers geworden ist,12 womit Macht- und Strukturfragen angesprochen sind, die immer schon mit der Globalisierung verbunden waren und früher wie heute spezifischen historischen Profilen in den oben angedeuteten Schichtungen entsprechen. Die zweite Problemkomponente im Zusammenwachsen der Welt besteht in der Gefahr von Identitätsverlusten, auf die von vielen Seiten in Lateinamerika, Asien und Afrika und übrigens auch in Europa hingewiesen wird. Die anhaltende Dominanz der nordamerikanischen Spitzenuniversitäten (Bereich hö-

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" 12

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

H. Münkler: Imperien. S. Tempel: Globalisierung, was ist das? W. Grabendorff: Globalisierungserfahrungen in Lateinamerika. J.F. Tulchin / R.H. Espach: Latin America in the New International System, S. 2.

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here Ausbildung) und immer noch Hollywoods (Bereich Unterhaltung) sowie umgekehrt eine ungebrochene kosmopolitische Neigung gerade unter den lateinamerikanischen Eliten halten eine bisher wenig gebrochene nordamerikanische „soft power" am Leben, die bis in die sprachlichen und (kultur)wissenschaftlichen Verständigungsebenen auch der lateinamerikanischen Welt hineinreichen. Das betrifft staatliche und zwischenstaatliche Kommunikationsmodi genauso wie ein international übliches Sprachverhalten im Rahmen des die internationalen Organisationen weitgehend beherrschenden Englischen und den aus dem Englischen übernommenen sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Begriffen. 13 Eine Art Aufbegehren gegen die Nivellierungstendenzen der Globalisierung sind immer mehr regionale und subregionale Versuche der Kooperation und Integration geworden, die sich auf wirtschaftlichen, politischen und auch auf kulturellen Ebenen bilden. Sie mögen im Einzelnen verschiedenen historischen Ursprungs und unterschiedlicher Initiallogik sein: Sie sind im Globalisierungsprozess immer auch Schutzmechanismen und Schaltstellen für eine internationale Mitsprachefahigkeit, die die Staaten und ihre Untergruppierungen für sich allein genommen im internationalen System nicht hätten. Das Ganze kann sich formaler und „weicher" abspielen. Es dürfte heute kaum noch ein Land auf unserem Planeten geben, das sich solchen Gruppierungstendenzen entziehen wollte. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen: Je weniger ein Staat in solchen Bindungen steht, umso geringer erscheint seine Rolle in der internationalen Welt. Kuba, Nordkorea und Myanmar geben anschauliche Beispiele dafür ab. Es kann bei alldem nicht verschwiegen werden, dass es - fast im Gegenzug immer wieder auch erfolgreiche Ansätze eines hegemonialen Regionalismus gibt, dem gerade Lateinamerika ausgesetzt ist und ausgesetzt bleibt.14

Hält Lateinamerika mit diesen Tendenzen Schritt? Die Frage lässt sich weder mit einem klaren Ja beantworten noch mit einem eindeutigen Nein. Lateinamerikas anhaltende Schwächen sind leicht aufgezählt. Die politischen Systeme und ihre Prozesse und Regeln sind mit wenigen Ausnahmen (Chile, Costa Rica, cum grano salis auch Brasilien) nie aus der Situation der Unberechenbarkeit herausgekommen. Der innermexikanische Streit um den Ausgang der Präsidentenwahl 2006, der ja zugleich eine Kontroverse um grundsätzliche Orientierungen in der mexikanischen Politik bedeutete,15 ist ein fast schon typisch zu nennendes Beispiel dafür. Trotz

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Detaillierter bei M. Mols: Zur Einleitung: Staat und Demokratie in Asien. Ich rekurriere dort besonders auf den thailändischen Kollegen Shamsul und auf die Duisburger Kollegin Claudia Derichs. Vgl. G. Mace / L. Bélanger et al: The Americas in Transition. Vgl. für Einzelheiten u.a. G. Maihold: Regieren nach dem Foto-Finish.

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anhaltender Wachstumserfolge bleiben die lateinamerikanischen Volkswirtschaften (im Wesentlichen mit Ausnahme Brasiliens und in Ansätzen Mexikos) bei einer traditionellen internationalen Arbeitsteilung der Rohstoff-, Energie- und Nahrungsexporte versus massiver Importe von verarbeiteten und vor allem Investitionsgütern. Zwar hat man die frühere chronische Inflation unter Kontrolle gebracht, doch ist für die breiten Massen die soziale Frage weiterhin ungelöst. Lateinamerikas Einkommensverteilung gehört weltweit zu den ungerechtesten überhaupt. Fast alle lateinamerikanischen Gesellschaften zerfallen in Konglomerate des Wohlstandes und einer pathologischen Ausbreitung von Unterentwicklung, Vernachlässigung, Armut bis hin zu starker und oft auch absoluter Marginalität. Nation-building und erst recht state-building konnten auf diese Weise kaum zustande kommen. Die Korruption bleibt nahezu allenthalben ungebrochen, was kürzlich noch einmal bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen deutlich wurde. Zu den ganz großen Defiziten des Subkontinentes gehört die mangelnde Beteiligung an Forschungs- und Entwicklungsprojekten. Lateinamerika liegt hier weit hinter den USA, Westeuropa und fuhrenden asiatischen Ländern zurück. Die OECD hat im Jahre 2005 für die „ R & D Expentitures" (R&D: Research and Development) entsprechende Länderbudgets im Verhältnis zum jeweiligen Bruttosozialprodukt genannt.16 Die USA erreichen 2.60% des BSP. Die Zahlen für Deutschland heißen 2.55 %, für Frankreich 2.10%, für Japan 3.15 %, für China und Südkorea jeweils 1 %. Für Brasilien und Argentinien betragen die entsprechenden Daten 0.91 und 0.41%, für Mexiko immerhin noch 0.39 %.17 Der lateinamerikanische Durchschnitt dürfte nicht wesentlich über 0.2% liegen, was sehr deutlich den Unterschied zwischen klassischen Industrieländern, asiatischen Schwellenländern und Lateinamerika zeigt. Es dürfte eine ganze Reihe von lateinamerikanischen Ländern geben, die sich auf diesem Gebiet so gut wie überhaupt nicht betätigen - etwa Peru, Ecuador, Paraguay, Uruguay, die zentralamerikanischen Länder. Dies mindert Lateinamerikas Stellung im internationalen System substanziell. An einer Mitgestaltung der Globalisierung im Sinne von technischen Innovationen im weitesten Sinne ist dabei kaum noch zu denken. Der vielleicht zunächst aufkommende Einwand, R & D lohne sich nicht für kleinere Länder, trägt nicht ganz. Finnland hat mit 3.49% des BSP einen beeindruckend hohen Anteil - mit entsprechenden Positionen im Bereich der modernen Länder. Forschung und Entwicklung sind seit dem Beginn des Technischen Zeitalters nie Monopole des Staates gewesen, auch wenn dieser sich schon früh durch Fachschulen, eigene Institute, Rahmenbedingungen und später durch technisch orientierte Universitäten und Hoch-

16 17

O E C D : Main Science and Technology Indicators. Letztere Daten stammen aus dem Technologieministerium in Brasilien in einer aktualisierten Fassung vom 18.7.2006.

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schulen an diesen Dingen beteiligt hat. Sehr vieles ist durch Privatinitiativen beziehungsweise in Unternehmen entstanden. Im Zuge der fortschreitenden Globalisierung ist es immer üblicher geworden, die enormen technologischen Entwicklungskosten über Formen der zwischengesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Gemeinschaftsarbeit zu senken. Eine solche Chance hätte sich unzweifelhaft über die comités de acción des 1975 gegründeten Lateinamerikanischen Wirtschaftssystems SELA angeboten. 18 SELA war als paraoffizieller „Sprecher" Lateinamerikas im damaligen Nord-Süd-Dialog gegründet worden und konnte in diesem Zusammenhang einige bemerkenswerte Grundsatzpapiere vorlegen. Doch obwohl SELA jahrelang qualifizierte und im internationalen Geschäft erfahrene Organisationschefs (Secretarios Permanentes) 19 besaß, hatte man für den Rang von Forschungszusammenarbeit offenbar kein rechtes Gespür. Es existiert heute in Lateinamerikas eine breite, in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts (wieder) begonnene Integrationsbewegung nur noch in Rudimenten. Konnte noch im Jahre 1991 der hochangesehene venezolanische Analytiker Andrés Serbin von einem „new climate of integration" sprechen, von einer „new regional dynamic", 20 so stehen wir heute vor einem Scherbenhaufen von Kooperation und Integration.21 Lateinamerikas Regionalismus hat seine alte historisch-ideologische Grundlage des Bolivarismus als einstellungsmäßiger Klammer in der Politik, unter vielen Intellektuellen und auch in transnationalen Bereichen wie zum Beispiel in lateinamerikanischen Parteienzusammenschlüssen, verloren. Reste des Einheitsgedankens, wie zum Beispiel die Lateinamerikanische Bischofskonferenz CELAM 22 oder auch die Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales (FLACSO) sind noch erhalten und aktiv geblieben, erweisen sich aber kaum noch als profilprägend. Die enorme entwicklungsstrategische Bedeutung der alten CEPAL, 23 die mit ihren Studien und Vorschlägen über lange Jahre eine erhebliche wirtschafts- und integrationspolitische Wirkung auf die lateinamerikanischen Regierungen beanspruchen konnte, passte eines Tages mit ihrer Ideologie der Importsubstitution nicht mehr in die Landschaft der weltweiten Exportorientierung, Marktwirtschaft und Privatisierungen, wie sie durch den

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Zur damaligen Arbeitslogik von SELA vgl. M. Mols: Integration und Kooperation in zwei Kontinenten; insbesondere 154 f. undpassim. Der erste war Jaime Moncayo (Ecuador), es folgten u. a. Carlos Alzamora (Peru), Carlos Moneta (Argentinien), Sebastian Alegrett (Venezuela), Alan Wagner (Peru). A. Serbin: Venezuela, el Gran Viraje, and Regionalism in the Carribean Basin. Vgl. M. Mols: Latin America and East Asia. Consejo Episcopal Latinoamericano. Comisión Económica para América Latina y el Caribe (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik), entstanden 1948/49 in Santiago de Chile unter der Leitung des einflussreichen Argentiniers Raúl Prebisch.

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„Washingtoner Konsens" propagiert wurden. So wie man überhaupt für eine lange Zeit kaum begriffen hatte, dass - um noch einmal auf Serbin zu rekurrieren - nicht nur die Furcht vor einer „ökonomischen Isolation" des Subkontinentes der Antreiber der Integration bleiben konnte, sondern weil eine sich globalisierende Welt veränderter Zielvorgaben strategische Vorteile zu bieten versprach. „Common concerns and interests", eine ganz wesentliche Voraussetzung eines jeden Regionalismus, zeigten in der Geschichte des unabhängigen Lateinamerika ein gelegentliches konjunkturelles Aufflackern (zum Beispiel in dem zum Zeitpunkt der SELA-Gründung stattfindenden Nord-Süd-Dialog mit seiner von lateinamerikanischer Seite beharrlich geforderten Korrektur des internationalen Wirtschaftsystems). Ansonsten überwogen divergierende nationale Interessen und Politikvorgaben, deren Ursache nicht wenige Lateinamerikanisten in einen engen Zusammenhang mit der geographischen, politischen und kulturellen Vielfalt der betroffenen Länder bringen.24 Wie immer dem sei: Aus der großen Einheitsvorstellung wurden nach und nach getrennte subregionale Kooperationskreise, zum Beispiel die einander ablösenden zentralamerikanischen Integrationsprojekte, die Andengruppe, der Gemeinsame Markt des Südens Mercosur sowie inselkaribische Integrationsversuche. Die subregionalen Kooperations- und Integrationsprojekte erwiesen sich ohne Ausnahme nur bedingt als lebensfähig: Zentralamerika lebt von externen Assistenzen; die Comunidad Andina steht vor der faktischen Selbstauflösung; der Mercosur hat im strategischen und mehr noch im wirtschaftlichen Denken seines wichtigsten Mitgliedslandes Brasilien eine nachrangige Bedeutung. Es wird nicht mehr transparent, wie weit man Mexiko, nach dem 1993 abgeschlossenen NAFTA-Vertrag25 noch als ein Mitglied der lateinamerikanischen Familie ansehen kann. Solche Zweifel werden auch dadurch genährt, dass sich Mexiko immer wieder gegen eine Ausweitung der NAFTA nach Süden sperrte. Warum hat das lateinamerikanische Integrationsprojekt nicht funktioniert? Dies trotz eines historischen Erfahrungsvorsprungs, wie ihn keine andere Weltregion in diesen Dingen je hatte? Warum also die Zerbröselung von Integrationsidee und Integrationspraxis? Der Hinweis auf die Verschiedenheit der lateinamerikanischen Länder reicht dazu nicht aus. Es gibt eine Anzahl weiterer, wesentlicher Erklärungsmomente. Lateinamerika ist schon im 19. Jahrhundert und dann wieder ganz eindeutig nach dem Zweiten Weltkrieg ein 24

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Z.B. W. Grabendorff: Globalisierungserfahrungen in Lateinamerika. Es lassen sich aber auch - etwa im Vergleich mit anderen Weltregionen - durchaus Auffassungen vertreten, wonach Diversität an sich kein Verklammerungshindernis ist, sondern gemeinsame strategische Interessen weitaus mehr zählen. Man vergleiche zum Beispiel die Gruppe der ASEAN-Länder mit Lateinamerika. North American Free Trade Agreement.

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Kontinent permanenter Krisen geblieben. So sehr sich die Krisenursachen meist glichen und auch heute wieder gleichen (schlechte Regierungsführung im Sinne von „bad governance", das immer wieder anzutreffende Fehlen gesellschaftlicher Mündigkeit, die extreme wirtschaftliche, technologische und finanzielle Abhängigkeit von den großen kapitalistischen „Metropolen", die für eine sehr lange Zeit fast eisern durchgehaltene Lateinamerika-Politik der USA eines divide et impera, was sich in einem gleichsam „aggressiven Ignorieren" der lateinamerikanischen Integrationsbemühungen zeigte, die Verdrängung des Bolivarismus durch den von Washington aufgebauten Panamerikanismus, das Fehlen von über die europäischen Bemühungen hinausgehenden positiv wirkenden externen Föderatoren, die bis heute im Wesentlichen traditionell gebliebene Rolle von Lateinamerika als Lieferant von Rohstoffen und Nahrungsmitteln im Austausch gegen die Güter der „klassischen" Industrieländer und heute ihrer fernöstlichen Konkurrenten Japan, die „Tigerländer", immer mehr auch China und Indien, die endemischen Finanzprobleme fast aller lateinamerikanischen Regierungen...), so wenig ist kaum ein Land mit ihnen fertig geworden. Dies vielleicht mit den Ausnahmen Uruguay, Chile und Costa Rica. Die Krisen haben in ihrem Gesamtprofil das Gegenteil von sich in einem gemeinsamen Verhalten äußernden „common concern" bewirkt: Fast alle lateinamerikanischen Regierungen hatten gegen eine notorische politische, wirtschaftliche und soziale Instabilität anzugehen. Regieren lief immer wieder auf ein Krisenmanagement hinaus, welches Versuche kurzfristig angelegter Sedierungen, Improvisationen und Ad-hoc-Lösungen nach sich zog.26 Es war daher immer wieder schwierig, über den Tellerrand der eigenen Bestandssicherung hinauszublicken. Hier muss noch ein weiteres Mal an den Einfluss der Globalisierung erinnert werden. Der Druck der Globalisierung, den man heute weltweit spürt, kam ja nicht von heute auf morgen. Aber - darin ist Wolf Grabendorff zuzustimmen27 - der Druck der Globalisierung hat im Allgemeinen die Fähigkeit der lateinamerikanischen Staaten zu einer effektiven Gegensteuerung sichtlich geschwächt, was wieder auf Krisenmanagement zugunsten der unmittelbaren Bestandssicherung hinauslief. Oder noch anders gesagt: Die Globalisierung überforderte und überfordert die meisten lateinamerikanischen Regierungen, Volkswirtschaften, Sozialkörper, weil sie nur durch gezielte Politiken des rule making, also eines gestaltenden Mittuns, anzugehen ist. In dem üblichen großen Komplex der ständigen Improvisationen sind weitere problematische Begleitphänomene für die immer nur temporäre 26 27

Vgl. A. Boeckh: Lateinamerika und die USA. Hier und zum Folgenden W. Grabendorff: Globalisierungserfahrungen in Lateinamerika, S. 168.

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Wahrnehmung von „common concerns" anzusiedeln: Die aus europäischer Perspektive schon fast pathologische Bedachtnahme auf eine geradezu tabuiSierte Souveränität, die das Aufkommen eines zumindest in Ansätzen denkbaren supranationalen Denkens nicht aufkommen lässt, aber auch die mangelnde Kapazität zum Aufbau verlässlicher und beständiger Institutionen. Das gilt in innenpolitischen Bereichen genauso wie in außenpolitisch-externen Fragen. Leitbild der Staatsvorstellung war und bleibt der starke Staat, der Entwicklungserfolge garantieren soll, als sozialer Benefaktor aufzutreten weiß und dabei die internationale Einbindung des eigenen Landes voll im Griff hat. Dieses Selbstverständnis wurde und wird im Regelfall aufrecht erhalten, obwohl der Staat so gut wie nie in der Lage war, solche Rollen auszufüllen und den entsprechenden Erwartungen auch tatsächlich zu entsprechen. Die eigene Schwäche, das heißt das schlichte Defizit in gouvernementaler Kapazität, war zu offensichtlich, und sie ist es geblieben. Hinzu kam der zeitweilige Einbruch des Neoliberalismus in den achtziger und neunziger Jahren, der mit einer breit zuständigen Staatlichkeit nichts anzufangen wusste. In den klassischen westlichen Ländern kann man davon ausgehen, dass mit vorhandener oder fortschreitender Demokratisierung und vor allem mit dem ordnungspolitischen Greifen von Marktwirtschaft die Handlungsfähigkeit von Staat und Gesellschaft ob deren wachsender Verschränkung eher ansteigt als gemindert wird. Denn es entsteht eine Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen und überhaupt sozialen Akteuren, die in ihrem unvermeidbaren Zusammenspiel und selbst in ihren konkurrenzbedingten Konfliktaustragungen keine re-aktive Passivität aufkommen lassen können. Wahrscheinlich ist Lateinamerika in diesen Hinsichten überfordert gewesen, weil die Versuche eines neuen state-building kaum irgendwo auf parallele gesellschaftliche Veränderungen stießen, was unter anderem Victor Alba28 sehr gut zu zeigen wusste. Dies unterschied Lateinamerika historisch markant vom Westen. Dort lernte man nach Verabschiedung des Obrigkeitsstaates, dass jedes ordnungsgemäße Überleben des eigenen Landes von der Fähigkeit zum Kompromiss in der Gemengelage zwischen Individuen und Gruppen abhing. Man schätzte die unverzichtbaren Doppelelemente der Transformationssicherung und der internen Friedensbewahrung sowie der sozialstaatlichen Mindestausstattung und der technischen wie normativen Innovationen. Die dem Zweiten Weltkrieg folgende politisch-kulturelle Schockwirkung tat das Ihre, um mit solchen Grundlagen konsensfahige zwischenstaatliche Initiativen anzufangen und auszubauen, die sich unter anderem für den europäischen Einigungsprozess als unverzichtbares Element seiner eigenen Tragfähigkeit erweisen sollten und die es überhaupt ermöglichten, in den vielen Organisationen und Akteursclustern des internationalen Systems kalkulierbar aufzutreten. In Lateinameri-

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V. Alba: Die Lateinamerikaner.

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kas Kultur waren solche Stilelemente des politischen Verhaltens allenfalls Topoi in akademischen Diskursen. In die Tiefe drangen sie selten vor.29 Zu den angedeuteten Schwächen von Staat und Demokratie in Lateinamerika hat immer auch die soziale Exklusivität der politischen wie gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse gehört. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich um eine doppelte Marginalisierung: Ein erheblicher Teil der Oberschicht lebte und lebt in einer internationalen Welt, die Miami, New York, Paris oder London heißt, und bleibt daher als nationaler und/oder regionaler Impulsgeber kaum wirksam, wenn sie nicht sogar völlig bedeutungslos ist, was unzweifelhaft zur mangelnden Effizienz der verschiedenen Handlungssysteme beiträgt. Die Marginalität in den Oberschichten findet ihr Pendant in der verbreiteten Marginalität in den unteren Schichtungsbereichen. In Europa machte ein Buch wie das von Sinesio López Jiménez mit dem Titel Ciudadanos Reales e Imaginarios30 wenig Sinn, auch wenn in Lateinamerika begonnene Transformationsprozesse nicht geleugnet werden können. Die „ciudadanos imaginarios" sind rechtliche Fiktionen, Marginale und Semimarginale also, die de facto außerhalb von Partizipations- und Legitimationskreisläufen leben, weitgehend außerhalb auch von gouvernementaler Beachtung. Denn immer noch erweisen sich die Legate einer sich als vielschichtige Belastung präsentierenden Vergangenheit als ungeeignet für eine gesamtgesellschaftliche und gesamtstaatliche Moderne, um die Lateinamerika im Zeitalter der sich verdichtenden Globalisierung immer weniger herumkommt. Entsprechend argumentiert auch López Jiménez:31 „Ni la famila, ni la escuela, ni la sociedad civil, ni las instituciones estatales han sido, ni son, aquí espacios adecuados donde los peruanos podemos aprender y cultivar la ciudadanía." Vielleicht ist diese Form der mangelnden Sozialisation für das eigene Land in Peru und Ecuador und wohl auch in einigen zentralamerikanischen Staaten besonders ausgeprägt. Die Verhältnisse in Mexiko, Argentinien, Brasilien, Uruguay, Costa Rica oder Chile sehen besser aus. Gleichwohl sind die Auswirkungen der negativen Legate so gut wie nirgendwo völlig verschwunden. In dem in vielfacher Hinsicht „westlichsten" Land Lateinamerikas, in Chile, erinnern die Strukturen des Erziehungs- wie des Gesundheitswesens an die Vergangenheit gestaffelter Exklusivität. Der „morbus latinoamericanus" fangt - um mit Manfred Wöhlcke zu sprechen - hier an, um sich dann fortzusetzen im internationalen Bereich. Allerdings ist die Einschätzung der internationalen Situation in der heutigen Zeit ein Stück realistischer geworden. So schreibt fast wörtlich der angesehene argentinische Ökonom Aldo Ferrer,32 der mit seinem früheren 29

30 31 32

Zu den Grundelementen politischer Kultur in Lateinamerika vgl. M. Mols: Demokratie in Lateinamerika. S. López Jiménez: Ciudadanos reales e imaginarios. Ebd., S. 28. A. Ferrer: Historia de la globalización.

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Buch Vivir con lo nuestro33 und mit seinem Einfluss und Ansehen in weiten Teilen der lateinamerikanischen politischen wie intellektuellen Eliten erheblich zur Öffnung Lateinamerikas beigetragen hatte, man sei auch in Lateinamerika Zeitzeuge einer Hinwendung zum internationalen System, ohne es indessen hinreichend zu definieren. Wo dabei die „centros de poder mundial" liegen, ist nicht weiter strittig, denn niemand in Lateinamerika würde leugnen, dass die Weltgeschichte seit Generationen von Europa und dem immer partizipativer auftretenden großen Nachbarn im Norden des Rio Grande bestimmend geprägt wurde. Zunehmend ist auch der asiatisch-pazifische Raum ins Spiel gekommen, der in seiner Entwicklungsdynamik auch in Lateinamerika ungleich mehr als in früheren Jahren zur Kenntnis genommen wird,34 ohne sich dabei der Illusion hinzugeben, eines guten Tages gleichziehen zu können. Bleibt Lateinamerika also ewiger rule taker in einer Welt der rule makers, in der an nicht wenigen Stellen längst der Disput darüber entfacht ist, dass oder ob und wie die Asiaten das Amerikanische Jahrhundert der Weltgegenwart ablösen werden, zumindest aber der Westen insgesamt ob einer zunehmenden Präsenz von AsienPazifik ein tüchtiges Stück zur Seite rücken muss, um den wahrscheinlichen neuen Kräften einer Weltordnungspolitik Platz zu machen.

Hat in Lateinamerika die Globalisierung die alte Dependenzklammer abgelöst? Damit sind wir bei der dritten Frage unserer Abhandlung angekommen. Sieht man sich die kaum zu bremsende Penetrationskraft der Globalisierung an, ist der von ihr ausgehende Verklammerungsdruck noch multipler angesetzt und damit auch größer als dies im Rahmen der jetzt schon fast klassisch gewordenen Dependenzpositionen der Fall war. Die Dependenzsituation wurde auf Seiten der passiv Betroffenen primär als ein Wirtschaftsimperialismus der „Metropolen" empfunden, der zugleich massive soziopolitische Kollateralwirkungen zeigte. Sie galt daher so gut wie immer auch als ein Impulsgeber schmerzhafter, ungleicher Verteilung. In gewisser Weise ist die Globalisierung in ihrem offensichtlichen Erscheinungsbild etwas Übergeordnetes, nämlich ein planetarischer Zivilisationsprozess, dem man sich im Idealfalle weniger entziehen kann, sondern den man mitgestalten sollte. Hätte Lateinamerika hierzu die Kapazität? Man wird grundsätzliche und eher punktuell-sektoriale Gesichtspunkte anfuhren müssen, um zu einer vorsichtigen Antwort zu kommen.

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A. Ferrer: Vivir con lo nuestro. Vgl. J. Faust: Diversifizierung als außenpolitische Strategie.

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Der französische Soziologe und Diplomat Alain Rouquie35 hatte in einem vielgelesenen Buch vor rund 20 Jahren zu Recht darauf hingewiesen, dass Lateinamerika der äußerste Rand immerhin noch des Westens sei. Wenn daher die planetarische Zivilisation der Weltgegenwart in der späten westlichen Zivilisation ihr Fundament findet, dann hat Lateinamerika gewisse Chancen, in zumindest bis auf weiteres noch geltende Modernitätsstandards hineinzuwachsen. Lateinamerika hat daher mit der Gleichung „Globalisierung = Verwestlichung" keine grundsätzlichen Schwierigkeiten, die nicht überwindbar wären. Was immer man zum Beispiel von dem Verbindlichkeitsgrad ordnungspolitischer Debatten und Entwürfe in Lateinamerika halten mag; Man arbeitet mit Denkfiguren, die seit Generationen in Europa und auch in den USA geläufig sind.36 Über Menschenrechte oder den Modernisierung fördernden Rang von Zivilgesellschaft, Frauenemanzipation oder die Notwendigkeit von Transparenz oder den Abbau von Korruption und über die Ableitungen von Legitimität und Legitimation gibt es im heutigen Lateinamerika wenig Rätsel der Interpretation, zumal solche Denkmuster in nicht wenigen Ländern von einer qualifizierten Presse - ganz anders als in den meisten ost- und südostasiatischen Ländern aufgegriffen werden. Da mag vieles bloßes Ideal und Programm oder nicht einlösbarer kritischer Maßstab sein, da mögen die Kräfte der Beharrung in der politisch-sozialen Kultur und in strategisch wichtigen Akteursbereichen noch bremsend und eigenwillig bleiben: Sieht man von den jetzt wieder zu etwas mehr Selbstbewusstsein gekommenen indigenen Gruppen in einigen Ländern ab, bewegt sich Lateinamerika in einer westlichen Verständigungswelt, was zwar keine internationale Präsenz Lateinamerikas garantiert, aber dennoch die Kommunikation zwischen dem Westen und Lateinamerika erleichtert. Lateinamerika hat damit im Vergleich zu Asien, Afrika und erst recht im Vergleich zu den arabischen Ländern und der islamischen Welt überhaupt einen Verständigungsvorteil. Ob es ihn ausreichend wahrnimmt, ist dagegen eine andere Sache. Denn es sind mehrere Dinge, die einer aktiven Präsenz Lateinamerikas im internationalen System im Wege stehen. Erstens hat Lateinamerika den Ruf einer schwankenden Berechenbarkeit behalten. Wenn von seinen fragilen Demokratien37 die Rede ist, dann drückt sich darin die Tatsache aus. dass ein „triggering of bold reforms" 38 wenig Vorhersehbarkeit und damit eine begrenzte Chance innenpolitischer Akzeptanz bedeuten musste und im außenpolitischen Feld Lateinamerika zu einer ausgesprochen unsicheren Größe machte, weil nicht auf kalkulierbare Trends in und mit den politischen Re-

36

37 38

A. Rouquié: Amérique latine. Vgl. z.B. statt vieler: C. Basombrío I. (Hg.): Activistas e intelectuales en la función política en America Latina. Vgl. K. Weyland: The Politics of Market Reform in Fragile Democracies. Ebd.

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gimes Lateinamerikas gesetzt werden konnte. Das „Phänomen Chävez" und seine Auswirkungen in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern und der offenkundige Zusammenhang mit einem um sich greifenden Neopopulismus tragen genauso wenig zum Vertrauen auf eine verlässliche Entwicklung Lateinamerikas bei wie die Energieverstaatlichung in Bolivien, die im Ansatz nachvollziehbar sein mag, aber doch eine ganze Serie von Imponderabilien mit sich bringt. Zweitens: Wahrscheinlich ist diese nicht gut zu übersehende Unberechenbarkeit Lateinamerikas einer der größten Negativposten bei einer gesicherten internationalen Positionierung. Hier sei auch noch einmal das Doppelthema Kooperation und Integration aufgegriffen. Lateinamerika ist seit rund einem halben Jahrhundert dabei, diesbezüglich neue Organisationen und Institutionen aufzubauen, die heute als Hoffnungsträger gepriesen werden, morgen schon ihren Rang verloren haben und dennoch in irgendeiner Weise fortbestehen. Man macht als Beobachter und Interviewpartner in nicht wenigen Ländern die Erfahrung, dass selbst in den einschlägigen Ministerien kaum noch jemand eine Übersicht darüber hat, wie und wo sich das eigene Land konkret und verbindlich engagiert. Man bleibt nicht in dem, was man angefangen hat, konstant und beharrlich. Der berühmte Satz des Expremiers von Singapur Lee Kuan Yew „to make haste slowly", der eine wesentliche Grundphilosophie des ASEAN-Erfolges ausdrückt, würde in Lateinamerika kaum verstanden werden. Drittens schlägt der Mangel an qualifizierter und verlässlicher Diplomatie negativ zu Buche. Wolf Grabendorff und ich hatten 1996 eine außenpolitische Explorationsreise durch 6 lateinamerikanische Staaten gemacht (Mexiko, Venezuela, Kolumbien, Brasilien, Chile, Argentinien) und dabei in 120 Interviews, die wir bis hinauf in höchste politische Ebenen führen konnten, ein Bild über die europapolitischen Vorstellungen und Handlungspotenziale der betroffenen Länder zu gewinnen gesucht. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus. Mit Ausnahme Brasiliens und in etwas schwächeren Ansätzen Chiles war kein gezieltes europapolitisches Profil zu erkennen. Sich andeutende Umbruchsituationen, wie man sie in kleinerem Maßstab in Mexiko beobachten konnte, erschienen uns nicht breit genug abgesichert und sollten schon nach kürzerer Zeit keinen Bestand mehr haben. Es gehört viertens in den Kontext solcher Defizite ein erhebliches Maß an lateinamerikanischen Koordinationsverlusten dort, wo ein Auftreten als Gruppe eine internationale Präsenz demonstriert hätte. Das erste und richtungsweisende europäisch-lateinamerikanische Gipfeltreffen in Rio de Janeiro im Jahre 1996 zeichnete sich durch unkoordinierte 3439 lateinamerikanische Länderpositionen aus, so dass es schwierig war, Weichen für eine operative gemeinsame Politik Europa-Lateinamerika zu stellen. Die dann folgenden Gipfel galten daher mehr der Anmahnung vereinbarter Ter-

Die Zahl der lateinamerikanischen und englischsprachigen karibischen Teilnehmer.

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mine als prioritär angesehenen Problemlösungen. (Zur Ehrenrettung der Lateinamerikaner sollte hier allerdings gesagt werden, dass Europa selbst nur bedingt als ein rationaler Akteur erscheint. Es ist schon für uns Europäer schwierig, die Zuständigkeiten und Handlungspotenziale zwischen Brüssel und den Mitgliedsstaaten der EG/EU und dazu noch die divergierenden Lateinamerika-Interessen der europäischen Einzelstaaten mitzubekommen. Für Nicht-Europäer entsteht hier seit Jahren ein hoffnungsloses Unterfangen.40) Ein fast vergleichbares Phänomen wiederholt sich mit Blick auf die Beziehungen Lateinamerikas zu Asien-Pazifik. Die Asiaten sind - sieht man hier einmal von der in der Kolonialzeit jährlich wahrgenommenen Seeverbindung Acapulco-Manila ab, die mit der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung zum Erliegen kam - schon deshalb lange Zeit am Rande des internationalen Bewusstseins der Lateinamerikaner geblieben, weil eine breitflächige Entkolonisierung in Asien erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzte.41 Zwar kam es schon im 19. Jahrhundert und dann fortgesetzt bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu größeren chinesischen und japanischen Einwanderungswellen nach Lateinamerika. Umgekehrt waren Mexiko, Chile und Peru die ersten ,,westlichen"(!) Staaten, die die Eigenständigkeit des sich rapide modernisierenden Japan in der Post-Meiji-Zeit diplomatisch anerkannten. Später sind dann Japan, einige Länder der ASEANGruppe und in den letzten Jahren immer mehr auch China wirtschaftlich gezielt auf Lateinamerika zugegangen. Auch traf sich das pazifische Asien mit einem Teil Lateinamerikas, nämlich mit Chile, Peru und Mexiko in der 1989 gegründeten APEC. Es lag daher sozusagen in der Luft, dass der damalige singapurische Ministerpräsident Goh Chock Tong 1989 den Vorschlag zu einem asiatisch-lateinamerikanischen Gesprächsgremium machte, das auch unter dem Namen FOCALAE beziehungsweise FEALAC42 zustande kam, aber bisher wenig Substanz zeigte.43 Lateinamerika hat die Chance zur Diversifizierung seiner internationalen Bindungen schlicht nicht ergriffen.

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IRELA (Instituto para las Relaciones entre Europa y América Latina) hat in den Jahren seines Bestehens erheblich dazu beigetragen, hier im Rahmen des Möglichen auch für Lateinamerikaner für eine gewisse Transparenz zu sorgen. Dass die Kommission in Brüssel unter dem zuständigen Kommissar Chris Patten IRELA einfach fallen ließ, war nicht nur kurzsichtig, sondern unterstreicht auch das oben ausgesprochene Argument, dass Lateinamerika nicht mehr in die Prioritätenliste europäischer Politik fallt. Japan war hier seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Ausnahme. China blieb auch nach der Gründung der Republik für Jahrzehnte ein Spielball fremder Mächte. Das gilt realiter selbst für das seit Jahrhunderten formell unabhängig gebliebene Siam beziehungsweise Thailand. Foro de Cooperación América Latina - Asia del Este. FEALAC ist die englischsprachige Bezeichnung: Forum for East Asia - Latin America Cooperation. Einzelheiten u. a. bei M. Mols: Latin America and East Asia.

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Unabhängig davon wie man den Stellenwert der ordnungspolitischen Debatten in Lateinamerika mit Blick auf ihre Einlösbarkeit oder gar Verbindlichkeit einschätzt, arbeitet man, wie weiter oben schon erwähnt, mit bekannten europäischen und US-amerikanischen Denkfiguren, zumal solche Denkmuster in nicht wenigen Ländern - anders als in den meisten ost- und südostasiatischen Ländern - auf zivilgesellschaftlichen Ebenen auch aufgegriffen werden. So sehr auch in Lateinamerika Programm und Umsetzung auseinanderklaffen mögen: Die ideale Marschrichtung ist bekannt. Es gibt hier noch einen anderen, wesentlichen Unterschied zwischen Lateinamerika und Asien: Lateinamerika möchte von Rückständigkeiten freikommen, die man „von außen" verursacht sieht, ohne indessen gleichzeitig das westliche Vorbild abzulehnen. Der Westen wird nicht pauschal als Fremdkultur infrage gestellt, sondern vor allem in seiner imperialistischen Nivellierung und Ausbeutungsphilosophie gesehen, in der für Alternativen im gleichen Modell wenig Spielraum bleibt. Der Osten erkennt durchaus die westliche Moderne, will sie aber in Einklang bringen mit dem Wissen über eine manchmal Jahrtausende alte, gewachsene Kultur, die weite, vielleicht sogar alle Lebensbereiche umfasst eben Entwicklung, Politik, wirtschaftliche Ordnungen, die sozialen Alltagskulturen und nicht zuletzt die „eigenen" Religionen mit ihren Sinngebungsversuchen. Dieses Denken spiegelt sich in Ansätzen auch in der sogenannten asiatischen Wertedebatte wieder, die hier im Westen gründlichst missverstanden wurde. Wenn man von den Philippinen absieht, die Dank ihres partiellen (!) und kolonialen Einbezugs in die spanischsprachige Welt und wegen des gleichzeitigen Einflusses des Katholizismus auch in unserer Zeit eine gewisse Offenheit zeigten für Dependenzüberlegungen und übrigens auch für die Theologie der Befreiung, hat in Ost- und Südostasien ein Leiden an dependenztheoretischen Beschränkungen keinen rechten Platz gehabt. „Wir sind genauso oder wohl noch schlimmer durch die imperialen Mächte des Westens vergewaltigt worden wie die Lateinamerikaner und konnten mit wenigen Ausnahmen (etwa Thailand) erst in jüngster Zeit souverän und unabhängig werden", sagte mir der damalige Direktor des sehr reputierten Institute for South-East Asian Studies in Singapur, Kemial S. Sandhu, schon vor Jahren.44 „Aber im Unterschied zu den Lateinamerikanern schauen wir nicht zurück und erwarten dabei von den Schuldigen auch keine Korrekturen. Asien blickt auf die Zukunft, in der es ein Vollmitglied werden will." In der Tat würde man ein Äquivalent für das Jahrzehnte lang in Lateinamerika fast zum Schlagwort der Politik entartete Wort „reivindicación" (die Wiederherstellung eines ursprünglich vorhandenen, dann aber geraubten Rechtstitels)45 kaum

44 45

Im Oktober 1985. Vgl. M. Mols: Einfuhrung in die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Situation Lateinamerikas.

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oder gar nicht finden. Was sich vielleicht durchzusetzen beginnt, hat der singapurische Diplomat und Wissenschaftler Kishore Mahbubani in einer nachvollziehbaren Deutlichkeit in einem Essay-Band mit dem ironisch aggressiven Titel Can Asians Think? formuliert:46 Es gehe nicht an, dass der Westen auf die Dauer den „Rest der Welt" dominiere, der immerhin rund 85% der Menschheit umfasse. Auch wenn es noch Generationen dauern möge, bis symmetrische Akkulturationen im Sinne eines wechselseitigen Austausches möglich würden: Die Zukunft des Planeten liege in der Fusion des Besten von westlicher wie östlicher Seite. Wenn Lateinamerika eine internationale Zukunft haben will, muss es sich in solche Überlegungen einbringen. Entwicklung als Nachahmung, womöglich noch als selektive Nachahmung, die mehr auf nachholende Industrialisierung ausgerichtet ist als auf Governance-Bereiche und die sich um eigene viable Paradigmata für Modernisierung im Globalisierungszeitalter drückt, bleibt international unbeachtet. Man bekommt auf diese Weise als global player keinen herausragenden Stellenwert. Wo Lateinamerika hier anzusetzen hat, ist in diesem Aufsatz an wesentlichen Punkten aufgezeigt worden: Eine Rückkehr zu Kooperation und Integration, die beide ihren Namen verdienen, Stabilität und Berechenbarkeit in den gouvernementalen Prozessen und in den konstitutionellen Designs, eine stärkere Beachtung von Grundsätzen sozialen Ausgleichs und sozialer Gerechtigkeit, ein beherzterer Zugriff auf Forschung und Entwicklung, eine durchgehende ordnungspolitische Grunddebatte, wie sie in den späten siebziger und in den achtziger Jahren im Zuge des Übergangs zur Demokratie an vielen Stellen aufgebrochen war, nicht zuletzt auch die bewusste Wahrnehmung von Optionsfreiheiten, auf die Peter Smith aufmerksam gemacht hatte. Lateinamerika ist kein in vielen Lebensäußerungen fast paralysierter Hinterhof der Vereinigten Staaten mehr,47 aber es sollte versuchen, Washington in eine Rolle des politischen Verständnisses zu bringen, die für beide Amerikas akzeptabel ist. Es müsste die Diversifikationsangebote, die sich aus einem veränderten Verhältnis zu Asien ergeben, aufgreifen und dabei auch über joint ventures dort, wo dies möglich ist (zum Beispiel im Verhältnis zwischen China und Brasilien, auch China und Mexiko, asiatische Tigergruppe und ausgewählte südamerikanische Länder) am Aufbau von Kompetenz-Profilen arbeiten, über die es bisher nicht verfugt, was auch mit einer immer noch vielerorts dominierenden Universitätskonzeptionen zusammenhängt, die einem gehobenen Lernen, nicht aber dem bewussten Einbezug von Forschung verpflichtet ist.48 Europa wird dabei bis auf weiteres nicht 46 47 48

K. Mahbubani: Can Asians Think? Vgl. M. Mols: Lateinamerika - Hinterhof der USA oder „global player"? Man darf hier aber auch einen gewissen positiven Wandel in mexikanischen, brasilianischen, argentinischen, chilenischen und venezolanischen Universitäten nicht unterschlagen.

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mehr die Rolle jenes gutwilligen externen Föderators spielen wollen und spielen können, die es einmal auszufüllen versuchte in Zeiten, in denen zum Beispiel die großen internationalen Parteienfamilien noch intakt waren und in denen man (dies trifft besonders für Deutschland zu) Asien noch nicht im heutigen Umfang entdeckt hatte. Hier könnte man von Seiten Lateinamerikas unter anderem mit einer hoch qualifizierten Diplomatie und einer verstärkten kulturellen Präsenz in führenden europäischen Städten auftreten, damit Lateinamerikas weltpolitischer Stellenwert wieder ins europäische Bewusstsein von Politik, Wirtschaft und Kultur dringt. Der Verfasser ist sich darüber im Klaren, dass diese Abhandlung Widersprüche zeigt. In der Realität existierende Widersprüche durch ein Papier glatt zu bügeln, hätte nichts mit wissenschaftlicher Wahrheit zu tun. Der eigentliche interne Widerspruch Lateinamerikas besteht darin, in der Tat normativ zu erheblichen, jedenfalls deutlich erkennbaren Teilen ein Stück „des äußersten Westens" zu sein, aber strukturell politisch, sozial und wirtschaftlich unübersehbar große Segmente der Unterentwicklung zu zeigen. Es ist nicht auszuschließen, dass Lateinamerika damit aus seinen entwicklungsbedingten Sackgassen nicht herauskommt. Es könnte aber auch sein, dass Lateinamerika sich erneut in einer Transformationsphase befindet, in der das Normative wenigstens in stärkeren Teilen strukturell umgesetzt wird. 49

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49

Vgl. M. Mols: Das politische Lateinamerika.

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JAGUARIBE, Helio: A Critical Study of History. Rio de Janeiro: Instituto de Estudos Políticos e Sociais, 2000. JAGUARIBE, Helio: Un estudio crítico de la historia, México, D.F.: Fondo de Cultura Económica, 2000 (2 Bde.). LATOUCHE, Serge: The Westernization of the World. The Significance, Scope and Limits of the Drive towards Global Uniformity. Cambridge / Oxford: Polity Press, 1996. LÓPEZ JIMENEZ, Sinesio: Ciudadanos reales e imaginarios. Concepciones desarrollo y mapas de la ciudadanía en el Perú. Lima: Instituto de Diálogo y Propuestas, 1997. MACE, Gordon / BÉLANGER, Louis et al.: The Americas in Transition. Boulder / London: Lynne Rienner Publishers, 1999. MAHBUBANI, Kishore: Can Asians Think? Singapore / Kuala Lumpur: Times Books International, 1999. MAIHOLD, Günther: Regieren nach dem Foto-Finish: Mexiko und die Wahlen vom 2. Juli 2006. In: GIGA-Focus, 7, 2006. MCNEILL, William H.: The Rise of the West. A History of the Human Community. Chicago / London: University of Chicago Press, 1991. MOLS, Manfred: Demokratie in Lateinamerika. Stuttgart: W. Kohlhammer, 1985. MOLS, Manfred: Einführung in die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Situation Lateinamerikas. In: Menschenrechtsprobleme in Lateinamerika: Arbeitstagung vom 20. bis 22. Oktober 1989 in Freiburg / Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission. Heidelberg: Müller, 1991, S. 5 - 1 4 . MOLS, Manfred: Integration und Kooperation in zwei Kontinenten. Das Streben nach Einheit in Lateinamerika und in Südostasien. Stuttgart: F. Steiner, 1996. MOLS, Manfred: Bemerkungen zur Globalisierung in Lateinamerika. In: Manfred Mols / Rainer Ölschläger (Hg.): Lateinamerika in der Globalisierung, Frankfurt a. M.: Vervuert, 2003, S. 11-21. MOLS, Manfred: Globale Zivilisation und Religion: „Wird eine globale Zivilisation religionslos sein?" In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 14 / 3, 2004, S. 899-924. MOLS, Manfred: Latin America and East Asia: Between Bilateralism and Interregionalism. In: Jörg Faust / Manfred Mols / Won-ho Kim (Hg.): Latin America and East Asia - Attempts at Diversification. New Patterns of Power, Interest and Cooperation. Seoul / Münster / Piscataway / N e w York: KIEP, Korea Institute for International Economic Policy, 2005, S. 197-211. MOLS, Manfred: Lateinamerika - Hinterhof der USA oder „global player"? In: Politische Studien, 57, 2006, S. 70-79. MOLS, Manfred: Das politische Lateinamerika. Profil und Entwicklungstendenzen. München: Hanns-Seidel-Stiftung, 2007. MOLS, Manfred: Zur Einfuhrung: Staat und Demokratie in Asien. In: Jörn Dosch / Manfred Mols / Rainer Ölschläger (Hg.): Staat und Demokratie in Asien. Zur politischen Transformation einer Weltregion. Berlin: LIT Verlag, 2007, S. 9-28.

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Peter Feldbauer / Christof Parnreiter

MEXIKO-STADT - VOM INDUSTRIALISIERUNGSMOTOR ZUR DIENSTLEISTUNGSMETROPOLE?

Einleitung Die Megastädte der so genannten Dritten Welt genießen keinen guten Ruf. Anders als im Fall der Metropolen des Nordens, denen heute allgemein bescheinigt wird, dass sie Motoren wirtschaftlichen Wachstums und gesellschaftlichen Wandels sind, dominiert hinsichtlich der großen Städte Lateinamerikas, Afrikas und Asiens jene skeptische bis negative Einschätzung, die im 19. Jahrhundert auch für die europäischen Städte üblich war. So beginnt beispielsweise die MegaCity-TaskForce der International Geographical Union ihre Selbstdarstellung mit den Worten: „Megacities are major global risk areas",1 und Paul Bairoch urteilt über den Verstädterungsprozess, den viele Länder der „Dritten Welt" ab den 1930er Jahren durchmachten, wie folgt: „Urbanization as it has unfolded in the Third World for nearly a half Century now has certainly not helped development. [...] the current level of urbanization in the Third World constitutes a handicap much more than an asset for economic development".2 Mehr als 50 Jahre, nachdem Bert Hoselitz vom Gegensatz zwischen der generativen und der parasitären Stadt geschrieben hat,3 lautet der Tenor vieler Studien - und mehr noch populärwissenschaftlicher Darstellungen - der Dritte-Welt-Stadt immer noch, dass, wie Rüdiger Korff pointiert zusammenfasst, „die Verstädterung die ,Soziosphäre' [ruiniert]" - so „wie FCKW die Atmosphäre und die Umweltverschmutzung die Biosphäre zerstören".4 Ohne hier auf die zweifelsohne vielfaltigen Probleme eingehen zu können, die die Entstehung von Megastädten für ihre Bewohner und die Bevölkerung der jeweiligen Staaten darstell(t)en, schließen wir uns in dem vorliegenden Aufsatz solchen Angst- und Katastrophenszenarien nicht an. Der Kern unseres Einwandes lautet, erstens, dass sie die spezifische gesellschaftliche Einbettung des Werdens von Megastädten nicht (ausreichend) berücksichtigen, dass sie also die Frage nicht stellen, wie und warum die spezifische Geographie „Megastadt" mit bestimmten historischen Prozessen - nämlich denjenigen peripherer, nachholender und abhängiger Entwicklung - zusammenhängen. Da-

2 3 4

http://www.megacities.uni-koeln.de/ (Stand 23.6.2006). P. Bairoch: Cities and Economic Development, S. 490. B. Hoselitz: Generative and Parasitic Cities. R. Korff: Die Megastadt, S. 19.

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durch kommt es zu dem irrigen Schluss, dass die Megastadt einfach ein Phänomen von Unterentwicklung sei, während sie tatsächlich das Ergebnis von Entwicklung ist - wenn auch einer peripheren, abhängigen. Zweitens übersehen die Katastrophenszenarien, dass den Megastädten heute eine wichtige Rolle innerhalb der Globalisierungsprozesse zukommt. Unser Argument lautet, dass auch Megastädte des globalen Südens - wie eben Mexiko-Stadt - ein fester Bestandteil des „World City Networks"5 sind, und damit auch Teil des räumlichen Rückgrats der Weltwirtschaft. Drittens schließlich enthalten die Megastädte nicht bloß ein großes Potential an Bedrohung, sondern auch an Hoffnung für ihre Bewohner. Eine kritische Würdigung von Städten wie Mexiko verlangt nach einer Thematisierung des Verhältnisses von Geschichte und Geographie oder, genauer gesagt, des Zusammenhangs zwischen dem Machen von Geschichte und dem Machen von Geographie. Jede Geographie hat eine Geschichte (oder mehrere), und Geschichte ist nicht nur ein zeitlicher Prozess, sondern auch ein räumlicher. Räume - und insbesondere Stadträume - werden im historischen Prozess gebaut, verändert oder zerstört, während umgekehrt Geschichte nicht einfach nur an „Tatorten" spielt, sondern erst durch die Produktion spezifischer Räumlichkeiten gemacht werden kann. Geschichte ist also zugleich Raum schaffend und räumlich gebunden, menschliches Handeln bringt bestimmte Geographien hervor, die ihrerseits auf gesellschaftliche Entwicklungen rückwirken.6 In einem solchen Verständnis der gegenseitigen Bedingtheit von Geschichte und Geographie hat Fernand Braudel argumentiert, dass die Entwicklung von Städten und Regionen und der Wandel ihres Verhältnisses zueinander zu interpretieren sei als eine „wechselnde Geographie des Profits" 7 . An Braudel sowie an die Debatten über die soziale Produktion von (städtischen) Räumen anschließend,8 argumentieren wir im ersten Teil des vorliegenden Beitrags, dass das Werden der Megastadt Mexiko als die Verräumlichung eines ganz bestimmten Abschnittes der mexikanischen Geschichte - nämlich dem der Jahrzehnte nach der Revolution - zu verstehen ist. Verräumlichung meint, dass die Stadt Mexiko - als gebaute Umwelt, aber auch als ein Universum sozialer Prozesse - einerseits das Ergebnis von Geschichte (Machen) ist, andererseits aber auch deren konkrete materielle und soziale Basis. Dabei vertreten wir, dass die hohe Konzentration von Bevölkerung sowie von wirtschaftlicher und sozialer Infrastruktur, die Mexiko-Stadt während der 5 6 7 8

Vgl. P. Taylor: World City Network. C. Pamreiter: Historische Geographien. F. Braudel: Sozialgeschichte, S. 473 f. M. Gottdiener: Social Production; H. Lefebvre: Production of Space; E. Soja: Postmodern Geographies.

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importsubstituierenden Industrialisierung erreichte, nicht die Ursache von Unterentwicklung war, wie ßairoch und andere meinen, sondern einerseits die Folge abhängiger, peripherer Entwicklung, als auch andererseits deren Bedingung. Wir meinen, dass die Stadtentwicklung im postrevolutionären Mexiko dadurch geprägt war, dass Mexiko-Stadt zum wichtigsten Raum (gemacht) wurde, durch den die Geschichte von Industrialisierung, Schaffung eines Binnenmarktes und nachholender Entwicklung geschrieben werden sollte. Zugespitzt formuliert: Das, was in Mexiko ab 1930 an wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung stattfand, wurde vor allem dadurch möglich, dass die Megastadt gebaut wurde. Es ist ja auffällig (wenn auch mit den Katastrophenszenarien nur schwer in Einklang zu bringen), dass die Zeit des so genannten „Mexikanischen Wunders", also die Jahrzehnte der importsubstituierenden Industrialisierung (ca. 1930-1980), die nicht zu Unrecht als Epoche relativ großer wirtschaftlicher, aber auch sozialer Entwicklungsfortschritte gelten, 9 zugleich die Zeit war, in der Mexiko zu einer Megastadt, ja zur größten Stadt der „Dritten Welt" wurde. 10 Im zweiten Hauptteil dieses Aufsatzes wird die Transformation von Mexiko-Stadt ab den 1980er Jahren untersucht - eine Transformation, die im Zeichen einer demographischen Dezentralisierung sowie, in wirtschaftlicher Hinsicht, einer partiellen Deindustrialisierung und einem starken Bedeutungsgewinn der gehobenen, produktionsorientierten Dienstleistungen gestanden hat. Es geht also, um es vorweg und zugespitzt zu formulieren, um die Transformation der Megastadt in eine „Global City".' 1 Unser Ansatz ist es dabei wiederum, den Zusammenhang zwischen der Stadtentwicklung und breiteren gesellschaftlichen Entwicklungsdynamiken zu erfassen, also das Verhältnis zwischen dem Machen von Geschichte und dem Machen von Geographie zu untersuchen. Dabei argumentieren wir, dass die spezifische Einbindung Mexikos in Globalisierungsprozesse eine neue Standortlogik hervorbrachte (und -bringt), die zur Produktion neuer Industriestädte vor allem im Norden des Landes einerseits, zur angesprochenen Transformation von Mexiko-Stadt andererseits führte.

9

Zwischen 1929 und 1981 ist die Wirtschaftsleistung Mexikos um 5 . 7 % im Jahresdurchschnitt gewachsen. Auch in sozialer Hinsicht sind deutliche Verbesserungen festzustellen gewesen. Fasst man die Veränderung der drei von den Vereinten Nationen als zentrale Entwicklungsindikatoren genannten Größen (Lebenserwartung, Bruttosozialprodukt pro Kopf, Schulbildung) zusammen, ergibt sich für 1980 ein mehr als drei Mal so hohes Entwicklungsniveau wie 50 Jahre zuvor; vgl. R. Thorp: Progress, Poverty and Exclusion, S. 318, 353-361.

10

United Nations: World Urbanization Prospects, Table A.l 1. Zu Begriff und Konzept vgl. S. Sassen: Global City.

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Demographische und wirtschaftliche Entwicklung von MexikoStadt, 1930er - 1980er Jahre12 Das rasche Wachstum der Bevölkerung und das damit verbundene enorme Flächenwachstum von Mexiko-Stadt setzte nach der Revolution, spätestens aber in den 1930er Jahren ein, obwohl schon die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Jahr 1930 als erste Etappe der Metropolisierung gelten darf. In drei Jahrzehnten hatte sich die Bevölkerung etwa verdreifacht, sodass um 1930 der traditionelle Stadtbereich - heute die zentralen Bezirke des Distrito Federal - die Zuwanderer aus den umliegenden Provinzen nicht mehr zu fassen vermochte. Im Gefolge des Zustroms ländlicher Unterschichten setzte jener rasante Prozess räumlicher Ausdehnung ein, der bis in die Gegenwart anhält (wenn auch seit den achtziger Jahren deutlich verlangsamt). Während die Armen vielfach in alten, zu Mietsquartieren abgesunkenen innerstädtischen Gebäuden zusammengepfercht wurden, entstanden an der westlichen und südlichen Peripherie neue Luxusviertel. Bis 1980 verfunfzehnfachte sich die Bevölkerung dann auf 13.3 Millionen - jeder fünfte Mexikaner lebte zu dieser Zeit in Mexiko-Stadt. Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten der Bevölkerung lagen zunächst bei über drei, dann bei über fünf Prozent; erst in den siebziger Jahren sollte eine leichte, in den achtziger Jahren dann eine drastische Verflachung des Bevölkerungswachstums erfolgen. Das Bevölkerungswachstum wurde zu einem guten Drittel durch Immigration gespeist; 1980 lebten rund fünf Millionen Immigranten in der Agglomeration von Mexiko-Stadt.13 Noch stärker als die Bevölkerungszunahme fiel das Flächen Wachstum von Mexiko-Stadt aus. Zwischen 1900 und 1980 erweiterte sich die Stadtfläche von 2714 ha auf 107973 ha, wobei die territoriale Expansion zunächst über die Integration alter Vororte (zum Beispiel Coyoacän) und dann als Wachstum vor allem an den nördlichen und östlichen Peripherien erfolgte.14

13

14

Wenn generell von Mexiko-Stadt die Rede ist, dann ist die gesamte Urbane Agglomeration gemeint (Zona Metropolitana de la Ciudad de México; Metropolitanzone der Stadt Mexiko). Sie beinhaltet zum einen den so genannten Distrito Federal (Bundesbezirk), der 1824 als politische Einheit und als Hauptstadt geschaffen wurde, und zum anderen jene Gemeinden des angrenzenden Bundesstaates Estado de México, die mit dem Distrito Federal zusammengewachsen sind. Die Unterscheidung zwischen Distrito Federal und Metropolitanzone wird ab etwa 1940 relevant; im Jahr 2000 machte der Distrito Federal nur mehr weniger als ein Drittel der Stadtfläche aus, auf der allerdings fast die Hälfte der Einwohner von Mexiko-Stadt lebte. Die Hauptstadt unterstand bis 1997 direkt dem Präsidenten, der einen Statthalter als Bürgermeister einsetzte. Demokratisch gewählte Bürgermeister gibt es erst in den letzten Jahren. Instituto Nacional de Estadísticas, Geografía e Informática: Estadísticas Históricas, S. 3-39; V. Partida Bush: El proceso de migración; S. 134-137; M. Negrete Salas: Dinámica demográfica, cuadro 4.3.2. G. Garza: Ámbitos de expansión territorial, cuadro 4.2.2.

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Parallel zum demographischen Wachstum expandierte auch die Wirtschaft in Mexiko-Stadt rasch: Mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von jährlich über 6 % vervierzehnfachte sich das Bruttoregionalprodukt (BRP) der Stadt zwischen 1940 und 1980, wobei vor allem auf den schnellen Industrialisierungsprozess jener Zeit zu verweisen ist. Fast die Hälfte der mexikanischen Industrialisierung fand in Mexiko-Stadt statt, wo zwischen 1930 und 1980 über 32000 Industriebetriebe angesiedelt wurden. Im Jahr 1980 arbeiteten in diesen Betrieben knapp 900 000 Arbeitskräfte. Mit einem jahresdurchschnittlichen Wachstum von 5.7% (1930-1980) ist die Industriebeschäftigung in Mexiko-Stadt deutlich schneller gewachsen als in Mexiko insgesamt (4.1 %); auf die Stadt entfielen 45 % der nationalen Beschäftigungszunahme. Noch stärker konzentriert war das Wachstum der industriellen Produktion: 1980 wurden 47.3 % der Bruttowertschöpfung in Mexiko-Stadt erzeugt - verglichen mit 27.2 % 50 Jahre zuvor. Überdurchschnittlich hoch war die Zentralisierung von Schlüsselbranchen, die mit jährlichen Wachstumsraten von zum Teil weit über 10% besonders rasch expandierten, und die 1980 zwischen der Hälfte (zum Beispiel Maschinenindustrie: 53.4%) und zwei Drittel (Chemie-, Plastik und Ölindustrie: 69.6%) der nationalen Erzeugung ausmachten. Insgesamt führte der Industrialisierungsprozess in Mexiko ähnlich wie in anderen lateinamerikanischen Staaten zur Herausbildung einer ausgeprägten ökonomischen Primatstellung der Hauptstadt. In Mexiko-Stadt wurde gegen Ende der Importsubstitution 37.7% des mexikanischen Bruttoinlandsprodukts erbracht - viermal so viel wie 1900.15

Der Zusammenhang zwischen Megastadtbildung und importsubstituierender Industrialisierung Wie kam es nun zu einer solchen Zusammenballung von Menschen und Maschinen, von Häusern und Fabriken, die die Entwicklung von Mexiko-Stadt zwischen 1930 und 1980 prägte? Aus welchen gesellschaftlichen Dynamiken heraus wurde Mexiko-Stadt so gebaut, wie es gebaut wurde? Weshalb brachte die Importsubstitution in Mexiko und anderswo die „Megastadt" hervor? Unser zentrales Argument lautet, dass die Stadt nicht einfach oder gar „natürlich" gewachsen ist, sondern, dass Mexiko-Stadt zum unumstrittenen wirtschaftlichen Zentrum des Landes gemacht wurde, was eine hohe Konzentration der Bevölkerung sowohl verlangte als auch nach sich zog. Denn die Importsubstitution hatte nicht nur einen starken „urban bias", 16 ihre Ausrichtung auf die Städte und insbesondere die großen Städte hängt unmittelbar mit dem Charakter dieser Entwicklungsstrategie zusammen. „Urban dominance"

16

G. Garza: Superconcentración, cuadro 3.3.1, cuadro 3.3.2, cuadro 3.3.3; J. Sobrino: Participación económica, cuadro 3.2.1. M. Lipton: Why Poor People Stay Poor.

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war, wie Frederic S. Weaver es ausdrückt, „a necessary condition for ISP' (Hervorhebung durch die Autoren). 17 Das Entstehen des so ungleichen Städtenetzes, die Zentralisierung der Wirtschaft und vor allem der Industrie, kann interpretiert werden als die Produktion einer spezifischen Geographie, die aus wesentlichen Merkmalen der importsubstituierenden Industrialisierung entsprang. Anders ausgedrückt: Die Megastadt ist das Ergebnis einer Raumproduktion, die aus den Merkmalen eines bestimmten historischen Abschnittes, nämlich dem der nachholenden und abhängigen Industrialisierung, entstand. Die Importsubstitution war - im Unterschied zu frühen Industrialisierungsansätzen im vorrevolutionären Mexiko, die häufig auf importierten kapitalintensiven Technologien basierten und relativ wenig Arbeitsplätze schufen - ein Wirtschaftsmodell extensiven Wachstums. Weil es Lateinamerika an Technologie auf dem neuesten Stand mangelte, musste die Industrialisierung mit einem importierten und vielfach - im Weltmaßstab - veralteten Maschinenpark aufgebaut werden, also mit relativ niedriger Produktivität. 18 Wenn aber die Ausweitung der Produktion nicht primär über Produktivitätsgewinne zu erzielen war, dann musste sie über einen steigenden Input erfolgen - vor allem von Arbeitskraft: ,,[C]apital accumulation in the cities of the underdeveloped world [...] is based on access to cheap and abundant labor". 19 Obwohl im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise die Produktionssteigerungen der mexikanischen Industrie in hohem Maß auf dem Abrufen vorhandener Überkapazitäten in den Bereichen Elektrizität, Stahl und Zement basierten, gingen zwischen 1930 und 1980 mehr als 6 0 % des Wachstums der mexikanischen Industrie auf die Vermehrung der in ihr tätigen Hände zurück. Interessant ist dabei, dass in Mexiko-Stadt der Beitrag der Produktivitätssteigerungen zur gesamten Ausweitung der industriellen Produktion geringer war als im Landesdurchschnitt, nämlich nur 28 %. 20 Anders ausgedrückt: In Mexiko-Stadt expandierte die industrielle Produktion zwar überproportional stark, diese Expansion erfolgte aber - deutlicher noch als im gesamten Land - über eine stetige Ausweitung der Beschäftigung. Dies war seit 1940 umso leichter möglich, als viele der wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Unterstützung der kleinen und mittleren Bauern und Bäuerinnen, die die Landreform unter Präsident Lázaro Cárdenas begleiteten (z.B. Vermarktungshilfen, geförderte Kredite u.ä.), unter den Präsidenten nach Cárdenas nicht (in diesem Ausmaß) fortgesetzt wurden. Dies führte dazu, dass viele der ejidatarios von dem ihnen zugeteilten Land nicht leben konnten; sie 17

18

19 20

F. Weaver: Latin America in the World Economy, S. 137 (ISI = Import Substituting Industrialization). V. Bulmer-Thomas: Economic History of Latin America, S. 228, 281; R. Villarreal: Industrialización, S. 256-259; R. Thorp: Progress, Poverty And Exclusion, S. 88. B. Roberts: Making of Citizens, S. 3. Eigene Berechnung, basierend auf G. Garza: Superconcentración, cuadro 3.3.1.

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brauchten zusätzliche Einkommen, die durch formelle und informelle Lohnarbeit in den Städten verdient wurden. Das im Dienste rascher Industrialisierungserfolge angestrebte Überangebot billiger Arbeitskraft ließ sich offenbar ohne allzu große politische Spannungen und schwere Sozialkonflikte gewährleisten und dürfte erheblich zur Attraktivität des mexikanischen Modells hauptstadtzentrierten Industrie- und Wirtschaftswachstums beigetragen haben, das bald in die Entwicklungsstrategie anderer Peripherieländer aufgenommen wurde. 21 Was bedeutet das nun für die hier gestellte Frage nach dem Entstehen der Megastadt? Wie hängen das extensive Wachstumsmodell und ein Investitionsverhalten, das dazu führte, dass Mexiko-Stadt eine starke wirtschaftliche Primatstellung ausbildete, zusammen? Große Inputs sind am leichtesten dort zu leisten, wo es bereits eine gewisse Konzentration von Arbeitskräften, Infrastruktur und Kapital gibt. Mexiko-Stadt genoss deshalb von Anbeginn der Importsubstitution an Vorteile gegenüber anderen Städten, weil es über handwerkliche und industrielle Kapazitäten verfugte, die bereits vor der Revolution aufgebaut worden waren und an die nach dem Ende der Kämpfe angeknüpft werden konnte. Obwohl diese ersten „importsubstituierenden" Industrialisierungsschritte lange vor der „eigentlichen" Importsubstitution sehr begrenzt und instabil blieben, bildeten sie dennoch eine ausreichende Basis, um die umfangreichen Industrieinvestitionen ab den dreißiger Jahren anzuziehen. 22 Mexiko-Stadt erfüllte aber auch andere wesentliche Voraussetzungen für einen Standort aufzubauender Industrien: Die Stadt beherbergte das Bankenwesen des Landes, auch wenn dieses sich noch in einem embryonalen Zustand befand, sie konzentrierte die Energiegewinnung, und sie war Knotenpunkt des (noch sehr schlecht ausgebauten) Verkehrs- und Kommunikationsnetzes. 23 Weitere Anreize, Industriebetriebe in der Hauptstadt zu gründen, lieferten die politischen Eingriffe des Staates: Er gewährte großzügig Kredite sowie direkte und indirekte Subventionierungen und Steuervorteile für Unternehmen, die sich in der Hauptstadt niederließen. 24 Kurzum: Die Bedingungen für die Akkumulation von Kapital durch Industrialisierung waren in Mexiko am ehesten in der Hauptstadt gegeben. Verlangten technologische Rückständigkeit und der extensive Charakter der Importsubstitution nach einer steigenden Zufuhr von Arbeitskräften und anderen Inputs, um die Produktion ausweiten zu können, so waren diese am leichtesten 21

22

23 24

A. Aguilera: Erfahrungen aus der Städteplanung, S. 359 f; J. Kandell: La Capital, S. 4 9 3 ff. P. Feldbauer: Mexiko und die historischen Wurzeln abhängiger Industrialisierung, S. 178-181. G. Garza: Proceso de industrialización, Kap. 11. P. Ward: Mexico City, S. 118.

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in Mexiko-Stadt zu gewährleisten. Die Folge war eine starke Konzentration der Industrieinvestitionen auf Mexiko-Stadt. Dort wurden zwischen 1930 und 1970 etwa 35% der Industrieinvestitionen getätigt.25 Die Produktion der „zentralisierten Industriestadt", das Machen der für die Importsubstitution typischen Geographie „Megastadt", erfolgte also zunächst einmal vor allem über eine Investitionspolitik, die sich auf den Aufbau eines Standortes konzentrierte. Allerdings gibt es noch weitere Gründe, die zu dieser spezifischen Raumproduktion beigetragen haben: Die Ausrichtung der Importsubstitution auf den Binnenmarkt, die sehr hohen Transportkosten, die sich aus der geringen Erschließung des Landes ergaben, und die große Bedeutung, die dem Staat im Wirtschaftsleben zukam. Der Umstand, dass die Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung vorsah, einen Binnenmarkt zu schaffen, um über eine wachsende heimische Nachfrage die Produktion in den neu geschaffenen Industrien zu stimulieren, bedeutete, dass der Erfolg der Industrialisierungsstrategie wesentlich von der heimischen Kaufkraft abhing. Dadurch wurden breite Bevölkerungsschichten in den Konsum von Industriegütern mit einbezogen, da die Oberund Mittelschicht in Mexiko zu Beginn der Importsubstitution mit einem Anteil von 1 bzw. von 15% an der Bevölkerung26 zu klein waren, als dass sie eine auf Massenkonsum basierende Wirtschaftsstrategie hätten tragen können. Für die Frage der Zentralisierung der Industrie ist dies insofern wichtig, als das Angewiesen-Sein auf breitere Bevölkerungsschichten als Käufer von Industrieprodukten jene zentralisierende Standorttendenz verstärkte, die sich aus dem extensiven Wachstumspfad ergab. Die nachholende Industrialisierung verlangte, vor allem in ihrer ersten Phase, nach hohen Skalenerträgen, weil die Unternehmen danach trachteten, angesichts der aus unzulänglichen Investitionsmitteln resultierenden veralteten Maschinenparks und geringen Produktivität, die Produktionskosten über die Herstellung großer Mengen zu senken. Diese Tendenz zur Massenerzeugung wurde noch dadurch verstärkt, dass die Importsubstitution zunächst erfolgreich war bei einfachen Konsumgütern wie Textilien, Bekleidung oder Nahrungsmittel, die typischerweise Waren für den Massenkonsum darstellen.27 Wo aber lassen sich Skalenerträge über Massenkonsum erzielen? Dort, wo die Kaufkraft und mit ihr die Nachfrage konzentriert sind. Diese Orte fanden sich in den großen Städten, allen voran in Mexiko-Stadt. Je mehr also die industrielle Massenproduktion von einfachen Konsumgütern die handwerkliche und frühindustrielle Erzeugung der Zeit vor der Importsubstitution ersetzte,

26 27

G. Garza: Superconcentración, cuadro 3.3.1. R. Hansen: Politics of Mexican Development, S. 39. R. Villarreal: Industrialización, S. 256-259.

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desto mehr Investitionen und Produktionskapazitäten wurden von den Kleinstädten und Dörfern in die Hauptstadt verlagert. Diese bot bezüglich der wichtiger werdenden Massennachfrage nicht nur den Vorteil einer größeren Menge potenzieller Konsumenten, sie wurde auch hinsichtlich der Verteilung des nationalen Einkommens (und damit der Kaufkraft) privilegiert. Die Lohnpolitik während der Importsubstitution verschob die Kaufkraft ganz gezielt in die Städte, und hier wiederum vor allem nach Mexiko-Stadt. Die Einkommensverteilung begünstigte generell die mittleren und die hohen Einkommen (1950 1968), und zwar zu Lasten der reichsten 5 (also den „alten" Eliten") sowie der ärmsten 40 (!)% der Bevölkerung. 28 Da beide Gruppen in ländlichen Räumen verankert waren, bedeutete die Forcierung der mittleren Einkommen zugleich eine Forcierung des städtischen Raumes. Zudem zeigt die Entwicklung der in der Industrie bezahlten Löhne, dass die expansive Lohnpolitik der Importsubstitution, die zur Stärkung der Massennachfrage erforderlich war, vor allem auf die Hauptstadt konzentriert war. 1940 lagen die in Mexiko-Stadt bezahlten durchschnittlichen Industrielöhne noch knapp unter dem Durchschnitt der Löhne in allen mexikanischen „Industriebezirken". In den folgenden Jahrzehnten sollte sich die Situation grundlegend wandeln: Die Löhne in der Hauptstadt wuchsen überdurchschnittlich schnell; 1980 übertrafen sie das nationale Mittel bereits um 10%. Nur in Mexicali, an der Grenze zu den USA, wurden noch höhere Industrielöhne bezahlt als im Distrito Federal. Etwas mehr als 4 5 % aller Industrielöhne, die in Mexiko ausgeschüttet wurden, fielen auf Mexiko-Stadt, während die nächstgrößten Städte, Guadalajara und Monterrey, zusammen auf nur 2 2 % kamen. 29 Diese Daten zeigen, wie über die räumlich differenzierende Lohnpolitik die für das Gelingen der Importsubstitution notwendige Ausweitung des Binnenmarktes zu einer rein städtischen Angelegenheit gemacht wurde. Dazu kam, dass, je größer die Stadt wurde, desto schneller auch die Nachfrage nach Schuhen, Hemden, Tischen und Tortillas, also den einfachen Konsumgütern, stieg. Die höchsten Skalenerträge ließen sich folglich in der größten Stadt erwirtschaften - Grund genug für viele Unternehmen, sich in Mexiko-Stadt niederzulassen. Man kann überspitzt, aber nicht wirklich übertreibend, sagen: Der nationale Binnenmarkt wurde in der Hauptstadt geschaffen. Schnell entwickelte sich daraus ein „self-reinforcing process of agglomeration" 30 : Indem Mexiko-Stadt mehr und mehr Industriebetriebe beherbergte, vergrößerte sich auch der Markt für industrielle Vor- und Zwischenprodukte. 28 29

30

E. Dussel Peters: Polarizing Mexico, S. 43. Eigene Berechnung, basierend auf Instituto Nacional de Estadísticas, Geografía y Informática: Estadísticas históricas, S. 180 f, sowie auf G. Garza: Superconcentración, cuadro 3.3.1. P. Krugman / R. Livas Elizondo: Trade Policy, S. 139.

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Durch dieses Angebot an forward linkages wurde es für Unternehmen immer lohnender, sich in der Hauptstadt anzusiedeln, auch wenn dort Löhne oder Bodenpreise über dem nationalen Durchschnitt lagen. Die Tendenz zur Zentralisierung wurde weiter verstärkt durch die wachsende Präsenz der ausländischen Großbetriebe. Als deren Niederlassungen in Mexiko ab den 1950er Jahren begannen, auch dauerhafte Konsumgüter zu erzeugen, wurde der urban bias der Importsubstitution um zwei Dimensionen erweitert. Einerseits führte die konzerninterne Auflage, nicht in dritte Länder zu exportieren, dazu, dass die multinationalen Konzerne in Mexiko ebenso auf den Binnenmarkt angewiesen waren wie die so genannten mexikanischen infant industries. Andererseits fokussierte die Produktion langlebiger Konsumgüter, auf die sich die ausländischen Firmen spezialisierten, die Nachfrage weiter auf die Hauptstadt. Um Kühlschränke, Waschmaschinen oder Autos am Binnenmarkt absetzen zu können, waren nicht mehr nur Skalenerträge erforderlich, sondern auch Schichten, die über eine höhere Kaufkraft verfügten als es für einfache Konsumgüter erforderlich gewesen war.31 Diese Schichten fanden sich vorwiegend in Mexiko-Stadt, woran die bereits erwähnte Lohnpolitik, das Fortbestehen großer gesellschaftlicher Ungleichheit und schließlich eine „Verhauptstädterung der Eliten" - worauf noch zurückzukommen ist - ihren Anteil hatten. Die Zentralisierung von Angebot und Nachfrage, von Produktion und Konsum, von Arbeits- und Absatzmarkt, die zur Schaffung des Binnenmarktes (vorwiegend) in der Hauptstadt führten, hing auch mit den schlecht entwickelten Transportmöglichkeiten zusammen. 1930, zu Beginn der Importsubstitution, existierte kein nationales Straßennetz: Ganze 541 Kilometer befestigte Straßen verbanden Mexiko-Stadt mit einigen wenigen Städten wie etwa Acapulco, Puebla, Pachuca sowie im Nordosten Monterrey mit der Grenzstadt Nuevo Laredo.32 Die Nord-Süd-Verbindungen, die bereits im 19. Jahrhundert durch den Eisenbahnbau geschaffen worden waren und die einige Orte Mexikos mit Städten in den USA verbanden, waren kaum geeignet, den Binnenmarkt zu integrieren. Diese mangelnde Erschließung des mexikanischen Territoriums für den Binnenhandel, die zu hohen Transportkosten führte, verstärkte die zentripetalen Kräfte, die sich aus den bereits erwähnten Gründen ergaben, förderte also die Konzentration der produktiven Kapazitäten in der Nähe der Märkte - und umgekehrt. Ein weiterer Grund für die auffallende Zentralisierung der Industrie in Mexiko-Stadt war die zunehmende Bedeutung, die der Staat im Wirtschaftsleben spielte. Eine der wichtigsten Veränderungen, die die Importsubstitution

V. Bulmer-Thomas: Economic History of Latin America, S. 283, 332. Instituto Nacional de Estadísticas, Geografía y Informática: Estadísticas históricas, S. 586; G. Garza: Proceso de Industrialización, S. 278.

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brachte, war die Abkehr vom Glauben an einen sich selbst regulierenden Markt und eine Hinwendung zu einer aktiven staatlichen Wirtschaftspolitik. Unterstützt von den USA, bauten Regierungen in ganz Lateinamerika ihren gestaltenden Einfluss auf die Wirtschaft aus. Der Staat wurde zum wichtigsten wirtschaftlichen Akteur, was sich in der Schaffung öffentlicher Institutionen (wie Zentral- und Entwicklungsbanken oder Entwicklungsagenturen), der Gründung von Staatsbetrieben und der Nationalisierung ausländischer Unternehmen, der Ausweitung öffentlicher Budgets, umfangreichen Investitionen in Infrastrukturprojekte (wie Straßen, Energieversorgung oder Kommunikation) sowie in das Bildungs- und Gesundheitswesen und vielfaltigen Subventionen an den privaten Sektor widerspiegelte. So wie die Importsubstitution aus ökonomischen Gründen eine räumliche Nähe von Produktion und Konsum und also die Zusammenballung von Arbeits- und Absatzmarkt in einer Stadt benötigte, so forcierte auch die wachsende politische Bedeutung des Staates und die Ballung seiner Macht in Mexiko-Stadt die Zentralisierung der Wirtschaft. Nachdem Mexiko während der Revolution in regionale Machtbereiche zerfallen war,33 erfolgte die Wiederherstellung der Staatsgewalt nach der Revolution zentriert auf MexikoStadt - und zwar gegen die ursprünglichen Absichten der bürgerlichen Revolutionäre des Nordens, die als eines ihrer Hauptziele den Kampf gegen die Dominanz der Hauptstadt ausgegeben hatten. Ein wichtiger Schritt in der Zentralisierung der politischen Macht war die 1929 erfolgte Gründung des Partido Nacional Revolucionario (PNR; Nationale Revolutionäre Partei). Als „Partei der Parteien" (Selbstdefinition) trachtete der PNR, so wie ihre Nachfolgerinnen PRM (Partido de la Revolución Mexicana; Partei der Mexikanischen Revolution) und PRI (Partido Revolucionario Institucional; Partei der institutionalisierten Revolution) danach, die unterschiedlichen politischen Strömungen sowie die gesellschaftlichen Sektoren (Bauern, Arbeiter, Militärs) zu vereinen und zu homogenisieren. Eine der Auswirkungen des Anspruchs, das gesamte Land zu repräsentieren, war, dass die Parteizentrale für Jahrzehnte zum wichtigsten politischen Entscheidungszentrum Mexikos gemacht wurde. Damit veränderte sich auch die politische Elite des Landes: Revolutionsveteranen aus der Provinz wurden ab den dreißiger Jahren abgelöst von städtischen Technokraten, die zunächst die mittleren und bald schon die obersten Ämter in Partei und Staat besetzten. Künftig sollte kein Weg zu politischer Einflussnahme mehr am Sitz der „Staatspartei" vorbeifuhren, wodurch der Distrito Federal für Jahrzehnte zur alleinigen Bühne der Machtergreifung und -ausübung geworden war.34

33

34

H.W. Tobler: Die mexikanische Revolution, S. 95, 415; J. Kandell: La Capital, S. 3 5 4 357. J. Kandell: La Capital, S. 4 8 6 f.

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Die Konzentration politischer Macht erfuhr unter dem linkspopulistischen Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-1940) eine deutliche Steigerung. Unter seiner Regentschaft entstand der für lateinamerikanische Verhältnisse sehr integrationsfahige, starke und zentralistische Staat. Zudem wurden unter Cárdenas Partei und Staat aufs Engste miteinander verwoben, und sie erhielten äußerst zentralistische Strukturen.35 Diese Kombination aus Stärke und Zentralismus der politischen Institutionen ermöglichte es Mexiko-Stadt, seine ererbte politische Vorherrschaft gegenüber den nördlichen Bundesstaaten weiter auszubauen. Beispielhaft dafür ist die Rolle, welche die juridische Fakultät der staatlichen Universität UNAM (Universidad Nacional Autónoma de México) als politische Kaderschmiede übernahm. So waren 40 der 107 höchsten Funktionärsposten in der Regierung von Miguel Alemán (19461952) mit ehemaligen Studenten oder Professoren der juridischen Fakultät besetzt, die bis in die achtziger Jahre die „Wiege der Politiker" bleiben sollte. Der Distrito Federal war damit mehr denn je zum Sammelbecken aller Ehrgeizigen geworden: „Flocking to the metropolis for law degrees which became their passports into the high bureaucracy, this new generation of politicians made the city their permanent residence, the locus of their entire careers, and the prism that refracted their visión of the rest of the country".36 Erst in den siebziger Jahren begann das Bündnis zwischen politischer Elite und Unternehmerschaft brüchig zu werden, was zu einem Erstarken des rechtskonservativen Partido de Acción Nacional (PAN) und zu einem Einflussgewinn der Unternehmer des Nordens führte.37 In der Regierung von Carlos Salinas de Gortari (1988-1994) waren Schlüsselpositionen dann mit Ökonomen besetzt, die an Kaderuniversitäten in den USA ausgebildet worden waren. Der Autoritätsgewinn des Staates und sein steigender Handlungsspielraum in der Zeit der Importsubstitution forcierte also die politische Macht der Hauptstadt. Diese wurde dadurch aber nicht nur politisch aufgewertet, sondern auch wirtschaftlich, und zwar direkt und indirekt. Direkt, weil ein Gutteil der öffentlichen Investitionen dort getätigt wurde - beispielsweise erhielt MexikoStadt Ende der sechziger Jahre 51.5% aller staatlichen Investitionen. Das überproportional hohe Ausmaß der öffentlichen Investitionen ließ auch die Gewinne höher ausfallen als in anderen Städten, was Antrieb für weitere Industrien war, sich in Mexiko-Stadt anzusiedeln.38 Auch die rasche Ausweitung der Beschäftigung im öffentlichen Sektor, die mit dem Ausbau der staatlichen Administration sowie eines leistungsfähigen Bildungs- und Gesundheitswesen einherging, erhöhte die Dominanz von Mexiko-Stadt. 35 36 37 38

H.W. Tobler: Die mexikanische Revolution, S. 595-599. J. Kandell: La Capital, S. 487. A. Salas-Porras: ¿Hacia un nuevo mecenazgo político? G. Garza / S. Rivera: Dinámica Macroeconómica, S. 4; G. Garza: Proceso de Industrialización, Kap. 6.

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Indirekt stärkte der wachsende Staatseinfluss die Hauptstadt, weil er es den privaten Unternehmen opportun erscheinen ließ, sich in der Nähe der Entscheidungsträger und des politisch-administrativen Apparates anzusiedeln. Dies führte zu einer „Verhauptstädterung der Eliten", die vor allem informelle Gründe hatte. Funktionäre des Staates trafen alle wichtigen Entscheidungen in der Wirtschaft - sie legten den Wechselkurs und die Zolltarife für den Import ebenso fest wie die Löhne, sie entschieden über Infrastrukturinvestitionen und die Preise von Zwischengütern aus Staatsbetrieben, und sie vergaben Subventionen. Vielfaltig waren da die Wünsche der privaten Unternehmen an den Staat, umkämpft die Ressourcen. „As a consequence, managers are engaged in a constant dialogue with the government", beschrieb Alan Gilbert die Praxis jener Zeit.39 Dieser Dialog enthielt Praktiken, die sich wesentlich leichter oder ausschließlich - bewerkstelligen ließen, wenn man vor Ort war: ein Geschäftsessen hier, eine Intervention dort, vielleicht auch einmal ein Geldkuvert oder eine Drohung hinter vorgehaltener Hand. So war der wachsende Staatseinfluss nicht nur verbunden mit einer immer engeren Verquickung von öffentlicher Hand und privaten Wirtschaftsinteressen, sondern auch mit einer räumlichen Verlagerung der Macht. Denn ihren räumlichen Ausdruck fand diese Verquickung in Mexiko-Stadt: „[AJccess to the government machinery is a much quoted rationale of industrial location in Third World countries".40 Die Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht in Mexiko-Stadt wurde ergänzt durch ein Klassenbündnis, das nach Ansicht von Dieter Boris das Geheimnis der großen Stabilität der Importsubstitution war. Die Koalition zwischen industriellen Kapitaleignern, den städtischen Mittelschichten, Arbeitern in den neuen Industrien und Funktionären des Staatsapparats drängte die traditionellen Eliten, die mit der alten Export-/ Importwirtschaft und dem Primärsektor verbundenen waren, in den Hintergrund.41 Das neue Klassenbündnis war aber nicht nur städtisch, es war dezidiert hauptstädtisch: Die Politik der Importsubstitution entwertete die Standorte der alten Oligarchien, die oftmals im Norden des Landes gelegen waren, zu Gunsten des Distrito Federal. Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Zentralisierung der Wirtschaft im Allgemeinen und der Industrie im Speziellen mit der Importsubstitution insofern zusammenhingen, als deren extensiver Charakter, die Ausrichtung der Produktion auf den Binnenmarkt und die enge Verquickung von Staat, Staatspartei und Unternehmern die Konzentrierung der Investitionen in der Hauptstadt geboten. Wenn also mit dem Begriff „Megastadt" unter anderem die Zentralisierung der Wirtschaft in der Hauptstadt gemeint ist,

39

A. Gilbert: Urban Agglomeration and Regional Disparities, S. 56.

40

Ebd

41

D. Boris: Zur Politischen Ökonomie Lateinamerikas, S. 1 1 , 5 1 .

'

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dann ist die Megastadt nicht einfach ein Phänomen von Unterentwicklung, sondern vielmehr das Ergebnis von Entwicklung - wenn auch einer peripheren, abhängigen. Anders ausgedrückt: Die Geographie Mexikos am Ende der Importsubstitution, die dominiert war von einer großen städtischen Agglomeration, entsprang den Möglichkeiten und Zwängen einer bestimmten historischen Epoche, der Importsubstitution.

Demographische und wirtschaftliche Entwicklung von MexikoStadt, 1980-2005 Die 1980er Jahre brachten Mexiko-Stadt traumatische Ereignisse und radikale Umbrüche. Am 20. August 1982 musste die mexikanische Regierung ankündigen, dass sie die Schulden des Landes nicht wie vereinbart tilgen könne die Schuldenkrise der „Dritten Welt" war aus- und die Importsubstitution zusammengebrochen. Nur drei Jahre später, in den Morgenstunden des 19. September 1985, erschütterte ein heftiges Erdbeben Mexiko-Stadt, das Tausende Menschen das Leben kostete. Neben Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden zerstörte das Beben aber auch das Bild von Mexiko-Stadt als urbane Zukunftsverheißung für die „Dritte Welt". Drei Jahre nachdem die Schuldenkrise das mexikanische „Wirtschaftswunder" beendet und Mexiko auf den Boden der Realität eines peripheren Landes zurückgeholt hatte, ging an jenem Donnerstag auch das Image von Mexiko-Stadt in Brüche. Über Nacht war aus der „seemingly modern metropolis that preserved its autochthonous character" ein „urban planner's nightmare"42 geworden, und der Diskurs über die Stadt sollte fortan vor allem ein Thema kennen: „zu viele Menschen".43 Dabei verlangsamte sich das demographische Wachstum von MexikoStadt in den achtziger Jahren gegenüber den Jahrzehnten der Importsubstitution deutlich. Betrug es in den sechziger 5.3 % und in den siebziger Jahren noch 4.3 % jährlich, so ist es in den achtziger Jahren auf 1.2 % zurückgegangen. Von 1990 bis 2000 war zwar wieder ein leichter Anstieg zu verzeichnen gewesen (auf 1.8%), dennoch fiel das Bevölkerungswachstum viel geringer aus als prophezeit worden war. Verantwortlich dafür war vor allem, dass die Stadt seit den achtziger Jahren kein Zuwanderungszentrum mehr war, sond e r n - im Gegenteil - zu einem Nettoabwanderungsgebiet wurde. War der Beitrag der Zuwanderung zum demographischen Wachstum zwischen 1980 und 1990 deutlich negativ (-0.9% Prozent), so hat sich dieser Trend seitdem in etwas abgeschwächter Form fortgesetzt.44 Das Flächenwachstum blieb allerdings ungebremst: Von 1980 bis 2000 nahm die zur Agglomeration von 42 43 44

J. Kandel!: La Capital, S. 517, 528. C. Monsiváis: Post-apokalyptische Stadt, S. 4 f. M. Negrete Salas: Dinámica demográfica, cuadro 4.3.2; Consejo Nacional de Población: Escenarios demográficos, S. 23.

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Mexiko-Stadt zählende Fläche um 43% auf 154710 ha zu.45 Verglichen mit 1980 zählten im Jahr 2000 15 zusätzliche Gemeinden (municipios) des Estado de México zu Mexiko-Stadt, die sich hauptsächlich im Norden des Distrito Federal, aber auch im Osten der Stadt fanden. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht hat sich die Position von Mexiko-Stadt seit 1980 verändert. Die Stadt hat Anteile sowohl am mexikanischen BIP als auch an der Beschäftigung verloren, wobei die stärksten Verluste einerseits in die frühen achtziger Jahre fielen und andererseits vor allem die Industrie betrafen. Wurden 1980 noch 37.7% der mexikanischen Wirtschaftsleistung in Mexiko-Stadt erbracht, so waren es sechs Jahre später nur mehr 29.3 %. Danach dauerte der Rückgang zwar an, verlangsamte sich aber spürbar: Ende der achtziger Jahre wurden 28.2 % der mexikanischen Wirtschaftsleistung in Mexiko-Stadt erbracht, im Jahr 2004 dann 26.9 %. Das bedeutete, dass der Anteil von Mexiko-Stadt an der gesamten mexikanischen Produktion seit dem Ende der Importsubstitution von mehr als einem Drittel auf knapp über ein Viertel sank. Am stärksten waren, wie erwähnt, die Anteilsverluste an der nationalen Produktion in der Industrie - der Beitrag von Mexiko-Stadt zur mexikanischen Industrieerzeugung ging zwischen 1980 und 2004 von 47.1% auf 31.9% zurück.46 Bemerkenswert ist, dass innerhalb der Industrie die Schlüsselbranchen, die zugleich die wichtigsten Industriesparten in Mexiko-Stadt darstellten, am härtesten getroffen wurden: Der Anteil der Maschinen- und Metallindustrie sank von 53.4% auf 29.9%, der der Chemie-, Plastik und Ölindustrie von 69.6% auf 30% (1980-1998). Wesentlich besser erging es dem drittgrößten Industriezweig, der Nahrungsmittelindustrie: Ihr Anteil an der nationalen Produktion sank nur von 31.3 % auf 27.6 %.47 Mexiko-Stadt verlor seit 1980 aber nicht nur bezüglich der Produktion Terrain, auch seine Beteiligung an der nationalen Beschäftigung war rückläufig. Genaue Angaben dazu sind allerdings schwierig zu machen, weil die einzelnen Erhebungen des mexikanischen Statistikinstituts INEGI zum Teil erheblich voneinander abweichen.48 Der Trend ist aber eindeutig zu erkennen: 45 46

47 48

G. Garza: Ámbitos de expansión territorial, cuadro 4.2.2. J. Sobrino: Participación económica, cuadro 3.2.2; C. Parnreiter: Historische Geographien, Kap. 5. G. Garza: Superconcentración, cuadro 3.3.3. Gemeint sind der Zensus (Censo General de Población y Vivienda), der ökonomische Zensus (Censos Económicos) und die Encuesta Nacional del Empleo Urbano (ENEU: Nationale Umfrage zur Beschäftigung in Städten). Die Unterschiede ergeben sich einerseits aus unterschiedlichen Erhebungsmethoden: Während im Zensus Daten für ganz Mexiko erhoben werden, ist die ENEU eine Umfrage zur Beschäftigung in Städten, deren Ergebnisse dann vom INEGI hochgerechnet werden. Dazu kommt, dass beim Erdbeben Zensusdaten verloren gegangen sind. Außerdem wird die ENEU erst seit 1987 durchgeführt; die Zahl der Städte, in denen die Befragung durchgeführt worden ist, ist

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Peter Feldbauer / Christof Parnreiter

Alle verfügbaren Daten zeigen erstens, dass Mexiko-Stadt seit dem Ende der Importsubstitution relativ zur nationalen Gesamtbeschäftigung Anteile einbüsste, zweitens, dass der Großteil der Verluste in die erste Hälfte der achtziger Jahre fiel - allein zwischen 1983 und 1988 schrumpfte die Gesamtzahl der im Industriesektor Beschäftigten um fast ein Viertel - und, drittens, dass im Bereich der Industrie (und hier wiederum vor allem in den modernen Branchen) die Verluste am stärksten ausfielen.49 Dass sich der Anteilsrückgang von Mexiko-Stadt an der nationalen Produktion und Beschäftigung seit Beginn der neunziger Jahre verlangsamte, weist darauf hin, dass sich die städtische Ökonomie zu erholen begann. Von 1990 an wuchsen alle Sektoren, insgesamt betrug das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum von Mexiko-Stadt 2.4% (1990-2004). Getragen war das Wirtschaftswachstum vor allem vom Dienstleistungssektor - der Handel expandierte um 2.5 % im Jahresdurchschnitt, die sozialen, kommunalen und persönlichen Dienste sowie die Finanz-, Versicherungs- und Immobiliendienste um jeweils 2.6%. Die wirtschaftliche Stabilisierung von MexikoStadt in den neunziger Jahren schlug sich auch in einer Zunahme der Beschäftigung nieder, die etwa im gleichen Rhythmus wuchs wie das BRP der Stadt. Getragen war die Zunahme der Beschäftigung vom Dienstleistungssektor: Vier von fünf neuen Jobs entstanden dort. Die Industrie, die über Jahrzehnte als Wachstumsmotor für den städtischen Arbeitsmarkt diente, kam nur auf rund 10% des gesamten Beschäftigungszuwachses.50 Die dargestellten Entwicklungstendenzen der städtischen Wirtschaft und am Arbeitsmarkt zeigen, dass Mexiko-Stadt in den achtziger und neunziger Jahren einen tief greifenden Wandel seiner sozioökonomischen Struktur durchliefen. Industrie sowie Handel und Gastgewerbe büssten Anteile an der Urbanen Ökonomie ein, während die kommunalen, sozialen und persönlichen Dienstleistungen einerseits, die Finanz-, Versicherungs- und Immobiliendienste andererseits ihre Bedeutung erhöhten, wobei bei den gehobenen Produktionsdiensten die Anteilssteigerung mit einem Plus von 55.8% (19801998) besonders markant ausfiel. Die Folge war, dass sich die Gewichtung der einzelnen Wirtschaftssektoren seit 1980 verschob: 1998 dominierten die kommunalen, sozialen und persönlichen Dienstleistungen die Wirtschaft von Mexiko-Stadt ganz deutlich (35.8% des BRP), die Industrie, der Handel und das

49 50

seit damals kontinuierlich gestiegen: 1987 bildeten 16 Städte die von der ENEU ausgewiesene gesamte Urbane Beschäftigung, ab 1992 32 Städte, bis 2003 kamen weitere 16 Städte dazu. Diese schrittweise Erweiterung der von der ENEU erfassten Städte erschwert einen historischen Längsschnitt - die 16er-Gruppe von 1987 macht nämlich nur 75 % der Beschäftigung der 48 Städte von 2003 aus. 2003 wurde die ENEU eingestellt. C. Parnreiter: Historische Geographien, Kap. 5. Ebd.

Mexiko-Stadt

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Gastgewerbe sowie die Finanz-, Versicherungs- und Immobiliendienste folgten mit großem Abstand, aber schon relativ nahe beieinander liegend.51

Die Dezentralisierung des Städtenetzes in Mexiko Dass die Konzentration von Bevölkerung und Wirtschaftsleistung in MexikoStadt seit 1980 abgenommen hat, hat einerseits mit dem verlangsamten demographischen Wachstum und der wirtschaftlichen Krise dieser Stadt zusammengehangen, andererseits damit, dass andere Städte - vor allem im Norden des Landes - ein wesentlich dynamischeres Wachstum durchgemacht haben als Mexiko-Stadt. Abbildung 1: Auf- und absteigende mexikanische Städte nach BRP, 1985-2004

A,

Sehr gioteaadt, starkes Wachstum des BRPs

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GrofeStadt.s'arkBS Wachstum des BRPs

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schwaches Wae ha um d e BRPs Mmelgiofte Stadt Fi or lo mismo, más capaz de verdadera fraternidad y de visión realmente universal." 2

Vasconcelos' antikolonialistischer Humanismus ordnete die Menschheitsgeschichte um das Zentrum des lateinischen Amerika an: „Las grandes civili50 51 52

Vgl. A. Knight: Racism, Revolution, and Indigenismo, S. 74. Zitiert nach: D. Brading: Manuel Gamio and Official Indigenismo in Mexico, S. 84. J. Vasconcelos: La raza cósmica, S. 30.

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zaciones se iniciaron entre trópicos y la civilización final volverá al trópico."53 Das südliche Amerika, mit dem Vasconcelos auch den mythischen Ursprungskontinent von Atlantis assoziierte, auf dem er die menschliche Zivilisation ihren Ausgang nehmen ließ - „A medida que las investigaciones progresan, se afirma la hipótesis de la Atlántida, como cuna de una civilización que hace millares de años floreció en el continente desaparecido y en parte de lo que es hoy América."54 - , besaß die besten Voraussetzungen als Heimat der „fünften Rasse" und damit für einen Weg in die Zukunft, der sich nicht am Modell der europäischen beziehungsweise US-amerikanischen, weißen Gesellschaften ausrichtete. „Precisamente, en las diferencias encontramos el camino; si no más imitamos, perdemos; si descubrimos, si creamos, triunfaremos. La ventaja de nuestra tradición es que posee mayor facilidad de simpatía con los extraños. Esto implica que nuestra civilización, con todos su defectos,^rnede ser la elegida para asimilar y convertir a un nuevo tipo a todos los hombres." 5

Ihre historische Legitimation bezog diese Vision nicht zuletzt aus der Kontrastierung eines iberischen Erbes ethnischer Offenheit im Süden mit einer praktizierten rassischen Segregation im angelsächsischen Norden. Die spanische Kolonialherrschaft habe den mestizaje eingeleitet, während die Engländer sich höchstens mit anderen Weißen vermischt und die Indigenen, so Vasconcelos, exterminiert hätten. Vasconcelos - der als Rektor der Universidad Nacional in den frühen zwanziger Jahren der Hochschule, die später in Universidad Nacional Autónoma de México umbenannt und zur größten Universität Lateinamerikas wurde, ihr bis heute gültiges Motto „Por mi raza hablará el espíritu" gab verstand die Mestizisierung zweifellos in erster Linie als kulturellen Prozess. Sein Plädoyer für die Rassenmischung, seine Idealisierung des Mestizen in den Kategorien zeitgenössischer Rassendiskurse waren jedoch keineswegs frei von rassistischen Konventionen. Die kulturelle Erhöhung durch die Mestizisierung erklärte er, neben Rückgriffen auf die - von ihm offensichtlich nur teilweise verstandene - Mendelsche Vererbungslehre, insbesondere auch mit Anleihen bei der Eugenik. Zwar schrieb Vasconcelos, dass sich keine Rasse als Modell über die übrigen stellen könne. Und er sah eine „eugénica misteriosa del gusto estético" sich gegenüber der von ihm so genannten „wissenschaftlichen Eugenik" durchsetzen.56 Zugleich stand für ihn jedoch auch fest, dass

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Ebd., S. 32. Ebd., S. 13. Ebd., S. 26. Ebd., S. 41. „Donde manda la pasión iluminada no es menester ningún correctivo. Los muy feos no procrearán, no desearán procrear, ¿qué importa entonces que todas las

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nicht alle Rassen in gleichem Maße zur raza cósmica beizutragen hatten. Wenn V a s c o n c e l o s von „Rassen" sprach, s o war damit auch die Idee einer Hierarchie verbunden - w o b e i durchaus äußere Merkmale mit kulturellen Anlagen in B e z u g gesetzt werden konnten. Bestimmte Rassen wurden daher durch die Mischung deutlich mehr erhöht als andere. „Los tipos bajos de la especie serán absorbidos por el tipo superior. De esta suerte podría redimirse, por ejemplo, el negro, y poco a poco, por extinción voluntaria, las estirpes más feas irán cediendo el paso a las más hermosas. Las razas inferiores, al educarse, se harían menos prolíficas, y los mejores especímenes irán ascendiendo en una escala de mejoramiento étnico, cuyo tipo máximo no es precisamente el blanco, sino esa nueva raza, a la que el mismo blanco tendrá que aspirar con el objeto de conquistar la síntesis. El indio, por medio del injerto de la raza afín, daría el salto de los millares de arios que median de la Atlántide a nuestra época, y en unas cuantas décadas de eugenesia estética podría desaparecer el negro junto con los tipos que el libre instinto de hermosura vaya señalando como fundamentalmente recesivos e indignos, por lo mismo, de perpetuación. Se operaría en esta forma una selección por el gusto, mucho más eficaz que la brutal selección darwiniana, (jue sólo es válida, si acaso, para las especies inferiores, pero ya no para el hombre." D i e „fünfte Rasse" - die weniger eine nationale als eine subkontinentale Identitätsvision war 5 8 - war antikolonialistisch, sie war aber nichtsdestoweniger okzidental. „Quizás entre todos los caracteres de la quinta raza predominen los caracteres del blanco, pero tal supremacía debe ser el fruto de elección libre del gusto y no resultado de la violencia o de la presión económica. Los caracteres superiores de la cultura y de la naturaleza tendrán que triunfar, pero ese triunfo sólo será firme si se funda en la aceptación voluntaria de la conciencia y en la elección libre de la fantasía." 59 D i e vasconcelistische Verteidigung des Mestizentums basierte auf hispanistischen Prämissen. Im Gegensatz z u m angelsächsischen Vorurteil, das nach der Reinerhaltung der eigenen Rasse strebe, konstruierte V a s c o n c e l o s eine

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razas se mezclen si la fealdad no encontrará cuna? La pobreza, la educación defectuosa, la escasez de tipos bellos, la miseria que vuelve a la gente fea, todas estas calamidades desaparecerán del estado social futuro." Ebd. Ebd., S. 42-43. Vasconcelos bestimmte die Amazonas-Region als geographische Kernzone der Heimat dieser „fünften Rasse". Patriotismus war für den Intellektuellen, dessen Prestige im lateinamerikanischen Ausland größer gewesen sein dürfte als in Mexiko selbst, nicht zuletzt mit der Idee von Beschränkung verbunden. Ebd., S. 36.

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historisch überlegene iberische Tradition der Offenheit gegenüber der Vermischung mit anderen Rassen.60 In der Mestizisierung, die in der spanischen conquista ihren Ausgang nahm, erkannte er vor allem eine „abundancia de amor" und das historische Mandat der Einleitung eines neuen Zeitalters, desjenigen des „mundo Uno".61 Zugleich diente die kulturelle Distanz, die Vasconcelos zwischen die - von ihm ebenfalls auf dem amerikanischen Kontinent angesiedelte - menschliche Urzivilisation und die Gesellschaften der Inka oder der Azteken legte, zweifellos auch der mythisierenden Überhöhung ersterer, brachte jedoch vor allem zum Ausdruck, dass Vasconcelos die zivilisatorischen Leistungen der vorspanischen Völker auf einem verhältnismäßig tiefen Kulturniveau ansiedelte. „La raza que hemos convenido en llamar atlántida prosperó y decayó en América. Después de un extraordinario florecimiento, tras de cumplir su ciclo, terminada su misión particular, entró en silencio y fue decayendo hasta quedar reducida a los menguados Imperios azteca e inca, indignos totalmente de la antigua y superior cultura." 6 2

Die indigenen Völker hatten demnach nicht einmal eine wirkliche hochkulturelle Vergangenheit aufzuweisen. Als Teile der zeitgenössischen lateinamerikanischen Gesellschaften wurden sie von Vasconcelos ohnehin als kulturell unterlegen betrachtet - „the weakness of the pure Indian movement lies of course in the fact that the Indian has no civilized Standards upon which to fall back."63 Zusammen mit den Schwarzen und den Asiaten gehörten die Indigenen im Gegensatz zu den Spaniern der „lower [...] breed" an, die in der von Vasconcelos propagierten spirituellen Eugenik des Mestizisierungsprozesses zivilisatorisch erhöht und dadurch auch an einem weiteren unkontrollierten Wachstum gehindert werden sollten.64

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„There is nothing left for us to do, but to follow the Spanish tradition of eliminating the prejudice of color, the prejudice of race in all of our social procedures." J. Vasconcelos: The Latin-American Basis of Mexican Civilization, S. 89. J. Vasconcelos: La raza cósmica, S. 26-27. Ebd.,S. 15-16. J. Vasconcelos: The Latin-American Basis of Mexican Civilization, S. 90. „The Spanish civilization is perduring today in America, not on account of the pure descendants of the conqueror but because of the mixed race and the Indian race that were educated and assimilated by the Spaniard. [...] When, on the contrary, the dominating race stands apart and takes no interest in the life of the inferior, the inferior tends instinctively to increase its numbers in order to compensate through numbers what the dominating race achieves through quality. The more civilized a nation is, the more it reduces its reproduction, the tendency being to obtain an advantage in quality. But the lower, opposed breed, having no control, no hope, goes on multiplying madly; and the weight and the curse of this overpopulation is just as harmful to the elect as it is to the less fortunate. If we are ever going to stop this misery, it is necessary that the superior

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Der gleichsam „wissenschaftliche rassistische Anti-Rassismus"65 von Vasconcelos prägte - von einem hispanistischen Standpunkt aus - einen postrevolutionären mexikanischen Mestizisierungsdiskurs mit, der sich nach wie vor des Rassebegriffs bediente und so die Konnotation eines biologischen Prozesses mit dem Konzept eines kulturellen Wandels verband. Wie anderswo in Lateinamerika wies die große Mehrheit der mexikanischen Intellektuellen und Politiker Vorstellungen eines biologischen Determinismus mindestens öffentlich zurück, ohne dabei aber auch den Begriff zu verwerfen.66 Der von der Revolution mit neuen Impulsen und neuen Orientierungen versehene Mestizisierungsdiskurs war ideologisch kein einheitlicher. Dies verdeutlichten gerade auch die Positionen von Vasconcelos und Gamio - nicht nur im Gegensatz zwischen dem prägenden Einfluss des Katholizismus auf das Denken des einen und der Tradition des antiklerikalen Liberalismus, in der der andere seine Haltung formulierte. Auch wenn Vasconcelos klar am nationalistischen Konsens der Einwurzelung der mexikanischen Identität in der präcortesianischen Geschichte beteiligt war, so maß seine Argumentation in ihren hispanistischen Voraussetzungen den vorspanischen Völkern und damit dem indigenen Bevölkerungsteil einen vergleichsweise geringen kulturellen Stellenwert im Mestizentum bei. Gamio sah sich demgegenüber in seiner Archäologie und angewandte Anthropologie verbindenden Tätigkeit in den frühen zwanziger Jahren in Teotihuacán eine alte Hochkultur rekonstruieren. In der dazu verfassten Studie arbeitete er weiter die bereits in Forjando patria vorgestellten historischen Kontinuitätslinien von den vorspanischen Völkern zu den zeitgenössischen indígenas heraus. Der Mestizisierungsdiskurs war indessen auch kein theoretisch einheitlicher. Beide um die wissenschaftliche Fundierung des Mestizisierungsprojekts bemüht, suchte Vasconcelos zuvorderst über die Umdeutung gängiger europäischer Erklärungsmuster der Rassenmischung, Gamio hingegen insbesondere unter Einbezug der neuen Ansätze, die die Boas'sche Kulturanthropologie zur Verfugung stellte, den Mestizen im Zentrum der mexikanischen beziehungsweise lateinamerikanischen Entwicklung anzusiedeln. Der Mestizisierungsdiskurs in Mexiko stand in den ersten Jahrzehnten nach der Revolution in einem Spannungsfeld unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze. Kulturrelativistische Positionen begannen ältere theoretische Ausrichtungen, namentlich den Evolutionismus, herauszufordern. Das erneuerte

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take pains to educate the inferior and to raise its standard. If we do not wish to be overwhelmed by the wave of the Negro, of the Indian, or of the Asiatic, we shall have to see that the Negro, the Indian, and the Asiatic are raised to the higher standards of life, where reproduction becomes regulated and quality predominates over numbers." Ebd., S. 100-101. M. Tenorio: A Tropical Cuauhtemoc, S. 117. Für Peru vgl. M. de la Cadena: Indigenous Mestizos, S. 19.

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Fortschrittsdenken der Revolution musste indessen gerade auch wieder evolutionistische Grundannahmen der Geschichtsdeutung stärken - und damit geistige Kontinuitäten aus dem Porfiriat. Auch darin ist ein Grund zu sehen, weshalb der Rassebegriff anhaltend Verwendung fand in der Diskussion über einen Wandel, der in allererster Linie als kultureller und sozialer gedacht wurde.

Sphären des Wandels Dem Nationalismus in Asien und Afrika ist zugeschrieben worden, dass er im antikolonialistischen Kampf die soziale Welt in zwei Wirkungsbereiche aufgeteilt habe: in einen „äußeren", materiellen und in einen „inneren", geistigen. Ersterer umfasste dabei die Wirtschaft und die Staatskunst, aber auch die Wissenschaft und die Technologie, und er galt als Domäne des „Westens", der auf diesen Gebieten seine Überlegenheit unter Beweis gestellt habe, weshalb auch die nationalistischen Positionen für den Nachvollzug der diesbezüglichen Entwicklungen eintraten. Der Bereich der geistig-kulturellen Entwicklung wurde demgegenüber zur eigenen Domäne erklärt. Damit wurde ein Bereich der Souveränität geschaffen, der Selbstbehauptung und Distinktion in der Modernisierung ermöglichte.67 In Lateinamerika, so ließe sich demgegenüber argumentieren, war eine solche Trennung kaum möglich, nicht zuletzt angesichts der kolonialen und postkolonialen Mestizisierungsprozesse, des dominierenden kreolischen Charakters der Unabhängigkeitsbewegungen und der unter den weißen und später auch den mestizischen Eliten nach der Unabhängigkeit weit verbreiteten Geringschätzung der indigenen Kulturen. Die gesellschaftliche Sphäre des Autochthonen habe sich, so ist angeführt worden, unter diesen Voraussetzungen für einen kulturellen Gegenentwurf nicht geeignet, die nationalen Identitätsentwürfe seien eng an eine „westliche" Moderne gebunden gewesen.68 Im mexikanischen Fall tendiert das Argument allerdings dazu, zum einen die Bedeutung der von mestizischen und indigenen Bevölkerungsteilen getragenen - und den weißen konservativen Kräften innerhalb des Unabhängigkeitsprozesses schließlich unterlegenen - Volksbewegung für die politische Kultur des Landes und zum anderen auch den Rekurs des kreolischen Patriotismus auf die präcortesianische Geschichte zu unterschätzen. Auch in den lateinamerikanischen Debatten über die Moderne wurde die sozioökonomische von der kulturellen Sphäre getrennt. Und auch hier war der Bruch insbesondere durch den Willen zur partiellen Abgrenzung von einer europäisch-US-amerikanisch geprägten Moderne motiviert, deren universeller

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P. Chatterjee: The Nation and Its Fragments, S. 6. C.J. Alonso: The Burden of Modernity, S. 35.

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Anspruch nicht zuletzt als hegemonialer wahrgenommen wurde. In Mexiko musste der Bruch durch den Mestizen hindurch verlaufen. Leitbegriff des mexikanischen Indigenismus in den zwanziger und dreißiger Jahren war die „Inkorporation". Er bezeichnete einen weitgehend einseitigen Prozess, durch den die indigene Bevölkerung in eine homogene nationale mestizische Gesellschaft überfuhrt werden sollte. Sah der (post-)revolutionäre Indigenismus zur Überwindung der festgestellten Rückständigkeit der indigenen Gruppen einen gelenkten Kulturwandel vor, an dessen Ende die Auflösung indigener Existenzformen stand, so betonte der kulturelle Nationalismus gleichzeitig die Bedeutung des indigenen Beitrags zur mexikanischen Nationalität mit einer neuen Nachdrücklichkeit. Bei seinem, auch von den Boas'sehen Positionen beeinflussten Unterfangen, die indigenen Kulturen von eurozentrischen Beurteilungsmaßstäben zu befreien, ging Gamio von einem Kulturbegriff aus, der dichotomisch materielle von geistigen Elementen trennte. Seine kulturrelativistische Kritik beschränkte sich auf letztere und zielte auf die Universalisierung okzidentaler Maßstäbe der Kunstbetrachtung ab.69 Es war der Bereich der Kunst, in dem die indigenistischen Instanzen potenzielle indigene Beiträge zu einer mestizischen Nationalkultur verorteten und auf den die in den zwanziger Jahren betriebene Aufwertung der indigenen Kulturen weitgehend limitiert blieb. Mexiko sollte, so Gamio, das Bewusstsein einer eigenen Ästhetik erlangen. Suchten die mexikanischen Eliten die kulturelle Moderne des Landes auch mit einer bis in die vorspanische Geschichte zurückreichenden Tradition zu vereinigen und so nationale Eigenart zu begründen, so gaben in der sozioökonomischen Entwicklung nach wie vor die US-amerikanische und die europäischen Gesellschaften die Leitbilder vor. Entsprechend blieb auch die materielle Kultur der indigenen Völker der Beurteilung durch evolutionistische Modelle unterworfen. Die Bedeutung der indigenen Bevölkerungsteile für die soziale und wirtschaftliche Modernisierung des Landes wurde in erster Linie in der Erhöhung der Zahl der Produzenten und Konsumenten gesehen. Dazu sollte die mit Rückständigkeit gleichgesetzte materielle Kultur der Indigenen in der Inkorporation umfänglich beseitigt und - gemäß dem essentialistischen Kulturverständnis, das dem Konzept der „Inkorporation" zugrunde lag - durch okzidentale Kulturbestandteile ersetzt werden. Im staatlich geförderten kulturellen Nationalismus, in dem sich die große Mehrheit der mexikanischen Künstler in Malerei, Bildhauerei, Literatur, Musik und Architektur auf die erneuerte Suche nach den Wurzeln und dem Wesen des Mexikanischen begab, wurde der Indigene mit dem authentisch Nati-

Dabei stützte sich Gamio auch auf ein wissenschaftliches Experiment zur ästhetischen Wahrnehmung, das er mitten in der Bürgerkriegsphase der Revolution durchgeführt hatte. Vgl. M. Gamio: Foijando patria, S. 41-46.

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onalen, dem Populären identifiziert. In der Hinwendung zur indigenen Kunst wurden nationale Partikularität inszeniert und zugleich universelle Geltung und Gültigkeit angestrebt. Die in den frühen zwanziger Jahren gegründete revolutionäre Künstlergewerkschaft Sindicato de Obreros Técnicos, Pintores y Escultores (SOTPE), der auch die drei „Großen" des Muralismus - Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und José d e m e n t e Orozco - angehörten und die in erster Linie als ideologisches Bekenntnis zu sozialistischen Idealen entstanden war, beschwor in ihrem Manifest aus dem Jahr 1924 die erneuernde ästhetische Kraft der indigenen Kunst wie folgt: „NO SOLAMENTE todo lo que es trabajo noble, todo lo que es virtud es don de nuestro Pueblo (de nuestros indios muy particularmente) sino la manifestación más pequeña de la existencia física y espiritual de nuestra raza como fuerza étnica, brota de él y lo que es más, su facultad admirable y extraordinariamente particular de HACER BELLEZA: EL ARTE DEL PUEBLO MEXICANO ES LA MANIFESTACION ESPIRITUAL MAS GRANDE Y MAS SANA DEL MUNDO y su tradición indígena es la mejor de todas."70

Wenn sich der Muralismus, das künstlerische Aushängeschild des kulturellen Nationalismus, in der indigenen Kunst neue Ausdrucksmittel erschloss - sei es in der vermeintlichen Wiederentdeckung einer vorspanischen Freskotechnik (etwa durch Rivera), im archäologisierenden Einsatz indigener Motive (prominent ebenfalls bei Rivera) oder im Versuch der Umsetzung formaler Werte der präcortesianischen Kunst (fruchtbar bei Siqueiros) - , so tat er dies ebenso aus nationalistischem Antrieb wie inspiriert durch die rund fünfzehn Jahre früher einsetzende Hinwendung der europäischen Avantgarden zur primitiven Kunst Afrikas und Ozeaniens. In der primitiven Kunst versprach sich die moderne Kunst, das Universelle zu finden, das Unteilbare, das Zeitlose, die elementare Ursprünglichkeit der künstlerischen Aussage. In der Peripherie war diese Hinwendung zur primitiven Kunst vor allem eine Suche nach Tradition. Das Indigene repräsentierte im mexikanischen kulturellen Nationalismus Authentizität durch Herkunft - der Muralismus wandte sich viel stärker der vorspanischen als der zeitgenössischen indigenen Kunst zu. Seine universelle Bedeutung lag hier insbesondere darin, dass sich die Geschichte des indígena, der die Idee eines seit Jahrhunderten unterdrückten mexikanischen Volkes (el pueblo) verkörperte, welches durch die Revolution den Eintritt in die Moderne einleitete, auch als Teil der universellen Geschichte des Klassenkampfes erzählen ließ - das Manifest des SOTPE schloss mit dem Kampfruf „Por el proletariado del mundo". 71 Die soziale Emanzipation des Indigenen 70

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Manifiesto del Sindicato de Obreros Técnicos, Pintores y Escultores [Hervorhebung im Original.] Ebd.

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lag indes gerade auch für die Maler letztlich in der Mestizisierung. Im muralistischen Werk von Rivera, der Mitglied des Partido Comunista Mexicano und später Parteigänger der Trotzkisten war, standen die von ihm zahlreich in seinen murales dargestellten Indigenen für Tradition und Ursprung,72 mit der Industriearbeiterschaft brachte er sie hingegen kaum je in Verbindung. In seinen Wandmalereien aus den dreißiger Jahren, die die wissenschaftlich-industrielle Moderne zur Darstellung brachten, waren es weiße Männer, die über den technologischen Fortschritt die Welt kontrollierten.73 Die Fusion des Primitiven und des Modernen im Mestizentum, die Gamio in der zitierten Passage seiner Chicagoer Vorlesung als den kulturellen Wandel beschrieb, den die gesellschaftliche Modernisierung erforderte, war vor allem auch ein Projekt. Die Modernität des mestizaje lag gerade auch in seiner Unabgeschlossenheit. Im Spiel der Angleichung und der Differenzierung in der Modernisierung musste das Traditionelle noch als Anderes erkennbar bleiben, im Gegensatz zum Modernen, aber auch zur Absetzung innerhalb einer universellen Moderne. In den zwanziger und dreißiger Jahren herrschte in Mexiko entsprechend eine erhöhte Nachfrage nach indigener Alterität. Die verschüttete Authentizität des indigenen Erbes war ans Licht zu bringen wie die vorspanische Architektur in Teotihuacán oder in Monte Albán, wo umfangreiche archäologische Arbeiten im Gang waren. Überall im Land wurden Zeugnisse indigener Kultur gesammelt, um sie zu Teilen des nationalen Kulturerbes, des patrimonio cultural, zu machen. Staatliche Politik rekonstruierte indigene Identität. Das konnte beispielsweise auch so weit gehen, dass misiones culturales - jene mobilen pädagogischen Einheiten, die die Regierung in entlegene ländliche comunidades entsandte, um dort elementares Wissen der westlichen Kultur zu vermitteln, die Bevölkerung zu alphabetisieren und einen Entwicklungsprozess auszulösen - in einzelnen Gemeinden den „indios" wieder Lieder in Náhuatl beibrachten, obwohl diese zuvor gar keine solchen gekannt hatten.74 Dass das politische Interesse des Machtzentrums der sich institutionalisierenden Revolution an indigener Andersartigkeit deutlich über den künstlerischen Bereich hinausging und einen spezifischen Beitrag indigener Tradition an die sozioökonomische Entwicklung des Landes propagierte, war nur kurz der Fall, in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Die indígenas waren eine

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Dies war bereits im ersten Wandgemälde, La Creación (1922) in der Escuela Nacional Preparatoria der Hauptstadt, deutlich, insbesondere aber in der imposanten dreiteiligen Darstellung der Geschichte Mexikos von den vorspanischen Ursprüngen bis in eine moderne industrialisierte Zukunft, die Rivera im Palacio Nacional malte (México antiguo, De la Conquista a 1930, México de hoy y mañana, 1929-1935). Retrato de Detroit im Detroit Institute of Arts (1932) oder El hombre en el cruce de los caminos im Palacio de Bellas Artes in Mexiko-Stadt (1934). J. Friedlander: Ser indio en Hueyapan, S. 176 ff.

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zentrale Zielgruppe der gesellschaftlichen Modernisierung, die die (post-)revolutionären Regime in den zwanziger und dreißiger Jahren unter der städtischen, vor allem aber auch unter der ländlichen Bevölkerung zu betreiben suchten.75 Unter der Politik beschleunigter und tief greifender Reformen der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934-1940), 76 wurde der Indigene indessen auch als Träger neuer gesellschaftlicher Ideale gefeiert. Die ihm als Tradition zugeschriebenen Formen der sozialen Organisation und der Solidarität ließen im indígena unter den politischen Voraussetzungen des Cardenismus auch einen Faktor der gesellschaftlichen Emanzipation erkennen. „El indio siente la Revolución y tiene ambiciones y anhelos y voluntad de cooperar con el Gobierno [...]. Debido a la tradicional organización indígena, ellos entienden el sentido revolucionario del Régimen, y realizan fácilmente su vida en un plan de cooperación en favor de su comunidad; sus mismas costumbres los hace no tener miras egoístas.

Unter Cárdenas betonte der offizielle Diskurs - unter Rückgriff auf topische Vorstellungen eines indigenen primitiven Kommunismus - systematisch eine Prädisposition der indígenas für die Agrarreform - gerade auch mit Blick auf das Kernprojekt dieser Reform, den ejido colectivo.78 Der staatliche Departamento de Asuntos Indígenas forcierte entsprechend auch die schon in den zwanziger Jahren eingeleitete Gründung von Kooperativen in indigenen Gemeinden.79 Trotz einer Rhetorik, die auch die Nähe zum sozialistischen Diskurs nicht scheute, war die cardenistische Politik keineswegs auf die Überwindung des kapitalistischen Systems ausgerichtet. Der gesellschaftliche

Laut Alan Knight ging es auch der Mexikanischen Revolution darum, einen „neuen Menschen" zu schaffen. Vgl. Popular Cuitare and the Revolutionary State in Mexico, S. 395. So wurden unter anderem Kampagnen gegen den Alkoholmissbrauch und die Prostitution, zur Verbesserung der Hygiene-Standards, zur Förderung des Sports und zur Popularisierung von Theater, Literatur und Musik durchgeführt. Als hauptsächliche treibende Kraft hinter den Aktionen wirkte der Antiklerikalismus. Hans Werner Tobler hat diesbezüglich von einer „nachgeholten" Revolution gesprochen. H.W. Tobler: Mexiko, S. 310 ff. Presidencia de la República: El problema indígena de México, S. 7. Mit dem ejido wurde in der revolutionären Verfassung von 1917 eine Grundeigentumsform geschaffen, die nach den liberalen Reformen des 19. Jahrhunderts das Gemeineigentum rehabilitierte und im Diskurs der Agrarreform mit dem calpulli der aztekischen Dorfgemeinschaften assoziiert wurde. Der Boden war im ejido kollektives Eigentum, die Landparzellen wurden aber individuell bebaut. Die Nutzungsrechte waren vererb-, der Boden allerdings nicht veräußerbar. Neben dem herkömmlichen ejido wurde der ejido colectivo im Sexennat von Lázaro Cárdenas als Form einer landwirtschaftlichen Produktionskooperative eingeführt. Programa de Acción del Departamento de Asuntos Indígenas. Archivo General de la Nación: Fondo Cárdenas, 545.2 / 5, S. 5.

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Fortschritt wurde allerdings noch einmal ausdrücklicher als zuvor in die Hände des Staates gelegt,80 der eng mit der Nation identifiziert wurde - auch als nationalisierender, auf der Grundlage des Artikels 27 der Verfassung von 1917.81 Die Neubewertung des indigenen Beitrags zum nationalen Projekt fiel im Cardenismus zusammen mit der nach 1920 systematischsten Abgrenzung des mexikanischen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Entwicklungsprojekts gegenüber den USA. Der Wirtschaftsnationalismus des Cardenismus nahm dabei mit der Verstaatlichung der Erdölindustrie 1938 auf spektakuläre Weise auch die direkte Konfrontation mit US-amerikanischen Interessen auf. El pueblo, in dessen Namen der (post-)revolutionäre Staat seine interventionistische und protektionistische Politik nationaler Modernisierung und nationalistischer Selbstbehauptung verfolgte, blieb trotz der veränderten Nachfrage nach indigener Alterität auch unter Cárdenas mestizisch definiert. Zwar versah der staatlich getragene Indigenismus in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre seine Politik mit einem neuen Leitbegriff, dem der „Integration", der gegenüber der „Inkorporation" einen weniger unilateralen Anspruch der Eingliederung der indigenen Kulturen in die mexikanische Nationalität formulierte und auf einem veränderten, differenzierteren Kulturbegriff basierte. Auch angesichts der gewachsenen Respektierung der indigenen Kulturen wurde die Prämisse der Mestizisierung allerdings durchaus nicht aufgegeben. „el indio, como indio, no tiene futuro en México [...], pero sí tiene el indio un papel de trascendencia dentro de la nacionalidad mexicana como elemento biológico, como fermento espiritual y como lazo de unión y factor de comprensión entre el mexicano y la herencia vernácula (tradición de cultura, tradición agraria, 82 tradición colectivista, tradición manual)".

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So erklärte Lázaro Cárdenas in seiner Inauguralrede zum Antritt des Präsidentenamtes: „Sólo el Estado tiene un interés general, y, por eso, sólo él tiene una visión de conjunto. La intervención del Estado ha de ser cada vez mayor, cada vez más frecuente y cada vez más a fondo." Zitiert nach: A. Córdova: La política de masas del cardenismo, S. 180181. Die Nation wurde im Verfassungsartikel 27 zur Eigentümerin der gesamten Landoberfläche innerhalb der staatlichen Grenzen wie auch der natürlichen Ressourcen dieses Territoriums erklärt. Das vom Artikel ausdrücklich anerkannte Privateigentum an Boden wurde über die Nation begründet. Enteignungen waren möglich, allerdings nur im „öffentlichen Interesse" und gegen Entschädigung. Sobre la creación de un Departamento de Población Indígena. Memorándum-proyecto que presenta el Profesor Moisés Sáenz a la consideración del Señor Presidente de la República, General Lázaro Cárdenas. Sept. 1935. Archivo General de la Nación: Fondo Cárdenas, 533.4 / 1, S. 4. Moisés Sáenz gehörte zusammen mit Manuel Gamio und Miguel Othón de Mendizábal zu den prägenden Figuren des frühen mexikanischen Indigenismus.

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In den vierziger und fünfziger Jahren gehörte das Projekt des mestizaje weiter tragend in die offizielle Selbstdarstellung Mexikos als sich modernisierende Nation. 83 Kollektivistische und agrarische indigene Traditionen wurden im staatlich getragenen indigenistischen Diskurs indes nicht mehr angerufen. Mexiko sollte seine wirtschaftliche Annäherung an die modernen Nationen unter der Politik der importsubstituierenden Industrialisierung vollziehen; Eigenständigkeit im Wandel beanspruchten die politischen und intellektuellen Eliten für ihr Land daher nach wie vor. Die von der Spitze des Staates aus formulierten Entwicklungsziele wiesen jedoch bereits ab der Präsidentschaft von Manuel Avila Camacho (1940-1946), spätestens aber ab der „Konterrevolution" 84 von Präsident Miguel Alemán (1946-1952) ungleich weniger Divergenzen zur kapitalistischen Moderne der USA auf als dies im Cardenismus der Fall gewesen war. Indigenismus und mestizaje hatten entsprechend wieder in allererster Linie die Aufgabe, eine einseitig als fortschrittsfeindlich qualifizierte kulturelle Differenz zu beseitigen.

Das Ende der Mestizisierung als Kategorie des gesellschaftlichen Wandels Der kulturelle Wandel war in der Modernisierung des (post-)revolutionären Mexiko an den sozioökonomischen Wandel insbesondere über das politische Versprechen gekoppelt, dass die Mestizisierung mit einer sozialen Emanzipation und einer wirtschaftlichen Umverteilung einhergehen werde. Als 1992 durch die Reform des Artikels 4 die Verfassung Mexiko neu als plurikulturelle Nation definierte und den gesetzlichen Schutz und die Förderung der Sprachen, Kulturen, Ressourcen sowie der spezifischen sozialen Organisationsformen der indigenen Völker garantierte, war dieses Versprechen bereits seit längerem hinfallig geworden. Die blutige Niederschlagung der Studentenbewegung im Massaker von Tlatelolco wenige Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele im Oktober 1968 durch Polizei- und Militärkräfte hatte brutal zum Ausdruck gebracht, dass das postrevolutionäre Regime an Integrationskraft eingebüßt hatte. Das Bild des herrschenden Partido Revolucionario Institucional (PRI) als Verwalter des Erbes der Revolution und ihrer sozialen Postúlate wurde nachhaltig beschädigt. In den frühen siebziger Jahren zerbrach die Vorstellung eines „milagro mexicano" anhaltend hoher Wachstumsraten und eines tief greifenden strukturellen Wandels, die die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in den fünfziger und sechziger Jahren geprägt hatten. Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich markant, die Inflation und die Zahl der Arbeitslosen stiegen an. Auf dem Land mussten aufgrund einer 83

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Vgl. A. Doremus: Indigenism, Mestizaje, and National Identity in Mexico During the 1940s and the 1950s. S.R. Niblo: Mexico in the 1940s, S. 183 ff.

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Landwirtschaftspolitik, die jahrzehntelang den agroindustriellen, exportorientierten Sektor zulasten der kleinbäuerlichen Wirtschaft entwickelt hatte, immer mehr Bauern ihre unrentabel gewordene Produktion aufgeben. Die Löhne der Landarbeiter sanken unter ein existenzsicherndes Maß. Und in den siebziger Jahren wurde auch der bislang weitgehend herrschende indigenistische Konsens aufgekündigt. Anthropologen begannen den behaupteten Nexus zwischen Modernisierung und Entindianisierung vehement in Frage zu stellen und postulierten anstelle der indigenen Integration die Notwendigkeit eines etnodesarrollo. Gleichzeitig formierten sich erste indigene Organisationen, die ebenfalls eine selbstbestimmte Entwicklung auf der Grundlage ethnischer Differenz einforderten. Zunächst vermochte das priistische Machtzentrum in den siebziger Jahren unter den Präsidentschaften von Luis Echeverría Alvarez (1970-1976) und José López Portillo (1976-1982) die Herausforderungen noch wenigstens teilweise aufzufangen: die politische Legitimationskrise mit einer Politik der „demokratischen Öffnung" beziehungsweise der „politischen Reform"; das Ende des wirtschaftlichen Aufschwungs mit einer Reihe sozialund wirtschaftspolitischer Maßnahmen sowie einer Steigerung der Staatsausgaben, finanziert in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre durch die Einnahmen aus neu entdeckten bedeutenden Erdölvorkommen; die Forderungen von etnodesarrollistas und indigenen Bewegungen mit der Verkündung einer neuen Politik des „partizipativen Indigenismus" sowie mit eingespielten kooptativen Praktiken. Die Lücke, die die verschiedenen Krisen zwischen dem Modernisierungsanspruch und dem postrevolutionären Nationalitätsdiskurs hatten entstehen lassen, konnte insbesondere unter Präsident Echeverría durch eine Wiederbelebung populistischer Positionen - die durchaus Parallelen zum Cardenismus aufwies - noch einmal überbrückt werden. Endgültig seine gesellschaftspolitische Bedeutung verlor das Mestizisierungsprojekt in Mexiko in den achtziger Jahren. Die neoliberale Politik, die in Mexiko nach der Schuldenkrise von 1982 von Präsident Miguel de la Madrid (1982-1988) eingeleitet wurde und unter der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari (1988-1994) noch einmal eine deutliche Akzentuierung erfuhr, führte zum definitiven Bruch in der herkömmlichen postrevolutionären Verbindung von Nationalismus und Modernisierung. Der Staat hinterließ auf seinem breiten Rückzug aus angestammten Bereichen der Intervention eine soziale Krise, von der überproportional die weniger privilegierten Gesellschaftsschichten betroffen waren, zu denen insbesondere auch die große Mehrheit der indigenen Bevölkerung zählte. Die Abkehr vom protektionistischen und paternalistischen Staat löste dessen enge Bindung an die Nation. Nation und Staat erschienen nun nicht nur zunehmend voneinander getrennt, sie ließen sich sogar in Gegensatz zueinander bringen: Demnach liefen die technokratischen Modernisierungsprojekte der internationalisierten, neoliberalen Elite an der Macht den Interessen einer vom „Volk" (el pueblo) repräsentierten Nation

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entgegen. Die Aussicht auf soziale Mobilität und ökonomische Umverteilung erfüllte sich auch nicht für jene Indigenen, auf die der Indigenismus jahrzehntelang seine integrationistische Hoffnung gesetzt hatte: Es waren gerade die in die Urbanen Zentren abgewanderten, gut ausgebildeten jungen indígenas, deren Erwartungen auf eine Verbesserung des Lebensstandards trotz professioneller Qualifikationen häufig enttäuscht wurden, welche sich dann an die Spitze ethnischer Mobilisierungen stellten. Die indigenen Bewegungen basierten auf Errungenschaften der modernen Gesellschaft wie Bildungszugang, Mobilität, aber auch neuen Kommunikationsmitteln. Und die Diskurse der indigenen Organisationen stützten sich maßgeblich auf moderne Kategorien, wie die allgemeinen Menschenrechte oder das Selbstbestimmungsrecht. Spätestens in den achtziger Jahren war der moderne indígena denkbar und damit auch sichtbar geworden. Nach dem Verlust der Hegemonie des priistischen, postrevolutionären Regimes über die Definition des nationalen Fortschritts begannen neue, konkurrierende, gerade auch in der Zivilgesellschaft entwickelte Verbindungen von „Nation" und „Moderne" politische Bedeutung zu erlangen - jene der indigenen Bewegungen war nur eine neben anderen. 85 Als am 1. Januar 1994 das North American Free Trade Agreement (NAFTA) beziehungsweise der Tratado de Libre Comercio (TLC) in Kraft trat, mit dem sich Mexiko mit den Vereinigten Staaten und Kanada zur größten Freihandelszone der Welt zusammenschloss, erhob sich gleichentags im südlichen Gliedstaat Chiapas die indigene Guerilla-Bewegung des Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) gegen den neoliberalen „mal gobierno". Weder im einen noch im anderen Fall verband sich der hinter dem Ereignis stehende Entwurf gesellschaftlicher Entwicklung noch mit der Vorstellung einer im Mestizentum einheitlichen Nation. Der EZLN trat für das Recht auf eine indigene Existenz in der Differenz und gegen kulturell begründete gesellschaftliche Ausschlusspraktiken auf. So erklärte er: „Así es el México que queremos los zapatistas. Uno donde los indígenas seamos indígenas y mexicanos". 86 Die Regierung Salinas de Gortari, die das Land in den TLC geführt hatte, hatte sich ihrerseits vom postrevolutionären Nationalismus entfernt. Zwar argumentierte auch sie zugunsten des TLC-Beitritts nationalistisch, und sie berief sich in ihren patriotischen Bekenntnissen durchaus nach wie vor auch auf das glorreiche Erbe der vorspanischen Geschichte des Landes. Der offizielle nationalistische Diskurs blieb indes inhaltlich unbestimmt. 87 Die neoliberale Politik des Wandels, die Modernisierung durch die 85

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Den Rahmen des indigenen Kampfes um die Anerkennung der Differenz bildete in Mexiko der Nationalstaat in seinen bestehenden territorialen Grenzen. Separatistische Tendenzen spielten hier unter den indigenen Bewegungen keine Rolle. Mensaje del EZLN en el Congreso de la Unión, 28 de marzo de 2001. In: Ejército Zapatista de Liberación Nacional: Documentos y comunicados, S. 299-325, hier: S. 302. C. Lomnitz: Modernidad indiana, S. 61.

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Integration in die Weltwirtschaft und die Reduktion staatlicher Gestaltungsansprüche auf die gesellschaftliche Entwicklung betrieb, bedurfte in der von ihr verfolgten Moderne keiner Abgrenzung in einem nationalen Partikularismus, und ihr Emanzipationsversprechen war an kein Projekt einer staatlich angeleiteten Transformation der nationalen Identität gebunden - allerdings benötigte die neoliberale Politik in Mexiko zur Durchsetzung ihrer Ziele durchaus einen starken Staat, so dass nach der Schwächung der Integrationskraft des Nationalismus bisweilen nur noch der Autoritarismus übrig blieb, auf den sich auch ältere postrevolutionäre Regime mit gestützt hatten. In einer Zeit, in der die Moderne in Mexiko durchaus nicht mehr nur als Hoffnung angesprochen, sondern in vielerlei Hinsicht auch als alltägliche Realität erlebt wurde, engte die neoliberale Politik die Modernisierung auf ein technokratisches Verständnis ein. Der EZLN seinerseits beteiligte sich an einer Dezentrierung der Modernevorstellung. In beiden Haltungen wurde das Verhältnis von Moderne und Identität weiter flexibilisiert, indem die Bindungskraft oder der Exklusivitätsanspruch kollektiver Identitäten an Bedeutung einbüßte. War die Mestizisierung im 19. Jahrhundert - unter der Vorstellung eines blanqueamiento als Weg zum Eintritt in die eine, westliche Moderne und danach, spätestens ab dem einsetzenden 20. Jahrhundert, - unter der Aufwertung des indigenen Beitrags an die Mischlingsexistenz - als Prozess, der Modernisierung im Spannungsverhältnis zwischen Angleichung und Distinktion ermöglichen sollte, konzipiert worden, war sie im ausgehenden 20. Jahrhundert keine Kategorie des gesellschaftlichen Wandels mehr. Die Bedingungen einer sich weiter beschleunigenden und verdichtenden Verflechtung menschlicher Lebensbereiche im globalen Maßstab und die Weiterentwicklung der modernen Wissenschaft waren mit dafür verantwortlich, dass die Idee einer erfolgreichen Modernisierung in Mexiko nicht mehr an das Projekt einer rassischen oder kulturellen Fusion gebunden wurde - aber auch der Prozess, in dem die die längste Zeit als praktisch unwandelbar primitiv, vormodern und traditionell charakterisierten gesellschaftlichen Gruppen ihre Modernität unter Beweis gestellt hatten.

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Béatrice Ziegler

SKLAVEN UND MODERNE EINE UNERTRÄGLICHE, ABER NICHT UNVERTRÄGLICHE KOMBINATION

Einleitung 1863 war es dem Schaffhauser Nationalrat Wilhelm Joos unerträglich, dass ein Schweizer Eigentümer von Sklaven sein konnte. Der schweizerische Parlamentarier verlangte von der Regierung, dem Schweizerischen Bundesrat, dass sie eine Vorlage vorbereite, die Schweizern verbieten solle, Sklaven zu besitzen. Joos wusste aus eigener Anschauung, dass in Brasilien Schweizer als Besitzer von Plantagen Eigentümer von Sklaven waren. Er begründete seinen parlamentarischen Vorstoß aber nicht etwa damit, dass es für einen Angehörigen eines auf individueller Freiheit basierenden Verfassungsstaates, der Schweiz also, verwerflich sein könnte, die individuellen Freiheitsrechte schwarzer Personen zu missachten. Vielmehr argumentierte er damit, dass die Sklaverei in einem Land gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen herausbilde, die es freien Arbeitskräften verunmögliche, wirtschaftlich und sozial zu gedeihen. Der von ihm hergestellte Zusammenhang war ihm deshalb wichtig, weil seit 1852 schweizerische Auswandererfamilien in der so genannten parcen'a-Kolonisation in der brasilianischen Provinz Säo Paulo in eine schwierige Verschuldungssituation geraten waren, aus der sich viele aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnten. Sie hatten die Kosten der Überfahrt und der Startphase in der Plantage vorgeschossen erhalten und befanden sich nun in einer Form der Schuldknechtschaft. Ohne Sklaverei, so meinte Joos, würde freie Arbeit geschätzt und damit auch besser entlöhnt, mittellosen Auswandernden eine Existenz eröffnet. 1 Nationalrat Joos knüpfte mit seinen Ausführungen an eine Vorstellung von moderner Nation an, die im 20. Jahrhundert in der Modernisierungstheorie Nationalrat Joos, zitiert in: Bericht des Bundesrathes an den h. Nationalrath, betr. Strafbestimmungen gegen Schweizer in Brasilien, welche Sklaven halten. (Vom 2. Dezember 1864). Bundesblatt 3 (53) 1864, S. 230-239, hier S. 233, 237, 239. Dieser stützt sich auf den a. o. Gesandten in Brasilien, J.J. von Tschudi, und Eugène David, ehemaliger Konsul in Rio de Janeiro. Beide waren mit den Halbpachtverhältnissen (parceria) wie der Sklaverei als wirtschaftlicher Existenzbasis Brasiliens wohl vertraut. Zur Motion Joos vgl. A.-J. Lingg: Lucas Jezler, S. 74-77; Th. David / B. Etemad / J.M. Schaufelbühl: Schwarze Geschäfte, S. 107-109. Zur porceWa-Kolonisation vgl. B. Ziegler: Schweizer statt Sklaven.

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systematisiert werden sollte und davon ausging, dass die Herausbildung der Moderne nur dann möglich sei, wenn sich jedes einzelne ihrer als konstitutiv erachteten Elemente mit herausbildete.2 Dabei war für ihn klar, dass der Fortbestand der Sklaverei die Herausbildung einer Erwerbsgesellschaft (und damit der Moderne) behindere oder verunmögliche. Er gab damit auch der im Konzept der Moderne impliziten Zuversicht Ausdruck, dass individuelle Freiheit die Basis des wirtschaftlichen Fortkommens sei und eine verfassungsrechtlich fundierte begründete moderne Nation mitbegründe. Diese Vorstellung stellt - bezogen auf die Diskussionen der Modernisierungstheorie und die Kritik an der Normativität des Begriffs der Moderne einen klaren Positionsbezug dar: Sklaverei und Moderne gehen demnach nicht zusammen. Wenn in einer Gesellschaft Personen versklavt sind, so die Meinung, kann nicht von einer modernen Nation gesprochen werden.3 Demgegenüber wird im Folgenden die Auffassung vertreten, dass Sklaverei durchaus ein integrierter Bestandteil der Moderne ist. Dies beinhaltet, dass der Modellierungsprozess des Konzepts der Moderne kritisiert wird und zwar, weil historisch vorfindliche Elemente normativ als konstitutiv für die Moderne definiert wurden, ohne dass die Notwendigkeit des Vorhandenseins dieser Elemente und ihres Zusammenspiels durch eine analytische Überprüfung erhärtet worden wären. So wird denn das normative Modell der Moderne als für historisch nicht haltbar beurteilt. Es tendiert nämlich dahin, für „nicht-moderne Staaten" „vormoderne" Teilaspekte überzubewerten oder die Modernität von gewissen Strukturfunktionen dieser Aspekte zu unterschätzen. Im Falle der Sklavenwirtschaft äußerte sich dies vorerst in der klassischen Auseinandersetzung zwischen der „modernen" Integration in die kapitalistische Marktwirtschaft und der „nicht-modernen" Arbeitsbeziehung „Sklaverei".4 Außerdem zeigt sich im Falle der Sklaverei, dass der formalen persönlichen Freiheit ein weit höheres Gewicht beigemessen wird als der durch soziale und wirtschaftliche Gegebenheiten geprägten Möglichkeit, diese persönliche Freiheit zur eigenen

3

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Vgl. T. Parsons / N.J. Smelser: Economy and Society. Die Autoren haben unter anderen begründet, dass die verschiedenen Teilsysteme einer Gesellschaft (etwa Wirtschaft oder Politik), aber auch die individuellen Persönlichkeitsstrukturen (kulturelle Praktiken) in Bezug zueinander modernisiert werden müssen, um „Entwicklung" und „Modernität" eines gesellschaftlichen Systems zu erreichen. In der Fassung von U. Beck / W. Bonß / Ch. Lau: Theorie reflexiver Modernisierung, S. 20, erscheint diese Aussage ebenfalls unmissverständlich: „Dies bedeutet auch, dass [...] allen Gesellschaftsmitgliedern [relativiert wird die Aussage für Frauen] die Möglichkeit einer Reproduktion durch Erwerbsarbeit eingeräumt werden muss." Dieser vermeintliche Widerspruch kann auch gefasst werden als spezifische und dramatische Ausformung der „verwobenen Moderne". Das Konzept der „verwobenen Moderne" kritisiert denn auch die nationalstaatliche Betrachtung als unzulänglich. Vgl. dazu ganz knapp S. Randeria: Geteilte Geschichte; ders.: Verwobene Moderne.

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Entfaltung zu nutzen.5 Der definitorische Zugang zur Sklavenarbeit beziehungsweise Sklaverei als Feld der Auseinandersetzung um das wirtschaftliche Mehrprodukt eröffnet die Diskussion um die Bedeutung der Abschaffung formaler Unfreiheit in Brasilien (Abolition 1888), indem sie nicht (einzig) als Errungenschaft, sondern (auch) als ein Moment der Neuformulierung von Herrschaft und Ausbeutung begriffen werden kann.6 Gerade die Umwandlung der Arbeitsverhältnisse in Brasilien gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigt, dass der Schritt von der versklavten zur freien Person nicht gleichzusetzen ist mit der Ablösung von „Sklavenarbeit" zugunsten der Nutzung der Arbeitskraft zum eigenen Nutzen und Wohlergehen. Dieser Sachverhalt prägt nicht nur die heutige Diskussion um „Sklavenarbeit" und „Erwerbsarbeit", sondern auch die Beschäftigung mit den höchst problematischen sozialen Strukturen und der diskriminierenden gesellschaftlichen Realität der Schwarzen in Brasilien. Im Folgenden wird die Sklaverei als Existenzbasis der brasilianischen Wirtschaft mit Hilfe von Dokumenten illustriert, die den Besitz von Sklaven durch Schweizer und dessen Bedeutung für ihren wirtschaftlichen Erfolg dokumentieren. Danach wird gezeigt, dass die Auffassung von Wilhelm Joos, dass Sklaverei nicht kompatibel sei mit der Moderne, eine irreführende Annahme ist. Es wird die Frage nach der Definition von Sklaverei und Sklavenarbeit, insbesondere im Zusammenhang mit der Moderne, aufgeworfen, um so das Modell der Moderne und damit die positive Aufladung desselben als historisch nicht haltbar zu kritisieren und es den Spielformen der Modernen zu öffnen.

Sklavenbesitz als Grundlage wirtschaftlichen Fortkommens in Brasilien: Großgrundbesitzer statt Kolonisten Die schweizerische Kolonisation von Nova Friburgo, im Hinterland von Rio de Janeiro, am Anfang des 19. Jahrhunderts war ein Desaster.7 Das Kolonisationsprojekt der portugiesischen Krone zeigte wie die späteren des brasilianischen Kaiserreichs (ab 1822) viele Mängel, auf längere Sicht jedoch waren die fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten der Kolonie auf die Unmöglichkeit zurückzuführen, eine Lebensmittel-Produktion für einen Markt zu etablieren. Die zentrale Voraussetzung dafür hätte die Kapitalkraft gebildet - diese war bei den meisten Kolonisten nicht vorhanden. Sie hätte erlaubt, die wesentli-

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R. Schweizer: Besteht eine rechtliche Pflicht? Das Fortbestehen der Sklaverei bis heute wider jedes geltende Recht macht die Problematik deutlich, die Abolition als Begründung für qualitativ verbesserte Arbeitsbeziehungen anzunehmen. Beispiele dieser Debatte für Afrika nennt J.-G. Deutsch: Sklaverei, insbesondere S. 6 8 -

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M. Nicoulin: La Genese de Nova Friburgo.

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chen Faktoren zum wirtschaftlichen Erfolg in günstiger Weise zu kombinieren: Qualität der Böden, Verkehrserschließung und Arbeitskräfte. In Nova Friburgo waren alle drei Faktoren mangelhaft bis nicht-existent. Und „Arbeitskräfte" bedeuteten in Brasilien Sklaven. In einer Siedlung mit dem Status einer „Kolonie", 8 durfte jedoch keine Sklavenarbeit eingesetzt werden. 9 1816/17 nach Nova Friburgo ausgewandert, zogen einige der Kolonisten schließlich wegen der schlechten Qualität der Böden Richtung Cantagalo weiter. Am Beispiel des Metzgers Xavier Bussard aus Epargny hat Martin Nicoulin, der die Kolonisation von Nova Friburgo untersucht hat, gezeigt, dass der Weg vom ärmlichen Kolonisten zum vermögenden Grundbesitzer über den Ankauf von Sklaven führte - Sklaven, die er als Kolonist nicht besitzen durfte: „Dans cette ville [Cantagalo], Bussard continue avec succès d'exercer son ancien métier. Mais il a acheté une terre sur laquelle il y a une plantation de café. Pour pouvoir maintenir sa double activité, il lui est nécessaire d'engager de la maind'oeuvre, c'est-à-dire d'acheter quelques esclaves. [...] Trois ans plus tard, la situation du foyer est en progression. Il possède déjà quelques esclaves et une propriété avec six mille pieds de café dont un mille est déjà en rapport."10 1860 sollte dann der schweizerische Konsul von Rio de Janeiro in einem Brief „de la .fortune' de nos planteurs établis dans ces contrées [Cantagalo]" sprechen, und spätere Reiseberichte berichteten Gleiches." Auch die Siedler von Leopoldina (südliches Bahia), zum Teil begüterte Auswanderer aus den Kantonen Bern, Neuenburg und der Waadt, verloren den Status der „Kolonie" und damit auch gewisse Subventionen der Krone, weil sie sich entschieden, Plantagen durch Sklaven anlegen und bewirtschaften zu lassen. Sie gelangten auf diese Weise zu beträchtlichem Vermögen. 12

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„Kolonien" erfuhren als bäuerlich-handwerkliche Ansiedlungen europäischer Einwandererfamilien spezielle Unterstützung der portugiesischen, später der brasilianischen Krone. Eine der Voraussetzungen für diese finanziellen Erleichterungen war der Verzicht auf Sklavenarbeit. Diese Strukturmerkmale veränderten sich, abgesehen vom südlichen Teil Brasiliens (Rio Grande do Sul, Santa Catarina und später Paraná) im gesamten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nicht wesentlich. Dies belegen auch weitere schweizerische Kolonisationsversuche. Vgl. B. Ziegler: Schweizerische Auswanderer und Auswanderungspolitik im 19. Jahrhundert; L.M. Schneider: Politik des Bundes. M. Nicoulin: La Genese de Nova Friburgo, S. 229. (Hervorhebung durch die Autorin). Ebd., S. 230. Nicoulin bezieht sich auf einen Brief des Konsuls vom 30.1.1860 (CH BAR E2 / 1441 Cantagallo) und auf Reiseberichte von Burmeister und von Tschudi. Vgl. S. 355, Anm. 86. Die Geschehnisse um die Kolonie Leopoldina, die auf eine Schenkung von Kaiserin Leopoldina an ihren Sekretär und Vertrauten, Johann Martin Flach, zurückgeht, und die

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Fünfzig Jahre, nachdem die ersten schweizerischen Kolonisten in Brasilien angekommen waren, hielt der Bundesrat in der Beantwortung der Joos'schen Motion zum Verbot für Schweizer Bürger, Sklaven zu besitzen, Folgendes fest: Angesichts der existenziellen Bedeutung der Sklaverei für den wirtschaftlichen Erfolg sei es unsinnig, die Unverträglichkeit von Sklavenbesitz und schweizerischem Bürgerrecht gesetzlich zu verankern, damit ruiniere man die in der Plantagenwirtschaft Tätigen oder schädige mit dem Ausschluss aus dem schweizerischen Bürgerrecht erfolgreiche Bürger und die Geschäftsbeziehungen zu Brasilien. Mit dieser Auffassung vollzog der Bundesrat die Praxis der schweizerischen Plantagenbesitzer nach, die in der Sklavenarbeit die individuelle und kollektive Existenzgrundlage der europäisch dominierten Gesellschaft Brasiliens sahen.13

Wirtschaftliches Gebaren von Schweizern in Brasilien - der Plantagenbesitz von François Cruchaud Am 1. März 1829 bevollmächtigte der schweizerische Konsul in Rio de Janeiro, Auguste de Tavel, zwei dort ansässige Schweizer, Constantin Fischer und James de Luze, das Inventar einer Kaffeeplantage im Orgelgebirge zu erstellen, nachdem der eine von drei Besitzern, François Cruchaud, verstorben war. Die beiden Mitinhaber, André Brugger und Nicolas Ott, bestätigten danach die Richtigkeit des Inventars. Die Plantage wies 70 000 Kaffeebäume in vollem Ertragsalter und des weitern 10000 zweijährige Stöcke auf. Entsprechend dieser beträchtlichen Größe des Unternehmens lebten auf der Besitzung 55 Sklaven und Sklavinnen („Nègres").14 Der Auszug aus dem Inventar der Kaffeeplantage der Herren Cruchaud, Brugger und Ott wies unter der Kategorie „Nègres" folgende Personengruppen aus: „21 Noirs Grands", „16 Moleques Petits", „17 Négresses" und „1 Enfant à la Mamelle". Der Wert dieser Sklaven bemaß sich nach den Schätzungen dreier Sachverständiger auf ungefähr 20 contos de réis.' 5 Johann Martin Flach, selbst

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schweizerischen Großgrundbesitzer sind noch immer nicht aufgearbeitet, obwohl sie in allen relevanten Werken zur schweizerischen Präsenz in Brasilien erwähnt werden. Bericht des Bundesrathes an den h. Nationalrath, betr. Strafbestimmungen gegen Schweizer in Brasilien, welche Sklaven halten. (Vom 2. Dezember 1864). Bundesblatt 3 ( 5 3 ) 1864, S. 230-239. Inventar der Plantage von François Cruchaud f , André Brugger, Nicolas Ott vom 1. März 1829, verfasst von C. Fischer und J. de Luze. Schweizerisches Bundesarchiv E 2200.67 1000/675, Bd. 47. Für die namentliche Liste der Sklaven vgl. den Anhang Nr.l. Ein conto de réis entspricht 1:000 milréis ($ réis) beziehungsweise 1 Million réis (1:000 $ 000 réis). Das Verhältnis zwischen milréis und Franken betrug Anfang des 19. Jahrhunderts 1:6. M. Nicoulin: La Genèse de Nova Friburgo, S. 190, 235, 347: Anm. 11. In

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Besitzer von großen Ländereien und vieler Sklaven, veranschlagte ihren durchschnittlichen Wert auf 375 $ 000 reis, de Luze lag mit 400 $ 000 reis in der Mitte, während Fischer mit 425 $ 000 reis am optimistischen war. Der Wert der 55 Sklaven und Sklavinnen entsprach damit ungefähr der Hälfte des totalen Wertes der Plantage. 16 Cruchauds Hälfte an der Plantage - Brugger und Ott teilten sich in die zweite Hälfte - musste nicht lange auf einen neuen Besitzer warten. Bereits am 4. Mai bescheinigten Ludwig Meyrat und Louis Dubois, dass dieselbe von Vincent Übelhart für 15 contos erstanden werde. Übelhart bezahlte allerdings nur 2:800 $ 000 reis in bar; Wilhelm Frölich und St. Christoph gaben ihm Kredit für 7:800 $ 000 reis. Die restlichen 5 contos versprach Übelhart bis Ende des Jahres 1829 aufzubringen. 17 Die rasche Abwicklung der Transaktion zu einem guten Preis zeigt, dass schweizerische Kaufleute davon überzeugt waren, dass es sich lohnte, in Plantagen zu investieren. Der problemlose Verkauf eines solchen Betriebs signalisiert die längerfristige Perspektive, die Schweizer mit auf Sklavenbesitz gründender Plantagenwirtschaft verbanden - dies obwohl international die Abolitionsbewegung aktiv und der politische Druck zur Beendigung des Sklavenhandels nicht unbedeutend waren. Der genannte Sklavenbesitz Cruchauds ergänzte sich mit dem (hälftigen? 18 ) Besitz an 35 weiteren Sklavinnen und Sklaven, die auf der Plantage Bom Vallo lebten. Das Inventar dieser Plantage, das die Herren de Graffenried und Soares im Auftrag des Konsuls aufnahmen, verzeichnete Männer, Frauen und muleques (Jugendliche) im Wert von 13:550 $ 000 reis bei einem Gesamtwert der Plantage von 27:430 $ 000 reis. 19

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der Mitte des Jahrhunderts war der Wert des milreis auf die Hälfte gesunken (Verhältnis 1:3). M. Buescu: Historia econömica do Brasil, S. 217. J.M. Flach, J. de Luze, Fischer, Binz. Evaluation des Wertes der Plantage im Besitz von F. Cruchaud, A. Brugger, N. Ott. Serra dos Orgäos 28.4.1829. Schweizerisches Bundesarchiv E 2200.67 1000/675, Bd. 47. Vertrag zwischen Vincent Übelhart und Wilhelm Frölich beziehungsweise St. Christoph, beglaubigt durch den schweizerischen Konsul Auguste von Tavel vom 4.5.1829. Schweizerisches Bundesarchiv E 2200.67 1000/675, Bd. 47. Im vom Konsul verfassten Testament des sterbenden Cruchaud ist von einer zweiten Plantage die Rede, die diesem zur Hälfte gehöre. Da sie aber nicht mit Namen genannt wird, ist die Vermutung, mit ihr sei die Fazenda Bom Vallo (eigentlich Valle) gemeint, deren Inventar in den Akten vorfindlich ist, wahrscheinlich; die Annahme ist indessen nicht zu erhärten. Auguste de Tavel. Minute. 1. Februar 1829. Beglaubigt durch Claude Friaux und G. Maulaz. Schweizerisches Bundesarchiv E 2200.67 1000/675, Bd. 47. Avaliafäo da Fazenda denominada de Bom Vallo. Durchgeführt von Alberto Rodolfo de Graffenried und Joze Joaquim Soares, als Bevollmächtigte des schweizerischen Konsuls von Rio de Janeiro, Auguste de Tavel, 26.3.1829. CH BAR E 2200.67 1000/675, Bd. 47. Für die namentliche Auflistung der Sklaven und Sklavinnen vgl. Anhang Nr. 2.

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Wie dies Usus wurde, regelte der zuständige Konsul - in diesem Fall der Konsul von Rio de Janeiro, Auguste de Tavel, - die rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten im Falle des Todes eines Schweizers in Brasilien. Rund ein Dutzend Personen, von denen alle außer einer von schweizerischer Herkunft waren, leisteten dabei unterstützende Arbeit. Dieses Vorgehen hatte unter anderem den Vorteil, dass der brasilianische Staat auf der Erbschaft des Verstorbenen keine Steuern erheben konnte. Mit diesem Umstand lässt sich wohl erklären, dass sich nicht nur der Konsul selbst, sondern auch zahlreiche weitere Mitglieder der schweizerischen Handels- und Großgrundbesitzerkolonie bereit erklärten, die - teilweise aufwändige - Arbeit zu erledigen, die mit den rechtlichen Klärungen um einen Nachlass verbunden war. Die gegenseitige Hilfestellung garantierte ihnen im Fall ihres eigenen eventuellen Todes eine ebenso getreuliche Betreuung ihrer Vermögenssituation zugunsten ihrer Erben.20 Die schweizerischen Handelsleute und Großgrundbesitzer beziehungsweise der Konsul vermerkten Sklaven und Sklavinnen als Teil der beweglichen Güter der Verstorbenen. Es besteht aufgrund der offiziellen Dokumente des Konsulates keinerlei Anlass anzunehmen, dass sich die schweizerische Handels- und Großgrundbesitzerkolonie Gedanken gemacht hätte über den Sachverhalt der Unfreiheit der schwarzen Bevölkerung Brasiliens oder über die Tatsache, dass sie selbst Eigentümer von Sklaven und Sklavinnen waren. Eine besondere Erwähnung in Nachlassregelungen fanden manchmal die so genannten Haussklaven. Dies macht deutlich, dass diese menschlichen Vermögenswerte doch auch als Personen wahrgenommen wurden. Nicht im vorliegenden Fall,21 aber in jenem des Lukas Jezler in Bahia deutete sich an, dass zumindest ein Teil dieser speziellen „beweglichen Habe" sich immer wieder auch in persönlichen Beziehungen zu ihren Herrschaften befand. So wurden im Fall Jezlers bei den Haussklaven zum Teil besondere Regelungen getroffen.22 Es war nicht selten, dass persönliche Diener beim Tod ihres Herrn die Freilassungsurkunde erhielten oder dass einzelne Haussklavinnen an Mitglieder der Familie weitergereicht wurden. Dabei mögen einerseits Gesten der 20

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Einen aufwändigen Fall der Nachlassregelung in Bahia 1863 untersuchte Anna-Julia Lingg in ihrer Lizentiatsarbeit: A.-J. Lingg: Lucas Jezler. Das Testament von François Cruchaud erwähnt nichts über die häuslichen Verhältnisse. Dies mag daran liegen, dass der letzte Wille in aller Eile vom Konsul am Sterbebett mitgeschrieben wurde und der Sterbende sich wohl mit den wichtigsten Vermögensteilen befassen musste, die seine beiden namentlich genannten Kinder (Marie und Frédéric) erben sollten. Auguste de Tavel. Minute. 1. Februar 1829. Beglaubigt durch Claude Friaux und G. Maulaz. Schweizerisches Bundesarchiv E 2200.67 1000/675, Bd. 47. A.-J. Lingg: Lucas Jezler, S.69. Auch beim Tod des Tabakfabrikanten Auguste-Frédéric de Meuron 1851 wurden zwei Sklaven sofort freigelassen. Vgl. H. Fässler: Reise in Schwarz-Weiss, S. 195-203. Zur Stellung der Haussklaven vgl. auch C.A. Pernet: Besitz und Mensch, S. 104-105.

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Pietät gegenüber den Verstorbenen, aber auch die Signalisierung von Rücksichtsnahme auf die Gefuhlslage langjähriger, in engem Kontakt zur Herrschaft dienender Sklaven oder Sklavinnen eine Rolle gespielt haben. Andererseits bestand möglicherweise die Vorstellung, dass die bisherige hohe Verlässlichkeit und Loyalität derselben auch gegenüber anderen Mitgliedern der Herrschaftsfamilie erhalten bleiben würde. Die Tatsache, dass sich in den Papieren zur Regelung des Nachlasses von François Cruchaud keine Spuren einer Problematisierung von Sklavenbesitz finden lassen, könnte damit begründet werden, dass es sich bei diesen um rechtlich relevante Dokumente handelt, in denen eine solche Thematisierung nur im Falle einer Relevanz für die Erbfragen notwendig gewesen wäre. Es ist aber auffallig, dass auch in bekannten Dokumenten anderer Qualität kaum Textstellen eruiert werden können, in denen Sklaverei als ethisches Problem reflektiert worden wäre. So sind etwa die Briefe von Jacob Laurenz Gsell, eines St. Galler Kaufmanns, der auch im frühen 19. Jahrhundert in Rio de Janeiro tätig war, eher ein Zeugnis für an Rassekonzepten orientierte Stereotypien als für (ethische) Überlegungen zur Sklaverei.23 Auch wenn eine systematische Auswertung solcher Zeugnisse aus schweizerischen Quellen noch aussteht, ist es nicht unbegründet, Gsells Briefe eher als repräsentatives Beispiel denn als Ausnahme zu behandeln.24 Die Hypothese ist nahe liegend, dass es vor allem die wirtschaftlichen Interessen waren, die den Blick lenkten und die Reflexion über die brasilianische Gesellschaft bestimmten. Diese Hypothese erhält zumindest im Falle der Kolonisten von Nova Friburgo, die sich ab 1821 ostwärts in Richtung Macaé verschoben, eine Bestätigung. Nicoulin hält fest, dass der Erwerb besserer Böden in der Gegend voraussetzte, dass die Kolonisten flüchtige Sklaven bekämpfen mussten, die sich dorthin zurückgezogen hatten. Sie zerstörten offenbar innerhalb eines Jahres mehrere „quilombos", also Rückzugsiedlungen flüchtiger Schwarzer.25 1 824 berichtete der Walliser Antoine Cretton in einem Brief vom Kampf gegen quilombo-Bewohner: „Au bout de huit jours de marche, nous tombâmes dans un quilombe; c'est une retraite de Nègres fugitifs qui pour se soustraire aux cruautés des Portugais vont vivre en société dans des montagnes presque inaccessibles. Ces nègres sont très dan-

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J. L. Gsell: Briefe. Zu Gsell vgl. auch H. Fässler: Reise in Schwarz-Weiss, S. 53-63. H. Fässler: Reise in Schwarz-Weiss, S. 67-77, zeigt, dass auch der schweizerische außerordentliche Gesandte in Brasilien, J.J. von Tschudi, in seinem Reisebericht stereotype Aussagen zu Schwarzen machte und diese teilweise auch mit rassentheoretischen Konzepten verband. Officio assinado pelo encarregado da Colonia... Biblioteca Nacional. Secçào de Manuscritos. 11-34/21/28. Zitiert nach: M. Nicoulin: La Genèse de Nova Friburgo, S. 224.

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gereux quand ils se trouvent supérieurs aux Blancs et très malicieux puisqu'il est presque impossible de parvenir à leur retraite sans risquer de se tuer." 2

Er schrieb dann, dass die Flüchtigen auf den Zugangswegen zu ihrem Versteck gut getarnte Fallen bauten, in die Ahnungslose hineinfielen. Dies sei auch einem der Kollegen von Cretton geschehen, worauf plötzlich acht Schwarze vor ihnen gestanden hätten: „Mais quelle fut notre surprise de nous voir tout à coup en face de huit Nègres qui avec des flèches tendues nous menaçaient de nous percer la poitrine. Cependant nous leur en imposâmes und nous les forçâmes à nous donner tous les indices de ces terres-la.

Crettons Bericht ist interessant, formuliert er doch in empathischer Aufladung, es seien die Grausamkeiten der „Portugiesen" gewesen, die die Schwarzen zur Flucht verleitet hätten, um dann weiter unten die Empathie in eine Einschätzung der entlaufenen Sklaven als gefahrlich und „boshaft" zu wenden, ohne die eigene Rolle in der Begegnung zu problematisieren. Die Beurteilung galt nun Feinden, deren Gebiet sich die Kolonisten aneignen wollten. Die Gefährlichkeit und „Boshaftigkeit" fasste in Worte, dass die quilomboBewohner sich zu wehren wussten. Dies nützte ihnen aber im Falle der Auseinandersetzung mit dem Trupp von Cretton nichts: Die Schwarzen unterlagen und mussten alle Informationen zu den Ländereien, die sie bewirtschafteten, zur Verfügung stellen. Der Kampf lohnte sich für Cretton: Er erhielt vom Direktor der Kolonie Nova Friburgo die Erlaubnis, sein Los (das zugeteilte Grundstück) zu verlassen und Böden zu bewirtschaften, die den entlaufenen Sklaven weggenommen worden waren. Dieses Land war teilweise bereits gerodet und kultiviert. Es entsprach der allgemeinen Wahrnehmung, die das Bild der entlaufenen Sklaven prägte, dass sie durch ihren Widerstand dem Erfolg Crettons im Weg gestanden hatten; durch ihre Arbeit, die sie bereits in die Böden investiert hatten, standen sie jedoch ebenso sehr an dessen Anfang. Und, da sich Cretton nun dem Kaffeeanbau widmete, stützte er sich wie andere in der Gegend28 von da an - zumindest in den ersten Jahrzehnten - auf Sklavenarbeit ab. Die Motivation seines Wegzugs von Nova Friburgo deckt die wirtschaftlichen Interessen auf, in deren Perspektive Sklaven nicht als Personen zur Kenntnis genommen wurden: „Dans ce pays, on ne se contente pas de la vie, on désire y faire une petite fortune."29

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L. Mogeon: Une lettre de la Nouvelle Fribourg, S. 195 [Kursivsetzung B.Z.] Ebd., S. 196 [Kursivsetzung B.Z.] Vgl. M. Nicoulin: La Genèse de Nova Friburgo, S. 225-226. L. Mogeon: Une lettre de la Nouvelle Fribourg, S. 196.

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Sklaverei: die Grundlage der Moderne Brasiliens Das Kaiserreich Brasilien kann, gemessen an den Charakterisierungen „der Moderne", wie sie von Ulrich Beck, Wolfgang Bonß und Christoph Lau30 erneut vorgetragen und als „Moderne 1" systematisiert worden ist, weder in Bezug auf seine Neuordnung als unabhängiger Staat noch in Bezug auf seine Wirtschaftsstruktur als der Moderne verpflichtet bezeichnet werden. Wenn die genannten Autoren „Struktur- und Systemunterstellungen" der „Moderne" definieren, meinen sie damit die Territorialität moderner Gesellschaft (ihre Orientierung auf den Territorialstaat), die „programmatische Individualisierung" (die sie aber selbst historisch vielfach relativieren) sowie die „Erwerbsgesellschaft".31 Zwar brachte die Unabhängigkeit die Schaffung eines nationalen Parlaments ebenso wie von Provinzparlamenten und band das Staatsoberhaupt an die Verfassung. Aber der portugiesische Thronfolger sicherte als Kaiser nicht nur die Kontinuität der Herrschaftsfamilie, sondern auch eine monarchische Struktur des Staates, die sowohl die Gewaltenteilung wie die formale Gleichheit der Bürger relativierte. Außerdem kann insbesondere keine Rede davon sein, dass sich das brasilianische Kaiserreich beziehungsweise die europäisch geprägte, politisch partizipierende Gesellschaft als eine Erwerbsgesellschaft verstand oder konstituieren wollte.32 Vielmehr setzte der weltwirtschaftlich bedeutsame Zucker-, Tabak- und Kaffeeproduzent Brasilien auch im 19. Jahrhundert ungebremst auf Sklavenarbeit und setzte hierfür den Import versklavter Afrikaner und Afrikanerinnen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts fort, bis der internationale Druck und die englischen Schiffspatrouillen dieser Praxis ein Ende setzten und damit auch das Ende der Sklaverei absehbar wurde.33 Diese Strukturen nun aber als „vormodern" zu bezeichnen, weil sie in das von Beck, Bonß und Lau entworfene Modell der „Moderne I" nicht passen, wäre irrig. Die frühe weltwirtschaftliche Verflechtung der brasilianischen, europäischen und nordamerikanischen Wirtschaftseliten durch die Exportwirtschaft schuf Strukturen, die die Territorialität der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Orientierung durchkreuzte. Damit entstand eine Vorform derjenigen Strukturen, die die Autoren erst konstitutiv für die „Moderne II" ansprechen und die heute im Zusammenhang mit der Globalisierungsdiskus-

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U. Beck / W. Bonß / C. Lau: Theorie reflexiver Modernisierung, S. 11-25. Sie kennzeichnen folgende Strukturen als modern: nationalstaatliche Organisation, Territorialbindung von Produktion, Kooperation und Betrieb, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Kleinfamilie als Reproduktionsort, ständisch geprägte Milieus, Teilsysteme, Hierarchisierung von Experten und Laien. Ebd. K. Bosl von Papp: Vom Ende des Sklavenhandels zur Abolition, insbes. S. 112; C.A. Pernet: Besitz und Mensch, S. 100-101. K. Bosl von Papp: Vom Ende des Sklavenhandels zur Abolition, S. 116-117.

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sion thematisiert werden. Allein die Beschaffung der Arbeitskräfte ließ einen „Arbeitsmarkt" entstehen, der mit nationalstaatlichen Kategorien nicht zu begreifen ist. Auch die Arbeitskräfte selbst verankerten sich kulturell außerhalb nationaler Territorialität. Solche im Konzept der „Moderne I" als „vormoderne" Orientierungen verstandene Bezüge lassen die Hybridität der Moderne bereits erkennen und denunzieren die Vorstellung einer so genannten „Container"-Modeme als kurzschlüssigen, historisch nicht haltbaren Definitionsversuch. Hinsichtlich der Auseinandersetzung um Sklavenbesitz waren brasilianische Eliten modern: Sie hatten den Menschenrechtsgedanken wie die revolutionären Postulate der Aufklärung und die Kritik kolonialer Wirtschaftslenkung rezipiert und daraus an der Wende zum 19. Jahrhundert ihre Kritik gegenüber der Kolonialmacht definiert. Ebenso hatten sie rassistische neben anderen Legitimationsmustern übernommen, um ihre Praxis der Sklaverei zu begründen. Dies änderte sich auch im unabhängig gewordenen Kaiserreich nicht. „Aufgeklärtere" Großgrundbesitzer folgten dem Argumentationsmuster, das Sklaverei als Unrecht wahrnahm, sie aber zugleich als wirtschaftliche Notwendigkeit rechtfertigte. Damit gelang es ihnen, neben der Aufrechterhaltung der Herrschaft und der wirtschaftlichen Ausbeutung der Schwarzen durch die Weißen auch einen Mythos des friedlichen Miteinanders von „Rassen" zu entwickeln, der die faktische und gewollte Diskriminierung der Schwarzen und den Ausschluss der indigenen Bevölkerung überdecken sollte.34 Auch wenn es seit den Anfangen des 19. Jahrhunderts Politiker und Großgrundbesitzer gab, die die Umwandlung der Sklavenarbeit auf Plantagen in freie Arbeit diskutierten, stützte sich die Begründung für die Notwendigkeit der Suche nach möglichen Formen der Einfuhrung freier Arbeit auf den Großgrundbesitzungen doch nur auf den englischen Druck zugunsten der Einstellung des Sklavenhandels. Daneben gab es eine Diskussion über die Schaffung einer eigentlichen kleinbäuerlichen und kleingewerblichen Erwerbsgesellschaft durch die Schaffung von Kolonisationskernen. Sie zielte aber nicht auf die Regionen der Plantagenwirtschaft, sondern auf ihre Randzonen - oder war völlig theoretisch auf die „Nation" bezogen, außer im Fall des gescheiterten parceria-Versuches (Halbpacht) in den Kaffeeplantagen von Säo Paulo.35 Sklavenarbeit war als wirtschaftliche Grundlage der Exportwirtschaft unbestritten - diese ermöglichte den brasilianischen Großgrundbesitzern die kaufkräftige Partizipation an der kapitalistischen Weltwirtschaft und damit an

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S. Costa: Nachhaltige Folgen der Plantagenwirtschaft. B. Ziegler: Schweizer statt Sklaven, S. 22-53; B. Ziegler: Schweizerische Kolonisten und die liberale Entwicklungsideologie in Brasilien.

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einer im Wandel begriffenen Welt. Diese Partizipation setzte dennoch den Aufbau moderner Infrastruktur und moderner Institutionen im Land selbst voraus: Nur so konnten gewinnbringend und konkurrenzfähig die von Sklaven produzierten Produkte der Plantagenwirtschaft (wie Kaffee, Zucker, Kakao oder Tabak) nach Europa und in die USA verschifft werden. Der Eisenbahnbau, die Erstellung von Hafenanlagen und der städtischen Infrastruktur in den Zentren der Vermarktung der Export- wie der Importwaren stimulierten die Diversifizierung insbesondere der Urbanen Wirtschaft. Ihre Finanzierung erfolgte aus den Gewinnen der Exportproduktion sowie aus Anleihen auf dem internationalen Geldmarkt. Diese wie die Anforderungen des Handels und des Bankenwesens verlangten zudem nach der Modernisierung unter anderem des Wirtschafts- und Personenrechts. So war es gerade die auf Sklaven gestützte Plantagenwirtschaft, die partielle und sektorielle Modernisierungen vorantrieb.36 Dabei würde die Annahme historisch zu kurz greifen, die Sklaverei sei der Moderne lediglich Patin gestanden. Die auf unfreier Arbeit basierende Plantagenwirtschaft blieb eine zentrale Quelle von Ressourcen für die Modernisierungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Sklaverei stand schließlich - auch hier setzt eine Verortung in der Moderne an - am Anfang des Industrialisierungsprozesses in der Kaffeeregion von Säo Paulo, und damit einer wirtschaftlichen Strukturveränderung und eines sozialen Wandels, indem das in der Sklavenwirtschaft sich anhäufende Kapital einen wesentlichen Beitrag an den industriellen Aufbau leistete. Allerdings war gleichzeitig die Industrialisierung nicht denkbar ohne die inzwischen einwandernden europäischen Arbeitskräfte.37 Allerdings wurde auch deren Überfahrt durch von Sklaven erwirtschaftete staatliche Gelder finanziert, und diese Arbeitskräfte adaptierten sich, sobald sie konnten, an die Struktur der Ausbeutung. Sklaverei und Moderne lassen sich im Brasilien des 19. Jahrhunderts also als untrennbar miteinander verbundene Konzepte verstehen: Die erheblichen Gewinne aus der Plantagenexportwirtschaft und dem dadurch angekurbelten Importhandel und Bankwesen bildeten eine zentrale Voraussetzung der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Selbst die Einwanderung, die ihrerseits eine unverzichtbare Voraussetzung fiir die Verstetigung des sozialen Wandels darstellte, verdankt sich der überaus lange aufrecht erhaltenen Versklavung importierter Afrikanerinnen und Afrikaner. Ja, es ist davon auszugehen, dass gerade die erfolgreiche Integration von zugewanderten Europäern 36

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Die Modernisierung gesellschaftlicher und infrastruktureller Bereiche des Landes wurde insbesondere auch von der internationalen Handelspräsenz in Brasilien gefordert. Vgl. diesbezüglich für schweizerische ICaufleute B. Ziegler: Schweizerische Kaufleute, S. 163 165. Anstelle zahlreicher Hinweise auf brasilianische und internationale Literatur sei hier lediglich verwiesen auf die Übersichtsdarstellung von J.D. Needell: Brasilien 1830-1889.

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auf der Grundlage unbezahlter Arbeit beziehungsweise auch nach der Abolition der Abschöpfung von Mehrwert aus der Arbeit der strukturell diskriminierten schwarzen und ca6oc/o 38 -Bevölkerung erfolgte, wie das frühe Beispiel der schweizerischen Kolonisten zeigt. Die Sklaverei ist im Kern der brasilianischen Moderne angesiedelt, sowohl, was die Wertschöpfung und damit die wirtschaftliche Entwicklung anbelangt, als auch, was die Reflexion über den Sachverhalt der Sklaverei zwischen formaler Abschaffung und Weiterexistenz von verwandten Formen inklusive ihrer Rechtfertigungsideologien (Rassismus) in der brasilianischen Gesellschaft betrifft. 39

Die Modernisierung der Unfreiheit: Persönliche Freiheit und Abhängigkeit durch Ausbeutung Der brasilianische Abolitionist Joaquim Nabuco war davon überzeugt, dass die Abolition allein die strukturellen Prägungen der brasilianischen Gesellschaft durch die Sklaverei nicht beseitigen konnte. Er verlangte tief greifende Reformen, um die freien Schwarzen in die Gesellschaft zu integrieren. 40 Die große soziale Herausforderung bleibt bis heute bestehen. 41 Dieser Sachverhalt zeigt sich etwa darin, dass der Rassismus in der brasilianischen Gesellschaft seine Bedeutung bewahrt hat: Er stützt die Armut der Schwarzen, indem er ihre Ursachen in sie hinein verlegt. 42 Die tiefer liegenden strukturellen Probleme, insbesondere die ausgeprägte Konzentration des Grundbesitzes machten schon während des 19. Jahrhunderts die Kolonisationsversuche deutlich. Und die Entwicklungen nach der Abolition wiesen in die gleiche Richtung: Wenn in riesigen, mit Plantagen bewirtschafteten Gebieten Brasiliens Landlose trotz ihrer Landarbeit unter das Existenzminimum gedrückt werden, ohne jede Perspektive für eine Veränderung, zeigt sich, dass die Unterscheidungen zwischen Sklavenarbeit und freier Arbeit undeutlich werden. Sei es, dass Arbeitskräfte - wie in der Kolonisation der Fall - über eine (auch vererbbare) Schuldknechtschaft an die Plantage gebunden werden, sei es dass sie über die völlige Pauperisierung und Marginalisierung in Elendsquartieren nach Belieben für die völlig unsichere und unstetige Tag-

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Ais „caboclos" wurden ursprünglich Personen bezeichnet, die einer Verbindung zwischen einem Europäer und einer india entsprangen. Es wird mit der Bezeichnung aber mit signalisiert, dass es sich um arme, ungebildete, in der Landwirtschaft tätige Personen handelt. Sie trifft auch heute die Verachtung der Urbanen Mittelschichten Brasiliens. Zur Prägung der brasilianischen Moderne durch die Sklaverei vgl. auch J. Augel: Liga, S. 5-8. Zum Zusammenhang zwischen Sklaverei und Moderne vgl. J.-G. Deutsch: Sklaverei als historischer Prozess. J. Nabuco: O Abolicionismo. Vgl. etwa K. Bosl von Papp: Vom Ende des Sklavenhandels zur Abolition, S. 126. S. Costa: Nachhaltige Folgen der Plantagenwirtschaft, S. 132-134.

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lohnarbeit zur Verfügung stehen. Zumal der Staat in keiner Weise die minimalen Persönlichkeitsrechte der den - oftmals gewaltbereiten - Großgrundbesitzern ausgelieferten Landarbeiter wirksam schützen kann.43 Insofern wird deutlich, dass Joos in seiner Motion unrecht hatte: Die Abschaffung der Sklaverei führte und führt für sich allein nicht zu einer Höherbewertung der Arbeit. Vielmehr wandeln und modernisieren sich damit die Formen der Ausbeutung, und die fremdbestimmte, durch völlige Besitzlosigkeit und soziale Marginalisierung erreichte, im Zweifelsfall mit Gewalt erzwungene Arbeitsleistung brasilianischer Landarbeiter ist noch immer in wesentlichen Teilen Brasiliens die Grundlage der Plantagenwirtschaft. Gleichzeitig ist diese mehr denn je integriert in eine weltumspannende Handelsstruktur, und ihre Nutznießer sind gleichzeitig Teil eines modernen Brasiliens. Diese grundlegende Bedeutung auf unfreier Arbeit basierender Plantagenwirtschaft hatten die „Experten", die der schweizerische Bundesrat für die Beantwortung des parlamentarischen Vorstoßes von Joos konsultierte, realistischer, wenn auch gleichzeitig zynisch gesehen. Sowohl J.J. von Tschudi, der außerordentliche Gesandte der Eidgenossenschaft in Brasilien, wie auch der Kaufmann, Bankier und ehemalige Konsul in Rio de Janeiro, Eugène David, beurteilten zuhanden des Bundesrates die Möglichkeiten, mit einer Strafnorm Schweizer zum Verzicht auf Sklavenbesitz zu zwingen, als kontraproduktiv und sinnlos zugleich. Zum einen hätte die damit ausgesprochene Kritik an der brasilianischen Gesellschaft die Entscheidungsträger um den Kaiserhof gegen die Schweiz aufgebracht und Verhandlungen zur Verbesserung des Loses von schweizerischen Kolonisten torpediert, zum andern hätte der Verzicht schweizerischer Großgrundbesitzer, Kaufleute, Bankiers und Handwerker auf Sklaven den finanziellen Ruin derselben zur Folge, aber im Übrigen auf die Institution der Sklaverei keinerlei Einfluss gehabt.44 Solange der Abolition nicht tief greifende Reformen folgen, die die Exklusivität von Macht und Reichtum in den Händen Weniger beseitigen, bleibt die „unfreie" Arbeit der Bevölkerungsmehrheit als Grundlage des modernen Brasiliens erhalten.

Literatur AUGEL, Johannes: In der ersten Liga spielen. Pläne und Visionen brasilianischer Großmachtpolitik. Bielefeld 2001. (Working Paper, 336). www.unibielefeld.de/tdrc/publications/working_papers/Wp336.pdf (07.08.07).

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Zur Aktualität des Befundes vgl. auch J. Augel: In der ersten Liga spielen. Bericht des Bundesrathes an den h. Nationalrath, betr. Strafbestimmungen gegen Schweizer in Brasilien, welche Sklaven halten. (Vom 2. Dezember 1864). Bundesblatt 3 (53) 1864, S. 230-239.

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BECK, Ulrich / BONß, Wolfgang / LAU, Christoph: Theorie reflexiver Modernisierung Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme. In: Ulrich Beck / Wolfgang Bonß (Hg.): Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, S. 11-59. BOSL VON PAPP, Katharina: Vom Ende des Sklavenhandels zur Abolition: Das Ringen um die Abschaffung der Sklaverei in Brasilien, 1850-1888. In: Eva Dietrich / Roman Rossfeld / Béatrice Ziegler (Hg.). Der Traum vom Glück. Schweizer Auswanderung auf brasilianische Kaffeeplantagen 1852-1888. Baden: Hierhletzt, 2003, S. 112-126. BUESCU, Mircea: Historia económica do Brasil - pesquisas e analises. Rio de Janeiro: APEC, 1970. COSTA, Sérgio: Nachhaltige Folgen der Plantagenwirtschaft: Tückische Ungleichheiten. In: Eva Dietrich / Roman Rossfeld / Béatrice Ziegler (Hg.). Der Traum vom Glück. Schweizer Auswanderung auf brasilianische Kaffeeplantagen 1852-1888. Baden: Hier+Jetzt, 2003, S.127-137. DAVID, Thomas / ETEMAD, Bouda / SCHAUFELBUEHL, Janick Marina: Schwarze Geschäfte. Die Beteiligung von Schweizern an Sklaverei und Sklavenhandel im 18. und 19. Jahrhundert. Zürich: Limmat, 2005. Jan-Georg: Sklaverei als historischer Prozess. In: Jan-Georg Deutsch / Albert Wirz (Hg.) Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten. Berlin: Das Arabische Buch, 1997, S. 53-73.

DEUTSCH,

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LLNGG,

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Sklaven und Moderne

Name des Sklaven bzw. der Sklavin

155

Herkunft („Nation")

Vermerk

Feitor

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

Hommes Grands Joäo Crispim José Simäo Gaetano Antonio Philippe Paulo Manoel Francisco Joaquim Paulo Luiz Domaso Vicente Bastiäo Fernando Reginaldo

Cabinda Cabinda Cabinda Cassanga Moçambique Cabinda Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Cabinda Moçambique Moçambique Moçambique Cabinda Moçambique Moçambique

19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36.

Noirs Petits David Jorge Rosino Laurenzo Gezalio Genuar Albino André Pedro Carlo Pio Frederico lo Martim Jozé Miguel Frederico 2o Antonio 2o Pegado

Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Moçambique Inconnu Moçambique Inconnu

Tropeiro

Tropeiro en 2o

Maréchal ferr.

156 37.

Béatrice Ziegler Lenzo

Inconnu

Femmes Maria Moçambique Susanna Cassanga Rosa Moçambique Theresa Cabinda Luisa Cabinda Catharina Moçambique Pauline Moçambique Joaquina Minas Marianna Minas Isabella Moçambique Julianna Moçambique Florinda Moçambique Marguerita Moçambique Philipina Moçambique Sophia Moçambique Catharina 2a Moçambique Luiza 2a Cabinda 1 enfant à la mamelle, du No 2 Crispim Liste nominative des Noirs. Annex zum Inventar der Plantage von François Cruchaud André Brugger, Nicolas Ott vom 1. März 1829. Schweizerisches Bundesarchiv E 2200.67 1000/675, Bd. 47.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Vermerk

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Name des Sklaven bzw. der Sklavin Henriques Joze Paulo Miguel Mathias Francisco Luiz Laurent Silvestre Alberto

1. 2.

Maria Catherina

Mina Doentia Velha

Preis

5:000 $ 000 réis

300 $ 000 200 $ 000

Sklaven und Moderne 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Thereza Luzia Roza Rita Luiza Anna Maria Izabella Jannetta Leopoldina

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Joaquim Antonio Manoel Lucio Filippe Jeronimo Gabriel Vicente Rafael Marcelino Benedito demente Marco

Novas

Doentia maluqua Conga nova Urna criolinha dita

157 400 300 300 300 300 300 400 300 400 100

$ $ $ $ $ $ $ $ $ $

000 000 000 000 000 000 000 000 000 000

à 400 $ 000

Com ferida allejado

350 $ 000 200 $ 000

Avaliaçào da Fazenda denominada de Bom Vallo. Durchgeführt von Alberto Rodolfo de Graffenried und Joze Joaquim Soares, als Bevollmächtigte des schweizerischen Konsuls von Rio de Janeiro, Auguste de Tavel, 26.3.1829. Schweizerisches Bundesarchiv E 2200.67 1000/675, Bd. 47.

II AKTEURE: AUSHANDLUNG DER MODERNE

Horst Pietschmann F R A N C I S C O DE S A A V E D R A Y S A N G R O I S , 1 7 4 6 - 1 8 1 9 : D E R V E R S U C H EINER A U T O B I O G R A P H I E EINES SPANISCHEN POLITISCHEN A K T E U R S Z W I S C H E N R E F O R M , R E V O L U T I O N UND R E A K T I O N

Über die bourbonischen Reformen in Spanien und Hispanoamerika und deren Bedeutung für den Ausbruch der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen sind in den letzten Jahrzehnten ganze Bibliotheken von Einzeluntersuchungen und Gesamtdeutungen geschrieben worden. Auch im weiteren Rahmen des revolutionären Zeitalters zwischen der Unabhängigkeit der USA, der Französischen Revolution, der zur Unabhängigkeit führenden Sklavenrevolution in Haiti, den von Napoleon angestoßenen politischen Veränderungen und dem vom Wiener Kongress und der Heiligen Allianz ausgehenden Restaurationsprozess hat die iberische Welt die Aufmerksamkeit vor allem der europäischen Historiographie auf sich gezogen, war doch die spanische Volkserhebung gegen Napoleon der Anfang von dessen Ende. Lange Zeit verlief zwischen diesen beiden Linien historiographischen Bemühens ein trennender Graben, da sich die mehr auf Europa zentrierte Forschung allenfalls am Rande für Iberoamerika interessierte und umgekehrt die Historiographie zur lateinamerikanischen Unabhängigkeit und dem sie begleitenden Staatsbildungsprozess nur am Rande die parallel verlaufenden europäischen Prozesse in ihre Fragestellungen einbezog.1 Die erwähnte Masse an einschlägigem Schrifttum, dessen Ausrichtung und die zwischenzeitlich zu beobachtenden Versuche neuer Bilanzierungen dieser Prozesse gehen sicherlich überwiegend auf die Erschließung neuen und weit verstreuten Quellenmaterials auf eher regionalen und lokalen politisch-administrativen Ebenen zurück und nur zu einem geringeren Teil auf unterschiedliche methodische Einige neuere Publikationen lassen dies immer noch beispielhaft erkennen, vgl. J.E. Rodríguez O.: The Independence of Spanish America; F. Barrios (Hg.): El gobierno de un mundo, in dem etwa eine direkte Linie von den staatlichen Strukturen der Kolonialzeit zu den unabhängigen Nationen gezogen wird; umgekehrt vgl. beispielsweise A. Klinger / H.-W. Hahn / G. Schmidt (Hg.): Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Seltene Ausnahmen, die die angesprochene Bruchlinie zu überbrücken versucht haben, gehen in der Masse des Schrifttums tendenziell unter, vgl. etwa R. Wohlfeil: Spanien und die deutsche Erhebung; M. Kossok: Revolutionen der Weltgeschichte; ders.: Historia de la Santa Alianza y la emancipación de América Latina. Dazu ausführlicher und mit Verweis auf die inzwischen verfügbaren Internet-Ressourcen H. Pietschmann: Paralelismos y percepciones mutuas.

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Ansätze und veränderte Fragestellungen. Neben vielen Dingen, die zur Entwicklung der Historiographie zum vorliegenden Themenkomplex anzumerken wären, ist aber besonders hervorzuheben, dass das Genre der Biographie sich etwa seit den 1960er Jahren deutlich auf dem Rückzug befindet. Herausragende Akteure wie Simón Bolívar, José de San Martín, José María Morelos y Pavón und einige andere waren sicherlich immer wieder Gegenstand biographischer Versuche, ja, es wurden vereinzelt sogar kollektive Biographien dieser Akteure, etwa unter dem Oberbegriff „caudillo", publiziert. Dagegen fehlt es weitestgehend an Biographien von deren Gegenspielern, die für die Wahrung der bestehenden Ordnung oder zumindest für die Beibehaltung der monarchischen Regierungsform oder einer wie auch immer politisch auszugestaltenden Verbindung zwischen Spanien und seinen überseeischen Besitzungen eintraten. Besonderen Seltenheitswert bezüglich biographischer Darstellungen scheinen autobiographische Versuche zu haben. Eine Diskussion um Ego-Historie in Bezug auf die zur Diskussion stehende Epoche findet sich im Bereich der spanischsprachigen Historiographie bislang nicht. Die schiere Masse des inzwischen erschlossenen Quellenmaterials und seine Verteilung auf unzählige Archive, Sammlungen und Bibliotheken nahezu rund um den Globus hat auch dazu geführt, dass es nur wenige breiter angelegte quellenkundliche Untersuchungen gibt. Stattdessen hat die sich rasch entwickelnde Digitalisierung ganzer Archive dazu geführt, dass inzwischen der direkte Zugriff auf zentrale Archivbestände über nationale Internet-Portale ausgebaut wurde, wie zum Beispiel www.cervantesvirtual.com/ oder http://pares.mcu.es/ für Archivos Españoles en Red, von denen man zumindest auf alle lateinamerikanischen Nationalarchive gelangt und von dort aus in vielen Fällen, wie beispielsweise in Mexiko, auch zu Provinzarchiven und anderen Quellenbeständen. Der einzige wirklich global angelegte Führer zu den Quellen- und Archivbeständen weist trotz sehr guter Register kein Stichwort zu Autobiographien aus und enthält überhaupt nur ganz wenige Hinweise auf biographische Sammlungen.2 Bei detaillierter Suche finden sich zwar viele Hinweise auf Archive mit biographischen Quellen oder geschlossene Archivbestände aus dem Besitz von zeitgenössischen Akteuren beziehungsweise von deren Nachkommen. Dieser Sachstand überrascht insofern, als zahlreiche iberische und lateinamerikanische Enzyklopädien oder historische Lexika einen großen Bestand biographischer Lemmata aufweisen, die erkennen lassen, dass, ungeachtet einer breiteren Ausrichtung der jeweiligen Geschichtsschreibung, die Verehrung der Begründer von Staat und Nation in Lateinamerika oder der

Vgl. S. Hilton /1. González Casasnovas: Fuentes manuscritas para la historia de Iberoamérica, XLIII / 617 S. Auf den römisch paginierten Seiten finden sich zahlreiche Hinweise auf bibliographische Werke zu einzelnen Ländern, Themen usw.

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bedeutenden historischen Akteure Spaniens, wenn nicht gar Verfechter einer Hispanitätsidee, wie sie während der Zeit des Franco-Regimes so offenkundig herausgestellt wurden, nach wie vor ein wichtiges Element der Pflege eines historischen Bewusstseins darstellen. Diese Akteure hatten ihrerseits ein deutlich erkennbares historisches Interesse, schrieben selbst Memoiren, wie Manuel Godoy, der Friedensfurst,3 gruppierten sich um die Real Academia de la Historia und deren historische Publikationstätigkeit oder veröffentlichten selbst Quellen oder historische Werke. Von einer ganzen Reihe dieser aufgeklärten und politisch tätigen Persönlichkeiten sind zudem die Archive erhalten und die Bestände ihrer Bibliotheken überliefert.4 Der vielleicht bekannteste dieser Staatsmänner ist Pedro Rodríguez de Campomanes, dessen Publikationen großenteils neu ediert und dessen reichhaltiges und inzwischen zugängliches Archiv bereits zur Grundlage neuerer Studien wurde.5

Die autobiographischen Erinnerungen des Francisco de Saavedra Zu dieser Kategorie historischer Persönlichkeiten gehört auch Francisco de Saavedra y Sangrois, gebürtig 1746 in Sevilla, mütterlicherseits mit französischen Vorfahren, der nach einer in vieler Hinsicht denkwürdigen Laufbahn 1819 wiederum in Sevilla verstarb. Von ihm ist nicht nur ein unvollständiges autobiographisches Werk erhalten,6 das in die Kategorie der Ego-Historie einzuordnen ist, sondern auch große Teile seines persönlichen Archivs.7 Sowohl die unterschiedliche Charakteristik seines Werkes bald als „Journal", „Memorias" oder „Autobiografía" und „Diario" in den zitierten Ausgaben als auch die unterschiedliche Schreibweise seines Namens sowie die teils französische, teils hispanisierte Schreibweise seines zweiten, also mütterlichen, Familiennamens lassen erkennen, dass die Schrift Saavedras nicht wegen ihres Genres das Interesse der Herausgeber weckte, sondern offenbar wegen ihres Inhalts. Bezüglich der Schreibweise des zweiten Familiennamens wird in der vorliegenden Studie die französische Version benutzt, die auch der Autor des in Anmerkung 7 zitierten Archivführers angibt. Zu erwähnen ist auch der Umstand, dass Saavedra zu den Zeitgenossen gehörte, die von Goya gemalt wur-

3 4 5 6

7

Príncipe de la Paz: Memorias. Vgl. dazu J.M. Portilla Valdés: Revolución de nación. Vgl. beispielsweise C. de Castro: Campomanes. Eine erste Teilveröffentlichung in englischer Übersetzung als: F. Morales Padrón (Hg.): Journal of Don Francisco Saavedra de Sangrois; M. Moreno Alonso (Hg.): Francisco de Saavedra de Sangrois; F. de Saavedra: Los Decenios; spätere Ausgabe als F. Morales Padrón (Hg.): Diario de Don Francisco de Saavedra. Für die vorliegende Studie wurde die Ausgabe Sevilla 1995 benutzt, auf die sich die zitierten Passagen beziehen. Vgl. A.I. Laserna Gaitán: El Fondo Saavedra.

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den.8 Das Bild zeigt einen eher schlanken, sorgfaltig im Stil der Epoche gekleideten Mann mit ernsten, ebenmäßigen, leicht angespannt wirkenden Gesichtszügen, der mit etwas angewinkelten Beinen aufrecht auf einem Stuhl sitzt, die rechte Hand auf dem Knie ruhend und mit der Linken auf einen Tisch gestützt, auf dem einige Papiere liegen. Kenner von Goyas Werk werden das Bild sicherlich subtiler zu deuten verstehen, jedoch deutet zumindest auf den ersten Blick nichts auf eine implizit kritische Sicht des Malers auf die portraitierte Person hin. Eher vermittelt das Bild den Eindruck von einem korrekt seinen Pflichten obliegenden hohen Beamten, der Saavedra offenkundig tatsächlich auch war. So wenig spektakulär Goyas Bild von Saavedra auch wirkt, so überraschend und ungewöhnlich ist freilich seine Laufbahn. Im Alter von zehn Jahren nahm Saavedra 1757 seine Studien am Kolleg von Sacromonte in Granada auf. 1761 wurde er dort Lizentiat und Doktor der Theologie, bewarb sich 1767 vergeblich um eine Pfründe an der Kathedralkirche von Cädiz, einer Stadt, die ihn offenbar wegen ihrer vom Militär und den Überseebezügen geprägten Atmosphäre fesselte. Im gleichen Jahr wird der 21-Jährige Mitglied der Academia de Buenas Letras von Sevilla, um 1768 in den Militärdienst einzutreten und drei Jahre später zum Leutnant befördert zu werden.9 Ein 24-jähriger promovierter Theologe als Leutnant des Heeres lässt vermuten, dass er als Theologe dem Regalismus, der spanischen Form des französischen Gallikanismus, zuneigte und den vom Bourbonenkönig Karl III. umgesetzten Heeresreformen in Richtung auf eine Art „Schule der Nation" zumindest nahe stand. Der junge Leutnant wurde zunächst von General Graf O'Reilly gefordert, der bereits in den 1760er Jahren im Auftrag der Krone mit der Durchfuhrung von Reformmaßnahmen in der Karibik beauftragt war; die von diesem befehligte und verlustreich gescheiterte Militärexpedition gegen Algier führte aber zur Distanzierung von diesem. In der Armee schloss er Freundschaft mit Bernardo de Gälvez, dem Neffen des 1776 zum Indienminister ernannten José de Gälvez, der ihn als - heute würde man sagen - Abteilungsleiter in das Ministerium holte und ihm die Redaktion des Reglamento de Comercio Libre von 1778 übertrug, einer grundlegenden Umgestaltung der Handels- und Schifffahrtsbeziehungen zwischen dem Mutterland und dessen Besitzungen in Übersee, die den direkten Handels- und Schiffsverkehr mit den meisten spanischen und

8

9

Das aus dem Jahr 1789 stammende Bild Ölgemälde auf Leinwand, 110,2 x 119,6 cm - zeigt Saavedra an einem Schreibtisch sitzend und ist im Besitz der Courtauld Institute Galleries London. Eine Reproduktion in Schwarz-Weiß befindet sich in der hier benutzten Ausgabe im Anschluss an die Titelei [Anm. der Herausgeber: Das Bild ist auch auf der Website der Courtauld Institute Galleries verfügbar: www. artandarchitecture.org.uk/images/gallery/ df51285d.html; Stand Sept. 2008], Vgl. auch die etwas ausführlichere biographische Skizze zu Saavedra in der Ginleitung von Francisco Morales Padrón zur hier benutzten Edition, vgl. Anmerkung 6, S. 9 ff.

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amerikanischen Häfen vorsah. Daneben intervenierte Saavedra bei der ebenfalls 1778 erfolgenden Gründung der spanischen Handelskompanie für die Philippinen.10 Die Anfange seiner politischen Laufbahn lenken den jungen, theologisch gebildeten Offizier überraschenderweise in eine handels- und wirtschaftspolitische Richtung. Als Spanien bald darauf an der Seite Frankreichs für die um ihre Unabhängigkeit kämpfenden späteren USA Partei ergriff und in den Krieg gegen England eintrat, wurde der sprachgewandte Saavedra - neben Französisch hatte er auch Englisch gelernt - von dem Minister Gälvez in geheimer Mission und mit besonderen Vollmachten in die Karibik gesandt, um die geplanten gemeinsamen Militäraktionen französischer und spanischer Truppen dort zu koordinieren. Die spanischen Kriegsziele bestanden in der Vertreibung der Engländer aus dem Golf von Mexiko, aus Zentralamerika und Florida sowie in der Rückeroberung der im 17. Jahrhundert an England verlorenen Insel Jamaika. Diese hatte sich immer mehr zum strategischen Zentrum der englischen Expansion in diesem Raum entwickelt. In der Karibik wurde das Saavedra befördernde spanische Schiff von den Engländern gekapert und dieser geriet in englische Gefangenschaft auf Jamaika, hatte aber in dem vorausgegangenen Seegefecht noch rechtzeitig seine Papiere vernichten können, so dass er sich den Engländern gegenüber als Kaufmann ausgeben, sogar die Insel etwas erkunden und bald nach Kuba entkommen konnte. Dort nahm er seine Tätigkeit auf, die ihn in viele Teile der Karibik und bis nach Mexiko führte sowie mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten in Kontakt brachte. Im Vorfeld der Pariser Friedensverhandlungen wurde er nach Frankreich beordert, wo er in engem Kontakt mit dem spanischen Botschafter, dem Grafen Aranda, in die Verhandlungen eingebunden wurde, aber noch vor dem formellen Friedensschluss 1783 nach Madrid zurückkehrte. Dort erhielt er die Ernennung zum Intendanten von Venezuela, ein Amt, das er 1783 antrat und bis 1788 ausübte. Nach Madrid zurückgekehrt, heiratete Saavedra eine Hofdame und wurde zum Mitglied des spanischen Kriegsrates - des Consejo de Guerra - ernannt. 1797 übernahm er das Amt des Finanzministers und leitete umgehend den Prozess der Desamortisation" ein. 1798 wurde Saavedra 10

''

Die Einrichtung einer ganzen Reihe von solchen Handelskompanien im 18. Jahrhundert erweist sich heute als eine vornehmlich politische Maßnahme zur Beschneidung des Einflusses der amerikanischen Vizekönigreiche, vor allem des Vizekönigreiches Neuspanien (das spätere Mexiko), wie gerade auch Saavedras nachfolgend zu betrachtender Text belegt. Der spanische Begriff „desamortización" ist etwas weiter gefasst als das deutsche Pendant „Säkularisation" und umfasst den gesamten Prozess der Privatisierung des Besitzes der Toten Hand, der unter Saavedra seinen Anfang nahm und in Schüben bis weit ins 19. Jahrhundert hinein andauerte. Neben Kirchenbesitz wurden davon nach und nach auch Mayorate / Fideikomisse, Gemeindebesitz, die Besitzungen von religiösen Bruderschaften, Zünften, Hospitälern usw. erfasst.

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zunächst interimistisch - Premierminister. Anfeindungen und eine Erkrankung ließen ihn kurze Zeit später seinen Rücktritt einreichen, dem entsprach König Karl IV., ernannte ihn daraufhin zum Mitglied des Staatsrates und gestattete ihm, sich zur Wiederherstellung seiner Gesundheit nach Andalusien zu begeben. Über seine Tätigkeiten in den Folgejahren ist wenig bekannt. Erst 1808 im Zuge des spanischen Volksaufstandes gegen die Truppen Napoleons, der König Karl IV. und seinen Sohn Ferdinand zum Rücktritt gezwungen hatte, um in Spanien seinen Bruder Joseph als König zu etablieren, trat Saavedra wieder stärker ins politische Rampenlicht. Er wurde Mitglied der Junta von Sevilla, die ihn zu ihrem Präsidenten ernannte. Bald darauf ernannte ihn die Junta Central, die stellvertretend für den „verhinderten" Ferdinand VII. die Regierungsgewalt übernahm und den Krieg gegen die Franzosen organisierte, erst zum Finanzminister und bald darauf zum Premierminister. Nach der Flucht der Junta im Gefolge der Besetzung Andalusiens durch die Franzosen organisierte Saavedra das Zusammentreten des Ausschusses in Cádiz und wurde dort zum Mitglied der Regentschaft ernannt. Nach einer brillanten Laufbahn, die ihn im Zeitalter König Karls IV. und seines Günstlings Manuel Godoy, der vom königlichen Gardisten zum Herzog von Alcudia, zum Friedensfürsten - Príncipe de la Paz - und zum Leiter der spanischen Politik aufgestiegen war, in höchste Ministerämter führte, gelangte Saavedra damit an die Spitze des spanischen Staatswesens, in einer Zeit krisenhafter Zuspitzungen und revolutionärer Umbrüche, die einerseits im Jahre 1812 zur liberalen Verfassung von Cádiz und andererseits zum Ausbruch der Unabhängigkeitskämpfe im spanischen Amerika führten. Nach dem weiteren Vorrücken der Franzosen flüchtete Saavedra nach Ceuta in die spanische Exklave in Nordafrika, von wo er im Februar 1813 nach Sevilla zurückkehrte. Ferdinand VII. verwandte Saavedra nach seiner Rückkehr auf den spanischen Thron nicht mehr in der großen Politik, sondern übertrug ihm die Leitung einer staatlichen Kompanie, die die Schifffahrt auf dem Guadalquivir modernisieren sollte. Nebenher leitete er die Patriotische Gesellschaft12 Sevillas und die Medizinische Akademie der Stadt. Zusätzlich betätigte er sich als Schirmherr und Förderer kostenloser Schulen für arme Kinder im Stadtviertel von Triana, dem traditionellen Stadtviertel der Seefahrer in Sevilla, dessen Bevölkerung mit dem Rückgang der Bedeutung Sevillas als Überseehafen im 18. Jahrhundert weitgehend verarmt war. Parallel dazu führte Saavedra seine von ihm als Dezennien (decenios) bezeichnete Autobiographie weiter, die er während seines Exils in Ceuta begonnen hatte. Obwohl ihm vom Beginn der Abfassung dieses Textes in den Jahren 1812/13 an bis zu seinem Tod am 24. November 1819 noch etwa sechs Jahre Sociedades Económicas de Amigos del País hießen diese im Zeitalter König Karls III. gegründeten Gesellschaften in Spanien.

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Lebenszeit verblieben, ließ er diesen autobiographischen Text aber schon mit seiner Rückkehr nach Madrid von seinem Amt in Venezuela am 20. August 1787 enden. Die Jahre, die ihn auf den Höhepunkt seiner politischen Karriere und dann wieder zurück in die kleinteiligeren Angelegenheiten seiner Sevillaner Heimat führten, sind somit in dem von ihm als Lebensbeschreibung angelegten Text nicht mehr behandelt. Im Mittelpunkt seiner in der benutzten Edition rund 260 Druckseiten ausmachenden Darstellung steht also die zweite Hälfte der Regierungszeit König Karls III., Saavedras Militärlaufbahn in Spanien und die Zeit, in der er besonders mit Amerika befasst war beziehungsweise sich dort aufhielt. Die Darstellung bricht mit seiner Rückkehr nach Spanien und seiner wachsenden Bedeutung in der spanischen Innenpolitik ab. Auf seine Rückkehr nach Spanien folgten sicherlich zentrale Einschnitte in seiner Laufbahn: Ende 1787 starb der Indienminister José de Gälvez, sein großer Gönner und Förderer und im Jahr darauf König Karl III., und wiederum ein Jahr später begann mit dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution. Aber waren diese Ereignisse so zentral für Saavedra, der die blutige Militärexpedition nach Algier mitgemacht und nicht unwesentlich am Krieg gegen England in den Jahren 1779 bis 1782 beteiligt gewesen war, um an der genannten Stelle seine Darstellung ziemlich abrupt und unvermittelt zu beenden, obwohl er doch ohnedies erst 1812/13 mit ihrer Niederschrift begonnen hatte? Offen bleibt ebenfalls, wann er seine Darstellung an dem genannten Punkt abbrach oder möglicherweise aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste. Auf diese quellenkritischen Fragen wird an späterer Stelle noch einzugehen sein. Hier mag der Hinweis genügen, dass sich die vorliegenden Editionen seiner Dezennien sowohl in den Einleitungen als auch im Anmerkungsapparat weitestgehend auf deren Aussagen und Quellenwert zur behandelten Epoche konzentrieren und weniger die Entstehungsgeschichte und die persönlichen Deutungen, Wertungen und Sichtweisen in den Blick nehmen. Die Interpretation der Darstellung als Ego-Historie steht mithin noch aus, obwohl aus dem Kontext des Archivs des Autors eindeutig hervorgeht, dass die Sammlung viele Materialien für eine Weiterführung der Darstellung enthält. Man wird angesichts dessen also folgern dürfen, dass Saavedra auf die literarische Verarbeitung seiner Materialien Wert legte und nicht bloß daran interessiert war, tagebuchartig seinen weiteren Lebensweg festzuhalten. Angesichts der großen Umbrüche, die er in seinem Leben als politischer Akteur oder als den Zentren der Entscheidung nahe stehender Zeitzeuge erlebte, konnte es durchaus angezeigt sein, sich jederzeit für seine Handlungen und Entscheidungen rechtfertigen zu müssen. Aber ganz offenkundig war dem Verfasser die zusammenhängende Darstellung seines Lebensweges mit kommentierenden und interpretierenden Wertungen ein Anliegen, wie auch die Gewichtung der einzelnen Teile der Dezennien erkennen lässt.

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Sein erstes Lebensjahrzehnt, also die Jahre 1746 bis 1756, umfasst in der Beschreibung nur wenig mehr als eine Druckseite und beschränkt sich auf die wichtigsten Daten von Geburt, Abstammung, Familie und erste Schulerfahrungen. Dies ist insofern bereits ein Indiz zur Beurteilung der Person des Autors, als er nicht nur auf eine längere Beschreibung einer vornehmen Abstammung verzichtet, sondern auch, weil sein leiblicher Vater und älterer Bruder starben, als er kaum zwei Jahre alt war, und seine Mutter erneut heiratete, zwei Halbgeschwister gebar, die im Kindesalter verstarben, und er die Mühe betont, die sein Stiefvater sich mit seiner Erziehung gab. Die sehr knappe Skizzierung einer doch sehr ereignisreichen Kindheit und Familiengeschichte weist Saavedra bereits als einen ganz vom individualistischen Denken der Aufklärungszeit geprägten Zeitgenossen aus. Auch wenn man berücksichtigt, dass er diese Passage erst im Alter von etwa 66 Jahren, also frühestens 1812, zu Papier brachte, ist sie für das Spanien jener Zeit durchaus noch ungewöhnlich. Das zweite Dezennium, die Jahre von 1757 bis 1768, umfasst im Druck die Seiten 25 bis 44, also bereits deutlich mehr. Es beginnt mit Bemerkungen zu seinen Griechisch- und Grammatikstudien in Granada, Charakteristiken seiner Lehrer, liefert weitere studienbezogene Informationen, kommentiert Lektüren, seinen wachsenden Bewegungs- und Geltungsdrang sowie erste poetische Übungen. Kurzum er liefert eine sehr interessante und variable altersgemäße Beschreibung seiner jugendlichen Entwicklung. Dabei erwähnt und kommentiert er ausfuhrlich Bücher, die er las oder sich kaufte und unterstreicht seine besondere Neigung zu französischsprachigen Werken und historischen Darstellungen. Er verweist auf Übersetzungsübungen zur Verbesserung seines Stils, auf spirituelle Übungen und die Bibellektüre ebenso wie auf seine Vorstellungen von den Künsten. Saavedra erwähnt in Familienbegleitung unternommene Reisen, lässt sich dabei über gesehene Städte und Ortschaften aus, von denen ihn offenbar die Handelsmetropole Cádiz besonders beeindruckte. Sodann nennt und charakterisiert er Kontaktpersonen, behandelt auch seine Beziehungen zum anderen Geschlecht. Später skizziert er seine akademischen Examina, kommentiert kurz wichtige politische Ereignisse wie den Aufstand gegen den Minister Esquilache im Jahre 1766 und endet mit einer ausfuhrlicheren Beschreibung der näheren Umstände seines Eintritts in die Armee als Kadett. Den Tag, an dem er erstmals seine neue Uniform angezogen habe, bezeichnet Saavedra als einen der schönsten seines Lebens. Auch dieser Teil ist wiederum recht knapp formuliert, aber ungemein reich an Informationen bis hin zu Details seiner täglichen Lebensumstände, und er enthält erste Einschätzungen des Mitgeteilten, Hinweise auf Stimmungslagen und die Aufnahme für ihn neuer Eindrücke und Begegnungen. Stilistisch wird jeder Anklang an ein Tagebuch vermieden. Tage und Monate werden bei einzelnen Ereignissen genannt, doch verzichtet der Autor auf eine klare Fixie-

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rung der Jahre, in denen die berichteten Vorkommnisse, Feststellungen, Eindrücke dem Schreiber begegneten, ihm widerfuhren oder irgendwie bewegten, so dass der Leser sich diese aus dem Kontext erschließen muss. Das dritte Dezennium beginnt mit der Skizzierung der ersten Erfahrungen seiner Militärlaufbahn, zunächst noch in Sevilla. Kameradschaft, Unterbringung, Haushaltsführung, Sondierung des militärischen Umfeldes, Charakterisierung der Offiziere und der Atmosphäre in der Einheit und ähnliche Dinge bilden den Anfang dieses Teils. Überraschend an dieser Schilderung ist für den modernen Historiker ebenso wie für Saavedra selbst, dass nicht militärischer Drill und Exerzieren, sondern neben rechtlicher Schulung, dem Studium von Dienstanweisungen und Ausbildung an den Waffen erzieherische, technische und taktische Ausbildung sowie Mathematik - von Arithmetik über Algebra, Geometrie bis hin zur Trigonometrie - von Anfang an eine wichtige Rolle spielten. Zunehmend streut Saavedra auch Hinweise auf gleichaltrige Kameraden und Bekannte ein, deren spätere Entwicklung in höheren Funktionen er beiläufig erwähnt und so, ohne den Begriff zu gebrauchen, die Entwicklung seines sozialen Netzwerkes zu verfolgen gestattet, das in seiner späteren Laufbahn eine Rolle spielte. Immer wieder schildert er in späteren Teilen der Darstellung, wann, wo und unter welchen Umständen er ehemaligen Kameraden, Kollegen, Freunden und höher gestellten älteren Personen wieder begegnete. Die Sammlung der über den Text verstreuten Hinweise und kurzen Charakterisierungen dieser Personen würde es erlauben, über die skizzierten Laufbahnen und persönlichen Eigenschaften ein Profil einer ganzen Generation von Offizieren, Amts- und Würdenträgern zu rekonstruieren, die in der Spätphase des 18. Jahrhunderts in Spanien das Rückgrat des Imperiums bildeten. Darüber versäumt Saavedra es aber auch nicht, immer wieder einfache Menschen hervorzuheben und in seiner Darstellung zu erwähnen, die ihm als Diener, Schreiber und anderen niederrangigen Funktionen in besonderer Weise auffielen. Besonders bewegte ihn, dass ihn gleich nach seiner Ernennung zum Unterleutnant, die er als den glücklichsten Moment seines Lebens bezeichnete, die Nachricht vom Tod seiner Mutter erreichte, die ihn nicht nur betrübte, sondern auch zu einer kurzen Reflektion über sein bisheriges Leben veranlasste. Die weitere Schilderung fuhrt Saavedra in dienstlichen Funktionen in verschiedene Teile Spaniens, so nach Alicante, Valencia, Katalonien und an eine neue gegründete Artillerieschule in Avila, in der sich seine Freundschaft unter anderem mit Bemardo de Gälvez festigte. Diese Phase brachte ihn in Kontakt mit anderen Waffengattungen, aber auch mit Personen, die später als hohe Offiziere, Beamte oder gar Minister wieder seinen Weg kreuzten und ihm behilflich sein sollten. Er beschreibt und kommentiert diese Erfahrungen und Entwicklungen gewohnt facettenreich, sparsam mit Werturteilen umgehend und - da aus der Rückschau schreibend - diese oft mit knappen Vorgriffen auf die Zukunft begründend. Gegen Ende dieses Teiles begeg-

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net uns aber erstmals auch ein kritischer Saavedra. Abkommandiert, um im Umfeld des Oberbefehlshabers O'Reilly an der verlustreichen Expedition nach Algier teilzunehmen, äußert er zunehmend Kritik am Sinn des Unternehmens und schließlich sogar am Verhalten des Oberbefehlshabers selbst. Nachdem er kurz seine Leistung bei der Rettung von Soldaten erwähnt, die bei der Einschiffung der unter direkten Artilleriebeschuss geratenen Armee den Anschluss am Ufer verpasst hatten, schreibt Saavedra, dass damit seine Distanzierung von seinem früheren Förderer vollzogen worden sei und, als dieser sein verändertes Verhalten bemerkt und hinterfragt habe, er die Leitung des Unternehmens schriftlich missbilligt habe. Seine Lese- und Übersetzungstätigkeit wird weiterhin erwähnt, nimmt aber zusehends weniger Raum ein. Ungeachtet der Erfahrung mit der Expedition nach Algier, die Saavedras Enthusiasmus für militärische Dinge etwas gedämpft zu haben scheint, bezeichnet er abschließend dieses Dezennium als eines der interessantesten seines Lebens, was angesichts der noch vor ihm liegenden Laufbahn und der darin auftretenden Ereignisse etwas überrascht, will man dies nicht nur auf seine ersten wichtigen und gegensätzlichen Erfahrungen mit der menschlichen Natur beziehen. Die Beschreibung des vierten Lebensjahrzehnts ist der umfangreichste Teil der Darstellung überhaupt, der die Seiten 105 bis 271 umfasst und in dem Saavedra mit dem sechsten Jahr - Seite 168 der Edition - unvermittelt zu einer Untergliederung nach Jahren übergeht. Dieser Hauptteil wird ergänzt durch wenige Seiten zu seinem fünften Dezennium, Seiten 273 bis 281, das kurz nach Beginn des zweiten Jahres mit Saavedras Rückkehr nach Spanien unvermittelt endet. Es sind dies die Jahre, die der Verfasser angesichts wichtiger politischer Ereignisse mit einer etwas längeren historischen Betrachtung in Madrid einleitet, um anschließend seinen Übertritt in die Dienste des Indienministeriums zu erzählen und die ihm dort übertragenen Aufgaben zu skizzieren; er kommentiert den spanischen Kriegseintritt, seine Entsendung nach Amerika, die dortigen Erfahrungen, die Rückkehr nach Madrid auf dem Umweg über die Friedensverhandlungen in Paris, seine Ernennung zum Intendanten von Venezuela und die ersten Jahre seiner dortigen Tätigkeit. Hatten die vorangehenden Teile in vieler Hinsicht den Charakter einer Selbstbeschreibung seines Werde- und Bildungsganges, überwiegen nun mehr und mehr die Schilderung politisch-militärischer Maßnahmen, die Beschreibung der amerikanischen Verhältnisse mit einer durchaus geopolitischen Perspektive, aber auch die Darstellung administrativer Abläufe und militärischer Innenansichten sowie die Kommentierung der Politik und der wirtschaftlichen Lage des spanischen Imperiums. Saavedra schreckt dabei durchaus nicht vor respektvoll-kritischen Bemerkungen zu der Art und Weise zurück, in der König Karl III. persönlich und ohne Konsultation seiner Minister Politik machte und Entscheidungen traf. Manche Anekdote zum Hof wird eingestreut, die

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diesen nicht unbedingt in einem günstigen Licht erscheinen lässt. Aber auch in diesem zentralen und politischen Teil behält Saavedra die Grundlinien seiner Darstellung bei, wenn er Gedanken über die Lage von schwarzen Sklaven und indigenen Unterschichten in Mexiko anstellt. Als politischer Akteur überrascht er den Leser oft mit sehr eigenständigen Beobachtungen, Bewertungen und Einsichten in tiefere Zusammenhänge und Probleme der Monarchie und mit der Tatsache, dass er sich oft genug über empfangene Anweisungen und gesetzliche Bestimmungen hinwegsetzte, andere Anweisungen erteilte, um dieses Verhalten anschließend schriftlich gegenüber der Zentrale zu begründen und um die Billigung seines Verhaltens nachzusuchen. Freilich stellt sich Saavedra keineswegs als verkappter Rebell dar, hier scheint eher die vermeintlich bessere Einsicht eines alterfahrenen Politikers und Staatsmannes durchzuscheinen, die über das Bestreben nach möglichst glatter literarischer Darstellung obsiegt. Dies lässt auch seine wiederholte Kritik an José Miranda, dem gescheiterten ersten Führer einer venezolanischen Unabhängigkeitsbewegung, erkennen, dem Saavedra in früheren Jahren öfter begegnete, als dieser noch Offizier in der spanischen Armee war. Diese Kritik äußert sich aber auch maßvoll, wenn Saavedra ihn als unruhigen Geist und Intriganten mit stets neuen Ideen im Kopf charakterisiert. Aufgrund der ungemein reichhaltigen Informationen und der kenntnisreichen Lagebeurteilungen ist dieser umfangreichste Abschnitt fraglos der Teil, der vor allem den an Amerika interessierten Historiker aufgrund seines hohen Quellenwertes zur Geschichte der so genannten bourbonischen Reformpolitik enorm interessiert. Das Gewicht, das der Verfasser diesem Teil selbst zuerkennt, und sein abrupter Schluss mit seiner Rückkehr nach Spanien, erschweren freilich die Gesamtbeurteilung der Dezennien bezüglich der damit verfolgten Intentionen, zumal es Saavedra insgesamt auch hier wieder gelingt, seine innere Distanz bei der Schilderung der Ereignisse zu wahren, ohne ganz auf ergänzende eigene Deutungen zu verzichten.

Die historische Erinnerung an Francisco de Saavedra Lassen sich weitere Einsichten aus dem Umfeld der Dezennien und aus Saavedras Archiv finden, die eine präzisere Charakteristik der Dezennien gestatten? Erste weiterfuhrende Informationen zu diesem Problemkomplex liefern die in Anmerkung 6 zitierten Werke, insbesondere die benutzte Edition des Textes von Francisco Morales Padrón und der dort erwähnte Archivführer. In beiden Büchern wird bereits auf eine Serie von Tagebüchern des Autors, teils eigenhändig von Saavedra geschrieben, verwiesen, die weitere Aufschlüsse

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geben könnten. 1 3 Saavedra, der seit Beginn seiner politischen Laufbahn zumindest zeitweise einen Privatsekretär beschäftigte, 1 4 erweist sich s o w o h l aufgrund dieser Tagebücher als auch aufgrund der aufbewahrten Dokumente, Zeitschriften usw. als ein sehr systematisch und organisiert arbeitender Zeitgenosse. Bedauerlicherweise sind die genannten Tagebücher bislang nicht ediert, wohl aber zum Teil in einer Reihe von Untersuchungen ausgewertet worden, die von Morales Padrön angeregt beziehungsweise betreut worden sind. 1 5 Dieser erwähnt in seiner Einleitung zudem teils offiziell, teils privat geführte Korrespondenzen z w i s c h e n Saavedra und einigen bedeutenden Persönlichkeiten der Epoche, w i e den Ministern Floridabianca und Gälvez, d e m Botschafter in Paris Aranda, dem V i z e k ö n i g Mayorga in M e x i k o und anderen, die sich j e d o c h meist auf einige w e n i g e Jahre beziehen. Entsprechend der Zeiträume, die von den insgesamt neun von Morales Padrön aufgezählten, als Tagebücher bezeichneten Schriften Saavedras abgedeckt werden, bleiben die Jahre von 1787 bis 1805 undokumentiert. 1805 setzt dann der Diario medico ein, bevor nach und nach die anderen mehr oder weniger ausfuhrlichen Tagebuchnotizen bis zu seinem Lebensende beginnen. D i e s würde bedeuten, dass

Morales Padrón nennt insgesamt neun relevante autobiographische Schriften, zu denen er die decenios zählt. In: F. de Saavedra: Los Decenios, S. 11. Ein weiteres Tagebuch bezieht sich auf Saavedras erste Mission in Amerika während der Kriegsjahre, das vom 25. Juni 1780 bis zum 15. Februar 1783 reicht. Weiterhin zählt er auf: a) Diario de los años 1811 - 1819 in 9 Bänden, b) Diario de la Compañía del Rio Guadalquivir, c) Diario medico, que va del 28 de diciembre de 1805 al 25 de noviembre de 1812, d) Diario de las operaciones de la Junta de Sevilla (muy breve), e) Diario como Presidente de la Sociedad Patriótica 1817 - 1819 (muy breve), f) Diario de los Centros benéficos de Sevilla (muy breve), g) Diario de las operaciones de la Regencia (enero-octubre 1809). Es ist nicht zu ermitteln, ob er durchgehend und bis an sein Lebensende eine solche Hilfskraft verfugbar hatte. Morales Padrön nennt die Autoren dieser in der benutzten Edition teilweise bereits abgeschlossenen, teilweise noch in Bearbeitung befindlichen Untersuchungen, die inzwischen großenteils abgeschlossen und veröffentlicht sind. Morales Padrón, seinerzeit Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der spanischen Expansion am Departamento de Historia de América der Universidad Hispalense in Sevilla entwickelte wohl nicht zuletzt aufgrund des Zugangs zu dem lange Zeit in Sevilla aufbewahrten Archiv Saavedras einen Forschungsschwerpunkt zur Geschichte der Karibik im späteren 18. Jahrhundert, aus dem eine ganze Reihe von stark quellenorientierten Untersuchungen, die oftmals nahezu den Charakter von Regesten hatten, hervorgingen und publiziert wurden. In der bereits mehrfach zitierten Einleitung verweist er zudem mehrfach auf Teile des Archivs, die er transkribiert habe beziehungsweise habe transkribieren lassen. Demzufolge plante er selbst die Weiterführung dieser Untersuchungen, die möglicherweise durch die Verlagerung des Archivs von Sevilla nach Granada behindert wurden. Die in Anmerkung 6 zitierte Neuaüsgabe der Dezennien durch Morales Padrón unterscheidet sich jedoch nur unwesentlich von seiner früheren, im Vorangehenden benutzten Edition.

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Saavedra die Jahre, in denen er heiratete und in der überkommenen Hierarchie des Ancien Régime in die höchsten Staatsämter aufstieg, undokumentiert ließ. Dieser Umstand gäbe angesichts der wachsenden Distanzierung zwischen dem Hof und der spanischen Gesellschaft unter Karl IV. einerseits und den 1808 im Aufstand von Aranjuez gipfelnden Spannungen zwischen dem Königspaar und dem Kronprinzen, dem späteren König Ferdinand VIL, andererseits, Anlass zu allerlei Spekulationen über die Rolle, die Saavedra - ein Akteur, der seine verantwortlichen Tätigkeiten ansonsten sehr gründlich zu dokumentieren pflegte - in diesem Prozess spielte.16 Tatsächlich verhält sich die Sachlage aber anders. Greift man zu der ebenfalls in Anmerkung 6 zitierten Edition der Memorias inéditas de un Ministro ilustrado von Manuel Moreno Alonso, begegnet man einer in vieler Hinsicht anders gearteten Edition. Moreno Alonso, ebenfalls Professor an der Universität Sevilla, stieß offenbar auf anderen Wegen auf Saavedra. Promoviert mit einer Dissertation über die romantische Historiographie Spaniens und Verfasser zahlreicher Studien zur Historiographie des revolutionären Zeitalters, arbeitete er lange Zeit in England, Frankreich, Österreich und Italien, edierte unter anderem die Cartas de Inglaterra von Blanco White, einem in London

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Grundsätzlich war es nicht ungewöhnlich, dass hohe Beamte und Minister ihre Amtsführung ausfuhrlich dokumentierten und teilweise wichtige Dokumentationen sogar fur sich behielten, ohne sie am Ende ihrer Amtszeit den Nachfolgern zu überlassen. Dies hatte einerseits mit den gängigen Verfahren zur Kontrolle der Amtsführung am Ende der Amtsperiode zu tun, die durchaus zu längeren Prozessverfahren führen konnten, zum anderen kam es häufig vor, dass diese Materialien von den Funktionsträgern auch nach dem Ende ihrer Tätigkeit benötigt wurden, um sich unter Bezug auf die konkret von ihnen zu behandelnden Probleme um eine weitere Verwendung im Dienste der Krone zu bemühen oder um ihre Verdienste zu dokumentieren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Spanien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allenthalben geordnete Archive zur Dokumentation von Regierungsaktivitäten erst angelegt wurden. Dies führte etwa dazu, dass es noch bis weit in die 1970er Jahre für den Historiker vielfach weitaus einfacher war, in den Archiven des Ancien Régime beziehungsweise der Kolonialzeit - in Bezug auf Lateinamerika - zu forschen, sobald man die Systematik der administrativen Ordnung durchschaut hatte, als über viel spätere Geschichtsepochen, in denen Dokumente einfach abgelagert wurden, sofem sie nicht Uberhaupt an die Hersteller von Feuerwerkskörpern oder ähnliche Betriebe verkauft wurden. Im mexikanischen Nationalarchiv ist es nicht ungewöhnlich, selbst bei geordneten und zeitgenössisch eingebundenen Archivalien Spuren ihrer Beschädigung durch militärische Aktionen anzutreffen, die aus den Zeiten stammen, als diese Archivalien noch im zentralen Regierungspalast aufbewahrt und dort dann gelegentlich buchstäblich umkämpft waren. Dies ist wohl, um beim Beispiel Mexiko zu bleiben, auch ein wesentlicher Grund dafür, dass umfangreiche Archivalien späterer Epochen aus Privatbesitz, beispielsweise zum Komplex der Mexikanischen Revolution, erst in den letzten Jahrzehnten privaten Wissenschaftseinrichtungen zur sachgemäßen Archivierung und Erschließung übergeben wurden, wie zum Beispiel das Archiv von Porfirio Diaz oder das seines Finanzministers José Yves Limantour.

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im Exil lebenden Spanier und publizierte ein Buch über die spanische Generation von 1808,17 zu der Saavedra zweifellos gehörte. In seinem sehr knappen Vorwort zu den Memorias bezieht sich Moreno Alonso stets auf das Archivo Histórico S. I., Provincia de Andalucía, Facultad de Teología de Granada, das heißt, er benutzte Saavedras Archiv an der Universität Granada. Zusätzlich dankt er dem großen spanischen Historiker Antonio Domínguez Ortíz - lange, allzu lange, wie spanische Historiker weithin behaupten, „nur" Gymnasialprofessor in Granada, bevor er in höherem Alter nach dem Ende der Franco-Ära noch eine sehr erfolgreiche und produktive Universitätslaufbahn absolvierte für den Hinweis auf Saavedras Archiv und die Einführung in dasselbe. Er beschließt seine Einleitung mit dem Zitat aus einem gedruckten Nachruf eines ungenannten Verfassers auf Saavedra, das betont, dass es ein wahrhafter Verlust für die Literatur und die Nation gewesen sei, dass der Minister - Saavedra - sich stets geweigert habe, irgendetwas aus seiner literarischen Produktion zum Druck zu geben.18 Im Vorwort seiner 1995 erschienenen Edition erwähnt Morales Padrón die drei Jahre davor ebenfalls in Sevilla publizierte Edition der Memorias von Moreno Alonso nicht, obwohl seine Einleitung und die Edition im Gegensatz zu der Ausgabe von Moreno Alonso sehr ausführlich mit erklärenden Fußnoten und Literaturhinweisen versehen sind. Die Ausgabe von Morales Padrón enthält neben den Dezennien im Anhang eine Reihe weiterer Dokumente, wie testamentarische Verfügungen Saavedras, seine Universitätsmatrikel, eine anonyme Kurzbiographie Saavedras, dessen Aufstellung über seine Vermögensentwicklung, die Transkription des Epitaphs auf seinem Grab usw. Die Edition von Moreno Alonso schließt dagegen mit einem kurzen Epilog des Herausgebers und einem Appendix, der ein einziges Dokument aus Saavedras Nachlass abdruckt: die im Druck etwa 15 Seiten umfassenden Pensamientos y especies notables de mis lecturas, offenbar nur für den persönlichen Gebrauch bestimmte Notizen aus der Feder Saavedras. Das Buch von Moreno Alonso präsentiert trotz der unkritischen und in mancher Hinsicht methodisch fragwürdigen Edition des publizierten Dokuments wesentliche Ergänzungen zum persönlichen Profil unseres Akteurs, ja eine in mancher Hinsicht andere Persönlichkeit. Der Herausgeber erreicht dies durch die Ergänzung der Dezennien mit anderen autobiographische Schriften, Tagebüchern, persönlichen Notizen usw. M. Moreno Alonso: La Generación Española de 1808. „... una verdadera pérdida para la literatura y para la Nación el que se hubiese siempre negado a imprimir cosa alguna de sus producciones, sin embargo, de sus circunstancias y razonados diarios que llevó siempre, de la multitud de cartas eruditas sobre diversas materias que le consultaron y cuyos borradores se conservan, y de los muchos y graves informes que evacuó, se pudieron sacar materiales y máximas para algunos volúmenes instructivos e interesantes...". M. Moreno Alonso (Hg.): Francisco de Saavedra de Sangrois, S. 25.

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aus Saavedras Archiv, ohne diese freilich näher zu charakterisieren. Er stellt auf diese Weise eine die gesamte Lebensspanne Saavedras umfassende autobiographische Darstellung zusammen, die geschickt montiert, aber eben zu wesentlichen Teilen das Werk von Moreno Alonso darstellt. 19 Die Teile unterscheiden sich daher sowohl bezüglich des Erzählstils als auch ihres Informationsgehalts teilweise stark. Sie reichen von dem kompakten Erzählstil der Dezennien über biographische Notizen, die Kommentierung der Zeitläufe bis hin zu sehr persönlichen Betrachtungen zur langfristigen historischen Entwicklung Spaniens. Unterstellt man die Zuverlässigkeit der Eintragungen fiir die Zeit nach 1787, also dem Zeitpunkt, an dem die Dezennien abbrechen, begegnet dem Leser eine zunehmend von Selbstzweifeln geplagte Persönlichkeit. Saavedra traut sich die Aufgaben eines Ministers in jenen schwierigen Jahren nicht zu und gibt vor, mehr oder weniger in diese hohen Ämter gedrängt worden zu sein. Eine hohe Auszeichnung durch König Karl IV. habe er abgelehnt und die heftigen Anfeindungen, denen er von verschiedensten Seiten ausgesetzt gewesen sei, hätten ihn schwer getroffen und belastet. Auch die nach 1808 im Gefolge des Unabhängigkeitkrieges gegen Frankreich erneut übernommenen Ämter habe er nur dem Zwang der Umstände gehorchend angetreten und baldmöglichst abgegeben. Ebenso bekundet er seine Weigerung, als Abgeordneter für die Cortes von Cádiz zu kandidieren, die schließlich 1812 die erste liberale Verfassung Spaniens in Kraft setzten. In den im Appendix von Moreno Alonso publizierten „Lesefrüchten" erweist sich Saavedra als Skeptiker gegenüber der Monarchie, der Religion, gegenüber der „öffentlichen Meinung", ja der Politik insgesamt. Von dem überlegt handelnden, liberalen Positionen zuneigenden und um Modernisierung bemühten aufgeklärten Akteur seiner amerikanischen Jahre, wie er sich in den Dezennien darstellt, ist nunmehr wenig mehr als Skepsis und Pessimismus geblieben. Gleichwohl betrachtet er die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts - wohlgemerkt, seine Jugendjahre - als die beste Epoche, die Spanien nach den Zerstörungen des Spanischen Erbfolgekrieges erlebt habe und in deren krisenhafte Lage es nun im Gefolge des Unabhängigkeitskrieges wieder verfallen sei. Sicherlich ist diese Haltung auch auf die prekäre Gesundheit eines alternden Mannes zurückzufuhren. Letztlich ist dies aber wohl vor allem als das Zögern, die Unentschlossenheit und die rationalen Bedenken eines aufgeklärten Reformers vor dem entscheidenden Schritt hin zu einer neuen, politischen Ord-

Es muss in diesem Zusammenhang vermerkt werden, dass die fragliche Edition von Moreno Alonso nicht im Katalog der spanischen Nationalbibliothek vermerkt ist. Unter den dort registrierten 49 Titeln des Autors, überwiegend zur Geschichte der fraglichen Epoche und zur Geschichte Andalusiens, befindet sich die besagte Edition ebensowenig wie unter den dort vermerkten Werken zu Francisco de Saavedra. www.bne.es/ (29.5.2008).

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nung anzusehen, wie sie die Abgeordneten der Cortes von Cádiz mit der Verfassung von 1812 zu etablieren versuchten. Auch wenn vom methodischen Standpunkt aus Zweifel an der Vorgehensweise von Moreno Alonso angebracht sind, so resultiert daraus eine plausible Erklärung dafür, dass Saavedra seine Dezennien nicht über den Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Spanien im Jahre 1787 hinaus weiterführte. Bereits in diesem auf Amerika bezogenen Teil artikuliert Saavedra seit 1780 die Sorge vor einer Unabhängigkeit Hispanoamerikas. Als Wirtschafts- und Finanzexperte, der während seiner Zeit in Amerika stets mit schweren Finanzengpässen sowohl des französischen als auch des spanischen Expeditionskorps zu kämpfen hatte und sich in der Folge mehrfach an das ob seiner Edelmetallproduktion finanzstarke Vizekönigreich Neuspanien als Nothelfer wenden musste, waren ihm die Konsequenzen einer solchen Unabhängigkeit sicherlich deutlich bewusst. Zudem bewegte sich Saavedra im Umfeld von spanischen Beamten und Politikern, die ebenfalls bereits um 1780 diesen Problemkomplex sehr deutlich erkannt hatten. Sein Vorgänger als Intendant von Venezuela, José de Abalos, den er in den Dezennien mehrfach erwähnt und zu dem er offenkundig ein gutes Verhältnis pflegte, richtete eine diesbezüglich Warnung an die Krone.20 Der Graf von Aranda, spanischer Botschafter in Paris, mit dem Saavedra dort einige Wochen im Rahmen der zum Frieden von Paris von 1783 fuhrenden Verhandlungen engen Kontakt pflegte, tat im Jahr des Friedensschlusses ein Gleiches21 und in den 1790er Jahren ließ Manuel Godoy ein geheimes Projekt zur Etablierung unabhängiger Monarchien durch Entsendung bourbonischer Prinzen in die Vizekönigreiche Hispanoamerikas unter der Suzeränität des den Kaisertitel annehmenden Karl IV. von Spanien diskutieren.22 Mit all den involvierten Personen unterhielt Saavedra enge Kontakte und dürfte mit diesen Problemen gut vertraut gewesen sein. Dieser Umstand lässt es nötig erscheinen, nun noch einen Blick in Saavedras privates Archiv zu werfen.23

Das Privatarchiv von Francisco de Saavedra Dieses Archiv hat eine ziemlich komplizierte Geschichte, wie der Bearbeiter des Archivfuhrers in seiner Einleitung ausfuhrlich darstellt. Es wurde in den 1940er Jahren von einer der weiblichen Nachkommen Saavedras der Nieder-

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Vgl. C.E. Mufioz Oráa: Pronóstico de la independencia de America. Da Arandas Urheberschaft des fraglichen Dokuments lange Zeit umstritten war, sei hier auf eine Neuveröffentlichung verwiesen. M. Lucena Giraldo: Premoniciones de la Independencia de Iberoamérica. D. Ramos Pérez: Los proyectos de independencia para América preparados por el Rey Carlos IV. Vgl. A.I. Lasema Gaitán: El Fondo Saavedra.

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lassung der Jesuiten in Sevilla übergeben, wo es bis zu Beginn der 1970er Jahre lagerte,24 bevor es im Rahmen von Umorganisierungen innerhalb des Jesuitenordens von 1973 bis 1975 in Málaga lagerte, bevor es endgültig an die von Jesuiten geleitete Theologische Fakultät der Universität Granada verbracht wurde. Im Verlauf der Jahre wurden dreimal Inventare des Bestands erstellt, von denen aber erst das publizierte dritte und letzte nach professionellen Kriterien angefertigt wurde und präzise die in den Kartons enthaltenen Materialien inhaltlich und chronologisch beschreibt sowie mit ausfuhrlichen Registern zu den Sachgebieten, den Orts- und Personennamen den stattlichen Band beschließt. In der Einleitung fuhrt der Bearbeiter seine Affinität zu der Arbeitsgruppe um Francisco Morales Padrón in Sevilla an, zitiert deren Veröffentlichungen, erwähnt aber ebenfalls nicht die zuvor erschienene von Moreno Alonso herausgegebene Autobiographie. Der Urheber verweist in seiner Einleitung ausdrücklich darauf, dass es im Verlauf der Geschichte des Bestandes möglicherweise zu Verlusten gekommen und jedenfalls eine ehemals bestehende Ordnung definitiv zerstört worden ist. Der Bestand lagert in 92 fortlaufend nummerierten Kartons, die ergänzt werden um 23 getrennt aufbewahrte so genannte Kodizes, zusammenhängende längere Texte. Sehr schnell lassen sich zwei Texte identifizieren, die für die beiden hier diskutierten Editionen in Betracht kommen. In dem letzten der genannten Kartons, also Nr. 92, registriert der Index einen mit Los decenios. Por Francisco de Saavedra benannten Text, der in drei separat nummerierten Bänden oder Heften die Jahre 1746 bis 1796 umfasst.25 Dieser Text diente offenbar als Grundlage der Edition von Moreno Alonso. Unter den Kodizes findet sich als 2. Eintrag mit den fortlaufenden Nummern 3 - 5 der Eintrag Mis decenios. Por Francisco de Saavedra. 4 volúmenes. Die durchlaufend nummerierten vier Bände umfassen die Jahre 1746 bis 1787.26 Bei diesen vier offenbar In Sevilla galt das Archiv bei den Jesuiten als Geheimtipp für alle im Archivo General de Indias über das 18. Jahrhundert in Amerika arbeitenden Forscher, zu dem durch Vermittlung von jungen Kollegen am Departamento de Historia de América der Universität Sevilla verhältnismäßig leicht Zugang zu bekommen war, auch wenn sein chaotischer Zustand vor allem die mit knapp bemessenem Zeitkontingent in Sevilla arbeitenden ausländischen Kollegen bald davon Abstand nehmen ließ, sich darin intensiver umzutun. Auch der Autor dieser Zeilen, 1966 in Sevilla für seine Dissertation forschend vgl. H. Pietschmann: Die Einfuhrung des Intendantensystems in Neu-Spanien im Rahmen der allgemeinen Verwaltungsreform der spanischen Monarchie im 18. Jahrhundert - verbrachte einen Nachmittag unbeaufsichtigt, aber in Begleitung eines Kollegen, der ehemaliger Jesuitenzögling war, in dem Raum, in dem der Bestand in ungeordneter Form lagerte, resignierte aber bald angesichts der Umstände. 25

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A.I. Laserna Gaitán: El Fondo Saavedra, S. 360. Teil I für die Jahre 1746 - 1776, Teil II für 1776 - 1786 und Teil III für 1786 - 1796. Der Verfasser des Katalog bezeichnet die Teile nur mit „T", was als „tomos" (Bände) gelesen werden kann. T. I: 1746 - 1756 (1 - 141 hojas); T. II: 1756 - 1781 (142 - 274); T. III: 1781 - 1783 (275 - 388); T. IV: 1784 - 1787 (389 - 490).

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gebundenen Bänden scheint es sich um den von Francisco Morales Padrón edierten Text zu handeln. Saavedra hat also offenbar zwei Memoiren-Werke verfasst, nämlich einen allgemeiner gehaltenen als Los decenios bezeichneten Text und sodann eine Darstellung, die eine Einengung auf Mis decenios, also konkreter auf seinen Lebenslauf bezogen, darstellt. Der Autor des Katalogs gibt diesbezüglich freilich keinerlei Erläuterungen, so dass streng genommen nur eine Gegenüberstellung der beiden Manuskripte die geäußerte Auffassung bestätigen kann. Gleichwohl ergeben sich aus einer Durchsicht des Gesamtbestandes weitere Indizien, die diese Deutung stützen. Ein grober Systematisierungsversuch lässt erkennen, dass das erhaltene Material einmal viele historische Texte zur Geschichte Spaniens seit dem 16. Jahrhundert umfasst, darunter allerlei anonyme Denkschriften und Materialien zum Finanzwesen und zum Handel. Ein weiterer Teil umfasst Dokumente, offizielle und persönliche Korrespondenz und Aktenstücke zu Saavedras Zeit in Amerika. Für die Zeit nach seiner Rückkehr aus Amerika nach Spanien, also nach 1787, nimmt der Umfang der Korrespondenz jeder Art deutlich ab und konzentriert sich auf in Spanien lebende Personen. Dagegen nehmen die persönlichen Unterlagen zahlenmäßig deutlich zu, also die Diarien zu seiner Gesundheit und seinen Tätigkeiten in den Jahren ab 1808, offizielle Schreiben an Behörden und Institutionen, Bestätigungen über das korrekte Verhalten einzelner Personen während der Jahre des Unabhängigkeitskrieges, Unterlagen zu seinen familiären Verhältnissen und ähnliche Dinge. Eine weitere Gruppe von Materialien bildet eine Fülle von spanischen, französischen und anderen Zeitschriften und Zeitungen aus den Jahren des Unabhängigkeitskrieges und danach sowie schließlich Papiere, die der Sammlung erst nach seinem Tod hinzugefügt worden sind. Überraschend ist nun, dass für die Zeit nach seiner Rückkehr aus Amerika nur noch sehr wenig Material zu oder aus Amerika in dem Bestand enthalten ist, insbesondere keine Korrespondenz mehr. Geht man die sorgfaltig erarbeiteten Register des Bandes durch, so fallt auf, dass wichtige Gebiete Spanisch-Amerikas nur gelegentlich und eher beiläufig erwähnt sind - wie etwa Peru, Neu-Granada (das heutige Kolumbien), Argentinien (mit Ausnahme von Buenos Aires unter konkreter Bezugnahme auf seinen Hafen) und Chile - oder völlig fehlen, wie etwa Venezuela nach etwa 1800, obwohl Saavedra dort als Intendant tätig war, sich stark für die Entwicklung des Landes engagiert hatte und mannigfache persönliche Kontakte unterhielt. Bedenkt man, dass Saavedra in den Dezennien sehr detailliert über die in Amerika angetroffenen Personen, seien es Amtsträger, seien es wichtige Privatpersonen, berichtet, ist es kaum vorstellbar, dass er diese Kontakte mit seiner Rückkehr nach Spanien abbrach. Simón Bolívar, als der Vorkämpfer der Unabhängigkeit Venezuelas, taucht in den Registern überhaupt nicht auf, ebenso wenig wie andere zeitgenössische Parteigänger der Unabhängigkeitsbewegung in Venezuela. Es fehlt selbst jeder Bezug auf diese Bewegung, ob-

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wohl davon auszugehen ist, dass persönliche Freunde Saavedras ihm Unterlagen zu den Vorgängen zusandten. Umgekehrt fallt auf, dass Mexiko überraschend häufig in den Registern auftaucht, obwohl er sich dort nur wenige Wochen aufhielt. Aber auch hier fehlt private oder amtliche Korrespondenz selbst mit Personen, die er gut gekannt haben muss, ja die ihm nahe gestanden haben dürften. 27 Angesichts dessen muss man davon ausgehen, dass Saavedra offenbar selbst seine Archivbestände durchsah und Teile davon vernichtete, gewissermaßen als einen Akt der Tilgung von unliebsamen Erinnerungen. Zwar könnte man unterstellen, dass er als tendenziell den Liberalen zugehörig angesehener hoher Amtsträger nach der Restauration des Absolutismus durch Ferdinand VII. es für angezeigt hielt, Unterlagen zu vernichten, um nicht in den Verdacht der Kollaboration mit den Liberalen zu gelangen. Allerdings spricht dafür wenig, denn dann wäre es sehr viel mehr angezeigt gewesen, viele der erhalten gebliebenen Zeitungen und Zeitschriften aus Frankreich zu eliminieren, als Informationen aus Amerika über die dortigen Vorgänge. So deutet viel darauf hin, dass Saavedra gerade alles zu tilgen suchte, was mit der Unabhängigkeit Amerikas zu tun hatte. Die Gebiete, in denen schon früh erste Unruhen auftraten, kommen in seinem Archiv kaum vor. So erwähnt er beispielsweise in den Dezennien den Aufstand von Tupac Amaru in Peru von 1780 bis 1781 und den zeitgleichen Aufstand der comuneros in NeuGranada mit keinem Wort, obwohl ihm diese Vorgänge selbstverständlich bekannt waren, da er zeitgleich in die militärischen Operationen in der Karibik involviert war. Sie müssen ihn aber so beschäftigt haben, dass er bei seinem kurzen Besuch in Mexiko den Vizekönig Mayorga nach den Risiken einer Unabhängigkeitsbewegung fragte. Als dieser derlei Risiken verneinte, nahm Saavedra dies ausdrücklich (erleichtert?) in die Dezennien auf. Da er erst 1812 mit deren Niederschrift begann, mochte er mit den sich nach 1811 überschlagenden Meldungen aus Amerika beschlossen haben, die Niederschrift selbst seiner persönlichen Version der Geschichte 1787 abzubrechen. Es wäre diesbezüglich interessant festzustellen, welche der beiden Versionen der Dezennien zuerst geschrieben wurde. Sehr wahrscheinlich ist jedenfalls,

In Mexiko waren zwei Schwäger von Bernardo de Gälvez, den Saavedra als seinen engsten Freund bezeichnete, als Intendanten tätig: Manuel de Flon in Puebla und Antonio Riano in Guanajuato. Beide waren mit Bernardo de Gälvez und Saavedra an der Eroberung von Pansacola in Florida beteiligt. In New Orleans hatten beide und Bernardo de Gälvez die Schwestern Saint Maxent, Töchter eines dort ansässigen vermögenden Franzosen geheiratet, und beide kamen während der 1810 ausgebrochenen Erhebung von Miguel Hidalgo ums Leben. Zumindest von Flon sind in mexikanischen und spanischen Archiven sehr persönliche, wenngleich amtliche Schreiben an Saavedra erhalten. Es muss in höchstem Maße erstaunen, von diesen beiden Personen und von den Ereignissen, die zu ihrem Tod führten, keinerlei Hinweise in Saavedras Archiv zu finden.

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dass es für einen aufgeklärt, dem Liberalismus nahe stehenden Staatsmann wie Saavedra so etwas wie eine persönliche Beleidigung war zu beobachten, dass gerade das Land, für das er als Intendant so viel getan zu haben glaubte dieser Teil der Dezennien bringt dies sehr deutlich zum Ausdruck - sich als eines der ersten für unabhängig erklärte. Möglicherweise muss man die vorzeitige Beendigung der Dezennien auch damit erklären, dass Saavedra die Politik des Indienministers Gälvez in dem Maße als gescheitert, ja geradezu als kontraproduktiv zu betrachten begann, in dem die Unabhängigkeit an Boden gewann. Das Abbrechen der Dezennien also als späte Einsicht, dass die historische Entwicklung seine eigene Sicht der Geschichte zerstörte? Viel spricht dafür, auch wenn diese Deutung letztlich nur durch eine gründliche und kritische Sichtung der fraglichen Quellen zu bestätigen oder gegebenenfalls zu widerlegen ist. Eine politische Laufbahn zwischen Reform, Revolution und Reaktion Welches Fazit drängt sich angesichts der vorangehenden Ausführungen auf? Der Versuch eines Fazits erfordert zweierlei, nämlich einmal Saavedra als bedeutenden historischen Akteur jener Umbruchphase zu charakterisieren, sodann nach den Konsequenzen der geschilderten Quellenprobleme für die Forschungen zur iberoamerikanischen Geschichte zu fragen. Der Werdegang Saavedras lässt in allen Details deutlich werden, dass seine Laufbahn wesentlich durch die auf den Hof zentrierten vertikalen sozialen, institutionellen und politischen Beziehungsgeflechte ermöglicht und bestimmt wurde. Er war somit in Loyalitätsbezüge eingebunden, die wenig individuelle Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten boten, es sei denn möglichst weit weg vom Zentrum des Systems, nämlich dem Hof. Die Anfange seines Aufstiegs vollzogen sich im Gefolge der seit Mitte der 1770er Jahre die Politik dominierenden Fraktion der „Golillas", modernisierungsund aufstiegsorientierter Juristen, die über keine andere Legitimierung oder gesellschaftlich verankerte Loyalitäten verfügten, als die Gunst des Königs und ihre dem reformorientierten Zeitgeist verbundene Ausbildung. Saavedra ist aufgrund des auf Amerika beschränkten Fragments seiner Dezennien ein Beispiel dafür, dass viele dieser Reformer im Grunde die ihren Aufstiegsmechanismen zugrunde liegenden Regeln und Verhaltensweisen sowie deren adelig-feudale Grundlagen selbst in Zweifel zogen. So finden sich in Saavedras Text viele kritische Bemerkungen über eigenmächtige, ohne Konsultationen erfolgte Entscheidungen König Karls III. Generell zeigten sich Tendenzen zu einer eher individualistischen Grundhaltung beziehungsweise der Formulierung eigener Sichtweisen und Problemstellungen, die nicht der offiziellen Politik entsprachen. Beispielhaft seien hier sein mehrfach geäußertes

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Mitgefühl mit schwarzen Sklaven und deren Behandlung, seine Bemerkungen über die soziale Lage der indigenen Bevölkerung in Mexiko-Stadt im Vergleich zur Lage in Puebla und seine häufig gegen offizielle Anweisungen aus Madrid verstoßenden Maßnahmen als Intendant von Venezuela genannt. Man gewinnt den Eindruck, dass er als Intendant zahlreiche Modernisierungsmaßnahmen gewissermaßen auf „eigene Faust" gegen allgemeine Regelungen der Krone durchsetzte und sich diese nachträglich durch seine engen Beziehungen zum Indienminister Gálvez „absegnen" ließ. Sein besonderes Interesse an zwei von Joseph II. mit Erlaubnis des spanischen Hofes nach Venezuela zu Forschungszwecken entsandten Botanikern, die er förderte und auch zu Modernisierungsmaßnahmen in Venezuela heranzog, Maßnahmen zur Binnenkolonisation, zur Verbesserung der Hafenanlagen in La Guaira, dem Haupthafen von Caracas, sein Interesse an der Musikpflege in Venezuela und viele andere Aussagen seines autobiographischen Textes, weisen ihn eindeutig als Modernisierer aus, der möglicherweise gerade in Amerika, weit entfernt von den alltäglichen Hofintrigen, seine Möglichkeiten zur Entfaltung fand. Ein Ereignis, das er in seinem Bericht erwähnt, kann wohl auch zur Erklärung seines späteren Aufstiegs am Hof herangezogen werden und eventuell sein Schweigen zu den späteren Ereignissen in seinem Leben erklären. Er erwähnt, dass der Kronprinz, der spätere König Karl IV., sich vor seiner Ausreise nach Amerika vertraulich mit der Bitte an ihn wandte, beim Transfer einer größeren Geldsumme, die ihm aus Mexiko geschenkt worden sei, behilflich zu sein, doch dürfe sein Vater, Karl III., dies keinesfalls erfahren. Saavedra erwähnt weiter, dass es ihm gelungen sei, dieses delikate Problem zu lösen. Man darf also davon ausgehen, dass der spätere Karl IV. ihm dafür dankbar war und ihn weiter förderte. Sein Aufstieg zum Finanzminister zunächst und zum Premierminister bald danach, stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Krise der Führungsrolle Godoys, der sowohl auf Druck Frankreichs als auch aufgrund seiner Unbeliebtheit in Spanien seine Rolle als Premierminister und Leiter der spanischen Politik aufgeben musste. Ob Saavedra dann auf eigene Initiative oder auf Druck am Hofe als Finanzminister die Einleitung der Desamortisationspolitik anordnete, sei dahingestellt. Tatsache ist aber, dass diese Maßnahme die Opposition gegen die Krone sowohl in Spanien als auch in Hispanoamerika entscheidend förderte, ja, viele Historiker sehen darin den Anfang vom Ende des spanischen Imperiums. Von Saavedra selbst findet sich ein Hinweis darauf, dass die massiven Anfeindungen am Hof ihn zusätzlich zu seiner Erkrankung zum Rücktrittsgesuch veranlasst hatten. Wenn er sich später der politischen Opposition gegen die französische Invasion zur Verfügung stellte, sich dennoch aber weigerte, ein Mandat als Abgeordneter für die verfassungsgebende Versammlung der Cortes von Cádiz anzustreben, lässt sich das Dilemma des aufgeklärten Reformers vermuten. Er vermochte am Hofe nicht, die widerstreitenden Interessen zu kanalisieren, da er sich dort

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mehr als in Amerika gezwungen sah, im Rahmen der Mechanismen zu agieren, denen er seinen Aufstieg verdankte, die ihn aber zugleich daran hinderten, die Politik zu betreiben, die er für richtig erachtete. Als sich dann die Möglichkeit bot, über die Junta-Bewegung in Spanien eine andere Legitimierung für die ihm angemessen erscheinende Politik zu erreichen, schreckte er vor den revolutionären Implikationen dieser Legitimierungsmöglichkeit zurück, zog sich ins Privatleben in seine Heimatstadt zurück, um dort im lokalen Rahmen die Dinge zu betreiben, die ihm wichtig erschienen. Seine Tätigkeiten in den Akademien Sevillas, als Leiter der Kommission zur Schiffbarmachung des Guadalquivir oder als Förderer der Erziehung armer Kinder im Stadtteil Triana dokumentieren dies zur Genüge auch ohne systematische Quellenforschung in den Archiven, die über seine Jahre nach der Rückkehr aus Amerika zu Rate zu ziehen wären. Saavedra war sich offenbar der Tatsache bewusst, am Beginn eines revolutionären Zeitalters zu leben, wie aus seinen Dezennien zu entnehmen ist. In den Abschnitten, in denen er seine Reise nach Mexiko zur Mobilisierung von Ressourcen für den Krieg gegen England erwähnt, schildert er seine Unterredungen mit dem damaligen Vizekönig Mayorga und schreibt, dass er diesen ausdrücklich nach der Gefahr einer Erhebung gegen die spanische Herrschaft und der damit verbundenen Gefahr einer Revolution gefragt habe, dieser ihm aber versichert habe, dass derlei nicht zu befürchten sei, da die Indios ruhig seien und es nur einigen Missmut wegen der steuerlichen Maßnahmen der Krone gebe. Dies zu einem Zeitpunkt, als in Peru der Aufstand des Túpac Amaru und in Neu-Granada (Kolumbien) die Rebellion der comuneros ablief, Bewegungen, über die Saavedra informiert sein musste, die er aber nicht erwähnt. Zudem richteten, wie bereits erwähnt, zwei seiner engen Bezugspersonen, auf die er in den Dezennien mehrfach eingeht, jeweils Eingaben an die Krone, in der sie auf die Gefahr einer Unabhängigkeitsbewegung in Hispanoamerika hinwiesen und Mittel und Wege vorschlugen, wie dies eventuell zu verhindern sei. Saavedras enger Freund Bernardo de Gálvez, der Neffe des Ministers Gálvez und Vizekönig in Mexiko, berief 1786 während einer Hungersnot in Mexiko-Stadt sogar eine „Junta de Ciudadanos" ein, die Maßnahmen zur Abhilfe der Not beraten sollte. In dem gedruckten Aufruf verwandte der Vizekönig damit sogar erstmals einen der Schlüsselbegriffe des heraufziehenden revolutionären Zeitalters. Man wird daher durchaus folgern dürfen, dass beide diesem modernen Denken nicht ganz fern standen. Bernardo de Gálvez starb im gleichen Jahr, bald darauf der Minister Gálvez und sodann Karl III., wenige Monate vor dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789. Mit der Rückkehr Saavedras nach Spanien fielen also der Tod seiner engsten Freunde und Förderer, seine Heirat mit einer Hofdame und der Ausbruch der Französischen Revolution zusammen, allesamt Ereignisse, die einem erwachsenen Individuum als scharfe Zäsur im Leben erscheinen konnten und es in vieler Hinsicht gezwun-

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gen haben dürften, sich neu zu positionieren. Unter Umständen hat sich der einschneidende Charakter jener Wendejahre in seinem Leben dem Autor der Dezennien erst durch die späteren Entwicklungen nach Beginn des Schreibprozesses 1812 erschlossen, so dass er diesen Text abrupt beendete. In diesem Fall müsste man die sich abzeichnenden Fortschritte der hispanoamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen als den eigentlichen Auslöser des Schocks bei Saavedra unterstellen, die ihn davon abhielten, den Text zu vollenden. Man darf dabei nicht vergessen, dass ein großer Teil der hispanoamerikanischen Junta-Bewegungen sich ja auf Ferdinand VII. bezog und sich somit über den legitimen König in französischer Gefangenschaft legitimierte. Die wenigen Regionen, die sich bereits 1811 für unabhängig erklärt hatten, waren aber zunächst von einheimischen Eliten wieder zurückerobert worden und hatten sich ebenfalls Ferdinand VII. unterstellt. Als dieser 1814 auf den spanischen Thron zurückkehrte und die Zügel der Regierung wieder straffen wollte, kam man dann ja auch in Amerika nicht umhin, „Farbe zu bekennen" und sich klar zwischen der Alternative für den König und damit für Spanien oder für die Unabhängigkeit zu entscheiden. Der zweite Teil dieser Alternative bedeutete in Iberoamerika sehr bald nach dem Ende des Wiener Kongresses und der Formierung der Heiligen Allianz auch, für die Republik Partei ergreifen zu müssen, da die Heilige Allianz die Möglichkeit unabhängiger Monarchien in Amerika ausschloss und allenfalls ein Kaisertum als Alternative zur republikanischen Verfassung gestattete. Nur in Brasilien konnte diese Alternative prosperieren, da die Ausrufung dieses Kaiserreiches unter Beachtung des Prinzips der legitimen Thronfolge erfolgte, während in Mexiko der Versuch eines Militärkaisertums nach napoleonischem Vorbild durch Agustín de Itúrbide schon aufgrund der inneren Widersprüche in der Armee kurzfristig scheiterte. Die Wendejahre 1815 bis 1817 des hispanoamerikanischen Unabhängigkeitsprozesses könnten auch der Zeitraum gewesen sein, zu dem Saavedra die Niederschrift seiner Dezennien abbrach. In diesem Fall könnte man folgern, dass das definitive Scheitern des Konzeptes der Bildung eines „cuerpo unido de nación", bestehend aus Spanien und Hispanoamerika, das 1767 der Staatsrat mit entschiedenen Reformbefürwortern an der Spitze als Konsequenz aus der Vertreibung des Jesuitenordens beschlossen hatte, den Reformer Saavedra so traf, dass er die Dezennien abschloss. So nahe liegend die vorangehenden Überlegungen sein mögen, so bedürfen sie letztlich einer detaillierten Verifizierung oder Falsifizierung durch systematische Quellenforschung. Dazu müsste man nicht nur eine umfangreiche Literatur, sondern auch Archive in Madrid, Sevilla, Cádiz und andernorts in Spanien ebenso sichten, wie Bestände in Venezuela, Kuba, Mexiko, Frankreich und sogar in England, um die Biographie einer Schlüsselfigur jenes Zeitalters des Umbruchs in Spanien und Hispanoamerika nachzuzeichnen und vor allem auch, um die Aussagen in seinen Dezennien zu

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verifizieren. Da Forschungsförderung auch im Zeitalter der so genannten Globalisierung eher aus nationaler Perspektive erfolgt, dürfte es schwierig sein, ein Projekt finanziert zu bekommen, das es erlauben würde, im oben angeführten geographischen Rahmen den Spuren Saavedras durch die Archive zu folgen. Wollte man biographische Profile der politischen Akteure jener Epoche mit dem Ziel erstellen, in breiter Form die Ursprünge des iberischen und iberoamerikanischen Liberalismus und Konservativismus zwischen Monarchie und Republik zu dokumentieren, wären viele derartiger Forschungsprojekte wie zu Saavedra erforderlich. Bislang lässt sich dies ansatzweise erst zu den so genannten „proceres", den Vorkämpfern der Unabhängigkeitsbewegungen in Hispanoamerika, leisten, deren Laufbahnen aus nationalen Gründen intensiv erforscht und dokumentiert wurden.28 Die vielfachen Einzelbezüge zu historiographischen Entwicklungen und archivalischen Problemen auf den vorangehenden Seiten erinnern aber auch daran, dass sich in den Jahren seit 1960 die historische Forschung über Lateinamerika überhaupt erst langsam international etablierte und die Geschichtsschreibung zu Spanien sich parallel dazu von den ideologischen Bevormundungen des Franco-Regimes zu befreien begann. Die Angehörigen dieser Gründergeneration, zumindest soweit sie empirisch und quellenbezogen arbeiteten, sahen sich mehr oder weniger alle mit ähnlichen Problemen und Überlieferungslücken zu Quellenkorpora, Archiven, konkurrierenden historiographischen Schulen usw. konfrontiert, wie dies vorangehend am Beispiel Saavedras zu illustrieren versucht worden ist. Dies insbesondere auch deshalb, da sie sich nahezu durchweg mit den großen revolutionären Umbruchsituationen in der Geschichte Lateinamerikas und Spaniens auseinandergesetzt haben, seien es die Unabhängigkeitskämpfe und die daraus resultierenden Staatsbildungsprozesse oder die Revolutionen des 20. Jahrhunderts und ihre jeweiligen Vorgeschichten und Konsequenzen. Parallel dazu vollzog sich in der iberischen Welt ein langsamer Prozess der Ordnung von Archiven, der Erschließung privater Archivbestände, die oft privaten universitären Einrichtungen oder Stiftungen zur Aufbewahrung und Katalogisierung übergeben wurden, wie dies deutlich in Mexiko zu beobachten war. Zugleich schritten

So erst kürzlich M. Zeuske: Francisco de Miranda y la Modernidad en América. Zeuske setzt mit der Dokumentation zu Miranda 1790 ein und ist bemüht, auf breiter Literaturgrundlage Miranda der Moderne zuzuordnen, obgleich dieser so gegensätzliche Mächte wie das revolutionäre Frankreich, England und Russland in den Dienst seiner Unabhängigkeitspläne für Hispanoamerika einbeziehen wollte. Saavedra kannte Miranda seit den 1770er Jahren als Offizierskollegen in der spanischen Armee und bezeichnet ihn in den Dezennien als unruhigen Geist und Wirrkopf, der sich stets mit den falschen Leuten zusammentue. Bedenkt man, dass Saavedra dies nach 1812 zu Papier brachte, so erscheint dies angesichts von Mirandas späterer Laufbahn eine vergleichsweise milde Einstufung.

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Systematisierung und Katalogisierung, ja teilweise sogar der Digitalisierung von staatlichen Archivbeständen voran. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass eine Revolution des Dokumentationswesens und der damit verbundenen kollektiven Erinnerung stattfand. Dieser Prozess bedarf noch einer intensiveren auch quellenkundlichen und archivalischen wissenschaftlichen Aufarbeitung, will man in Teilbereichen der historischen Forschung, wie etwa der Biographik oder der Rekonstruktion auslösender Momente von Umbruchsituationen, wie sie etwa die Epoche Karls IV. in Spanien so reichlich erkennen lässt, Fortschritte erzielen. Wenn unter diesen komplizierten Umständen gleichwohl klassische historische Darstellungen selbst im deutschen Sprachraum mit seiner geringen Zahl von Fachvertretern mit einem Schwerpunkt auf der iberischen Welt und entsprechend eingeschränkten Forschungsmöglichkeiten im Rahmen nationalgeschichtlich ausgerichteter Fördermöglichkeiten entstanden, wie etwa Hans Werner Toblers Die mexikanische Revolution, so nicht zuletzt aus dem Grund, weil die kleine scientific Community schon sehr früh, seit Beginn etwa der 1970er Jahre, jenseits ideologisch-politischer Grundpositionen, jenseits von Schulzusammenhängen und auch jenseits der konkret bearbeiteten Themen immer wieder zu gemeinsamen Diskussionen auf internationaler Ebene zusammenfand, bei denen man sich aneinander „abarbeiten", Informationen austauschen, die eigenen Positionen klären, Kontakte herstellen konnte und zu verstehen lernte, wie und warum diese oder jene Dinge in benachbarten Ländern anders funktionierten, gesehen wurden oder andere Fragen gestellt wurden. Der im Vorangehenden mehrfach genannte Sevillaner Historiker Francisco Morales Padrón war einer der Pioniere bei der Organisation solcher Begegnungen und steter Teilnehmer an diesen Treffen. Diese Jahre und die daraus erwachsene enge Zusammenarbeit mit Hans Werner Tobler zur gemeinsamen Organisation und Herausgabe des Handbuch der Geschichte Lateinamerikas ist jedenfalls ein wesentlicher Teil der EgoHistorie des Autors dieser Zeilen, der nie getilgt zu werden braucht.

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LIMANTOUR UND DIE MEXIKANISCHE REVOLUTION

Ende 1919 schrieb José Yves Limantour, einer der mächtigsten mexikanischen Politiker während der Diktatur von Porfirio Diaz, aus seinem Exil in Paris einem anderen mächtigen Mitglied der Diaz-Administration, Enrique Creel, dass die eigenen Bolschewisten nicht so schlimm gewesen seien wie ihre Nachfolger in anderen Ländern.1 Unschwer ließen sich 1919 in Paris die Auswirkungen der bolschewistischen Revolution in Russland feststellen. Der größte Teil der russischen Elite war durch die Revolution ruiniert worden und fristete sein Leben im Pariser Exil als Taxifahrer, Türsteher in Nachtclubs und Dienstboten. Und diese gehörten noch zu den Glücklichen. Tausende von russischen Aristokraten hatten während des blutigen Bürgerkriegs ihr Leben verloren, Tausende waren von den Bolschewiki hingerichtet worden. In Mexiko stellte sich die Lage völlig anders dar. Zwar kamen die meisten Revolutionsfuhrer - Francisco Madero, Venustiano Carranza, Emiliano Zapata, Pancho Villa und Alvaro Obregón - gleich wie die später von Stalin ermordeten russischen Revolutionsführer gewaltsam ums Leben. Praktisch allen Mitgliedern der vorrevolutionären Oligarchie Mexikos gelang es jedoch, nicht nur die Revolution zu überleben und eines natürlichen Todes zu sterben, sondern als reiche Männer aus dem Leben zu scheiden. Weshalb und wie konnte dies geschehen? Wie nahm die vorrevolutionäre Oligarchie die Revolution wahr, die sie entmachtete? Wie versuchte sie, Einfluss auf deren Verlauf zu nehmen? Wie beurteilte sie ihre eigene Verantwortung am Ausbruch der Revolution? Und schließlich: Wie gelang es ihr zu überleben? Der vorliegende Beitrag versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Er untersucht dazu die Aktivitäten, die Perspektiven, die Meinungen und das Schicksal des zweitmächtigsten Mannes in der Diktatur von Porfirio Diaz. José Yves Limantour war wahrscheinlich der bedeutendste Technokrat, den Mexiko je hervorgebracht hat. Dank der Geschäftstätigkeit seines Vaters Yves Limantour, einem Kaufmann und Schiffskapitän aus der französischen Bretagne, wurde er in eine reiche Familie geboren. 1830 war sein Vater mit einer vollen Schiffsladung Waren im damaligen mexikanischen Kalifornien angekommen. Das Schiff war unglücklicherweise auf Grund gelaufen, aber Limantour hatte den größten Teil seiner Waren retten und mit großem Gewinn in San Francisco verkaufen können. Mit einem Teil des Gewinns hatte er BeDer Beitrag ist von den Herausgebern aus dem amerikanischen Englisch übersetzt worden.

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sitztitel für ein großes Gebiet der San Francisco Bay erworben. Mit dem Rest hatte er ein Schiff gekauft und Handel in ganz Mexiko betrieben. In Mexiko herrschten zu dieser Zeit chaotische Zustände. Das Land wurde von andauernden Bürgerkriegen geplagt, und die meisten Kaufleute vermieden es, dort Handel zu treiben. Nicht so Yves Limantour Senior. Schon früh erkannte er, dass es etwas gab, was er jederzeit an alle Parteien in Mexiko verkaufen konnte: Waffen. Mit den Einnahmen aus dem Waffengeschäft begann er, große Ländereien zu kaufen, die der Kirche gehört hatten und von der liberalen Regierung konfisziert worden waren. Der Reichtum, den er damit erlangte, wog den großen Verlust auf, den er 1848 erleiden sollte: Nachdem die USA Kalifornien übernommen hatten, weigerten sie sich, seinen Besitz in der San Francisco Bay anzuerkennen, der ihn im Falle einer Anerkennung zu einem der reichsten Männer der Welt gemacht hätte. Sein ältester Sohn, José Yves Limantour, erhielt die beste Ausbildung, die zu dieser Zeit mit Geld in Mexiko zu haben war. Er studierte an der Escuela Nacional Preparatoria unter Gabino Barreda, dem führenden Vertreter des Positivismus in Mexiko. Sein ganzes Leben lang sollte diese Doktrin zusammen mit dem Sozialdarwinismus Herbert Spencers die Grundlage seiner Überzeugungen bleiben. Limantour studierte Recht in Mexiko und Finanzwissenschaften in Frankreich. Sein außergewöhnliches finanzielles Talent zog schon bald die Aufmerksamkeit der mexikanischen Eliten auf sich. Einige wie etwa Evaristo Madero, der Großvater von Francisco Madero - baten ihn, sie in ihren Finanzangelegenheiten zu vertreten, während andere, die wichtige Positionen in der Regierung von Porfirio Diaz besetzten, ihn für die DiazAdministration zu gewinnen suchten. Bald band ihn der Schwiegervater von Porfirio Diaz, Romero Rubio, der eine kleine Gruppe besonders mächtiger Financiers und Regierungsbeamter anführte, in seinen Kreis ein. Nach Romero Rubios Tod wurde Limantour zunächst Vize- und ein Jahr später Finanzminister, eine Position, die er bis zu seinem Rücktritt nach dem Ausbruch der Mexikanischen Revolution im Jahr 1911 innehaben sollte. Er hatte entscheidenden Anteil an der Ausgestaltung dessen, was man als die Modernisierung des porfiristischen Mexiko bezeichnen könnte. Er beschaffte große Darlehen, die es Mexiko ermöglichten, seine Infrastruktur zu modernisieren, insbesondere durch den Eisenbahnbau und die Erneuerung der Häfen. Damit schuf er umgekehrt eine entscheidende Voraussetzung für einen massiven Zustrom von ausländischem Kapital. Limantour suchte die Investitionstätigkeit zu fördern, indem er Anlegern, die den Eisenbahnbau finanzieren halfen, staatliche Unterstützung anbot, und indem er dafür sorgte, dass die Gerichte meist zugunsten der Financiers entschieden, wenn diese Streitfalle mit den Behörden auszutragen hatten Er rationalisierte und modernisierte Mexikos Bankensystem und schuf die Binnenzölle ab, die den nationalen und internationalen Handel enorm behinderten.

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Limantour war nicht bloß ein Technokrat, sondern auch ein Ideologe. Gemeinsam mit einer Gruppe von Rechtsanwälten und Financiers, von denen einige ebenfalls beim Positivisten Gabino Barreda studiert hatten, veröffentlichte Limantour 1893 ein liberales Manifest. Darin priesen die Verfasser den Frieden, den Porfirio Díaz Mexiko gebracht habe, lobten seine Wirtschaftsreformen und riefen den mexikanischen Diktator, dessen Wiederwahl sie bedingungslos befürworteten, auf, eine neue Partei zu gründen, die die Grundlage seiner Herrschaft bilden sollte. Díaz war von diesen Männern, die die höchsten Machtpositionen in seiner Regierung bekleiden sollten, sehr beeindruckt, allerdings nicht von ihrem Programm. Er hatte nicht im Sinn, die Macht mit einer politischen Partei zu teilen. Da die Verfasser des Manifests die Gründung einer formellen politischen Organisation auf diese Weise nicht durchsetzen konnten, riefen sie eine informelle ins Leben. Ihre Führer waren Financiers wie Pablo und Miguel Macedo. Auch regionale Machthaber wie Ramón Corral aus Sonora, Enrique Creel aus Chihuahua oder Olegario Molina aus Yucatán, die zeitweise das Amt des Gouverneurs in ihren Gliedstaaten innehatten und später eine entscheidende Rolle in der bundesstaatlichen Bürokratie spielten, gehörten der Gruppe an. Und auch einige Intellektuelle wie Mexikos bekannter Erzieher und Historiker Justo Sierra und der provokative Journalist und Essayist Francisco Bulnes schlössen sich der Gruppe an. Deren Mitglieder wurden als científicos bezeichnet, weil sie für sich in Anspruch nahmen, das Land auf der Grundlage wissenschaftlicher Methoden zu verwalten. Die Zeitgenossen beschrieben die Gruppe ganz unterschiedlich. Limantour spielte die Organisation und die Macht der Gruppe herunter. In seinen Memoiren charakterisierte er die Gruppe folgendermaßen: „[...] compuesta solamente de un pequeño número de personas que no tenían jefe, ni reuniones, ni más programa que el muy vago que acaba de bosquejarse y que es el que recibió de sus adversarios el mote de Científicos." 2

Limantour bezog sich hier auf jenes Programm, das er in seinem Manifest von 1893 skizziert hatte. Diese Beschreibung der científicos war so eng gefasst, dass selbst einer der führenden Ideologen der Gruppe, Francisco Bulnes, ihr nicht zustimmte. Er stellte fest, „that the científicos represented our aristocracy that ruled as such and they were attacked as all aristocracies are and which, at some point in history, were part of a government ruled by one man."3

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J.Y. Limantour: Apuntes sobre mi vida publica, S. 21. F. Bulnes: The Whole Truth about Mexico, S. 103.

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Eine völlig andere Ansicht über die científicos äußerte einer ihrer größten Feinde, der Intellektuelle Luis Cabrera, der eine bedeutende Rolle in der Mexikanischen Revolution spielte. Er beschrieb sie als Oligarchie und rief aus: „no hay un Científico pobre. Su fuerte para los negocios es proverbial. Existen Científicos que reciben sueldos fabulosos como representantes honoríficos de lores ingleses o ,reyes' americanos, sin más obligación que pasar su recibo. Las mejores concesiones son las suyas, los puestos mejor remunerados son los suyos, los cargos de confianza son los suyos. Si se pregunta quien gestionó un empréstito, aparece un Científico, si se inquiere en qué se gastó resulta otro Científico. [...] Los Científicos aplican la ciencia a la resolución de nuestras cuestiones nacionales y para ello han estudiado todas las ciencias; todas, menos una, que es la que ignoran ... la ciencia del Patriotismo".4

Zusammenfassend lassen sich die científicos als die erste herrschende Klasse auf nationaler Ebene in der Geschichte des unabhängigen Mexiko bezeichnen. Sie waren in dem Sinne national, dass ihre wirtschaftlichen Interessen und Aktivitäten im Banken-, Finanz- und Transportwesen weit über ihre Ursprungsregionen hinausreichten. Viele von ihnen waren Grundbesitzer Enrique Creel und Olegario Molina gehörten zu den größten hacendados in Mexiko doch sie engagierten sich ebenso im Industriesektor, der unter ihrer Kontrolle monopolistische Züge anzunehmen begann. Praktisch alle científicos waren in der einen oder anderen Weise als Mittelsmänner für ausländische Investoren tätig. Für die großen ausländischen Unternehmen war klar, dass einer der besten Wege, alle möglichen bürokratischen Hürden zu überwinden und Vorrechte von der Regierung zu erhalten, darin bestand, einen científico als Fürsprecher oder Partner zu gewinnen. In dieser Hinsicht gab es indessen einen bedeutsamen Unterschied zwischen amerikanischen und europäischen Firmen. Während die Amerikaner científicos als Repräsentanten anstellten, machten die Europäer dieselben oft zu Partnern. So hatten die zwei größten amerikanischen Erdölfirmen in Mexiko, die Mexican Petroleum Company und die Waters Pierce Oil Company, mexikanische Rechtsanwälte, aber keine mexikanischen Partner. Im Gegensatz dazu ernannte Lord Cowdray, der Besitzer der größten britischen Erdölfirma in Mexiko, der Mexican Eagle Company, Enrique Creel zu seinem Generalsekretär. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die científicos den europäischen Interessen näher standen als den amerikanischen und, wenn immer möglich, erstere nach Kräften förderten. Die unterschiedlichen Verhaltensweisen von europäischen und amerikanischen Firmen bezüglich der científicos war nicht der einzige Grund, weshalb diese Europa den USA vorzogen. Die amerikanische Expansionspolitik seit dem Krieg von 1898 und besonders im Gefolge von Theodor Roosevelts Big4

L. Cabrera: Obras Completas, Bd. 3, S. 58-59.

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Stick-Diplomatie und Tafts Dollardiplomatie hatten innerhalb der herrschenden Klasse Mexikos große Ängste ausgelöst. Deren Haltung ist wohl am besten vom deutschen Botschafter in Mexiko, Freiherr von Wangenheim, beschrieben worden, der seinen Vorgesetzten Bericht erstattete über Ziele und Organisation der - wie er sie nannte - „kosmopolitischen" Elite, der científicos: „Nach ihrer Meinung hängt die politische Zukunft des Landes ausschließlich von der Entwicklung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse ab. Dazu aber bedarf das Land der Mitwirkung des Auslandes und auch der Vereinigten Staaten. Mexiko soll daher immer mehr zum Betätigungsfeld kapitalistischer Unternehmungen aller Länder gemacht werden. Gerade in der wirtschaftlichen Abhängigkeit erblicken die Kosmopoliten, so paradox dies klingen mag. Die Garantie für die politische Selbständigkeit, insofern als sie annehmen, dass die großen hier investierten europäischen Finanzinteressen gegen amerikanische Annexionsgelüste ein Gegengewicht bilden und einmal zur völligen Internationalisierung und Neutralisierung Mexikos fuhren werden. An der Spitze der kosmopolitischen Gruppe steht im Geheimen der Finanzminister, Herr Limantour. Seine Bundesgenossen sind die mexikanische haute finance, ferner die bei den in- und ausländischen Unternehmungen interessierten höheren Beamten, Senatoren und Deputierten etc. und schließlich die hiesigen Vertreter des in Mexiko investierten europäischen Kapitals."5

Tatsächlich ergriff Limantour eine Reihe von Maßnahmen, die den amerikanischen Einfluss in Mexiko einschränkten. Wenn immer möglich, versuchte er, Anleihen bei europäischen und nicht bei amerikanischen Banken unterzubringen. Die porfiristische Regierung gewährte Lord Cowdrays Mexican Eagle Company umfangreiche Konzessionen für Erdölbohrungen und Explorationen. Auf der anderen Seite lehnte es Mexiko ab, ein Freihandelsabkommen mit den USA zu unterzeichnen. Vor allem aber kaufte die mexikanische Regierung in einer riesigen Finanzoperation eine Mehrheitsbeteiligung an der nationalen Eisenbahn Mexikos, die sich zu einem großen Teil in britischem und US-amerikanischem Besitz befunden hatte und deren Übernahme durch den US-amerikanischen Financier Edward Harriman drohte. An der Ausübung repressiver Gewalt war Limantour nicht persönlich beteiligt, er stand aber Männern, die dies durchaus waren, sehr nahe. Díaz' Innenminister, Ramón Corral, dem Limantour zum Amt des Vizepräsidenten Mexikos verholfen hatte, überwachte einen der brutalsten Gewaltakte während der porfiristischen Ära: die Deportation von Tausenden von Yaqui-Indianem aus ihren angestammten Gebieten. Die Yaqui hatten für ihr fruchtbares Land gekämpft, nachdem die Regierung dieses an eine US-Firma verkauft

Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, Mexiko 1, Bd. 17, Wangenheim an Bülow, 7. Januar 1907.

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hatte. Als ihr Widerstand zunahm, deportierte die Regierung Tausende von ihnen als Arbeitskräfte auf die Sisalplantagen in Yucatán, wo viele infolge des ungewohnten, tropischen Klimas starben. Olegario Molina, der mächtigste Mann Yucatáns und enger Gefolgsmann Limantours, herrschte über ein Hacienda-System, in dem die Arbeiter als Schuldknechte fast wie Sklaven gehalten wurden. Besondere Wachkommandos verhinderten, dass sie von den Plantagen flüchteten. Enrique Creel beteiligte sich an der weitreichenden Enteignung von kommunalen Ländereien in seinem Heimatstaat Chihuahua. Gleichzeitig organisierte er eine große gegenrevolutionäre Operation, um die von den anarchosyndikalistischen Brüdern Flores Magón und ihrem Partido Liberal angeführten radikalen Rebellen zu bezwingen und zu eliminieren. Obschon Limantour verschiedentlich der Korruption bezichtigt wurde, sind sich Beobachter und Historiker einig, dass er persönlich ehrlich war. Als er sein Amt als Finanzminister niederlegte, verfügte Mexikos Staatskasse über einen Überschuss von zweiundvierzig Millionen Pesos. Sah Limantour den Ausbruch der Revolution voraus? Für eine solche Vermutung gibt es keine Anhaltspunkte. Trotz des starken und außergewöhnlich populären Wahlkampfs, den Madero geführt hatte, schien Limantour ihn für so ungefährlich gehalten haben, dass er, nachdem Madero in San Luis Potosí verhaftet worden war, dessen Freilassung gegen Kaution veranlasste. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Maderos Flucht in die USA und sein Plan de San Luis Potosí, in dem er am 20. November 1910 zur nationalen Revolution gegen Porfirio Díaz aufrief, Limantour in irgendeiner Weise beunruhigt hätten. Als Limantour während eines Aufenthalts in Paris, wo er sich gerade zu Neu Verhandlungen einer Anleihe aufhielt, in der französischen Presse das erste Mal von Aufständen in Mexiko las, maß er der Nachricht kaum Bedeutung bei. Am 19. Dezember, nur vier Wochen nach dem Ausbruch der maderistischen Revolution, schrieb der Außenminister Mexikos und starke Mann von Chihuahua, Enrique Creel, an Limantour, dass die Bewegung von Chihuahua „weitaus ernster gewesen ist, als es den Anschein macht". Im Zentrum der Bewegung sah er die Einwohner des Bezirks Guerrero im Gliedstaat Chihuahua: „Las noticias que ha estado usted recibiendo de movimientos políticos en el Estado de Chihuahua deben haberle causado alguna inquietud y con razón, porque se han presentado con esa forma tenaz y fanática, que tuvo aquel levantamiento de los Tomóchic, en el año de 1893. La índole de los habitantes de ese distrito de Guerrero es muy parecida a las de los ,boeros' [der Buren in ihrem Krieg gegen die Briten], pues son valientes, levantados y resueltos hasta el sacrificio. Son además hombres de campo en toda la extensión de la palabra, montan admirablemente a caballo, manejan sus armas con

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singular destreza, son físicamente fuertes y tienen una resistencia admirable para las fatigas y para las correrías por la sierra, cuya topografía conocen tan bien como el patio de su casa. Esta gente ha desempeñado un papel de importancia en la historia de Chihuahua, prestando algunas veces buenos servicios en la persecución de los indios bárbaros y en apoyo del gobierno; y otras veces se han rebelado contra las autoridades causando muchas desgracias y muchos sacrificios para someterles. Es de sentirse que en esta vez se hayan colocado del lado de la revolución, porque son los que han venido a constituir el grupo más serio contra el gobierno. De los Estados Unidos han recibido esta gente mucho dinero, armas y municiones. Se dice que Don Francisco I. Madero ha proporcionado todos estos elementos [...] la opinión mía es que este movimiento político ha sido mucho más serio de lo que parece y que no fué improvisado, sino que es el resultado de una labor tenaz de propaganda entre las clases bajas por los Flores Magón, y con posterioridad entre las clases medias por otros dos grupos políticos." 6

Für die Bereitschaft dieser Leute, sich gegen die porfiristische Diktatur aufzulehnen, führte Creel bloß zwei Gründe an. Der erste war ihr Fanatismus. Creel verglich sie mit den Einwohnern von Tomóchi, einem Dorf im selben Bezirk, das sich 1893 mit Waffengewalt gegen die Regierung Díaz aufgelehnt hatte; während mehrerer Monate hatten dabei neunzig Männer über Tausend Regierungs-Soldaten Widerstand geleistet. In diesem Aufstand hatten sich die Unzufriedenheit mit der lokalen Regierung und ein genuiner religiöser Fanatismus verbunden. Der Fanatismus der neuen Revolutionäre war in den Augen von Creel ausschließlich auf Propaganda zurückzuführen. Mit keinem Wort erwähnte er, dass die Politik des Creel-Terrazas-Clans, der das politische und wirtschaftliche Leben Chihuahuas kontrollierte, einen gewissen Einfluss auf die Revolution gehabt haben könnte. Er sagte nichts davon, dass die Abschaffung der Gemeindeautonomie, die die Gemeinden im Bezirk von Guerrero während fast zwei Jahrhunderten genossen hatten, oder dass die von Creel selber entworfenen Landgesetze, aufgrund derer viele Gemeinden der Region ihre Ländereien verloren, oder dass die Steuerpolitik, die vor allem die Unterund Mittelschichten belastete, Auswirkungen auf die Haltung der Bevölkerung von Chihuahua gehabt haben könnten. Hätte Limantour irgendwelche Zweifel bezüglich der Mitverantwortung des Creel-Terrazas-Clans am Ausbruch der Revolution gehegt, so hätte sie ein Brief seines engen Mitarbeiters Javier Arrangoiz wohl zerstreut. „Mi amigo el General Don Angel García Peña, persona honorabilísima que conozco hace muchos años, acaba de venirse a Chihuahua y me ha dado noticias desconsoladoras que con franqueza y energía de Ángel vió también el señor presidente, diciéndole que si no se cambia al gobierno local de Chihuahua, la 6

Limantour Archiv, Creel an Limantour, 19. Dezember 1910.

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revolución seguirá aumentando porque casi todo el estado se encuentra sobre las armas y hasta llegó a decir García Pefia al caudillo [Porfirio Díaz] que sino salía cierto lo que él le decía que le dieran cinco balazos o bien que mandara al señor Creel a que se encargara del gobierno de Chihuahua y entonces vería que no permanecía en el ni ocho días sin que lo asesinaran pues la exaltación de las pasiones contra él y la familia Terrazas es intensa. Le refirió casos en que hasta las mismas señoras y niños de la familia Terrazas han sido injuriadas en la misma ciudad de Chihuahua." 7 Was Limantour mehr beunruhigt haben musste, war ein Brief seines engsten Vertrauten, des Vizefinanzministers Roberto Nuñez. „Le aseguro a usted que si los movimientos únicamente han tenido lugar en Puebla y en Chihuahua especialmente, la verdad es que el país entero está agitado y que en un momento dado lo más fácil sería que todos se levantasen porque el descontento es general". Im Gegensatz zu Enrique Creel, der die Übel M e x i k o s der Propaganda der Gebrüder Flores M a g ó n anlastete, sah N u ñ e z die Regierung selbst als die Ursache der Unzufriedenheit. „Es un hecho enteramente indubitable que el país está cansado de la administración actual, de todos sus gobernantes en general, y que en una forma u otra, por un motivo o por otro, la aspiración unánime es un cambio de gobierno. Si a esta situación se agrega el hecho desgraciadamente imposible de cambiar, de la edad del presidente de la república, agravado ahora con la persistente enfermedad de Don Ramón [Vizepräsident Ramón Corral], usted comprenderá que estamos muy lejos de descansar sobre un lecho de rosas." N o c h mehr mussten Limantour die Z w e i f e l von N u ñ e z bezüglich der Rolle der U S A besorgt haben, w e n n dieser fragte: „Sind es die Yankees, die Madero helfen?" „Relaciones [das mexikanische Außenministerium], a la que constantemente he estado haciendo esa pregunta, invariablemente responde que no hay razón alguna para afirmarlo así; pero lo que no puede ponerse en duda, es que ofrecen hacer cuánto pudiera uno desear en contra de Madero y de los insurrectos y de hecho nada hacen, absolutamente nada. Esto unido a la tradicional política de los Estados Unidos con las repúblicas de Centro y Sur América y con Cuba, hacen que los temores adquieran un fundamento extraordinario." 8

7 8

Limantour Archiv, Arrangoiz an Limantour, 28. Januar 1911. Limantour Archiv, Nuñez an Limantour, 30. Dezember 1910.

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Diese Befürchtungen verstärkten sich, als Nuñez Limantour nur wenig später schrieb, der Außenminister habe ihm von Gerüchten berichtet, dass nordamerikanische Kapitalgeber und verschiedene Beamte der US-Regierung die Revolutionäre unterstützten.9 Limantour war ob dieser Gerüchte beunruhigt und zugleich verblüfft. „Me he quedado con una gran curiosidad después del telegrama en que me anuncia usted, por encargo de Creel que hay noticias fidedignas de la complicidad de individuos y de autoridades americanas en los disturbios que hemos tenido. No es que el hecho en sí me sorprenda, sino que deseo saber como es natural qué clase de autoridades y de personas son las comprometidas en el asunto. Si se trata sólo de gente de baja esfera y radicada en Texas, Arizona, Nuevo México, California, la averiguación no presenta una importancia capital; pero si resulta que estas autoridades y estos individuos son de cierta categoría social o política, entonces sí debemos preparamos a luchar con dificultades más serias y delicadas. Por más que busco que personas conocidas pudieran tener interés en fomentar una revolución en México, no las encuentro o mejor dicho, mis sospechas carecen de base. Me inclino, sin embargo, a creer que sólo algunos americanos fronterizos que han adquirido terrenos de bastante extensión en el norte del país, son los únicos que pudieran, con una conciencia muy elástica, sembrar la discordia en México con la esperanza de que fructificarán más tarde las ideas anexionistas". 10

Limantours Bedenken hinsichtlich der Identität und des Charakters der Kräfte in den USA, die die Revolution von Madero unterstützten, schienen in dem Moment verflogen zu sein, als er US-amerikanischen Boden betrat. An demselben Tag beorderte die Regierung von William H. Taft zwanzigtausend Soldaten an die mexikanische Grenze. Offiziell verfolgte diese Mobilisierung das Ziel, die US-Grenze zu sichern und die Verletzung der Neutralität der Vereinigten Staaten zu verhindern. Limantour gelangte jedoch immer mehr zu der Überzeugung, dass die Mobilisierung nur den Auftakt zu einer US-amerikanischen Intervention darstellte. Er glaubte, dass die Haltung der Regierung Taft auf deren Ablehnung der nationalistischen Politik des porfiristischen Regimes beruhte. Hierzu zählte Limantour die Kündigung einer Konzession durch die mexikanischen Behörden, die der US-Marine das Recht eingeräumt hatte, Manöver in der Magdalena Bay in Baja California abzuhalten, sowie die Weigerung der Regierung Díaz, einen Reziprozitätsvertrag mit den Vereinigten Staaten abzuschließen, die Bank- und Handelsgesetze zuungunsten der europäischen Interessen zu ändern oder die Einwanderung von Japanern nach Mexiko zu beschränken. Die Auflistung umfasste weiter die Nationalisierung der mexikanischen Eisenbahnen und die Politik Mexikos, große Infrastruktur-

9 10

Limantour Archiv, Nuñez an Limantour, 7. Januar 1911. Limantour Archiv, Limantour an Nuñez, 17. Januar 1911.

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Projekte, wie etwa die Eisenbahnlinie nach Tehuantepec - eine Region des Landes, über die die Vereinigten Staaten schon immer die Kontrolle gesucht hatten völlig unabhängig von US-amerikanischen Interessen zu verwirklichen." Limantour war ferner überzeugt, dass die Taft-Regierung Baja California annektieren wollte.12 So begründet Limantours Befürchtungen im Grunde sein mochten, so übertrieben waren sie auch. Seine Überzeugung, dass es in den USA starke Kräfte gab, die Mexiko als Teil der US-amerikanischen Einflusssphäre betrachteten, war aber durchaus richtig. Einer der einflussreichsten in Mexiko tätigen US-Bankiers, James Speyers, brachte diese Sichtweise unumwunden zum Ausdruck, als er gegenüber dem deutschen Gesandten in Mexiko feststellte: „In the United States, there is a pervasive feeling that Mexico is no longer anything but a dependency of the American economy, in the same way that the entire area from the Mexican border to the Panama Canal, is seen as part of North America". 13

Es bestehen auch kaum Zweifel, dass wichtige US-amerikanische Wirtschaftsinteressen und einige amerikanische Beamte über gewisse Aspekte der Politik von Diaz unglücklich waren. Und es ist leicht vorstellbar, dass einige dieser Interessen, insbesondere die mit der Standard Oil verbundene Waters Pierce Oil Company, Madero unterstützten. Obwohl es keine Anzeichen dafür gab, dass die Regierung Taft in Mexiko intervenieren wollte, ließ sich diese Möglichkeit auch nicht ausschließen. In einem Memorandum an den amerikanischen Stabschef Leonard Wood erklärte Präsident Taft, dass das Hauptziel der Truppenkonzentration an der mexikanischen Grenze darin bestehe, Verletzungen der US-amerikanischen Neutralität zu verhindern und damit der Regierung Diaz zu helfen, der Revolution ein Ende zu setzen. Sollte Diaz dies nicht gelingen und ein allgemeiner Aufstand ausbrechen, der „die amerikanischen Investitionen von mehr als einer Milliarde Dollars gefährdete", würden Truppen nach Mexiko gesandt, um „Leben und Besitz von Amerikanern zu retten".14 Ein vom Partido Liberal organisierter Aufstand in Baja California mochte Limantour in der Überzeugung bestärkt haben, dass die USA beabsichtigten, das Gebiet in ihren Besitz zu bringen. Das Ziel des Aufstands war die Errichtung einer sozialistischen Republik in Baja California. Da die Liberalen von der einheimischen Bevölkerung nicht genügend Unterstützung erhielten, mobilisierten sie große Gruppen radikaler amerikanischer Freiwilliger, die ihnen 11 12 13 14

J.Y. Limantour: Apuntes sobre mi vida pública, S. 197-198. Ebd., S. 197. F. Katz: The Secret War in Mexico, S. 22. Zitiert nach W.D. Raat: Revoltosos, S. 238.

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zu Hilfe kamen, was in der mexikanischen Presse den Verdacht aufkommen ließ, diese seien ein Instrument amerikanischer Annexionisten. An diesem Punkt begann Limantour, eine Doppelstrategie zu entwickeln, um der Revolution Maderos ein Ende zu setzen. Als erstes sollten die Zusammensetzung der Regierung von Díaz geändert und weit reichende Reformen versprochen werden. Zweitens sollte eine Vereinbarung mit Madero getroffen werden, die Díaz zumindest noch eine gewisse Zeit erlauben würde, an der Macht zu bleiben, und die vor allem den Fortbestand des porfiristischen Staats sichern sollte. Während der erste Teil der Strategie scheiterte, war der zweite teilweise erfolgreich. Bei seiner Ankunft im Bahnhof von Mexiko-Stadt wurde Limantour zu seiner Überraschung von mehreren Tausend Personen - hauptsächlich Angehörigen der Oberschicht und des Verwaltungsapparates des Regimes - begrüßt, die hofften, er werde sie vor den anschwellenden Wogen der Revolution retten. Mit der Ausweitung der zapatistischen Revolution über Morelos hinaus in die Vororte von Mexiko-Stadt wurde die Hauptstadt erstmals mit der Realität der Revolution konfrontiert. Nicht nur die mexikanische Oberschicht, auch Díaz selbst sah in Limantour den Retter und gab ihm freie Hand, seine Pläne für Reformen und Verhandlungen umzusetzen. Die erste Maßnahme, die Limantour ergriff, bestand darin, mit Ausnahme des Kriegsministers - auf den Díaz nicht zu verzichten bereit war - alle Kabinettsmitglieder zum Rücktritt zu zwingen und mit Männer aus der Oberschicht zu ersetzen, die weder mit den científicos noch mit der Diaz-Administration in Verbindung standen. Die meisten von ihnen waren äußerst konservativ. Am 1. April 1911 hielt Porfirio Díaz vor dem mexikanischen Kongress eine Rede, in der er tief greifende Reformen ankündigte. Das neue Gesetz, das unmissverständlich das Prinzip der Nicht-Wiederwahl des Präsidenten und hoher Beamter festsetzte, sollte in Kraft treten. Die Gerichte sollten über weit mehr Unabhängigkeit verfugen als bisher. Ferner kündigte Díaz eine Landreform an, ohne jedoch im Einzelnen auszuführen, wie diese vollzogen werden sollte. Limantour hoffte, dass diese Versprechen dazu beitragen würden, das Land zu befrieden, doch sie kamen zu spät und gingen zu wenig weit. Schließlich hatte Díaz schon bei seinem Staatstreich 1876 verkündet, dass einer der Gründe, weshalb er die Macht ergreifen wolle, die Einführung des Prinzips der Nicht-Wiederwahl des Präsidenten sei. Warum sollten ihm die Leute nun glauben? Limantour selbst erkannte, dass diese Reformen kaum Wirkung zeigten. So schrieb er in seinen Erinnerungen: „A poco andar se vio claramente que ni el gran prestigio del Caudillo, ni mi pequeño contingente personal, ni las prendas que desde luego se dieron de nuestra firme intención de traducir inmediatamente en hechos las palabras y las promesas

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anunciadas, lograron hacer variar la impresión general de que había soñado irremisiblemente la hora en que tenía que desaparecer la Administración del general Díaz". 15

Limantours Versuch, mit Madero eine Übereinkunft zu treffen, war weitaus erfolgreicher. Einer der wichtigsten Hebel, deren er sich in seinen Bemühungen bediente, war Maderos eigene Familie, insbesondere dessen Großvater, Onkeln und Cousins. Diese hatten von Beginn weg die politischen Aktivitäten Maderos mit aller Kraft abgelehnt. Als Francisco Madero seinem Großvater Evaristo sein Buch schickte, äußerte dieser „sein großes Missfallen", sollte sein Enkel fortfahren, sich selbst zu gefährden und „indem du den Erlöser spielen willst, wenn du doch wissen müsstest, dass Erlöser am Kreuz enden [...] immer, wenn ich über deine Handlungen nachdenke", schrieb er ihm, „befürchte ich, dass du den Kopf verloren hast, da du die Meinungen von vernünftigen Personen nicht zu Rate ziehst."16 Sowohl Evaristo Madero als auch einer seiner Söhne, Ernesto, der große Teile des Familienunternehmens leitete, wiederholten diese ablehnende Meinung in Briefen an Porfirio Díaz und an Limantour. Die Verurteilung von Francisco Madero und Loyalitätsbekundungen gegenüber Díaz konnten den mexikanischen Präsidenten indessen nicht von seiner wachsenden Überzeugung abbringen, dass der gesamte Madero-Clan hinter dem jungen Revolutionär stehe. In der Folge ergriff Díaz harte wirtschaftliche Maßnahmen gegen die Maderos. Banken durften ihnen keine Kredite gewähren, mehr noch: Sie mussten alle ausstehenden Darlehen zurückfordern. Einige Besitzungen der Maderos wurden enteignet, die Familienmitglieder wurden jedoch nie eingesperrt oder mit dem Tod bedroht. In einem Brief an Limantour, in dem er diesen bat, der Familie zu helfen, klagte Evaristo Madero: „Quieren las altas personalidades del Gobierno hacernos pasar por revolucionarios, o cuando menos, sostenedores de la revolución, sólo porque el visionario de mi nieto Francisco se ha metido a querernos redimir de nuestros pecados, como dice el catecismo del Padre Ripalda; y todo aquello dizque por revelaciones de los 17 espíritus de Juárez o de no sé quien".

In seiner Antwort wies Limantour auf die Verantwortung der Familie von Madero hin: „Y confío en usted y en los principales miembros de su familia para que colaboren sincera y eficazmente a ese fin."18

15 16 17 18

J.Y. Limantour: Apuntes sobre mi vida pública, S. 251. S.R. Ross: Francisco R. Madero, S. 54. J.Y. Limantour: Apuntes sobre mi vida pública, S. 208. Ebd., S. 209-210.

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Die Familie war mehr als nur bereit zu kooperieren. Maderos Onkel Ernesto und vor allem sein Cousin Rafael Hernández, der in seinen Briefen Madero mit „Mein Bruder" ansprach und ihm seit der Kindheit sehr nahe stand, spielten diesbezüglich eine wichtige Rolle. In Besprechungen mit Maderos Verbündeten und später mit ihm selbst sowie in Briefen riefen sie Madero auf, die Revolution zu beenden, da sie eine US-amerikanische Intervention zu provozieren drohe. Die von ihnen in enger Zusammenarbeit mit Limantour vorgeschlagenen Bedingungen für einen Kompromiss änderten mit dem Fortgang der Revolution, enthielten aber stets zwei grundlegende Elemente: die Erhaltung des porfiristischen Staats und den Nicht-Rücktritt von Díaz. Zu Beginn bot Limantour bloß eine Amnestie und das Versprechen freier Wahlen an. Später sprach er in Übereinstimmung mit Díaz davon, den Revolutionären eine Reihe von Gouverneursämtern und einige Ministerposten im neuen Kabinett zuzugestehen. Sowohl Limantour als auch Maderos Familienangehörige hofften nicht nur auf den tiefen Respekt des Revolutionsführers gegenüber seiner Familie, sondern auch auf dessen Furcht vor einer US-amerikanischen Intervention, auf dessen Humanismus und Abneigung gegen Blutvergießen sowie auf dessen Loyalität gegenüber seiner eigenen sozialen Schicht. Wofür Madero eintrat, war eine demokratische Revolution der Mittelschichten, nicht die Bauernrevolte, die sich nun immer schneller ausbreitete. Radikale Bauernbewegungen, über die Madero keine Kontrolle hatte, wie etwa jene unter Emiliano Zapata in Morelos, waren in ganz Mexiko auf dem Vormarsch. Es erstaunt deshalb nicht, dass Maderos Kompromissbereitschaft zunahm, als sich die Möglichkeit eines vollständigen Sieges der Revolutionäre und eine vollständige Zerstörung des porfiristischen Staats abzuzeichnen begann. Ungeachtet des Sieges, den er mit der Einnahme von Ciudad Juárez verbuchen konnte, zeigte Francisco Madero im Mai 1911 die Bereitschaft, einem Kompromiss zuzustimmen, den sein Cousin Rafael Hernández mit Limantours Einverständnis vorgeschlagen hatte. Dafür, dass sie ihre Waffen niederlegten, sollten die Revolutionäre eine Reihe von Gouverneursämter in bald durchzuführenden Wahlen zugesichert erhalten. Díaz würde im Amt bleiben, in einer Rede aber versprechen zurückzutreten, sobald er das Land für genügend stabil hielt. Zu diesem Zeitpunkt sollten dann Präsidentschaftswahlen stattfinden. Limantour würde Finanzminister bleiben. Während Madero seine Zustimmung zum Verbleib von Díaz im Präsidentenamt - auch wenn es sich nur eine Frage von einigen Wochen handelte - als ein wirkliches Zugeständnis erachtete, verhielt es sich im Fall von Limantour anders. Madero hatte den Finanzminister stets bewundert und Limantour in seinem Kabinett zu haben, betrachtete er als großen Segen. Madero realisierte jedoch rasch, dass seine Anhänger, vom Sieg in Ciudad Juárez ermutigt, nie einen Kompromiss akzeptieren würden, bei dem die zwei mächtigsten Männer Mexikos, Díaz und Limantour, im Amt blieben.

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Die Übereinkunft von Ciudad Juárez, die schließlich zwischen Madero und der Diaz-Administration zustande kam, bedeutete für Limantour einen großen Sieg. Díaz und Limantour wurden zwar zum Rücktritt gezwungen, aber der porfiristische Staat konnte vor dem Untergang bewahrt werden. Tatsächlich wich Madero von einigen zentralen Grundsätzen seines Plan de San Luis Potosí ab. Der Plan sah vor, dass Madero an der Spitze eines aus Revolutionären gebildeten Kabinetts provisorisch die Präsidentschaft übernehmen sollte. Weiter hatte der Plan festgelegt, dass die Revolutionsarmee und jene Angehörigen der Bundesarmee, die sich auf die Seite der Revolutionäre geschlagen hatten, die mexikanischen Streitkräfte bilden sollten. Auch hatte er die Rückgabe von Land, das den Gemeinden illegal weggenommen worden war, zu einem prioritären Anliegen. Alle diese Bestimmungen des Plans wurden in ihr Gegenteil verkehrt. Es war die Revolutionsarmee, die aufgelöst werden sollte - mit Ausnahme einiger weniger Einheiten, die die staatlichen Milizen (die rurales) bilden sollten. Das Versprechen eines landwirtschaftlichen Wandels und einer Landrestitution wurde bis nach den nationalen Wahlen verschoben und der Übergangspräsident, wie auch ein bedeutender Teil der Regierung insgesamt, sollte aus der Diaz-Administration stammen. Während freie Kongress- und Präsidentenwahlen stattfinden sollten, in denen Madero voraussichtlich triumphieren würde, würde sich letzterer einem weitgehend intakten porfiristischen Staat gegenüber sehen, mit einer Armee, einer Polizei und einem Rechtssystem, die aus dem Porfiriat hervorgegangen waren. Es kann somit nicht verwundern, dass die Enttäuschung über den Kompromiss unter den Anhängern Maderos dramatisch zunahm, als diesen die Auswirkungen des Vertrags von Ciudad Juárez bewusst wurden. Erstaunlicher ist, dass viele der Träger des alten Regimes den von Limantour vorgeschlagenen Kompromiss ablehnten. Einige Angehörige der Oberschichten und einige militärische Führer, die nicht unmittelbar in die Kampfhandlungen involviert waren, glaubten immer noch an die Möglichkeit eines Sieges. Ihre völlig unterschiedlichen Sichtweisen in Bezug auf die Möglichkeiten eines militärischen Sieges und die Gefahr einer US-amerikanischen Intervention führten in der Gegenwart von Porfirio Díaz zu einer dramatischen Konfrontation zwischen Limantour und zwei der wichtigsten Kommandanten von Díaz, Verteidigungsminister González Cosío und General Victoriano Huerta. Gemäß der Schilderung eines Augenzeugen versuchten beide Parteien, Díaz, der unter heftigen Zahnschmerzen litt, von ihrer Sichtweise zu überzeugen. Wegen seiner fortgeschrittenen Taubheit hatte dieser Mühe, das Gesagte zu verstehen, selbst als die Schmerzen etwas nachließen. Als Huerta Díaz' Residenz betrat, fragte ihn ein sichtlich erregter Limantour, was er von dem „entscheidenden Ereignis" - womit er den Fall von Ciuadad Juárez meinte - halte. Huerta antwortete Limantour nicht direkt, sondern begab sich zu Díaz und brüllte ihm ins Ohr, dass seiner Meinung nach die Einnahme von Ciudad Juárez unerheb-

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lieh sei. Schon zuvor hätten die Revolutionäre eine andere Grenzstadt, Agua Prieta, eingenommen und seien wieder vertrieben worden; dasselbe könne ohne weiteres in Ciudad Juárez geschehen. Er sagte Díaz, dass etliche Militärkolonnen nach Chihuahua entsandt werden müssten, um die Revolutionäre aus Ciudad Juárez zu vertreiben und sie zu „verfolgen und auszurotten". Als Limantour einwandte, dass die Regierung ganz einfach nicht über die Soldaten und die Mittel verfuge, um einen so großen Feldzug durchzufuhren, fragte ihn Huerta, wie hoch die Geldreserven der Regierung seien. Als Limantour antwortete: „Die Staatskasse verfugt über einen Überschuss von zweiundsiebzig Millionen Pesos", erwiderte Huerta, dass dies „viel Geld für so eine kleine Sache" sei. Als der zunehmend erregte Limantour darauf hinwies, dass die Revolutionsarmeen des Südens die Hauptstadt überrennen würden, wenn alle Regierungstruppen in den Norden geschickt würden, hatte Huerta, unterstützt vom Verteidigungsminister, nur Verachtung für solche Befürchtungen übrig. Er sagte Díaz, er könne die Revolutionäre des Südens mit fünfzehnhundert Mann aufhalten und mit zweitausend Reitern werde er die Rebellen in Chihuahua auslöschen. Zunächst ließ sich Díaz von diesen Argumenten überzeugen und erteilte Huerta den Befehl, einen Vernichtungsfeldzug gegen die Revolutionäre des Süden einzuleiten.19 Huertas Einschätzung war völlig unrealistisch. Über fünftausend Bundessoldaten hatten nicht ausgereicht, um die Revolution in Chihuahua niederzuschlagen, als diese noch verhältnismäßig schwach und isoliert war. Nun hatten die Revolutionäre aus Chihuahua dank der Anerkennung durch Washington als Krieg führende Einheiten begonnen, sich immer mehr Waffen aus den Vereinigten Staaten zu beschaffen, und in ganz Mexiko waren Revolten ausgebrochen. Zudem schrieb ein eingeschüchterter Gouverneur nach dem anderen an Díaz, dass es unmöglich sei, weitere Männer für die Bundesarmee zu rekrutieren und dass jeder diesbezügliche Versuch zum Aufstand führen werde.20 Es ist somit kaum erstaunlich, dass das gesamte Kabinett, wie auch Díaz selbst, zum Schluss kam, dass der Präsident zurücktreten müsse. In einem Brief vom April 1913 an Francisco León de la Barra, der in der Regierung von Díaz Außenminister gewesen war, erinnerte sich Limantour an die Gründe, die das Kabinett und Díaz zum Umdenken bewogen hatten. ,,¿No es cierto que el gabinete formado a fines de Marzo de 1911 a raíz de mi regreso de Europa, fué de opinión a poco tiempo de haberse constituido que era necesario y urgente entrar en arreglos con Madero para conseguir cuanto antes la paz? [...] ¿No es cierto que estuvimos convencidos todos los ministros de la ineficacia de las disposiciones militares para sofocar la insurrección y de la imposibilidad de poner remedio a esta deficiencia? [...] ¿No es cierto también que 19 20

F. Katz: The Life and Times of Pancho Villa, S. 116. Ebd., S. 83-85.

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el manifiesto del señor presidente a la nación fue discutido concienzudamente en consejo de ministros, que tuvo lugar en la casa de Cadena y que uno de los párrafos cuya redacción se cuidó con mayor esmero fue el relativo a la renuncia del seflor presidente? [...] ¿No fue evidente que la Nación lejos de responder al llamamiento del señor general Díaz siguió al contrario mostrándose cada día más hostil al gobierno? [...] ¿No es cierto que a los pocos días de publicado el mencionado Manifiesto adquirimos la convicción de que era absolutamente necesaria la renuncia a fin de evitar mayor derramamiento de sangre y sobre todo la intervención de Estados Unidos?" 21

Kurz nach dem Rücktritt von Díaz, reiste Limantour nach Paris. Er sollte nie mehr nach Mexiko zurückkehren, sein Interesse am Land verlor er indessen nicht. Der größte Teil seiner geschäftlichen Interessen und seines Besitzes befand sich in Mexiko. Limantour korrespondierte mit früheren Kollegen, Geschäftspartnern und sogar mit Maderos beiden konservativen Verwandten, Ernesto Madero und Rafael Hernández, die wichtige Ministerposten im Kabinett von Madero innehatten. Vor allem aber suchten in Mexiko tätige Banken und Unternehmen weiterhin seinen Rat. Ganz besonders traf dies auf den britischen Finanzmagnaten Lord Cowdray zu. Im Unterschied zu anderen científicos legte Limantour großen Wert auf seinen Ruf, war stets bemüht, Kritik an seiner Politik oder Angriffe auf seine Person sowohl in der Presse als auch in Gerichtsverfahren abzuwehren. Tatsächlich hatte Limantour durch die Opferung von Porfirio Díaz den porfiristischen Staat gerettet. Von seinen früheren Verbündeten erntete er jedoch kaum Anerkennung dafür. Einige von ihnen setzten stattdessen die Legende in die Welt, Limantour trage die Schuld an Díaz' Sturz und am Sieg von Madero. Miguel Macedo, einer der mächtigsten científicos, schrieb an den früheren Vizepräsidenten Ramón Corral: „Desde que Limantour llegó a Nueva York, comprendimos que algo muy serio pasaba entre él y los Madero [...] respecto de lo que hizo una vez llegado a ésta, no podemos dudar de que no fué sino una serie de desaciertos que precipitó la caída del general Díaz y todos los males que estamos presenciando y que pueden llegar hasta la pérdida completa de la nación. Y como el señor Limantour fue el único director de la política del gobierno desde que llegó hasta la caída, yo no puedo vacilar en creerlo el único responsable; de nadie tomó consejo y a nadie oyó y cómo en todos sus actos aparecían el miedo y la debilidad quitó a Don Porfirio lo único que lo mantenía en el poder y lo entregó hasta el aprobio de la plebe." 22

Limantour Archiv, Limantour an Francisco León de la Barra, 5. März 1911. El Universal, Archivo de la redacción, Miguel Macedo an Ramón Corral, 2. August 1911.

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Mit Limantours Flucht und der Machtübernahme durch Madero fiel die Gruppe der científicos auseinander. Einige, wie etwa Joaquín Casasus, arbeiteten mit Maderos konservativen Verwandten zusammen und betrieben weiterhin ihre gewohnten Geschäfte. Andere lösten eine riesige Pressekampagne gegen Madero aus, allen voran Rosendo Pineda, einer der politisch einflussreichsten científicos, der eine der radikalsten regierungsfeindlichen Zeitungen {El Mañana) kontrollierte. Obwohl Limantour die Fähigkeiten Maderos, die von ihm mobilisierten Kräfte zu kontrollieren, je länger desto skeptischer einschätzte, nahm er nie unmittelbar an anti-maderistischen Aktivitäten teil. Über Maderos Sturz im Februar 1913 war er nicht unglücklich und hoffte, dass der Führer des Aufstandes Félix Díaz in Mexiko ein neues porfiristisches Regime errichten würde. Doch seine Hoffnungen wurden bald enttäuscht. Er war, wie die gesamte ehemalige Führungsschicht, der Überzeugung, dass die größte Schuld für die fortdauernden Unruhen in Mexiko den Präsidenten der USA, Woodrow Wilson, traf. Dieser hatte die Anerkennung der Regierung des Putschisten-Generals Victoriano Huerta abgelehnt und war später stillschweigend eine Allianz mit den Revolutionären eingegangen. „Wilson hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen", schrieb Limantour an seinen alten Freund Emilio Rabasa. „Dieser Teufel", stellte er unmissverständlich fest, „war der Teufel der Revolution". 23 Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass in Limantours Augen Pancho Villa der schlimmste dieser Teufel war, dies nicht nur wegen seiner Vergangenheit als Bandit, sondern vor allem deshalb, weil er die Enteignung der Landgüter und des Besitzes der ehemaligen herrschenden Schicht Mexikos systematisch vorantrieb. Limantour selbst war unmittelbar davon betroffen, als Villas Armee in Mexiko-Stadt eindrang, Limantours Häuser besetzte und seinen bedeutenden Grundbesitz konfiszierte. Limantours Abneigung gegen die Revolutionäre und seine Verzweiflung kamen in einem Memorandum deutlich zum Ausdruck, das er auf Anregung von Lord Cowdray an den engsten Mitarbeiter Woodrow Wilsons, Oberst Edward House sandte, als dieser London besuchte. Limantour versuchte, eine Erklärung für die Revolution zu finden, indem er auf die in mehreren Teilstaaten vorhandene Unzufriedenheit über die lokalen und regionalen Autoritäten hinwies: „La revolución nació principalmente del malestar provocado en algunos Estados de la Federación por la permanencia prolongada de ciertas autoridades que fueron útiles en un tiempo, pero que después se volvieron ,undesirable'; pero la cuestión agraria, de que tanto se ha hablado, sólo fué suscitada a última hora, para servir de pretexto a la rebelión, y sin que respondiese a ningún movimiento de la opinión pública que la hubiese precedido de tiempo atrás. Es de notarse que en ningún plan

Limantour Archiv, Limantour an Rabasa, 3. Mai 1915.

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Friedrich Katz revolucionario figura una queja concreta contra el sistema de impuestos del Gobierno Federal." 24

D a aus dieser Sicht agrarische Missstände keine Rolle b e i m Ausbruch der Revolution spielten, sprach Limantour all jenen Revolutionsfuhrem, die diese Missstände anprangerten, die Legitimität ab: „Los hombres que dominan hoy la situación en México, en las diversas regiones de la República, son en su gran mayoría verdaderos bandidos que no atienden más que a sus intereses personales, y a quienes nada importan las libertades ni el bienestar del pueblo, ni menos los principios de la democracia. El buen éxito que han tenido en sus operaciones militares se debe exclusivamente a la libertad que han dado a sus tropas para saquear y robar, y al apoyo resuelto que han recibido de los Estados Unidos." 2 Sodann warf er die Frage auf, warum j e n e Segmente der Gesellschaft, die er als „gesund" erachtete, nicht im Stande waren, für die Wiederherstellung des Friedens zu kämpfen. „Los elementos sanos del país, (los que tienen juicio, ideas de orden y son honrados) no han podido luchar por el restablecimiento de la paz, por falta de organización, por haber sido desposeídos de sus recursos, y especialmente, por la oposición tan fuerte que han encontrado de parte de los círculos oficiales americanos, de muchos hombres de negocios y numerosos periódicos de aquel país, que han considerado a los mencionados elementos mexicanos como gente cruel y depravada, que ha obtenido su fortuna de mala manera, que oprimió y maltrató al pueblo." 2 Limantour kam z u m Schluss, dass es einer radikalen Umkehr in der amerikanischen Politik bedürfe, um einen A u s w e g aus „der gegenwärtigen entsetzlichen Lage" zu finden; insbesondere sollten die U S A die Gründung einer „restaurativen progressiven Partei" unterstützen: „Para remediar la espantosa situación actual, (cosa ya muy difícil por la destrucción casi completa del edificio social y la dispersión y aniquilamiento de la gente buena), no hay otro medio que emplear que el diametralmente contrario al seguido hasta la fecha; esto es, procurar constituir un partido restaurador progresista, con todos los hombres de buenos antecedentes, cualquiera que sea el antiguo partido político a que hayan pertenecido, y que Washington le proporcione

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Limantour Archiv, Memorandum, Limantour an Cowdray, 18. Mai 1915. Am 8. Mai 1915 an Cowdray als Beitrag zu einem geplanten Treffen zwischen Cowdray und House geschickt. Ebd. Ebd.

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las mismas facilidades y los mismos alientos que dió a los revolucionarios. El gobierno americano puede hacer mucho cerca del mundo bancario y de la prensa para que le presten su apoyo al nuevo movimiento, y si por otra parte prohibe el envío de armas y pertrechos de guerra destinados a las tropas de los actuales cabecillas, la revolución tiene que acabar por falta de dinero y de municiones que no se pueden obtener hoy en Europa." 27

Limantour, der stets ausgeprägte nationalistische Züge gezeigt hatte, musste sich im Klaren gewesen sein, dass er, sollte eine solche restaurative „progressive" Partei mit amerikanischer Hilfe gegründet werden, weitgehend von den USA abhängig sein würde. Er schloss sein Memorandum daher mit der Feststellung: „Para que los buenos mexicanos trabajen con ánimo en el sentido indicado es indispensable que los Estados Unidos declaren que prestarán su ayuda sin exigir a México ningún sacrificio de soberanía, ni de dignidad, ni de independencia económica."

Es bleibt die Frage, inwiefern Limantour, angesichts seiner Bedenken hinsichtlich der US-Politik vor dem Ausbruch der Revolution und seiner tiefen Verachtung gegenüber Woodrow Wilson, tatsächlich ehrlich davon überzeugt gewesen war, dass eine solche restaurative progressive Partei die mexikanische Souveränität nicht kompromittiert hätte, wenn sie denn tatsächlich auf die Unterstützung durch die USA hätte zählen können. Die Wilson-Regierung willigte nie in diesen Plan ein, änderte aber insofern ihre Politik, als sie Carranza nach dessen Sieg über Villa als Präsidenten anerkannte. Diese Anerkennung stimmte Limantour vorsichtig optimistisch. In einem Brief an Lord Cowdrays Vertreter in Mexiko, John B. Body, schrieb er: „at last we are face to face with an understandable situation. What awaits us may be terrible, even worse than before, at least to those of us who are aloof from the revolution; but notwithstanding this, it is better to know what to expect in governmental matters rather than go on living in chaos and doubt as we have been up to the present. I sincerely believe that foreign interests will be the gainers of recognition by Carranza, although it may onl^ be a respite; and from that point of view, I do not think the notice is a bad one."

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Ebd. Limantour Archiv, Memorandum, Limantour an Cowdray, 18. Mai 1915. Am 8. Mai 1915 an Cowdray als Beitrag zu einem geplanten Treffen zwischen Cowdray und House geschickt. Pearson Papers, Limantour an Body, 11. Oktober 1915.

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Später sandte Limantour einen Brief an Carranza, in dem er um die Rückgabe seiner konfiszierten Besitztümer ersuchte. Seine Bemühungen schienen indessen keine Früchte zu tragen. Im November 1915 schrieb Limantour in einem Brief an Body: „I believe as you, in view of the new seizures that have been made upon the property of persons who, like the Iturbes, Hilario Elguero and others who have never any interference with politics, that surely my town properties must still be in the possession of that canaille which persecutes us and has all the goodwill and support of Mr. Wilson. I am very much afraid that the letter I sent to Carranza through your good offices will not bring any good results."30 Trotzdem blieb Limantour bezüglich der Politik der Carranza-Regierung grundsätzlich optimistisch. Er war überzeugt, dass die Maßnahmen, die der mexikanische Präsident gegen einige Großgrundbesitzer und Angehörige der Oberschicht ergriffen hatte, von vorübergehender Natur waren und dass er seine Besitztümer zurückerhalten könnte, indem er „die Angelegenheit in die Hände dieser Leute legte. Und um dies mit einigen Erfolgschancen zu tun, muss ich den richtigen Mann ,unter den gegebenen Bedingungen' kennen".31 Offensichtlich hatte Limantour den richtigen Mann gefunden und sein Optimismus bezüglich Carranzas Politik erwies sich als völlig berechtigt. Dies war der Kern eines Berichts, den ein Vertreter Cowdrays, A.E. Worswick, zwei Jahre später verfasste: „A tendency to conservatism is observable now that the government is well established and is not so dependent on the radical military element. Undoubtedly Carranza is doing his utmost to free himself from the extremists, and the most hopeful sign is that he is commencing to take into the government offices, some of the old regime. Pesqueira told me that this is their defined policy, and when the hatreds engendered by the Revolution die out, they propose to utilize the services of as many of the best of the old government as possible, thus consolidating their position and placating, what they call, the Reaccionarios... You probably know that they have retuned Don Jose Limantour's properties, also Ignacio de la Torre's, and an amnesty law is promised in July which will bring back hundreds of .emigres' and we hope will make the City take on more of its old «32 time appearance. Es ist somit nicht erstaunlich, dass sich Limantours Einstellung gegenüber der siegreichen Fraktion Carranzas verbesserte. Die Gründe hiefiir lagen nicht nur in der Tatsache, dass die Regierung Carranza das Eigentum von Liman30 31 32

Pearson Papers, Limantour an Body, 8. November 1915. Ebd. Pearson Papers, A.E. Worswick an Body, 29. Juni 1917.

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tour und vielen anderen Angehörigen der alten científico-Elite zurückerstattet hatte, sondern ebenso in weit entfernten Ereignissen: der Revolutionen in Deutschland und Russland. Im eingangs erwähnten Brief an Enrique Creel aus dem Jahr 1919 versuchte Limantour zwischen den Ereignissen innerhalb und außerhalb Mexikos - insbesondere jenen in Russland - Bilanz zu ziehen, und kam zum Schluss, dass Carranza nicht mit Lenin zu vergleichen war. Die Welle von Revolutionen, die Europe überrollte, erfüllte ihn mit großer Sorge: „Se quiere legitimar, como en Rusia y demás naciones que siguen ese camino, la destrucción del antiguo orden de cosas por la elevación del proletariado al Gobierno sin ,control' ni leyes de todos los pueblos. Lo que antes se habría calificado de crimen hoy es acción heroica y libertadora; los despojos, el destierro, las persecuciones y las arbitrariedades se consideran actos meritorios y ¡decir que tomados en conjunto nuestros Bolchevistas no han resultado tan malos como sus sucesores en otros países!" 33

Erstaunlicherweise realisierte Limantour jedoch auch, dass Veränderungen nötig waren, wobei er sich vom Modell der Sozialdemokraten inspirieren ließ, die Reformen forderten, sich aber den Bolschewiki widersetzten. „No nos queda otro camino que amoldarnos a las circunstancias en cuánto no pugne con nuestras ideas tradicionales sobre el honor y la justicia; y como no podemos aceptar la violencia en ninguna de sus formas, debemos esforzarnos en encarrilar las innovaciones por el camino de la evolución, único medio de prevenir las revoluciones. Con el vivísimo deseo que siempre he tenido de mejorar lo más posible la condición de las clases trabajadoras y menesterosas, no me parecen inconciliables muchas de las ideas que cacarean los socialistas. El gran obstáculo por vencer consiste en el modo de realizarlas. El fraccionamiento de la propiedad rural, la limitación del derecho de testar, la nacionalización de ciertos intereses, los impuestos progresivos y otras muchas panaceas de moda, no me asustan en el fondo, y aún creo que pueden tener algo de bueno, siempre que se busque la manera de aplicarlas con prudencia y equidad." 34

Der Sozialdarwinist, der 1901 ausgerufen hatte: „die Schwachen, die Unvorbereiteten, diejenigen, denen die Mittel fehlen, um aus der Evolution siegreich hervorzugehen, müssen zu Grunde gehen und den Kampf den Mächtigeren überlassen", hatte unverkennbar einen enormen Sinneswandel durchgemacht.35

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Limantour Archiv, Limantour an Creel, 22. Juli 1919. Limantour Archiv, Limantour an Creel, 22. Juli 1919. S.H. Haber: Industry and Underdevelopment, S. 23.

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Literatur BULNES, Francisco: The Whole Truth about Mexico. New York: Bulnes Book Company, 1916. CABRERA, Luis: Obras Completas, Bd. 3: Obras Políticas. México, D.F.: Ediciones Oasis, 1975. HABER, Steven H.: Industry and Underdevelopment: the Industrialization of Mexico, 18901940. Stanford: Stanford University Press, 1989. KATZ, Friedrich: The Secret War in Mexico. Chicago: University of Chicago Press, 1981. KATZ, Friedrich: The Life and Times of Pancho Villa. Stanford: Stanford University Press, 1998. LlMANTOUR, José Yves: Apuntes sobre mi vida publica 1892-1911. México, D.F.: Editorial Pomía, 1965. RAAT, William Dirk: Revoltosos, Mexico's Rebels in the United States 1903-1923. College Station: Texas A&M University Press, 1981. Ross, Stanley R.: Francisco R. Madero, Apostle of Mexican Democracy. New York: Colombia University Press, 1955.

Peter Waldmann

DER KONSERVATIVE IMPULS: ELITEN UND MODERNISIERUNG IN LATEINAMERIKA (EINE SKIZZE)

Einleitung Einer der Hauptnachteile der so genannten Modernisierungstheorie in ihrer klassischen Form besteht darin, dass sie sich auf jene Faktoren und Stadien beschränkt, die das Neue in einer Entwicklung markieren, hingegen Widerstände, ja den ganzen dialektischen Widerstreit zwischen alten und neuen Elementen, der Modernisierungsprozessen zugrunde liegt, unberücksichtigt lässt.1 Zu den wenigen Ausnahmen von diesem generellen Trend zählt die schon 1974 erschienene Schrift von Peter Marris, Loss and Change. Darin unterstreicht er die natürliche Neigung Einzelner wie auch sozialer Gruppen, die eingefahrenen Bahnen des Denkens und Handelns nicht zu verlassen, eine Neigung, welche abrupte, zu einer Neuorientierung zwingende Veränderungen des sozialen Umfeldes zunächst als schmerzlichen Verlust des Herkömmlichen erscheinen lässt. Von ihm habe ich den Titel dieses Beitrags Der konservative Impuls übernommen.2 Sozialer Wandel, insbesondere einschneidende Veränderungen, so der Brite Marris, stellen das menschliche Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit der Entwicklung und Sinnkontinuität in Frage und könnten im Extremfall das Selbstverständnis und Identitätsgefuhl einer Gruppe erschüttern. Deshalb begegneten ihm die Betroffenen mit dem verzweifelten Bemühen, das Neue im Lichte vertrauter Erfahrungen und Kategorien zu interpretieren. Nur so könnten sie ihm Sinn abgewinnen. Nicht von ungefähr basiert Marris' Buch unter anderem auf Felderfahrungen, die er in Afrika gesammelt hat.3 Hier ergibt sich ein weiteres Motiv für die Abwehr von Neuerungen. Es ist nicht dasselbe, ob diese das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses innerhalb der eigenen Gesellschaft sind oder dieser von außen her aufgedrängt werden. Für die weniger entwickelten Länder der Weltperipherie trifft regelmäßig das Letztere zu. Ihre Führungsgruppen und ihre Bevölkerung sehen sich in periodischen Schüben an sie herangetragenen Modernisierungs- und Reformerwartungen ausgesetzt, die ihren Ur-

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Zur Modernisierungstheorie allgemein vgl. W. Zapf: Modernisierung und Transformation, S. 492-501; H.-U. Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte. P. Marris: Loss and Change, S. 5. Ebd., S. 43 ff., 59 ff.

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sprung in den so genannten Industrieländern haben. Diese Anforderungen können von Nichtregierungsorganisationen, mächtigen Staaten oder internationalen Organisationen wie Weltbank und Weltwährungsfonds artikuliert werden. Da es nicht ins Belieben der Entwicklungsländer gestellt ist, ihnen nachzukommen, vielmehr Konformität in Form von Subventionen und großzügiger Kreditvergabe belohnt, eine Verweigerungshaltung entsprechend bestraft wird, bleibt den Führungseliten dieser Länder meist nichts anderes übrig, als dem Reformansinnen zumindest dem Schein nach zu entsprechen. Was nicht ausschließt, dass die Durchführung der betreffenden Maßnahmen blockiert oder gängigen Verhaltensschablonen angepasst wird.4 Weil in diesem Aufsatz Eliten behandelt werden, ist drittens noch anzumerken, dass, wie immer man diesen Begriff im Einzelnen fasst, es jedenfalls verfehlt wäre, Eliten eine besondere Aufgeschlossenheit für Neuerungen zu unterstellen.5 Warum sollten sie diese herbeiwünschen, verdanken sie doch ihren herausgehobenen Rang, ihren Reichtum und ihre Macht den Verhältnissen, wie sie nun einmal sind? Je gründlicher am Status quo gerüttelt, die bestehenden Strukturen in Frage gestellt werden, desto ungewisser wird es für sie, ob sie ihre Ressourcen- und Positionsvorteile in die neu entstehende Situation hinüberretten können. Folglich gehen Eliten weitreichenden gesellschaftspolitischen Experimenten aus dem Wege und heißen nur jene Reformen gut, von denen sie sich eine Konsolidierung, zumindest die Erhaltung ihrer Vorzugsposition versprechen. Wenn in diesem Aufsatz vom Konservativismus lateinamerikanischer Eliten die Rede ist, so wird demnach unterstellt, dass dieser sich aus drei komplementären Motiven speist: erstens einem natürlichen individuellen und sozialen Hang, an Überkommenem und Bewährtem festzuhalten; zweitens der Tatsache, dass es sich um hochrangige Individuen und Gruppen handelt, die keinen Grund haben, ihre vorteilhafte Position und deren strukturelle Voraussetzungen ohne Widerstand preiszugeben; drittens dem Umstand, dass Lateinamerika, global betrachtet, nicht zu den Zentren, sondern zur Weltperipherie zählt und folglich von außen stammende Modernisierungsanstöße stets auch mit dem Stigma des Fremden und einer möglichen Überfremdungsgefahr behaftet sind. Dieses dreifache Motiv für eine konservative Haltung wird vorausgesetzt und soll hier nicht weiter verfolgt werden. Worum es im Folgenden gehen wird, ist vielmehr das „Wie" der Umsetzung des konservativen Impulses, das heißt um die Strategien, die von lateinamerikanischen Eliten gewählt, die Mechanismen, die von ihnen entwickelt wurden, um Modernisierungs-

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Immer noch lesenswert zu der gesamten Problematik H.C.F. Mansilla: Die Trugbilder der Entwicklung in der Dritten Welt. Speziell zu Lateinamerika siehe A. Boeckh: La modernidad importada, S. 37-55. Zur neueren Elitendiskussion vgl. S. Hradil / P. Imbusch (Hg.): Oberschichten.

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Schübe aufzufangen, zu filtern, selektiv zu nutzen und gegebenenfalls abzubiegen. Der Zeitraum der Betrachtung ist das „lange 19. Jahrhundert", das in Lateinamerika im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert mit den so genannten bourbonischen Reformen einsetzte und bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts reichte. 6 Es umfasst die Unabhängigkeitskriege und die anschließende Loslösung von Spanien, die darauf folgenden inneren Wirren und das durch despotische caudillos (politisch-militärische Führer) nur notdürftig verdeckte politische Vakuum, das diese hinterließen, weiterhin die ab der Jahrhundertmitte beginnende Herausbildung der Nationalstaaten und deren allmähliche Konsolidierung, die sich teilweise bis ins fortgeschrittene 20. Jahrhundert hinzog. Die hier vertretene These lautet, es habe sich dabei um eine entscheidende Epoche gehandelt, in welcher Grundweichen für die spätere Entwicklung gestellt, Grundmuster des Eliteverhaltens geformt wurden, die später keine grundlegende Modifikation mehr erfuhren. Wir stützen uns bei der Herausarbeitung dieser Muster nicht auf ein bestimmtes Land oder eine Subregion, sondern greifen selektiv jene Länder und Situationen als Beleg für die Ausführungen heraus, die uns dafür besonders geeignet erscheinen. Im ersten Abschnitt wird die mehrere Generationen umspannende Großfamilie als basale Bezugseinheit von Eliteangehörigen vorgestellt, die an Gewicht und Bedeutung andere mögliche Bezugsgrößen wie Nation oder Staat eindeutig in den Schatten stellt. Familienbezogene Strategien kreisen vor allem um die Sicherung und Ausweitung der materiell-wirtschaftlichen Voraussetzungen der Wahrnehmung eines Elite-Status. Im zweiten, Fortschrittsmythos und Fassadenkonstruktion überschriebenen Abschnitt geht es dagegen mehr um die Dialektik von teils bereitwilliger Übernahme, teils offener oder latenter Resistenz gegenüber ideologischen Strömungen, welche, aus Europa kommend, das geistige Leben in Lateinamerika bestimmten. In einem weiteren Abschnitt wird der politische Bereich thematisiert. Es wird aufgezeigt, wie die herrschende Klasse in Lateinamerika die zeitgemäßen demokratischen Tendenzen mit ihren eigenen, mehr autoritären politischen Vorstellungen zu versöhnen suchte. Schließlich wird im letzten Abschnitt die eingeschliffene Praxis lateinamerikanischer Eliten herausgearbeitet, simultan zwei Normensysteme zu benützen: eines, das den Anforderungen moderner Rechtsstaatlichkeit entspricht, und ein zweites informelles, das aus der eigenen Tradition erwachsen ist.

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Vgl. R.Th. Buve / J.R. Fisher (Hg.): Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2.

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Familiennetzwerke Das lange 19. Jahrhundert, es wurde bereits gesagt, war in Lateinamerika durch große Brüche, politische Unruhen, wirtschaftliche Auf- und Abschwünge, wechselnde ideologische Strömungen gekennzeichnet. Auf die gesellschaftlichen und politischen Institutionen war kein Verlass. Das hatte zur Folge, dass der Großfamilie, in der Großeltern, Eltern und Kinder zusammenlebten, vermehrte Bedeutung zukam. Nicht selten war sie das einzige soziale Gebilde, das dem Einzelnen Halt und eine minimale Sicherheit geben konnte, sodass sie (neben der selektiveren Freundschaft) zur wichtigsten sozialen Bezugseinheit für viele Menschen wurde. Dies gilt generell, trifft aber insbesondere auf die Oberschichtfamilien jener Zeit zu. Durch eine zahlreiche Nachkommenschaft und gezielte Heiratsallianzen suchten sie ihren Einfluss zu konsolidieren und den wechselnden politischen Verhältnissen eine gewisse Kontinuität abzutrotzen. Bezeichnenderweise entfalteten Familiendynastien dort eine besondere Macht, wo der ohnedies schwache Staat kaum präsent war oder ganz ausfiel: in den weit vom Regierungszentrum entfernten Zonen des immensen lateinamerikanischen Hinterlandes. Von diesen peripheren Zonen aus dehnten sie ihren Einfluss, sobald sie erstarkt waren, zunehmend auf den Hauptstadtbereich aus. Sie instrumentalisierten die Staatseinrichtungen, benutzten die Parteien für ihre partikularistischen Zwecke, unterwanderten die politischen Organe. Besonders gut sind die Sequenzen und Mechanismen dieser krakenformigen Einflusserweiterung für Mexiko, Brasilien und Argentinien belegt, man kann jedoch annehmen, dass der Prozess in den anderen lateinamerikanischen Ländern ähnlichen Mustern folgte.7 Danach ist, grob gesprochen, von einem sich über drei Generationen erstreckenden Modell der Machtexpansion auszugehen, wobei für jede Generation ein Zeitraum von rund 40 Jahren anzusetzen ist.8 Den Ausgangspunkt für den Siegeszug einflussreicher Familienclans bildeten die bereits erwähnten, von der spanischen Krone in den Kolonien durchgesetzten bourbonischen Reformen, die auf eine Straffung und Rationalisierung der Verwaltung, die Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses und die Erhöhung des von den Kolonien erbrachten Steueraufkommens abzielten. Die Literatur ist schwer überschaubar. Hier wurden vor allem herangezogen: D. Balmori / S.F. Voss / M. Wortman: Notable Family Networks in Latin America; L. Adler Lomnitz / M. Pérez-Lizaur: A Mexican Elite Family; F. Hagopian: Traditional Politics and Regime Change in Brazil; F. Escalante Gonzalbo: Ciudadanos imaginarios; P. McDonough: Power and Ideology in Brazil; M. Schpun: Elites brésiliennes; B. Schröter / C. Büschges (Hg.): Beneméritos, aristócratas y empresarios. Zum Folgenden vgl. insbesondere D. Balmori / S.F. Voss / M. Wortman: Notable Family Networks in Latin America, Einleitung, Kap. 1; die bourbonischen Reformen werden behandelt in J.R. Fisher: Iberische Kolonialpolitik seit 1760.

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Durch diese Reformen wurde die seit dem 16. Jahrhundert im Wesentlichen stabil gebliebene koloniale Gesellschaftsordnung erschüttert. Insbesondere die traditionelle kreolische Oberschicht geriet finanziell in Bedrängnis und hatte Mühe, ihren herausgehobenen Status zu halten. Dies wiederum wurde von einer Gruppe junger, initiativfreudiger Zuwanderer aus dem spanischen Mutterland ausgenutzt, die sich zunächst als Angestellte in ortsansässigen Unternehmen emporarbeiteten und anschließend selbst als Händler und Kaufleute niederließen. Zu Wohlstand gelangt, heirateten sie in die alte, meist über große Ländereien verfugende Kolonialaristokratie ein und legten so den Grundstein fiir eine rund ein Jahrhundert anhaltende familiale Machtexpansion. Diese so genannten Notablenfamilien waren es nicht zuletzt, die auf eine politische Ablösung vom Mutterland drängten, weil sie der Gängelung des Handels leid waren und vom Freihandel zu profitieren hofften. Der Wegfall des schützenden Daches der spanischen Krone und die mit der Unabhängigkeitsbewegung verbundenen Wirren und Gewaltausschreitungen gingen zwar an der Oberschicht nicht spurlos vorüber; die eine oder andere Familie verschwand oder wurde in den Hintergrund gedrängt. Insgesamt überstanden die etablierten Familienclans diese unruhige Zeit jedoch relativ gut. Ihre Machtposition wurde eher noch zusätzlich gestärkt, war doch mangels anderer schützender Institutionen die Großfamilie als Klientelverband das Einzige, worauf der Einzelne sich verlassen konnte.9 Die zweite Generation gilt als jene, in welcher der entscheidende Durchbruch zu einer überregionalen, gesamtgesellschaftlich relevanten Machtstellung der Notablenfamilien erfolgte. Dazu trug nicht zuletzt die bei ihnen übliche zahlreiche Nachkommenschaft bei, die gezielt eingesetzt wurde, um mittels Heiratsallianzen den eigenen Einflussbereich auszuweiten. Innerhalb der patriarchalisch organisierten Großfamilie gab es eine klare Arbeitsteilung. Die Männer, insbesondere das Familienoberhaupt, waren für die externen, vor allem die wirtschaftlichen Belange verantwortlich, die Frauen, seien es die Mütter oder die Großmütter, bildeten das sozioemotionale Zentrum der Familie. Nachdem ein Familienclan der Oberschicht Bedeutung erlangt hatte und gewissermaßen in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt war, bekleideten die Männer auch politische Posten, etwa im cabildo (Gemeinderat), betätigten sich als Verbandsvertreter oder Kunstförderer. Ihre Hauptaufmerksamkeit galt jedoch in aller Regel geschäftlichen Angelegenheiten, sie kümmerten sich in erster Linie um die Erweiterung und Konsoli-

D. Balmori / S.F. Voss / M. Wortman: Notable Family Networks in Latin America, S. 24; vgl. auch F. Escalante Gonzalbo: Ciudadanos imaginarios, S. 13: „Desde luego conocí que ni habia gobierno, ni Ministerio, ni plan político, ni esperanza alguna para este pobre país; ... que, lo confieso, me propuse salir del país y sacara mi familia; no pense ya sino en ella."

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dierung des Familienunternehmens.10 Beziehungen zum Staatsapparat und anderen Gruppen wurden primär unterhalten, um auf Gelegenheiten für lukrative Geschäfte aufmerksam zu werden. Der ursprüngliche Schwerpunkt der Notablenfamilien lag überwiegend im Handel, doch waren sie auf Diversifizierung bedacht, investierten im verarbeitenden Gewerbe, im Bergbau und Bankensektor. Besondere Bedeutung kam dem Ankauf von Grundbesitz und Ländereien zu. Einerseits da erst jener, der eine hacienda oder estancia sein eigen nennen konnte, als vollwertiges Mitglied der Oberschicht anerkannt wurde; zum anderen jedoch auch, weil städtische Immobilien in den ab der Jahrhundertmitte kontinuierlich wachsenden Großstädten zu den gewinnbringendsten Anlagen zählten. Derweilen hielten die Frauen durch intensive Kommunikation untereinander und häufig stattfindende größere Treffen den wachsenden Familienclan zusammen, bereiteten die Kinder auf ihre geschlechtsspezifischen Aufgaben vor, richteten die Familienfeiern aus und schufen durch die Weitergabe von Geschichten und Mythen eine familieneigene Tradition.11 In die zweite Generation fiel im Regelfall auch der Umzug aus der zu eng gewordenen Provinz in die Hauptstadt oder dort aus einem beliebigen in das so genannte Oberschichtviertel. Mit der Errichtung luxuriöser Villen wurde dem Bedürfiiis des zu Einfluss und Ansehen gelangten Familienclans nach angemessener Außendarstellung Rechnung getragen. Wenngleich nicht alle Teilzweige des Clans in dem repräsentativen Bau unterkommen konnten, wohnten sie doch so nahe zusammen, dass alle Familienmitglieder sich regelmäßig sahen. Mit der dritten Generation erreichte der Aufstieg der Familie seinen Höhepunkt und zugleich einen gewissen Abschluss. Das lag daran, dass die Suche nach strategisch wertvollen wirtschaftlichen Bündnispartnern an Bedeutung verlor, während zugleich die Bereitschaft zu einem politischen Engagement zunahm. Man war arriviert, hatte es nicht mehr nötig, um eine weitere Steigerung seines Einflusses zu kämpfen, sondern war primär bemüht, die erreichte Position zu halten und zur Geltung zu bringen.12 Die Zahl der Kinder ging zurück, der eine oder andere Familienzweig erwies sich als abstiegsgefahrdet, wurde aber gleichwohl vom Rest akzeptiert, solange er nicht selbst aus dem Verband ausscherte.13 Der Zusammenhalt blieb also, wenngleich in leicht abgeschwächter Form, gewahrt, nach wie vor konnten die Familienmitglieder 10

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L. Adler Lomnitz / M. Pérez-Lizaur: A Mexican Elite Family, S. 41 f., 104 ff. Ebd., S. 34 f., 157 ff.; Allgemeines zur Bedeutung der Frauen für die Elitenkontinuität in Lateinamerika, insbesondere in Brasilien: Jean-Pierre Faguer: Continuité et discontinuité des conditions de réproduction des élites politiques. In: M.F. Schpun (Hg.): Elites brésiliennes, S. 121-131. D. Balmori / S.F. Voss / M. Wortman: Notable Family Networks in Latin America, S. 18 f., 43 ff. L. Adler Lomnitz / M. Pérez-Lizaur: A Mexican Elite Family, S. 83 f.

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aufeinander zählen. Der allmähliche Rückgang der Bedeutung der Oberschichtfamilie hing auch damit zusammen, dass wir uns mittlerweile in der Phase des Auf- und Ausbaus des Nationalstaats befinden, in der nach unpersönlichen Kriterien der Zieldefinition und Interessenwahrnehmung strukturierte Organisationen zunehmend an Einfluss gewannen. Teils versuchten die einflussreichen Familiennetzwerke mit dieser Entwicklung Schritt zu halten, indem sie auf die zunehmende Komplexität der Staatsverwaltung und Verbändestruktur mit einer entsprechenden Ausdifferenzierung ihrer Einflusskanäle reagierten.14 Teils traten sie von der öffentlichen Vorderbühne ab und wirkten fortan als eine Art Parallelstruktur zu den offiziellen Institutionen diskret im Hintergrund, eine Situation, die teilweise bis zur Gegenwart andauert. Die außerordentliche Bedeutung, die den Netzwerken einflussreicher Familien in der Geschichte der meisten dieser Länder zukam, erklärt sich aus dem Doppelprinzip von Solidarität und Kontrolle. Die Familie und insbesondere das Familienunternehmen waren Institutionen des Risikoausgleichs, der Grundversorgung und Zukunftssicherung in einem. Es galt die Devise, dass Solidarität vor Effizienz gehe. Einflussreiche Familienoberhäupter rechneten es sich zur Ehre an - und es erhöhte in der Tat ihr innerfamiliäres Prestige - , einem stellungslosen Verwandten einen Posten im eigenen Unternehmen anzubieten. Das war nicht unbedingt ein Opfer - im Zweifel hatte man mehr Vertrauen zu einem Familienmitglied als zu einem außenstehenden Dritten.15 Da alle Angehörigen einer Großfamilie in wirtschaftlicher Hinsicht gewissermaßen in einem Boot saßen, war die Gefahr eines Missbrauchs der eingeräumten Befugnisse begrenzt. Das wiederum war nicht zuletzt darauf zurückzufuhren, dass die familieninterne Öffentlichkeit eine gewisse Kontrolle über die einzelnen Mitglieder ausübte. Die Kontrolle begann bei der Sozialisation der Kinder in die ihnen zugedachte Rolle, sie erstreckte sich weiter auf die Frage, welcher Heiratspartner jeweils in Frage kam, welcher nicht, und umfasste schließlich das gesamte private und öffentliche Verhalten des Einzelnen in seiner späteren Karriere. Der familieninternen Kommunikation, die primär von den Frauen getragen wurde, entging nichts, was von Relevanz für den Gesamtclan war:16 etwa ob ein reiches Familienmitglied es an der gebührenden Großzügigkeit fehlen ließ, die wirtschaftliche Konkurrenz zweier Brüder die Gemeinschaft sprengende Ausmaße annahm oder unterschiedliche Parteiloyalitäten sich spaltend auswirkten. Sinn der mehr oder weniger subtil ausgeübten Kontrolle war, dergleichen Spannungen zu reduzieren.

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D. Balmori / S.F. Voss / M. Wortman: Notable Family Networks in Latin America, S. 25. L. Adler Lomnitz / M. Perez-Lizaur: A Mexican Elite Family, S. 13, 119. Ebd., S. 117f., 128, 157, 181.

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Die Attraktivität der wirtschaftlichen Inwertsetzung der Familie wird verständlich, wenn man bedenkt, dass sich hier eine der wenigen Möglichkeiten eröffnete, eine inkrementalistische Strategie der Kapitalakkumulation zu verfolgen. Während Gewaltanwendung oder politisches Engagement - die üblichen Methoden, sich eine Machtposition und den Zugriff auf materielle Ressourcen zu verschaffen - das Risiko in sich bargen, dass der gewonnene Vorteil rasch wieder verloren ging, erlaubte das Setzen auf die Familie als Wirtschaftsfaktor eine Kapitalanhäufung über mehrere Generationen hinweg.17 Dazu war es freilich erforderlich, dass die Familienclans ein hohes Maß an innerer und äußerer Flexibilität entwickelten, um sich den wechselnden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen in dem jeweiligen Land anzupassen. In manchen Ländern haben es die Oberschichtfamilien zu einer wahren Meisterschaft in dieser Kunst der Anpassung gebracht. So vermochten es beispielsweise die brasilianischen Notablenfamilien, die zu den geschicktesten und zählebigsten des Subkontinents zählten, wiederholte Regimewechsel von der Republik zur Diktatur und vice versa zurück zur Demokratie zu überstehen, ohne eine wesentliche Machteinbuße hinnehmen zu müssen.18 Sie erhielten ihre Funktionstüchtigkeit, indem sie sich nach außen hin nachdrängenden Aufsteigergruppen öffneten und sie in ihre Netzwerke integrierten, während sie nach innen das Eliteprofil modernen professionellen Standards anpassten. Heute genügt es nicht mehr, der älteste Sohn des Firmeninhabers zu sein, um mit der Führung des Familienunternehmens betraut zu werden. Viele dieser Unternehmen sind vielmehr inzwischen in Aktiengesellschaften verwandelt worden, bei denen der Familienclan über eine Sperrminorität verfügt. Die Kinder werden auf ausländische Spitzenuniversitäten geschickt und nur jenen wird eine Führungsposition zugestanden, die über eine entsprechende Qualifikation und professionelle Erfahrung verfugen. Selbst dass Frauen in einer früher als Inbegriff des Patriarchalismus geltenden Organisation, wie einem Familienunternehmen, die Konzernleitung übernehmen, ist inzwischen keine Seltenheit mehr.19 Was sich aus der Sicht der Oberschichtclans über weite Strecken als eine Erfolgsgeschichte liest, weist von der Warte des Staates aus betrachtet indes weniger erfreuliche Züge auf. Relativ spät als eigenständiger Machtfaktor anerkannt, sahen sich die lateinamerikanischen Staaten von Anfang an mit traditionsreichen, angesehenen Großfamilienverbänden konfrontiert, die ihren Einfluss und ihre Durchsetzungsmöglichkeiten einschränkten. Die Familien17

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Hierzu und zum Folgenden D. Balmori / S.F. Voss / M. Wortman: Notable Family Networks in Latin America, S. 26 ff. F. Hagopian: Traditional Politics and Regime Change in Brazil, S. 27 f., 46 f., 58, 70 usw.; P. McDonough: Power and Ideology. Vgl. die Beiträge von Adriana Piscitelli und Ana Maria Kirschner in M.F. Schpun (Hg.): Elites brésiliennes.

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verbände entzogen ihnen nicht nur Loyalitätsressourcen, sondern weichten ihren Machtanspruch „von innen" her durch Unterwanderung der Staatsbürokratie auf, sodass sie nur in beschränktem Maße die Rolle eines Modernisierungs- und Entwicklungsmotors, wie dies in anderen Großregionen der Fall war, übernehmen konnten.

Fassadenkonstruktionen und Fortschrittsmythos Nachdem Lateinamerika die Fesseln des Kolonialregimes abgestreift und sich auch innerlich von der spanischen Monarchie distanziert hatte, hielten die lateinamerikanischen Eliten nach neuen Orientierungsparametern Ausschau. Teils führte dies zu einer Aufwertung der eigenen kreolischen Vergangenheit, vor allem richtete sich ihr Blick jedoch nach Europa, und hier wiederum nach Paris, das vielen Lateinamerikanern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Modell einer modernen Großstadt, eines Laboratoriums fortschrittlicher Ideen und Lebensstile galt, wie es ihnen als Ideal für die Zukunft der eigenen Gesellschaft vorschwebte. Folglich war die Diskussion über eine lange Zeit hinweg durch das Oszillieren zwischen zwei Polen geprägt: einerseits dem Ehrgeiz, Europa, seinen philosophisch-politischen Strömungen und materiellen Errungenschaften nachzueifern, andererseits einer periodisch einsetzenden Europaskepsis, der Mahnung, die eigenen kulturell-sozialen Wurzeln nicht zu vernachlässigen.20 Diese Diskussion gab es in nahezu allen lateinamerikanischen Ländern; besonders heftig wurde sie jedoch in jenen Ländern geführt, die auch die erforderlichen materiellen Voraussetzungen aufwiesen, um unmittelbar das europäische Modell übernehmen zu können, in Argentinien und in Venezuela. Venezuelas Wirtschaft hatte seit dem späten 18. Jahrhundert dank der Ausfuhr international begehrter Primärgüter wiederholt einen periodisch begrenzten Aufschwung genommen:21 zunächst durch den Anbau und die Produktion von Kakao, später durch Kaffee und im 20. Jahrhundert schließlich durch die Förderung von Erdöl. Aufgrund dieser Prosperitätsphasen hatten sich insbesondere im Raum von Caracas Wohlstandsenklaven und ein begütertes städtisches Bürgertum herausgebildet, das sich deutlich vom Rest der venezolanischen Gesellschaft abhob. Seinen Mittelpunkt bildeten wohlhabende Kaufmannsfamilien jüngerer europäischer Abstammung, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zusammen mit fortschrittsfreudigen Staatsfiihrern, das Land an die Moderne heranzufuhren versuchten. Bereits 20 21

F. Nelle: Atlantische Passagen, S. 9 ff. Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf die vorzügliche Studie von Claudia Gerdes: Eliten und Fortschritt. Zur politischen Entwicklung Venezuelas während des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. auch H.-J. König: Ecuador, Kolumbien, Venezuela; M. Izard: Venezuela.

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frühzeitig wurden Eisenbahnlinien gebaut und die Elektrizität eingeführt, zugleich setzte man großen Ehrgeiz daran, Caracas zu einer zeitgenössischen Metropole umzugestalten.22 Man baute Prunkstraßen, errichtete repräsentative Bauten im klassizistischen Stil, schmückte die Stadt mit Denkmälern. Die städtische Oberschicht gründete Clubs, organisierte Wohltätigkeitsveranstaltungen und gab rauschende Feste. Sie errichtete Luxusvillen in eigenen Stadtvierteln, wo man einen verfeinerten, am britischen oder französischen Vorbild orientierten Lebensstil pflegte. Der nämliche Nachahmungseifer setzte erneut in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, zu Beginn des Erdölbooms, ein. Mehr in Anlehnung an nordamerikanische als an europäische Vorbilder wurden Sport- und Countryclubs gegründet, auf Caracas' Straßen konnte man die jüngsten Luxusmodelle der nordamerikanischen Autoindustrie zirkulieren sehen. Unter den Jugendlichen der begüterten Schichten bildete sich die Leitfigur des Dandy heraus, eines jungen Müßiggängers, der, nach der letzten New Yorker oder Pariser Mode gekleidet, durch besondere Verschwendungssucht auffiel. Bei vielen reichen Familien wurde es zur Gewohnheit, einige Wochen im Jahr oder ganze Monate im Ausland zu verbringen, vorzugsweise an der Cöte d'Azur in Frankreich.23 Doch das war nur das eine Venezuela. Das Hinterland war von der Modemisierungshektik weitgehend unberührt geblieben, die Provinzeliten ebenfalls. Die Zonen, in denen Erdöl gefördert wurde, stellten von ausländischen Gesellschaften betriebene Inseln des technischen Fortschritts dar, da es dem Land an Ingenieuren und Technikern fehlte, um die Produktion selbst in die Hand zu nehmen. Tatsächlich wurde, vom Machtgesichtspunkt her betrachtet, die Hauptstadt vom Hinterland beherrscht. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte ein caudillo aus dem Flachland in Caracas ein despotisches Regime errichtet. Diese Tradition wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem aus dem Andenraum stammenden General Juan Vicente Gömez wiederaufgegriffen, der, gestützt auf seine rustikale Gefolgschaft, eine fast dreißig Jahre währende Diktatur errichtete. Das bedeutete, dass im Hauptstadtraum zwei Lebensauffassungen und Kulturen aufeinander prallten: einerseits die feine städtische Gesellschaft, die sich in Tennisclubs und bei Pferderennen traf; andererseits der seine provinzielle Herkunft nicht verleugnende Präsident mit seiner Entourage, die Stierkämpfe oder den traditionellen Hahnenkampf als Schauspiel vorzogen.24 Speiste man dort nach französischen Rezepten, in mehreren Gängen mit erlesenen Weinen, so stillte der Präsident seinen Hunger eher mit einem Fleischbraten, wie es auf dem Lande üblich war.

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C. Gerdes: Eliten und Fortschritt, S. 34 ff. Ebd., S. 60 ff. Ebd., S. 51 ff.

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Tatsächlich trügt dieser Anschein, standen die beiden Welten nicht unverbunden nebeneinander. Wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas ergaben sich vielfaltige Verbindungen und Amalgamierungen alter und neuer Elemente.25 Nicht selten wurden moderne Strömungen von älteren Werthaltungen und Strukturen aufgesaugt, sodass es zu keinem wirklichen Erneuerungsschub kam. Beispielsweise lässt sich in dem auf sein Nichtstun stolzen Dandy wie auch in den ausgedehnten Auslandsreisen reicher Familien unschwer das seit jeher für den Kreolen charakteristische Muster der Rentiersmentalität wiedererkennen.26 Aufwändige Großzügigkeit und ostentativer Konsum waren nicht minder dem klassisch ständischen Ideal angemessener Selbstdarstellung geschuldet wie dem Wunsch, mit europäischen Vorbildern mitzuhalten oder sie noch zu übertreffen. Ein echter Bruch mit der Tradition, etwa das Umschwenken von einer Ethik der Verschwendung zu bürgerlichen Tugenden wie Ausdauer, Fleiß und Genügsamkeit, oder die Umorientierung von einer primär humanistischen zu einer mehr naturwissenschaftlich-technische Fächer berücksichtigenden Ausbildung, fand nicht statt. Die alte Oberschicht zeigte sich zwar aufgeschlossen für Zuwanderer aus Europa und ihre neuen Ideen, vollzog aber, nachdem sie sie in ihre Reihen integriert hatte, die traditionelle Wende zu Abschließung und sozialer Exklusivität. Der staatliche Verwaltungsapparat, rein formal gestrafft und rationalisiert, blieb strukturell von Patronagepraktiken und Klientelwirtschaft geprägt. Die Neuerungen erschöpften sich häufig in Fassadekonstruktionen, welche die Tiefenschichten der venezolanischen Gesellschaft nicht tangierten.27 Was den Bereich der Philosophie betrifft, so dominierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und teils bis weit ins 20. hinein in Lateinamerika der Positivismus. Nirgends, wahrscheinlich nicht einmal in Frankreich selbst, hat die Lehre von Saint Simon und Auguste Comte eine so begeisterte Aufnahme gefunden wie südlich des Rio Grande. Ihre Anhänger und Schüler, die Lehrstühle und einflussreiche Positionen unter anderem in Argentinien, Brasilien, Mexiko, Peru und Venezuela besetzten, gingen unter Anwendung der Dreistadienlehre davon aus, die Kolonialzeit sei mit dem theologischen Stadium gleichzusetzen, die Unabhängigkeitsbewegung markiere den Eintritt in das metaphysische Stadium, mittlerweile sei die Zeit jedoch reif für den Übergang zum „positiven" Zeitalter, in dem sich die Politik ausschließlich nach empirisch erhärteten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu richten habe. In

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Für das bolivianische Tiefland, insbesondere Santa Cruz de la Sierra, vgl. hierzu A. Waldmann: Ständische Ehre im Kontext der Moderne, S. 185, 201 ff. In Bezug auf Inseln wie Sizilien und Malta wurde dasselbe Phänomen von Horst Reimann schon in den achtziger Jahren konstatiert. H. Reimann: Die Vitalität „autochthoner" Kulturmuster, S. 358-378. Vgl. A. Boeckh: Grundrente und Staat, S. 47-98. C. Gerdes: Eliten und Fortschritt, S. 27, 34, 120 ff.

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der Tat bestand eine auffallige Parallele zwischen der Abneigung Comtes gegenüber revolutionären Experimenten, seinem auf Ordnung und Fortschritt setzenden Zukunftsoptimismus und der Ernüchterung der lateinamerikanischen Eliten über die auf die Unabhängigkeitskriege folgenden Wirren sowie ihrer Überzeugung, allein eine starke, zielbewusste Regierung könne diese Länder aus Armut und Rückständigkeit in eine bessere Zukunft fuhren.28 Im Einzelnen waren es drei Elemente der Comte'sehen Lehre, die auf besondere Resonanz in den lateinamerikanischen Führungsgruppen stießen: Zum ersten die Betonung empirischer Beobachtung und Analyse. Die Eliten machten es zu ihrem Anliegen, nicht mehr, wie unmittelbar nach der Unabhängigkeit, Wunschträumen nachzuhängen und Utopien nachzujagen, sondern die reale Situation in ihren Ländern zu erfassen, um daraus Lektionen für die zu treffenden Maßnahmen abzuleiten. In jener Zeit entstanden erstmals soziologische Studien, die sich ernsthaft mit der Mentalität, den Sitten und Gebräuchen der Bevölkerung im Landesinneren dieser Staaten auseinandersetzten. Zweitens war es das Endstadium der sozialen Evolution im Comte'schen Sinn, das seine Lehre für die lateinamerikanischen Oberschichtgruppen attraktiv machte. Nur zu bereitwillig übernahmen sie die (unter anderem auf Antoine Condorcet und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückgehende) Grundidee, das Europa jener Zeit sei Ziel und Modell sämtlicher Entwicklungsprozesse. Diese Idee hatte für sie zunächst etwas Tröstliches. Wenn die von Comte postulierten Gesetze wie das Dreistadiengesetz universell gültig waren, dann konnte sich auch Lateinamerika auf keinem anderen als dem europäischen Entwicklungspfad befinden. Unter dieser Perspektive entstanden in jener Zeit zahlreiche Arbeiten, die den Kontrast zwischen dem noch in einem rückständig-barbarischen Zustand befindlichen Hinterland und den bereits im Zivilisationsprozess weiter fortgeschrittenen Großstädten themati29

sierten. Doch daneben barg Comtes Idee eines linearen Fortschritts auch eine besondere Art von Legitimation. Die Unausweichlichkeit der von ihm postulierten Entwicklung eröffnete die Möglichkeit, einzelne Etappen zu verkürzen oder gar zu überspringen. Was lag näher, als auf die Hilfe Europas zu setzen, um den Modernisierungsprozess zu beschleunigen? Etwa auf Kapitalimporte aus dem alten Kontinent oder auf Zuwanderer aus Mittel- und Nordeuropa, welche die als minderwertig erachtete iberische Rasse „aufbessern" sollten? Das war eine mögliche Beschleunigungsstrategie. Die andere bestand in der Befürwortung einer Entwicklungsdiktatur, da die Masse der Bevölkerung 28

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Zur Rezeption des Positivismus in Lateinamerika siehe N. Werz: Das neuere politische und sozialwissenschaftliche Denken, S. 63 ff., sowie J. Lechner: Kultur und Literatur. Vgl. D.F. Sarmiento: Facundo.

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noch nicht reif genug sei, um die Notwendigkeit ihrer Anhebung auf eine höhere Bildungs- und Zivilisationsstufe zu erkennen. In dem Für und Wider der Debatte über Erziehungsdiktaturen lebte eine bereits mehrere Jahrzehnte zurückliegende Diskussion wieder auf, welche um die Rolle Simon Bolivars, des „Befreiers" Lateinamerikas vom kolonialen Joch, gefuhrt worden war.30 Bolivar, ursprünglich fasziniert von der Französischen Revolution, war im Laufe seiner militärisch-politischen Karriere immer pessimistischer in Bezug auf die Fähigkeit des Volkes, sich selbst zu regieren, geworden und starb schließlich als Bewunderer Napoleons. Die Diskussion hatte sich darum gedreht, wie sinnvoll es sei, europäische Erfahrungen und Modelle in Lateinamerika zu kopieren. Schon damals hatte es Stimmen gegeben, die unter Verweis auf die Sondertradition und -Situation des Subkontinents es als plump und phantasielos abgelehnt hatten, das europäische Beispiel einfach nachzuahmen. Bolivars politischer Autoritarismus wurde als Ausdruck von Originalität gepriesen, da er, anstatt dem europäischen Republikanismus nachzueifern, die Tiefenstrukturen der lateinamerikanischen Mentalität erkannt und entsprechend politisch gehandelt habe.31 Es mag hier offen bleiben, ob Bolivars Schwenkung zu einem diktatorischen Herrschaftsstil den Bedürfnissen seiner Zeit eher entsprach als die Einführung der Republik. Wie Florian Nelle anmerkt, war seinem autoritären Führungsstil keineswegs der erhoffte Erfolg in Form der Gründung politisch stabiler Staatsgebilde beschieden.32 Sein eigentliches Vermächtnis dürfte darin bestanden haben, dass er ambitiösen politischen Führern in diesen Ländern Argumente für zwei alternative politische Wege und Vorgehensweisen lieferte: entweder, unter Anlehnung an Westeuropa und die USA, sich direkt für Rechtsstaat und Demokratie zu entscheiden, oder als Umweg und angeblich notwendige Zwischenetappe, um dieser Idealverfassung nahe zu kommen, eine Diktatur einzuschieben.

Die Republik „von oben" Die Diskussion, welche Regierungsform für Lateinamerika angemessen sei, verstärkte sich um die Jahrhundertmitte, als sich aus den bis dahin unübersichtlichen und teils chaotischen Verhältnissen die Nationalstaaten als neue politische Hauptakteure herausschälten. Dabei wurde die Möglichkeit einer

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Zum Folgenden F. Nelle: Atlantische Passagen, S. 32 ff. Ebd., S. 82. Zur Lehre vom „notwendigen Gendarmen", die gerade in Venezuela zahlreiche, zum Teil prominente Anhänger hatte, vgl. auch N. Werz: Das neuere politische und sozialwissenschaftliche Denken, S. 83. Generell zum Autoritarismus in Lateinamerika P. Waldmann: Vergleichende Analyse autoritärer Staatsideologien in Lateinamerika, S. 33-44. F. Nelle: Atlantische Passagen, S. 109 f.

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Monarchie (wie sie in Europa im 19. Jahrhundert in Form der konstitutionellen Monarchie verbreitet war) keineswegs von vornherein ausgeschlossen. Beispielsweise kam es in Mexiko zu zwei, allerdings nur kurzfristigen Versuchen, das Königs- bzw. Kaisertum wieder einzuführen. 33 Doch allgemein setzte sich die Überzeugung durch, dass mit der Loslösung von der spanischen Krone der wichtigste Vorteil einer Monarchie, das „Erbcharisma" des jeweiligen Thronfolgers, unwiederbringlich verspielt sei.34 Andererseits war die an Selbstbewusstsein gewinnende Oberschicht insbesondere im südlichen Teil Südamerikas nicht länger gewillt, die Willkürherrschaft eines Despoten zu ertragen. Also kam nur die Republik als Regierungsform in Frage, aber welche Republik? In der Auseinandersetzung um diese Frage schälten sich einige Grundoptionen heraus, in denen sich die meisten Geister, die sich an der Debatte beteiligten, einig waren: 35 Man stimmte zunächst darin überein, dass es zur Regelung der politischen Verhältnisse einer schriftlichen Verfassung bedürfe. Der für Lateinamerika bezeichnende Glaube an die Wunderwirkung von Verfassungen - woraus sich nicht zuletzt die zahllosen Verfassungsänderungen in jenen Ländern erklären - stammt aus jener Zeit. Konkret sollte es vor allem darum gehen, der willkürlichen Machtausübung durch einen Einzelnen Schranken zu setzen, indem beispielsweise die Möglichkeit seiner Wiederwahl ausgeschlossen wurde. Weiterhin bestand Konsens darüber, dass für die großen Flächenstaaten nur eine föderale Ordnung in Frage kam. Das Scheitern vorangegangener Versuche, von der Hauptstadt aus einen zentralistischen Staat zu errichten, trug ebenso zu dieser Einsicht bei wie die unübersehbare Vielfalt und kulturelle Eigenständigkeit der Provinzen. Teilweise durften diese sogar eine eigene Rechtsordnung einfuhren, allerdings keine eigenen Truppen unterhalten. Drittens, auch darin stimmten die meisten Verfassungsväter überein, sollte es sich um eine Republik der Wenigen, einer aufgeklärten Elite von Bürgern handeln, da das Gros der Bevölkerung noch für politisch unreif und allzu leicht durch einen demagogisch geschickten caudillo für verführbar gehalten wurde. Außerdem optierte man für eine starke Exekutive, insbesondere für umfassende Vollmachten des Präsidenten. Der Präsident, eine Art König im republikanischen Gewände, sollte die Nation zusammenhalten, Ordnung und Frieden garantieren und die entscheidenden Entwicklungsakzente setzen.

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Vgl. W.L. Bernecker / R.Th. Buve: Mexiko 1821-1900; E. O'Gorman: La supervivencia política novo-hispana. N. Botana: El orden conservador, S. 43 ff. Zum Folgenden vgl. ebd., Kap. 4; H. Sabato: Elites políticas y formación de las repúblicas.

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Wie aus dieser Aufzählung zu entnehmen ist, hatte die Mahnung Comtes und seiner Anhänger, die soziale Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, ihre Wirkung nicht verfehlt. Zu Recht oder zu Unrecht waren die maßgeblichen Eliten zu dem Schluss gelangt, die Bedingungen für eine auf der konsequenten Anwendung des Gleichheitsprinzips beruhende demokratische Regierungsform lägen noch nicht vor. Deshalb müsse man mit einem Provisorium vorlieb nehmen, eine Unterscheidung zwischen „Bürgern", die politisch rechtsfähig seien und „Bewohnern" des Landes, denen nur die zivilen Rechte zustünden treffen. 36 Dieser vorläufige Kompromiss könne erst dann einer Republik im vollen Sinn des Worts weichen, wenn durch Einwanderung, Erziehung und Bildung die dafür erforderliche Voraussetzungen eines generellen Mentalitätswandels geschaffen worden seien. Vergleicht man die politische Situation nach Verabschiedung der Verfassungen mit den davor verbreiteten Einmanndiktaturen, so bestand der Hauptfortschritt darin, dass sich nun ein begrenzter politischer Pluralismus herausbildete, gestützt auf die beiden Hauptpfeiler eines republikanischen Regierungssystems, Wahlen und die öffentliche Meinung. Die Wahlen, die in diesen jungen Nationalstaaten stattfanden, darf man sich nicht als auf Druck „von unten" zustande gekommene Partizipation breiter Bevölkerungsschichten am politischen Prozess vorstellen; vielmehr wurden sie im Wesentlichen „von oben" gesteuert. Obwohl ein Großteil der Bevölkerung wahlberechtigt war (ausgeschlossen waren Frauen, Sklaven, teils auch Abhängige), nahm nur ein sehr geringer Anteil davon (nach Schätzungen nicht mehr als 2 % der Gesamtbevölkerung) an den Wahlen teil.37 Das lag weniger an der politischen Gleichgültigkeit des Restes als daran, dass das Wahlverfahren äußerst konfliktträchtig war. Bereits die Auswahl der Kandidaten war eine höchst umstrittene, oft gewaltsam ausgetragene Angelegenheit, und Ähnliches galt für den Wahlakt selbst, der in der Öffentlichkeit stattfand. Im Allgemeinen schritt man in Gruppen zur Wahl, oft war es für den Sieg wichtiger, die gegnerische Partei am Zugang zur Wahlurne zu hindern, als für den eigenen Kandidaten um zusätzliche Stimmen zu werben.38 Formell ging es um die Konkurrenz politischer Parteien (meist der liberalen und der konservativen Partei), doch informell um die Rivalität bestimmter politischer

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Botana nennt diese Entscheidung für das „kleine Volk" die Alberdi-Formel. N. Botana: El orden conservador, S. 50. Juan Batista Alberdi gehörte der so genannten Generation von 1837 an, einem Intellektuellenzirkel, dessen Ideen in der argentinischen Verfassung von 1852 ihren Niederschlag fanden. Vgl. J.L. Romero: Las ideas políticas en Argentina, Kap. 5. H. Sabato: Elites políticas y formación de las repúblicas, S. 7. Vgl. zu dem Fragenkomplex auch P. Schmidt: Wahlen und Parteien in Anglo- und Lateinamerika im Vergleich, S. 69-88. H. Sabato: Elites políticas y formación de las repúblicas, S. 9.

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Führer, die sich im Namen einer Partei um Ämter bewarben. Ausschlaggebend für die Erfolgschancen eines Kandidaten war sein „Wahlmanager" und die von diesem organisierte Wahlmaschinerie. Von ihm hing es ab, ob jemand auf die Kandidatenliste kam, dass genügend Anhänger für den Wahlakt aufgeboten wurden, das Wahlergebnis korrekt bestimmt wurde usw. Immerhin: Auch nicht zur traditionellen Oberschicht zählende Individuen konnten auf diesem Wege durch organisatorisches Geschick und die Fähigkeit zur Mobilisierung der Wählerschaft politischen Einfluss erlangen. Ähnlich begrenzt wie Wahlen war die Bedeutung der öffentlichen Meinung für den politischen Prozess. Die von der aufkommenden Presse und aktiven Gruppen der Gesellschaft artikulierten kritischen Kommentare zum laufenden politischen Geschehen mochten verdreht, verfälscht oder unterschlagen werden, ganz ignorieren konnte man sie nicht. Allerdings stand die Neigung zu sektiererischem Denken einem friedlichen und fruchtbaren Meinungsaustausch entgegen. Jede Partei hatte für sich die Wahrheit gepachtet, die Gegenpartei bestand nur aus „Schurken" und „Vaterlandsverrätern", ihr Wahlsieg konnte nur durch Betrug zustande gekommen sein; also war es legitim, sie mit Waffengewalt, durch eine „Revolution" von der Macht zu vertreiben. Das während des größten Teils des 19. Jahrhunderts in diesen Ländern vorherrschende Milizsystem forderte zusätzlich den Gewalteinsatz bei Wahlstreitigkeiten.39 Als Beispiel für ein gut eingespieltes republikanisches System, das auf der politischen Willensbildung „von oben" beruhte, lässt sich Argentinien für die Zeit von 1880 bis etwa zum Ersten Weltkrieg anführen. In dieser Periode waren die Grundfragen territorialer Machtaufteilung zwischen Buenos Aires und den Provinzen geklärt, die Einheit der Nation leidlich gesichert, bildete sich ansatzweise ein nationales Identitätsgefühl heraus. Nach dem Sturz des Diktators Rosas und der Verabschiedung einer Verfassung auf der Basis der anfangs aufgezählten Prinzipien lag die Macht fest in den Händen einer begüterten Schicht von Großgrundbesitzern und Kaufleuten, die das Land erfolgreich an den Weltmarkt heranführten.40 In der Tat sind die Verdienste dieser Elite nicht zu unterschätzen: Sie sorgte dafür, dass innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums die land- und viehwirtschaftlichen Ressourcen des Hinterlandes erschlossen und lukrativ in 39

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Vor allem in Kolumbien, wo sich zwischen den beiden Traditionsparteien, der konservativen und der liberalen Partei, eine regelrechte Hasskultur entwickelte, wurde der Machtverlust durch Wahlen vom jeweiligen Verlierer nicht akzeptiert, sondern zog regelmäßig den Vorwurf der Wahlmanipulation gegenüber dem Sieger und nicht selten einen Bürgerkrieg nach sich. H. Krumwiede: Politik und katholische Kirche im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, S. 84 f. Zum Folgenden N. Botana: El orden conservador; J.L. Romero: Las ideas politicas, Kap. 6, 7; D. Rock: Argentina, Kap. 4, 5.

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den internationalen Handel eingebracht wurden, sodass der allgemeine Wohlstandspegel rasch und kontinuierlich anstieg. Sie modernisierte die Verwaltung, baute die Infrastruktur (Straßen, Eisenbahn, Elektrizität) aus, führte ein allgemeinverbindliches laizistisches Schulwesen und die zivile Eheschließung ein. Ihre geschickte, weitsichtige Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Argentinien zu einem interessanten Objekt für europäische, insbesondere britische Investoren machte, kam zweifellos dem ganzen Land zugute; doch ebenso steht außer Zweifel, dass die Oberschichtgruppen, die die politischen Zügel in der Hand hatten, aus all diesen Maßnahmen den größten Vorteil zogen und teilweise unermesslich reich wurden. Ihr Konservativismus kam vor allem in sozialer und machtpolitischer Hinsicht zum Tragen. Zwar wurde schon früh ein Arbeitsgesetz erlassen, doch die Reaktion auf die ersten Streiks und Arbeiterunruhen in Argentinien fiel unverhältnismäßig scharf aus. Alsbald wurde ein so genanntes Aufenthaltsgesetz, später ein Gesetz zur „Sozialverteidigung" verabschiedet, die es gestatteten, Anarchisten und andere „umstürzlerische" Elemente unter den Einwanderern unverzüglich des Landes zu verweisen.41 Noch deutlicher äußerte sich das Misstrauen, das die führenden Schichten gegenüber der breiten Bevölkerungsmasse hegten, in den Mechanismen der Wahlsteuerung. Reine Gewaltanwendung hatte als Mittel, den Wahlausgang zu beeinflussen, inzwischen an Bedeutung verloren; an ihre Stelle war ein ausgeklügeltes System der Manipulation und Verfälschung des Wählerwillens getreten.42 Steuerung der Wahlen bedeutete konkret, dass es dem jeweiligen Präsidenten, dessen unmittelbare Wiederwahl ja ausgeschlossen war, vorbehalten blieb, seinen Nachfolger zu bestimmen. Die offiziellen Wahlen hatten nur die Funktion, diese ex ante getroffene Entscheidung zu bestätigen, dem Kandidaten und seiner Partei zu einer zusätzlichen Legitimation zu verhelfen. Die Opposition hatte unter diesem Regime keinerlei Chancen. Ein fein abgestimmtes Betrugssystem sorgte dafür, dass die Wahlen keine Überraschungen brachten. Angefangen von der Aufstellung der Wählerlisten, über die Bestimmung der Kandidaten und den Wahlakt selbst, bei dem Doppelstimmen und die Zählung der Stimmen Abwesender oder Verstorbener keine Seltenheit waren, bis hin zur gezielten Korrektur des Wahlergebnisses wurde kein Mittel verschmäht, um den gewünschten Wahlausgang sicherzustellen. Später wurde durch den als patriotischen Fortschritt gefeierten systematischen Stimmenkauf die ergebnisorientierte Wahlsteuerung noch zusätzlich perfektioniert 43 In der Rückschau stellt sich die Frage, warum die politischen Führungsgruppen überhaupt an Wahlen festhielten, wo diese doch, für jedermann of41 42 43

D. Rock: Argentina, S. 187. Vgl. hierzu im Einzelnen N. Botana: El orden conservador, S. 174 ff. N. Botana: El orden conservador, S. 182

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fensichtlich, zu einem bloßen Formalismus, einer Farce verkommen waren. Die Antwort liegt wahrscheinlich in der bereits angedeuteten Tendenz lateinamerikanischer Eliten, Fiktionen auch dann nicht fallen zu lassen, wenn abzusehen ist, dass sie sich nicht mit Inhalt füllen lassen. Oder, pragmatischer ausgedrückt, in ihrer Gewohnheit, die sich zu jener Zeit bereits herausgebildet haben dürfte, simultan mit zwei Ordnungen zu „arbeiten" oder zu „spielen". Dieses Doppelspiel setzt allerdings voraus, dass ein subtiles Gleichgewicht zwischen den beiden Regelsystemen gewahrt bleibt - eine Kunst, die von den lateinamerikanischen Eliten unterschiedlich gut beherrscht wird. Was die beschriebene argentinische Epoche betrifft, so kam die politische Praxis einer Verhöhnung des republikanischen Prinzips gleich. Sie setzte die politischen Führungsgruppen dem Vorwurf einer zynischen Missachtung des Wählerwillens aus. Von daher ist es kein Zufall, dass aus diesen Führungsgruppen selbst schließlich die Initiative kam, ein neues Wahlgesetz zu erlassen, das dem betrügerischen Spuk ein Ende bereitete.44

Der Doppelcode Wahlbetrügereien in Lateinamerika gehören heute weitgehend der Vergangenheit an. Nach der Rückkehr der Länder, die lange unter Militärherrschaft gestanden hatten, zur Demokratie liefen die meisten Wahlen korrekt und sauber ab. Internationale Beobachterkommissionen sorgen dafür, dass auch dort, wo die Versuchung zur Wahlmanipulation besteht, die demokratischen Spielregeln eingehalten werden. Kein Kandidat, keine Partei möchte riskieren, wegen des Vorwurfs der Wahlfälschung international an den Pranger gestellt zu werden. Unter dem Einfluss des internationalen Meinungsdrucks bekennen sich heute auch sämtliche lateinamerikanischen Staaten zu den rechtsstaatlichen Prinzipien der Gewaltenteilung, des Schutzes der Grundrechte und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Doch insoweit hinkt, wie aus Expertengutachten und Umfrageergebnissen hervorgeht, die Wirklichkeit noch weit hinter den proklamierten Grundsätzen her.45 Von den lateinamerikanischen Verfassungen ist beispielsweise behauptet worden, sie gehörten mehr in den Bereich der politischen Mythologie als dass sie von praktischer politischer Relevanz wären. Der politische Prozess vollziehe sich weitgehend nach Regeln, die in ihnen keine Erwähnung finden. Die Gesetze, deren Zahl sich in den vergangenen Jahrzehnten inflationär vermehrt hat, gelten als großenteils veraltet, rechtstechnisch unzulänglich und oft unter 44 45

Vgl. ebd., Teil 3. Zum Folgenden H. Ahrens / D. Nolte (Hg.): Rechtsreform und Demokratieentwicklung; P. Waldmann: Der anomische Staat, S. 66 ff; die Gedanken dieses Abschnittes sind eine Art Resümee des erwähnten Buches, insbesondere der Kapitel 4, 5 und 10.

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partikularistischem Vorzeichen erlassen. Von einer „Gleichheit vor dem Gesetz" kann in vielen Staaten nicht die Rede sein, vielmehr muss das Ergebnis ihrer Anwendung häufig mit den Behörden ausgehandelt werden. Nur „die Dummen und die Schwachen", so heißt es, trifft die ungebremste Schärfe gesetzlicher Sanktionen, für alle anderen findet sich, bei entsprechender Gegenleistung, immer eine Ausweichmöglichkeit. Es ist bekannt, dass die Behördenvertreter, die auf diese Weise gegen den Geist und den Buchstaben der formell gültigen Rechtsordnung verstoßen, in aller Regel mit keiner Bestrafung rechnen müssen, sondern ungeschoren davonkommen; das gilt selbst dann, wenn sie, wie dies durch die Sicherheitskräfte häufig geschieht, elementare Menschenrechte verletzen. Was schließlich die Richterschaft, an sich der Hauptgarant der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze, betrifft, so hat sie nicht von ungefähr einen denkbar schlechten Ruf in diesen Ländern. Sie gilt als ineffizient, unberechenbar und korrupt. Fragt man, wie es zu diesen massiven Verstößen gegen ein Rechtssystem kommen kann, dessen formelle Gültigkeit unbestritten ist und für dessen Unterhaltung, Umsetzung und Fortentwicklung viel Geld und Energie eingesetzt werden, so stößt man bald darauf, dass die zahllosen Abweichungen vom offiziellen Recht keinem Zufallsprinzip gehorchen. Vielmehr steht hinter ihnen über weite Strecken ein informeller, gesellschaftlich sanktionierter Paralleloder Gegencode. Dieses Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Normensysteme ist schon etlichen Autoren aufgefallen. Doch keiner hat seine Wurzeln und Implikationen meines Erachtens so scharf herausgearbeitet wie der brasilianische Anthropologe Roberto Da Matta.46 Ausgangspunkt seiner Argumentation ist das Konzept des Staatsbürgers, wie es sich in der westlichen Welt herausgebildet hat. Darunter ist nach ihm ein Individuum zu verstehen, dem ex ante, das heißt unabhängig von der empirischen Richtigkeit dieser Annahme, bestimmte Qualitäten wie Würde, Autonomie, Freiheit und das Recht auf Gleichbehandlung mit anderen Bürgern durch den Staat eingeräumt würden. Sämtliche Bürger stünden als eine atomisierte Masse dem Staat ohne die Vermittlung von Zwischeninstanzen gegenüber. Da Matta betont, dass dieses holzschnittartig vereinfachte Konzept des Bürgers auch dem durchschnittlichen Brasilianer durchaus geläufig sei. Im Unterschied zu den westlichen Industriestaaten, in denen es die dominante Rolle des Einzelnen im öffentlichen Leben sei, stelle es für den Brasilianer indes nur eine von mehreren identitätsstiftenden Rollen dar, und zwar eine, die für ihn einen eher negativen Beigeschmack hat. Positiv würden von ihm die Alternativrollen bewertet, die sich auf den Einzelnen als Person beziehen. Qua Person stelle er keine abstrakte Einheit in einer unübersehbaren Masse

R. da Matta: The Quest for Citizenship. Vgl. auch ders.: Carnivals, Rogues, and Heroes, S. 137 ff„ 169f.

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dar, sondern sei eingebettet in ein ebenso konkretes wie weitläufiges Netz sozialer Beziehungen. Dieses reiche vom engsten Zirkel der Familie und intimer Freunde über die weitere Verwandtschaft, Bekannte, Nachbarn und Berufskollegen bis hin zu der sozialen Schicht, der man angehöre. Entsprechend sei das Gleichheitsdenken dem Brasilianer grundsätzlich fremd geblieben. Von einem Behördenvertreter, etwa der Polizei, wegen einer Regelverletzung zur Rede gestellt, neige er dazu, für sich einen Sonderfall zu reklamieren und diesen Anspruch durch Verweis auf die eigene herausgehobene Stellung oder auf einflussreiche Freunde und Verwandte zu untermauern. Die typische Antwort in einer solchen Situation laute: „Wissen Sie, mit wem Sie sprechen?" Man darf die Konsequenzen der Existenz eines Parallelcodes von Regeln zur offiziell gültigen Rechtsordnung nicht dramatisieren. Manche Güter und Werte (etwa das Eigentum und die Familie) nehmen in beiden Regelsystemen einen hohen Rang ein und werden entsprechend geschützt.47 Auch dort, wo sie divergieren, muss es nicht notwendig zu einer Normenkollision kommen, sei es, dass dem informellen Normensystem nur eine Komplementärfunktion neben den eigentlich verbindlichen offiziellen Vorschriften zugestanden wird, sei es, dass beide Systeme in jeweils unterschiedlichen Bereichen zur Anwendung kommen. Extralegale Zonen, zu deren Kontrolle die Durchsetzungskapazität des lateinamerikanischen Staates nicht ausreicht, gibt es in nicht geringer Zahl, angefangen von den riesigen Elendsvierteln in lateinamerikanischen Großstädten, in welche selbst die Polizei sich nicht hineinwagt, bis hin zu schwer zugänglichen Teilen des Hinterlandes, in denen ohnehin alternative Mächte das Sagen haben. Dass es hier zur Entstehung von Parallelordnungen kommt, richtet nicht nur wenig Schaden an, sondern kann geradezu als notwendig und funktional angesehen werden, ist doch nur auf diese Weise eine minimale Regelhaftigkeit des sozialen Miteinanders in diesen Gebieten gewährleistet. Gleichwohl gibt es einen Bereich, in dem formelles Recht und informelle Normvorstellungen hart aufeinanderprallen. Das ist die staatliche Sphäre im Allgemeinen (einschließlich Abgeordnetenhaus und Justiz) und die öffentliche Verwaltung im Besonderen. Lassen wir nochmals Da Matta zu Wort kommen: „The upshot is that Brazilian social institutions are always subject to two types of pressure. One of them is the universalist pressure, which comes from bureaucratic norms and laws that define the existence of the agency as a public Service. The other is determined by the webs of personal relations to which we all are subjected and by the social resources these networks mobilize and distribute."48

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Hierzu und zum Folgenden P. Waldmann: Der anomische Staat, S. 87 ff. R. da Matta: The Quest for Citizenship, S. 321.

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Es handle sich, fahrt Da Matta fort, im Grunde um den Kampf zweier Welten, der öffentlichen Welt der Gesetze und Verträge und der privaten Welt des sozialen Beziehungsnetzes, in dem jeder stehe. Der Einzelne müsse diesen Kampf ständig in sich austragen, beide Welten miteinander versöhnen und sie, je nach Situation, selektiv nutzen. Der zuletzt angesprochene Gesichtspunkt selektiver Nutzung bringt uns zum Elitethema zurück. Stark vereinfacht wird man behaupten können: Je höher jemand in der Ämterhierarchie angesiedelt ist, desto leichter fallt es ihm, den von Da Matta herausgestellten doppelten Druck in einen doppelten Vorteil zu verwandeln. Folgende Strukturmechanismen sind ihm dabei behilflieh:49 Mit dem Rang einer Position steigt zugleich die Möglichkeit, die beiden Ordnungen gegeneinander auszuspielen und sich jeweils derjenigen zu bedienen, die den größten Machtvorteil oder sonstigen Nutzen verspricht. Ebenfalls den höheren Rängen vorbehalten ist ein relativ großer legaler Ermessensspielraum; das bedeutet, dass sich ein Amtsmissbrauch leichter als bei den unteren Chargen bewerkstelligen lässt, höhere Gewinnprämien abwirft und größere Chancen hat, unbemerkt zu bleiben. Ein weiteres Kennzeichen gehobener Amtspositionen ist der besondere Respekt, der ihrem Inhaber entgegengebracht wird. Im Schatten dieses teils strafrechtlich untermauerten Amtsansehens (man denke an das Delikt der Beamtenbeleidigung) lässt sich umso ungestörter fragwürdigen Geschäften nachgehen. Auch die speziellen Fähigkeiten und Kenntnisse, die mitgebracht werden müssen, um ein höheres Amt zu bekleiden, haben einen ambivalenten Stellenwert, lassen sie sich doch trefflich für Formen der Veruntreuung öffentlicher Mittel und sonstige fragwürdige Transaktionen einsetzen, die von außen auf Anhieb nicht durchschaubar sind. Schließlich wächst mit dem für ein höheres Amt erforderlichen Bildungsgrad auch die Fähigkeit, die aus dem komplizierten Nebeneinander von formeller und informeller Ordnung sich ergebenden Schwierigkeiten zu meistern und den Doppelcode souverän zu handhaben. Lässt man die beeindruckende Liste von Vorteilen und Nutzungsmöglichkeiten Revue passieren, welche sich aus der Aufweichung der offiziellen Rechtsordnung durch eine informelle Gegenordnung gerade für die Spitzen der staatlichen Bürokratie (und ihren gesellschaftlichen Gegenpart, die Oberschicht) ergeben, so nimmt es nicht Wunder, dass der duale Code eines der zählebigsten Charakteristika der lateinamerikanischen Staaten ist. Diese rangieren, mit Ausnahme von Chile, durchweg auf den mittleren bis unteren Plät-

49

P. Waldmann: Der anomische Staat, S. 76 ff.

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zen des Korruptionsindexes von Transparency International.50 Ursprünglich von der traditionellen Elite mehr aus Verlegenheit erfunden, hat sich die Kombination zweier Regelsysteme und ihr partielles Ausspielen gegeneinander inzwischen zu einem Machthabitus und einem Instrument der Vorteilsnahme entwickelt, das von einer Generation der politischen Elite an die nächste weitergegeben wird.

Schlussbetrachtung Der bisherige Wissensstand über die lateinamerikanischen Eliten ist fragmentarisch und zudem länderspezifisch aufgesplittert. Dennoch soll hier versucht werden, ein vorläufiges Fazit aus dem vorliegenden Material zu ziehen. Danach kann man davon ausgehen, dass von dem langen 19. Jahrhundert eine weit über diese Periode hinausgehende Prägung für die Denk- und Verhaltensweisen der Oberschichten und Eliten ausging. Die häufigen Regimewechsel und das lange Zeit bestehende politische Machtvakuum ließen die Großfamilie zur konstitutiven Bezugseinheit für die Angehörigen der Oberschicht werden. Vor allem durch ihre Rolle als Wirtschaftsverbund, aber auch was kulturell-stilistische und politische Orientierungen betrifft, setzte sie die verbindlichen Maßstäbe, die für lange Zeit ihre Gültigkeit bewahrten. In diese Maßstäbe gingen auch ständische Elemente ein, weil sich eine Verschmelzung der älteren, meist über ausgedehnten Grundbesitz verfugenden Kolonialaristokratie mit den jüngeren aufstrebenden Familienclans der Kaufleute und der Handelsbourgeoisie vollzog. Gegen dieses bereits bestehende Establishment hatte der erst ab der Jahrhundertmitte konkrete Konturen annehmende Nationalstaat wenig Chancen, eine konsequent am Rechtsstaat republikanischen Musters ausgerichtete neue Ordnung durchzusetzen. Gemäß einer bereits aus der Kolonialzeit stammenden Formel akzeptierte man diese zwar rein äußerlich, wie man sich überhaupt gegenüber den vornehmlich aus Europa stammenden Ideen und Stilmoden äußerst aufgeschlossen zeigte. Doch zugleich unterlief man die neu geschaffenen Institutionen, verfälschte sie, band sie in das eigene, stark von autoritär-ständischen Traditionen geprägte kulturelle Erbe ein. So bildete sich langsam der für Lateinamerika bis heute bezeichnende Doppelcode heraus, der nicht selten auch von einer Doppelmoral begleitet ist: Man tut das eine, ohne das andere zu lassen; arbeitet gewissermaßen getrennt mit zwei Händen, lebt in zwei verschiedenen, jedoch vielfaltig miteinander verknüpften Welten. Den lateinamerikanischen Eliten ist bisweilen ihr geschichtliches Versagen vorgeworfen worden. Im Unterschied zu anderen Dritte-Welt-Eliten, bei-

50

Vgl. http://www.icgg.org.

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spielsweise den asiatischen,51 hätten sie es versäumt, ihre Länder an den Entwicklungsstand der westlichen Industrienationen heranzufuhren, sondern stattdessen deren Rolle als ewige Nachzügler festgeschrieben. Bei derartigen Urteilen stellt sich jedoch die Frage, inwieweit dabei die richtigen Maßstäbe angelegt werden. Kann man sicher sein, dass es ein Anliegen dieser Eliten war, ihre Länder aus dem Status der Abhängigkeit und Unterentwicklung zu befreien, wollten sie diese wirklich zu ebenbürtigen Partnern der europäischen Staaten und der USA machen? Ist nicht vielmehr auch denkbar, dass sie der international zweitrangige Platz ihrer Staaten und Nationen wenig bekümmerte, solange es nur der für sie verbindlichen sozialen Einheit, der Großfamilie, gut ging, sie ihre soziale Position halten und lukrative Geschäfte machen konnten? Doch selbst angenommen, den lateinamerikanischen Oberschichten sei es ernst gewesen mit ihren anspruchsvollen Entwicklungsprojekten, sie hätten tatsächlich den Ehrgeiz gehabt, ihre Länder in prosperierende Staaten nach europäischem Muster zu verwandeln, so ist festzustellen, dass sie sich mit dem von ihnen praktizierten Doppelcode selbst ein entscheidendes Entwicklungshindernis geschaffen hatten. Wer sich für eine beschleunigte nachholende Entwicklung entscheidet, muss für Eindeutigkeit sorgen: in der Analyse des bestehenden Zustandes, der Bestimmung des Zieles und den zu wählenden Mitteln. Die von den lateinamerikanischen Eliten bevorzugte Doppelgleisigkeit des Vorgehens begünstigte ein Verschleiern der Realitäten, Ausweichreaktionen und ein ständiges Experimentieren mit unterschiedlichen Lösungen für die Strukturprobleme dieser Länder. Letztlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Eliten des Subkontinents zwar gerne die technischen und kulturellen Errungenschaften der von ihnen bewunderten westlichen Staaten übernahmen, aber im Übrigen, insbesondere was das krasse soziale Schichtungsgefälle in ihren Ländern betrifft, am liebsten alles beim Alten ließen. Das heißt, sie ließen es an der Identifizierung mit dem nationalen Gesamtwohl und am Vertrauen in die breite Bevölkerung fehlen, den vielleicht wichtigsten Voraussetzungen für eine Strategie nachholender Entwicklung, die Aussicht auf Erfolg haben soll.

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Barbara Potthast Z W I S C H E N T R A D I T I O N UND M O D E R N E : F R A U E N B E W E G U N G E N IN D E R ERSTEN H Ä L F T E DES 2 0 . J A H R H U N D E R T S UND IHR B E I T R A G Z U R SOZIOPOLITISCHEN M O D E R N I S I E R U N G IN LATEINAMERIKA

„Está en camino de convertirse en hermosa realidad la frase del poeta: ,E1 siglo XVIII ha proclamado los derechos del hombre; el siglo XIX proclamará los de la mujer'. ¿No hay acaso mucho de exacto en aseveración semejante, cuando se nota en el mundo entero una verdadera agitación a favor de la mujer ...".'

Mit diesen Worten beginnt der argentinische Jurist und Soziologe Ernesto Quesada eine Rede über die so genannte „Frauenfrage". Er hielt den Vortrag im Rahmen der Schließung einer so genannten „Exposición femenina" 1899 in Buenos Aires.2 Ausstellungen, die ausschließlich Produkte von Frauen vorstellten, waren spätestens seit der Weltausstellung in Chicago von 1892, auf der es einen eigenen weiblichen Pavillon gab, ein wichtiges Instrument geworden, um die Fähigkeiten von Frauen sowie ihren Anspruch auf einen Platz im öffentlichen Leben zu demonstrieren.3 Diese Schauen stellten aber mehr dar als nur eine Anerkennung der Arbeit der Frauen, sie galten auch als Ausweis der Moderne, als ein Zeichen, dass die betreffenden Länder, in diesem Fall Argentinien, auf dem Weg waren, sich in die Reihe der modernen Staaten einzugliedern. Die Vorstellung, dass zu einer modernen Gesellschaft auch die Veränderung der Position der Frauen, ihre Anerkennung als eigenständige Rechtspersonen und als Staatsbürgerinnen gehörte, war eine der wichtigsten „Waffen" der Frauen im Kampf um ihre Rechte, und die verschiedenen lateinamerikanischen Frauenbewegungen, vor allem diejenigen des Cono Sur, nutzten sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder. Allerdings griffen sie dabei weniger auf weibliche Werkschauen zurück, denn diese stellten die Frauen nur als Produzentinnen dar, während ihre Leistungen als Erzieherinnen, Krankenschwestern oder Ärztinnen hier nicht dokumentiert werden

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E. Quesada: La cuestión femenina, S. 3. Bei diesem Anlass führte Ernesto Quesada auch erstmals in Argentinien die Unterscheidung zwischen „femenino" und „femeneista" [sie] ein. Ebd., S. 12 f. Vgl. M. Grever / B. Waaldijk: Transforming the Public Sphere; W. Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, S. 138, 152.

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konnten. Gerade aus diesen Berufen rekrutierten sich jedoch die meisten Feministinnen, wodurch die wissenschaftlichen und erzieherischen Tätigkeiten von Frauen in den Vordergrund rückten. Diese manifestierten sich auf verschiedenen Kongressen, deren Ziel es war, den Beitrag von Frauen zu einer modernen Gesellschaft und zur Lösung dringender nationaler Probleme ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und vor diesem Hintergrund eine Verbesserung ihrer Möglichkeiten und ihrer rechtlichen Situation zu fordern. Bei aller Modernität griffen die Frauen jedoch immer wieder auf tief verwurzelte traditionelle Vorstellungen von Frauen als Müttern und friedliebenden Wesen zurück. In den Augen der meisten Zeitgenossen, seien sie männlich oder weiblich, stellte dies jedoch keinen Widerspruch dar, sondern war das wichtigste Argument zur Legitimation der Forderungen der Frauen auf einen Platz im öffentlichen und politischen Leben. Im Folgenden soll daher anhand einiger Beispiele, vor allem aus Argentinien und Brasilien, die Verbindung von Modernität und Tradition in der Frauenbewegung sowie ihre Bedeutung für die soziopolitische Modernisierung in ihren jeweiligen Ländern skizziert werden.

Die Probleme der sozioökonomischen Modernisierung und die Rolle der Frauen Die erste und zweite industrielle Revolution, die mit einem Ausbau der Verbindungen zwischen den Kontinenten sowie einer Verbesserung der Infrastruktur in Lateinamerika einherging, führte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern zu einem Metropolisierungsprozess, der sich sowohl aus interner als auch aus transatlantischer Migration speiste. Dieser Prozess verlief jedoch vielfach unkontrolliert und in solch kurzer Zeit, dass neben den erhofften Modernisierungseffekten auch eine Reihe von Problemen auftraten, denen die traditionellen politischen Eliten zunächst hilflos gegenüberstanden. Das spektakulärste Beispiel für das rapide Wachstum der Städte und die daraus resultierenden Probleme ist die argentinische Hauptstadt Buenos Aires. Die „gran aldea" entwickelte sich durch vorwiegend europäische Einwanderer sowie Zuwanderer aus dem Hinterland zu einer Metropole, die den konstanten Zustrom kaum noch zu bewältigen wusste. Zwischen 1880 und 1910, das heißt innerhalb von dreißig Jahren, vervierfachte sich die Bevölkerung von Buenos Aires von ca. 300000 auf 1.2 Mio. Einwohner. Die Stadt überschritt 1905 als erste der lateinamerikanischen Städte die Millionengrenze, 1926 erreichte sie die Zweimillionen- und 1947 beinahe die Dreimillionengrenze. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war etwa ein Drittel der Bonaerenser im Ausland geboren. Wirtschaftswachstum und Massenimmigration bewirkten eine allgemeine Wohlstandssteigerung, und durch das Anwachsen des tertiären Sektors ent-

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stand eine neue und relativ breite Mittelschicht, die sich zum überwiegenden Teil aus Immigrantinnen und Immigranten rekrutierte. Dies war jedoch zumeist schon die zweite oder dritte Generation der Einwanderer, während die ersten, mehrheitlich männlichen Immigranten, zunächst vor allem um Jobs in der neu entstandenen Industrie sowie um den immer knapper werdenden Wohnraum konkurrierten. Die Lebensbedingungen in den überfüllten conventillos wurden zu einem ernsthaften Problem für die Einwanderer wie auch für die Politik, und zwar sowohl aus gesundheitlichen als auch aus ökonomischen Gründen.4 Die Tatsache, dass die Löhne meist nicht ausreichten, um eine Familie zu ernähren, aber auch der Umstand, dass in den Städten viele allein stehende Frauen mit Kindern lebten, führten zu vermehrter außerhäuslicher Berufstätigkeit von Frauen. Diese stellten in Buenos Aires etwa ein Drittel der Arbeitskräfte. Allerdings lag der durchschnittliche Lohn der Frauen um ein Drittel niedriger als derjenige der Männer gleicher Qualifikation.5 Hieran wird ersichtlich, wie wichtig und gleichzeitig problematisch die außerhäusliche Erwerbsarbeit von Frauen war. Sie zog zunehmend die Aufmerksamkeit des Staates und der Gesellschaft auf sich, denn - ähnlich wie in Europa - begann man nun auch in Lateinamerika, sich über die Konsequenzen der außerhäuslichen Frauenarbeit, vor allem im Hinblick auf die Mutterrolle, und über die Zukunft der Familien Gedanken zu machen.6 Politiker, Kleriker und Intellektuelle sahen angesichts der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen die Familie in Gefahr, und bald sorgten sich staatliche Gesundheitsbehörden, Hygieniker, Ärzte und Politiker um die Gruppen, deren Nachkommen schließlich zukünftige Arbeitskräfte und Soldaten sein sollten. Erschwerend kam hinzu, dass man in diesen modernen, übervölkerten Industriemetropolen ein starkes Anwachsen der Prostitution beobachtete, die den Politikern nicht nur aus moralischen Gründen Sorgen bereitete, sondern auch, weil man sie für die weite Verbreitung der Syphilis, die damals noch nicht heilbar war, verantwortlich machte.7 Wiederholt auftretende Cholera- und Gelbfieberepidemien sowie die starke Verbreitung der Tuberkulose und alarmierend hohe Kindersterblichkeitsraten gaben weiteren Anlass zur Sorge, und eine mögliche Besserung erhoffte man sich vor allem 4

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Als „conventillos" oder brasilianisch „cortijos" bezeichnete man die alten herrschaftlichen Häuser im Zentrum, die in mehrere Wohnungen aufgeteilt wurden, wobei oft eine ganze Familie in nur einem Raum lebte. Sanitäre Einrichtungen und Kochgelegenheiten wurden dann von bis zu zwanzig Familien geteilt. J. Panettieri: Los trabajadores, S. 57-95; S. Menéndez: En búsqueda de las mujeres, S. 63-92; zu Brasilien vgl. J.E. Hahner: Emancipating the Female Sex, S. 90-113. S. Menéndez: En búsqueda de las mujeres; A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change; D.J. Guy: Sex and Danger in Buenos Aires; S.K. Besse: Restructuring Patriarchy. D.J. Guy: Sex and Danger in Buenos Aires, S. 44-76; S. Caulfield: In Defense of Honor, S. 78-144; B. Potthast: Von Müttern und Machos, S. 222-230.

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durch eine Stärkung der Rolle der Frauen, denen die Hauptverantwortung für die häusliche Hygiene und die Kinder oblag. Durch eine verbesserte Kindererziehung und Ernährung sowie Maßnahmen im medizinischen und sanitären Bereich sollte eine physische und moralische Gesundung der Gesellschaft insgesamt herbeigeführt werden, und die Mütter als Erzieherinnen der zukünftigen Generation galten als ihre Agenten. Dies bürdete den Frauen Lasten und neue Verantwortung auf, bot aber gleichzeitig eine Möglichkeit, mehr Rechte einzufordern. Wenn die Frauen für die Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Familie verantwortlich gemacht wurden, musste man ihnen auch eine entsprechende Ausbildung zukommen lassen, so dass weibliche Bildung zu einem zentralen Anliegen nicht nur der Frauen selbst, sondern auch vieler Sozialreformer wurde. „Wissenschaftliche Kindererziehung" erschien als eine folgerichtige Ergänzung zu der allgemeinen Erziehungsreform des späten 19. Jahrhunderts.8 Im Bildungsbereich spielten Frauen bereits seit längerem eine wichtige Rolle. Sie stellten in Rio de Janeiro um die Jahrhundertwende bereits mehr als zwei Drittel der Lehrerinnen, 1920 waren es mehr als drei Viertel, und auch in Argentinien waren Frauen zu dieser Zeit im Bildungssektor bereits in der Mehrzahl. Für Frauen der Mittelschichten war der Beruf der Lehrerin eine der wenigen gesellschaftlich anerkannten außerhäuslichen Beschäftigungen, zumal er als eine Ausweitung der Mutterrolle in den öffentlichen Raum hinein gesehen werden konnte.9 Neben den an speziellen Seminaren, den so genannten „escuelas normales", zumeist nach nordamerikanischem Vorbild ausgebildeten Lehrerinnen gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen lateinamerikanischen Staaten bereits die ersten Akademikerinnen, die meisten von ihnen Ärztinnen.10 Diese vergleichsweise gut ausgebildeten Mittel- und Oberschichtfrauen engagierten sich dann nicht nur in der Diskussion um die Gesundheitsreformen und die Prostitution, sondern waren oft auch Trägerinnen der sich allmählich formierenden Frauenbewegung. Als „moderne"11 und gut ausgebildete Frauen nutzten sie das von den meisten Eliten verfolgte politische Ziel einer möglichst raschen und weitgehenden ökonomischen Modernisierung, die das Land in den Kreis der „zivilisierten Mächte" eingliedern sollte, um auf die Notwendigkeit von Bildung und mehr zivilen und politi-

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A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 97-124, 357-362. J.E. Hahner: Emancipating the Female Sex, S. 24 f.; C. Lozano: Buenos Aires, S. 414424; A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 57-59, 107 f.; S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 133 f., 147; F. Miller: Latin American Women, S. 43-48. Sogar die Arbeit von Textilarbeiterinnen wurde mit ihrer „natürlichen Eignung" hierzu begründet. Vgl. T.R. Veccia: „My Duty as a Woman", S. 109 f. 10 F. Miller: Latin American Women, S. 48-54; S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 147-149; J.E. Hahner: Emancipating the Female Sex, S. 53-65. 1 ' Hierzu eingehender unten.

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sehen Rechten für die Frauen hinzuweisen. Dies wird an den Aktivitäten und dem Lebensweg einiger führender Frauenrechtlerinnen deutlich, die vor allem die internationalen Kongresse zu Themen der Hygiene, der Kindererziehung und der Gesundheitsvorsorge, die als allgemeine „soziale Probleme" verstanden wurden, nutzten, um den Frauen einen Platz in der öffentlichen Debatte und in der Folge dann auch in der Politik zu erkämpfen.

Die internationalen „Frauenkongresse" Im Jahre 1899, dem Jahr der eingangs zitierten „Exposición femenina", fand in Argentinien erstmals eine internationale wissenschaftliche Konferenz zu humanwissenschaftlichen, ökonomischen, sozialen und politischen Themen unter Beteiligung von Frauen statt. Es folgten ähnliche Tagungen in Uruguay, Chile und Brasilien. An ihnen nahmen, in quantitativ zunächst nicht erheblicher, aber stetig wachsender Zahl, Rechtsanwältinnen, Erzieherinnen und Ärztinnen teil. Auf einem Kongress in Rio 1905/06 wurden nicht nur erstmals die sozialen Probleme in den Vordergrund gestellt, sondern hatte auch die Anzahl der Frauen bereits deutlich zugenommen. Dr. Constanza Barbosa Rodríguez, die im offiziellen Programm als „Gattin und Mitarbeiterin des Direktors des Botanischen Gartens von Rio de Janeiro" ausgewiesen war, wurde zur Ehrenpräsidentin ernannt, was einen deutlichen Bruch mit bisherigen Gepflogenheiten darstellte. Die erste pan-amerikanische wissenschaftliche Zusammenkunft in Santiago de Chile 1908/09 verzeichnete immerhin schon 6 % Referentinnen, und ein nordamerikanischer Teilnehmer äußerte sich später erstaunt über das Selbstbewusstsein der als „unemanzipiert" geltenden Lateinamerikanerinnen.12 Diese debattierten zusammen mit ihren männlichen Kollegen über Fragen der Hygiene, der Ernährung, der Kinderbetreuung und des Mutterschutzes. Ihre fachliche Kompetenz legitimierte ihre Teilnahme, bot aber auch ein Vorbild und Kommunikationszentrum für junge Frauen.13 Die Kongresse spiegeln somit ein grundlegendes Merkmal der Gesellschaften des Cono Sur um die Jahrhundertwende wieder: Man verstand sich als mo-

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F. Miller: The International Relations, S. 172-174; dies.: Latin American Women, S. 72-76. So berichtete die argentinische Feministin und Sozialistin Alicia Moreau später, wie wichtig für sie die Teilnahme an einem internationalen Kongress der Freidenker war, der 1906 in Buenos Aires abgehalten wurde. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt erst 21 Jahre alt war, durfte sie einen Vortrag über Erziehungsfragen halten, der gut aufgenommen wurde. Sie knüpfte Kontakte zu anderen Feministinnen aus dem In- und Ausland und initiierte anschließend zusammen mit anderen Teilnehmerinnen des Kongresses ein Centro Feminista. Ähnliches gilt für die Pionierin der uruguayischen Frauenbewegung, María Abella de Ramírez (1863-1926), die auf diesem Kongress ihr Programa mínimo de reivindicaciones femeninas vorstellte. A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 322; B. Weyde: Das Ende der Mythen, S. 13.

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derne, europäisch geprägte Nation, die im wirtschaftlichen Aufschwung und sozialen Wandel begriffen war, und hoffte, bald zu den am stärksten entwickelten Gesellschaften aufzuschließen. Die Mittel hierzu wurden vorwiegend in Bildung und modernen Wissenschaften gesucht. Frauen konnten an diesen „modernen" Foren mitarbeiten, da sie ihre Teilnahme mit traditionellen Rollenbildern begründeten. Die enge Verbindung von Weiblichkeit und Mutterschaft und die hohe Wertschätzung, die diesen in den lateinamerikanischen Gesellschaften zuteil wurde, rechtfertigte ihr Interesse und ihre Beteiligung an den öffentlichen Veranstaltungen, ohne dass eine Konkurrenz zu den Männern oder eine Störung der Geschlechterhierarchie befurchtet werden musste. Die Bedeutung der Mutterschaft als genuin weibliche Aufgabe sowie ihre soziale und politische Funktion wurden somit zu einem Hebel, mit dem die lateinamerikanischen Frauen sich Eintritt in die öffentliche Diskussion und letztlich eine Veränderung ihrer sozialen und rechtlichen Situation verschafften. Sie setzten damit, im Gegensatz zu den europäischen und nordamerikanischen Feministinnen, weniger auf die potenzielle Gleichheit der Geschlechter als vielmehr auf die Differenz. Im Einklang mit vielen Männern ihrer Zeit sahen sie die „anderen" Eigenschaften der Frauen, wie ihre Friedfertigkeit und Emotionalität, als ein notwendiges Korrektiv zur männlich dominierten Gesellschaft. „They [the Latin American feminists] had been raised in cultures with a long tradition of reverence to motherhood, and knowing that maternity gave women a modicum of authority, they protected their turf as women and mothers. Redefining motherhood as a social function, they ,modernized' their role to suit a new political scenario without changing some aspects of its traditional core."14

Die Verbindung von traditionellen weiblichen Aufgaben und den Problemen der modernen Gesellschaft, sowie das Bild der modernen, gebildeten Frau und Mutter war auch Leitbild des 1910 in Buenos Aires organisierten ersten Congreso Femenino Internacional. In diesem Jahr feierte Argentinien den Centenario, den Beginn der Unabhängigkeitsbewegung vor einhundert Jahren, und Politiker aller Parteien wollten die Modernität der jungen Nation unter Beweis stellen, so dass sie sich positiv zu der Initiative äußerten. Die Veranstaltung wurde unterstützt und organisiert von so unterschiedlichen Gruppen wie traditionellen weiblichen Wohlfahrtsorganisationen, der Organisation der Grundschullehrerinnen, Gewerkschafterinnen, der argentinischen Vereinigung gegen die „Weiße Sklaverei" 15 oder aber sozialistischen und frei14 15

A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 5. Diese wandte sich, unter explizitem Rückgriff auf die Anti-Sklaverei-Bewegung, gegen die Verschleppung europäischer Frauen vor allem aus Osteuropa nach Übersee, wo diese Frauen angeblich zum größten Teil in die Prostitution gezwungen wurden.

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denkerischen Frauenverbänden. Die unterschiedlichen ideologischen Positionen der vertretenen Frauengruppen wurden überlagert von dem Gedanken einer besonderen weiblichen Mission im Bereich von Erziehung und Gesundheit sowie der Überzeugung, dass eine Reihe von rechtlichen und sozialen Reformen in Bezug auf die Rolle der Frauen notwendig waren, um die Zukunft zu bewältigen und zu einer modernen Nation zu werden. Die mehr als 200 Teilnehmerinnen kamen aus Argentinien, Uruguay, Chile, Paraguay und Peru sowie Europa.16 Zur Vorsitzenden wurde die Ärztin und Frauenrechtlerin Dr. Cecilia Grierson gewählt, die 1899 Vizepräsidentin des 2. Kongresses des International Council of Women (ICW) gewesen war und nach ihrer Rückkehr eine argentinische Sektion des Rates gegründet hatte.17 Die Bedeutung dieses Kongresses, der auch von den Beteiligten als der eigentliche Beginn des Feminismus im Cono Sur angesehen wurde,18 liegt neben der Tatsache, dass er von Frauen organisiert und ausgerichtet wurde, vor allem darin, dass er spezifisch weibliche Themen ansprach, die jedoch auch als drängende allgemeingesellschaftliche Probleme angesehen wurden. Dies verschaffte den Anliegen der Frauen Publizität und Anerkennung und schuf eine Tradition von weiblicher Partizipation an internationalen Veranstaltungen, die sich später auf andere Institutionen auswirken sollte.19 Dass dieses „Timing" sehr bewusst war, zeigt sich daran, dass auch die Brasilianerinnen 1922 die Hundertjahrfeiern nutzten, um internationale Kongresse zu Themen der Frauen- und Kinderarbeit in ihre Hauptstadt zu holen. Dadurch wurde ihnen sehr viel mehr Aufmerksamkeit zuteil als in anderen Jahren, und mögliche Kritik an den „unweiblichen" Aktivitäten dieser Frauen wollte kein Politiker im Jahr der Jubelfeiern für die „modernen", unabhängigen Staaten äußern.20 Die Kongresse zum Schutz von Kindheit und Mutterschaft, die von der Liga para los Derechos de la Mujer y del Niño unter Vorsitz der bekannten argentinischen Ärztin und Feministin Julieta Lanteri durchgeführt wurden, wurden von dieser darüber hinaus auch als ein Instrument des „empower-

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F. Miller: Latin American Women, S. 73-75; A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 29-32. D. Barrancos: Inclusión / Exclusión, S. 43. P. Luisi: La Mujer en la democracia, S. 6. D. Barrancos: Inclusión / Exclusión, S. 22-34, 85 f.; F. Miller: Latin American Women, S. 82. Gegen solche Vorbehalte setzte sich Graciela Coravalán, eine paraguayische Feministin, 1925 mit folgenden Worten zur Wehr: „Indudablemente este estado de cosas se mantiene únicamente arraigado por el prejuicio de creer que la mujer moderna continúa siendo la mujer de antaño, sin otro criterio sobre su acción y su provenir que él de ser un elemento pasivo en las funciones sociales del gobierno y una silenciosa custodiadora de los intereses, gustos, pasiones y caprichos del amo de la casa". V.C. Corvalán: El femenismo, S. 6; vgl. auch A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 85-91.

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ment" von Frauen verstanden. 21 Auch die pan-amerikanischen Kongresse sowie später die Ausschüsse des Völkerbundes zu Fragen der Erwerbsarbeit von Frauen, dem Schutz von Kindern oder der „Weißen Sklaverei" boten den Lateinamerikanerinnen ein Feld, ihre Expertise in diesen gesellschaftlich dringenden Fragen zu beweisen - und waren für viele gleichzeitig ein Beweis für die Modernität ihrer Nation. So wurde zum Beispiel Alicia Moreau, eine argentinische Ärztin, Sozialistin und Feministin, sogar von der Zeitung La Nación gefeiert, als sie 1919 von einer längeren USA-Reise zurückkehrte, wo sie an einem internationalen Ärztinnenkongress und an einem Vorbereitungskongress zur geplanten großen Konferenz des International Labour Office (ILO) über die Probleme von Frauen- und Kinderarbeit in Genf teilgenommen hatte.22 Gleichzeitig hatte sie die Reise genutzt, um mit nordamerikanischen Feministinnen Kontakte zu knüpfen. Auch für eine andere Feministin wurde die ILO-Konferenz ein einschneidendes Ereignis und zeigte sich die Verbindung von „moderner" weiblicher Bildung, dem Bestreben der lateinamerikanischen Staaten, sich auf internationalem Parkett als fortschrittlich darzustellen und dem Ausnutzen dieser Ziele für die Anliegen der Frauenbewegung besonders deutlich. Neben mehreren anderen Staaten entschied sich auch Brasilien, eine Delegierte zu entsenden, und ernannte Bertha Lutz zur offiziellen Vertreterin des Landes bei dieser Konferenz. Lutz war erst vor kurzem aus Paris zurückgekehrt, wo sie Biologie studiert hatte. Sie hatte mittlerweile eine leitende Stelle im Nationalmuseum inne, war aber, im Gegensatz zu Frauen wie Alicia Moreau oder Paulina Luisi, bislang weder auf internationalen Kongressen noch durch Stellungnahmen zu Themen von Frauen- und Kinderarbeit hervorgetreten. Vermutlich sprachen zunächst vor allem ihre Sprach- und Weltgewandtheit sowie ihre guten Kontakte zur Regierung für ihre Nominierung. 23 Nach ihrer Rückkehr aus Genf gründete sie 1919 die Liga para a Emancipado Intelectual Femenina und überzeugte in der Folge den Erziehungsminister, Mädchen endgültig zur wichtigsten Höheren Schule in Brasilien, dem Colégio Dom Pedro II, zuzulassen.24 Bildung und Arbeit für Frauen blieben neben den politischen Rechten auch in den folgenden Jahren ihre wichtigsten Anliegen.

22 23

24

An diesem Punkt unterschied sie sich von ihrer nordamerikanischen Mitstreiterin Eleanor Lansing, und letztlich kam es hierüber zum Bruch zwischen Lanteri und Lansing. Vgl. D. Guy: White Slavery, S. 34-64; B. Potthast: Internationalismus und Feminismus in Lateinamerika, S. 43. M. Henault: Biografia, S. 66-68. Sie war die Tochter eines aus der Schweiz stammenden Arztes und einer englischen Krankenschwester. Zu der Bedeutung des Colegio und dem Streit um die Zulassung von Mädchen vgl. J.E. Hahner: Emancipating the Female Sex, S. 60-62. In Brasilien blieb höhere Bildung allerdings, im Gegensatz zum Cono Sur, ein - nach wie vor vorwiegend männliches -

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Bertha Lutz vertrat die brasilianischen Frauen auch auf der Pan-Amerikanischen Konferenz in Baltimore, auf der 1922 die Pan-American Association for the Advancement of Women gegründet wurde. Als Präsidentin wurde die Nordamerikanerin Carrie Chapman Catt, als Vizepräsidentin für Südamerika Bertha Lutz und als Vizepräsidentin für Nordamerika Hermilia Galindo aus Mexiko gewählt. 25 Die Tatsache, dass Bertha Lutz als Vizepräsidentin der panamerikanischen Union aus Baltimore zurückkam, stärkte ihr Prestige und damit das der Frauenbewegung - enorm. Sie gründete sogleich eine neue Vereinigung, die Federa^äo Brasileira pelo Progreso Femenino (FBPF), die nach nordamerikanischem Vorbild organisiert war. Mit der bekannten nordamerikanischen Feministin Carrie Chapman hatte sie in Baltimore vereinbart, dass diese zu der internationalen Tagung nach Rio de Janeiro kommen sollte, die, wie 1910 in Argentinien, auf das nationale Jubiläum der Erlangung der Unabhängigkeit rekurrieren konnte. Auch die brasilianischen Politiker wollten im Jahr des Centenario ihre Modernität und Fortschrittlichkeit unter Beweis stellen, und dazu gehörte neuerdings auch die Beachtung der weiblichen soziopolitischen Anliegen. Die Federaipäo organisierte einen mehrtägigen Kongress, zu dem neben brasilianischen Abgeordneten auch Delegierte aus Europa sowie Carrie Chapman kamen, die hier ihre in Baltimore geplante Südamerikatour begann. Wie wichtig diese prominente Unterstützung war und wie sehr männliche Politiker bemüht waren, ihre „Modernität" zu demonstrieren, zeigt sich daran, dass im Rahmen dieser Tagung der US-Botschafter in Brasilien ein Essen zu Ehren der Feministin gab, auf dem die brasilianischen Minister und viele Kongressabgeordnete nicht fehlen konnten, und Carrie Chapman anschließend als erste Frau überhaupt vom brasilianischen Senat empfangen wurde. Dies alles gab der Tagung der Frauen und der Federafäo einen enormen Zuwachs an Publizität und Respektabilität, was sich auch bei der anschließenden Reise von Carrie Chapman in einige brasilianische Bundesstaaten zeigte. Die Unterstützung aus den USA, so zeigte sich auch hier, galt bei den heimischen Politikern als Ausweis der Moderne, so dass man sich, ob man wollte oder nicht, auch mit den von den prominenten Gästen vertretenen Anliegen auseinandersetzen musste. 26 Bertha Lutz nutzte in der Folgezeit ihre gesellschaftliche Position und ihre Auslandkontakte, um politische Führer und die öffentliche Meinung für die Anliegen der Federafäo zu gewinnen. Ihre Beteiligung an verschiedenen Konferenzen der internationalen Wahlrechtsbewegung trugen ihr 1929 einen Sitz

25 26

Privileg der oberen Schichten, da diese weiter von privaten Institutionen getragen wurde. F. Miller: Latin American Women, S. 57. F. Miller: Latin American Women, S. 8 3 - 8 7 . J.E. Hahner: Emancipating the Female Sex, S. 138-142; S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 167 f., 176; F. Miller: Latin American Women, S. 8 4 - 8 8 .

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im Vorstand der internationalen Wahlrechtsallianz ein, was wiederum zu mehr Prestige und öffentlicher Aufmerksamkeit führte.27

Der Kampf um politische Rechte In den zwanziger Jahren stand bei den meisten Frauenverbänden in Lateinamerika die Erlangung staatsbürgerlicher Rechte ganz oben auf dem Programm, zumal die USA 1920 ihren Frauen politische Rechte gewährt hatten. Dies stärkte einmal mehr das Argument, dass es zu einer modernen Nation gehöre, auch dem weiblichen Teil der Bevölkerung politische Rechte zu gewähren. In Brasilien trug dies letztlich auch Früchte. Schon nach dem Staatsstreich vom 15. November 1889 hatte die bekannte Frauenzeitschrift O Sexo femenino, die schon seit längerem für mehr politische Rechte für Frauen eintrat, ihren Titel in O 15 do Novembro do Sexo Femenino geändert und damit den Anspruch der Frauen auf einen Platz in der neuen Republik deutlich gemacht. In der Folgezeit konzentrierte man sich dann allerdings zunächst auf die Bildung und die zivilen Rechte, was allerdings auch einen guten Ansatz für weitergehende Forderungen bot: Die brasilianische Verfassung von 1891 gewährte allen Bürgern über 21 Jahren das Wahlrecht, ausgenommen waren neben dem Ordensklerus und den Militärs nur Arme und Analphabeten. Die Frauen beriefen sich nun einerseits darauf, dass auch sie Bürger der Republik waren und, da die Verfassung Frauen von den politischen Rechten nicht explizit ausschloss, volle Bürgerrechte beanspruchen konnten - eine Strategie, die in fast allen lateinamerikanischen Ländern gefahren wurde, denn kein lateinamerikanischer Staat hatte in seinen Verfassungen im 19. Jahrhundert die Geschlechterfrage thematisiert.28 Andererseits konnten die Brasilianerinnen auf den Umstand verweisen, dass viele Frauen inzwischen über mehr Bildung verfügten, als das Gros der Männer aus der Unterschicht, viele von ihnen somit durchaus qualifiziert waren, politische Rechte auszuüben. Auch in Argentinien, wo die Verfassung ebenfalls nichts darüber sagte, ob das Bürgerrecht für beide Geschlechter gelten sollte oder nicht, war den Frauen das Wahlrecht - außer in einigen Städten des Hinterlandes - bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts immer mit dem Argument fehlender politischer Reife und Bildung vorenthalten worden. Dieses Argument zog jedoch angesichts der vielen Lehrerinnen und Akademikerinnen immer weniger, und Frauen versuchten zwischen 1919 und den frühen dreißiger Jahren mehrfach, durch die Organisation von eigenen Wahlen zu zeigen, dass sie hierzu durchaus in der Lage waren. Nach der Reform des Wahlrechtes von 1912, die das 27

28

S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 166-169; J.E. Hahner: Emancipating the Female Sex, S. 146. J.E. Hahner: Emancipating the Female Sex, S. 68-75; zu Argentinien vgl. A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 257-285.

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allgemeine, obligatorische und geheime männliche Wahlrecht durchsetzte, verwiesen sie immer wieder darauf, dass das Ziel einer Modernisierung und Erweiterung der politischen Partizipation, das man hiermit erreichen wollte, so lange nicht erreicht werden könne, wie Frauen von politischen Rechten ausgeschlossen blieben. Als aus den folgenden Wahlen im Jahr 1916 Hipólito Yrigoyen und seine Partei der Unión Cívica Radical als Sieger hervorgingen, hofften die Frauen, im Strom der allgemeinen Reformen ihre Anliegen durchsetzen zu können. Das Thema Frauenwahlrecht stand nun ständig auf der politischen Agenda, und es wurden Gesetzesinitiativen eingebracht, die sowohl das nationale als auch das kommunale Wahlrecht für Frauen anstrebten. Zuvor jedoch mussten einige juristische Hürden überwunden werden. Beispielsweise standen verheiratete Frauen laut Zivilgesetz unter der Vormundschaft ihres Mannes, und somit erschien eine freie Ausübung des Wahlrechts nicht möglich. Problematischer noch war eine Regelung, die Staatsbürgerrechte und Wehrdienst koppelte. Diese Klausel war 1912 eingeführt worden, um Manipulationen an den Wählerlisten zu verhindern, sie verkomplizierte nun aber die Frage nach den Staatsbürgerrechten für Frauen. Letztlich erreichten die Frauen wohl eine Revision der Zivilgesetzgebung (1926), aber keine politische Besserstellung, denn der Militärputsch von 1930 machte alle demokratischen Bestrebungen zunächst wieder zunichte, und die verschiedenen Frauengruppen konnten sich in den dreißiger Jahren zu keiner gemeinsamen Position durchringen. Das Wahlrecht erhielten die argentinischen Frauen erst 1947, als „Geschenk" von Juan Domingo Perón und seiner Frau Evita, einer erklärten Gegnerin der (inzwischen „traditionellen") argentinischen Feministinnen.29 Etwas überspitzt könnte man sagen, dass das Scheitern der politischen Modernisierung auch das Scheitern der eigentlich vergleichsweise starken argentinischen Frauenbewegung mit sich brachte. Die brasilianischen Frauen waren hingegen erfolgreicher. Brasilien gewährte zu Beginn des Jahres 193230 als zweites Land in Lateinamerika (nach Ecuador) den Frauen politische Rechte und Bertha Lutz und Carlota Pereira de Queiroz wurden Mitglieder einer Verfassung gebenden Versammlung. Aus diesem Anlass arbeitete Bertha Lutz ein Programm, die so genannten 13 Prinzipien,31 aus, von denen einiges 1934 in die brasilianische Verfassung einging. Die Verfassung wurde drei Jahre später allerdings durch den Putsch von Getúlio Vargas wieder außer Kraft gesetzt. 29

30 31

B. Potthast: Von Müttern und Machos, S. 301-305; dies.: Victoria Ocampo, S. 208 f., M. Navan-o: Evita, S. 183-199. Gleichzeitig wurde in Brasilien auch der Muttertag eingeführt. Sie umfassten vor allem Forderungen nach Gleichberechtigung und Wahlrecht für Frauen, dem Recht der Frauen, bei Heiraten ihre Nationalität zu behalten, nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, bezahltem Mutterschutz und dem Recht aller Frauen, öffentliche Ämter zu bekleiden. B. Lutz: 13 principios básicos, S. 38-40.

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Dem politisch so erfolgreichen brasilianischen Feminismus und Bertha Lutz wird manchmal vorgeworfen, zu elitär und nicht radikal genug gewesen zu sein. Man kann dagegenhalten, die Brasilianerinnen hätten diejenige Strategie gewählt, die sie am besten beherrschten und die ihnen die meiste Aussicht auf Erfolg zu bieten schien. „The competence of FBPF members in organizing, public speaking, and learning the rules of the political system earned feminists the respect and support of influential men. And the cultivation of links with international feminist organizations enhanced their legitimacy and prestige in the eyes of liberal congressmen, many of whom, eager to demonstrate their modernity and true liberalism, were easily persuaded to support the early feminist reforms".32

Der elitäre Lobbyismus und der Rückgriff auf den Modernisierungsdiskurs erwies sich jedenfalls in Brasilien und auch in Uruguay als erfolgreich, wo die Frauen ebenfalls eine auf Kooperation mit der Regierung angelegte Strategie verfolgten. Auch sie verwiesen darauf, dass die angestrebten sozioökonomischen Fortschritte nur erreicht werden könnten, wenn sie von einem großen Teil der Bevölkerung mitgetragen würden - und hierzu seien die Frauen unerlässlich. Mehr Rechte fiir Frauen wurden so zu einem integralen Bestandteil der Reformpolitik des Battlismo,33 Uruguay erteilte seinen Frauen ebenfalls 1932 volle Staatsbürgerrechte. Wie stark diese noch immer mit dem Projekt der Moderne verknüpft wurden, zeigt sich umgekehrt an Mahnungen mit Blick auf Argentinien, wie sie die uruguayische Ärztin und Feministin Paulina Luisi anlässlich eines Festaktes zu Ehren der Unión Argentina de Mujeres im Jahr 1938 formulierte: „Es incomprensible que la primera y más poderosa Nación de América Ibérica, tan evolucionada en su cultura, que dio el primer paso en la emancipación de las colonias de la madre patria, no haya franqueado aun esta última barrera de la reacción, que significa para su democracia una amputación inexplicable."34

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S.K.. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 176. A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 206 f., 32-35. Unter dem nach dem Präsidenten José Battle y Ordófiez (1903-1907, 1911-1915) genannten Battlismo wurden in Uruguay eine Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen sowie die Trennung von Staat und Kirche durchgesetzt. P. Luisi: La mujer en la democracia, S. 30; vgl. auch E. Quesada: La cuestión femenina, S. 36 f.

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Berufstätigkeit und Mutterschaft zwischen Tradition und Moderne Parallel zum Modernisierungsdiskurs setzten die Lateinamerikanerinnen allerdings auch auf andere, traditionell in ihren Kulturen verankerte Strukturen, vor allem auf die Wertschätzung der Frau als Mutter. Wie oben ausgeführt, wurde das Engagement der akademisch gebildeten Frauen in den Foren zum Schutz von Mutterschaft und Kindheit in der Unterschicht sowie zu Fragen der Bildung und Gesundheitspolitik zunächst mit ihrer eigenen zumindest potenziellen Mutterrolle und einer „natürlichen" weiblichen Kompetenz für diese Themen begründet. Damit hatten sie sich einen Einstieg in die öffentliche Sphäre verschafft, den sie in den folgenden Jahren konsequent nutzten und eine Reihe von Erfolgen vor allem im Bereich der Sozialgesetzgebung und des Mutterschutzes erzielten.35 Die Konzentration der Feministinnen auf Frageri von Mutterschutz und Erziehung sowie auf ein traditionelles Bild von Weiblichkeit war jedoch ein zweischneidiges Schwert. Die Verwissenschaftlichung von bis dahin genuin weiblichen Aufgaben wie Geburt, Ernährung und Erziehung habe auch immer „Vermännlichung" und eine Abwertung des traditionellen Wissens der Frauen bedeutet, so haben mehrere Autorinnen für Europa und Nordamerika argumentiert. Ihnen sei männliches Wissen aufoktroyiert worden, und dieses habe die Vorstellung genährt, Frauen könnten sich allein nicht gut genug um die ihnen obliegenden Aufgaben kümmern.36 Diese Einschätzung dürfte für Lateinamerika nur in eingeschränktem Maße zutreffen, denn hier beteiligten sich Frauen der Mittel- und Oberschicht erheblich an dieser „Verwissenschaftlichung" und formten sie mit. Im Fall der interamerikanischen Bewegung zum Schutz von Mutterschaft und Kindheit kann man sogar beobachten, dass sich die Lateinamerikanerinnen versuchten dagegen zu wehren, und sich, als die Bewegung zunehmend von männlichen Ärzten dominiert wurde, auf andere Bereiche konzentrierten.37 Es scheint, als seien die lateinamerikanischen Männer auf diesem Bereich sehr viel eher bereit gewesen, die politischen und wissenschaftlichen Aktivitäten der Frauen anzuerkennen als die US-amerikanischen.

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A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 75-84. Stellvertretend fur viele sei hier genannt: G. Duby / M. Perrot (Hg.): Historia de las mujeres en Occidente; vgl. darin neben den allgemeinen Artikeln auch die Beiträge von Mary Nash zur „Mirada Española": M. Nash: Mujeres en España y en Iberoamérica contemporánea, S. 620 f.; dies.: Maternidad, maternología y reforma eugènica en España, S. 627-640. Die gleiche Sichtweise fiir Brasilien vertritt S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 20 f. D.J. Guy: White Slavery, S. 43, 60.

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Allerdings hatte die Verherrlichung der Mutterschaft hier andere Nachteile. Sie konnte gegen die Frauen angewandt werden, die das Recht auf Scheidung und Abtreibung forderten, und diese Themen blieben in den meisten lateinamerikanischen Staaten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sehr umstritten, sofern sie überhaupt diskutiert wurden.38 Vor allem aber verhinderte die Idealisierung der Mutterrolle eine rationale Diskussion über die in Lateinamerika so verbreitete Doppelmoral und Fragen von weiblicher Sexualität und zementierte auf diese Weise traditionelle Verhältnisse.39 Doch selbst auf politischem Feld, wo man mit der Hervorhebung der Bedeutung der Mutterschaft relativ erfolgreich gewesen war, konnte diese gegen die Frauen gewendet werden. So konnte man unter Berufung auf die „anderen" weiblichen Fähigkeiten vor allem im sozialen Bereich zwar deren Beteiligung an der Politik und dem öffentlichen Leben einfordern, doch versuchten die Gegner dieser Entwicklung auch, den Spieß umzudrehen. Die Forderung nach der Gewährung von politischen Rechten für Frauen wiesen Juristen in Argentinien mehrfach mit dem Hinweis darauf ab, dass solchen Rechten für Frauen zwar theoretisch nichts entgegenstünde, dass dieses aber ein völlig überflüssiges Begehren sei, denn als Mütter und Lehrerinnen übten sie ja bereits höchste politische Rechte aus, indem sie Kinder zu guten Staatsbürgern erziehen könnten.40 Doch auch der Modernediskurs hatte seine Tücken. Während die Fabrikarbeiterinnen, die Heimarbeiterinnen und die Prostituierten nach wie vor eher als Problem und Objekt staatlicher Gesundheits- und Wohlfahrtspolitik wahrgenommen wurden, avancierten die angeblich unabhängigen jungen Mittelschichtfrauen in den neuen Berufen zum Symbol der Moderne. „Sozinha pela rua, com as mäos na dire£äo de seu auto; sozinha no passeio e no dancing da moda. Ea motja de hoje que ja näo precisa da mamäe vigilante, nem a senhora de companhia [...] Ja sabe o que fazer com as mäos, que säo igualmente

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Vgl. hierzu D. Barrancos: Problematic Modernity. A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 125-158. Besse sieht fiir Brasilien allerdings doch ein, wenn auch erst langfristig wirksames, Aufbrechen von Tabus und starren Rollenbildern, wenn sie schreibt: „The increasing availability of formerly unimaginable educational and professional opportunities for middle-class women, along with the elaboration of a new critical discourse concerning the social and economic position of women, provided necessary preconditions for the development of a new female consciousness and for radically new patterns of behaviour. Although marriage was not transformed overnight, postwar controversies over the institution opened up formerly ignored and taboo subjects to heated public debate, generated new sets of expectations, and provided support to women in their struggles to reshape their lives."; vgl. S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 57. A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 268.

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adestradas para empunhar a direfäo de um auto ou para mover-se sobre o teclado de urna máquina de escrever". 41

Lehrerinnen und Ärztinnen, die zumeist ebenso der Mittelklasse entstammten wie diejenigen, die neue weibliche Berufe ausübten wie Telegraphistinnen, Daktylographinnen oder Buchhalterinnen, wurden zum neuen Leitbild der „modernen Frau" und Stolz der Nation, doch geschah dies innerhalb etablierter Geschlechterstereotypen. Bestimmte neue Berufe, wie deijenige der Telefonistin, wurden geradezu eine ausschließlich weibliche Domäne, was möglicherweise auch damit zusammenhing, dass Frauen hier in einem abgeschlossenen, nicht-öffentlichen Raum arbeiteten, so dass alte Vorurteile über den Ehrverlust von Frauen durch Arbeit in der Öffentlichkeit nicht griffen.42 Andere Berufe, wie diejenigen der Lehrerin, Krankenschwester oder Ärztin, konnten als eine Ausweitung der Mutterrolle angesehen werden, die nun auf eine „wissenschaftliche" Basis und in den Dienst der Nation gestellt wurde. Allerdings lebten die alten Geschlechterstereotypen wieder auf, wenn die jungen Büroangestellten nun als fähige und fleißige Bienen dargestellt wurden, die mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Nation und die Gesellschaft leisteten. Gerade in den Mittelschichten wurde die Berufstätigkeit der Frauen als ein Weg deklariert, diese aus der Abhängigkeit von den Eltern zu befreien, ihnen eine Liebesheirat zu gestatten und die Gründung einer glücklichen Familie zu ermöglichen. Die Zahlen zeigen allerdings ein anderes Bild, denn die Löhne sowohl der Arbeiterinnen als auch der Daktylographinnen oder Telegraphistinnen reichten zu einem eigenständigen Leben bei weitem nicht aus. Dieser Diskurs implizierte darüber hinaus die Vorstellung, dass außerhäusliche Berufstätigkeit von Frauen nur ein Übergangsphänomen darstellte, und dass die Erfüllung von Weiblichkeit noch immer ausschließlich in der Mutterschaft gesehen wurde. Zwar hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg in den meisten Ländern die Vorstellung durchgesetzt, dass Bildung für Frauen und deren Tätigkeit in bestimmten, als geeignet betrachteten Berufen einer modernen Nation gut anstünden. Dies waren jedoch lediglich die Berufe, die mit den traditionellen Weiblichkeitsvorstellungen und der Fixierung auf die Mutter-

Zitat aus der Revista Feminina von 1928 in: M. Maluf / M.L. Mott: Recónditos do mundo femenino, S. 368. Vgl. eingehender hierzu S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 129-138. Eine brasilianische Zeitschrift erklärte diese auffällige Entwicklung allerdings mit „weiblicher Geschwätzigkeit", vgl. M. Maluf / M.L. Mott: Recónditos do mundo femenino, S. 403. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass arme Einwandererfamilien eine Anstellung in einer Fabrik für „sicherer" im Hinblick auf sexuelle Übergriffe ansahen als eine solche in privaten Haushalten. Vgl. T.R. Veccia: „My Duty asaWoman", S. 109.

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schaft vereinbar waren. Die außerhäusliche Erwerbstätigkeit hatte für viele Mittelschichtangehörige somit zwar ihr Stigma als Unterschichtphänomen verloren, das überkommene Frauenbild war dadurch aber nicht grundlegend verändert, sondern nur den „modernen Zeiten" angepasst worden. Diese Frauen wurden damit einerseits zu einem Symbol für Modernität, gleichzeitig aber auch eine Bastion der Stabilität gegen die destabilisierenden Effekte der industriellen Entwicklung.43 Es lassen sich aber auch deutliche Unterschiede innerhalb der verschiedenen Frauengruppen zum Thema weibliche Erwerbstätigkeit feststellen. Ärztinnen wie Alicia Moreau oder Paulina Luisi, die durch ihre Arbeit mit der Realität der Fabrikarbeiterinnen und der Prostituierten konfrontiert waren, wandten sich gegen die patriarchalische Haltung, mit der viele Frauen der Mittel- und Oberschicht versuchten, das Los der arbeitenden Unterschichtfrauen zu verbessern. Vor allem die sozialistischen Feministinnen wehrten sich zunehmend gegen eine idealisierende Sichtweise weiblicher Erwerbstätigkeit und begannen, auch die „Klassenfrage" zu diskutieren.44 Liberale Feministinnen stellten dagegen die individuellen Rechte und die Anerkennung der Frauen als gleichwertige Staatsbürgerinnen in den Vordergrund. In Brasilien, wo der „liberale" Feminismus dominierte, betonte man nicht nur die ökonomische, sondern auch die soziale Notwendigkeit von Frauenarbeit. Hierbei hatte man weniger die Arbeiterinnen im Auge als vielmehr die verheirateten Frauen der Mittel- und Oberschicht Brasiliens, denen man die Ausnutzung männlicher Instinkte vorwarf und ihre Zurückgezogenheit und Häuslichkeit zu einer Art geschlechtspezifischem Schmarotzertum erklärte.45 Dies bedeutete allerdings keine Abkehr von der Vorstellung, dass Ehe und Mutterschaft die höchste Erfüllung im Leben einer Frau seien.46 Mutterschaft war und blieb die natürliche und fast göttliche Erfüllung im Leben einer Frau, erst dadurch wurde sie geadelt. Gleichzeitig wurde Mutterschaft in den Status ei-

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A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 53-91 (insbesondere 57-59); 107 f.; S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 129-137, 161; J.E. Hahner: Emancipating the Female Sex, S. 24 f.; S. Menéndez: En búsqueda de las mujeres, S. 92. Die Anarchistinnen sollen an dieser Stelle nicht diskutiert werden, da sie aufgrund ihrer Positionen an den hier beschriebenen Entwicklungen kaum beteiligt waren und zudem nach der Repression zu Beginn des Jahrhunderts keine nennenswerte Rolle mehr spielten. Vgl. hierzu M. Molyneux: Women's Movements, S. 13-37; A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 264-266. S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 129 f.; F. Miller: Latin American Women, S. 84; vgl. auch B. Lutz: 13 principios básicos, S. 24. S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 129-140. Lediglich Bertha Lutz stellt hier eine Ausnahme dar, wenn sie erklärt, dass die Mutterschaft unter den obwaltenden Umständen nicht die Krone des Lebens, sondern eine Domenkrone und Quelle des Martyriums darstelle. Vgl. B. Lutz: 13 principios básicos, S. 31. Allerdings stand sie mit dieser Position ziemlich allein da.

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ner modernen Profession erhoben und damit zu einer lohnenden Anstrengung auch für moderne und anspruchsvolle Frauen. 47 Uneinig waren sich die Feministinnen verschiedener Richtungen allerdings über den geeigneten Weg, wie die Verbesserung der Lage und die Professionalisierung auch in den Unterschichten zu erreichen sei, und welche Maßnahmen oder Forderungen Priorität haben sollten. 48 Bis etwa zum Zweiten Weltkrieg überdeckte der Kampf um Bildung, würdige Arbeit und um die Gewährung gleicher ziviler und politischer Rechte wie die der Männer die Gräben. In den dreißiger Jahren traten die Differenzen dann zwar deutlicher hervor, gerieten aber bald wieder in den Hintergrund, weil angesichts des Aufkommens des Faschismus in Europa und Lateinamerika, angesichts des Chaco-Kriegs zwischen Bolivien und Paraguay (1932-1935), des Spanischen Bürgerkriegs und schließlich des Weltkriegs sich viele Feministinnen in pazifistischen Vereinigungen engagierten, und nun die Überzeugung von der „anderen weiblichen Mission" wieder stärker in den Vordergrund rückte. Jetzt wurde weniger die Mutterrolle als vielmehr die - damit einhergehende - Vorstellung von der Friedfertigkeit der Frauen betont - und zwar von praktisch allen Beteiligten. So schrieb selbst die ansonsten in dieser Hinsicht kritische Bertha Lutz in ihren 13principios básicos 1933: „Para que Servern as descobertas da sciencia, o perfei?oamento da technica, a i n s p i r a d o da arte genial; o que adenatam vinte seculos de christianismo, se as c i v i l i z a r e s masculinas aidna näo encontraram solufäo outra para as suas contendas do que degladiarem-se os homens uns aos outros de armas na mäo. As mulheres sao as guadiäs da vida, que plasmam cm seus corpos com a sua propria carne e que perpetuam nos transes da dór. Ingressando no secneario político, devem collocar a c o n s e r v a d o da vida acima de qualquer proposito de luta e de disen9äo.

Nós, as mulheres, clamamos pela banifäo da violencia dos estatuos básicos dos povos, porque a guerra é odiada pelas mäes".*9 In Argentinien pflichtete ihr die ebenfalls kinderlose liberale Feministin Victoria Ocampo wenig später bei: „La guerra es una abominación que despierta la rebeldía de la mujer mucho más que la del hombre, porque es la mujer quien con su propio cuerpo construye el del hombre. [...] Mientras la conciencia del hombre no se transforme - y en esta

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S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 101-104, 109, 170; A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 52. Zu den unterschiedlichen Strömungen und ihren Zielen vgl. ebd. S. 15-52, 257-266; S. Menéndez: En búsqueda de las mujeres, S. 12^44; J.E. Hahner: Emancipating the Female Sex, S. 161-169. B. Lutz: 13 principios básicos, S. 50 [Hervorhebung im Original].

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transformación uno de los factores principales ha de ser la mujer, madre no sólo por la carne y en la carne, sino madre por el espíritu y en el espiritó-, todas las grandes declaraciones pacifistas, los planes de acción abstractos, las Sociedades de las Naciones, en una palabra, fracasarán." 50

Der aus der Vorstellung der „anderen weiblichen Mission" abgeleitete Pazifismus einte Sozialistinnen und liberale, bürgerliche Frauen noch einmal oberflächlich, doch brach diese Koalition nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Letztlich setzte sich der liberale Feminismus mit seiner Betonung von Bildung und politischen Rechten durch. Die Situation der Frauen der unteren Schichten und die Klassenproblematik verbesserten sich jedoch nicht, so dass dem Begriff Feminismus in Lateinamerika seither immer der Hauch von Mittel- und Oberschichtphänomen angehaftet hat.51 In Argentinien wurde dieser Zug zur Zeit Evita Peróns besonders deutlich, doch lässt er sich auch für andere lateinamerikanische Länder bis zur ersten Weltfrauenkonferenz in Mexiko 1975 deutlich erkennen. Erst seit den achtziger Jahren ist hier ein Umdenken erfolgt.52

Feminismus und Moderne Die lateinamerikanischen Feministinnen vertraten mehrheitlich ein etwas anderes Bild der modernen Frau als die Nordamerikanerinnen und Europäerinnen, bei denen sich, wenn auch nicht ohne Diskussion, letztlich das Gleichheitspostulat durchgesetzt hatte. Die Lateinamerikanerinnen gingen den entgegengesetzten Weg, sie betonten nicht die Gleichheit der Geschlechter, sondern deren Unterschiedlichkeit; und die Forderung nach Gleichberechtigung wurde meist mit der Komplementarität der Fähigkeiten von Männern und Frauen sowie der gesellschaftlichen Bedeutung der weiblichen Aufgaben begründet. Dies konnte, wie sich am Beispiel Brasiliens und Uruguays zeigte, ein erfolgreicher Weg sein. Die Entscheidung hierfür wurde jedoch von den Frauen weniger als rationale, strategisch bedingte Selbstbeschränkung oder

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V. Ocampo: Die Frau, ihre Rechte und ihre Pflichten, S. 261 f. Ein halbes Jahrhundert später lässt sich diese Vorstellung angesichts des staatlichen Terrors in Argentinien bei den Müttern der Plaza de Mayo wieder erkennen, wenn sie sagen: „Mientras los políticos reparten promesas y mentiras, las madres vamos sembrando ideas y verdad. Las Madres preparamos la tierra para que los jóvenes puedan cosechar la libertad. Regamos cada surco, con lágrimas. Entregamos la vida sin guardarnos nada, porque las cadenas del alma se rompen con el amor. Sembramos ideales para cosechar esperanzas. Mientras la voz de un joven se eleve contra los poderosos, allí estarán las Madres: sembrando ideales y entregando la vida." Asociación de las Madres de Plaza de Mayo (Hg.): Historia de las Madres de la Plaza de Mayo, S. 103 f. B. Potthast: Von Müttern und Machos, S. 270. Ebd., S. 353-360.

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gar -Verleugnung angesehen, sondern entsprang ihrer Verwurzelung in tradierten kulturellen Vorstellungen. „Feminism oriented toward motherhood was more than a strategy to win favorable legislation, it was an essential component o f their cultural heritage: a tune that feminists not only knew how to play but wished to play." 53

Die iberisch-katholische Prägung der lateinamerikanischen Gesellschaften kann auch als Erklärung für die Frage hinzu gezogen werden, warum sich die meisten liberal-bürgerlichen Frauenbewegungen zunächst mehr auf die zivile als auf die politische Gleichberechtigung konzentrierten. Einerseits war die zivile Gleichstellung eine unabdingbare Voraussetzung fiir die politische, andererseits war die Zivilgesetzgebung der lateinamerikanischen Republiken erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts so weit modernisiert worden, dass die Trennung von Staat und Kirche durchgesetzt wurde und die Familie der Kontrolle des Staates und nicht mehr primär der Kontrolle der Kirche unterlag. Vor allem im Hinblick auf verheiratete Frauen bestanden jedoch auch in den neuen Gesetzbüchern noch immer starke Einschränkungen, die es erst einmal zu überwinden galt - nicht nur gegen den Widerstand männlicher Politiker, sondern vor allem der einflussreichen katholischen Kirche.54 Die Ausgangslage der lateinamerikanischen Feministinnen war somit eine andere als diejenige der Nordamerikanerinnen und Nordeuropäerinnen, sowohl was die soziokulturelle als auch was die politische Situation betraf. Ob dies von den Protagonistinnen auch so empfunden wurde, und die Unterschiede in Strategie und Zielen auch von der Vorstellung geprägt wurden, Lateinamerika sei eben (noch) nicht so modern wie die Industriestaaten, lässt sich beim augenblicklichen Stand der Forschung nicht beantworten. Versucht man der Frage nachzugehen, ob die Fokussierung der Feministinnen in Lateinamerika auf die Mutterschaft und ihre soziale Rolle letztlich zur Modernisierung der Gesellschaften beigetragen hat oder nicht, so muss die Antwort zwiespältig ausfallen. Einerseits haben die lateinamerikanischen Frauen damit sehr viel erreicht, wie sich vor allem an der Sozialgesetzgebung und den Mutterschutzbestimmungen in den Ländern des Cono Sur zeigt. Auch auf politischem Feld hat die Strategie, die traditionellen Vorstellungen von weiblicher Friedfertigkeit und Emotionalität als Argument zu nutzen, um eine stärkere Einbeziehung der Frauen in die Politik zu fordern, durchaus Früchte getragen, zumal auf diese Weise eine Konkurrenzsituation mit den Männern vermieden wurde. 53 54

A. Lavrin: Women, Feminism, and Social Change, S. 38. In Fragen der Ehescheidung und der Abtreibung setzten sich diese Konflikte mit der Kirche bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fort. Vgl. hierzu D. Barrancos: Problematic Modernity.

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Andererseits ist eine solche Funktionalisierung von Geschlechterstereotypen ein zweischneidiges Schwert, denn sie zementiert die bipolaren Vorstellungen und hat mit dazu beigetragen, dass Frauen nur in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens akzeptiert wurden wie im Erziehungs- und Gesundheitsbereich, die als eine Verlagerung der Mutterrolle in den öffentlichen Raum angesehen werden können. Dies schlägt sich bis heute in der Fächer- und Berufswahl lateinamerikanischer Studentinnen nieder sowie in der Möglichkeit des Aufstiegs in leitende Positionen in diesen, aber eben nur in diesen Sparten.55 Dennoch zeigt sich, dass gerade die Länder des Cono Sur und Südbrasilien, die unter anderem durch die Lobbyarbeit der Frauen ein modernes, beiden Geschlechtern offen stehendes Bildungssystem aufgebaut haben, am stärksten am Prozess der sozioökonomischen Modernisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts partizipierten. Bildungsreform und sozioökonomische Modernisierung sind untrennbar miteinander verbunden, und Frauen haben hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet. Auch der Beitrag der erwerbstätigen Frauen zur wirtschaftlichen Veränderung und Industrialisierung war größer als lange Zeit angenommen. Verschiedene Untersuchungen, die auch die informelle Arbeit der Frauen einbeziehen, kommen zum Schluss, dass dieser letztlich ebenso wichtig war wie derjenige der Männer. Allerdings blieb dieser Beitrag lange Zeit unbeachtet und die Erwerbstätigkeit verbesserte die Situation der Frauen selbst kaum, wie Besse für Brasilien konstatiert: „In practice, the inclusion o f middle- and upper-class women in the labor force probably benefited Brazil's economy more than it benefited women themselves. Only a small number o f women gained real satisfaction and independence from their work, whereas the booming economy gained a large efficient pool of easily exploitable labor that could be channelled into routine low-status jobs. Moreover, the entrance o f an elite of women into new, more prestigious careers only very gradually modified stereotypes of female .nature'." 56

Noch zwiespältiger fallt die Antwort im Hinblick auf den politischen Bereich aus. Einerseits konnten die Frauen in Lateinamerika durch ihre Aktivitäten zum Wahlrecht immer wieder auf die Defekte der damaligen Demokratien verweisen, letztlich vermochten sie aber doch wenig auszurichten, wenn sie keine männlichen Politiker fanden, die sich ihre Anliegen zu eigen machten. Gerade in Argentinien wiesen die Frauen nach der Wahlrechtsreform von 1912

56

Zur heutigen Situation, die allerdings die Frage der Führungspositionen nicht hinreichend berücksichtigt, vgl. J.W. Wilkie: Statistical Abstract of Latin America, Tabellen 610, 612, 619, 1308, S. 182, 184, 192, 416. Eine ältere, aber immer noch gute Studie zu dieser Frage für Chile ist E. Chaney: Supermadre. S.K. Besse: Restructuring Patriarchy, S. 162. Vgl. auch V. Stolcke: Coffee Planters, Workers, and Wives. Für Argentinien: DJ. Guy: Women, Peonage and Industrialization in Argentina; C. L. Frid de Silberstein: Immigrants and Female Work in Argentina.

Zwischen Tradition und Moderae

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immer wieder darauf hin, dass der Anspruch des allgemeinen Wahlrechtes erst eingelöst sei, wenn auch den Frauen dieses gewährt würde, und Frauen aller Staaten zogen immer wieder Parallelen zwischen ihren Rechten und den allgemeinen Menschenrechten, hatten damit jedoch letztlich nur im Bildungssektor Erfolg. Die politischen Strukturen Lateinamerikas sind nach wie vor stark männlich geprägt, nicht nur im Hinblick auf das zahlenmäßige Verhältnis der Geschlechter, sondern auch im Hinblick auf die politische Kultur und Rhetorik. Hier griff die Verbindung von Modemisierungsdiskurs und demjenigen über die „andere weibliche Mission" nicht mehr, und der „neue Feminismus", der sich ab den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika formierte, ist von dieser Verbindung abgerückt.

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Peter Fleer

KLEINBAUERN IN LATEINAMERIKA DIE MODERNE HERAUSFORDERUNG ODER DIE MODERNE HERAUSFORDERN?

Einleitung Am 15. August 1931 richtete eine Gruppe von Einwohnern aus der indianischen Gemeinde Chimaltenango des gleichnamigen Departements in Guatemala, eine Beschwerde an den Justizminister, weil sie der Departementsverwalter (Jefe Político) zu Bauarbeiten für die Erschließung der Region mit Elektrizität zwang.1 Fünf Tage später rechtfertigte der Jefe Político sein Vorgehen damit, dass das Unternehmen, welches mit dem Leitungsbau beauftragt war, nicht genügend freiwillige Arbeitskräfte finden könne und daher die Behörden um Unterstützung gebeten habe. Damit sich die Arbeiten nicht verzögerten, habe er dem Gesuch stattgegeben, dabei aber die vollziehenden Gemeindebehörden angewiesen, nur Leute zu Arbeitsleistungen zu zwingen, die keine dringenden landwirtschaftlichen Arbeiten zu verrichten hätten.2 Bereits am 22. August erfolgte die Antwort der Staatsanwaltschaft. Sie schützte die indianischen Beschwerdeführer und wies den Jefe Político an, in Zukunft solche Praktiken zu unterlassen, da sie gegen die Arbeitsfreiheit verstießen.3 Zwei Jahre später beschwerten sich die indianischen Einwohner (indígenas) von San Andrés Itzapa, einer Nachbargemeinde von Chimaltenago, in derselben Sache beim Staatspräsidenten. Offensichtlich hatte man sie zwar nicht zu Arbeitsleistungen, jedoch zur Bezahlung einer Sondersteuer gezwungen. Die Beschwerdeführer führten vor allem zwei Argumente ins Feld. Erstens würden sie, wären sie denn in der wirtschaftlichen Lage, die Erstellung von Wasser und Abwasserleitungen bis zu ihren Häusern vorziehen. Zweitens sei es ungerecht, von ihnen eine Abgabe für den Bau von Stromleitungen zu verlangen, da ohnehin nur die wohlhabende ladinische Bevölkerung von die-

2

3

Ramón Acán y compañeros an Ministerio de Gobernación y Justicia, 15. August 1931, Archivo General de Centroamérica, Ministerio de Gobernación y Justicia 1931, Legajo 30380. Jefe Político Chimaltenango an Ministerio de Gobernación y Justicia, 20. August 1931, Archivo General de Centroamérica, Ministerio de Gobernación y Justicia 1931, Legajo 30380. Fiscalía de Gobernación y Justicia an Jefe Político Chimaltengango, 22. August 1931, Archivo General de Centroamérica, Ministerio de Gobernación y Justicia 1931, Legajo 30380.

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sem Luxus profitieren könne.4 Die indígenas rekurrierten damit auf die in Guatemala herrschende ethnische Segregation zwischen Spanisch sprechenden weißen oder mestizischen ladinos und der indianischen Bevölkerung. Auch wenn im Einzelfall die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Gruppe nicht immer eindeutig ist, bezeichnet die Unterscheidung doch die scharfen sozialen Gegensätze und ausgeprägten Machtungleichgewichte innerhalb der guatemaltekischen Gesellschaft.5 Die Beispiele mögen das Aufeinandertreffen von Moderne in der Gestalt der Elektrizität und Tradition in Form des Widerstands der indianischen Bauern veranschaulichen. Dabei ist die Argumentation der Bauern nicht uninteressant, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass sie die Bittschrift nicht selbst verfasst haben, sondern die Dienste eines mestizischen Schreibers in Anspruch nahmen, der vermutlich seine eigenen Überlegungen und Begründungen in das Schreiben einfließen ließ. Es darf aber mit gutem Grund angenommen werden, dass die ungleiche Aufteilung von Kosten und Nutzen zwischen indianischer und ladinischer Bevölkerung den Bittstellern durchaus bewusst war. Hingegen ist zu vermuten, dass sie kaum von sich aus darauf gekommen wären, die Trink- und Abwasserversorgung ins Spiel zu bringen; allerdings möglicherweise weniger deshalb, weil sie sich deren Nutzen nicht bewusst gewesen wären, sondern wohl eher, weil ihnen der Gedanke, solches vom Staat zu fordern, völlig utopisch hätte erscheinen müssen.

Moderne, Modernisierung und der ausbleibende „Untergang des Bauerntums"6 Nicht nur in Guatemala, sondern in ganz Lateinamerika scheint das kleinbäuerliche Misstrauen gegenüber den Agenten der Moderne angesichts der kolonialen Vergangenheit und der unzimperlichen Methoden, mit denen Konservative wie Liberale im 19. Jahrhundert die Produktionsfaktoren Boden und Arbeit, die ja in gewissem Sinne den Kleinbauern „gehörten", in die kapitalistische Marktlogik zu integrieren suchten, nur zu berechtigt; dies um so mehr, als die Machthaber und wirtschaftlichen Eliten ihren „eigenen" Produktionsfaktor, Kapital, nur sehr zurückhaltend mobilisierten und kaum in langfristige Infrastrukturprojekte von allgemeinem Nutzen investierten. Die Geschichte 4

5

6

Los infrascritos indígenas de San Andrés Itzapa an Presidente de la República, 23. Februar 1933, Archivo General de Centroamérica, Ministerio de Gobernación y Justicia 1934, Legajo 30799; Los infrascritos indígenas de San Andrés Itzapa an Presidente de la República, 17. Mai 1933, Archivo General de Centroamérica, Ministerio de Gobernación y Justicia 1934, Legajo 30799. Vgl. in diesem Zusammenhang D.M. Nelson: A Finger in the Wound, S. 211-244; J. Hawkins: Inverse Images; C.A. Smith: Introduction, S. 3-6; R.N. Adams: Ethnic Images and Strategies, S. 143-152. E. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, S. 365.

Kleinbauern in Lateinamerika

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hatte die lateinamerikanischen Kleinbauern gelehrt, zwischen offensichtlichen Risiken und kaum wahrnehmbaren Chancen der Moderne abzuwägen. Die lateinamerikanische Historiographie hat verhältnismäßig spät begonnen, den Bauern, und insbesondere den Kleinbauern im Sinne des englischen Begriffs peasant, den ihnen gebührenden Platz einzuräumen. 7 Ernstzunehmende Studien sind erst seit den 1970er Jahren zu verzeichnen. 8 Selbst in der Agrargeschichte standen die Kleinbauern trotz ihres zahlenmäßigen Übergewichts nicht im Zentrum der Forschung. Dies mag einerseits daher kommen, dass die Lebenswelt der lateinamerikanischen Kleinbauern quellenmäßig schlecht zugänglich ist, andererseits aber auch an der Opferrolle, die ihnen von vornherein zugedacht wurde. Im europäischen Kontext bezeichnete Pierre Bourdieu die Bauern einmal als „classe objet". Damit meinte er nicht bloß die objektiven Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, in welchen die Bauern gewöhnlich standen, sondern auch die ideologische Dominierung ihrer Identität durch die Gesellschaft. Die bäuerliche Selbstwahrnehmung ist in dieser Perspektive nicht das Resultat eines eigenen Klassenbewusstseins, sondern das Produkt sozialer Objektivierungen über die Bauern. 9 Zumindest für Lateinamerika ist diese Feststellung in zweierlei Hinsicht zu relativieren. Auf der einen Seite ist der Klassenbegriff für die lateinamerikanischen Bauern generell wenig brauchbar, zum anderen blieb die ideologische Durchdringung der bäuerlichen Identität mit den Vorstellungen der dominierenden Schichten höchst unvollständig. Daraus ergab sich eine scheinbar widersprüchliche Situation, in der sich politische und wirtschaftliche Machtlosigkeit mit einem verhältnismäßig hohen Grad an kulturell-ideologischer Autonomie paarte. Dies galt besonders für die indigenen Kleinbauern, deren soziale Position Ausdruck von Herrschaftsbeziehungen war, die oft als „feudal" oder „semi-feudal" bezeichnet wurden. Eine Wortwahl, die insofern missverständlich ist, als damit impliziert wird, die Kleinbauern seien Teil vor-moderner residualer Strukturen. Modernisierungs-, und dependenztheoretische, sowie auch marxistische Ansätze gingen allesamt in mehr oder weniger unverhüllter Form von einer Dichotomie zwischen Tradition und Moderne aus, wobei Tradition weitgehend essentialistisch definiert wurde als unhistorisch, lokal und stagnierend. 7

8

9

Vgl. zur Begriffsdiskussion u.a. C. Wharton (Hg.): Subsistence Agriculture and Economic Development; E.J. Hobsbawm et al. (Hg.): Peasants in History; T. Shanin (Hg.): Peasants and Peasant Societies; E. Wolf: Peasants; A. Warman: Ensayos sobre el campesinado en México; J. Ennew et al.: Peasantry as an Economic Category; D. Thomer: L'économie paysanne; ders: Une théorie néo-populiste de l'économie paysanne; T. Brass: Popular Culture. In anderen Weltregionen setzte ein verstärktes historisches Interesse an den Kleinbauern vor allem bezüglich bäuerlicher Aufstände und Revolten früher ein. Vgl. S.J. Stern (Hg.): Resistance, Rebellion, and Consciousness in the Andean Peasant World, S. 18, Fußnote 2. P. Bourdieu: Une classe objet, S. 4.

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Dementsprechend sah man in den oft indianisch geprägten kleinbäuerlichen Gemeinschaften zum Niedergang verurteilte Relikte aus vormoderner Zeit, je nach Sichtweise wurde dieser Prozess als Assimilation, Akkulturation oder Extinktion beschrieben. Diese Ansätze standen seit den späten achtziger Jahren im Kreuzfeuer spät- beziehungsweise postmoderner Kritik, welche nicht zuletzt die Theoriediskussion innerhalb der Ethnologie stark beeinflusste. Die Kritik stellte insbesondere die modernistische Konvergenzannahme in Frage, wonach die unterschiedlich verfassten lokalen kleinbäuerlichen Gemeinschaften im Verlaufe des fortschreitenden Entwicklungs- und Modernisierungsprozesses zunehmend ihre sozialen und kulturellen Besonderheiten einbüßten und sich in der modernen Gesellschaft auflösten.10 Demgegenüber postulierten die Postmodernisten, dass es keine Kriterien gebe, um die historische Überlegenheit einer Kulturform von vornherein zu bestimmen. Freilich schössen sie in ihrer berechtigten Kritik an der modernistischen Teleologie übers Ziel hinaus, indem sie den Zusammenhang zwischen Phänomen und Begriff sozusagen auf den Kopf stellten und es von vornherein ablehnten, überhaupt noch objektivierbare Unterschiede zu unterstellen und unterschiedliche kulturelle Ausprägungen historisch zu verorten.11 Aber auch wenn man nicht so weit gehen will, lässt sich nicht leugnen, dass das herkömmliche Konzept der einen (europäischen) Moderae einen zu engen heuristischen Rahmen für ein adäquates Verständnis der globalen Dynamik der neueren Geschichte abgibt. Auch im Lichte neuerer kulturgeschichtlicher Ansätze muss die monistische Vorstellung der Moderne als ökonomistisch orientiertes Konzept relativiert werden. Dennoch soll hier zunächst vom herkömmlichen „modernen" Begriff der „Moderne" ausgegangen werden; nämlich als ein aus der Aufklärung herausgewachsenes Projekt, dessen rechtlich-politische Grundlagen auf den Ideen der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und der Zuschreibung sozialer Positionen aufgrund individueller Leistungen beruhen. In ökonomischer Hinsicht geht dieses Projekt mit einer sich ausdehnenden kapitalistischen Marktwirtschaft einher, die andere Formen sozialer Organisation, die mit ihr in Kontakt kommen, bedroht, aufsaugt, transformiert, dominiert. Kennzeichen dieser Wirtschaftsform ist eine innere Dynamik, die auf Wachstum und Entwicklung ausgerichtet ist und ständigen gesellschaftlichen Wandel mit einschließt. Mit der Herauslösung der Wirtschaft aus kleinräumigen gemeinschaftlichen Bedingtheiten und der Ausdehnung und Intensivierung des wirtschaftlichen Austausches entstehen nicht 10

"

Vgl. hierzu allgemein den anregenden Essay von Th. Nipperdey, der die Dialektik zwischen Einheit und Vielheit im Prozess der Modernisierung herausarbeitet: Einheit und Vielheit in der neueren Geschichte. T. Salman: The Locus of Dispersion, S. 5-8. Aus marxistischer Perspektive vgl. T. Brass: Latin American Peasants, S. 4 - 9 .

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bloß größere Märkte, sondern auch unter fortschreitender Säkularisierung umfassendere soziopolitische Gebilde wie Staat und Nation, deren soziales Substrat nun eine Gesellschaft darstellt, die im Grundsatz die Existenz legitimer unterschiedlicher Gruppeninteressen anerkennt und mit der Trennung der Gewalten, der Formierung politischer Parteien und der Einrichtung parlamentarischer Prozeduren moderne Formen der Konfliktlösung hervorbringt. Dieser Wandel schließt zwar den Fortbestand idiosynkratischer kultureller Grundmuster und mentaler Dispositionen nicht aus, dennoch setzt er gewisse Anpassungsleistungen an die Erfordernisse der Moderne voraus. Kulturen und Mentalitäten wurden von den Protagonisten der Moderne vor allem unter dem Aspekt der Kompatibilität mit der modernen Wirtschaftsweise und den nationalstaatlichen Legitimitätsansprüchen betrachtet. In dieser Hinsicht als dysfunktional wahrgenommene kulturelle Praktiken und Mentalitäten wurden bekämpft und neue moderne Traditionen „erfunden". Die Menschen hatten sich den Anforderungen von Lohnarbeit und Konsumgütermärkten zu fugen. Moderne Rechtssysteme und Bürokratien, öffentliche Schulen und die allgemeine Militärdienstpflicht waren die Mittel der Nationalstaaten zur Beschleunigung dieses Disziplinierungsprozesses. Aber auch die Ausweitung der politischen Partizipationsmöglichkeiten führte nicht nur zu einer besseren Abstimmung zwischen unterschiedlichen Interessengruppen und staatlicher Macht, sondern band die Menschen als Bürger enger in das nationalstaatliche Herrschaftssystem ein. 12 Obschon dieser Modernisierungsprozess im Einzelnen durchaus sehr verschiedene Gestalt annahm und keineswegs gleichförmig verlief, musste seine Dynamik doch den Eindruck erwecken, dass er unumkehrbar und gerichtet sei. Das modernisierungstheoretische Paradigma konstruierte daraus ein zeitliches Kontinuum zwischen Tradition und Moderne, das es einerseits erlaubte, Gesellschaftsformationen vergleichend uni-linear anzuordnen und andererseits Einzelaspekte den beiden Polen zuzuordnen; Industrialisierung und Urbanisierung galten als modern und modernisierend, kleinbäuerlich und latifundistisch strukturierte Agrarverhältnisse als rückständig und absterbend. Kleinbauern wurden in diesem Zusammenhang oft entweder als Hindernis für oder als Opfer von Modernisierung gesehen. In Lateinamerika ging etwa der Indigenismus von letzterer Prämisse aus, während erstere Ansicht sich beispielhaft etwa darin manifestierte, wenn etwa ein durchaus liberal gesinnter Angehöriger der guatemaltekischen Oberschicht die wirtschaftlichen Probleme seines Landes auf den vermeintlichen Konservatismus der indianischen Bevölkerung zurückführte und mit den Worten kommentierte: „Nos matan los indios". 13

13

Vgl. allgemein zu diesem Zusammenhang des „caging" M. Mann: The Sources of Social Power, S. 39^19, 67-69. H.H. Rodríguez Pastor: La antropología en el Perú, S. 23, 40 f.

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Schon eine oberflächliche Durchsicht der empirischen Literatur über das Kleinbauerntum zeigt den großen Einfluss des modernisierungstheoretischen Paradigmas. Dies drückt sich etwa in Buchtiteln aus, die vom „Ende der Bauern" künden: Beispielsweise heißt es da: The Peasant Betrayed, The Décliné of the Russian Peasant Houshold, The End of the Peasantry in Southeast Asia, Farewell to Peasant China oder Peasant Society under Siege. In offensichtlichem Widerspruch hierzu steht die Feststellung von Henri Mendras in seinem Klassiker Les sociétés paysannes, dass die kapitalistische Ausdehnung seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine - wie er es nennt - „paysanisation" mit sich brachte.14 Die Gleichzeitigkeit und scheinbare Gleichläufigkeit von Moderne und Ausdehnung des Kleinbauerntums liegt in der Relationalität des Begriffs selbst begründet. Spricht man von Kleinbauern, ist stets auch deren Umfeld mit angesprochen. Kleinbäuerliche Gesellschaften existieren per definitionem nie per se. Sie sind immer in übergeordnete Strukturen eingebettet, die sie dominieren und einen Teil ihres wirtschaftlichen Produkts - in welcher Form auch immer - abschöpfen.15 Indem sich die kapitalistische Wirtschaft weltweit ausdehnte, zog sie in Asien, Afrika und Lateinamerika immer mehr traditionelle Gesellschaften in ihren Bannkreis. Es waren gerade die daraus resultierenden Austauschbeziehungen, die aus letzteren kleinbäuerliche Gesellschaften machten. In der modernen Gesellschaft bilden die Kleinbauern die Dialektik des Modernisierungsprozesses selbst ab - ein Gesichtspunkt, der in der Diskussion oft vernachlässigt wird. Zahlreiche Studien betonen in diesem Zusammenhang die Ausrichtung der Kleinbauern auf Selbstversorgung und den Unabhängigkeitswillen der Dorfgemeinschaften. 16 Tatsächlich spielen diese Elemente eine zentrale Rolle in allen kleinbäuerlichen Gesellschaften. Sie sind jedoch nie absolut zu verstehen. Dies wird schon dadurch deutlich, dass der kleinbäuerliche Haushalt zwar die zentrale wirtschaftliche Einheit darstellt, sich jedoch die Idee der Selbstversorgung nicht auf diesen beschränkt, sondern stets die sozialen Voraussetzungen für die Sicherung der Subsistenz anerkennt. Diese umfassen nicht nur re-distributive Mechanismen innerhalb der Dorfgemeinschaft sondern auch minimalen wirtschaftlichen Austausch mit anderen Gemeinschaften und - in zunehmendem Maße - mit der (modernen) nationalen Gesellschaft, in die sie eingeordnet sind.17 Für den lateinamerikani-

14 15

16 17

H. Mendras: Les sociétés paysannes, S. 37 f. S.J. Stern: Resistance, Rebellion, and Consciousness in the Andean Peasant World, S.4. Eine allgemeine Beschreibung gibt H. Mendras: Les sociétés paysannes, S. 94-121. Der Ausdruck „nationale Gesellschaft" soll in diesem Zusammenhang nicht im Gegensatz zur kleinbäuerlichen Dorfgemeinschaft gesehen werden. Vielmehr bezeichnet er die größere soziale Einheit, in die die Kleinbauern durch vielfaltige Beziehungen eingebunden sind (vgl. hierzu die guatemaltekische Situation betreffend z.B. M. Nash: The

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sehen Kontext ließe sich beifügen, dass die kleinbäuerlichen Dorfgemeinschaften, auf die hier Bezug genommen wird, überhaupt erst durch den Kontakt mit der spanischen Kolonialmacht entstanden sind. Sie können daher nicht von vornherein als Ausdruck einer ahistorisch verstandenen Tradition gedeutet werden. Dennoch ist unverkennbar, dass die kleinbäuerliche Lebensweise in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zur Moderne stand. Die moderne Geschichte der Kleinbauern wurde denn auch meist als eine Geschichte des Widerstandes erzählt. In diesem Zusammenhang wurde immer wieder die ausgeprägte Immobilität der Dorfgemeinschaften herausgestrichen, die technischwirtschaftliche Innovation und sozialen Wandel kaum zuließen. Ganz besonders schien dies auf die indianischen Gemeinschaften zuzutreffen. Tatsächlich zielten die religiösen, sozialen und politischen Institutionen der Dorfgemeinschaften grundsätzlich auf die Perpetuierung des Status quo. Dies ist auch nicht weiter erstaunlich, da sie das Überleben der Mitglieder der Gemeinschaft unter prekären Bedingungen garantieren mussten. In einer solchen Situation der permanenten Unsicherheit musste Veränderung zunächst immer als Bedrohung empfunden werden. Daher waren die Dorfgemeinschaften auf die Einschränkung von Ungleichheit und die Vermeidung abweichenden Verhaltens angelegt. Gleichzeitig verursachten der zyklische Charakter der Landwirtschaft selbst und die Ausrichtung der Produktion auf den Eigenbedarf kaum Veränderungsdruck. Auf Bewahrung lief auch die besondere Bedeutung hinaus, die dem Boden als Lebensgrundlage zukam. Der starke Bezug der Dorfgemeinschaft auf ein bestimmtes Territorium, dessen Fruchtbarkeit es durch periodische Felderrotation zu erhalten galt, erschwerte sowohl räumliche wie zeitliche Mobilität. Soweit stimmt diese Beschreibung mit Darstellungen in der klassischen Anthropologie überein. Die geradezu paradigmatische Bezeichnung als „closed corporate communities" hat Eric Wolf geliefert, und Robert Redfield sprach von „little communities". 18 Andere haben stärker die marktmäßigen Austauschbeziehungen zwischen verschiedenen Dorfgemeinschaften betont. Sol Tax etwa hat die indianische Wirtschaft im Hochland Guatemalas als „penny capitalism" beschrieben. 19 Doch gleichgültig, welcher Aspekt in den

18

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Multiple Society in Economic Development, S. 826, und J. Hawkins: Inverse Images, S. 3-15). „Nationale Gesellschaft" wird hier Begriffen wie „dominierende" oder „übergeordnete" Gesellschaft vorgezogen, da er nicht von Vornherein eine wie auch immer geartete Hierarchie unterstellt. E. Wolf: Closed Corporate Communities in Mesoamerica and Central Java; ders.: The Vicissitudes of the Closed Corporate Peasant Community. R. Redfield: The Little Community. S. Tax: Penny Capitalism. Vgl. auch N.L. Whetten: Guatemala, S. 107-115; C. Smith, La evolución de los sistemas de mercado en el occidente de Guatemala.

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Vordergrund gestellt wurde, die Vorstellung einer grundlegenden Dichotomie zwischen den traditionellen Bauerngemeinschaften und den nationalen Gesellschaften der lateinamerikanischen Länder blieb unangetastet. Die Moderne wurde als etwas den Kleinbauern Fremdes wahrgenommen, das durch verschiedene Mechanismen und in unterschiedlichem Ausmaß auf sie einwirkte. Genauso vielfaltig wie die jeweiligen konkreten historischen Situationen waren die Reaktionen der Gemeinschaften auf den Anpassungsdruck der Moderne. Deren Stoßrichtung zielte jedoch stets in erster Linie auf die Erhaltung kleinbäuerlicher Eigenständigkeit. Insbesondere indigene Gemeinschaften konnten dabei auf ihre autochthone Kultur als gegen innen identitätsstifitende und gegen außen abgrenzende Kraft rekurrieren. Doch das Überdauern der kleinbäuerlichen Gemeinschaften in Lateinamerika war nicht nur ihrem hartnäckigen Widerstand gegen die negativen Einwirkungen der Moderne geschuldet. Es war ebenso sehr die lateinamerikanische Moderne selbst, die auf die systemstabilisierenden Subsistenz- und Reproduktionsleistungen der Kleinbauern nicht verzichten konnte. In diesem Sinn blieb gerade auch die lateinamerikanische eine „halbe Moderne". 20 Unter diesem Aspekt lassen sich die Kleinbauern auch als Teil jener sozialen Kräften verstehen, die Karl Polanyi als Ausdruck des Selbstschutzes der Gesellschaft gegen die (Selbst-)Zersetzungstendenzen des Modernisierungsprozesses im Namen der freien Marktwirtschaft deutete.21 Aber auch in dieser dialektisierenden Sichtweise bleibt der grundsätzliche Gegensatz zwischen traditionsverhafteten kleinbäuerlichen Gemeinschaften und der dynamischen modernen Gesellschaft bestehen. Die Konstruktion eines solchen Gegensatzes beruht auf der Überbetonung der sozialen Homogenität innerhalb der kleinbäuerlichen Gemeinschaften. Inzwischen hat sich jedoch die Erkenntnis durchgesetzt, dass es auch in scheinbar stark traditionsverhafteten Gemeinschaften ausgeprägte Unterschiede hinsichtlich des Zugangs zu wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Ressourcen gibt.22 Die daraus entstehenden individuellen oder gruppenspezifischen Interessenlagen bilden die Grundlage für unterschiedliche Wahrnehmungen bezüglich der Chancen und Risiken von Wandel. Es kann somit nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass in einer kleinbäuerlichen Gemeinschaft alle das gleiche Interesse an der Perpetuierung der Tradition hätten. Auch hier sind Stagnation und Wandel die Resultierenden aus einem multivektoriellen Kräftefeld, dessen Muster wesentlich durch die Machtverhältnisse innerhalb der Gemeinschaft mitbestimmt wird. Dass unter dem Strich die traditionsverhafteten Kräfte in kleinbäuerlichen Gesellschaften oft die Oberhand gewinnen, kann in

20 21 22

Vgl. z.B. U. Beck: Risikogesellschaft. K. Polanyi: The Great Transformation, S. 182-295. Vgl. z.B. H. Mendras: Les sociétés paysannes, S. 87.

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dieser Sichtweise nicht einfach auf kulturelle Grundmuster zurückgeführt werden, sondern ist a priori erklärungsbedürftig. Selbst wenn man den weiter oben skizzierten soziokulturellen und wirtschaftlichen Ansätzen durchaus Erklärungskraft für das Fehlen beziehungsweise Scheitern dynamisierender Kräfte, die als Antrieb für eine genuin kleinbäuerliche Moderne hätten fungieren können, zubilligt, so lassen sich die kleinbäuerlichen Reaktionen auf die an sie herangetragene Moderne nicht ohne den Einbezug der konkreten Macht- und Herrschaftsverhältnisse innerhalb der Gemeinschaften und zwischen diesen und der sie dominierenden nationalen Gesellschaft verstehen. Es geht somit im Grunde um die Fragen, wie Moderne an die Kleinbauern herantritt, wie die dadurch entstehenden Herausforderungen in der Gemeinschaft verarbeitet werden und wie deren Verhalten auf den Modernisierungsprozess als Herausforderung zurückwirkt.

Die Herausforderung(en) der Moderne Natürlich kann man sich über das Einsetzen der Moderne in Lateinamerika streiten. Aus der Perspektive der Kleinbauern begann sie im Verlaufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Wirkungen verstärkt zu entfalten. Die beschleunigte Weltmarktintegration der lateinamerikanischen Wirtschaften als Lieferanten von mineralischen und agrarischen Rohstoffen war mit einer intensivierten Ausbeutung der wirtschaftlichen Ressourcen verbunden. Die Kleinbauern waren davon in dreierlei Hinsicht unmittelbar betroffen. Erstens als „Eigentümer" von Boden, zweitens als Arbeitskräfte für den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur und die wachsenden Exportsektoren sowie drittens als Nahrungsmittelproduzenten für die zunehmende nicht-agrarische Bevölkerung. Kaum eine Rolle spielten die Kleinbauern hingegen als Konsumenten von Manufaktur- und Industriegütern. Zur Mobilisierung der wirtschaftlichen Ressourcen orientierten sich die lateinamerikanischen Eliten an liberalen politischen Ideen, die sie an die Stelle traditioneller Rechtsfiguren zu setzen suchten. Mehrheitlich einem positivistisch-technokratischen Weltbild verpflichtet, zielten sie in erster Linie darauf ab, das Privateigentum an Grund und Boden allgemein durchzusetzen und einen freien Arbeitsmarkt zu etablieren. Die entstehenden „modernen" Nationalstaaten waren zunächst durch die Behauptung des Souveränitätsanspruchs nach außen und später durch anhaltende innerelitäre Konflikte zwischen „Liberalen" und „Konservativen" nur begrenzt in der Lage, ihre modernen Prämissen kulturell in der Tiefe der ländlichen Bevölkerung zu verankern. Die Moderne trat somit nicht in der Gestalt der Dorfschule oder staatlicher Hygieneprogramme ins Blickfeld der lateinamerikanischen Kleinbauern, sondern selektiv in der Form konkreter wirtschaftlicher und politischer Interessen, personifiziert durch die Archetypen des militärischen caudillo, des politischen broker in der Gestalt des caci-

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que oder gamonal, des hacendado und des Arbeitskontraktors in der Gestalt des habilitador oder enganchador. Aus den eingangs erwähnten guatemaltekischen Beispielen kleinbäuerlichen Widerstands gegen ein von wirtschaftlichen Partikulärinteressen getriebenes Modernisierungsprojekt lassen sich zentrale Elemente der Feinmechanik solcher Prozesse herausschälen. In den eingangs geschilderten Fällen ergriff die lokale und regionale mestizische Oberschicht, die ladinos, die Gelegenheit, sich Zugang zu Elektrizität zu verschaffen. Sie konnte dabei auf die Unterstützung des Departementsverwalters zählen. Er teilte ihre Überzeugung, dass mit dem Elektrizitätsanschluss ein bedeutender Fortschritt für die Region und das Departement erzielt werde. Dass sie zur Verwirklichung des Projekts selbstverständlich auf die erzwungene Arbeitskraft der indigenen Kleinbauern zurückzugreifen suchten, kann nicht erstaunen. Sie folgten damit nicht nur einem tief verwurzelten kolonialen Muster, sondern setzten auf die kostengünstigste Methode. Inwieweit der spätere Versuch, statt der Arbeitskraft eine Steuer zu fordern, auf den abschlägigen Bescheid der Zentralverwaltung zurückging, ist quellenmäßig nicht dokumentiert. Auf jeden Fall zeigen die Beispiele, dass der kleinbäuerliche Beitrag zu Modernisierungsvorhaben - in welcher Form auch immer - von Bedeutung war. Je nach dem, wie die Kleinbauern darauf reagierten, je nach dem, wie sie es verstanden, Widerstand zu leisten oder gar von der Modernisierung zu profitieren, beeinflussten sie die Strategien der Eliten und wirkten auf den Gang der Moderne selbst zurück. Die Beispiele zeigen ein Weiteres: die wichtige Scharnierrolle, welche den lokalen und regionalen Eliten beim Kontakt der kleinbäuerlichen Gemeinschaften mit der Moderne zukam. Dabei waren die ersteren nicht bloß der verlängerte Arm der Zentralgewalt, sondern verfolgten vorab ihre eigenen Interessen, die durchaus nicht immer mit jenen der Regierung in Einklang stehen mussten. Vor allem aber kollidierten die Interessen der lokalen Eliten im Kontext des ländlichen Lateinamerikas in vielfaltiger Weise mit jenen der Kleinbauern. Die Konkurrenz um den Boden bildete dabei nur den augenfälligsten, aber nicht den einzigen Konfliktherd. Oft standen die Rollen der lokalen Eliten als Gläubiger, Arbeitgeber, monopolistische Händler, Mittelsmänner großer Exportbetriebe oder staatlich autorisierte Inhaber öffentlicher Ämter stärker im Zentrum der alltäglichen - mitunter nur latent vorhandenen - Auseinandersetzungen. Unter diesen Bedingungen kam es nur äußerst selten und meist nur kurzzeitig zu einer Verbündung zwischen lokalen Eliten und Kleinbauern zur Durchsetzung lokaler oder regionaler Interessen gegenüber der Zentralgewalt. Die zitierten Beispiele aus dem westlichen Hochland Guatemalas fallen in eine Zeit forcierter Modernisierung unter der Diktatur General Jorge Ubicos (1931-1944), des letzten der drei so genannten „liberalen Diktatoren" Guatemalas. Unter seiner selbst für guatemaltekische Verhältnisse außerordentlich

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repressiven Regierung wurden eine Reihe von Reformen umgesetzt, die seit der liberalen Machtübernahme durch General Justo Rufino Barrios 1871 immer wieder diskutiert, aber - wenn überhaupt - nur ansatzweise ins Werk gesetzt wurden. Die Reformen reichten von einer rationaleren Verwaltungsführung, über die allgemeine Einführung eines Personalausweises bis hin zu einem ehrgeizigen Straßenbauprogramm und der vollständigen Ablösung traditioneller schuldknechtschaftsähnlicher Arbeitsbeziehungen durch Lohnarbeit.23 Von diesen Maßnahmen wirkten sich insbesondere die Verschärfung und konsequente Durchsetzung der Arbeitspflicht im Straßenbau (Ley de Vialidad) und die Neuordnung der Arbeitsbeziehungen unmittelbar auf die Kleinbauern aus.24 Auf den ersten Blick verschärfte die ubiquistische Ley de Vialidad lediglich eine alte Praxis, bei genauerem Hinsehen stellte sie jedoch einen qualitativen Modernisierungsschritt dar, indem sie die Arbeitspflicht individualisierte. Im Gegensatz zu früher, als die Gemeinden bestimmte Kontingente an Arbeitskräften für den Straßenbau stellen mussten, stand nun jeder einzelne aufgrund eindeutiger gesetzlicher Bestimmungen unmittelbar gegenüber dem Staat in der Pflicht, eine bestimmte Anzahl Tage im Jahr im Straßenbau zu arbeiten. Die Modernisierung der Arbeitsbeziehungen im Kaffeesektor basierte auf dem Verbot der so genannten habilitaciones, den Vorschusszahlungen an die indianischen Kleinbauern im Hochland für zukünftige Arbeitsleistungen in den Kaffeefincas der so genannten boca costa (der mittleren Höhenlagen der zum Pazifik abfallenden Gebirgskette) und der Alta Verapaz. Dadurch wurden die Kaffeepflanzer gezwungen, ihre Arbeitskräfte auf der Grundlage von Lohnarbeit anzustellen. Den Befürchtungen der Pflanzer, ohne habilitaciones könnten insbesondere während der Erntezeit nicht ausreichend Arbeitskräfte rekrutiert werden, trug Ubico Rechnung, indem er flankierend ein neues massiv verschärftes Vagabundengesetz erließ, das die Kleinbauern in Abhängigkeit zur Fläche des selbstbewirtschafteten Landes zwang, bis zu 150 Tagen im Jahr gegen Lohn für Dritte zu arbeiten. Seit der Unabhängigkeit hatten sich die indigenen kleinbäuerlichen Gemeinschaften Guatemalas mehreren Schüben von Modernisierungsbestrebungen gegenüber gesehen. Allerdings waren die unmittelbaren Auswirkungen auf ihre ökonomische Basis, den gemeinschaftlichen Grundbesitz, und ihre traditionelle soziokulturelle Verfassung zunächst gering geblieben. Der entstehende liberale Staat war nicht in der Lage gewesen, die Autonomie der kleinbäuerlichen Gemeinden ernsthaft zu gefährden. Nach dem baldigen Scheitern des ersten liberalen Modernisierungsversuchs Ende der 1830er Jahre hatten die indigenen kleinbäuerlichen Dorfgemeinschaften sich unter

23

24

Vgl. S. Karlen: Paz, Progreso, Justicia y Honradez, S. 273-310; K.J. Grieb: Guatemalan Caudillo, S. 165-176. P. Fleer: Arbeitsmarkt und Herrschaftsapparat in Guatemala, S. 142-163.

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der folgenden langjährigen konservativen Herrschaft weitgehend auf sich selbst zurückziehen können. Allerdings trog der Schein des Stillstandes, den die politische Stabilität dieser Jahrzehnte hervorrief, denn es war eben diese Stabilität gewesen, die eine fortschreitende Konsolidierung der Staatsmacht möglich gemacht hatte.25 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte zudem der Kaffee die Cochenille als Hauptexportprodukt abzulösen begonnen. Der infolge der steigenden Nachfrage auf dem Weltmarkt rasch zunehmende Kaffeeanbau hatte zu einer dramatischen Erhöhung des Bedarfs an Land und Arbeitskräften für die Exportproduktion geführt. Der politische Umsturz von 1871, der wiederum die Liberalen an die Macht brachte, war eine Folge dieser Dynamik. Die neuen Machthaber nahmen im Interesse der Kaffeepflanzer-Elite weitgehende Reformen an die Hand, die endgültig mit den kolonialen Residuen brachen und die radikale Modernisierung der guatemaltekischen Gesellschaft anstrebten. Insbesondere beendeten sie nun auch de facto die unter den Konservativen in der Praxis weiter bestehende koloniale kulturelle Einhegung der indianischen Bevölkerung in eine república de indios, welche einerseits deren niedrigeren Rechtsstatus legitimiert, andererseits aber auch die ideologische Grundlage für die Autonomie der indianischen kleinbäuerlichen Gemeinschaften abgegeben hatte. Letztere waren von den Reformen der zweiten Generation von Liberalen vor allem in dreierlei Hinsicht betroffen. Die Reform des Bodenrechts, welche das gemeinrechtliche Grundeigentum abschaffte, überführte vor allem in den für den Kaffeeanbau geeigneten Zonen der boca cosía und der Alta Verapaz einen Großteil des kleinbäuerlichen Bodens in Privateigentum von großen und mittleren Plantagenbesitzern. Die Kleinbauern wurden auf die kargeren Böden des Hochlandes zurückgedrängt. Dort waren sie zwar dem unmittelbaren Angriff auf ihren Boden weniger stark ausgesetzt, aber ihre Lage blieb aufgrund der ihnen gegenüber praktizierten Rechtsdiskriminierung unsicher. Zudem unterlagen sie aus demographischen und ökologischen Gründen einem stetig fortschreitenden Prozess der Ressourcenkontraktion. Die zweite Stoßrichtung der liberalen Reformen zielte auf die kleinbäuerliche Arbeitskraft für die Kaffeeplantagen und öffentliche Infrastrukturbauten. Anders als beim Boden, wo die Liberalen das moderne Prinzip des Privateigentums durchzusetzen suchten, fielen die Maßnahmen in diesem Bereich pragmatisch aus und blieben weit davon entfernt, einen freien Arbeitsmarkt zu etablieren. Vielmehr basierten die Arbeitsbeziehungen überwiegend auf traditionellen Formen von Zwangsarbeit. In einer Situation latenter Knappheit an Arbeitskräften suchten sich die Kaffeepflanzer mittels schuldknechtschaftsähnlicher Patron-Klient-Beziehungen genügend Arbeitskräfte zu verschaf-

25

Vgl. R.L. Woodward: Rafael Carrera and the Emergence of the Republic of Guatemala; L. Gudmundson: Sociedad y politica; D. Sullivan-Gonzalez: Piety, Power, and Politics.

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fen.26 Beruhten im Fall der auf den Plantagen ansässigen colonos die Arbeitsverhältnisse auf den Nutzungsrechten an plantageneigenen Subsistenzparzellen, stand bei der Rekrutierung saisonaler Erntearbeiter deren Verschuldung gegenüber dem Patron im Vordergrund. In den ersten Jahren ihrer Herrschaft revitalisierten die Liberalen sogar mitunter koloniale Zwangsmethoden wie den mandamiento, der die kleinbäuerlichen Gemeinden zur Entsendung bestimmter Arbeitskontingente für die Kaffeepflanzer verpflichtete.27 Zur Rekrutierung von Arbeitskräften für die Kaffeeplantagen kam diese Methode zwar bald außer Gebrauch, fiir die Arbeit im staatlichen Straßenbau blieb sie aber bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts gängige Praxis. Als Drittes geriet die gewohnheitsrechtlich verankerte Selbstverwaltung der kleinbäuerlichen indigenen Gemeinden unter Druck. Zwar gehörte die Einschränkung der Autonomie indigener Gemeinschaften nicht ausdrücklich zum Reformprogramm der Liberalen, sie wurde aber von den lokalen ladinischen Eliten mit staatlicher Duldung vorangetrieben. Diese bedienten sich hierzu des Konzeptes der municipalidad mixta, das eine die Indigenen diskriminierende Quotenregelung bei der Besetzung der höchsten Gemeindeämter darstellte. Es liegt auf der Hand, dass die indianische Bevölkerung sich gegen die Einführung der municipalidad mixta zur Wehr setzte. Als die für guatemaltekische Verhältnisse vergleichsweise demokratisch gesinnte Regierung unter Ubicos Vorgänger Lázaro Chacón 1927 das Prinzip der municipalidad mixta für die Bürgermeister- und Gemeindesekretärwahlen in mehrheitlich indigenen Gemeinden für allgemeinverbindlich erklärte, formierte sich in den betroffenen Gemeinden erbitterter Widerstand.28 Die zahlreichen Bittschriften, die in einigen Fäl-

Mit der vorsichtigen Bezeichnung „schuldknechtschaftsähnlich" soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass der Begriff „Schuldknechtschaft" stark ideologisch aufgeladen und daher als analytische Kategorie problematisch ist. Zum Beispiel traf die Vorstellung von der lebenslänglichen, mitunter über Generationen reichenden Verschuldung und der damit einhergehenden faktischen Leibeigenschaft der Kleinbauern nur in den seltensten Fällen zu. Fruchtbarer als solche einseitig unter dem Aspekt der Ausbeutung stehenden Ansätze sind solche, die in den Patron-Klient-Netzwerken zwischen Großgrundbesitzern, Arbeitskontraktoren und Kleinbauern ein komplexes System von asymmetrischen sozialen Beziehungen vor dem Hintergrund einer „moral economy" sehen, die auf das Überleben von Gemeinschaften unter prekären Bedingungen ausgerichtet ist. Vgl. hierzu J. Scott: The Moral Economy of the Peasant; M. Mörner: The Spanish American Hacienda, S. 199 203; H.J. Nickel (Hg.): Paternalismo y economia moral en las haciendas mexicanas del Porfiriato; J. Swetnam: What Else did Indians Have to Do with Their Time, S. 90. 27

28

Vgl. z.B. McCreery: Rural Guatemala, S. 220-223. Über den Zusammenhang zwischen mandamientos und der Verschuldung der Kleinbauern vgl. ders.: An Odious Feudalism, S. 106-109; C.L. Jones: Guatemala Past and Present, S. 147-151; J. Cambranes: Coffee and Peasants, S. 99-103. P. Fleer: Arbeitsmarkt und Herrschaftsapparat in Guatemala, S. 87-95; J. Piel: ¿Fuera el estado del estado? S. 184.

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len von mehreren hundert Personen unterzeichnet waren, spiegeln in ihrer Form zwar durchaus die traditionellen Muster des kleinbäuerlichen Widerstandes, inhaltlich weisen sie aber darüber hinaus und stellen im Grunde (moderne) politische Forderungen dar. Es muss daher davor gewarnt werden, kleinbäuerlich-indigenen Protest zum Vornherein auf (vormoderne) unpolitische Widerstandsformen zu reduzieren.29 Vielmehr ist sorgfaltig zwischen der äußeren Form und der Stoßrichtung und Reichweite der Anliegen zu unterscheiden. Unter Ubico wurde das Amt des gewählten Bürgermeisters kurzerhand abgeschafft und die Gemeindeverwaltung einem von der Regierung ernannten intendente unterstellt, wodurch das Konzept der municipalidad mixta hinfallig wurde. Damit gewann die indianische Bevölkerung zwar nicht mehr Autonomie - ganz im Gegenteil: noch nie war ihr der Staat in Form eines permanent anwesenden Funktionärs, der auch als Friedensrichter amtete, so unmittelbar nahe getreten. Immerhin reduzierte das intendente-System auch den Handlungsspielraum der lokalen ladinischen Eliten, unter deren Willkür die indianische Bevölkerung am unmittelbarsten zu leiden hatte. Das nachhaltige Vordringen staatlicher Autorität in die ländlichen Kleinbauerngesellschaften war nicht allein das Resultat organisatorischer Reformen, sondern fußte ebenso sehr auf dem unter Ubico konsequent vorangetriebenen Ausbau moderner Kommunikationsmittel, konkret der Telegraphie und des Straßennetzes. Das intendente-System ist ein gutes Beispiel für die Ambivalenz, welche die ubiquistischen Reformen im Hinblick auf die ländliche Bevölkerung und insbesondere auf die indianischen Kleinbauern des Hochlandes auszeichnete. Auf der einen Seite verengten sich infolge wirksamerer zentralstaatlicher Kontrolle die Möglichkeiten traditioneller Formen der Verweigerung. Auf der anderen Seite hatten ihre gegen Übergriffe der lokalen Eliten gerichteten Petitionen an die Zentralverwaltung oder den Präsidenten persönlich durchaus Aussicht auf Erfolg - allerdings nur dann, wenn sie die Modalitäten des paternalistischen Herrschaftsstils des Präsidenten respektierten und in der Argumentation mit seiner grundlegenden politischen Ausrichtung kongruent waren. Da das guatemaltekische Rechtssystem auch unter Ubico korrupt und ethnisch-sozial diskriminierend blieb und die indianischen Kleinbauern des Hochlandes benachteiligte, konnten letztere unter Umgehung des Rechtsweges ihre Anliegen und Rechtsansprüche eher mittels Petitionen an die Zentralregierung beziehungsweise den Präsidenten durchsetzen. Petitionen boten gegenüber dem formalen Rechtsweg mehrere Vorteile. Abgesehen davon, dass die Kosten eines Rechtsstreits jene einer Petition um ein Mehrfaches 29

Vgl. hierzu auch J. Petras / H. Veitmeyer: The Peasantry and the State in Latin America, S. 54-56.

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überstiegen, waren die Dauer und der Ausgang eines juristischen Verfahrens naturgegeben nicht voraussehbar und daher die Kosten für Anwalts- und Gerichtskosten sowie finanzielle Folgen aus allfalligen Gegenklagen nicht kalkulierbar. Im Fall einer Petition war das „Prozessrisiko" entsprechend geringer. Bei negativem Ausgang drohten den Bittstellern keine Verfahrenskosten. Ein wesentlicher Vorteil der Petitionen gegenüber dem Rechtsweg war ferner die vergleichsweise rasche Entscheidfindung. Die Entscheide waren zudem eindeutig, das heißt der Petition wurde stattgegeben oder sie wurde abgelehnt, was bei Rechtsurteilen nicht immer der Fall zu sein brauchte. Ein weiterer, eher unterschwelliger Vorteil der Petitionen lag darin, dass selbst bei Ablehnung des Anliegens die Begründung des Entscheids gewisse allgemein verbindliche Leitplanken setzte, an die sich auch die lokalen Eliten halten mussten. Trotz dieser Vorteile gegenüber dem formalen Rechtsweg war der Aufwand für eine Petition erheblich. Die Kleinbauern mussten ihre Bittschriften von schreibkundigen ladinos auf besteuertem Stempelpapier verfassen lassen. Rechnet man zu diesen Auslagen noch die Reisekosten (mitunter waren mehrtägige Reisen in die Hauptstadt notwendig) hinzu, lässt sich leicht abschätzen, dass solche Petitionen mit erheblichen Geldauslagen für die Kleinbauern verbunden waren. Es erstaunt daher nicht, dass Bittschriften oft nicht von einzelnen, sondern von mehreren Personen zusammengestellt wurden. Hierzu waren Koordinationsleistungen innerhalb der kleinbäuerlichen Gemeinschaft nötig, für deren Kanalisierung die traditionellen Strukturen der Selbstverwaltung eine wichtige Rolle spielten. In den indigenen Gemeinschaften Guatemalas beruhten diese Strukturen auf religiösen Bruderschaften, den cofradías, und dem corgo-System der weltlichen Hierarchie, das Macht und Einfluss gemäß Anciennität und sozialem Prestige, welche durchaus auch eine wirtschaftliche Komponente mit einschlössen, zuteilte. Die obersten Würdenträger des cargo-Systems, die principales, hatten sich im Idealfall während ihres aktiven Lebens durch alle oder zumindest die wichtigsten unteren Chargen hochgedient. Die höheren Ränge dieser Hierarchie konnte nur erreichen, wer sich im öffentlichen Dienst bewährt hatte und über überdurchschnittliche ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen verfügte. Da die etablierten Würdenträger der traditionellen Hierarchien unter anderem als Vermittler und Unterhändler, aber auch im Zusammenhang des Vollzugs behördlicher Maßnahmen in vielschichtigen Beziehungen zur nationalen Gesellschaft standen, hatten sie im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Gemeinschaft einen Vorteil in Bezug auf das für das Erstellen von Bittschriften notwendige Vorgehenswissen. Insgesamt hatte die Privilegierung der kollektivierend wirkenden patronalen Herrschaftsmuster gegenüber dem individualisierenden formalen Rechtssystem die gleiche Wirkung wie die prekäre Subsistenzsituation der Kleinbauern und das rassistisch geprägte repressive Klima der Gewalt: Sie stärkte die traditionellen Hierarchien und deren Exponenten

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innerhalb der kleinbäuerlichen Gesellschaften. Unter diesen Bedingungen konnten sich abweichende auf Veränderung drängende Kräfte nur schwer formieren. 30 In Guatemala kam erst mit der demokratischen Revolution von 1944 Bewegung in diese Strukturen.31 In den zehn Jahren des politischen Frühlings 32 unter den Präsidenten Juan José Arévalo (1945-1951) und Jacobo Arbenz (1951-1954) sahen sich die kleinbäuerlichen Gemeinschaften erstmals mit Modernisierungsprozessen konfrontiert, die über die von partikulären Interessen geleiteten Ausbeutungs- und Herrschaftspraktiken hinauswiesen. Infolge der politischen Öffnung entstand auch auf lokaler Ebene eine demokratische Öffentlichkeit, in der unterschiedliche Parteien um die Gunst von Wählern buhlten. 33 Eine wichtige Rolle spielte in dieser Hinsicht auch das katholische Aktionsprogramm Acción católica in den Gemeinden. Das ursprünglich gegen die linksgerichteten, als marxistisch denunzierten demokratischen Regierungen gerichtete Programm bewirkte durch seine Basisarbeit eine nachhaltige sozialreformerische Bewusstseinsbildung. 34 Infolge dieser Entwicklungen konnten innerhalb der kleinbäuerlichen Gemeinschaften neue soziale und politische Brüche entstehen, die mitunter zu offenen Konflikten zwischen konservativen und reformerischen Kräften führten. Zusammen mit der Beendigung der systematischen Repression gegenüber den Kleinbauern, dem besseren Zugang zum formalen Rechtssystem und wirtschaftlichen Reformbestrebungen, die eine Besserstellung der Kleinbauern und Landlosen anstrebten, löste die Demokratisierung in den kleinbäuerlichen Gemeinschaften eine emanzipatorische Dynamik aus, die die traditionellen Hierarchien unterlief und reformorientierte Kräfte stärkte. Dadurch wurde das Ringen um Tradition und Moderne unmittelbar in die kleinbäuerlichen Gemeinschaften hineingetragen, wodurch die internen Konfliktpotenziale zunahmen, denn nicht alle sahen sich als Gewinner. In den Augen der traditionellen Würdenträger stellten die Veränderungen nicht selten eine Bedrohung ihrer sozialen und politischen Machtposition dar. 35

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Ein aktuelles Beispiel fur die historische Bedingtheit des Konservatismus von kleinbäuerlich-indigenen Gemeinschaften liefert für Bolivien J. McNeish: Globalization and the Reinvention of Andean Tradition, S. 254-262. P. Gleijeses: Shattered Hope, S. 30-50, 134-170. Der Ausdruck geht zurück auf M. Galich: Diez años de primavera. Ch.D. Brockett: Transformación agraria y conflicto político en Guatemala, S. 5. V. Perera: Unfinished Conquest, S. 66-67. Die Ambiguität der Reformen für die indianischen Gemeinschaften wird betont von J. Handy: The Corporate Community. Vgl. auch R. Wasserstrom: Revolution in Guatemala, S. 443-455; C. Smith: Local History in Global Context, S. 193-220; W.G. Lovell: Superviventes de la conquista; C.D. Brockett: Land, Power and Poverty, S. 108; C. Wagley: The Peasant, S. 32-34; G.W. Hill / M. Gollas: La economía y sociedad mini-

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Die Machtkoalition aus Militär und Exportoligarchie, die nach dem gewaltsamen Sturz der Regierung Arbenz das Land bis 1986 autoritär regierte und auch nach dem Übergang zu demokratischen Regierungswechseln die Schlüsselpositionen des oligarchischen Machtkartells besetzte, schloss die politischen Freiräume, ohne die sozioökonomischen und ideologischen Brüche einzuebnen. Die Jahrzehnte des Bürgerkriegs (1961-1996), unter dem vor allem die indigene Bevölkerung zu leiden hatte, verschärften die Konflikte innerhalb der kleinbäuerlichen Gemeinschaften und drückten ihnen den Stempel der Gewalt auf. Der gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Vernichtungsfeldzug der Armee zwang Hunderttausende zur Flucht nach Mexiko oder zum Überleben in klandestinen Widerstandsgemeinschaften. Die zurückgebliebene Bevölkerung in den Konfliktzonen wurde in Wehrdörfern konzentriert und stand unter der unmittelbaren Kontrolle der Militärbehörden. Sie konnte sich der ideologischen Indoktrination und gewaltsam erpresster Kollaboration kaum entziehen. Die Männer wurden zum Dienst in bewaffneten Selbstverteidigungsmilizen (Patrullas de Autodefensa Civil, PAC) gezwungen. Nach dem Ende des Bürgerkriegs standen sich zurückgekehrte Flüchtlinge und Zurückgebliebene, ehemalige Guerrillakämpfer und vermeintliche oder tatsächliche Kollaborateure der Armee, Angehörige der PAC und die unbewaffnete Bevölkerung in vielschichtigen Interessenkonflikten gegenüber.36 Die Nachwirkungen des Bürgerkriegstraumas sind zehn Jahre nach Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen Regierung und Guerilla noch kaum abgeklungen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Umsetzung der Verträge, welche die Besserstellung der indigenen kleinbäuerlichen Bevölkerung anstreben, von den traditionellen Eliten mit allen Mitteln bekämpft wird und die Regierung weder willens noch in der Lage ist, wirksame Schritte in diese Richtung einzuleiten.37 Die außergewöhnliche Brutalität, mit der der Krieg gegen die indigenkleinbäuerliche Bevölkerung geführt wurde, ist nicht allein auf den tief verwurzelten Rassismus in weiten Teilen der mestizisch-weißen guatemaltekischen Mittel- und Oberschichten zurückzuführen, sondern nur im Kontext einer zunehmenden sozialen und politischen Mobilisation der Kleinbauern infolge der demokratischen Öffnung zwischen 1944 und 1954, der verstärkten Präsenz marxistischer Guerrillabewegungen auf dem Land in den siebziger Jahren und vereinzelter befreiungstheologisch motivierter Basisbewegungen

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fundista del indigena guatemalteco del altiplano, S. 102 f.; R.N. Adams: Encuesta sobre los ladinos de Guatemala, S. 164. Vgl. zum obigen Abschnitt B. Manz: Paradise in Ashes, S. 183-223. Für einen allgemeinen Überblick über die Periode des Bürgerkriegs sind immer noch lesenswert S. Jonas: The Battle for Guatemala; R. M. Carmack (Hg.): Harvest of Violence. Vgl. zu den Schwierigkeiten der Umsetzung der Friedensverträge S. Jonas: Of Centaurs and Doves.

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zu verstehen. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung des verheerenden Erdbebens von 1976, in dessen Gefolge ausländische Hilfsorganisationen nicht nur Not- und Wiederaufbauhilfe leisteten, sondern ihre eigenen „modernen" emanzipatorischen Vorstellungen von transnationaler Solidarität in die kleinbäuerlichen Gemeinschaften hineintrugen. Eine grundlegend andere Vorstellung von Emanzipation transportierten die zahlreichen US-amerikanischen evangelikalen Freikirchen und Glaubensgemeinschafen, die sich ebenfalls seit den siebziger Jahren in rasantem Tempo bis in die entlegensten Dörfer ausbreiteten. Der calvinistischen Heilslehre verpflichtet, verkörperten sie in geradezu paradigmatischer Weise die „protestantische Ethik" im Sinne Webers. Ausdrücklich wandten sich diese evangelikalen Glaubensgemeinschaften gegen linke, Sozialrevolutionäre und katholische Solidaritätsbewegungen. Emanzipation war in ihren Augen nicht Sache von Solidarität, sondern das Resultat persönlicher Anstrengung jedes Einzelnen. Ihre Überzeugung, dass Unterdrückung und Armut nicht politische und gesellschaftliche Phänomene darstellten, sondern allein individuellem Fehlverhalten zuzuschreiben seien, trug das Ihre zur Legitimierung des staatlichen Terrors bei. Ihre offene Ablehnung der traditionellen, teilweise auf atavistischen Glaubensvorstellungen beruhenden, kleinbäuerlichen Kultur öffnete neue Gräben innerhalb der Gemeinschaften. Verschärft wurden diese Spaltungstendenzen noch dadurch, dass am selbem Ort mehrere sich gegenseitig konkurrenzierende evangelikale Kirchen aktiv waren. Selbst wenn die moderne Geschichte Guatemalas im lateinamerikanischen Vergleich von außergewöhnlicher Repression und Gewalt gekennzeichnet war, sahen sich auch andernorts die Kleinbauern ähnlichen Grundmustern der Moderne gegenüber. Dies wird in einer vergleichenden Betrachtung unmittelbar deutlich. Zumindest in Ländern, die eine bedeutende indigen-kleinbäuerliche Bevölkerung besitzen, sind bei aller Verschiedenheit der sozioökonomischen, politischen und kulturellen Voraussetzungen und der konkreten historischen Verläufe doch immer wieder ähnliche Phänomene zu erkennen. Letztere lassen sich hinsichtlich der Kleinbauern auf eine grundlegende Problematik der Moderne in Lateinamerika zurückfuhren: die Mobilisierung der Produktionsfaktoren Boden und Arbeit zur Steigerung von Produktion und Handel. Wurde dieser Prozess in Guatemala allein von der Exportlandwirtschaft angetrieben, gab es zum Beispiel in Nordmexiko einen gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder an Dynamik gewinnenden Bergbausektor, der allerdings insgesamt das Übergewicht der Landwirtschaft nicht zu brechen vermochte. Demgegenüber standen Länder wie Chile, Bolivien und Peru, in denen der Bergbau im Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung stand oder diese doch maßgeblich beeinflusste. Das zentrale Hochland Perus mit dem Bergbaugebiet von Cerro de Pasco bietet sich als Vergleichsbeispiel zur agrarischen Ent-

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wicklung im westlichen Hochland Guatemalas an, trat hier doch eine Moderne in den Gesichtskreis indianisch-kleinbäuerlicher Gemeinschaften, deren Ansprüche auf Land und Arbeit sich von jenen rein agrarischer Regionen in verschiedener Hinsicht unterschieden.38 Die Ursachen dieser Unterschiede lassen sich jedoch nicht einfach auf das Vorhandensein eines Bergbausektors zurückfuhren. Die Region Cerro de Pasco hatte während der Kolonialzeit zu den wichtigsten spanischen Bergbauzentren gehört. Infolge der Unabhängigkeitskriege, politischer Instabilität und regionaler Konflikte geriet der Bergbau im 19. Jahrhundert zwar in eine Phase der Stagnation, blieb aber zumindest im regionalen Maßstab ein wichtiger Wirtschaftssektor. Dennoch unterschied sich die Situation der kleinbäuerlichen Gemeinschaften um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht grundlegend von jener in Guatemala. Hier wie dort spürten diese den Druck auf das von ihnen genutzte Land, auch wenn die Landenteignung im zentralen Hochland von Peru nie das Ausmaß und die Systematik erreichte wie in Guatemala nach 1871. Hier wie dort dienten Zwang und asymmetrische Patron-Klient-Beziehungen, die auf der Verschuldung der Kleinbauern beruhten, zur Rekrutierung von in ihrer Mehrheit saisonalen Arbeitskräften für die Arbeit in kommerziellen Betrieben. Hier wie dort spielte eine Schicht von Händlern eine wichtige Rolle als Mittelsmänner zwischen den kapitalistischen Sektoren und den subsistenzorientierten Kleinbauern. Als in Peru nach dem Pazifikkrieg (1879-1883) ein anhaltender nationaler Konsolidierungsprozess einsetzte, begann die Wirtschaft sich auf breiter Front zu erholen.39 In den subtropischen Gebieten begannen die großen haciendas die Zuckerrohrproduktion wieder aufzunehmen, und ehrgeizige Kolonisationsprojekte erschlossen neues Agrarland. Investitionen in Straßen- und Eisenbahnbau belebten den Handel und verbesserten den Anschluss der betroffenen Regionen an die Weltmärkte. Am nachhaltigsten wirkte sich diese Entwicklung auf den Bergbau aus. Die Kupferproduktion begann den Silberabbau, der in den 1890er Jahren wegen fallender Weltmarktpreise in eine Krise geriet, zu überflügeln. Im Vergleich zum Silberabbau verlangte die Kupferproduktion eine viel komplexere Infrastruktur, die nur durch eine Ausdehnung der Finanzierungsmöglichkeiten bereitgestellt werden konnte. Es bedurfte der Fertigstellung der Eisenbahnlinie nach Oroya, welche die Region mit den Exporthäfen in Lima verband, und der Inbetriebnahme einer Kupferschmelzhütte durch

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Die Region Cerro de Pasco ist ein anschauliches Beispiel für die allgemeine Entwicklung des Bergbaus in Lateinamerika seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, vgl. J.R. Fisher: Wirtschaft und Demographie, S. 401. Die folgenden Ausfuhrungen über das zentrale Hochland Perus stützen sich auf die hervorragende Regionalstudie von F.E. Malion: The Defense of Community in Peru's Central Highlands.

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amerikanische Investoren, um ab 1895 eine nachhaltige Steigerung des Kupferabbaus zu ermöglichen. Diese Dynamik, die durch den Bau der Hauptverbindungsstraße zwischen dem zentralen Hochland und den Gummiproduktionsregionen des Urwaldes im Nordosten und dem Hafen von Callao an der Pazifikküste unterstützt wurde, reichte zwar nicht aus, die Austauschbeziehungen zwischen den kapitalistischen Sektoren und den Kleinbauerngemeinschaften des zentralen Hochlandes grundlegend zu verändern, sie intensivierte jedoch die traditionellen Formen der Arbeitskräfterekrutierung und bestehende Landkonflikte. Die Migration von Kleinbauern in die Bergbauzentren nahm deutlich zu, blieb aber weiterhin saisonal. Der wirtschaftliche und kulturelle Lebensmittelpunkt der Arbeitsmigranten lag weiterhin in ihren Herkunftsdörfern. Zugleich führten die zunehmende Nachfrage in den Bergbauzentren und die verbesserten Verkehrsverbindungen zu einer Steigerung des Handels und der kommerziellen Agrarproduktion. In der Folge nahm der Druck auf das Land der kleinbäuerlichen Gemeinschaften zu, ohne jedoch deren Subsistenzbasis tatsächlich zu gefährden. Die nachhaltigste Wirkung dieser wirtschaftlichen Dynamisierung auf die kleinbäuerlichen Gemeinschaften bestand in der beschleunigten sozialen Differenzierung innerhalb der Dorfbevölkerung. Anders als in Guatemala, wo lediglich eine ladinische Mittelschicht davon profitierte, bot die wirtschaftliche Modernisierung im zentralen Hochland Perus eine breitere Palette von Bereicherungsmöglichkeiten, von denen auch indianische Kleinbauern zu profitieren wussten. Sei es als Unterkontraktor bei der Arbeitskräfterekrutierung, sei es als Kleinhändler oder als politischer broker begannen einzelne Kleinbauern kommerziellen Erfolg in Statusgewinne innerhalb der Gemeinschaft umzumünzen. Solche soziokulturellen Unterschiede und daraus resultierende Interessengegensätze innerhalb der Dorfgemeinschaften waren zwar nichts grundlegend Neues, die in die Dörfer hineingetragene Kommerzialisierung und Monetarisierung drohte jedoch traditionelle Ausgleichsmechanismen, die eben diese Unterschiede auf ein den Subsistenzzielen der Gemeinschaft adäquates Maß einzuschränken suchten, zu unterlaufen und neue Logiken der Macht- und Statusverteilung einzuführen. Die Dynamik dieser Modernisierungsschübe blieb jedoch insofern beschränkt, als sich die Akteure innerhalb traditioneller Herrschafts- und Austauschbeziehungen bewegten. Dies zeigte sich besonders deutlich bei den Arbeitsbeziehungen, die nach wie vor auf Patronagenetzwerken beruhten, die unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Effizienz unzuverlässig waren und hohe Reibungsverluste verursachten. Die Arbeitsvermittler (enganchadores) verlangten hohe Kommissionen, waren aber oft nicht in der Lage oder willens, die Arbeitskräfte pünktlich zur Verfügung zu stellen. Mitunter verwendeten sie das von den Minenbesitzern oder hacendados zum Zweck der Arbeitskräfterekrutierung vorgeschossene Geld zwischenzeitlich für eigene geschäft-

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liehe Transaktionen. Die Arbeitskräfte ihrerseits waren nicht einfach Opfer dieses ungerechten, auf Gewalt und großen Machtdifferenzen beruhenden Systems. Sie verstanden es durchaus, im Rahmen ihrer durch das Repressionspotenzial des Staates und der Solidität ihrer eigenen Subsistenzgrundlage bestimmten Handlungsspielräume die Situation der Arbeitskräfteknappheit zu ihren Gunsten auszunutzen und die konkurrierenden Arbeitgeber gegeneinander auszuspielen.40 An dieser Situation änderte sich auch nach der Jahrhundertwende nichts Grundlegendes, als sinkende Kupfer- und Kaffeepreise und zunehmende technische Schwierigkeiten bei der Kupferförderung die gesamte regionale Wirtschaft in eine Krise stießen. Zahlreiche lokale Minenbesitzer gaben ihre Betriebe auf, in der Landwirtschaft stellten die hacendados zumindest teilweise auf den Anbau von Nahrungsmitteln für den Verkauf in der Region oder in Lima um. Der Rückzug der lokalen Eliten aus den kommerziellen Exportgeschäften begünstigte ausländische Investoren mit ungleich stabilerer Kapitalbasis, die im Bergbau weiterhin längerfristige Gewinnchancen sahen. 1902 gründeten US-amerikanische Investoren die Cerro de Pasco Investment Company, die in wenigen Jahrzehnten schließlich unter dem Namen Cerro de Pasco Copper Corporation zu einem der größten Industriebetriebe Lateinamerikas anwachsen und die Geschicke der ganzen Region entscheidend beeinflussen sollte. Die Unternehmung modernisierte und rationalisierte nicht nur die Kupferförderung, sondern finanzierte neue Eisenbahnlinien, welche unter anderem die Kupferproduktionszentren besser mit den nahe gelegenen Kohlebergwerken verband. Tatsächlich gelang es der Cerro der Pasco Copper Corporation, innerhalb von nur fünf Jahren die meisten strukturellen und technischen Hindernisse zu überwinden, welche die peruanischen Bergbauunternehmer während über eines Jahrhunderts vergeblich versucht hatten, aus dem Weg zu räumen. Der exponentielle Anstieg in der Kupferproduktion hatte nachhaltige Auswirkungen auf die Wirtschaft der ganzen Region. Die lokalen Eliten fanden im Handel und der Landwirtschaft rentable Geschäftsfelder. Einen besonderen Aufschwung erlebte die seit langem darbende Viehzucht. Um die beträchtlichen Investitionen aufzubringen und die Risiken zu mindern, schlössen sich jeweils mehrere hacendados zu Aktiengesellschaften zusammen. Für die Kleinbauern verschärften sich infolge der wirtschaftlichen Dy-

40

Vgl. zu den Formen des alltäglichen Widerstands die bahnbrechenden Arbeiten von J.C. Scott: Weapons of the Weak; ders.: Domination and the Arts of Resistance; sowie J. C. Scott / B. J. Tria Kerkvliet (Hg.): Everyday Forms of Peasant Resistance in South-East Asia; A. Turton: Patrolling the Middle-Ground. In ihrer vergleichenden Studie verschiedener Regionen in Peru und Mexiko arbeitet F.E. Mallon die für den kleinbäuerlichen Widerstand bestimmenden Rahmenbedingungen beispielhaft heraus: Peasant and Nation, S. 230-242. Vgl. auch H.A. Landsberger / C.N. Hewitt: Ten Sources of Weakness and Cleavage in Latin American Peasant Movements.

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namik die bereits bekannten Trends. Die Landspekulation hatte eine weitere Kommerzialisierung des Gemeindelandes zur Folge. Das soziale Gefalle innerhalb der Gemeinden wuchs, indem die reicheren Gemeindemitglieder ihren Besitzstand mit Landkäufen absichern konnten. Die ärmeren Kleinbauern migrierten infolge der abnehmenden Nutzungsmöglichkeiten an gemeinschaftlichem Land und dem infolge der zunehmenden Kommerzialisierung steigenden Geldbedarf vermehrt zur Arbeit in den Minen. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich zwischen diesen sozial differenzierenden Trends von Akkumulation und Proletarisierung eine Entwicklung abzuzeichnen begann, welche die individuelle soziale Mobilität der Kleinbauern erhöhte. Der wirtschaftliche Aufschwung schuf nicht nur eine breite Palette von Erwerbsmöglichkeiten, sondern bot den Arbeitern in bestimmten Bereichen wie etwa der Kohleproduktion, der Kupferverhüttung oder dem Eisenbahntransport Chancen, neue Qualifikationen zu erwerben und mit der Zeit besser bezahlte Arbeiten auszuführen. Damit begann sich die Entwicklung im zentralen Hochland Perus von jener in Guatemala nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern auch qualitativ zu unterscheiden. Individuelle auf Erwerbsarbeit basierende Mobilität entfaltete für die Kleinbauern in Guatemala erst nach 1945 für kurze Zeit spürbare Wirkungen. Im Klima der reaktionären Repression nach der Machtübernahme durch das Militär nach 1954 blieb sozialer Aufstieg für die Kleinbauern bis in die 1980er Jahre die Ausnahme. Trotz der von der Cerro de Pasco Copper Corporation vorangetriebenen technischen und organisatorischen Modernisierung änderte sich im Bereich der Arbeitsbeziehungen vorerst an den traditionellen Rekrutierungsmethoden nichts. Die gestiegene Nachfrage nach Arbeitskräften in den Kupferminen führte zu einer Intensivierung der bestehenden enganche-Netzwerke. Der Staat engagierte sich konsequenter in der Durchsetzung der enganche-Verträge. Unter anderem unterstützte er die Arbeitgeber nun stärker als früher bei der Verfolgung flüchtiger Arbeitskräfte. Aus der Sicht der Kleinbauern bedeutete dies eine Einschränkung ihrer Handlungsspielräume und eine Zunahme von Missbräuchen und Gewalttätigkeiten seitens der Behörden und der enganchadores. Auch der Charakter der Anstellungsverhältnisse in den Kupferminen veränderte sich nicht grundlegend und beruhte weiterhin auf der saisonalen Migration von ungelernten Arbeitskräften aus den kleinbäuerlichen Gemeinschaften. Was sich veränderte, waren die Arbeitsbedingungen selbst. Diese waren geprägt von steigendem Leistungsdruck, zunehmender Repression und, infolge des gesteigerten Arbeitsrhythmus und der immer größeren Fördertiefen, erhöhten Unfallrisiken. Diese Entwicklung, die zwar mit einer bisher unbekannten Dynamik voranschritt, im Grunde aber traditionelle soziokulturelle Muster fortschrieb, erhielt erst in den 1920er Jahren eine grundlegend neue Richtung, wodurch die kleinbäuerlichen Gemeinschaften einem radikalen Wandel unterworfen

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wurden. Der zählebige Schwebezustand zwischen zunehmendem Druck auf die kleinbäuerliche Lebensweise, der beschränkten Öffnung neuer prekärer Erwerbsmöglichkeiten und der erfolgreichen, aber immer schwieriger werdenden Verteidigung von Freiräumen innerhalb der Dorfgemeinschaften verlor zusehends seine Grundlage. Bereits gegen Ende der vorhergehenden Dekade hatte sich die Cerro de Pasco Copper Corporation vor allem aufgrund betriebswirtschaftlicher Überlegungen gezwungen gesehen, die Arbeitsbeziehungen mit den kleinbäuerlichen saisonalen Migranten auf eine neue Grundlage zu stellen. Allein die Größe des Unternehmens und die immer komplexer werdenden Betriebsabläufe verlangten nach einer besser ausgebildeten und stabileren Arbeiterschaft. Nach fünfjähriger Planungs- und Bauzeit nahm das Unternehmen schließlich 1922 einen neuen Kupferschmelzofen von bisher unbekannten Ausmaßen in Oroya in Betrieb. Zwischen 1920 und 1930 konnte das Unternehmen die Kupferproduktion um gut 50% steigern.41 Der OroyaSchmelzofen symbolisierte einen organisatorisch-technologischen Modernisierungssprung, der alle bisherigen Veränderungsprozesse bezüglich Geschwindigkeit und Reichweite in den Schatten stellte. Die sprunghafte Erhöhung der Verarbeitungskapazitäten wirkte sich auf die Förderung von Kupfererz und die Transportleistungen der Eisenbahnen ebenso aus wie auf die zuliefernden Sektoren des Handels und der Landwirtschaft. Die vollständig durchindustrialisierte Produktion und der erhöhte Koordinationsbedarf innerhalb der Unternehmung und nach außen schuf neue, anspruchsvollere Stellen in Produktion, Verwaltung und Führungspositionen, für die gut qualifizierte, fest angestellte Arbeitskräfte gebraucht wurden. Für die zuverlässige Anwerbung solcher „modernen" Arbeitskräfte war das traditionelle enganche-System untauglich. Die Cerro de Pasco Copper Corporation ging daher dazu über, die Arbeitskräfte direkt anzuwerben und gegen Lohn einzustellen. Die Vorschusszahlungen an die enganchadores für die saisonale Arbeitskräfterekrutierung verloren rasch an Bedeutung. Die Umstellung auf Lohnarbeit wurde durch den seit Jahrzehnten fortschreitenden Prozess der Proletarisierung der Mehrheit der Kleinbauernfamilien begünstigt. Die Zahl der ärmeren Kleinbauern, deren Zugang zu Agrarland derart eingeschränkt war, dass das Überleben der Familie auch durch zeitlich beschränkte Arbeitsmigration nicht mehr zu gewährleisten war, nahm in den zwanziger Jahren beschleunigt zu. Es mag als eine Zynik der Moderne gelten, dass hierzu auch der neue Schmelzofen in Oroya beitrug, indem wegen des ungefilterten Ausstoßes großer Mengen von Giftstoffen und Schwermetallen in die Luft Agrarland und Weideflächen in einem weiten Umkreis unbrauchbar wurden. Für die Kleinbauernfamilien bedeutete der fortschreitende Landverlust eine Veränderung des Faktorverhältnisses innerhalb ihrer Haushalte. Auch während der saisonalen Ar-

41

P.F. Klaren: The Origins of Modern Peru, S. 606.

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beitsspitzen in ihrem Familienbetrieb waren nicht mehr alle verfugbaren Arbeitskräfte in der Familie nötig, wodurch sich die Migrationszyklen verlängerten. Immer häufiger blieben Arbeitsmigranten ihren Dörfern nun für mehrere Jahre fern oder bauten sich gänzlich eine neue Existenz in den Bergbauzentren auf. Nebst diesen „Push-Faktoren" erzeugte die neue Politik der Cerro de Pasco Copper Corporation auch „Pull-Faktoren". Im Gegensatz zu saisonalen ungelernten Migranten zahlten sich im Fall von qualifizierten permanenten Arbeitskräften Investitionen in die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in den Bergbauzentren auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen aus. Die Unternehmung begann denn auch mit dem Bau von Wohnungen und Schulen und verbesserte die medizinische Versorgung für die Familien der Arbeitskräfte. Die langfristige oder permanente Migration wirkte unmittelbar auf die kleinbäuerlichen Gemeinschaften zurück. Die Migranten verloren zusehends den Bezug zur Dorfgemeinschaft. Weil sie nicht mehr in der Lage waren, ihre kommunalen Pflichten in öffentlichen Ämtern oder bei gemeinschaftlichen Arbeiten zu erfüllen, liefen sie Gefahr, auch kommunale Rechte, insbesondere jene bezüglich der Nutzung des Kommunallandes, zu verlieren. Dieser Zusammenhang war mit ein Grund, dass Migranten oder Auswanderer an ihren neuen Wohnorten Unterstützungskomitees gründeten und zum Teil beträchtliche Geldsummen an ihre Heimatgemeinden überwiesen. Dadurch wandelte sich ihre Beziehung zur heimatlichen Dorfgemeinschaft. Sie hatte nicht mehr den Charakter einer auf persönlichen Pflichten und Rechten beruhenden alltäglich erfahrbaren Bindung zwischen Individuum und Gemeinschaft, sondern trug zunehmend moderne Züge einer abstrakten Ableitung von Ansprüchen aus monetären Abgeltungen. Die zusätzlichen Mittel in den Gemeindekassen und die neuen Lebenserfahrungen von Rückkehrern weckten in den Kleinbauerngemeinden den Anspruch, an den Wohlstandsgewinnen der Moderne teilzuhaben. In der Folge initiierten die Gemeindebehörden zahlreiche Infrastrukturprojekte. Sie erneuerten zum Beispiel die Dorfzentren, bauten Schulen und Straßen oder investierten sogar in die Elektrifizierung ihrer Gemeinden. Da diese Vorhaben mit den Zahlungen der Migranten allein nicht zu finanzieren waren, erhöhten viele Gemeinden die kommunalen Abgaben oder die gemeinschaftlichen Arbeitspflichten, nicht selten mussten sie sogar Kommunalland verkaufen - beides Maßnahmen, die in erster Linie die ärmeren Familien empfindlich trafen, indem sie den Geldbedarf erhöhten und gleichzeitig die Nutzung von Gemeindeland reduzierten. Diese Entwicklungen gingen nicht nur auf die Neuausrichtung der Politik der Cerro de Pasco Copper Corporation zu Beginn der 1920er Jahre zurück, sondern standen im Kontext eines nationalen Modernisierungsschubs unter der elfjährigen Herrschaft von Augusto B. Leguia (1919-1930). Fußend auf einer neuen, 1920 erlassenen Verfassung, nahm Leguia Reformen an die

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Hand, die dem Staat eine zentrale Rolle in der Förderung der kapitalistischen Entwicklung Perus zudachte. 42 Zum Modernisierungsprogramm der Regierung gehörten der Ausbau des Schul- und Gesundheitswesens ebenso wie Verbesserungen bei der staatlichen Sozialhilfe und Investitionen in die öffentliche Infrastruktur. 43 Auf die Kleinbauern des zentralen Hochlandes hatten vor allem zwei Reformen unmittelbare Auswirkungen. In der 1920er-Verfassung wurden die indianischen Gemeinden rechtlich anerkannt und der Regierung die zentrale Vermittlerrolle zwischen ihnen und der nationalen Gesellschaft zugeschrieben. Zweitens erließ Leguia, gleich wie Ubico in Guatemala ein Jahrzehnt später, ein Gesetz, das alle Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren zu zwölf Tagen Arbeitsdienst im Straßenbau verpflichtete (Ley de Conscripción Vial). Und gleich wie in Guatemala waren es in erster Linie die indianischen Kleinbauern, die am stärksten von dieser Dienstpflicht betroffen waren. Beide Reformen beschleunigten die Veränderungsprozesse in den kleinbäuerlichen Gemeinschaften und damit letztlich deren Einbindung in die sich entwickelnde kapitalistische Wirtschaft. Interessant ist in dieser Hinsicht vor allem der im Zusammenhang des peruanischen Indigenismus stehende, auf Verfassungsebene festgeschriebene besondere Rechtsstatus der indianischen Bevölkerung und der Schutz der Integrität des Kommunallandes der Kleinbauerngemeinden. Leguia hatte zu Beginn seiner Herrschaft die Unterschichten nicht aus Überzeugung, sondern aus machtpolitischen Erwägungen gegen seine politischen Gegner umworben. Nachdem er seine Herrschaft abgesichert hatte, zeigte er kein Interesse mehr an der Umsetzung der Reform und setzte den zuvor eigens zu diesem Zweck geschaffenen Behörden enge Grenzen oder löste sie wieder auf. Dennoch wirkte sich der progressive Impetus auf die indianisch-kleinbäuerliche Bevölkerung aus, indem er emanzipatorische Erwartungen geweckt hatte, welche die politische Mobilisierung der Kleinbauern begünstigte. Es entstanden zahlreiche indianische Organisationen, die sich unter den Vorzeichen des in der Linken stark verankerten Indigenismus oft mit nicht-indigenen, urban geprägten Gewerkschaften und Oppositionsbewegungen zusammenschlössen. Mit der damit einhergehenden Radikalisierung veränderten sich die kleinbäuerlichen Widerstandsformen und Forderungen. Bittschriften an die Regierung und individuelle Vermeidungsstrategien gegen unmittelbar erfahrene Missbräuche wurden nun abgelöst oder zumindest ergänzt von Streiks und Massendemonstrationen gegen den OroyaSchmelzofen oder das Straßenbaugesetz. Neben traditionelle Forderungen nach Abschaffung des gamonalismo und der Restituierung von enteignetem Gemeindeland traten nun politische Forderungen wie etwa jene nach der Trennung von Kirche und Staat, der Befreiung der indianischen Rasse oder

42 43

Ebd., S. 631-633. L. Taylor: Peru, S. 772 f.

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der die Unantastbarkeit individueller Freiheitsrechte. Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass am Ende des Jahrzehnts und während der Krise der dreißiger Jahre viele politisch radikalisierte Kleinbauern den neu gegründeten linken Parteien wie der APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana) und der Kommunistischen Partei beitraten.

Die Dynamik der Moderne Für die kleinbäuerlichen Gemeinschaften des zentralen Hochlandes von Peru stellten die 1920er Jahre einen Wendepunkt dar, der die Grundzüge des weiteren Verlaufs des peruanischen Modernisierungspfads festlegte. Bereits die tief greifende Krise der 1930er Jahre machte jedoch deutlich, dass für die Kleinbauern die Chancen und Risiken der Moderae nicht nur ungleich zwischen Arm und Reich verteilt waren, sondern dass letztere insgesamt überwogen. Die instabile wirtschaftliche und politische Entwicklung Perus bis heute verunmöglichte die vollständige Integration der Mehrheit der freigesetzten Arbeitskräfte in die formelle kapitalistische Wirtschaft. Für jene peruanischen Kleinbauern, die überhaupt noch eine Wahl haben, sind die Risiken, die kleinbäuerliche Existenz vollständig aufzugeben und ihr Glück als Arbeitskräfte in den Industrie- und Bergbauzentren oder den Städten zu suchen, ungleich höher als die Chancen an den Wohlstandsgewinnen der modernen Gesellschaft zu partizipieren. Unter diesen Bedingungen ist das zähe Überleben der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft als Teil der peruanischen Moderne zu verstehen, auch wenn die absolute Zahl jener, die auf dem Land keine Überlebensgrundlage mehr haben, ständig zunimmt. In diesem Sinne lassen sich zwischen den Kleinbauern des zentralen Hochlandes von Peru und des westlichen Hochlandes von Guatemala durchaus Parallelen ausmachen. Der Hinweis auf solche Parallelen mag insofern von Interesse sein, als er gewisse allgemeine Grundprobleme der Moderne anzusprechen erlaubt, er greift indessen zu kurz, weil er auf einer essenzialistischen Vorstellung der kleinbäuerlichen Familienwirtschaft beruht, wie sie in den 1920er Jahren idealtypisch von Alexander Chayanov beschrieben worden ist.44 Bezieht man die je eigenen historischen Verläufe in die Betrachtung mit ein und richtet man das Augenmerk auf den kulturell vermittelten Wandel innerhalb der kleinbäuerlichen Gemeinschaften, treten Unterschiede zu Tage, welche der Dynamik der Moderne in ihren konkreten historischen Zusammenhängen deutlichere Konturen verleihen. In dieser Hinsicht ist die Zeitspanne zwischen circa 1910 und 1950 von besonderem Interesse, weil sich in beiden Ländern in dieser Periode der Wandel gleichsam verdichtete und qualitative Kippeffekte auslöste. Dabei fallt auf, dass die Durchdringung der kleinbäuerlichen Gemeinschaften mit

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Vgl. D. Thorner et al. (Hg.): Chayanov on the Theory of Peasant Economy.

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Elementen der Moderne im zentralen Hochland von Peru früher einsetzte, rascher voranschritt und sich unmittelbarer innerhalb der Gemeinschaften niederschlug. Dies hatte vor allem politische (Indigenismus) und wirtschaftliche (starke Konzentration wirtschaftlicher Macht in einem ausländischen Unternehmen) Gründe. Der Modernisierungsdruck in den zwanziger Jahren hatte vielschichtige Auswirkungen auf das soziale Gefiige der indianisch-kleinbäuerlichen Gemeinschaften (soziale Mobilität und Differenzierung). Dadurch begannen sich kulturelle Wertvorstellungen und Praxen leichter zu verflüssigen als in Guatemala, wo die schärfere ethnische Segregation kulturelle Beharrungstendenzen eher stärkte als sie zu unterlaufen. Insgesamt blieben in Guatemala die Kontaktstellen der kleinbäuerlichen Gemeinschaften mit der Moderne beschränkter als im zentralen Hochland von Peru. Dies hatte auch damit zu tun, dass der Bergbau weniger unmittelbar wegen des Eigentums an Boden in Konflikt mit den kleinbäuerlichen Dorfgemeinschaften geriet als der Agrarexportsektor. In Guatemala entfaltete der Kampf um kommunalen Landbesitz und traditionelle Nutzungsrechte eine größere Integrationswirkung im Innern der kleinbäuerlichen Gemeinschaften als dies im zentralen Hochland Perus der Fall war. Zugleich bot der Agrarsektor keine sozialen Aufstiegschancen und erzeugte keinen Veränderungsdruck bezüglich der Arbeitsbeziehungen. Die Umstellung von schuldknechtschaftsähnlichen Praktiken auf Lohnarbeit konnte in Guatemala in den dreißiger Jahren nur vor dem Hintergrund des zunehmenden demographischen Drucks und aufgrund staatlicher Initiative vollzogen werden. Gar nichts änderte sich hier an den saisonalen Migrationszyklen. Erst in den sechziger Jahren setzte eine auf länger dauernde Abwesenheit ausgelegte Abwanderungsbewegung in die Städte und später in die USA ein. Insgesamt wurden Migration und Abwanderung in Guatemala stärker durch Push-Faktoren und repressive Zwangsmechanismen gesteuert als im zentralen Hochland Perus. In den dreißiger Jahren bildeten Vagabundengesetz und schrumpfende Subsistenzbasis die Hauptpfeiler der Arbeitskräfterekrutierung. Durch das Fehlen einer Nachfrage nach besser qualifizierten Arbeitskräften in der Exportlandwirtschaft konnten von den Arbeitsmigranten auch kaum modernisierende Impulse zurück in die Heimatgemeinden getragen werden. Ebenso wie Kommerzialisierung, Lohnarbeit und soziale Differenzierung gehörte auch der kleinbäuerliche Widerstand gegen deren konkrete Erscheinungsformen zur lateinamerikanischen Moderne im 19. und 20. Jahrhundert. Sowohl im zentralen Hochland Perus wie in Guatemala besaßen die indianisch-kleinbäuerlichen Gemeinschaften ein Widerstandpotenzial, das nicht nur die Handlungsspielräume der Modernisierungsakteure einzuschränken vermochte, sondern auch deren gesellschaftliche Wahrnehmung und kulturelle Wertsysteme beeinflusste. Dabei wiesen die kleinbäuerlichen Widerstandsformen in beiden Fallbeispielen große Ähnlichkeiten auf. Im Vordergrund

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stand die auf Abgrenzung ausgerichtete subsistenzorientierte Risikominimierung. Nur in einer begrenzten Region des zentralen Hochlands von Peru wurde dieser Fokus gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt. Im Zusammenhang mit dem Salpeterkrieg und nationalen Elitekonflikten war im südlichen Mantarotal eine selbständige kleinbäuerliche Guerilla entstanden, die nach Kriegsende Züge einer regionalen Autonomiebewegung anzunehmen begann.45 Die regionale politisch-militärische Mobilisierung hatte zwar den traditionell auf die Dorfgemeinschaft bezogenen Wahrnehmungshorizont der Kleinbauern ausgeweitet und die Erfahrung der Wirksamkeit des Agierens in größeren Verbänden aufgezeigt, aber das endgültige Scheitern der Bewegung im Jahr 1902 hatte auch die Risiken offener Konfrontation mit einem übermächtigen Gegner vor Augen geführt. Dasselbe Schicksal erlitten die indianisch-kleinbäuerlichen Aufstände in Guatemala, wobei dort die jeweiligen Vergeltungsaktionen der ladinischen Eliten jene in Peru an Brutalität noch übertrafen. In beiden Regionen traten offene Gewaltausbrüche in Zeiten politischer Instabilität auf nationaler Ebene gehäuft auf.46 Die Kleinbauern versuchten, die Spielräume, die sich infolge unklarer Machtverhältnisse öffneten, zu ihren Gunsten zu nutzen. Die offene Herausforderung der nationalen oder regionalen Eliten war indessen selten von unmittelbar erkennbarem und nachhaltig wirksamem Erfolg gekrönt. Selbst wenn es gelang, im Rahmen von Verhandlungen kleinbäuerliche Forderungen formal festzuschreiben, fehlten den Kleinbauern die Hebel, um die Umsetzung derselben zu erzwingen und langfristig abzusichern.47 Die Wirkung gewaltsamer Aufstände bestand vielmehr darin, dass sie ein latentes Drohpotenzial manifestierten, dessen Repräsentationen in den handlungsleitenden Modernisierungsdiskurs der Eliten einflössen. Als kulturelle Kristallisationen entfalteten solche Wahrnehmungsmuster langfristige Wirkung, indem sie als Präferenzraster in der Evaluation von Handlungsoptionen herangezogen wurden. Der gleiche Wirkungszusammenhang lässt sich generell in Bezug auf die Wahrnehmung der kleinbäuerlichen Kultur durch die Eliten feststellen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint etwa das Festhalten modernisierender Eliten an klientelistischen Austauschbeziehungen als Ausdruck einer spezifischen Wahrnehmung 45 46

47

F.E. Mallon: Peasant and Nation, S. 176-219. D. McCreery: State Power, S. 103 109; F.E. Mallon: The Defense of Community in Peru's Central Highlands, S. 51. Vgl. diesbezüglich auch A. Lauria Santiago: Los indígenas de Cojutepeque, S. 248; J. Gould: Nicaragua: La Nación indohispana, S. 259; F.X. Guerra / M. Quijada: Imaginar la nación, S. 220; allgemein für die Diskussion ländlicher Aufstände: C.D. Brockett: The Structure of Political Opportunities and Peasant Mobilization in Central America; Th. Skocpol: What Makes Peasants Revolutionary; sowie die Klassiker E.J. Hobsbawm: Primitive Rebels; E.R. Wolf: Peasant Wars of the Twentieth Century. Auf diesen Zusammenhang weisen etwa auch J. Petras / H. Veitmeyer: The Peasantry and the State in Latin America, S. 57-59.

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der kleinbäuerlichen Subsistenzkultur. Patron-Klient-Beziehungen wurden als Entsprechung zu den risikominimierenden Absicherungsstrategien der Kleinbauern gedeutet. Umgekehrt waren die Kleinbauern unter den herrschenden Bedingungen großer Machtgefalle und Repression gezwungen, sowohl ihren Widerstand gegen Missbräuche oder Verschlechterungen der reziproken Austauschverhältnisse als auch ihre emanzipatorischen politischen Forderungen im Rahmen der moralischen Prämissen des Systems vorzutragen. Diese Konstellation des gegenseitigen Rekurses auf dasselbe Wertsystem trug zur Stabilisierung klientelistischer Beziehungen bei. Eliten und Kleinbauern nahmen das patronal-klientelistische Wertsystem als den gemeinsam akzeptierten Raum des permanenten sozialen Aushandlungsprozesses zwischen Herrschenden und Beherrschten wahr.48 Aus der Perspektive der Eliten barg das einseitige Aufkündigen dieses „Konsenses" das Risiko politischer Unruhen, aus der Perspektive der Kleinbauern waren damit nicht abschätzbare Subsistenz-, wenn nicht sogar unmittelbar lebensbedrohende Gefahren verbunden, die durch die möglichen Gewinne nur selten zu rechtfertigen waren. Unter diesen Voraussetzungen ist es kaum verwunderlich, dass die Modernisierung der Arbeitsbeziehungen nur zögerlich und gemessen an den wirtschaftlichen Anforderungen verspätet vor sich ging. Im zentralen Hochland Perus brauchte es dazu die konzentrierte Macht eines großen ausländischen Investors, in Guatemala eine starke Regierung, die sich einerseits gegenüber den mächtigen Kaffeepflanzern durchsetzen konnte und andererseits imstande war, mit flankierenden Maßnahmen, die indianischen Kleinbauern in ausreichendem Ausmaß zur Arbeit auf den Kaffeefincas zu zwingen.

An der Schwelle zum 3. Jahrtausend Der historische Vergleich zweier Beispiele verdeutlicht, dass es für die Kleinbauern Lateinamerikas keinen Modellpfad in die und in der Moderne gab - zu vielschichtig waren die Faktoren, die bei den Veränderungsprozessen ineinander griffen. Tatsächlich zeigen regionale Studien eine große Vielfalt von je eigenen Konstellationen und Entwicklungsrichtungen.49 Dieser Befund entspricht der allgemeingültigen Feststellung, dass sich die Geschichte agrarischer Gesellschaften wegen deren kleinräumiger Bedingtheit schlecht für Verallgemeinerungen eignet. Vor dem zuvor ausgelegten Hintergrund der Differenz soll abschließend dennoch versucht werden, aus der Warte des Beobachters im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einige grundlegende Trends der „kleinbäuerlichen Moderne" in Lateinamerika zu skizzieren. 48 49

Vgl. P. Fleer: La continuidad de la dominación, S. 449 f. Vgl. etwa die Fallstudien in K. Duncan /1. Rutledge: Land and Labour in Latin America; B.S. Orlove et al. (Hg.): State, Capital, and Rural Society; S.J. Stern (Hg.): Resistance, Rebellion, and Consciousness in the Andean Peasant World.

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Wenn auch in unterschiedlichen Graden und mit unterschiedlichen Chronologien konnte sich in Lateinamerika im 19. Jahrhundert, entgegen der linearen Logik von modernisierungstheoretischen und marxistischen Entwicklungsmodellen, ein kleinbäuerlicher Sektor etablieren, der seine ungenügende Subsistenzgrundlage in den Dorfgemeinschaften mit Einkünften aus Arbeit in der Exportlandwirtschaft ergänzte. Dadurch entstand ein System von Produktion und Reproduktion, das sich trotz seines prekären Charakters als dauerhaft erwies. Auf die minifundistischen Dorfgemeinschaften wirkte sich das System lange Zeit stabilisierend aus, indem es die kleinbäuerlichen gesellschaftlichen Muster von Reziprozität und Redistribution stärkte.50 Die unvollständige Proletarisierung der Kleinbauern verhinderte das Entstehen einer Arbeiterklasse, deren Interessen im Rahmen der modernistischen Prämissen von technischem Fortschritt und sozialem Wandel lagen. Gleichzeitig entwickelten die lateinamerikanischen Eliten im 19. Jahrhundert nirgends eine kohärente hegemoniale Strategie gegenüber den Kleinbauern, die eine ideologische Einbindung im Sinne des liberalen Modernisierungsprojektes mit eingeschlossen hätte. Staatliche Modernisierungsagenturen wie etwa bürokratische Verwaltung und bürgerliches Justizwesen traten nur punktuell oder, wie im Falle des öffentlichen Bildungswesens, kaum in Erscheinung, und das Militär musste zwangsläufig an der ihm zugedachten Aufgabe scheitern, einen Beitrag zur Zivilisierung von kleinbäuerlichen Milizionären zu leisten. Auch von der Politik gingen keine integrierenden Impulse aus. Selbst dort, wo um die Jahrhundertwende das Wahlrecht ausgeweitet wurde, verhinderten patronale Herrschaftsmuster eine tatsächliche demokratische Partizipation der Kleinbauern; im Gegenteil, in manchen Fällen konnten Großgrundbesitzer und lokale Bosse ihre traditionellen Machtpositionen ausbauen. In den agrarisch geprägten Regionen begann sich dieses verfestigte System erst seit der Mitte des letzten Jahrhunderts vor allem infolge neuer wirtschaftlicher Anforderungen an den Exportsektor sowie des wachsenden demographischen Druckes auf die Dorfgemeinschaften zu verflüssigen. Es war jedoch nicht in erster Linie das rasche Vordringen von Errungenschaften der Moderne in die Dorfgemeinschaften, das diese Entwicklung vorantrieb. Die eingangs erwähnten Beispiele aus dem westlichen Hochland Guatemalas sind in diesem Zusammenhang nicht repräsentativ. Bedeutender waren veränderte Migrationsmuster. Besonders in der zweiten Jahrhunderthälfte entfalteten Industrialisierung und Tertiarisierung in den Städten eine immer stärker werdende Sogwirkung auf die ländliche Bevölkerung. Ohne dass sich dadurch die traditionellen Strukturen der Dorfgemeinschaften völlig auflösten, intensivierte sich über die Migranten in den Städten der Kontakt zur modernen, Urbanen Welt. Das Elend in den anschwellenden Slumgürteln um die Metropo50

K. Polanyi: The Great Transformation, S. 77.

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len hat dabei oft den Blick darauf verstellt, dass viele Migranten durchaus Wege des sozialen Aufstiegs zu finden wussten. Dennoch blieb infolge des geringen Wohlstandsgewinns der materielle und kulturelle Rückfluss in die kleinbäuerlichen Ursprungsgemeinden gering. Dies änderte sich gegen Ende des Jahrhunderts, als die transnationale Migration größere Einkommensdifferenzen schuf und finanzielle Zuwendungen der Migranten an ihre in der Dorfgemeinschaft zurückgebliebenen Verwandten oder an die Gemeinschaft als Ganzes zu einem wichtigen Faktor für das Fortbestehen kleinbäuerlicher Lebensformen wurden. 51 Diese transnationale Migration nahm sowohl zahlenmäßig wie auch räumlich beeindruckende Ausmaße an. Gleichzeitig erhöhte sich dank moderner Transport- und Kommunikationsmittel die Intensität des Austausches zwischen Migranten und Ursprungsgemeinde. Ethnologen sprechen in diesem Zusammenhang auch von transnationalen hyperspaces, in denen die kleinbäuerlichen Migranten gleichsam jenseits von Raum und Zeit in unterschiedlichen Welten agieren. 52 Unter diesen Bedingungen lässt sich das Bild der closed corporate Community endgültig nicht mehr aufrechterhalten. 53 Die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Dorfgemeinschaften sind indessen noch nicht klar auszumachen. Immerhin gibt es Anhaltspunkte, dass die „Migration in die Moderne" die kleinbäuerliche Lebens- und Wirtschaftsweise eher stärkt als schwächt. Von einem Ende der Kleinbauern kann in Lateinamerika derzeit jedenfalls nicht gesprochen werden. Selbst wenn Telefon, Radio, Fernsehen und Internet zu einem verstärkten Eindringen moderner Elemente in die kleinbäuerlichen Gesellschaften führen und sozialen Wandel beschleunigen, heißt dies noch nicht, dass sie als besondere die „Moderne" immer wieder herausfordernde Lebens- und Wirtschaftsformen völlig verschwinden. Zum Beispiel deutet das gestärkte Selbstverständnis der india-

52

53

Als ein Spezialfall der internationalen Migration kann die Arbeitsmigration in die Maquiladora-Betriebe gelten, die sich in den 1990er Jahren in Mexiko und Zentralamerika ansiedelten. In diesen Filialbetrieben internationaler Konzerne wurden mit billigen Arbeitskräften Halbfertigprodukte zu Waren für die Märkte der Industriestaaten zusammengebaut. Im Zusammenhang mit den kleinbäuerlichen Migrationsmustern ist insbesondere der Aspekt interessant, dass in den maquiladoras zum großen Teil junge Frauen arbeiteten, deren Migration in den Ursprungsgemeinden andere Auswirkungen zeitigte als jene der Männer; vgl. L. Goldin: Rural Guatemala in Economic and Social Transition, S. 100. Die spezifischen Rückwirkungen weiblicher Migration auf die kleinbäuerlichen Gemeinschaften sind noch nicht erforscht. Interessant erscheinen vor allem Fragen bezüglich der Einzelmigration von Frauen außerhalb der Familie, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutende Ausmaße annahm, als die Nachfrage nach Hausangestellten in städtischen Mittel- und Oberschichtenhaushalten kontinuierlich anstieg; vgl. D. McCreery: The Sweat of Their Brow, S. 167-172. M. Kearney: Reconceptualizing the Peasantry; die deutsche Kurzfassung: ders.: Die Auswirkungen globaler Kultur, 342-346. A. Wimmer: Die komplexe Gesellschaft, S. 85-95.

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nischen Bevölkerungsgruppen, deren intellektuelle Eliten nach übergreifenden Identitäten jenseits der Dorfgemeinschaften suchen, in eine andere Richtung. 54 Auch gibt es Hinweise darauf, dass sich im lateinamerikanischen Gesamtkontext zumindest in der Nahrungsmittelproduktion die kleinbäuerliche Familienwirtschaft unter Ausnutzung neuartiger Ressourcen weiterhin als erfolgreicher erweisen wird als eine kapitalistische Landwirtschaft. Unter veränderten Bedingungen könnte sich damit die These von Chayanov doch bestätigen, wonach die Kleinbauern kapitalistische Betriebe auf der Basis von Lohnarbeit aus dem Markt drängen, weil sie dank der Ausnutzung familiärer Arbeitsressourcen kostengünstiger produzieren. 55 Insgesamt scheinen in Lateinamerika diejenigen Elemente der kleinbäuerlichen Wirtschaftsweise zu überwiegen, die sowohl den Bedürfnissen der Kleinbauern selbst wie auch der übergeordneten kapitalistischen Wirtschaft entsprechen. Das Nebeneinanderbestehen dieser beiden Sektoren ist somit nicht bloß ein vorübergehender Zustand einer verlangsamten Modernisierung, sondern offensichtlich ein dauerhaftes Merkmal einer genuinen lateinamerikanischen Moderne. Aníbal Quijano hat hierzu festgestellt, dass die lateinamerikanische sich von der europäischen Moderne durch die andersartige Anordnung von Zeit- und Raumkoordinaten unterscheide. Während in Europa der Kapitalismus sich in aufeinanderfolgenden Phasen (ursprüngliche Akkumulation vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Akkumulation im Zeichen des laisser faire im 19. und monopolistische Akkumulation im 20. Jahrhundert) entfaltete, seien in Lateinamerika die Merkmale dieser Phasen alle gleichzeitig vorhanden. 56 Bezogen auf Mexiko hat Octavio Paz in einem ähnlichen Zusammenhang von „Labyrinth" gesprochen, und Octavio Ianni nannte die brasilianische Moderne ein „Kaleidoskop verschiedener Epochen und Le54

Vgl. R. Allebrand (Hg.): Die Erben der Maya. Indianischer Aufbruch in Guatemala; D.M. Nelson: A Finger in the Wound. S. 157-162, 245-282; A. Arias: Changing Indian Identity, S. 235-243; E.F. Fischer: Cultural Logic and Maya Identity; A. Wimmer: Ethnischer Radikalismus als Gegennationalismus; V. Perera: Unfinished Conquest, S. 313— 328. Die Frage, inwiefern diese kleinbäuerliche Identitätssuche tatsächlich emanzipatorischen Charakter trägt oder bloß Ausdruck von im Grunde reaktionären Tendenzen ist, wird hier ausdrücklich offen gelassen. Auf jeden Fall kann sie nicht allein aufgrund theoretischer Argumentation beantwortet werden, wie dies Tom Brass versucht, der die jüngsten kleinbäuerlich-ethnisch orientierten Bewegungen aus marxistischer Sicht als Teil eines die Klassengegensätze verleugnenden postmodern-reaktionären Diskurses sieht, vgl. On Which Side of What Barricade? S. 348-362.

55

Vgl. E. Wolf: Types of Latin American Peasantry, S. 454; R. McM. Netting: Smallholders, Housholders; G. Schmitt: Warum ist Landwirtschaft eigentlich überwiegen „bäuerliche Familienwirtschaft"? S. 168. Aus marxistischer Sicht meldet Tom Brass gegen die These Chayanovs insofern Bedenken an, als sie nur die Konkurrenzsituation innerhalb nationaler Märkte, nicht aber die globalisierte Weltwirtschaft mit ihren hochproduktiven Großkonzemen berücksichtige, vgl. Latin American Peasants, S. 13. V. Schelling: Latin America and Other Models of Modernity, S. 253.

56

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293

bensweisen".57 Wenn die lateinamerikanische Moderne nicht bloß als eine verspätete europäische Moderne aus zweiter Hand verstanden werden kann, sondern einen eigenständigen Weg mit offenem Ziel darstellt, so haben die Kleinbauern daran wesentlichen Anteil.

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III WANDEL ALS KONSTANTE: MODERNISIERUNGSPROJEKTE

Walther L. Bernecker

DIE VERPASSTE MODERNITÄT: ZUM FEHLSCHLAG DES ÖKONOMISCHEN FORTSCHRITTS IM MEXIKO DES 1 9 . JAHRHUNDERTS

Die Debatte über die Gründe für den weitgehenden Fehlschlag des wirtschaftlichen „Fortschritts" in Mexiko während eines Großteils des 19. Jahrhunderts beschäftigt Zeitgenossen und Historiker seit der Unabhängigkeit des Landes. Ökonomen haben errechnet, dass die Entwicklung Mexikos im 19. Jahrhundert weit hinter ihrem wirtschaftlichen Potenzial zurückblieb; außerdem waren die gesellschaftlichen Kosten des „Fortschritts" sehr hoch. Obwohl die angeblichen Reichtümer Mexikos Anlass zu zahlreichen Mythenbildungen gaben, war die wirtschaftliche Realität über längere Zeit hinweg ausgesprochen ernüchternd. Man kann daher davon ausgehen, dass der problematische Wirtschafts verlauf nicht Ergebnis eines konjunkturellen Einbruchs oder ausschließlich Folge einer verfehlten ökonomischen Politik war. Vieles spricht dafür, dass die Gründe struktureller Art mit langfristigen Folgen waren; diese Gründe wirkten als Entwicklungsbremsen, unabhängig von der jeweiligen Konjunktur. Die folgenden Abschnitte diskutieren unterschiedliche Deutungsansätze.

Fragestellungen und Interpretationsansätze (Neo-)strukturalistische Ansätze sehen einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung Mexikos und den sozialen Defiziten des Landes; die „ererbten" Strukturen wurden konserviert und reproduziert 1 und verhinderten damit den Fortschritt. Dependentistische Ansätze fragen nach der Rolle des internationalen Systems bei der Entwicklung des Landes; dieser Zugang, der vor allem in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts Hochkonjunktur hatte, erfuhr in Zeiten der Globalisierung und des Neoliberalismus eine Neuaufwertung. 2 Der historisch-kulturelle Ansatz bezieht sich auf die verfehlten Versuche, europäische und US-amerikanische Entwicklungsstrategien anzuwenden sowie auf die unterschiedlichen Unterfangen, genuin lateinamerikanische Entwicklungsstrategien zu entwerfen. 3 Ein vierter Ansatz hebt schließ-

2

3

J.R. Ramos: Poverty and Inequality in Latin America, S. 141-157. Vgl. die kritische Analyse von A. Boeckh: Dependencia und kapitalistisches Weltsystem. Vgl. W.L. Bernecker: De agiotistas y empresarios.

304

Walther L. Bernecker

lieh einige charakteristische Züge politisch-kultureller Prozesse in der Region hervor, etwa die Missachtung von Regeln, Normen und legalen Strukturen, was zur Zerstörung des Vertrauens in das System gefuhrt hat. Diese vier Ansätze schließen sich nicht gegenseitig aus, sie stellen vielmehr komplementäre Aspekte des Versuchs dar, den wirtschaftlichen Fehlschlag Mexikos im 19. Jahrhundert zu erklären. In der einen oder anderen Form liegen sie auch den im Folgenden diskutierten Deutungen zugrunde. Einleitend verdient festgehalten zu werden, dass die Entwicklungskonzepte Mexikos im 19. Jahrhundert alle aus Europa oder den USA importiert wurden. Modernisierung wurde stets als ein von den Eliten vorangetriebener Prozess angesehen, der von Anfang an die indigene Bevölkerung ausschloss; in den meisten Fällen handelte es sich um eine kulturelle Überlagerung, eine Art „internen Kolonialismus". Da die kreolischen Eliten sich ohnehin als einen Teil Europas empfanden, schwankte die Diskussion anfangs zwischen zwei Optionen: Entweder orientierte man sich auf ein „spanisches" Gesellschaftsmodell hin, das eher konservativ und patrimonialistisch war, oder man präferierte ein liberal-europäisches Modell, das fast immer auf britische Wurzeln zurückging. Diejenigen Kräfte, die die Gründe der ökonomischen Stagnation im spanischen Erbe erblickten, konnten sich keine andere Lösung vorstellen als die Übernahme eines liberalen Modells, weitgehend in der Imitation der modernen Gesellschaften Westeuropas. Entwicklung und Modernisierung wurden mit Europäisierung der eigenen Bevölkerung gleichgesetzt. Diese Europäisierung sollte mittels Bildung und Erziehung oder massiver europäischer Einwanderung erreicht werden. Die Modernisierungsprojekte wurden systematisch „von oben" geplant, ohne allerdings substanziell die gesellschaftlichen Strukturen verändern zu wollen. Die Rekonstruktion der von den politischen und wirtschaftlichen Eliten Mexikos im 19. Jahrhundert geführten Debatten lässt deutlich werden, dass die für die Staatsfuhrung Verantwortlichen seit Anbeginn der Unabhängigkeit an das Ziel verfolgten, das Entwicklungsniveau der damals industrialisierten Staaten zu erreichen oder sogar zu überholen. Fragt man allerdings danach, ob im 19. Jahrhundert dieses Ziel einer „aufholenden Entwicklung" erreicht wurde, so fallt die Antwort eher ernüchternd aus, sowohl für Mexiko insbesondere als auch für Lateinamerika allgemein: Was Mexiko betrifft, hat John H. Coatsworth vor bereits drei Jahrzehnten errechnet, dass die ökonomische Distanz zwischen diesem Land und den damals entwickeltsten Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig zugenommen hat. Im Jahr 1800 belief sich das Pro-Kopf-Einkommen Mexikos auf 37 % des Pro-Kopf-Einkommens von Großbritannien und auf 44 % von dem der USA, während im Jahr 1910 Mexiko kaum 16% des Pro-Kopf-Einkom-

Die verpasste Modernität

305

mens von Großbritannien und nur 13 % desjenigen der USA produzierte.4 Seit damals blieb die Distanz während des größten Teils des 20. Jahrhunderts relativ stabil, bis die Verschuldungskrise von 1982 die mexikanische Situation wiederum verschlechterte. Unter Zugrundelegung der von Coatsworth errechneten Werte haben andere Historiker darauf hingewiesen, dass die Stagnation der mexikanischen Wirtschaft sich nicht gleichermaßen während des gesamten 19. Jahrhunderts bemerkbar machte, sondern insbesondere in den ersten vierzig Jahren der Unabhängigkeit (bis ca. 1860), da „a partir de 1860, el crecimiento de la economía mexicana no fue muy diferente del ocurrido en esas potencias [Gran Bretaña, Estados Unidos] y la brecha dejó de ampliarse más hasta los inicios del siglo XX".5 Die Erklärung für den Rückstand der mexikanischen Wirtschaft muss man somit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchen. Im Hinblick auf Lateinamerika insgesamt lässt sich bezüglich der fehlenden wirtschaftlichen Entwicklung ungefähr dasselbe feststellen: Im Jahre 1820 lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei 54 % des durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts in West-Europa, der damals am weitesten entwickelten Region. Fünfzig Jahre später lag der Durchschnitt bei 28.7% im Verhältnis zu den USA und Kanada, die zwischenzeitlich die Führungsposition einnahmen, was wirtschaftlichen Fortschritt betraf. Sowohl für Mexiko als auch für Lateinamerika allgemein lässt sich die Periode zwischen 1820 und 1860/70 als eine „verlorene Epoche" bezeichnen.6

Die Modernisierung „von oben": Lucas Alamán und die Entwicklungsbank Ein geradezu klassisches Beispiel der „von oben" implementierten Fortschrittsidee ist in Mexiko das Projekt von Lucas Alamán, das Land zu industrialisieren, ohne dessen archaische Sozialstrukturen zu verändern. Im Sommer 1830 präsentierte Alamán als Innen- und Außenminister dem Kongress einen Gesetzesentwurf, dessen Ziel die Gründung einer Bank zur Förderung einer nationalen Industrie war (Banco de Avío para el Fomento de la Industria Nacional). Das Grundkapital von einer Million Pesos würde von den Importzöllen abgezweigt werden; 20% der Zölle sollten den Fonds der Bank speisen.7 4 5

6 7

J.H. Coatsworth: Obstacles to Economic Growth in Nineteenth-Century Mexico. E. Cárdenas Sánchez: Cuando se originó el atraso económico de México, S. 318. Für die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten vgl. A. Maddison: Monitoring the World Economy. CEPAL: Globalización y desarrollo, S. 79. Vgl. Banco Nacional de Comercio Exterior: El Banco de Avío y el Fomento de la Industria Nacional, S. 211-232.

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Auffallig ist die frühe Einstellung des Förderungsprogramms des Banco de Avio. In der historischen Literatur wird oft auf die Fehler der Entwicklungsbank als Grund für ihr Scheitern verwiesen: auf die schlechte Verwaltung der ihr anvertrauten Finanzmittel, auf die Vielzahl der geforderten Projekte, auf die Verzettelung der Investitionshilfen, auf die technisch-organisatorischen Probleme. Diese Aspekte mögen einen Teil der Erklärung liefern, sie stoßen aber nicht zum Kern des Problems vor. Dieses liegt im Verhältnis zwischen dem von der Bank verfolgten Ziel und den hierfür vorgesehenen Mitteln begründet. Alamäns Modernisierungsplan strebte danach, Mexiko in der Versorgung seiner Grundbedürfhisse vom Ausland unabhängig zu machen; an die Stelle der bisherigen Außenorientierung sollte durch importsubstituierende Industrialisierung eine binnenmarktorientierte Wirtschaftsstruktur treten. Zur Finanzierung dieses anspruchsvollen Programms griff Alamän auf die Haupteinnahmequelle des Staates zurück: auf die Außenhandelszölle. In diesem Fehlgriff liegt der Grundwiderspruch des Projektes, da die Struktur des mexikanischen Steuer- und Abgabesystems die vorgesehene Finanzierungsmethode impraktikabel machte. Bekanntlich hingen die Regierungen selbst und mit ihnen der gesamte Staatsapparat, insbesondere die Verwaltung und das Militär, in hohem Grade von den Außenzöllen ab. Das chronische Haushaltsdefizit Mexikos ließ es unmöglich erscheinen, die vorgesehenen Außenzollbeträge zur Finanzierung der Industrialisierungsmaßnahmen von den Staatseinnahmen abzuzweigen, da diese zumeist nicht einmal für die Tagesbedürfnisse der Regierungen ausreichten. Der grundsätzliche Zusammenhang zwischen der Struktur der Staatseinnahmen und dem Finanzierungsmechanismus der Bank dürfte Lucas Alamän nicht entgangen sein.8 Wenn er trotzdem diese Methode der Geldbeschaffung wählte, dann wohl deshalb, weil er langfristig von stabilen politischen Verhältnissen ausging, deren Basis geordnete Staatsfinanzen, ein funktionierendes Steuersystem und ein allmählicher Übergang in eine Epoche des steten Wirtschaftswachstums waren. Die andauernde politische und die mit ihr in einem dialektischen Wechselverhältnis verflochtene finanzielle Instabilität des Landes verhinderten die erfolgreiche Realisierung des staatlichen Förderungsprogramms. Symptom dieser Instabilität waren die schnelle Aufeinanderfolge von Regierungen mit unterschiedlicher Ideologie - nach 1832 nahm mit Valentin Gomez Farias der Einfluss der Die Kritik von B. Tenenbaum: Straightening out some of the Lumpen in the Development, S. 6, Alamän habe das System nicht erkannt, das den Zusammenhang zwischen Steuereinziehung und Bankfinanzierung herstellte, wird dem Gründer der Entwicklungsbank nicht gerecht. Völlig verfehlt ist die Annahme von A.G. Frank: Lumpenburguesia, Lumpendesarrollo, S. 57, Alamän habe gegen Ende seiner Amtszeit als Minister die politische Unterstützung eingebüßt, die einen lang andauernden Erfolg des Banco erst garantiert hätte. Die Entwicklungsbank wurde von Santa Anna zehn Jahre nach Alamäns Rücktritt als Minister (1832) geschlossen!

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Liberalen wieder zu, die Funktionen der Bank wurden eingeschränkt, schließlich ihre Mittel ganz gesperrt - und (damit ursächlich zusammenhängend) das Erfordernis, die im Vorfeld der Regierungswechsel erfolgenden „Revolutionen" (und nicht etwa die Industrie) zu finanzieren. Nicht ohne Zynismus notierte 1847 Waddy Thompson, der frühere US-Gesandte in Mexiko: „Whilst we have been making railroads, they have been making revolutions". 9 Alamäns protektionistisches Konzept stellte den Versuch dar, einen nationalistisch-autozentrierten Entwicklungsweg in Richtung auf eine eigenständige Industrialisierung einzuschlagen. Voraussetzung zum Funktionieren dieses Konzeptes war nicht nur das Vorhandensein eines stabilen politischen Systems mit einem handlungsfähigen Staat, einer effizienten Verwaltung und einem funktionierenden Steuersystem; es musste nicht nur sichergestellt sein, dass das eingenommene Kapital als conditio sine qua non jeder Entwicklung zielgerichtet in der nationalen Wirtschaft produktiv investiert wurde. Mittelfristig mussten darüber hinaus der fragmentierte Binnenmarkt durch Verbesserung der Kommunikationen zu einem integrierten Nationalmarkt verbunden und die nur schwach ausgeprägte Nachfrage aktiviert werden; ohne eine steigende Binnenmarktnachfrage konnte kein industrieller Fortschritt erzielt werden. Es liegt auf der Hand, dass die Konsequenzen dieses Konzeptes tief greifende Veränderungen im Agrarbereich implizierten, wo die überwiegende Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung arbeitete und lebte. Diese Voraussetzungen waren im mexikanischen Fall jedoch nicht gegeben; der Staat erwies sich als unfähig, eine aktive Rolle im Sinne des protektionistischen Konzeptes zu spielen. Zwar gelang es eine Zeitlang, den Banco de Avio am Leben zu erhalten; sehr bald jedoch wurden die ihm zugedachten Mittel entweder von der Regierung selbst oder von revolutionären Kräften anderen - das heißt immer: unproduktiven, zumeist militärischen - Zwecken zugeführt, die Zölle wurden (ganz im Sinne der traditionellen Fiskalpolitik) wieder für die Erhaltung des Staatsapparates verwendet. Die konservativ-etatistischen Politiker um Lucas Alamän verhielten sich zwar ökonomisch insofern fortschrittlich, als sie Industrialisierungsprozesse in Gang setzten und bei einigen mexikanischen Unternehmern investives Engagement weckten; zugleich zeigten sie sich jedoch unfähig (und unwillig), die notwendigen sozialen Veränderungen durchzusetzen, indem sie die Agrarstrukturen unangetastet ließen. Die erforderliche Konstituierung eines nachfragekräftigen Binnenmarktes unterblieb. Diese Schwierigkeiten kennzeichneten die inneren Interessenwidersprüche der konservativen Regierung und der sie tragenden Schicht. Man wollte den sozialen Status quo erhalten und zugleich industrialisieren, ausländische Waren konsumieren und sie zugleich selbst produzieren, die Außenorientierung nicht aufgeben und die Binnenorientierung zugleich verstärken. An diesen sich ge-

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W. Thompson: Recolleetions of Mexico, S. 19.

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genseitig ausschließenden Zielsetzungen mussten alle Anstrengungen scheitern. Das Scheitern des Banco de Avio musste noch nicht unbedingt das Scheitern des gesamten Industrialisierungsprogramms bedeuten; der größte Teil der Investitionen kam aus privaten und nicht aus staatlichen Quellen. Die weitergehende Frage muss sich daher auf die Industrialisierungsbemühungen insgesamt beziehen. Dem beeindruckenden Aufschwung der Jahre zwischen 1830 und 1845 folgte kein kontinuierliches Industriewachstum; in der zweiten Hälfte der 1840er und in den 1850er Jahren ist vielmehr eine Stagnation der Industrialisierungsbemühungen festzustellen. Lediglich die Jahre zwischen 1835 und 1845 können als eine kurze Periode des Wirtschaftsoptimismus, der Innovationen und des begrenzten Unternehmungsgeistes bezeichnet werden.10 Die erste Industrialisierungsphase in Mexiko war somit nicht zugleich auch das erste Stadium eines Entwicklungsprozesses, in dem die „traditionale" vorindustrielle Wirtschaft und Gesellschaft die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufstieg schuf und sodann in eine Periode des beschleunigten Wirtschaftsaufschwungs ( t a k e - o f f ) eintrat, um schließlich die Entwicklung zur industriellen Reife und als letzte Phase die Zeit von Massenproduktion und Massenkonsum zu erleben." Hierauf wird später zurückzukommen sein.

Der Beginn der modernen Debatte: institutionalistische Ansätze Nahezu alle modernen Interpretationen der mexikanischen Wirtschaft des 19. Jahrhunderts stimmen darin überein, dass die Gründe der Krise im 18. Jahrhundert liegen. Ausgangspunkt einer einflussreichen Kontroverse zwischen John H. Coatsworth und Jaime E. Rodriguez O. war die von allen Interpreten übereinstimmend hervorgehobene Problemlage der mexikanischen Wirtschaft nach 1821 und der deutliche Kontrast zum (tatsächlichen oder scheinbaren) wirtschaftlichen Blühen Neu-Spaniens zur Zeit der bourbonischen Reformen. Auf diesen Unterschieden aufbauend, hat Jaime E. Rodriguez O. - wie viele andere vor und neben ihm - eine Art dichotomisches Strukturmodell entworfen.12 Auf der einen Seite skizzierte er Neu-Spanien als ein politisch10

"

12

Zu einer vergleichbaren gleichzeitigen Entwicklung in Zentralkolumbien vgl. F. Safford: Foreign and National Enterprise in Nineteenth-Century Colombia; und in den 1840er Jahren in Brasilien: S. Stein: The Brazilian Cotton Manufacture, S. 40 f. Die Terminologie nach der Fünf-Phasen-Theorie von W.W. Rostow: Stadien wirtschaftlichen Wachstums; ders. (Hg.): The Economics of Take-off Into Sustained Growth; ders.: Die Phase des take-off. Auf die Kritik an der Rostowschen Wachstumsund Industrialisierungstheorie kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu S. Kuznets: Notes on the Take-off; H.-U. Wehler: Theorieprobleme der modernen deutschen Wirtschaftsgeschichte (1800-1945), S. 86-89. Zu Folgendem J.E. Rodriguez O.: Down from Colonialism; C.M. MacLachlan / J.E. Rodriguez O.: The Forging of a Cosmic Race.

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ökonomisches System, das sich durch eine stabile und verantwortliche Regierung, eine reiche und ausbalancierte Wirtschaft, eine vielrassige Gesellschaft mit beachtlicher sozialer Mobilität auszeichnete; auf der anderen Seite stand das unabhängige Mexiko, das Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur die Hälfte seines Territoriums verloren hatte, sondern außerdem unter extremer politischer Instabilität und wirtschaftlicher Depression litt sowie Rassen- und Klassenkonflikten ausgesetzt war. Die Entwicklung des Landes stellte sich als ein „Niedergang von kolonialem Wohlergehen zu republikanischem Desaster" dar.13 Das Vizekönigtum Neu-Spanien war von beeindruckenden Ausmaßen gewesen: Es umfasste das heutige Mexiko, Zentralamerika, die Philippinen, Kuba, Puerto Rico, Florida, die Küstenregionen von Alabama und Mississippi, das ganze Land westlich des Mississippi-Flusses; es erhob sogar Ansprüche auf West-Kanada und Alaska. Das Herzland des Vizekönigtums, das gemeinhin als „Königreich Neu-Spanien" bezeichnet wurde, entsprach in etwa dem heutigen Mexiko; es war der bei weitem reichste und am dichtesten bevölkerte Teil des Vizekönigtums. Die Institutionen Neu-Spaniens entsprachen - folgt man Rodriguez - voll den lokalen Bedürfnissen; die Regierung erfreute sich solider, aus dem Vertrauen aller Klassen und Rassen resultierender Legitimität. Zur Stabilität der Regierung und zur Dynamik der Gesellschaft trug erheblich der Reichtum der Kolonie bei; zwei Drittel der Einnahmen des spanischen Reiches kamen aus Neu-Spanien. Die reichen Silberbergwerke Mexiko war der bedeutendste Silberlieferant der Welt - förderten wirtschaftliches Wachstum und führten zur Expansion von Landwirtschaft, Handel und Industrie. Die mexikanische Wirtschaft des 18. Jahrhunderts zeichnete sich durch einen hohen Standard an Kapitalbildung und technologischen Innovationen aus, die Mexikaner besaßen Unternehmungsgeist und Leistungskapazität.14 Insgesamt war das Mexiko des 18. Jahrhunderts eine reiche, kapitalistische Gesellschaft, deren Wirtschaft sich durch Privateigentum an Produktionsmitteln, durch profitorientierte Unternehmer, durch einen freien Arbeits-, Kapital-, Güter- und Dienstleistungsmarkt auszeichnete. Den Unternehmungsgeist der sozialen und wirtschaftlichen Elite des spätkolonialen Mexiko haben auch andere Autoren hervorgehoben. John E. Kicza etwa hat deutlich

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J.E. Rodriguez O.: D o w n from Colonialism. J.H. Coatsworth: Obstacles to Economic Growth in Nineteenth-Century Mexico, S. 81 f. In US-Dollars von 1950 betrug im Jahr 1800 das Pro-Kopf-Enkommen in Mexiko 73, in den U S A 165, in Großbritannien 196. Im Jahr 1860 lauten die Vergleichszahlen f ü r Mexiko 49, fur die U S A 359, für Großbritannien 370. Rodriguez geht nicht von der allgemein akzeptierten Bevölkerungszahl Neu-Spaniens von sechs Millionen, sondern von rund vier Millionen aus; er kommt daher in seinen Berechnungen zu einem höheren Pro-Kopf-Einkommen (1800: 116 Pesos). Vgl. J.E. Rodriguez O.: D o w n from Colonialism, passim.

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herausgearbeitet, dass die Kolonialelite spekulative Geschäfte und sichere Investitionen kombinierte. Diversifizierung mit zumindest einigen Investitionen in Ländereien war das Geschäftsprinzip im 18. Jahrhundert; Sicherheit und Risiko spielten eine gleichermaßen wichtige Rolle.15 Der Kontrast zum Mexiko der Jahrhundertmitte hätte nicht größer sein können. Die Regierungen der ersten dreißig Jahre staatlicher Unabhängigkeit waren nicht imstande, Gesetz und Ordnung durchzusetzen, „das Land versank in Anarchie" - so die Klage der científicos gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ständiger Aufruhr und andere Formen gesellschaftlicher Auflösung trugen zu Mexikos Instabilität bei. Rebellionen weiteten sich zu Bürgerkriegen aus, einzelne Regionen lösten sich vorübergehend (Yucatán) oder für immer (Texas) vom Mutterland, die politische Instabilität ließ das Land zu einem bevorzugten Ziel ausländischer Aggressoren werden (1829, 1838, 1846-1848, 1861). Die Regierungseinnahmen, die in den letzten beiden Jahrzehnten kolonialer Herrschaft 24 Millionen Pesos im Jahresdurchschnitt betragen hatten, sanken im ersten Jahrzehnt der Republik auf ungefähr die Hälfte - ein deutliches Zeichen für die auf die Unabhängigkeit folgende wirtschaftliche Depression: Hatte die Silberproduktion vor den Befreiungskriegen im Jahresdurchschnitt knapp 22 Millionen Pesos betragen, so sank sie in den 1820er Jahren drastisch auf rund 9.3 Millionen und stieg in den 1830er Jahren nur sehr allmählich auf 11.6 sowie in den 1840er Jahren auf 14.7 Millionen Pesos. 16 Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreichte die Silberproduktion wieder den Stand der späten Kolonialära. Die frappierenden Unterschiede zwischen 1800 und 1850 erklärt Rodríguez mit dem Hinweis einerseits auf „natürliche" Hindernisse (Klimazonen, Topographie), andererseits auf die zerstörerischen Konsequenzen der Unabhängigkeitskriege, die das Land in Chaos und die Wirtschaft in Ruinen hinterließen. Die Tatsache jedoch, dass auf die politische Loslösung von Spanien ein halbes Jahrhundert ökonomischer Depression und politischer Instabilität folgte, war vor allem „ein Resultat des politischen Nach-Unabhängigkeits-Chaos". 17 Außerdem verloren die Mexikaner das Vertrauen in die Institutionen ihres Landes, sie exportierten ihr Kapital oder entzogen es der Wirtschaft, was zum Zusammenbruch des Kreditsystems und einer massiven Investitionsbaisse führte. Der wohl wichtigste Einzelfaktor zur Erklärung von Mexikos Wirtschaftsdepression war die Zerstörung der Silberbergwerke in den Kriegen und dem darauf folgenden Chaos. Die Wiederinbetriebnahme der Minen erwies sich als äußerst schwierig, da die meisten inzwischen überflutet

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17

J.E. Kicza: Colonial Entrepreneurs. A. Soetbeer: Edelmetall-Produktion und Wertverhältnisse zwischen Gold und Silber seit der Entdeckung Amerikas bis zur Gegenwart, S. 55. J.E. Rodriguez O.: Down from Colonialism.

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waren; außerdem musste Mexiko das für das Amalgamationsverfahren notwendige Quecksilber zu teuren Weltmarktpreisen kaufen (in der Kolonialära war es, dank königlicher Zuschüsse, viel billiger gewesen), und die fehlende Investitionsneigung der Mexikaner - Ausdruck weitverbreiteten Misstrauens ließ die zu umfassenden Renovierungen erforderliche Kapitaldecke, trotz der gewaltigen britischen Investitionen, stets als zu gering erscheinen. Auch Industrie (wegen Zerstörung und Kapitalmangels) und Landwirtschaft (wegen Nachfragerückgangs) litten unter Krieg und Unordnung. Mitte des Jahrhunderts gab es in Mexiko eine duale Wirtschaftsstruktur, wobei der marktorientierte Sektor sich auf ein paar Städte beschränkte, während der größte Teil des Landes in Subsistenzwirtschaft zurückgefallen war. Das fehlende Vertrauen in die Stabilität des Landes führte auch zum Kollaps des jahrhundertelang praktizierten Kreditsystems, das (in Ermangelung eines funktionierenden Bankwesens) im Wesentlichen auf persönlichen Darlehen, der Kirche als Kreditinstitution und der informellen Praxis des repartimiento de comercio (für Landwirte) beruht hatte. Reiche Unternehmer zogen es nach 1821 vor, als agiotistas (Kreditspekulanten) der Regierung Darlehen (bei enormen Gewinnchancen) zu geben, religiöse Korporationen verhielten sich in ihrem Kreditgebaren sehr zurückhaltend, das repartimiento de comercio war bereits in den 1790er Jahren abgeschafft worden. Bei seinem Erklärungsversuch für die mexikanische Rückständigkeit des 19. Jahrhunderts distanziert sich Rodríguez deutlich von (neo-marxistischen) Interpretationen, die den Misserfolg der Modernisierungsbemühungen auf die „feudale" Kolonialstruktur zurückführen, welche die Lateinamerikaner angeblich nicht genügend auf ihre Selbstregierung vorbereitet hatte. Er erkennt im kolonialen Mexiko nicht eine feudale, sondern eine kapitalistische Sozialstruktur; 18 das Land verfügte über eine entwickelte und komplexe Wirtschaft;

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Auf die (nunmehr bereits alte, gleichwohl immer noch nicht zu Ende geführte) Diskussion über die Frage, ob das koloniale Mexiko feudal, neo-feudal, prä-kapitalistisch oder kapitalistisch war, kann hier nicht näher eingegangen werden. Verwiesen sei auf den frühen Beitrag von J. Bazant: Feudalismo y capitalismo en la historia de México, der sowohl im Bergbau als auch in Industrie und Landwirtschaft kapitalistische Strukturen obwalten sieht; den marxistischen Beitrag von E. Semo: Feudalismo y capitalismo en la Nueva España, S. 28 45, der sowohl feudale als auch kapitalistische und (von diesen beiden antagonistisch unterschieden) „staatliche" Produktionsformen entdeckt; den Beitrag von J.I. Israel: Mexico and the „General Crisis" of the Seventeenth Century, der zwar primär den Konflikt zwischen Staat und Unternehmern über den Zugang zu indianischer Arbeitskraft thematisiert, dabei aber ebenfalls auf das Problem der Produktionsformen eingeht. Neben den allgemeinen Werken (Frank, Cardoso, Carmagnani, Halperin-Donghi, Wallerstein) sei für den mexikanischen Fall insbesondere noch auf die Werke verwiesen von A. Aguilar Monteverde: Dialéctica de la economía mexicana; C. Cardoso (Hg.): México en el siglo XIX; S. Pefla: La formación del capitalismo en México.

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die durch Rassenmischung integrierte Mestizo-Gesellschaft war - in der Phraseologie von José Vasconcelos - eine neue „kosmische Rasse". 19 Im Gegensatz zu dieser harmonistischen Sicht einer nahezu perfekt funktionierenden Kolonialadministration und -Wirtschaft - eine Interpretation, welche die mexikanischen Probleme des 19. Jahrhunderts nahezu ausschließlich der Unabhängigkeitsära und ihren Politikern zuschreibt - hat John H. Coatsworth die „Grenzen des kolonialen Absolutismus" aufgezeigt. 20 Am besten, so lautet seine These, funktionierte der Kolonialstaat als Steuereintreibungssystem, insbesondere in der Ära der bourbonischen Reformen. Die Regierungsausgaben beliefen sich im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts auf sieben bis neun Prozent des kolonialen Bruttoinlandsprodukts, im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gar auf spektakuläre 2 5 % des Volkseinkommens der Kolonie. Ungefähr die Hälfte aller Staatseinnahmen wurde (zur Unterstützung anderer Teile des spanischen Imperiums oder - vor allem - direkt in die Metropole) ausgeführt: zu Beginn des 18. Jahrhunderts rund eine Million Pesos pro Jahr, Mitte des Jahrhunderts bereits zwischen zwei und vier Millionen, in den 1780er Jahren (nach Alexander von Humboldt) zehn Millionen, während der Napoleonischen Kriege 15 Millionen, kurz vor Beginn der Unabhängigkeitskämpfe mindestens zwischen 25 und 30 Millionen Pesos, das heißt zwischen zehn und zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Infolge der wirkungsvollen Steuereinziehung erreichten die Staatseinnahmen während der Regierungszeit Revillagigedos (1789-1794) den Höchstpunkt der Kolonialära, wozu sicherlich auch das 1764 eingerichtete Tabakmonopol beitrug. Diese Angaben lassen deutlich werden, dass das Kolonialregime bei der Extraktion von Ressourcen besonders effizient arbeitete. Diese Effizienz wurde allerdings mit Gesetzen, Institutionen und einer Politik erkauft, die den kolonialen Wirtschaftsaktivitäten Fesseln anlegten. Die wichtigsten der Wirtschaft auferlegten Beschränkungen waren zum einen die sozioethnischen Zuschreibungen, die einen getrennten juristischen Status für Europäer (Spanier und Kreolen), castas (gemischtrassische Personen) und indios vorsahen, zum anderen die Unmenge an Staatsinterventionen zu Fiskalzwecken, worunter nicht nur das Steuersystem im engeren Sinne, sondern auch die Regulierungen, Konzessionen, Privilegien, Staatsmonopole und Sondergenehmigungen zu verstehen sind, die das System trugen. Diese auf der Wirtschaft lastenden Zwänge machten die ökonomische Organisation ineffizient und reduzierten somit die Wirtschaftsproduktivität. Das System der sozioethnischen Zuschreibungen bezog sich auf Wohnort, Beruf und Zivilstatus. Jede Gruppe hatte in der Kolonialgesellschaft unter-

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So auch der Titel des Buches von C.M. MacLachlan / J.E. Rodriguez O.: The Forging of a Cosmic Race. J.H. Coatsworth: The Limits of Colonial Absolutism.

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schiedliche Steuerpflichten, „bürgerliche" Rechte und wirtschaftliche Prärogativen. Durchlässigkeit von unten nach oben erfolgte nur sehr beschränkt in Form des mestizaje, das hispanisierten indios eine beschränkte Form der sozialen Mobilität eröffnete, und nur wenigen Mestizen gelang die Assimilation in die criollo-Elite. Innerhalb der einzelnen sozioethnischen Kategorien erfolgten weitere Differenzierungen der Privilegien; korporative Institutionen wie der Consulado (das Oligopol der spanischen Großhändler), die im Cuerpo de Mineria zusammengeschlossenen Bergwerksbesitzer oder Handwerkerzünfte erhielten besonderen Schutz oder Sonderrechte. Dieses System mit seiner (pseudo-)genauen Zuweisung von Rechten und Chancen führte nicht nur zu zahlreichen Konflikten und Auseinandersetzungen, sondern erwies sich vor allem als für die Wirtschaft negativ: Es reduzierte die geographische und berufliche Mobilität, verzerrte die Marktbedingungen und erhöhte die Unternehmensrisiken; insgesamt schränkte es den ökonomischen und sozialen Raum für Wandel und Innovation ein. Die zweite Kategorie von Wirtschaftsbeschränkungen bestand in den vielfaltigen Formen von Staatsinterventionismus, deren Hauptzweck die Sicherstellung staatlicher Einnahmen war. Die Formen der Besteuerung waren nahezu so vielfaltig wie die besteuerten Aktivitäten und machten einen kostspieligen Apparat erforderlich; um die Kosten der Fiskusbürokratie gering zu halten und Steuersünder leichter ertappen zu können, restringierte die Kolonialregierung außerdem (wie die meisten prämodernen Staaten) Produktionsstätten, Handelsrouten und Marktplätze. Die vielfaltigen Regierungsinterventionen, die zahlreichen Belastungen und die Unmenge an Restriktionen, die nahezu jeder Form wirtschaftlicher Aktivität auferlegt wurden, stellten derartige Hindernisse dar, dass die Produktivität der Wirtschaft sank. Zwar kann der Impakt dieses Systems nicht direkt (etwa im Rückgang öffentlicher oder privater Aktivitäten) gemessen werden; die wichtigste indirekte Folge dürfte im privaten Bereich die Unterbindung neuer und produktiverer Wirtschaftsaktivitäten, im öffentlichen Sektor der Ausfall des Staates als Modernisierungsagent mit dem Ziel einer Produktivitätssteigerung (etwa durch Transportverbesserungen, Rationalisierung des Steuersystems oder Reform des Justizwesens) gewesen sein. Die wirtschaftliche Aktivität Neu-Spaniens kann am besten im Bereich der Silberproduktion gemessen werden;21 das vorliegende Zahlenmaterial lässt Zur Entwicklung des Bergbaus im kolonialen Amerika vgl. M. Bargalló: La minería y la metalurgia en la América española durante la época colonial. Der Verfasser beginnt mit einem Rückblick auf die Tradition des spanischen Bergbaus und auf die Kenntnisse der indios von den Metallen und ihrer Verarbeitung; er verfolgt dann die Fortschritte im amerikanischen Bergbau und Verhüttungswesen vom 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts, wobei auch der Tätigkeit Alexander von Humboldts gebührend gedacht wird. R.C. West: The Mining Community in Northern New Spain, beschreibt die Gold- und Silber-

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314 erkennen, dass die tumsrate zu Beginn Jahren einen kurzen 1770er und 1790er

Edelmetallproduktion ihre höchste und längste Wachsdes 18. Jahrhunderts aufwies, sodann fiel, in den 1740er B o o m erlebte, danach erneut sank und schließlich in den Jahren abermals anstieg. 2 2 N i m m t man allerdings die

„deflationierten" Werte (das heißt die Produktionsangaben in ihrer realen Kaufkraftfunktion, also unter Berücksichtigung der Preisentwicklung) als Berechnungsgrundlage, dann nimmt sich das Wachstum in der Bourbon-Ära viel bescheidener aus, und ab den 1770er Jahren war die Wachstumsrate sogar negativ; z w i s c h e n 1779 und 1805/9 sank der Marktwert der Edelmetallproduktion um durchschnittlich 1.0 % pro Jahr; zugleich stiegen die Produktionskosten. A u c h andere Indikatoren wirtschaftlicher Aktivitäten lassen erkennen, dass die Jahre nach 1780 einen Niedergang in der Wirtschaft erfuhren; 23 in gewinnung im nördlichen Mexiko im Distrikt El Parral, während des 17. Jahrhunderts Neben den technischen Fragen zeigt er auf, wie mit dem Ansturm der Gold- und Silberunternehmer sich Ackerbau und Viehzucht in dem Bergwerksort entwickelten und ein typischer agrarisch-industrieller Siedlungs- und Wirtschaftskomplex entstand. Bei der Reorganisation des kolonialen Bergbaus durch die Reformen der Regierung Karls III. gewann eine besondere Bedeutung die Begründung (1777) des Cuerpo de Minería, der Korporation der Bergwerksbesitzer und Bergwerksunternehmer, die eine eigene Gerichtsbarkeit besaß (Tribunal de Mineria), eine Bank unterhielt und eine Fachschule für den Bergbau einrichtete. Die Organisation und Tätigkeit dieser Korporation hat Walter Howe in einem gründlichen und aufschlussreichen Werk dargestellt. Zu den Reformen im Bergbau ist auch die Schrift von Ryden über die Brüder Elhuyar und die Entdeckung des Wolframs heranzuziehen. W. Howe: The Mining Guild of New Spain and its Tribunal General 1770-1821; S. Ryden: Don Juan José de Elhuyar en Suecia (1781-1882) y el descubrimiento del tungiteno. Vgl. auch, als eine der wichtigsten Quellen zum novohispanischen Bergbau, die Darstellung von F. de Elhuyar: Memoria sobre el influjo de la Mineria en la Agricultura. 22

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R.L. Garner: Silver Production and Entrepreneurial Structure in Eighteenth-Century Production and Entrepreneurial Structure in Eighteenth-Century Mexico; J.H. Coatsworth: Mexican Mining Industry in the Eighteenth Century. Zur Entwicklung und Bedeutung der Textilindustrie in der Spätphase der Kolonialära vgl. N. Jacobsen / H.-J. Puhle (Hg.): The Economies of Mexico and Peru During the Late Colonial Period; D.A. Brading: Facts and Figments in Bourbon Mexico, hat Coatsworths Zahlenmaterial kritisiert. Die von Coatsworth hervorgehobene spektakuläre Zunahme an Staatseinnahmen hat es in dieser Form nicht gegeben. Der Fehler in Coatsworths Kalkulation besteht in der Übernahme des von Te Paske edierten Zahlenmaterials der Real Caja von México, wobei Te Paske übersehen hat, dass die Angaben der Real Caja nicht die Netto-Staatseinnahmen darstellen, sondern: „They are a record both of the inflow and outflow of monies through the treasury and also of monies permanently charged to the account of that treasury. They do not cover the totality of revenue, but they do include loans and other debts which were carried over from year to year" (S. 62). Vgl. J.J. Te Paske (zusammen mit J. und M.L. Hernández Palomo): La Real Hacienda de Nueva España. Dieses Zahlenmaterial wird (ebenfalls falsch) verwendet in J.J. Te Paske / H.S. Klein: The Seventeenth-Century Crisis in New Spain; vgl. die Kritik an diesem Aufsatz: H. Kamen / J.I. Israel: Debate: The Seventeenth-Century Crisis in New Spain sowie Kleins und Te Paskes Entgegnung: A Rejoinder. Als Ergeb-

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den 1790er Jahren übertrafen die Regierungsausgaben auch zum ersten Mal im Jahrhundert den Wert der kolonialen Edelmetallproduktion. Der aus diesen Zahlen ableitbare Trend besagt, in Coatsworths Interpretation, dass in den Jahrzehnten, in denen zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Bürokratie im kolonialen Mexiko schwach und das Interesse der Metropole an seiner überseeischen Besitzung eher gering war, die Wirtschaft am schnellsten wuchs, während die deutliche „Zunahme an Regierung" im Zuge der Durchsetzung der bourbonischen Reformen dazu führte, dass die Regierungsausgaben die Silberproduktion übertrafen; schließlich dürfte die Kolonie das ganze in ihr geförderte Silber ins Mutterland exportiert haben - ein erneuter Beleg fiir die Effizienz des kolonialen Staates zur Abschöpfung von Ressourcen, zur Regelung wirtschaftlicher Aktivitäten, aber auch zur Bremsung wirtschaftlichen Wachstums. Denn: Im Gegensatz zur immer wieder vertretenen Behauptung eines „Minenbooms" gegen Ende des 18. Jahrhunderts befand sich der Bergbau zu diesem Zeitpunkt bereits in erheblichen Schwierigkeiten und konnte nur dadurch überleben, dass er aus der Staatskasse subventioniert wurde und Ressourcen aus anderen Sektoren abzweigte. Die massive Unterstützung durch die Regierung führte zwar noch einmal zu einer (künstlichen) Steigerung der Produktion, nicht jedoch zu einem Boom. Es waren nicht die Aufständischen nach 1810, die durch Zerstörung der Bergwerke den Niedergang der Edelmetallproduktion herbeiführten; diese steckte bereits vor Beginn der Unabhängigkeitsbewegung in einer tiefen Krise. Die Kriegsereignisse akzelerierten lediglich die Krise des Steuersystems, die die öffentlichen Subsidien in jedem Fall beendet und damit den Kollaps der Bergwerksindustrie herbeigeführt hätte.24 Die Fähigkeit des Staates zur Steuereintreibung stellte einen deutlichen Kontrast zur staatlichen Unfähigkeit in anderen Bereichen der politischen und administrativen Aktivität dar: Der Staat konnte die kolonialen Grenzen nicht schützen, er konnte sein Gewaltmonopol nicht durchsetzen, es gelang ihm nicht, eine professionelle Armee zur Verteidigung des Landes gegen äußere Feinde (nomadisierende Indianer im Norden) oder zur Niederschlagung innerer Revolten (regionale „Kasten"-Kriege, Dorfrevolten) aufzustellen; die Regierung war im ländlichen Mexiko, wo die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte, kaum präsent, so dass in diesen Bereichen (trotz des Bestehens einer umfangreichen Gesetzgebung) faktisch politisch-juristische Strukturen informeller und autonomer Art das Alltags- und Arbeitsleben (etwa auf den haciendas) regulierten; der „Staat" reichte kaum bis zur ländlichen Bevölkerung hinab - und wenn, dann in Form bereicherungslüsterner Beamter,

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nis dieser Debatte kann festgehalten werden, dass die Angaben über spätkoloniale Staatseinnahmen nach unten korrigiert werden müssen. J.H. Coatsworth: Mexican Mining Industry in the Eighteenth Century.

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mit denen die „Republik der indios", die ethnisch und juristisch von der „Republik der Spanier" stets getrennt blieb, nichts zu tun haben wollte. Der koloniale Staat wies somit zwei (sich gewissermaßen widersprechende) Aspekte auf: Er war stark und effizient hinsichtlich seiner fiskalischen Ziele, schwach und inkompetent in den anderen Bereichen. Ganz offensichtlich konzentrierte er seine militärisch-bürokratischen Fähigkeiten auf den Fiskalbereich und wurde in den übrigen nur fallweise (etwa bei direkter Bedrohung) aktiv. Die positiven Effekte anderer zentralistisch-absolutistischer Staaten - die Investition der abgeschöpften Mittel in Infrastrukturmaßnahmen (Hafenanlagen, Straßen, öffentliche Dienstleistungen) - kamen Mexiko allerdings nicht zugute, da der größte Teil der extrahierten Ressourcen ohne irgendeine Kompensation nach Spanien oder in andere Teile des Imperiums abfloss. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass bei dieser Interpretation der spätkolonialen Wirtschaft und der Rolle des Staates Coatsworth in seiner Darlegung der Gründe für die wirtschaftliche Depression Mexikos im 19. Jahrhundert erheblich von Rodriguez abweicht. Zwar betont auch er die Rolle topographischer Verhältnisse als ein natürliches Hinderais für wirtschaftliches Wachstum (er räumt den schlechten Verkehrsbedingungen sogar eine viel größere Bedeutung als Rodriguez ein); sein Hauptaugenmerk liegt aber gerade auf jenen „feudalen" Verhältnissen, die Rodriguez bewusst leugnet. Sieht dieser in der Kolonie Harmonie und Fortschritt verwirklicht, so hebt jener in seiner revisionistischen Deutung hervor, dass die wirtschaftlichen und politischen Übel, die im republikanischen Mexiko vorherrschten und in traditionellen Interpretationen der Unabhängigkeitsbewegung und ihren Folgen zugeschrieben werden, ihren Ursprung in der Kolonialära hatten.25 Coatsworth zufolge war somit das Bergwesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts kurz vor dem Kollabieren, und die koloniale Produktion konnte nur dank der Stützungsmaßnahmen aufrechterhalten werden, die ihr die Bourbonen zukommen ließen.26 Die Bergwerksaktivitäten nahmen nur dank der finanziellen Unterstützungen und des zusätzlichen Handelskapitals zu, das in den Minensektor floss. Allerdings hatten nicht nur die Bergwerke ernsthafte StrukCoatsworths Schlussfolgerungen stimmen im Wesentlichen mit den Ergebnissen einer Regionalstudie über Michoacán im 18. Jahrhundert überein, aus der deutlich hervorgeht, dass im regionalen Kontext die Steuereinnahmen viel schneller anstiegen als die Bergwerks-, Landwirtschafts- und manufaktureile Produktion. Das Ergebnis war ein verstärkter Kapitalabzug nach Europa, ein chronischer Mangel an flüssigem Kapital und die Notwendigkeit, auf nahezu allen Ebenen der wirtschaftlichen Aktivität auf Darlehen zurückgreifen zu müssen. Die Bereicherung der Krone jedenfalls kann dieser Studie zufolge nicht länger als allgemeiner Maßstab für koloniales Wohlergehen im 18. Jahrhundert angeführt werden. Vgl. C. Morin: Michoacán en la Nueva España del siglo XVIII. 26

J.H. Coatsworth: The Mexican Mining Industry in the Eighteenth Century.

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turprobleme, sondern die Wirtschaftsstruktur Neu-Spaniens insgesamt: Die Landwirtschaft war stark segmentiert und in eine eher prosperierende, marktorientierte und eine eher subsistenzorientierte aufgeteilt; die institutionellen Vorschriften (merkantilistischen Zuschnitts) forderten nicht die Entwicklung eines Manufaktursektors; der Export von Silber führte zu Münzknappheit; die fehlenden Verkehrsverbindungen und die zunehmende Verschlechterung der Wege segmentierten den Markt weiter.27 Gegen Ende der Kolonialzeit erfolgte ein gewaltiger Transfer wirtschaftlicher Ressourcen von Neu-Spanien in die Metropole, der die Steuerlast auf breite Bevölkerungsschichten ansteigen ließ, die Institutionen entkapitalisierte, die langfristige Kredite gewährten, und den Preis für Geld verteuerte.28 Dieser Ressourcenabfluss verhinderte, dass die notwendigen Investitionen in die verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten erfolgten, insbesondere im Bergwesen, der Landwirtschaft und in der Aufrechterhaltung der Verkehrsinfrastruktur. Diese beiden Interpretationen stellen in der Forschungskontroverse zwei Positionen dar, die trotz ihrer deutlich differierenden Akzentsetzungen übereinstimmend die Rolle des kolonialen Staates als Wirtschaftsregulator hervorheben. Mit der Rolle des Staates rücken sie einen Aspekt in den Mittelpunkt des Interesses, der auch in der postkolonialen Ära von erheblicher Signifikanz bleiben sollte und zum Verständnis sowohl der wirtschaftsliberalen Laissezfaire-Politik der 1820er wie der erneut interventionistischen Haltung der 1830er und 1840er Jahre von zentraler Bedeutung ist. Beide Autoren - die hier nur exemplarisch als Vertreter unterschiedlicher Forschungsansätze referiert worden sind - stimmen in der Konstatierung bedeutender materieller Fortschritte der Kolonie im Verlauf des 18. Jahrhunderts überein. Sie stehen damit in einer historiographischen Tradition, die bereits mit Alexander von Humboldt ihren Anfang nahm, der die positiven Resultate der Reformpolitik des aufgeklärten Absolutismus - vor allem unter der Herrschaft Karls III. hervorgehoben hatte. Für den „Wiederentdecker Amerikas" war ein entscheidendes, seiner physiokratischen Einstellung entsprechendes Kriterium die Tatsache, dass der Agrarsektor zusehends an Gewicht gewann und im absoluten Produktionswert die Edelmetallausbeute deutlich übertraf.29 Der Berg-

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Vgl. E. Cárdenas Sánchez: Cuando se originó el atraso económico de México, S. 21-36. C. Manchal: La bancarrota del virreinato Nueva España y las finanzas del Imperio español. F.A. von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreiches Neu-Spanien. Der Zusammenhang zwischen dem Aufschwung des Bergbaus und den übrigen Sektoren der Wirtschaft ist in der Forschung umstritten. Während einige Interpreten davon ausgehen, dass der zugunsten der Interessen des Mutterlandes überentwickelte Bergbau die novohispanische Wirtschaftsstruktur insgesamt „verzerrte", betonen andere die Rolle der Edelmetallproduktion als führender Wirtschaftssektor, der auch Wachstum in den anderen Bereichen (Landwirtschaft, Handel) induzierte. Einige regionale Studien landwirtschaftlicher Entwicklung lassen deutlich werden, dass zu Beginn des

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werkssektor trug um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nur noch mit 8.2% zum Bruttoinlandsprodukt bei, die Landwirtschaft jedoch mit 21.9%. Manfred Kossok hat darauf hingewiesen, dass sich damit zwar potentiell die Möglichkeit zur Überwindung der für den kolonialen Charakter der Wirtschaft typischen Disproportionen eröffnete, eine derartige Entwicklung jedoch nicht im Interesse Spaniens lag, wie die Beibehaltung von Restriktionen im Landwirtschaftsbereich sowie die Maßnahmen gegen das Aufkommen von Manufakturen und andere Formen der gewerblich-industriellen Aktivität beweisen.30 Aus den partiellen Fortschritten leitete Humboldt keineswegs eine Idealisierung der Kolonialpolitik ab, erkannte er doch, dass die Grenze von Reform und Förderung dort lag, wo die Keime einer ökonomischen Verselbständigung der Kolonie entstehen konnten. Ihre besten Ergebnisse erzielten die bourbonischen Reformen in jenen bereits erwähnten Bereichen (Bergwerke, Steuererhebung, Monopole), die für die metropolitane Wirtschaft von besonderer Bedeutung waren und zu deren Nutzen sie letztlich unternommen wurden. Allerdings machten sie Neu-Spanien nicht nur zum bedeutendsten Silberproduzenten der Erde und zur wichtigsten Stütze der spanischen Wirtschaft, sondern führten darüber hinaus zu Konsequenzen, die den Interessen des Mutterlandes entgegenliefen: So spalteten die Reformen etwa die zuvor geeinte koloniale Oligarchie, da die wirtschaftliche Macht der Kirche erheblich gemindert, der Consulado von Mexiko-Stadt durch die Einrichtung weiterer Consulados in Veracruz und Guadalajara geschwächt, der Einfluss lokaler Eliten auf politische Entscheidungen durch die Einführung des unmittelbar königlicher Prärogative unterstehenden Intendantensystems tendenziell beseitigt wurden.31 Der „Import" spanischer Beamter zur Besetzung der neuen Verwaltungsposten verwies die mexikanischen Kreolen, die Audiencia-Posten und bürokratische Positionen zu besetzen begonnen hatten, erneut ins zweite Glied. Andererseits ermöglichte es die Fraktionierung der Macht und der Quellen des Reichtums, über die der Consulado von Mexiko-Stadt zuvor verfügt hatte, neuen Gruppen etwa mittleren Händlern, Inhabern von Manufakturen in den Provinzen, Bergwerksbesitzern - , den wirtschaftlichen Aufschwung ökonomisch zu nutzen (ohne dass diese Gruppen aber ein politisches Mitgestaltungsrecht gehabt hätten). Zusammen mit dem unter den Kreolen weitverbreiteten Bewusstsein

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18. Jahrhunderts die Landwirtschafts-Trends mit denen des Bergbauwachstums übereinstimmten, die Landwirtschaft somit vom Minensektor profitierte. Vgl. E. Wolf: The Mexican Bajio in the Eighteenth Century, S. 177-200. M. Kossok: Alexander von Humboldt und der historische Ort der Unabhängigkeitsrevolution Lateinamerikas, S. 1-26. Hierzu H. Pietschmann: Die Einführung des Intendantensystems in Neu-Spanien im Rahmen der allgemeinen Verwaltungsreform der spanischen Monarchie im 18. Jahrhundert.

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der wirtschaftlichen Autonomie Neu-Spaniens, dürften diese Veränderungen zur Destabilisierung der Kolonie und letztlich zu ihrer Unabhängigkeit beigetragen haben. 32 Auch andere Autoren haben auf institutionelle Faktoren zurückgegriffen, um die Entwicklung des unabhängigen Mexiko zu erläutern. Angus Maddison etwa erklärt die ökonomische Abkoppelung des Landes im Vergleich zu den früheren britischen Kolonien in Nord-Amerika anhand von Unterschieden, die man ebenfalls als institutionell bezeichnen könnte: Verteilung des Grund und Bodens, Abschöpfung von Steuern, Handelsrestriktionen, Zentralisierung der Macht, soziale Stratifikation. 33 Rafael Dobado González empfiehlt, diese Unterschiede im Hinblick auf die Disparität von Handelsbedingungen zu untersuchen, denen zwei Paradigmata zugrunde gelegt werden können: ein geographisches, demzufolge die geographisch-territorialen Bedingungen für große Teile Spanisch-Amerikas ungünstig waren, was bereits einen Gutteil des komparativen Rückstands der iberoamerikanischen Länder erklären hilft; und ein institutionelles, demzufolge „Europeans introduced or maintained already existing extractive institutions to force the large population and the slaves imported from Africa to work in mines and plantations, and took over existing tax and tribute systems". 34 Kenneth L. Sokoloff und Stanley L. Engerman haben diese Interpretation weiterentwickelt und sind zu der Schlussfolgerung gelangt, dass Ausgangsbedingungen, die der Entstehung von Plantagenwirtschaften oder groß angelegten Bergwerksaktivitäten förderlich waren, zugleich die Herausbildung extrem ungleicher Wirtschaftsstrukturen im Hinblick auf Reichtum, Humankapital und politische Macht bedingten. Auf diese Weise wurde ein institutioneller Rahmen geschaffen, der der langfristigen Wirtschaftsentwicklung weniger förderlich als in den angelsächsischen Kolonien war, die auf gleichmäßigen, familienorientierten Landwirtschaftseinheiten beruhten. 35 Sowohl John Coatsworth 36 als auch andere Autoren 37 haben somit das angebliche Wirtschaftswachstum der späten Bourbon-Ära stark relativiert. Wenn auch die Unabhängigkeitskriege vielfaltige Zerstörungen verursachten, kann

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Damit wird nicht ein direkter Zusammenhang zwischen Reformpolitik und Unabhängigkeitsbewegung postuliert, denn obwohl die bourbonischen Reformen zweifellos in bestehende Interessenkonstellationen der kolonialen Eliten eingriffen und somit destabilisierend wirkten, fiel der Beginn der Unabhängigkeitsbewegung mit einer Phase der erneuten politisch-administrativen Konsolidierung zusammen. Entscheidend fiir den Zeitpunkt der Unabhängigkeitskriege waren äußere Faktoren (europäische Konflikte). A. Maddison: L'économie mondiale: une perspective millénaire, S. 115. D. Acemoglu / S. Johnson / J.A. Robinson (2001), zitiert nach: R. Dobado González: Algunas consideraciones sobre el colonialismo español en América, S. 25. K.L. Sokoloff / S.L. Engerman: History Lessons. J. Coatsworth: Los orígenes del atraso. E. Van Young: La crisis del orden colonial.

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man dieser Deutung zufolge die mexikanische Krise der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besser als Resultat des Verlusts an Rentabilität des Bergwerksektors und an Binnenkaufkraft erklären, die aus den hohen Kolonialkosten resultierten, die die Metropole ihrer Kolonie aufzwang; auch der massive Kapitalexport im Zuge der Kampfhandlungen spielte eine Rolle. Die Unabhängigkeit stellt in dieser Sicht nicht den Grund der wirtschaftlichen Übel der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar, sondern ist eher die Folge des ungleichgewichtigen Wachstums und der Verwerfungen in der Epoche des bourbonischen Reformismus.

Ökonomische und fiskalische Interpretationen Die Gründe für die mexikanische Stagnation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigen nicht nur Historiker seit langem; schon Zeitgenossen haben sich intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt. Richard J. Salvucci hat jüngst eine wichtige wirtschaftshistorische Schrift eines dieser Zeitgenossen aus der depressiven Phase der Nach-Unabhängigkeitszeit neu ediert.38 Der anonyme Autor - möglicherweise handelte es sich um José Mariano Michelena - des Textes mit dem Titel Algunas consideraciones económicas aus dem Jahr 1836 präsentierte für das damalige Mexiko eine kohärente Erklärung für die Beziehung zwischen Währungssystem, Preisindex und Zahlungsbilanz einerseits sowie der wirtschaftlichen Depression zu Beginn des 19. Jahrhunderts andererseits. Die mexikanischen Löhne und Gehälter, so lautete das Argument, waren mindestens drei- bis sechs Mal höher als in den meisten Edelmetall produzierenden Ländern, was aber andererseits notwendig war, da die Menge an Silber zu höheren Preisen führte. Das Silber machte somit Mexiko zu einem teuren Land, und deshalb konnte es Manufakturwaren nicht gewinnbringend produzieren. Die Schrift wies darauf hin, „cómo la plata afectaba la producción real y por qué su función fue tan crucial en el auge y caída de las economías de finales de la colonia y principios del Estado nacional."39 Der Autor kam immer wieder auf die angebliche Unfähigkeit Mexikos zurück, im Manufakturwesen zu konkurrieren - und das in einem historischen Augenblick, als das Land gerade seine ersten Textilfabriken schuf. In mehrfacher Hinsicht könnte die Schrift Algunas consideraciones económicas als eine erste Zusammenfassung der Ursprünge der wirtschaftlichen Depression Mexikos zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelten; sie war ein Vorläuferwerk des modernen ökonomischen Denkens. Vor über zwei Jahrzehnten schon hat Enrique Cárdenas eine Studie über die mexikanische Depression im 19. Jahrhundert vorgelegt. Wie vor im John

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R.J. Salvucci: Algunas consideraciones económicas. Ebd., S. 93.

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Coatsworth ging er davon aus, dass der Ursprung der relativen Unterentwicklung der mexikanischen Wirtschaft auf das 18. Jahrhundert zurückzuführen ist. Er erklärte die ökonomische Depression anhand von drei Hauptfaktoren: zum einen als Folge der Politiken der spanischen Krone, vor allem in der Spätphase der Kolonialzeit (Ressourcenabfluss, Protektionismus); zum anderen aufgrund der spezifischen geographischen Charakteristika Mexikos (Fehlen schiffbarer Flüsse, ineffizientes Verkehrsnetz); zum Dritten schließlich als Folge der Industriellen Revolution in den Ländern des Nordatlantik. Diese Probleme bildeten gewissermaßen das historische Erbe, das auf die Entwicklung des unabhängigen Mexiko einwirkte. Folgt man Cárdenas, dann waren die wichtigsten Faktoren, die den Erfolg der Modernisierungsmaßnahmen im 19. Jahrhundert verhinderten oder zumindest erschwerten, die politische Instabilität, fehlende Investitionsmittel und die hohen Transportkosten.40 Diese Hindernisse konnten erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beseitigt werden. Selbst das wirtschaftliche Wachstum im Porfiriat scheint deutlich weniger dynamisch als früher angenommen gewesen zu sein. Lange Zeit ist in der wirtschaftshistorischen Fachliteratur behauptet worden, dass die mexikanische Wirtschaft zwischen 1877 und 1911 eine Phase beschleunigten und anhaltenden Exportwachstums erlebte; die Exportdynamik soll ein entscheidendes Wirtschaftswachstum und zahlreiche Strukturveränderungen in der Binnenwirtschaft hervorgerufen haben. Vor einigen Jahren gelangte allerdings Luis A.V. Catäo, nach einer gründlichen Überprüfung der makroökonomischen Zahlen, zu dem entgegengesetzten Ergebnis. Er behauptet, „that economic growth in Porfirian Mexico was relatively unresponsive to export expansion, as other macroeconomic aggregats did not co-move with exports during most of the 1878-1911 period and, for the most part, displayed much slower growth [...] The relative size of the Mexican export sector was small and so were its backward, forward and fiscal linkages. These were major structural constraints to a surplus transfer between the export sector and the rest of the economy." 41

Wirtschafts- und Finanzhistoriker haben errechnet, dass der mexikanische Staat des 19. Jahrhunderts nicht in der Lage war, die elementaren Steuereinnahmen zur Finanzierung der laufenden Regierungsausgaben und der überdimensionierten Militärbedürfnisse zu erwirtschaften. Diesen Aspekt betonen unter anderem Marcello Carmagnani, Barbara Tenenbaum, Rosa M. Meyer

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E. Cárdenas Sánchez: Algunas cuestiones sobre la depresión mejicana del XIX, S. 3 22.

L.A.V. Catao: Mexico and export-led growth, S. 74.

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Cosío, Carlos Marichal und Richard J. Salvucci.42 Die Steuermittelknappheit zwang die Regierung in die Verschuldung, vor allem bei den einheimischen Unternehmen (agiotistas), zum Teil aber auch im Ausland. Auf diese Weise wurden die wenigen zur Verfugung stehenden Mittel in die Hände der Regierung gelenkt, was wiederum zur Folge hatte, dass die wirtschaftlichen Aktivitäten keine solide Finanzierung hatten. Zu den größten Problemen des unabhängigen Mexiko zählte die Steuereintreibung. Das erste Kaiserreich von Iturbide (1822/23) scheiterte nicht sosehr an den Rebellionen jener Jahre, sondern primär am Mangel an Geld. Und alle Regierungen der folgenden Jahrzehnte hatten unter dem fiskalischen Problem zu leiden. Die Verfassung von 1824 teilte die Einnahmen zwischen Zentralregierung und Gliedstaaten auf, aber von Anfang an weigerten sich die Gliedstaaten, dem Zentralstaat Steuermittel zu überlassen, da sie an dessen Autorität und Kompetenz erhebliche Zweifel hatten.43 Außerdem nahmen die Steuereinnahmen als Folge der Kontraktion der produktiven und der Handelstätigkeit, wegen der fehlenden Kontrolle an den Zollstationen und des zunehmenden Schmuggels 44 sowie infolge der schlechten Verwaltung des Tabakmonopols kontinuierlich ab. Letztlich war es - zusätzlich zur Wirtschaftsrezession - auf die Ineffizienz der Regierung und auf die Stärke der Gliedstaaten zurückzuführen, dass die Steuerressourcen stets unzureichend waren. Andere Beiträge weisen einige Nuancierungen in der Argumentation auf. Marcello Carmagnani 45 und Pedro Pérez Herrero46 etwa sehen in der Wirtschaftskrise der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuvörderst eine Folge des fehlenden politischen Konsenses zwischen den verschiedenen Machtgruppen im Hinblick auf die Schaffung eines starken Staates mit effizienten Investitionen. Die Eliten benutzten den Staat zu ihrem Nutzen, sie hatten an einem starken Staat kein Interesse. Zu Beginn der 1990er Jahre kamen Richard und Linda Salvucci wieder auf die Frage der wirtschaftlichen Folgen der mexikanischen Unabhängigkeit zurück.47 Sie führen die geringe volkswirtschaftliche Leistung des Landes nach der Unabhängigkeit auf die institutionelle Anarchie zurück, die auf den Kollaps des spanischen Imperiums folgte. Die Kriege, die politische Instabi-

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R.M. Meyer Cosío: Empresarios, crédito y especulación; C. Manchal: Obstacles to the Development of Capital Markets in Nineteenth Century Mexico; R.J. Salvucci et al.: The Politics of Protection. B. Tenenbaum: The Politics of Penury. Debts and Taxes in Mexico. W.L. Bernecker: Contrabando. M. Carmagnani: Finanzas y estado en México. P. Pérez Herrero: „Crecimiento" colonial versus „crisis" nacional. R.J. Salvucci / L.K. Salvucci: Las consecuencias económicas de la independencia mexicana.

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lität und der Militarismus veränderten auch die Investitions- und Konsummuster, verhinderten zugleich eine wirksame Ressourcenverteilung und erschwerten die Anpassung an das neue System des internationalen Handels. D i e Unruhen des 19. Jahrhunderts beeinträchtigten die Investitionen und das potenzielle Wachstum der Produktion, so dass das Pro-Kopf-Einkommen langfristig stagnierte. D i e Kosten der politischen Agitation liegen für die Wirtschaft auf der Hand: D a s Wachstum nimmt Schaden, w e n n der wirtschaftliche Überschuss konsumiert und nicht investiert wird. D i e beiden Autoren identifizieren drei Gründe für die Stagnation der Einkommen z w i s c h e n den zwanziger und den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts: „Primera, durante las dos décadas que siguieron a la independencia, la producción de plata cayó espectacularmente, y no se recuperó hasta los años cuarenta. Segunda, la cotización comercial de la plata fue desfavorable en los años treinta y la balanza de pagos estuvo desequilibrada hasta los últimos treinta. Tercera, la deuda pública aumentó muy de prisa, sobre todo en los años treinta." 48 Enrique Cárdenas hat die Verschlechterung der mexikanischen Wirtschaftssituation zu Beginn der Unabhängigkeit als einen circulus vitiosus beschrieben: „The contraction of the mining sector and the capital flight that occurred during the colonial period and the war, along with the separation from Spain in 1821, generated monetary astringency and left little financial capital available to the international trade by creating a scarcity of foreign exchange. Political instability, coupled with the virtual destruction of some of the most important mines and the difficulties in rehabilitating them in the following two decades, reduced the availability of means of payment and diminished economic activity in general. This reinforced the lack of financial resources available for investment. The drastic restriction in trade then eroded the main source of financial savings for most productive activities, including mining itself and the rehabilitation of the transportation system. This erosion of saving for productive activities limited further trade and the creation of a domestic market that could take advantage of new technologies and expand economies of scale. Output thus fell drastically during the first two decades after Mexico's independence." 49 In einer neueren Studie stellt Rafael D o b a d o González erneut die Frage nach den wirtschaftlichen Kosten der Unabhängigkeit für M e x i k o . 5 0 Für die

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Ebd., S. 42. E. Cárdenas: A Macroeconomic Interpretation of Nineteenth-Century Mexico, S. 66. R. Dobado González: Algunas consideraciones sobre el colonialismo español en América. Vgl. hierzu auch R. Dobado González / G. Marrero: Minería, crecimiento económico y costes de la Independencia en México.

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Kolonialzeit geht er vom Interpretationsparadigma des mining-led growth aus. Darunter versteht er ein Modell wirtschaftlichen Wachstums, das auf der säkularen Expansion der novohispanischen Bergwerksproduktion zwischen Ende des 17. und Anfang des 19. Jahrhunderts beruhte. Der Bergwerkssektor war seinerseits keine Enklave, und seine Expansion beförderte das Wachstum der novohispanischen Wirtschaft. Dobado González zufolge waren die Kosten der mexikanischen Unabhängigkeit vor allem auf die negativen Effekte der Wachstumsunterbrechung im Bergwerkssektor auf die mexikanische Wirtschaft zurückzufuhren. Diese Unterbrechung hing mit der Beendigung der umfangreichen und billigen Quecksilberlieferungen seitens der Metropole und mit der Kapitalflucht zusammen. Ebenso wie Cárdenas und Salvucci betont auch Dobado González die Rolle finanzieller und monetärer Faktoren, die mit dem Zusammenbruch des Bergwerkssektors zusammenhingen. Nach Beginn der Unabhängigkeitskämpfe ließ sich der bourbonische mining-led growth nicht länger aufrechterhalten, zum Teil aufgrund der unmittelbaren Kosten der Unabhängigkeit, vor allem aber wegen der Veränderungen der Wirtschaftspolitik des unabhängigen Mexiko und der neuen Angebotsbedingungen für Quecksilber, die sich aus dem Bruch der kolonialen Beziehungen ergaben. Die auffallige Verteuerung des Quecksilbers stellt einen genuinen Kostenfaktor der Unabhängigkeit dar. Und der Bergbau „no contó con el apoyo consistente del gobierno central durante el primer medio siglo nacional". 51 Der Zusammenbruch und die nur allmähliche Erholung des Bergbausektors stellen, Dobado González zufolge, einen wichtigen Erklärungsansatz für die wirtschaftliche Stagnation Mexikos in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar. Es ist viel über das „Scheitern" der Bergbau-Abenteuer der britischen Unternehmen, die sich in London in der ersten Hälfte der 1820er Jahre gebildet hatten, geschrieben worden. Das einzige Unternehmen, das bis Mitte des 19. Jahrhunderts fortbestand, war die von Lucas Alamán geleitete Firma. William Randall hat detailliert das Bergbau-Unternehmen Real del Monte bis zu seiner Auflösung im Jahr 1849 untersucht. Als Gründe für das Scheitern schlägt Randall die schlechte finanzielle Strategie, die in Mexiko selbst geschaffenen Probleme (politische Instabilität, Radikalismus der Arbeiter) und eine Dosis „Pech" vor.52 Was Randall verschweigt, wurde in einer anderen Arbeit über die britische Gesellschaft Real de Bolaños von Luis Javier Arellano angesprochen. 53 Dieser Autor weist vor allem darauf hin, dass die britischen Gesellschaften nicht Eigentümerinnen, sondern nur Pächterinnen der Bergwerke sein konnten. Im Falle von Real de Bolaños beschlossen die Eigentümer, die Ver-

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C. Velasco Avila et al.: Estado y minería en México, S. 54. W. Randall: Real del Monte. L. J. Arellano: Los aventureros de minas en Bolaños.

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träge mit der englischen Gesellschaft gerade in dem Moment nicht zu verlängern, als die Engländer sich nach vielen Jahren Investitionen anschickten, Gewinne zu erwirtschaften. Erst 1856 erlangten die Ausländer in Mexiko das Recht zum Erwerb von Grundeigentum (endgültig eliminiert wurde das „koloniale Schema" allerdings erst 1892). Schon 1827 hatte der britische Geschäftsträger in Mexiko, Henry G. Ward, einen entscheidenden Fehler der britischen Investitionen angesprochen: nämlich, keine ausreichenden Berechnungen bezüglich des Umfangs an erforderlichem Kapital angestellt zu haben, das notwendig war, um die verlassenen Bergwerke wieder in Stand zu setzen, und die Schwäche des ökonomischen Kontextes nach langen Kriegsjahren nicht ausreichend gewürdigt zu haben.54

Attitüden und Wertesysteme: zur Bedeutung soziokultureller Ansätze Der Faktor, der am meisten zur Erklärung des ökonomischen Wachstums der europäischen und nordatlantischen Wirtschaften im 19. Jahrhundert beiträgt, ist die schnelle Expansion des Industrialisierungsprozesses. Neben dem auf die Krise des Bergbaus zurückzuführenden Problem muss man auch im mexikanischen Fall fragen, warum die in den 1830er Jahren unternommenen Industrialisierungsmaßnahmen nicht als insgesamt erfolgreich bezeichnet werden können: Weder haben sie wesentlich die Wirtschaftsstrukturen des Landes verändert - von einer „Industriellen Revolution" kann keine Rede sein - noch waren sie in der Lage, auch nur eines der grundlegenden Probleme der mexikanischen Wirtschaft und Gesellschaft zu lösen. Die Antwort auf die Frage, weshalb die kurzfristige Industrialisierungsphase (1835-1845) nicht zugleich auch das erste Stadium eines lang anhaltenden Entwicklungsprozesses war, wird einerseits auf die spezifischen Vorbedingungen (Alexander Gerschenkron), andererseits auf die besonderen Umstände der ersten Industrialisierungsmaßnahmen verweisen müssen. Insbesondere kann nicht von der Vorstellung einer chronologischen Aufeinanderfolge von fortschreitenden „Stadien" der Industrialisierung ausgegangen werden. Als besonders ergiebig haben sich Überlegungen zum Problem der erforderlichen „Vorbedingungen" für das Zustandekommen des „großen Spurts" (im Industrialisierungsprozess) eines Landes erwiesen; sie haben deutlich gemacht, dass die Voraussetzungen, auf denen der Industrialisierungsprozess in einzelnen Ländern beruht, sehr unterschiedlich sein können. Eine der entscheidenden Kategorien in dem von Alexander Gerschenkron in diesem Zusammenhang entwickelten Modell ist die der „Substitution". Sie hält an der Vorstellung fest, dass es zu einer erfolgreichen Industrialisierung gewisser

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H. Ward: Mexico en 1827.

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Vorbedingungen bedarf, „entkleidet" den Begriff der Vorbedingungen allerdings seiner Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit und betont die Rolle der „Substitutionen". So wurde die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, die in Großbritannien eine der Finanzierungsvoraussetzungen des Industrialisierungsprozesses war, in Deutschland durch die Kreditschöpfungsfunktion der Banken und in Russland, wo selbst dieses Kreditsystem nicht vorhanden war, durch das Staatsbudget „substituiert". Substitutionen beschränkten sich keineswegs auf die Beschaffung der Kapitaldispositionen, sondern erstreckten sich über viele Gebiete wirtschaftlicher Tätigkeiten. Industrialisierungsprozesse erscheinen unter dieser Perspektive nicht als monotone Wiederholungen des beispielgebenden Frühstarters Großbritannien, sondern sind in sich differenzierte Prozesse, deren Charakteristika vom Grad wirtschaftlicher Rückständigkeit der einzelnen Länder am Vorabend ihrer jeweiligen Industrialisierungen abhängen.55 Das Modell der Substitutionen ordnet und klassifiziert nicht nur die Mannigfaltigkeit der historischen Tatbestände, sondern stellt zugleich den Versuch einer kausalen Erklärung der Phänomene dar. Hinsichtlich der Gradabstufungen wirtschaftlicher Rückständigkeit, die sich auf institutionellem Gebiet zeigen, ist das nachkoloniale Mexiko mit seiner manufakturfeindlichen Erblast und einer historisch dem Außensektor zugewandten Handelsoligarchie und -infrastruktur als extremer latecomer des Industrialisierungsprozesses zu bezeichnen. Vielfaltige „Substitutionen" mussten daher vorgenommen werden: Mangelnde einheimische Fachkräfte wurden durch ausländische Handwerker, Techniker und Manager ersetzt; nicht vorhandene moderne Produktionsmittel wurden durch den Import modernster Maschinen substituiert, die die Produktivität der mexikanischen Textilindustrie internationalen Standard erreichen ließen;56 die Abwesenheit innovatorisch-dynamischer Kapitalisten - eine von Walt W. Rostows Hauptforderungen für das Erreichen von wirtschaftlichem Wachstum! - musste anfangs durch Staatsaktivität ersetzt werden; an die Stelle der Akkumulation einheimischen Kapitals trat teils das ausländischer, aber in Mexiko ansässiger Händler, teils das vom Staat als Kredit verteilte. Selbst die für verspätete Industrialisierungsfalle charakteristische Ideologie als geistig-emotionale Kraft fehlte nicht: Es war der Appell an nationalistische Gefühle, die Gleichsetzung von Industrie und Staatswohl, die Parallelisierung von Industrialismus und wirtschaftlicher, das heißt „echter" Unabhängigkeit vom Ausland. Auch für den mexikanischen Fall gilt, dass der Grad an wirtschaftlicher Rückständigkeit sich an der großen Bedeutung des Staats als Hauptantriebsfaktor für den Beginn des

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A. Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective; vgl. auch H. Rosovsky (Hg.): Industrialization in Two Systems. Zur Produktivität vgl. J. Bazant: Estudio sobre la productividad de la Industria Algodonera Mexicana en 1843-1845.

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Industrialisierungsprozesses ablesen lässt. Das gesamte Projekt war staatlich konzipiert; die öffentliche Verwaltung war erheblich an den ersten Maßnahmen beteiligt; die Entwicklungsbank übernahm einen Gutteil der Risiken, die in einer entwickelten Konkurrenzwirtschaft zu den Charakteristika innovatorischer Unternehmer gehören. Trotz des Vorhandenseins vieler Substitutionen konnte die Frühindustrialisierung Mexikos die Phase des take-off oder gar die der „industriellen Reife" aber nicht erreichen. Die Gründe für diesen Fehlschlag sind vielfaltig und umfassen sowohl topographische Hindernisse als auch Charakteristika der politischen Ökonomie Mexikos, Attitüden der Wirtschaftssubjekte ebenso wie das verschlungene Interessengeflecht der verschiedenen staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte. Das Scheitern des ersten mexikanischen Industrialisierungsversuchs lässt sich unter Hinweis auf das Zusammenwirken folgender Faktorenkombinationen erklären: Das größte strukturelle Hindernis war die Topographie des Landes, die enorme Infrastrukturprobleme, vor allem auf den Gebieten des Transportwesens und der Kommunikation, aufwarf, die Ausweitung des Binnenmarktes erschwerte und damit zu der oft beklagten, relativ schnellen Marktsättigung (die mehr fiktiv als real war) beitrug. Einer Schätzung zufolge hätte zum Beispiel die Differenz in der Produktivität in der mexikanischen und der US-amerikanischen Wirtschaft im 19. Jahrhundert ceteris paribus um mindestens ein Drittel reduziert werden können, wenn Mexiko über vergleichbare Transportmöglichkeiten wie die USA (Seen, Flüsse, Ebenen) verfugt hätte. 57 Die zweite Faktorengruppe lässt sich unter dem Begriff der „politischen Ökonomie" zusammenfassen. Raymond Aron hat einige der Kräfte aufgezählt, die Unternehmer veranlassen, sich wirtschaftlichen Aktivitäten zuzuwenden. 58 Zu den entscheidenden Bestimmungsgründen für wirtschaftliches Wachstum zählt bei ihm die auf ihre Arbeit bezogene Denkweise der wirtschaftenden Subjekte die wiederum durch die gesamte technische und soziale Umwelt bestimmt wird. Er erwähnt, als Aspekte der modernen wirtschaftlichen Rationalität, das Streben nach Fortschritt und Wandel, („Fortschrittsgeist"), das Interesse an Wissenschaft und Technik und - was für den mexikanischen Fall besonders wichtig ist - den Habitus wirtschaftlicher Kalkulation („Wirtschaftlichkeitsberechnung"). Diese kann aber nur im institutionellen Rahmen eines relativ rationalen und „kalkulierbaren" Verwaltungssystems und einer voraussehbaren Rechtsprechung funktionieren. Willkürlich verfahrende oder instabile Regierungen sind eine ungünstige Voraussetzung für längerfristige Planungen und Verpflichtungen seitens der Unternehmer. Während Gerschenkron davon ausgeht, dass in „völlig" rückständigen Ländern der

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J.H. Coatsworth: Obstacles to Economic Growth in Nineteenth-Century Mexico, S. 91. R. Aron: Dix-huit Leçons sur la Société Industrielle.

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Staat eine wichtige organisatorische und stimulierende Rolle im Wirtschaftsprozess übernimmt, betont Aron die Bedeutung des Staates als „Lieferant" und Garant eines rationalen Verwaltungs-, Justiz- und Steuersystems als Rahmenbedingung für effizientes Funktionieren privater Unternehmungen.59 Diese Voraussetzungen waren im Mexiko des 19. Jahrhunderts nicht gegeben: Einerseits schufen die politische Instabilität, die ständigen Wechsel in den Regierungen und Regimes, die Bürgerkriege und ausländischen Interventionen ein allzu risikoreiches Aktionsfeld für Unternehmen, die Anlagen größerer Summen von konstantem fixem Kapital erforderten. Noch Mitte der 1860er Jahre fällte ein französischer Konsul in Mexiko das Urteil: „Ein ernsthafter Kapitalist kann es nicht wagen, sein Guthaben in einem Land anzulegen, das - wie Mexiko seit 1821 - ständig von Bürgerkriegen erschüttert wird."60 Andererseits waren die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Regierungen inkonsistent und widersprüchlich. Es fehlte den aufeinander folgenden Regierungen an Kontinuität und Konsequenz, insbesondere hinsichtlich des Industrialisierungsprogramms.61 In vielen Fällen lässt sich sagen: Nicht solide betriebswirtschaftliche Kalkulation oder rationale unternehmerische Planung waren primär gefragt; entscheidend war vielmehr das informelle Geflecht, dessen Funktionieren letztlich weit mehr über Erfolg oder Misserfolg eines Industriellen als die Kenntnis der Marktmechanismen entschied. Einen „freien" Markt gab es unter den Bedingungen hochprotektionistischer und prohibitiver Außenhandelsbedingungen ohnehin nicht. Chancen und Risiken lagen in diesem System haarscharf nebeneinander; erstere richtig zu nutzen und letztere zu vermeiden war weniger eine ökonomische als vielmehr eine politische Frage. Auch die Preisentwicklung62 suggeriert eine Erklärung für das relative Versagen der Industrialisierungsbemühungen: Da in der ersten Zeit nach Beginn der Fabrikgründungen um die Mitte der 1830er Jahre die Preise noch stiegen und der Binnenmarkt durch Einfuhrverbote zu einem Monopol mexikanischer Produzenten erklärt worden war, dürften sich viele „Kapitalisten" lukrative Gewinnchancen ausgerechnet und in den Bau von Textilfabriken investiert haben. Der auch durch die Einfuhrverbote von 1837 mitbedingte

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Ebd., bes. S. 141, 146 f. Französischer Konsul Charles Saint-Charles (Tampico) an Ministère des Affaires Etrangères (Paris), 4.7.1865: Archives du Ministère des Affaires Etrangères (Paris) (=AMAEP) Correspondance Commerciale (=CC) Tampico, Bd. 1., Bl. 34. Aus dieser These darf allerdings nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, konservative Regierungen favorisierten und liberale behinderten die Industrialisierung. Auch viele Liberale, vor allem nach dem Krieg mit den USA, traten als Industrieförderer auf. Hierzu D.C. Olliff: Mexico's Mid-Nineteenth-Century Drive for Material Development. W. Müller: Die Textilindustrie des Raumes Puebla (Mexico) im 19. Jahrhundert, S. 181 f.; H. Pohl: Edelmetallproduktion, S. 311.

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Gründungsboom führte aber schnell, bei einem kaum erweiterten Abnehmerkreis, dessen Kaufkraft außerdem stagnierte oder sich sogar verringerte, zu einer „Überproduktionskrise", deren Folge wiederum der rapide Preisverfall nach 1839 war, der außerdem noch durch den Schmuggel, die Durchlöcherung des Prohibitivsystems (somit weiterhin erfolgender Importe) und die nach wie vor preisgünstigeren ausländischen Angebote auf einem ohnehin übersättigten Markt befördert wurde. Das Prohibitivsystem stellte zweifellos eine entscheidende Rahmenbedingung dar, die zur Erklärung des Gründungsbooms von Textilfabriken beiträgt. Solange jedoch Einfuhrverbote bestanden, wurde von Politikern und Händlern laufend über ihre mögliche Abschaffung reflektiert - zum einen, da der Staat auf die Zolleinnahmen angewiesen war, zum anderen, da ausländische Händler und in ihrem Namen die Diplomaten vielfaltigen Druck auf die mexikanischen Regierungen ausübten, die Einfuhrverbote wieder aufzuheben. All diese Diskussionen erregten unter den Industriellen ein Gefühl ständiger Unsicherheit; von heute auf morgen konnten sich die (von politischen Variablen abhängigen) Produktionsbedingungen entscheidend ändern. Trotz der formalen Aufrechterhaltung der Einfuhrverbote wurden ihre Bestimmungen jedoch kaum jemals streng eingehalten. Ganz im Stil der spanisch-merkantilistischen Tradition gewährten die Staatspräsidenten konkurrenzverhindernde, exklusive Konzessionen; die Hauptüberlegung hierbei war die temporäre Auffüllung der chronisch leeren Staatskasse. Fast könnte man paradoxerweise formulieren, dass Ausnahmeregelungen, vor allem zum Import von Baumwoll-Twist, zeitweise so häufig gewährt wurden, dass sie die Regel waren. Auf die Industrie wirkten sie sich insofern besonders schädlich aus, als sie (trotz ihrer Häufigkeit) eine unsystematisch angewandte Methode blieben, somit nicht kalkulierbar waren. Einem französischen Konsularbericht zufolge, führten diese zeitlich begrenzten Importgenehmigungen „fast zum Ruin der Baumwollindustrie Mexikos".63 Schwache Regierungen und starke Interessengruppen einiger (mexikanischer und ausländischer) Monopolhändler legten auf diese Weise der mexikanischen Industrie Fesseln an, die sie vorerst nicht sprengen konnte. Zeitgenossen wiesen bereits auf die industrialisierungshemmende Wirkung der willkürlichen Sondergenehmigungen hin. Die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen liefert ein klares Argument in Zusammenhang mit dem Scheitern der Industrialisierungsbemühungen. Der mexikanische Staat stellte kein rationales Verwaltungs-, Justiz- und Steuersystem zur Verfügung, das (nach Raymond Aron) eine notwendige Rahmenbedingung für erfolgreiche Unternehmerkalkulation ist; vielmehr erbte er von der hispano-kolonialen Administration starke interventionistische Neigungen 63

Commerce et ressources du Mexique: Archives Nationales (Paris) (=ANP) F12 2695, Bl. 2.

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und eine äußerst politikabhängige Wirtschaft. Der Staat beseitigte nicht die Hindernisse, die einer schnellen Industrialisierung im Wege standen. Was in Mexiko fehlte, war eine stärkere institutionelle Unterstützung zur Entwicklung einer staats- und politikfreien Wirtschaft; es gab keinen außerhalb ökonomischer Interessen befindlichen Staatsapparat, der bewirkt und durchgesetzt hätte, dass die Wirtschaftssubjekte sich an vorher vereinbarte Regeln hielten. Kurzum, es mangelte an Rationalität und Kalkulierbarkeit. Der bisher diskutierte spezifische Charakter der politischen Ökonomie Mexikos musste sich auch auf öffentliche Einstellungen zur Industrialisierungsproblematik, auf das ökonomische Verhalten von Unternehmern und die Attitüden der Wirtschaftssubjekte auswirken. Gesellschaftliche Charakteristika können für den Industrialisierungsprozess ebenso bedeutsam wie ökonomische Grundbedingungen sein. Die Form der sozialen Organisation und das „Meinungsklima", in dem Unternehmeraktivitäten stattfinden, bestimmen bis zu einem gewissen Grad industrielle Aktivitäten. Zu Recht ist in vielen Forschungen daraufhingewiesen worden, dass nicht-ökonomische Bestimmungsgründe für die „Modernisierung" einer Gesellschaft - etwa religiöse Überzeugungen, Wertordnungen und soziale Traditionen - ein entwicklungspositives oder -negatives „Klima" schaffen können.64 Talcott Parsons spricht in diesem Zusammenhang von „Rollenerwartungen", die jeder Gesellschaft inhärent sind und die durch ihr Belohnungs- und Anerkennungssystem geschützt werden.65 Rollenerwartungen und ihr Schutzmechanismus ergeben ein „gesamtgesellschaftliches Wertesystem", das die Aktivitäten der einzelnen Gesellschaftsmitglieder in beträchtlichem Ausmaß konditioniert. Damit unternehmerische Zielsetzungen effizient verfolgt werden können, müssen kapitalistische Grundverhaltensmuster wie Risikofreudigkeit oder Profitmotivation in den Begriffen des herrschenden Wertesystems legitimiert und Neuerungsversuche gesellschaftlich unterstützt werden. Ein adäquates Wertesystem erweist sich als notwendige, wenn auch als keineswegs hinreichende Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung; das Wertesystem ist jedoch ein wesentlicher Bestandteil des „Entwicklungspotentials" eines Landes. Ob derartige Bedingungen im Mexiko des 19. Jahrhunderts existierten, wird sich allenfalls tentativ beantworten lassen. Einige Argumente sprechen jedoch dafür, dass man trotz der erheblichen Ausweitung des Industriesektors in den 1830er und 1840er Jahren nur sehr bedingt von der Entwicklung eines verbreiteten mexikanischen Unternehmungsgeistes sprechen kann. Zum einen ist auf die erhebliche Starthilfe durch den Banco de Avio hinzuweisen, die diese erste Phase der mexikanischen Industrialisierung mehr als ein Staats-

64 65

R. Braun et al.: Gesellschaft in der industriellen Revolution, S. 10. T. Parsons / E. Shils (Hg.): Towards a General Theory of Action; T. Parsons et al. (Hg.): Theories of Society; T. Parsons: Das Problem des Strukturwandels.

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denn als ein Wirtschaftsunternehmen erscheinen ließ. Sodann ist auf die enge Zusammenarbeit zwischen Mexikanern und Ausländern abzuheben, die Ausdruck einer ängstlichen Zurückhaltung mexikanischer Unternehmer war. Schließlich muss noch als eine entscheidende Rahmenbedingung für die Investitionsneigung in jenen Jahren der Schutz erwähnt werden, der der entstehenden Industrie staatlicherseits durch die Importprohibitionen gewährt wurde.66 Schon in den 1840er Jahren diagnostizierte der liberale Mariano Otero das „Verschwinden des Unternehmungsgeistes, der einen Augenblick lang in der Textilindustrie aufgeglänzt" hatte; sein pessimistischer Überblick über den „tatsächlichen Zustand der sozialen und politischen Angelegenheiten in der mexikanischen Republik" ließ ihn schon damals ein Ende des in den 1830er Jahren eingeschlagenen Entwicklungsweges sehen. Nachdem auch Landwirtschaft und Bergbau daniederlagen, hätte allenfalls der Handel als Quelle von Reichtum fungieren können; der Handel war aber in seiner „ruinösen Beziehung" mit dem Ausland darauf beschränkt, „ausländische Waren in Empfang zu nehmen und im Austausch dafür das Geld zu senden, das [eigentlich] den [inneren] Kreislauf beleben sollte".67 Und einige Jahre später kritisierte er die Industrie als eine gewaltsame Institution, die lediglich im Schatten von Prohibitionen und Privilegien bestehen kann, die gegen alle Regeln der Vernunft und des öffentlichen Wohlergehens gegründet worden sei. Noch ein weiterer Aspekt verdient Erwähnung: Der größte Teil der neuen Industrien wurde zu einem Zeitpunkt errichtet, als der Außensektor in eine Depression geraten war; monetäre Faktoren dürften eine entscheidende Rolle gespielt haben: Stagnation in der Silberausmünzung bremste seit Ende der 1820er Jahre den Import ausländischer Waren, und die Prägung einer neuen Kupferwährung, die wegen ihrer massiven Fälschung rapide an Wert verlor und von den Großhändlern nur notgedrungen (und nur zu 50 % ihres nominalen Wertes) akzeptiert wurde, erhöhte die Zahlungsprobleme weiter. 1837 wurde bereits der Entschluss gefasst, die unbeliebte Kupferwährung wieder aus dem Markt zu ziehen; der Entschluss wurde aber erst 1841 realisiert, so dass in der entscheidenden Phase industrieller Entwicklung der Binnenmarkt durch die Zirkulation der Kupferwährung zusätzlich geschützt war. Exogene Faktoren spielten ebenfalls eine Rolle: Die internationale Handelskrise von 1837 reduzierte den Importdruck; die französische Blockade von 1838/39 schließlich führte zu einem erheblichen Einbruch in der Versorgung mit Im-

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Im Gegensatz zu dieser skeptischen Einschätzung ist Howard Cline davon überzeugt, dass (zumindest auf Yucatán) ein deutlicher mexikanischer Unternehmungsgeist festzustellen ist. Er glaubt sogar, ihn bis auf 1823 zurückfuhren zu können. H. Cline: The „Aurora Yucateca" and the Spirit of Enterprise in Yucatan. M. Otero: Ensayo sobre el verdadero estado de la cuestión social y política que se agita en la república mexicana.

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portgütern.68 Demnach kann die Interpretation der mexikanischen Frühindustrialisierung einige Plausibilität beanspruchen, die im Protektionismus der Jahre 1829-1854 und den Industrialisierungsmaßnahmen jener Periode nicht einen konzertierten Versuch der Herbeiführung einer „Industriellen Revolution", sondern eher eine pragmatische Antwort sieht, die Händler, Bauern, Handwerker und Politiker auf eine Krise des Außenwirtschaftssektors, auf die Unterbrechung traditioneller Schemata des interregionalen Austauschsystems und auf den Zerfall der Urbanen Wirtschafts- und Sozialordnung gaben.69 Äußerungen wie die von Mariano Otero lassen kaum den Schluss zu, dass in der mexikanischen Gesellschaft die Industrialisierungsmaßnahmen auf allgemeine Akzeptanz stießen. Mitte des 19. Jahrhunderts wiesen liberale Mexikaner auf die in ihrem Land traditionelle Verachtung des Handelsstandes wie jedes anderen Gewerbes hin. In Übereinstimmung mit dem aus der Kolonialzeit überkommenen Wertesystem musste man „Militär, Beamter, Kleriker, Anwalt oder zumindest Arzt" sein, wenn man als „anständiger Mensch" gelten wollte.70 Ähnlich argumentierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts Pablo Macedo, einer der Vertreter der positivistischen Ideologie der cientißcos.71 Auch auf diesem Gebiet trat der mexikanische Staat das Erbe spanischer Verwaltung an. Bekanntlich hatte vor der Unabhängigkeit das Mutterland mit vielfaltigen Methoden die Entwicklung einer Kolonial-„Industrie" verhindert, zeitweise jeglichen diesbezüglichen Versuch unterdrückt und gesetzlich verboten, jedenfalls mit zahlreichen Auflagen belastet. Die staatlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen zum raschen Aufbau einer Industrie waren denkbar schlecht: Der Staat behinderte die Versuche, die Gesellschaft honorierte sie nicht. Unternehmergeist musste unter diesen Umständen apathisch daniederliegen. In einer anonymen Broschüre von 1843 hieß es denn auch: „Los extranjeros han hecho su fortuna por nuestra apatia".72 Auch wenn man Parsons' Betonung der Rollenerwartung, somit der psychischen Motivation der Individuen skeptisch gegenübersteht, und die analytische Erfassung des gesamtgesellschaftlichen Wertesystems im Mexiko der 1830er bis 1850er Jahre äußerst schwer ist, lässt sich zumindest darauf verweisen, dass der spezifische Charakter der politischen Ökonomie Mexikos einen ganz besonderen Unternehmertyp hervorbrachte, der niemals ausschließlich Unternehmer (im Sinne von Industrieller) war, sondern stets zugleich Spekulant, Gläubiger, Teilnehmer an „politökonomischen" Überlegungen, deren Erfolg mehr von politischen als von wirtschaftlichen Variablen 68 69 70

71 72

G.P.C. Thomson: Protectionism and Industrialization in Mexico, S. 131 ff. Ebd. Consideraciones sobre la situación política y social de la República mexicana, en el año 1847, S. 18. P. Macedo: La Evolución Mercantil, S. 71. Adelantos de la industria mexicana.

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abhing. In diesem Sinn waren viele Industrielle wohl gar nicht daran interessiert, die institutionellen Hindernisse einer schnellen und umfassenden Industrialisierung zu beseitigen. Das unternehmerische Verhalten des mexikanischen empresario und sein Verhältnis zum Staat unterschieden sich grundlegend von den Attitüden „nordatlantischer" Unternehmer73 - eine Aussage, die übrigens auch für die in Mexiko ansässigen Ausländer gilt und damit deutlich macht, dass Erklärungsmuster nicht auf „nationale Charaktereigenschaften", sondern auf die realen Handlungsbedingungen rekurrieren müssen. Die Diskussion der mexikanischen Frühindustrialisierungsproblematik lässt ein Ergebnis erkennen, das die popularisierte Vorstellung von der exogen induzierten „Entwicklung der Unterentwicklung" revidiert. Zum einen ist deutlich geworden, dass neben den (zweifellos vorhandenen) exogenen Faktoren, die über die Alternative „Handel" oder „Industrie" beziehungsweise Außen- oder Binnenmarktorientierung entschieden, nicht minder wichtige endogene Faktoren zu berücksichtigen sind. Erst die Kombination exogener und endogener Faktoren vermag in einem komplexen Kausalmodell, das neben ökonomischen auch politische und soziokulturelle Aspekte integrieren muss, eine Erklärung für die anhaltende Außenorientierung zu liefern. * * *

Letztere Überlegungen, die sich aus den Theorien von Alexander Gerschenkron, Raymond Aron und Talcott Parsons ableiten, ergänzen die weiter oben diskutierten institutionalistischen Ansätze. Sie stellen komplementäre Erklärungen dar. Die ökonomische Entwicklungsproblematik Mexikos in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts lässt sich nur unter Rückgriff auf verschiedene Faktorkombinationen ökonomischer, sozialer, politischer und psychischer Provenienz erklären. Einige dieser Faktoren hat der vorliegende Text zusammenzufassen versucht. Dabei fallt es schwer, eine Rangfolge der Argumente aufzustellen. Auffallig ist allenfalls die relativ große Bedeutung, die in allen Ansätzen dem Staat zukommt. Dieser war offensichtlich nicht in der Lage, die Funktion zu erfüllen, die ihm historisch in den Industrialisierungsprozessen, somit bei der Modernisierung des Landes, zukam. Diese Rolle sollten der mexikanische Staat und seine Institutionen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts übernehmen und damit zu einer langsamen und kontinuierlichen wirtschaftlichen Erholung beitragen.

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Michel Cobat

IMPERIALISTISCHE MODERNISIERUNG UND IHRE WIDERSPRÜCHE: DAS „FEUDALE" REGIME DER DOLLARDIPLOMATIE UNTER DER US-AMERIKANISCHEN BESATZUNG IN NICARAGUA, 1 9 1 2 - 1 9 2 7

Bis zur Allianz für den Fortschritt der 1960er Jahre stellte die so genannte „Dollardiplomatie" während der 1920er Jahre den wohl bedeutendsten USamerikanischen Versuch dar, Lateinamerika zu modernisieren.1 Diese Politik, deren Ursprünge im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts lagen, erreichte ihren Höhepunkt während der US-amerikanischen Besetzung Nicaraguas von 1912 bis 1933.2 Nach der Invasion von 1912 herrschten die USA in Nicaragua mittels Bankenvertretern der Wall Street, die die öffentlichen Finanzen des Landes verwalteten. Diese „Dollardiplomaten" sollten die US-amerikanische Kontrolle über das strategisch wichtige zentralamerikanische Land sichern, indem sie dessen vermeintlich „rückständige" politische und wirtschaftliche Kultur modernisierten. Diese neue Form der imperialistischen Dominanz rechtfertigend, verkündete Präsident William H. Taft in seiner Botschaft vom 3. Dezember 1912, dass die USA fortan ihren Einfluss nicht mehr mit „Kugeln", sondern mit „Dollars" auszuweiten suchen würden.3 Tafts Dollardiplomatie bestimmte nicht nur die US-amerikanische Besatzungspolitik in Nicaragua bis zum Bürgerkrieg von 1926 bis 1927; sie prägte insgesamt die Politik der Vereinigten Staaten gegenüber großen Teilen Lateinamerikas zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise von 1929.4 Am Beispiel von Nicaragua erörtert dieser Aufsatz zunächst, inwiefern es sich bei der Dollardiplomatie um eine neue, wenn auch mit Makeln behaftete Diplomatie der Modernisierung handelte. Hauptziel des Beitrags ist es jedoch, eine grundlegende Ironie der Herrschaft der Dollardiplomatie in Nicaragua zu beleuchten, nämlich der Frage nachzugehen, weshalb die lokalen Eliten dieses imperialistische Modernisierungsprojekt als Haupthindernis auf dem Weg

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Der Beitrag ist von den Herausgebern aus dem amerikanischen Englisch übersetzt worden. Zu den Ursprüngen der Dollardiplomatie vgl. E. Rosenberg: Financial Missionaries to the World. In: The New York Times, 4.12.1912. J. Tulchin: The Aftermath of War.

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ihres Landes in die Moderne anprangerten. Die nicaraguanischen Klagen gegen die schädlichen wirtschaftlichen Auswirkungen der Dollardiplomatie bildeten den Hintergrund für die Auseinandersetzungen, die in den Bürgerkrieg von 1926 bis 1927 mündeten und eine erneute militärische Invasion der USA auslösten. Aber auch in kultureller Hinsicht hinterließ die Herrschaft der Dollardiplomatie tiefe Spuren. Dass ein Großteil der nicaraguanischen Eliten in dieser Politik ein rückwärtsgewandtes, „feudales" Wirtschaftsregime erblickte, veranschaulichten nicht zuletzt die wichtigsten Romane der Zeit, die den „Primitivismus"-Diskurs der Dollardiplomatie auf den Kopf stellten.5 Dollardiplomaten stellten US-amerikanische Protektorate wie Nicaragua immer wieder als „rückständige" Länder dar, die auf die US-amerikanische Finanzaufsicht angewiesen seien, um „moderner" zu werden. Derselben Kategorien bedienten sich ihrerseits auch die nicaraguanischen Eliten, um die Dollardiplomatie und insbesondere „Wall Street" für die Entwicklungsblockaden in ihrem Land verantwortlich zu machen. In den Augen eines prominenten liberalen Ideologen beförderte die US-amerikanische Besatzung nichts weniger als einen „feudalen Bankiers-Imperialismus".6 Das nicaraguanische Beispiel stellt somit die weit verbreitete Annahme in Frage, dass die modernisierenden Eliten in Ländern, die unter US-amerikanischer oder europäischer Kontrolle standen, imperialistische Herrschaftsformen in jedem Fall mit Modernität assoziierten.7 Die nicaraguanische Gleichsetzung von „Wall Street" mit „Feudalismus" stand in scharfem Gegensatz zur Bewunderung, die dem Finanzzentrum als Symbol der Moderne mehrheitlich von den lateinamerikanischen Eliten entgegengebracht wurde.8 Diese Begeisterung für Wall Street war hauptsächlich auf den Boom US-amerikanischer Kredite an Lateinamerika während der 1920er Jahre zurückzufuhren. Da die lateinamerikanischen Eliten diese sprudelnden Finanzströme vielfach zur Modernisierung ihrer Wirtschaftsunternehmen und der öffentlichen Infrastruktur ihrer Länder einsetzten, sahen sie in Wall Street gewöhnlich einen zentralen Akteur der Moderne. Mitunter - besonders in den von US-amerikanischen Zuckerkonzernen beherrschten karibischen Ländern - wurde Wall Street auch als modernisierendes Monster angeprangert, das die lokale Kultur und Gesellschaft bedrohe. Im Gegensatz zu diesen Beispielen blieben in Nicaragua unter der Herrschaft der Dollardiplomatie sowohl direkte als auch indirekte US-amerikanische Investitionen aus. Vgl. zum Diskurs über „Primitivismus" im Rahmen der Dollardiplomatie E. Rosenberg: Financial Missionaries to the World, S. 198-218. S. Mendieta: La enfermedad de Centro-América, S. 324. Für die komplexen Beziehungen zwischen Imperialismus, Kolonialismus und Moderne vgl. F. Cooper: Colonialism in Question, S. 113-149. Vgl. P. Drake: The Money Doctor in the Andes; T. O'Brien: The Revolutionary Mission.

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Darüber hinaus war Nicaragua wohl das einzige lateinamerikanische Land, in dem die Dollardiplomatie nicht zu einer Zunahme, sondern zu einer Reduktion öffentlicher Infrastrukturprojekte führte. Angesichts der besonderen Ausprägung der Dollardiplomatie in Nicaragua ist es nicht verwunderlich, dass die lokalen Eliten dieser viel gepriesenen Diplomatie der Modernisierung einen anti-modernen Impuls zuschrieben. Aber so berechtigt die Angriffe der Nationalisten auf die Dollardiplomatie als Hindernis der wirtschaftlichen Entwicklung Nicaraguas waren, so unberechtigt war die Behauptung, die restriktive Fiskal- und Finanzpolitik der Dollardiplomaten ruiniere die landwirtschaftlich geprägte Wirtschaft des Landes. Tatsächlich wuchs Nicaraguas Wirtschaft unter der Herrschaft der Dollardiplomatie doppelt so schnell wie während der „goldenen Zeit" unter der liberalen Diktatur von José Santos Zelaya (1893-1909), die mit Hilfe der Vereinigten Staaten gestürzt wurde. Zwar trifft es zu, dass während der langen Herrschaft der Dollardiplomatie zahlreiche große Produzenten in den Ruin getrieben wurden, gleichzeitig konnten aber viele kleinere Bauern dank ihrer größeren Anpassungsfähigkeit an die restriktive Politik der Dollardiplomatie wirtschaftliche Erfolge verzeichnen. Diese unbeabsichtigte „demokratisierende" Wirkung der Dollardiplomatie auf die ländliche Gesellschaft Nicaraguas verstärkte unter den Eliten das Bild einer anti-modernen Wall Street. Sie führte aber auch dazu, dass oppositionelle Elitengruppen den Vorwurf der AntiModernität ebenfalls auf die wichtigsten lokalen Verbündeten der Dollardiplomaten, die regierenden konservativen Oligarchen, übertrugen, die in Tat und Wahrheit das dynamischste Segment der nicaraguanischen Eliten bildeten. Die Umdeutung der Rolle der Oligarchen - der führenden Agenten der kapitalistischen Moderne in Nicaragua - zu Symbolfiguren wirtschaftlicher Rückständigkeit wurde zu einem zentralen Element im Diskurs der nationalistischen Elite. Die Maßen vermochte diese Form des Wirtschaftsnationalismus indessen nicht zu bewegen. Seine Schwäche offenbarte sich insbesondere in der Unfähigkeit der Revolutionsführer, im Bürgerkrieg von 1926/27 eine breite Unterstützung im Volk zu gewinnen. Die Besonderheiten des nicaraguanischen Falls lassen nicht nur die sozioökonomischen Auswirkungen US-amerikanischer Intervention in Lateinamerika in einem neuen Licht erscheinen, sondern auch die widersprüchliche Art und Weise, wie abhängige Gesellschaften mit imperialistischen Modernisierungsprojekten umgehen.

Eine mangelhafte Diplomatie der Modernisierung Anfang September 1912 landeten 2300 US-amerikanische Soldaten in Nicaragua, um den Sturz der konservativen Regierung von Adolfo Diaz durch aufständische Kräfte unter der Führung des dissidenten konservativen Generals

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Luis Mena zu verhindern. Nach der Niederwerfung des Aufstands Anfang Oktober verfolgten die USA eine besondere Strategie zur Beherrschung Nicaraguas, dessen strategische Wichtigkeit für die eigenen globalen Machtansprüche schon seit langem unbestritten war. Im Gegensatz zu den 1898 besetzten Territorien - Kuba, Puerto Rico und die Philippinen - sowie den 1915 (Haiti) und 1916 (Dominikanische Republik) invadierten Ländern setzten die USA in Nicaragua keine Militärregierung ein. Sie zogen vielmehr das Gros ihrer Invasionstruppen ab und ließen nur rund hundert Soldaten zur Bewachung der US-Botschaft in Managua zurück. Unter Verzicht auf traditionelle militärische Mittel regierten die USA das Land mittels eines politischen Modells, das als Dollardiplomatie bekannt werden sollte. Das Modell, das schließlich über ganz Lateinamerika verbreitet wurde, verband die US-amerikanische Aufsicht über die Staatsfinanzen mit einem beispiellosen Zustrom von US-Krediten.9 Nicaragua jedoch hatte unter der Kontrolle zu leiden, ohne von US-amerikanischen Anleihen profitieren zu können. Tatsächlich erhielt das Land während dem von Wall Street angeheizten Kreditvergabefieber während der 1920er Jahre, dem berüchtigten „Tanz der Millionen", weniger US-Investitionen als die meisten anderen Nationen in Lateinamerika. Daraus, dass mit der Dollardiplomatie in Nicaragua nicht primär ein wirtschaftliches, sondern ein strategisches Ziel verfolgt wurde, machten ihre Architekten nie einen Hehl: Rivalisierende Mächte sollten daran gehindert werden, die angeblich „chronische" Instabilität des Landes auszunutzen, um einen zweiten interozeanischen Kanal zu bauen.10 Nach dem Krieg von 1912 zwischen rivalisierenden konservativen Fraktionen konnten USamerikanische Beamte die Schuld an den politischen „Schwierigkeiten" Nicaraguas nicht weiter den liberalen Anhängern des nationalistischen Regimes von José Santos Zelaya zuweisen. Statt jedoch die anti-amerikanische Stoßrichtung des Krieges zu erkennen, sahen US-amerikanische Politiker darin bloß einen Machtkampf zwischen korrupten und unproduktiven Elitefraktionen um die Kontrolle der Staatskasse. In der Folge glaubten sie, dass Nicaraguas Konflikte in erster Linie von der durch die Eliten verursachten Politisierung der Staatsfinanzen herrührten. Um das Problem zu lösen, zwangen die US-Politiker den nicaraguanischen Staat, die Kontrolle über seine Einnahmen und Ausgaben an Wall-Street-Bankiers abzutreten, die ihrerseits zu einer restriktiven Fiskalpolitik verpflichtet wurden. Auf Druck der eigenen Regierung schloss Wall Street Nicaragua vom „Tanz der Millionen" aus - ein seltener

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Vgl. B. Stallmgs: Banker to the Third World. Vgl. C. Conant: Our Mission in Nicaragua.

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Fall von Dollardiplomatie, bei der in der Regel Dollars viel mehr der Diplomatie halfen als umgekehrt." Die Dollardiplomatie war jedoch nicht bloß ein kostengünstiges Instrument der US-Herrschaft. Sie repräsentierte auch eine neuartige Modemisierungsdiplomatie, die in der in den USA weithin dominierenden progressiven Reformbewegung wurzelte.12 Zwar benutzten zeitgenössische US-Beamte das Wort „Modernisierung" nur selten; sie sprachen von „civilization", „development", „rehabilitation", „renovation" und „uplift". Gleichwohl beriefen sich die Architekten und Repräsentanten der Dollardiplomatie bereits auf Schlüsselaspekte des Modernisierungsparadigmas, das dann die US-amerikanische Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg beherrschen sollte. Mit den außenpolitischen Führungskräften der Nachkriegszeit teilten die Dollardiplomaten der 1920er Jahre den Glauben, dass die Welt in traditionelle und moderne Gesellschaften geteilt sei und dass allein der US-amerikanische Weg in die Moderne Entwicklung mit sich bringe.13 Gemäß dem Historiker Frank Ninkovich gingen beide davon aus, dass „modernity was characterized by a legal-rational outlook dominated by science, the professionalization and bureaucratization o f institutions, and, not least, the emergence o f a global division of labor as a result of the workings of the market economy.

In den meisten Ländern Lateinamerikas beruhte der modernisierende Impuls der Dollardiplomatie vor allem auf der mit US-Geldern finanzierten Ausdehnung der öffentlichen Infrastruktur und auf dem Export von US-amerikanischen unternehmerischen Werten.15 In Nicaragua wurde die Dollardiplomatie jedoch von einer stärker institutionell geprägten Vorstellung von Modernität bestimmt. Insbesondere beruhte sie auf der Kontrolle von Wall Street über die Nationalbank Nicaraguas, der Hoheit über die Zolleinnahmen und der Gemischten Kommission zur Regulierung der Staatsausgaben. Mithilfe dieser Institutionen hofften die US-Beamten, die Stabilität Nicaraguas zu sichern.

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Dass die Dollardiplomatie hauptsächlich US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen diente, ist die zentrale These des klassischen Werkes von S. Nearing / J. Freeman: Dollar Diplomacy. Vgl. E. Rosenberg: Financial Missionaries to the World; F. Ninkovich: Modernity and Power, S. 20-36. Vgl. M. Adas: Modernization Theory and the American Revival of the Scientific and Technological Standards of Social Achievement and Human Worth, S. 35-39. F. Ninkovich: Modernity and Power, S. xi-xii. Zu den Ursprüngen des US-amerikanischen Modemisierungsparadigmas der Nachkriegszeit vgl. auch N. Gilmore: Mandarins ofthe Future, S. 24-41. Vgl. E. Rosenberg: Financial Missionaries to the World; T. O'Brien: The Revolutionary Mission.

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Den einheimischen Eliten sollten die technokratischen, apolitischen Ideale eingeprägt werden, die die US-amerikanische Ideologie des Progressivismus auszeichneten. Nach Ansicht der US-Beamten hatte der Bürgerkrieg von 1912 bloß die offensichtliche Tatsache bestätigt, dass Nicaraguas „chronische Unordnung" hauptsächlich auf die „finanzielle Unverantwortlichkeit" der herrschenden Eliten und ihren Hang zu „Revolutionen, in denen Recht und Ordnung über Bord geworfen werden", zurückzufuhren war.16 Das Hauptziel der Dollardiplomatie bestand somit nicht einfach darin, die nicaraguanischen Staatsfinanzen wieder zu ordnen, sondern die politische und wirtschaftliche Kultur der lokalen Eliten zu modernisieren. In erster Linie ging es darum, diesen eine legal-rationale Sichtweise beizubringen, die sicherstellen würde, dass Nicaraguas staatliche Institutionen von den angeblich unpolitischen Prinzipien der Professionalität und Bürokratie geleitet würden. Für ihre Architekten und Repräsentanten war die Dollardiplomatie ein universelles Projekt, das überall nahtlos angewandt werden konnte. In Wirklichkeit forderte die Dollardiplomatie nicht nur eine US-amerikanische Vision von „Fortschritt", sie war auch eine Form imperialistischer Kontrolle und wirkte daher von Natur aus als Fremdkörper. Die Gefahren der Dollardiplomatie waren für die einflussreichen Nicaraguaner durchaus offenkundig, die die US-Invasion von 1912 befürwortet, Washington aber gebeten hatten, ihr Land nicht vollständig in ein amerikanisches Finanzprotektorat zu verwandeln.17 Sie hatten klar erkannt, wie die nationalistische Opposition gegen den US-nicaraguanischen Darlehensvertrag von 1911 in den Krieg von 1912 geführt hatte, und argumentierten, dass jeder Versuch von Wall Street, die nicaraguanischen Staatsfinanzen vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen, nur einen weiteren gewalttätigen anti-amerikanischen Aufstand provozieren würde. Diese Warnungen wurden jedoch von Präsident Taft und seinen Beratern in den Wind geschlagen. Der Krieg von 1912 bestärkte sie vielmehr in ihrem Entschluss, Nicaragua das Modernisierungsprojekt der Dollardiplomatie aufzuzwingen. Sie hofften sogar, Nicaragua zu einem Vorzeigebeispiel zu machen, um diese neue Form der US-Herrschaft in anderen karibischen Ländern zu befördern. Heutzutage wird die Herrschaft der Dollardiplomatie in Nicaragua meist mit der Kontrolle der Nationalbank, der Eisenbahn und der Zollverwaltung durch Wall Street in Verbindung gebracht. Es war jedoch in erster Linie die Gemischte Kommission, mit deren Hilfe die Dollardiplomaten versuchten,

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D. Munro: Intervention and Dollar Diplomacy in the Caribbean, S. 5; H. Wilson: The Relation of Government to Foreign Investment, S. 305. Vgl. United States National Archives, Record Group 59 (USNA, RG 59), 817.00/2078, José Maria Moncada an State Department, 8.10.1912.

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Nicaraguas politische und wirtschaftliche Kultur zu modernisieren. 18 Obschon sie ihren Namen im Verlauf der Zeit änderte, bestand die Kommission stets aus zwei Vertretern der US-Banken und einem Nicaraguaner. Anfanglich bestand die Aufgabe der Kommission vor allem darin, die Forderungen von Einheimischen und Ausländern herunterzuschrauben, die diese gegenüber der nicaraguanischen Regierung wegen erlittener materieller Verluste während der Diktatur von José Santos Zelaya, dem Bürgerkrieg von 1909 bis 1910 und der Revolution von 1912 erhoben. Diese Forderungen belasteten den nicaraguanischen Staat schwer. So machten sie 1913 etwa 4 0 % der Staatschuld des Landes aus. Die Kommission hoffte, durch die Reduzierung dieser Schuld Nicaraguas politische Stabilität sichern zu können. Das grundlegendere Ziel bestand allerdings in der Entpolitisierung der nicaraguanischen Staatsfinanzen. Die Kommission versuchte, durch die Unabhängigkeit der Staatskasse von der Politik die Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft neu zu definieren. Immer wieder wiesen die US-amerikanischen Mitglieder die nationalen Eliten darauf hin, dass die staatlichen Institutionen nicht den persönlichen Interessen deijenigen, die die Macht innehatten, sondern den allgemeinen Interessen der Gesellschaft dienen sollten. Dementsprechend sahen sie die Ursache der „Wirren" in Nicaragua hauptsächlich in der politisierten und daher ineffizienten wirtschaftlichen Organisation des Landes, in der politische Projekte, Gesetze und Institutionen lediglich „Werkzeuge" in den Händen einer schmalen herrschenden Elite waren. So behauptete etwa Arthur Thompson, Mitglied der ersten Gemischten Kommission, dass in Nicaragua „[the] original idea of a government of laws has become distorted into a govemment of persons." 19 Er argumentierte, dass diese interventionistischen und durch Willkür gekennzeichneten institutionellen Rahmenbedingungen Nicaraguas politische und wirtschaftliche Entwicklung blockierten. 20 Die Nicaraguaner in der Führung unabhängiger und effizienter Institutionen zu unterrichten, stellte für ihn den wichtigsten Weg zur „Erneuerung" des Landes durch die Kommission dar. Die entpolitisierende Mission der Kommission war jedoch von Beginn weg kompromittiert, da es die US-Beamten zuließen, dass die nicaraguanische Regierung einen bedeutenden Einfluss auf die Arbeit des Ausschusses ausübte. Der nicaraguanische Präsident ernannte nicht nur das einheimische Mit-

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Zu den Dollardiplomaten zählten in Nicaragua die zwei amerikanischen Mitglieder der Gemischten Kommission, die Zollbeamte in den wichtigsten Urbanen Zentren, die Manager der nicaraguanischen Nationalbank in Managua und ihrer Zweigstellen in Granada, Leon und Bluefields sowie die Manager der Pacific Railway. A. Thompson: Renovating Nicaragua, S. 492. Zur Schlüsselrolle institutioneller Rahmenbedingungen ffir die wirtschaftliche Entwicklung vgl. J. Coatsworth: Notes on the Comparative Economic History o f Latin America and the United States.

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glied der Kommission und einen der US-amerikanischen Vertreter. Darüber hinaus mussten alle Forderungen zunächst von lokalen Behörden überprüft werden, die ihre eigenen politischen Interessen verfolgten. Es kann daher kaum verwundern, dass die Kommission parteiisch und politisch agierte. Dies zeigte sich nirgendwo deutlicher als bei der Behandlung der Entschädigungsforderungen von 1912. Während die Kommission sämtliche Forderungen aufgrund von Schäden ablehnte, die durch die Regierungs- oder US-Truppen entstanden waren, anerkannte sie bereitwillig die Schäden am Eigentum von Anhängern der Regierung, die von den Aufständischen verursacht worden waren. Als die Kommission Ende 1914 ihre Arbeit abschloss, war kaum jemand davon überrascht, dass durch ihre Entscheide hauptsächlich die führenden Anhänger des Diaz-Regimes profitiert hatten.21 Mitunter enttäuschte die Kommission sogar die begünstigten Antragsteller, da Entschädigungen nicht immer sofort ausbezahlt werden konnten. Es kam zu öffentlichen Protesten und die Büros der Kommission wurden - wie es ein US-Mitglied festhielt - überschwemmt von täglichen Besuchen von „ragged men and women, many crippled and blind [...] who pathetically beg for the payment of their small claim."22 Die Kommission verwendete ihre beschränkten Mittel, um kleine Forderungen unter 100 Dollar zu begleichen. Mit diesem Vorgehen hoffte man, die angeschlagene Legitimität der Kommission und der von den USA unterstützten konservativen Regierung wieder herzustellen.23 Von den insgesamt 7911 Forderungen wurden 4618 auf diese Weise beglichen. Mit der Auszahlung von größeren Entschädigungen wurde erst nach der Ratifikation des Bryan-Chamorro-Vertrags durch den US-Senat 1916 begonnen. Aufgrund dieses Vertrages bezahlten die USA Nicaragua drei Millionen Dollar für das alleinige Vorrecht, auf nicaraguanischem Territorium einen Kanal und einen pazifischen Marinestützpunkt zu bauen. Da jedoch der US-Senat beschlossen hatte, dass das vertraglich zugesicherte Geld zur Tilgung der nicaraguanischen Staatsschuld gegenüber den USA verwendet werden sollte, standen der Gemischten Kommission nur 335 000 Dollar zur Verfügung. Dieser Betrag reichte für die Begleichung eines Drittels der noch ausstehenden Forderungen aus, der Rest musste in Zollobligationen ausbezahlt werden. Zum Ärger ihrer Besitzer fiel der Wert dieser Obligationen rasch auf etwa

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Vgl. L. Argüello: Por el honor de un partido. Archivo del Instituto de Historia de Nicaragua y Centroamérica (A1HNCA), Fondo Díaz, Folder 3534, Schoenrich und Thompson an U.S. Secretary of State Bryan, Juni 1913. Correspondencia privada escrita y recibida por el General Emiliano Chamorro E. en los años 1904-1929, Biblioteca del Banco Central, Managua (CPEC), Emiliano Chamorro an U.S. Secretary of State, 18.8.1913.

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einen Viertel ihres ursprünglichen Wertes. Annährend zwei Drittel der Obligationen waren ein Jahrzehnt später immer noch nicht zurückbezahlt.24 Die Unfähigkeit der Kommission, alle Forderungen zu begleichen, frustrierte auch die herrschenden Konservativen, die große Hoffnungen in das „Kanalgeld" gesetzt hatten. Ihre Erwartungen stiegen, als sich die wirtschaftliche Krise infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs verschärfte. Vor dem Krieg waren die Eliten auf Europa als Absatzmarkt für ihre Produkte und als Kreditquelle angewiesen gewesen. Nachdem diese Märkte durch den Krieg geschlossen worden waren, hofften sie zur Entschärfung ihrer Kreditprobleme auf einen massiven Zustrom von US-Kapital. Obschon Nicaragua das Vorzeigebeispiel der Dollardiplomatie war, erfüllten sich diese Hoffnungen nie. Von den im Darlehensvertrag von 1911 versprochenen 19 Millionen Dollar erhielt Nicaragua lediglich eineinhalb Millionen. Zur Verbitterung der Eliten trug zudem die Tatsache bei, dass die nicaraguanische Regierung gezwungen war, den Kommissionsmitgliedern und anderen Dollardiplomaten übertrieben hohe Saläre zu bezahlen. Als Nicaragua endlich das „Kanalgeld" von 1916 erhielt, wurden nur zehn Prozent davon für die Begleichung der ausstehenden Forderungen verwendet.25 Wie von den amerikanischen Kommissionsmitgliedern vorhergesehen, schwächte das Unvermögen des Ausschusses, die bedeutendsten Antragsteller vollständig zu entschädigen, den Glauben der regierenden Eliten in die Wirksamkeit der Dollardiplomatie.26 Das Vertrauen der Nicaraguaner in die Kommission schwand weiter, als sich herausstellte, dass diese hoch gepriesene Institution den Zugang zu den begehrten staatlichen Ressourcen nicht zu entpolitisieren vermochte. Selbst US-Beamte mussten einsehen, dass die herrschenden Konservativen die Gemischte Kommission zur Beförderung ihrer eigenen Interessen missbrauchten. Nicht wenige Angehörige der nicaraguanischen Eliten kamen angesichts der Arbeit der Gemischten Kommission zum Schluss, dass die Dollardiplomatie weder eine wirksame noch unpolitische Strategie zur Modernisierung darstellte.

Die sozioökonomischen Auswirkungen der Dollardiplomatie Die negative Wahrnehmung der Dollardiplomatie durch die nicaraguanischen Eliten spitzte sich zu, als diese erkennen mussten, dass sie nicht in der Lage waren, vom zentralamerikanischen Agrarexportboom der zwanziger Jahre zu profitieren. Der Boom stärkte nicht nur die Macht der US-amerikanischen Bananen- und Holzunternehmen an der karibischen Küste, er löste manchenorts 24 25 26

W. Cumberland: Nicaragua, S. 126. R. Hill: Fiscal Intervention in Nicaragua, S. 32. AIHNCA, Fondo Diaz, Folder 3534, Schoenrich und Thompson an Secretary of State, Juni 1913.

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auf dem Isthmus auch eine breite Offensive der lokalen Kaffeeeliten gegen die kleinbäuerlichen Produzenten aus.27 Nicht so in den Kaffeeregionen von Westnicaragua, wo der größte Teil der Bevölkerung des Landes wohnte. Vielmehr wurden hier zahllose Grundbesitzer in den Ruin getrieben. Wie weiter unten noch näher ausgeführt wird, zeigten die ansonsten zerstrittenen nicaraguanischen Eliten eine bemerkenswerte Einigkeit, wenn es darum ging, ihre missliche wirtschaftliche Lage der Dollardiplomatie anzulasten. Demnach blockierte die Dollardiplomatie nicht nur das Wachstum der nicaraguanischen Wirtschaft, sondern auch die Modernisierung des Landes. Die historischen Quellen zeigen indessen ein eher widersprüchliches und unerwartetes Bild. Sie bestätigen den Eindruck, dass die restriktive Fiskalund Finanzpolitik der Dollardiplomaten die Modernisierung der nicaraguanischen Wirtschaft und insbesondere der überaus wichtigen Kaffeeindustrie behinderte. Sie machen aber auch deutlich, dass die Dollardiplomatie das Wachstum der Agrarexportwirtschaft keineswegs blockierte. Noch bedeutsamer ist, dass die Daten eine bisher nicht bekannte Dynamik bei der „traditionellen" Grundnahrungsmittelproduktion offen legen, die von nicht den Eliten zugehörigen, kleinen und mittleren Bauern dominiert wurde.28 Auch wenn die nicaraguanischen Eliten die Dollardiplomatie zu Recht für ihr Unglück verantwortlich machten, waren sie im Irrtum, wenn sie ihre eigenen Schwierigkeiten als eine die ganze Nation betreffende Krise darstellten, denn die Wohlstandsgewinne, die viele kleinere und mittlere Bauern während des Agrarexportbooms der 1920er Jahre erzielen konnten, fielen weit stärker ins Gewicht als die wirtschaftlichen Probleme der Großgrundbesitzer. Die ungleichen Auswirkungen des Booms auf die nicaraguanischen Agrarproduzenten stellen die weitverbreitete Ansicht in Frage, wonach eine US-Intervention in agrarischen Gesellschaften zwangsläufig den Graben zwischen Reich und Arm vergrößerte.29 Die Unfähigkeit der nicaraguanischen Eliten, vom Exportboom der zwanziger Jahre zu profitieren, hing unmittelbar mit der besonderen Ausprägung der Dollardiplomatie zusammen, unter deren Regime die nicaraguanische Landwirtschaft wuchs, ohne sich wesentlich zu modernisieren. Im Namen der fiskalischen Stabilität hinderten die Dollardiplomaten den nicaraguanischen Staat daran, die öffentliche Infrastruktur in derselben Weise zu verbessern, wie dies andere zentralamerikanische Regierungen taten, um den großen Agrarexporteuren zu helfen, die weltweite Depression von 1920/21 zu überwinden: durch die Modernisierung des Transportsystems, die Gründung neuer, vom Staat kontrollierter Kreditinstitute zur Versorgung der Agroex-

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Vgl. V. Bulmer-Thomas: The Political Economy of Central America, S. 25-47. Vgl. M. Gobat: Confronting the American Dream, S. 151-154. Vgl. T. Smith: America's Mission, S. 37-83.

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porteure mit Geld und den Aufbau von staatlichen Handelshäusern. Alle diese Staatsaktivitäten wurden weitgehend mithilfe der amerikanischen Anleihen während der Boomphase nach 1921 finanziert.30 Nicaragua konnte jedoch von diesen Kapitalzuflüssen nicht profitieren, weil die US-Bankiers es ablehnten, dem Land hohe Darlehen zu gewähren. Hinzu kam, dass die Dollardiplomaten aus ideologischen Gründen, die nicaraguanischen Bestrebungen ablehnten, die wirtschaftliche Rolle des Staates zu stärken. Die Dollardiplomaten betrieben den Abbau der Staatsschulden mit so großer Entschlossenheit, dass die nicaraguanischen Regierungsausgaben in den 1920er Jahren weit hinter jenen der anderen zentralamerikanischen Nationen lagen.31 Und nirgends floss ein geringerer Teil des Staatsbudgets in öffentliche Investitionsprogramme als in Nicaragua.32 Die US-Beamten lehnten Projekte zur Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur als verschwenderische Prestigebauten und Ausfluss von politischer Patronage ab und zogen es statt dessen vor, einen großen Teil des nicaraguanischen Staatshaushaltes zur Reduktion der öffentlichen Schulden zu verwenden.33 Bis gegen Ende der 1920er Jahre gelang es den Dollardiplomaten, die nicaraguanische Außenschuld zu halbieren - ein Rückgang der in einem markanten Gegensatz zum massiven Anstieg der Außenverschuldung anderer US-amerikanischer Protektorate und der zentralamerikanischen Staaten stand. Der Erfolg der Dollardiplomaten bei der Wiederherstellung der finanziellen Stabilität war indessen mit hohen Kosten verbunden, weil die restriktive Fiskalpolitik die Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur von Nicaragua verzögerte. Am meisten lähmten die Dollardiplomaten die nicaraguanische Wirtschaft, indem sie dafür sorgten, dass das Transportsystem des Landes zum rückständigsten in ganz Zentralamerika wurde. Während die Länge des Eisenbahnnetzes in Guatemala, El Salvador und Honduras zwischen 1910 und 1930 um 43 %, 89 % beziehungsweise 845 % zunahm, betrug dieses Wachstum in Nicaragua nur etwa zwei Prozent. Selbst Costa Rica, das bereits 1910 das längste Eisenbahnnetz der Region besaß, wies eine größere Streckenausdehnung aus (um 7%). 34 Die Erweiterung der Eisenbahnnetze wurde zwar von allen zentralamerikanischen Regierungen unterstützt, finanziert wurde sie jedoch zum größten Teil von amerikanischen Unternehmen wie der United Fruit Comp-

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R. Thorp: Economy, S. 7 0 - 7 2 . In den 1920er Jahren machten die öffentlichen Ausgaben in Nicaragua 24%, in Costa Rica und Guatemala 4 8 % , in El Salvador 5 4 % und in Honduras 7 0 % der gesamten Exporte aus, vgl. B.R. Mitchell: Internacional Historical Statistics, S. 4 2 5 - 4 2 7 , 6 5 5 - 6 5 6 . Während die meisten zentralamerikanischen Staaten zwischen 10 und 2 0 % ihres jährlichen Budgets fiir öffentliche Arbeiten aufwendeten, sorgten die Dollardiplomaten dafür, dass dieser Wert in Nicaragua lediglich rund 5 % betrug. Vgl. R. Hill: Fiscal Intervention in Nicaragua, S. 38. B.R. Mitchell: International Historical Statistics, S. 529 532.

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any. Zum Leidwesen der einheimischen Eliten hielten die Dollardiplomaten solche amerikanischen Investitionen von Nicaragua fern. Ebenso verhinderten sie, dass die nicaraguanische Regierung eigene Ressourcen einsetzte, um dringend nötige Eisenbahnlinien zu bauen, wie etwa die Verbindung zwischen Pazifik und Atlantik oder eine Zubringerlinie zur Kaffeeregion von Matagalpa. Nicaragua blieb in der Folge das einzige zentralamerikanische Land, in dem nicht alle wichtigen Kaffeeregionen durch Eisenbahnlinien mit den Häfen an der Küste verbunden waren. Die Einschränkungen der staatlichen Investitionen durch die Dollardiplomatie hatten auch weitreichende soziale Auswirkungen. Besonders die Weigerung der Dollardiplomaten, Nicaraguas Transportsystem zu modernisieren, hinderte die Großgrundbesitzer daran, ihre Wirtschaftskraft in dem Maße auszubauen, wie es in anderen Ländern Zentralamerikas der Fall war. Besonders zur Erntezeit hatten die Eliten wegen der schlechten Straßen große Mühe, genügend Arbeitskräfte zu rekrutieren. Zudem schwächten die höheren Transportkosten Nicaraguas Wettbewerbsfähigkeit auf dem internationalen Kaffeemarkt und schmälerten die Profite der Kaffeeexporteure. Vor allem aber untergrub das unterentwickelte Straßennetz die Macht der Eliten, indem es die Zentralisierung der Kaffeeverarbeitungsindustrie beeinträchtigte. In den anderen Ländern Zentralamerikas konnten die großen Kaffeeverarbeiter dank der Verbesserung des Binnentransports während der 1920er Jahre den Kreis der von ihnen abhängigen Produzenten massiv ausweiten. Die dadurch verursachten monopsonistischen Marktbedingungen schwächten insbesondere die Verhandlungsposition von Produzenten außerhalb der Eliten.35 Demgegenüber zementierten die schlechten Straßen in Nicaragua die dezentrale Struktur der Verarbeitungsindustrie und ermöglichten es den kleinen und mittleren Kaffeeproduzenten besser als anderswo, die von den Eliten kontrollierten Verarbeitungsbetriebe gegeneinander auszuspielen. Die restriktive Fiskalpolitik der Dollardiplomaten half somit unbeabsichtigterweise den kleinen und mittleren Kaffeebauern in Nicaragua, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit in einer Zeit zu wahren, in der diese kleinen und mittleren Produzenten im übrigen Zentralamerika durch die Kaffeebarone zunehmend in Bedrängnis gerieten. Die wirtschaftliche Schwächung der nicaraguanischen Großgrundbesitzer durch die Dollardiplomatie schlug sich vor allem im Bereich der Privatkredite nieder. Am lautesten beklagten sich die großen Produzenten darüber, dass ihre Kapitalzuflüsse „abgewürgt" würden. Insbesondere kritisierten sie die restriktive Kreditpolitik des fuhrenden Finanzinstituts des Landes, des US-amerikanisch kontrollierten Banco Nacional de Nicaragua. Diese Politik, so die loka35

J. Suter: Prosperität und Krise in einer Kaffeerepublik, S. 145; C. Hall: El café y el desarrollo histórico-geográfico de Costa Rica, S. 114-115; C. Jones: Guatemala, S. 206.

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len Eliten, hindere die nicaraguanischen Landwirte daran, ihre Produktionsmethoden zu modernisieren, und treibe zahllose „tugendhafte" Grundbesitzer in den Ruin. 36 Die Kritik war berechtigt, denn die Dollardiplomatie war tatsächlich verantwortlich dafür, dass in Nicaragua die restriktivste Finanzpolitik in ganz Zentralamerika betrieben wurde. Allerdings „demokratisierte" die Kreditkrise unerwartet den Zugang zu den lokalen Kreditmärkten. Infolge der Politik der Dollardiplomatie kamen bäuerliche Produzenten leichter zu Darlehen als die Großgrundbesitzer. Weshalb entwickelte sich die Kreditallokation in Nicaragua „demokratischer" als anderswo auf dem Isthmus? 37 Die Dollardiplomaten hatten ebenso wenig ein Interesse daran, kleine und mittlere Produzenten mit Krediten zu versorgen wie den Eliten den Zugang zu Bankdarlehen zu erleichtern. Die Demokratisierung der lokalen Kreditmärkte beruhte im Wesentlichen auf folgenreichen Veränderungen im Kreditvergabeverhalten der Eliten selbst. Das Fallbeispiel von Nicaraguas reichstem Departement (Granada) legt den Schluss nahe, dass die lokalen Eliten während des Agrarexportbooms der 1920er Jahre stärker in kleine Landwirtschaftsbetriebe investierten als zuvor. 38 Dieses Verhalten spiegelte das tiefe Misstrauen der Eliten gegenüber den Bedingungen des Finanzmarktes, wie sie sich unter dem Regime der Dollardiplomatie herausbildeten. Die zurückhaltende Kreditpolitik des Banco Nacional machte es besonders den großen Produzenten schwer, ihre kapitalintensiven Unternehmen zu finanzieren. Gleichzeitig zögerte die Bank nicht, die von den Großgrundbesitzern als Sicherheit verpfändeten Vermögenswerte - meist handelte es sich um deren Plantage - zu verwerten. Reiche Privatgläubiger fürchteten daher zunehmend, dass zahlungsunfähige Großgrundbesitzer sie mit in den finanziellen Ruin ziehen würden. Da immer mehr Großgrundbesitzer unfähig waren, ihre Schulden zurückzuzahlen, entschlossen sich vorsichtige Gläubiger dazu, in risikoärmere Unternehmen zu investieren: das hieß, kleinere Kredite zu höheren Zinsen an kleine und mittlere Produzenten zu vergeben. Aufgrund des veränderten Kreditvergabeverhaltens der Eliten lässt sich somit feststellen, dass die Dollardiplomatie im Finanzbereich unbeabsichtigterweise Bedingungen hervorbrachte, die für die bäuerlichen Produzenten günstiger waren als für die Großgrundbesitzer. Kleine Produzenten bewiesen ihre höhere Effizienz, indem sie imstande waren, ihre Darlehen im gleichen Zeitraum wie die Großgrundbesitzer zurückzahlen, obschon sie fast doppelt so hohe Zinsen zu bezahlen hatten. Dank dieser anpassungsfähigen kleinen und mittle-

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Vgl. USNA, RG 43, E1004, Box 6, Folder: Granada, Gladden an Johnson, 29.10.1930. Zu den übrigen zentralamerikanischen Kapitalmärkten vgl. A. González Flores: La crisis económica de Costa Rica, S. 33-37; M. Samper: In Difficult Times, S. 173-174; J. Suter: Prosperität und Krise in einer Kaffeerepublik, S. 178; D. McCreery: Rural Guatemala, S. 209-210. M. Gobat: Confronting the American Dream, S. 162-163.

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ren Bauern verringerte sich unter der Herrschaft der Dollardiplomatie die Polarisierung der Klassengegensätze. Ein gutes Fallbeispiel, um die „demokratisierenden" sozioökonomischen Auswirkungen der Dollardiplomatie aufzuzeigen, bietet das ländliche Granada, wo die Landkonzentration und die Vorherrschaft der Großgrundbesitzer ausgeprägter waren als anderswo in Nicaragua.39 Die Schwächung der agrarischen Eliten der Region beruhte in erster Linie auf der von der Dollardiplomatie verursachten hohen Fluktuation ihrer Mitglieder. Entgegen der allgemein vertretenen Ansicht vollzogen sich diese Veränderungen weitgehend auf Kosten der herrschenden Konservativen, jener Fraktion der Eliten also, die nicht nur Granadas Agrarelite dominierte, sondern auch den größten politischen Nutzen aus der amerikanischen Besatzung zog. Die schädlichen Auswirkungen der Dollardiplomatie auf Granadas Großgrundbesitzer lassen sich exemplarisch an deren wichtigstem Sektor aufzeigen: dem exklusiven Kreis der Eigentümer großer Kaffeeplantagen an den Hängen des südlich von Granada-Stadt gelegenen Mombacho-Vulkans. Von den im nationalen Kaffeezensus von 1909 ausgewiesenen vierzehn größten Mombacho-Pflanzern verloren unter dem Regime der Dollardiplomatie mehr als die Hälfte ihre Plantagen. Mit einer Ausnahme standen alle von ihnen den herrschenden Konservativen nahe. Auf der anderen Seite waren zwar die dreizehn Personen, die während der langen Herrschaft der Dollardiplomatie in die Kaffeeelite Granadas aufstiegen ebenfalls alles Konservative, nur sieben von ihnen unterhielten jedoch eine mehr als nur oberflächliche Bindung zu dieser Elitengruppe. Die Instabilität der Gruppe kam auch darin zum Ausdruck, dass die wenigen MombachoPflanzer, die ihre Kaffeeplantagen ausdehnten, dies nicht auf Kosten der Kleinbauern, sondern auf Kosten anderer KafFeebarone taten. Die meisten Eigentümerwechsel waren nicht nach dem Zusammenbruch von 1929 zu verzeichnen, wie dies zentralamerikanische Agrarhistoriker zu betonen pflegen, sondern vielmehr während des Agrarexportbooms der zwanziger Jahre. Während der Boom anderswo auf dem Isthmus zur Konsolidierung der Kaffeeelite beitrug, verursachte er in den Reihen der nicaraguanischen Kaffeepflanzer eine beträchtliche Instabilität. Auf der anderen Seite belegt das Beispiel der Region Granada, dass viele Bauernbetriebe sich während der 1920er Jahre einer anhaltenden Prosperität erfreuten. Zuvor hatte der Kampf der Bauern von Granada gegen die sich nach 1870 vollziehende Ausdehnung des Großgrundbesitzes vor allem in Rückzugsgefechten bestanden. Unter dem Regime der Dollardiplomatie kamen die Übergriffe der Eliten auf bäuerliches Land zu einem überraschenden Ende. Gerade im Kaffeesektor Granadas zeigte sich diese plötzliche Wende besonDieser und der folgende Abschnitt fassen die Ausfühiungen in M. Gobat: Confronting the American Dream, S. 164-173 zusammen.

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ders deutlich. Vor allem während des Exportbooms der zwanziger Jahre verkauften zwar zahlreiche kleine und mittlere Bauern Grundstücke, die für den Kaffeeanbau geeignet waren, doch in vielen Fällen verkauften sie das Land an ihresgleichen. Selbst im Fall von Zwangsenteignungen ihres Landes, gelang es den kleinen und mittleren Kaffeebauern oft, unter Rückgriff auf familiäre Ressourcen ihr Land zurückzugewinnen. Demgegenüber konnte während der 1920er Jahre kein einziger Großgrundbesitzer Granadas eine einmal enteignete Kaffeeplantage wieder in seinen Besitz bringen. Dieser offensichtliche Unterschied zeigt deutlich, dass die bäuerlichen Familienbetriebe ungleich besser in der Lage waren, den von der nicaraguanischen Ausprägung der Dollardiplomatie verursachten Kapitalmangel zu verkraften, als die auf Lohnarbeiter angewiesenen großen Kaffeepflanzer. Besonders deutlich kommt die Stärke der kleinen und mittleren Bauern darin zum Ausdruck, dass sie während des Agrarexportbooms der zwanziger Jahre nicht nur die meisten in Granada zum Verkauf stehenden Landwirtschaftsbetriebe erwarben, sondern auf dem Höhepunkt des Booms (1925) auch mehr als doppelt soviel Land von Großgrundbesitzern kauften als diese von ihnen. Damit bewiesen die nicaraguanischen Bauern in einer Zeit, in der in Zentralamerika viele Bauern unter Druck gekommen waren, eine außergewöhnliche Geschäftstüchtigkeit. Die Dynamik war indes eine begrenzte. Der relative Machtverlust der Eliten im amerikanisch besetzten Nicaragua erreichte nie den Punkt, an dem es den Bauern möglich geworden wäre, in großem Stil fruchtbares Land von verarmten Großgrundbesitzern zu erwerben. Das Beispiel von Granadas Kaffeeplantagen zeigt auch klar, dass das wertvollste Agrarland weiterhin in den Händen der Oberschicht konzentriert blieb. Doch angesichts der zahlreichen Bankrotteure in ihren Reihen war das Selbstvertrauen der Eliten erheblich angeschlagen. Dass die beunruhigten Eliten ihre eigene Situation als nationale Krise darstellten, war unberechtigt, sie hatten jedoch durchaus gute Gründe, die Dollardiplomatie und besonders Wall Street für ihren Misserfolg verantwortlich zu machen.

Im Kampf gegen die anti-modernen Auswirkungen der Politik von Wall Street Die Zuspitzung der gegen Wall Street gerichteten Stimmung in der nicaraguanischen Elite zeigte sich besonders deutlich bei der 1923 von Präsident Bartolomé Martínez (1923-1924) in Auftrag gegebenen Umfrage über die wirtschaftliche Lage des Landes. Im Rahmen der Erhebung wurden angesehene Nicaraguaner aus allen politischen, regionalen und wirtschaftlichen Lagern zu den Gründen der „besorgniserregenden wirtschaftlichen Probleme" des Landes befragt. Siebenunddreißig von insgesamt zweiundvierzig Antworten, die in Zeitungen publiziert wurden, lasteten der Dollardiplomatie die Schuld an.

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Viele waren der Meinung, dass die Tätigkeit der Dollardiplomaten zu einer äußerst politisierten und damit ineffizienten Verwaltung der öffentlichen Finanzen gefuhrt habe, oder, wie es einer der Befragten auf den Punkt brachte: „zu viel Politik und zu wenig Verwaltung."40 Ferner wurde den Dollardiplomaten vorgeworfen, sie verhinderten wichtige öffentliche Investitionsprojekte und verträten rassistische Einstellungen. Bei den meisten Antworten stand aber die Kritik an der Kontrolle des wichtigsten Finanzinstituts des Landes, des Banco Nacional de Nicaragua, durch Wall Street im Mittelpunkt. Am heftigsten wurde die ausgesprochen rigide Kreditpolitik der Bank gegenüber den Agrarexporteuren angeprangert. Tatsächlich hatte die Depression von 1920/21 die Bank veranlasst, die Ausgabe von Darlehen drastisch einzuschränken.41 Obwohl sich die Weltmärkte rasch erholt hatten, war die Bank nicht von ihrer restriktiven Kreditvergabepraxis abgewichen. Die meisten Befragten sahen in Wall Street die Hauptverantwortliche für die Blockierung der Entwicklung in Nicaragua. In den Worten eines Befragten war die Dollardiplomatie nichts weiter als „eine Quelle des Elends für die Nicaraguaner [und] ein unüberwindbares Hindernis für jegliche ehrliche Anstrengung, den nationalen Fortschritt voranzutreiben."42 Die Befragung von 1923 belegt deutlich, wie die Dollardiplomatie in einer Zeit, in der in vielen lateinamerikanischen Ländern die Oberschichten sich wieder einer zunehmenden Prosperität erfreuten, bei den nicaraguanischen Eliten große Befürchtungen hervorrief. Dieser Kontrast verstärkte die Vorstellung vom besonders „feudalen" Charakter der von Wall Street angeleiteten Politik in Nicaragua zusätzlich. Nirgendwo zeichneten die Nicaraguaner die anti-modernen Auswirkungen dieser Politik derart plastisch wie in der Literatur.43 Besonders beliebt unter den Werken, die sich der Thematik widmeten, war der Roman Los estrangulados (1933) des angesehenen liberalen Journalisten Hernán Robleto. Los estrangulados schildert, wie Wall Street den vierundzwanzigjährigen Gabriel Aguilar in den Ruin treibt. Aguilar besitzt - gleich wie die Familie des Autors - eine Kaffeeplantage in der Sierra von Managua. Indem er den Niedergang Aguilars nachzeichnet, wirft der Roman dem US-amerikanisch kontrollierten Banco Nacional vor, die besten Unternehmer des Landes dazu zu zwingen, sich „antiquierten Austauschmethoden oder gar dem Tauschhandel zuzuwenden: Kakaobohnen, Mais und anderes Getreide für Salz, Butter und medi-

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Encuesta económica propuesta a la consideración nacional por el Señor Presidente de la República don Bartolomé Martínez, S. 115. V. Greer: Charles Evans Hughes and Nicaragua, S. 102. Ebd.,S. 57. Vgl. F. Silva: Jacinta; P. Chamorro Zelaya: Entre dos filos; J. Toruflo: La mariposa negra; J. Aguilar Cortés: Ramón Díaz.

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zinische Grundversorgung".44 Der Roman legt dar, dass sich der Würgegriff von Wall Street, in dem sich Aguilar und seinesgleichen befinden, nicht nur auf finanzielle Aspekte beschränkt, denn der Banco Nacional monopolisiert über seine Tochtergesellschaft Compañía Mercantil de Ultramar die Vermarktung des Kaffees, ist Besitzer der einzigen Eisenbahnlinie des Landes und kontrolliert darüber hinaus die lebenswichtigen Zollämter. In ihrem Zusammenspiel werden die von Wall Street eingesetzten wirtschaftspolitischen Instrumente als Teile einer teuflischen Maschinerie dargestellt, mit der nur ein Ziel verfolgt wird: Nicaraguas Kaffeeindustrie lahm zu legen. Der regressive Einfluss von Wall Street ist so stark, dass die lokalen Produzenten gezwungen sind, sich vormoderner Kredit- und Transportformen zu bedienen. Während die Politik von Wall Street in den 1920er Jahren in fast allen lateinamerikanischen Ländern die Motoren des „Fortschritts" antreibt, zwingt sie in der Lesart von Los estrangulados der wirtschaftlichen Vorhut Nicaraguas „antiquierte" Geschäftsmethoden auf. Doch Robletos Los estrangulados ist mehr als bloß ein Angriff gegen die „feudale" Form des Imperialismus von Wall Street. Der Roman schildert auch, wie Wall Street ruchlos die Männlichkeit der nicaraguanischen Agrarexporteure untergräbt. Der erfolgreiche, moderne Kaffse-hacendado Gabriel Aguilar wird zu Beginn als männlicher Archetyp der Oberschicht vorgestellt. Ausfuhrlich beschreibt der Roman nicht nur die mentalen und geschäftlichen Fähigkeiten Aguilars, sondern auch die Potenz seines Körpers, „geformt durch die Feldarbeit, stark, ein Bündel von Muskeln und Nerven" 45 Die Tragödie, die nun ihren Lauf nimmt; dreht sich um Aguilars heldenhaften, aber vergeblichen Kampf um seine wirtschaftliche Unabhängigkeit und damit um die Basis moderner Männlichkeit. Die wirtschaftlichen Probleme des Protagonisten beginnen mit dem plötzlichen Sturz der internationalen Kaffeepreise - zweifellos ein Hinweis auf die Depression von 1920/21. Wegen dieses unerwarteten Preiszerfalls kann Aguilar, der nie zuvor finanzielle Probleme gekannt hat, das Darlehen nicht zurückzahlen, das er vor kurzem vom Banco Nacional zu unvorteilhaften Bedingungen erhalten hat. Für Aguilar besteht kein Zweifel, dass der verheerende Zerfall der Kaffeepreise von Wall Street geplant worden ist. So sehr er sich auch anstrengt, einen Ausweg aus dem Schuldensumpf zu finden, Wall Street wirft ihm einen Knebel nach dem anderen zwischen die Beine. Am Ende beugt sich Aguilar der „teuflischen Maschinerie" Wall Streets und stellt sich in die lange Reihe von angesehenen Nicaraguanern, deren Kaffeefincas von der „Ultra-tumba", der Compañía Mercantil de Ultramar, geschluckt werden. Und der Autor betont: „Das herausragende Merkmal

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H. Robleto: Los estrangulados, S. 29. Ebd., S. 30-31.

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des zeitgenössischen [nicaraguanischen] Mannes ist seine Unfähigkeit, sich oder ein Vermächtnis der Würde zu verteidigen."46 Viele angesehene Nicaraguaner teilten die Meinung, dass die Dollardiplomatie eine Krise der Männlichkeit in den Oberschichten ausgelöst hatte. Ein führender liberaler Politiker beschimpfte den Banco Nacional und die Compañía Mercantil de Ultramar als „Kraken, die viele unserer Kapitalisten arm gemacht und entehrt haben."47 Und einer der bekanntesten liberalen Ideologen, Salvador Mendieta, behauptete, die Dollardiplomaten würden seine Landsmänner „entmannen".48 Die Besorgnis ging so weit, dass eine lokale Zeitung einen Artikel, der die Dollardiplomaten beschuldigte, zahlreiche Agrarexporteure in den Ruin getrieben zu haben, mit dem Titel Crisis de hombres überschrieb.49 Die Kampagne in den zwanziger Jahren gegen die Dollardiplomatie zielte nicht nur auf die Wiederherstellung von Nicaraguas Souveränität. Es ging ebenso darum, die der Elite angehörenden Unternehmer und die Wirtschaft von der „feudalen" Herrschaft Wall Streets zu befreien. Der erste Streich im Kreuzzug gegen Wall Street war die von Präsident Martínez in Auftrag gegebene Befragung von 1923 zur wirtschaftlichen Situation. Die Erhebung fragte die Eliten nicht nur nach den Ursachen der wirtschaftlichen Krise des Landes, sondern forderte sie auch auf, Lösungen vorzuschlagen. Die meisten Antworten verlangten lautstark die Verstaatlichung des Banco Nacional. Martínez' Chefberater gestand später ein, dass die Regierung bei der Vorbereitung der Umfrage auf solch einen dringenden Appell gehofft hatte.50 Es dauerte denn auch weniger als ein Jahr, bis der nicaraguanische Staat die Bank wieder vollständig in seinen Besitz brachte. Die Verstaatlichung der Bank wurde zwar von den Dollardiplomaten verbissen bekämpft, vom State Departement aber stillschweigend unterstützt.51 Martínez' erfolgreiche Verstaatlichungsaktion stellte einen wichtigen Wendepunkt in der amerikanischen Herrschaft in Nicaragua dar. Vor allem förderte sie unter den Eliten ein Gefühl der Einheit, wie es seit dem Sturz von Präsident Zelaya 1909 nicht mehr vorhanden gewesen war. Von Anfang an hatte die liberale Opposition die Bemühungen des konservativen Präsidenten unterstützte, den Banco Nacional zu verstaatlichen. Die Liberalen nahmen denn auch Martínez' Einladung an, eine nationale Koalition mit den konser-

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Ebd., S. 75. F. Berrios: Réplica al folleto conservador, S. 14. S. Mendieta: La enfermedad de Centro-América, S. 319. El Correo, 11.4.1933. T. Tijerino: Apuntes para la historia de la liberación económica de Nicaragua, S. 58. Diese Unterstützung legt den Schluss nahe, dass die US-amerikanische Ablehnung des lateinamerikanischen Wirtschaftsnationalismus weniger ausgeprägt war, als oft behauptet wird. Für eine abweichende Meinung vgl. M. Krenn: U.S. Policy toward Economic Nationalism in Latin America.

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vativen Gegnern der Dollardiplomatie zu bilden. Gemeinsam gewannen die ehemaligen Feinde des Bürgerkriegs von 1912 die Wahlen von 1924 gegen die konservative Fraktion der genuinos unter dem früheren Präsidenten Emiliano Chamorro (1917-1920). Nach der Machtübernahme setzte die Zweiparteienkoalition alles daran, Martínez' Programm der Befreiung Nicaraguas vom „Joch" Wall Streets umzusetzen.52 Die US-Beamten hätten den Wahlsieg der Koalition zweifellos verhindert, hätte der nationalistische Diskurs der Liberalen nicht eine grundlegende Veränderung erfahren. In den 1910er Jahren hatte sich der Zorn der Liberalen noch in erster Linie gegen die US-Regierung gerichtet, nach der Depression von 1920/21 wandte er sich hauptsächlich gegen Wall Street. Die Liberalen wurden nicht müde, zu betonen, dass ihr Widerstand gegen Wall Street nicht mit einer grundsätzlichen Ablehnung amerikanischer Werte und Institutionen gleichzusetzen sei. Sie äußerten im Gegenteil beharrlich ihre Bewunderung für den amerikanischen Weg in die Moderne.53 Als sich 1923 der Wille Washingtons abzeichnete, sein Finanzprotektorat über Nicaragua schrittweise aufzuheben, gewann die US-Regierung bei den Liberalen noch mehr Ansehen. Da diese Absicht im offenen Widerspruch zur Haltung der US-amerikanischen Bankiers und Dollardiplomaten stand, hofften die Liberalen, dass ihre Wall-Street-feindliche Position bei der US-Regierung - in deren Augen sie noch bis vor kurzem als Zentralamerikas schlimmste „troublemakers" gegolten hatten - auf offene Ohren stoßen würde.54 Möglicherweise war es diesen Gemeinsamkeiten zuzuschreiben, dass die liberalen Führer glaubten, sie könnten öffentlich die Unterstützung des State Departement suchen, ohne von ihrer Gefolgschaft als „vendepatrias" gebrandmarkt zu werden. Einige der liberalen Führer setzten sich sogar für eine militärische Intervention der USA ein, die die konservative Kontrolle über den Staatsapparat brechen sollte.55 Solche öffentlich ausgesprochenen Forderungen nach einer US-Intervention standen in scharfem Gegensatz zur strikten Geheimhaltung, unter der die Bemühungen des liberale Führers Julián Irías um US-amerikanische Unterstützung in den Wahlen von 1916 gestanden hatten. Der veränderte nationalistische Diskurs der Liberalen ging nicht nur mit der zunehmend ablehnenden Haltung der US-Regierung gegenüber dem Nicaraguaprojekt von Wall Street einher, er entsprach auch dem wachsenden

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USNA, RG 59, 817.00/3161, Playteran Secretary ofState, 2.9.1924. Vgl. S. Mendieta: La enfermedad de Centro-América, S. 395^102; J. Mendoza: Historia de Diriamba, S. 147. Für die ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Wurzeln der Bewunderung des amerikanischen Modernisierungswegs durch die nicaraguanischen Eliten vgl. M. Gobat: Confronting the American Dream, S. 21-71. D. Munro: The United States and the Caribbean Republics, S. 157-186. USNA, RG 59, 817.00/3136, Gustavo Alemán Bolaños an das State Department, 25.7.1924.

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Ärger der konservativen Eliten über die Kontrolle der „Wall-Street-Vampire" über die Finanzen der Regierung.56 Die Wall-Street-feindliche Stimmung brachte in verschiedener Hinsicht alte Gegner einander näher. Zugleich vertiefte der nationalistische Feldzug gegen die Dollardiplomatie jedoch die Gräben innerhalb der konservativen Eliten. Anfanglich waren die Konservativen aufgrund konkurrierender Entwicklungsprogramme gespalten. Die Befürworter der Bankenverstaatlichung waren für eine verstärkte staatliche Kontrolle über die Wirtschaft. Obschon sie ihre Kampagne unter das Motto der wirtschaftlichen Befreiung Nicaraguas stellten, befürworteten diese Konservativen kaum eine antikapitalistische oder autarke Entwicklung. Tatsächlich kämpften sie um das, was Wall Street versäumt hatte: ausländische Investitionen anzulocken. In der Praxis war daher der wirtschaftliche Nationalismus der konservativen Anhänger von Martínez durchaus moderat. Ihre Angriffe gegen Wall Street und ihre Voten für einen starken Staat wurden indessen mit einer solch großen Leidenschaft vorgetragen, dass die Dollardiplomaten sie als fanatische anti-amerikanische „Bolschewiken" brandmarkten.57 Auf der anderen Seite verfolgten die konservativen Gegner der Bankenverstaatlichung ein Entwicklungsmodell, das staatliche Eingriffe in die Wirtschaft generell ablehnte. Am kompromisslosesten wurde diese Sicht von der damals fuhrenden konservativen Zeitung, dem granadischen El Diario Nicaragüense, vertreten.58 Wie die Dollardiplomaten behauptete das Blatt, dass die beabsichtigte Bankenverstaatlichung nur zu einer Politisierung des Kreditwesens fuhren werde und dass darüber hinaus dem Staat wegen des hohen Kaufpreises der Bank die finanziellen Mittel entzogen würden. El Diario Nicaragüense beurteilte zwar die restriktive Fiskal- und Finanzpolitik der Dollardiplomaten ebenfalls durchaus kritisch, aber er lehnte eine stärkere staatliche Regulierung der Wirtschaft klar ab. Nur eine deregulierte Wirtschaft, so die Argumentation, könne den nicaraguanischen Produzenten den dringend benötigten Zugang zu ausländischem Kapital gewährleisten. Auf den ersten Blick schien der inner-konservativen Kontroverse über die Wirtschaftspolitik der Dollardiplomatie keine große Bedeutung zuzukommen. Einerseits konnten die Wirtschaftnationalisten die Auseinandersetzung über die Bankenverstaatlichung mühelos für sich entscheiden, andererseits machten die meisten Konservativen die Dollardiplomatie für Nicaraguas wirtschaftliche Probleme verantwortlich und befürworteten ein von ausländischen Investitionen angetriebenes exportorientiertes Wachstum. Dennoch hatte die Kontroverse insofern längerfristige Folgen, als sie dazu führte, dass die ge-

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El Centroamericano, 2.2.1924. USNA, RG 59, 817.00/3055, Ramer an Hughes, 3.3.1924. Vgl. insbesondere die Ausgaben der Zeitung vom August 1924.

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schäftstüchtigste Gruppe der Eliten (die konservativen Oligarchen Granadas) von den liberalen Nationalisten als die Verkörperung wirtschaftlicher Rückständigkeit hingestellt wurde.

Die wirtschaftliche Vorhut als Inbegriff der Rückständigkeit Während des Wahlkampfes von 1924 begann das Pro-Martinez-Lager den innerkonservativen Konflikt vermehrt als eine grundlegende Auseinandersetzung zwischen „modernen" und „rückständigen" Eliten darzustellen. Insbesondere setzten sie den Widerstand ihrer Gegner gegen mehr staatliche Interventionen mit dem vermeintlichen Anti-Modernismus von Wall Street gleich. Ob in der Presse oder auf Wahlkampfveranstaltungen, das konservative Lager um Martinez und ihre liberalen Verbündeten wurden nicht müde, dem „feudalen" Pro-Wall-Street-Programm des Präsidentschaftskandidaten der ge«w/no-Konservativen Emiliano Chamorro ihr nationalistisches und „modernes" Wirtschaftsprogramm entgegenzusetzen. Da die meisten führenden genuinos aus Granada stammten, wurde die konservative Oligarchie der Stadt generell mit dem anti-modernen Einfluss von Wall Street in Verbindung gebracht. Dies äußerte sich etwa darin, dass im Wahlkampf von 1924 die Calle Atravesada, Wohnsitz der reichsten Bürger Granadas, als Wall Street Nicaraguas karikiert wurde.59 War die Oligarchie Granadas früher wegen ihres „kolonialen" gesellschaftlichen Habitus angeprangert worden, wurde sie nun zusätzlich mit rückständigen Wirtschaftspraktiken in Verbindung gebracht - dies, obschon sie weiterhin die wirtschaftliche Vorhut des Landes stellte, nachdem sie bereits Ende des 19. Jahrhunderts den takeoff von Nicaraguas „modernsten" Agrarexportindustrien (Kaffee, Zucker und Bananen) vorbereitet hatte. Einer der ersten und einflussreichsten Versuche, die konservative Oligarchie als unfähige Unternehmer darzustellen, war das Buch Historia de Diriamba (1920) des bekannten liberalen Ideologen und Rechtsanwaltes Juan Manuel Mendoza. Dieses umstrittene Buch untersuchte den Wandel von Mendozas Heimatstadt Diriamba im Departement Carazo von einer verschlafenen Viehzüchterstadt zu einem dynamischen Zentrum der Kaffeeproduktion. Die Konservativen werden dabei als feudalistische ladinische (beziehungsweise „weiße") Oligarchen beschrieben, die aus Unwissenheit und Angst unfähig sind, Nicaragua in die Moderne zu fuhren. Für Mendoza ist der Besitz von großen, extensiv bewirtschafteten Vieh-Haciendas ein untrügliches Zeichen für die Rückständigkeit der Konservativen. Tatsächlich widerspiegelten diese „feudalen" Praktiken der Bewirtschaftung jedoch eine den herr-

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J. Borgen: La vida a la orilla de la historia, S. 133.

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sehenden Markt- und Kreditbedingungen angepasste kapitalistische Logik.60 Doch Mendoza ging noch weiter in der Verdrehung der historischen Realität, indem er behauptete, dass Nicaraguas Kaffeerevolution nicht von konservativen Oligarchen, sondern von liberalen Aufsteigern aus bescheidenen sozialen Verhältnissen vorangetrieben worden sei. Aus seiner Sicht verfugten allein diese „neuen" Männer über den notwendigen Unternehmergeist, um Nicaragua aus der kolonialen Rückständigkeit zu reißen. Wie andere nationalistische Ideologen war Mendoza der Meinung, dass sich dieser Unternehmergeist der Aufsteiger zum Teil auf deren mestizische Wurzeln zurückfuhren lasse,61 betonte aber gleichzeitig auch die Bedeutung der praktischen Erfahrung. Während der Reichtum der feudalen Oligarchen auf der Ausbeutung der unwissenden Indianer basiert habe, würden die „neuen" Männer die harte körperliche Arbeit preisen. Deren Unternehmergeist, so Mendoza weiter, werde durch die Teilnahme an Glücksspielen zusätzlich gefordert: Die Fähigkeit, mit Risiken umzugehen, werde dabei auf die Probe gestellt. Was für die „rückständigen" Oligarchen der Hahnenkampf, sei für die modernen Unternehmer der kapitalistischste aller Zeitvertreibe: die Börse. Schließlich stellte Mendoza die Fähigkeit dieser „neuen" Männer, Kapital produktiv zu verwerten, der Neigung der konservativen Oligarchen gegenüber, ihr Geld für einen verschwenderischen Lebenswandel zu vergeuden. Aufgrund dieser Interpretation der nicaraguanischen Geschichte kam Mendoza unweigerlich zum Schluss, dass die Dollardiplomatie die Entwicklung Nicaraguas verhindere, indem sie eine (konservative) Oligarchie von „vendepatrias" ohne unternehmerische Qualitäten gegenüber einer modernen (liberalen) Bourgeoisie bevorzuge. Wie war es angesichts ihrer modernisierungsfreundlichen Einstellungen und wirtschaftlichen Leistungen möglich, Granadas konservative Oligarchen so erfolgreich als „rückwärtsgewandte" wirtschaftliche Akteure zu zeichnen? Zweifellos trugen die Konservativen mit ihrem kurz zuvor begonnenen moralischen Kreuzzug gegen die „moderne Frau" selbst zur Zementierung ihres Rufes als Modernisierungsgegner bei.62 Hinzu kam, dass viele von ihnen genau zu dem Zeitpunkt Aufsehen erregende Konkurse erlitten, als die Nationalisten ihre Anti-Wall-Street-Kampagne intensivierten. Der Umstand, dass diese Konkurse jene Nicaraguaner trafen, die scheinbar am stärksten von der Dollardiplomatie profitierten, verlieh den Behauptungen der Nationalisten, ihren Gegnern fehle der fiir „moderne" Wirtschaftsfuhrer charakteristische Unternehmergeist, noch höhere Glaubwürdigkeit.

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Vgl. M. Edelman: The Logic of the Latifundio, S. 90-92. J. Mendoza: Historia de Diriamba, S. 79-81. Vgl. M. Gobat: Confronting the American Dream, S. 184-192.

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Ermöglicht wurde die erfolgreiche nationalistische Umdeutung der Rolle der granadischen Elite allerdings in erster Linie durch den Umstand, dass die konservative Kampagne gegen die geplante Verstaatlichung des Banco National die offene Unterstützung durch die Dollardiplomaten erhalten hatte. Wie ihre konservativen Verbündeten lehnten die Dollardiplomaten aus ideologischen Gründen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft ab. Darüber hinaus befürchteten sie, dass eine Übernahme der Bank durch die Nicaraguaner die fiskalische und finanzielle Stabilität des Landes - und damit den Kern ihrer selbst verkündeten Modernisierungsmission - gefährdete.63 Am meisten von der Unterstützung durch die Dollardiplomaten profitierte Emiliano Chamorro. Paradoxerweise befürwortete Chamorro im Prinzip die Bankenverstaatlichung- seine Regierung (1917-1920) war es gewesen, die die ersten Schritte zur Nationalisierung sowohl der Nationalbank als auch der Eisenbahn unternommen hatte. Wie später auch der Chefarchitekt des Projekts der „wirtschaftlichen Befreiung" von Präsident Martinez später bekennen sollte, stellte dieses im Grunde den logischen Höhepunkt der unter Chamorro - Martinez' früherem politischem Mentor und Geschäftspartner - eingeleiteten nationalistischen Politik dar.64 Aus politischen Gründen versuchte Chamorro jedoch, die von Martinez angestrebte Verstaatlichung bis nach den Präsidentschaftswahlen vom Oktober 1924 zu verzögern. Seine Befürchtung war, dass die finanziellen Ressourcen der Bank, sollte sie in die Hände von Martinez fallen, dazu eingesetzt würden, die Kandidatur von Chamorros Hauptrivalen Carlos Solörzano zu unterstützen.65 Nach seiner Wahlniederlage unterstützte Chamorro die Dollardiplomaten dann in ihren Bestrebungen, die neue Regierung daran zu hindern, die amerikanischen Bankdirektoren durch einheimische Beamte zu ersetzen. Als es ihm 1925 gelang, die Zweiparteienkoalition unter Solörzano zu stürzen, endete diese Auseinandersetzung schlagartig. Viele Nicaraguaner glaubten (zu Unrecht), dass die US-Bankiers und die Dollardiplomaten hinter dem Staatstreich Chamorros standen, um die „Entamerikanisierung" der Bank in letzter Minute zu verhindern.66 Diese Sichtweise wurde scheinbar durch Chamorros Regierung (1925-1926) bestätigt, indem diese es zuließ, dass die US-Bankiers ihre Kontrolle über den Banco Nacional wieder festigen konnten. Chamorro versuchte sogar, die Bank an Wall Street weiterzuverkaufen, um seiner bedrängten Regierung zu zusätzlichen finanziellen Mitteln zu verhelfen. Auch hoffte er, mit seinen Avancen gegenüber den US-Bankiers die amerikanische Regierung zur Anerkennung 63

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Vgl. USNA, RO 59, 817.516/39, Hill an Jenks, 18.8.1924; und 817.51/1513, Ham an Secretary of State, 29.8.1924. T. Tijerino: Apuntes para la historia de la liberación económica de Nicaragua, S. 57. USNA, RG 59, 817.516/35, Anderson an Secretary of State, 21.8.1924. Vgl. Tijerino: Apuntes para la historia de la liberación económica de Nicaragua, S. 60; R. Huete Abella; Los banqueros y la intervención en Nicaragua, S. 108.

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seiner Regierung zu bewegen. Diese Hoffnung erwies sich jedoch als unberechtigt, da sich die US-Regierung an die 1907 beschlossene und 1923 ausgeweitete Washingtoner Konvention hielt, die die Nicht-Anerkennung von nicht verfassungsmäßig an die Macht gelangten Regierungen vorsah.67 Chamorros Unvermögen, die US-Regierung zu seinen Gunsten zu beeinflussen, verstärkte indessen nur die Abhängigkeit seiner Regierung von den US-Bankiers und den Dollardiplomaten, wodurch sich die Wahrnehmung weiter verfestigte, die Konservativen um Chamorro seien „Komplizen" von Wall Street. Auf internationaler Ebene bekräftigte nichts so sehr das Bild einer infamen Wall-Street-freundlichen Haltung der Konservativen wie der Ausbruch des Bürgerkriegs im Mai 1926, der in eine weitere amerikanische Invasion mündete. Ermutigt durch die Ablehnung von Chamorros illegitimem Regime durch die US-Regierung, lösten Anhänger der abgesetzten Zweiparteienkoalition eine Revolte aus und brachten mehrere Städte an der Atlantikküste in ihre Gewalt. Die Aufständischen betonten von Anfang an, dass ihr Kampf der Befreiung Nicaraguas von einer „drückenden und unverantwortlichen Herrschaft von Bankiers" galt.68 Es war daher kein Zufall, dass sie zuerst die lokalen Symbole von Wall Street wie die Zweigstelle des Banco Nacional an der Atlantikküste oder die mit amerikanischem Personal besetzten Zollstellen angriffen. Angesichts dieser Angriffe mussten die US-Bankiers und Dollardiplomaten um die Sicherheit der Zweigstellen der Bank im Westen Nicaraguas furchten. Mit der Unterstützung von Chamorro drängten sie die US-Regierung, die Bank als eine amerikanische Institution anzuerkennen.69 Die USBankiers hofften damit, ähnlich wie 1912 eine militärische Intervention zum Schutz amerikanischen Eigentums zu provozieren. Die US-Regierung lehnte das Ansinnen von Wall Street jedoch ab, da Washington die Herrschaft der Dollardiplomatie in Nicaragua unbedingt beenden wollte. Chamorro seinerseits weigerte sich zurückzutreten und verstärkte seine Bemühungen, den Banco Nacional an amerikanische Investoren zu verkaufen. Gleichzeitig erlaubten die US-Manager des Banco Nacional seiner Regierung, sich widerrechtlich Bankgelder anzueignen. Die Wall-Street-Bankiers und Dollardiplomaten vermochten ihren nicaraguanischen Verbündeten nicht zu retten. Am 11. November 1926 gab Chamorro dem Druck des State Departement nach und übergab die Macht an den ehemaligen Präsidenten Adolfo Díaz. Doch zur Enttäuschung der amerikanischen Beamten vermochte dieser Regimewechsel den Vormarsch der Aufständischen nicht aufzuhalten. Ende Dezember ordnete Präsident Calvin Coolidge daher die militärische Invasion Nicaraguas an, um einen Sieg der 67 68 69

W. Kamman: A Search for Stability, S. 44-54. The New York Times, 5.1.1927. USNA, RG 59, 817.516/103, Loree an Secretary of State, 10.5.1926.

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Rebellen zu verhindern. Diese Intervention rief eine weltweite Entrüstungswelle hervor und besiegelte den Ruf der konservativen Anhänger von Chamorro als niederträchtige, von Wall Street abhängige Oligarchen.

Die Widersprüchlichkeit der Wall-Street-feindlichen Haltung Die internationale Ablehnung der US-Invasion widerspiegelte das neuerliche Erstarken anti-imperialistischer Bewegungen in Europa und den Amerikas, die die Dollardiplomatie in Lateinamerika vehement ablehnten.70 Anfanglich richtete sich der Aufschrei vor allem gegen die Wall-Street-freundliche Rhetorik, mit der Präsident Coolidge den Einsatz der rund 3 000 US-Soldaten in Nicaragua rechtfertigte. Coolidges Rede schockierte sogar die Beamten des State Departement, denen sich bei seiner Behauptung, die amerikanischen Wirtschaftsinteressen seien durch die nicaraguanischen Aufständischen „ernsthaft" bedroht, die Nackenhaare sträuben mussten.71 Sie wiesen zu Recht darauf hin, dass Coolidge die Bedeutung der amerikanischen Investitionen in Nicaragua, die damals im lateinamerikanischen Vergleich zu den geringsten zählten, maßlos übertrieb. Hinzu kam, dass der Präsident zwar den Vorwurf zurückwies, die Politik der USA gegenüber Nicaragua werde von den „big banking interests" diktiert, der Ton seiner Rede indessen ebendies nahe legte. Im Gegensatz zu Coolidge verteidigte das State Departement die Invasion nicht mit wirtschaftlichen, sondern mit strategischen Argumenten. Insbesondere hofften die Beamten des State Departement, die Invasion würde das internationale „Prestige" wiederherstellen, das die USA wegen der Unfähigkeit, ihr Protektorat zu kontrollieren, verloren hatten.72 Sie planten nach der militärischen Wiederherstellung „geordneter Verhältnisse" in Nicaragua, die US-amerikanische Vorherrschaft in der Region dadurch zu sichern, dass mittels der US-Truppen in Nicaragua ihre Version einer demokratischeren, auf „freien und fairen Wahlen" basierenden Ordnung durchgesetzt werden sollte.73 Das Militär sollte das Ziel erreichen, das die Dollardiplomaten verfehlt hatten: das Land durch die Modernisierung der politischen Kultur zu stabilisieren. Letztlich ließ sich die öffentliche Meinung jedoch stärker durch Coolidges Rede beeinflussen als durch die Ansichten des State Departement. Anti-imperialistische Positionen konnten so die Invasionstruppen als „Steuereintreiber" im Namen von Wall Street darstellen, obschon die Intervention in

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E. Rosenberg: Financial Missionaries to the World, S. 122-150. The New York Times, 11.1.1927, S. 1-2. USNA, RG 59, 817.00/5824, Robert Olds, Confidential Memorandum on the Nicaraguan Situation, Januar 1927. Vgl. M. Gobat: Confronting the American Dream, S. 205-231.

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Tat und Wahrheit das Ende der Dollardiplomatie in Nicaragua beschleunigte.74 Den ausländischen Kritikern der Vereinigten Staaten war entgangen, dass die US-Invasion von den Anfuhrern des Aufstands in Nicaragua stillschweigend unterstützt wurde. Letztere lehnten die Forderung von Präsident Díaz nach einem hundertjährigen amerikanischen Militär- und Finanzprotektorat über Nicaragua nicht kategorisch ab. Die Rebellenführer widersetzten sich zwar mit Nachdruck dem Versuch von Díaz, die Kontrolle der US-Bankiers über die lokalen Finanzen zu stärken. Viele unter ihnen billigten jedoch die militärischen Aspekte des von Díaz vorgeschlagenen Protektorats, insbesondere die Einsetzung eines US-Militärgouvemeurs.75 Die Bereitschaft der Revolutionäre, wenn nicht ein Finanz-, so doch ein Militärprotektorat zu billigen, erstaunte manche hochrangige, mit den nicaraguanischen Verhältnissen wenig vertraute US-Beamte. Dies galt auch für Henry Stimson, den Präsident Coolidge zu Friedensverhandlungen in das zentralamerikanische Land gesandt hatte. Als Kriegsminister von Präsident Taft hatte sich Stimson anlässlich des Bürgerkriegs von 1912 erfolglos gegen die Forderung des State Departement nach einer Militärintervention in Nicaragua gewandt. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung und des internationalen Aufschreis gegen die Invasion von 1927 war Stimson bei seiner Ankunft in Nicaragua am 17. April darauf gefasst, auf stark anti-US-amerikanisch eingestellte Revolutionsführer zu treffen. Zu seiner Verwunderung konnte er feststellen, dass die meisten von ihnen den USA nicht nur „freundlich" gesinnt waren, sondern „ernsthaft [...] unsere Intervention suchten."76 Am 12. Mai 1927 gelang es Stimson, alle Revolutionsführer außer Augusto Sandino dazu zu bewegen, einen Friedensvertrag mit den Konservativen zu unterschreiben. Gegen die Zusicherung, dass die US-Truppen die nächsten Wahlen auf Gemeinde- und nationaler Ebene überwachen würden, stimmten die Aufständischen der Demobilisierung zu. Ohne Zweifel beruhte Stimsons Erfolg auf der Drohung, die bis anhin „neutralen" US-Truppen gegen die vorrückenden Rebellen einzusetzen. Die Rebellenführer waren nicht bereit, das Risiko einer solchen Auseinandersetzung einzugehen. Auch wenn dies auf den ersten Blick Erinnerungen an die Unterwürfigkeit der revolutionären Führung von 1912 wachrief, handelten sie doch aus völlig anderen Motiven. 1912 scheuten sich die meisten Revolutionsführer deshalb davor, ihre kriegerische anti-amerikanische Rhetorik in die Tat umzusetzen, weil sie fürchteten, die Kontrolle über ihre radikalisierte Gefolgschaft vollends zu ver-

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U.S. Senator Wheeler in The Literary Digest, 22.1.1927, S. 5. Vgl. J. Moneada: Estados Unidos en Nicaragua, S. 14; Daniel Mena an The New York Times, 18.1.1927. H. Stimson: American Policy in Nicaragua, S. 55-56.

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Heren.77 Im Gegensatz dazu stand die Passivität der Rebellenfiihrer von 1927 nicht im Widerspruch zu ihrer nationalistischen Ideologie, sondern war viel eher Ausdruck davon. Trotz seines Wall-Street-feindlichen Tonfalls prangerte der nicaraguanische revolutionäre Nationalismus der 1920er Jahre die Einmischung der USRegierung in die inneren Angelegenheiten des Landes nicht mehr an. Dies lässt sich teilweise darauf zurückführen, dass das State Departement den wirtschaftlichen Nationalismus, der die Rebellenfiihrer einte, wenigstens stillschweigend unterstützte. Viele amerikanische Politiker stimmten mit der Einschätzung des ehemaligen Marineministers Josephus Daniels überein, „[that, in Nicaragua,] dollar diplomacy is the lion in the path of friendly relations. " 78 Die Rebellenführer erkannten indes auch, dass die Coolidge-Administration die militärische Niederlage des Diaz-Regimes nicht hinnehmen würde. Daher glaubten sie, ihren Anspruch auf die Staatsmacht nur in tatsächlich freien Wahlen unter der Aufsicht von US-Truppen verwirklichen zu können.79 Erstaunlicherweise hielt sich der Volkszorn gegen die offene Unterstützung der Invasion durch die Rebellenfiihrer in engen Grenzen. Die Anführer der Revolution von 1912 hatten gegenüber den US-Offizieren die Befürchtung geäußert, ihre Anhänger würden womöglich nicht vor Kämpfen mit den USTruppen zurückschrecken. Von den Führern des Aufstandes von 1927 äußerte keiner solche Bedenken. Ein Zeichen dieser allgemeinen Gleichgültigkeit war, dass die US-Invasion auch unter der städtischen Bevölkerung keine nennenswerten Proteste hervorrief. Der einzige dokumentierte anti-amerikanische Protest war in der Stadt León zu verzeichnen, als am 16. Mai eine Menschenmenge eine US-Ehrengarde für zwei kürzlich gefallene Marines verhöhnte. Ein gut informierter amerikanischer Journalist bemerkte, dass 1927 „few people in Nicaragua were really interested in throwing the Americans out of the country, even though they might not love them."80 Die ambivalente Reaktion der Nicaraguaner auf die Eindringlinge von 1927 war teilweise eine Folge der Invasion von 1912. So lässt etwa die immer noch verbreitete elterliche Warnung „Sei still! Major Butler wird dich holen", vermuten, dass die Erinnerung an die Invasionstruppen von 1912 weiterhin Furcht einzuflößen vermochte.81 Hinzu kam, dass in der Bevölkerung auch die

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Vgl. M. Gobat: Confronting the American Dream, S. 111-122. The Literary Digest, 29.1.1927, S. 6. Z.B. José Maria Moncada's Bemerkungen zu Stimson in Henry Stimson, Report on Mission to Nicaragua (May 1927). In: Henry L. Stimson Papers, Mikrofilmrolle 144. H. Denny: Dollars for Bullets, S. 336. Während der US-amerikanischen Intervention in den nicaraguanischen Bürgerkrieg von 1912 führte Major Smedley Butler die Einheit von Marines an, die Granada, die Hochburg der Aufständischen, einnahm und deren Führer, General Luis Mena, gefangen setzte.

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Erinnerung an den Vertrauensbruch der Revolutionsführer noch wach war, als diese ihre Anhänger im Stich ließen und ihrer kriegerischen anti-amerikanischen Rhetorik keine Taten folgen ließen. Dennoch lässt sich mit dem Misstrauen und der Furcht allein nicht erklären, warum 1927 so viele Nicaraguaner nicht willens schienen, sich den Eindringlingen entgegenzustellen. Das Unvermögen der Rebellen von 1927, große städtische Aufstände auszulösen, legt den Schluss nahe, dass der revolutionäre Enthusiasmus in der Bevölkerung 1926/27 schwächer war als 1912.82 Hatte die nicaraguanische Presse 1912 von der weit verbreiteten Furcht unter den Eliten vor einer drohenden sozialen Revolution berichtet, waren solche Befürchtungen am Vorabend des Bürgerkriegs von 1926/27 kein Thema in den Zeitungen. Die Führer der Aufständischen von 1912 pflegten einen viel radikaleren Diskurs als diejenigen von 1926/27. Während die Rebellenführer 1912 mehr politische Rechte und soziale Gerechtigkeit für die „Unterdrückten" versprachen, betonten sie 1926/27 stets den konservativen, nicht-revolutionären Charakter ihrer Anliegen. Weshalb war 1926/27 ein geringeres revolutionäres Potenzial in der Bevölkerung vorhanden als 1912? Zweifellos war dieser Wandel eine Folge der populistischen Politik der Eliten in den vorangegangenen Jahren. Anders als 1912 brach der Krieg von 1926/27 nicht nach einer lang andauernden personalistischen Diktatur aus, die vom Angriff der Eliten auf die politische Autonomie der Landbevölkerung gekennzeichnet gewesen war, sondern entfaltete sich vor dem Hintergrund eines intensiven innerelitären Konkurrenzkampfes um Wählerstimmen. Obwohl die USA ein Verbot der Liberalen durchgesetzt hatten, waren die Wahlen nach 1912 viel kompetitiver als allgemein angenommen. Nicht nur nahmen die Liberalen aktiv an Gemeindewahlen teil, die Konservativen konkurrenzierten sich gegenseitig auf allen Ebenen, um den Staatsapparat unter ihre Kontrolle zu bringen. Gewöhnlich versuchten die verschiedenen Fraktionen der Elite, mit populistischen Wirtschafts- und Sozialprogrammen Wählerstimmen zu gewinnen. Da sie den Staat kontrollierten, waren die Konservativen am besten in der Lage, solche Versprechungen auch in die Tat umzusetzen. Tatsächlich erließen die Konservativen - wie der Historiker Jeffrey Gould dargelegt hat - nach 1912 Land- und Arbeitsreformen, die die Lage vieler ländlicher Gemeinden verbesserten.83 Ohne Zweifel entschärften solche Maßnahmen die sozialen Spannungen, die für die revolutionäre Gewalt von 1912 mitverantwortlich gewesen waren. Bedeutender dürfte jedoch der Umstand gewesen sein, dass die Bevölkerung sich von den wirtschaftsnationalistischen Ansichten der Rebellenführer

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Vgl. bez. der Aufstände von 1912 M. Gobat: Confronting the American Dream, S. 103110. J. Gould: To Die in This Way, S. 4 3 ^ 7 , 88-89.

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von 1926/27 kaum überzeugen ließ. Dies hing zum Teil mit den unbeabsichtigten „demokratisierenden" Auswirkungen der Dollardiplomatie auf die ländliche Gesellschaft zusammen. Die proto-revolutionäre Stimmung des Jahres 1912 war hauptsächlich eine Reaktion auf das ungleiche wirtschaftliche Wachstum, das in erster Linie die Agrarexporteliten begünstigt hatte. Wie soeben dargestellt, war der allgemeine sozioökonomische Kontext in den zwanziger Jahren ein völlig anderer, denn die Kontrolle der US-Bankiers über das Finanzsystem Nicaraguas schwächte die wirtschaftliche Macht der lokalen Eliten. Landwirte außerhalb der Eliten litten ungleich weniger unter diesen neuen finanziellen Rahmenbedingungen, sie profitierten vielmehr davon, indem sie ihren Grundbesitz ausdehnen konnten. War die Krise von 1912 Ausdruck der Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit einer von den Eliten angeführten wirtschaftlichen Offensive, so zeigte der Krieg von 1926/27 die Verärgerung der Eliten über die Kontrolle der nicaraguanischen Staatsfinanzen durch die Dollardiplomatie. Die nationalistische wirtschaftspolitische Maßnahme mit dem größten Mobilisierungspotenzial in der Bevölkerung war die Verstaatlichung der nicaraguanischen Eisenbahn. Schon während des Krieges von 1912 hatten die revolutionären Massen entschlossen für die Wiedererlangung der nationalen Kontrolle über die Eisenbahn gekämpft. Während des folgenden Jahrzehnts kam es verschiedentlich zu Demonstrationen der Bevölkerung gegen das USamerikanische Management der Eisenbahn. Die allgemeine Wut richtete sich vor allem gegen Bestrebungen der Unternehmensleitung, Frauen und Kinder aus den lokalen Bahnhöfen zu vertreiben, die dort Früchte und Getränke verkauften. Mitunter entlud sich der Zorn in städtischen Aufständen, wie etwa jenen von Masaya 1919 und 1922.84 Es ist jedoch nicht klar, inwiefern diese Auseinandersetzungen die Wall-Street-feindliche Stimmung in der Bevölkerung anheizten. Bezeichnenderweise bezog sich der spätere Guerillaführer Augusto Sandino in seinen Schriften nie auf die Auseinandersetzungen in Masaya, obschon er in einem Nachbardorf gelebt hatte und ein scharfsinniger Chronist des lokalen Widerstands gegen den US-Imperialismus war. Selbst bei jenen Sektoren der Bevölkerung, die unmittelbar von der wirtschaftlichen Präsenz der USA in Nicaragua betroffen waren, fiel die gegen Wall Street gerichtete Kampagne nicht auf fruchtbaren Boden. Diese Sektoren bestanden in erster Linie aus den rund 11 000 Arbeitern der amerikanischen Minen-, Bananen- und Holzfallerunternehmen Ostnicaraguas, die ungefähr sechs Prozent der gesamten Arbeiterschaft des Landes ausmachten.85

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Ebd., S. 147-148. Marine Corps University Research Archives, U.S. Marine Corps, Julian Smith Papers, Schachtel 6, Umschlag 115, Stafford an Central Area Commander, 18.12.1930; Oficina Central del Censo: Censo general de 1920, S. 6.

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Unzufriedene Arbeiter dieser Wirtschaftsenklaven gehörten zwar zu den ersten, die sich 1927 den anti-amerikanischen Guerillaverbänden Sandinos anschlössen. Ihre Beweggründe lagen jedoch weniger in einer anti-amerikanischen Haltung als vielmehr in der politischen Gewalt, die von lokalen Potentaten ausging.86 Außerdem zielte der wirtschaftliche Anti-Amerikanismus der revolutionären Eliten 1926/27 nicht auf die in Nicaragua tätigen Unternehmen, sondern auf die absolute Kontrolle von Wall Street über die lokalen Finanzen. In diesem Sinn unterschied er sich deutlich von jenem zeitgenössischer Nationalisten anderswo in Lateinamerika, die in den US-amerikanisch dominierten Wirtschaftsenklaven eine viel größere Bedrohung für die nationale Souveränität sahen als in den Wall-Street-Bankiers.87 In ganz Lateinamerika nährten die gegen US-amerikanische Unternehmen gerichteten Arbeitskämpfe den Anti-Amerikanismus in der Bevölkerung, während in Nicaragua in den zwanziger Jahren ein außergewöhnlich stabiler Arbeitsfriede herrschte; die wenigen offenen Konflikte drehten sich um den Widerstand der Spanisch sprechenden Arbeiter gegen die Einstellung von schwarzen Arbeitskräften aus West-Indien.88 Die meisten wissenschaftlichen Darstellungen sind zum Schluss gekommen, dass die US-Unternehmen, die sich während des Höhepunkts der Dollardiplomatie in Nicaragua niederließen, von den Enklavenarbeitern und der örtlichen Bevölkerung akzeptiert wurden. Es ist wohl kein Zufall, dass die Miskito-Indianer - die größte indigene Gruppe an der Atlantikküste - ausgerechnet in den 1920er Jahren begannen, mit Bewunderung die von den US-Unternehmen vermittelten Werte und Güter mit dem Ausdruck pawanka („Entwicklung") zu beschreiben.89 Die Gruppe außerhalb der Eliten, die am ehesten auf das Anti-Wall-StreetProgramm der Aufstandsanführer von 1926/27 ansprach, waren die Handwerker in den Städten. Aber auch ihre Unterstützung war nicht einstimmig. Wohl kritisierten sie die Kontrolle von Wall Street über die Zolleinnahmen. Ein besonderes Ärgernis stellte für sie die Weigerung der Dollardiplomaten dar, die Importtarife für Waren anzuheben, die ihre eigenen Produkte konkurrenzierten, wie Schuhe und Textilien. Die Klagen der Handwerker waren insofern legitim, als die Dollardiplomatie mit einer Zunahme amerikanischer Importe einherging, die den Absatz der handwerklichen Binnenproduktion erschwerte.90 Die wirtschaftsnationalistischen Motive der Handwerker und der Rebellenführer waren indessen nicht deckungsgleich. Tatsächlich unterstütz86 87 88

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Vgl. M. Schroeder: The Sandino Rebellion Revisited, S. 219. Vgl. T. O'Brien: The Revolutionary Mission. Vgl. Archivo Nacional de Nicaragua (ANN), Fondo Díaz, caja 16, F:4.9-C9/E98, Ernesto Solórzano Díaz an Adolfo Díaz, 21.11.1922; D. Brooks: Rebellion from Without, S. 149-151. C. Hale: Resistance and Contradiction, S. 51. O. Vargas: La intervención norteamericana y sus consecuencias, S. 214-215.

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ten viele Handwerker die Weigerung der Dollardiplomaten, die lokale Währung abzuwerten - ein Kernanliegen der wirtschaftsnationalistischen Eliten. Wie anderswo in Lateinamerika befürchteten die Handwerker (zu Recht), dass eine Abwertung Löhne und Kaufkraft der „arbeitenden Klassen" drastisch senken würde.91 Diese klassenbasierten Differenzen in einer zentralen wirtschaftlichen Frage dämpften die Bereitschaft in der Bevölkerung, die AntiWall-Street-Kampagne der Revolutionsfuhrer von 1926/27 zu unterstützen.

Schlussbemerkung Die Dollardiplomatie sollte, ihren US-amerikanischen Architekten gemäß, durch die Modernisierung der scheinbar „rückständigen" politischen und wirtschaftlichen Kultur der einheimischen Eliten Nicaragua Stabilität garantieren. Stattdessen hatte sie zur Folge, dass US-amerikanisch kontrollierte Institutionen - die Gemischte Kommission, die Nationalbank und die Zollverwaltung ins Kreuzfeuer der politischen Auseinandersetzung gerieten. In einem Land, in dem die Präsenz von US-Konzernen stets gering gewesen war, löste die Dollardiplomatie einen wirtschaftlichen Anti-Amerikanismus aus. Zwar erleichterten diese nationalistischen Einstellungen die Annäherung von zuvor verfeindeten Elitegruppen, die Massen wurden davon jedoch kaum bewegt. Vor diesem Hintergrund entwarfen sowohl bäuerliche Revolutionäre unter der Führung von Augusto Sandino als auch abtrünnige reaktionäre Eliten alternative nationalistische Projekte als Antwort auf die sich nach 1927 ausweitende US-amerikanische militärische Besatzung. Beide scheinbar so gegensätzlichen Projekte lehnten die dem US-amerikanischen Imperialismus zugrunde liegenden Prämissen der Moderne ab.92 Diese Herausforderung sollte zu einer weitaus größeren Bedrohung der US-Hegemonie werden als der Wirtschaftsnationalismus der Rebellenführer von 1926/27. Denn wie heftig die wirtschaftsnationalistischen Eliten die Dollardiplomaten auch kritisieren mochten, grundsätzlich bewunderten sie den amerikanischen Weg in die Moderne. Im Gegensatz zu verbreiteten Ansichten über den Anti-Amerikanismus in Lateinamerika und anderswo lehnten die nicaraguanischen Eliten, die den nationalistischen Feldzug gegen die Dollardiplomatie anführten, die Moderne nicht ab, sondern unterstützten sie ebenfalls.93 Diese Haltung kam nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als im Versuch der liberalen Eliten, sich selbst als „modern" darzustellen und die herrschenden Konservativen als „rückständig" zu brandmarken. Schon vor der US-In91

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USNA, RG 59, 817.00/3374, Bailie an Munro, 8.12.1923. Oft wurde die deflationäre Politik der Dollardiplomaten von den lateinamerikanischen Arbeiterbewegungen unterstützt, vgl. hierzu P. Drake: Introduction, S. xxx. Vgl. M. Gobat: Confronting the American Dream, S. 250-259. Vgl. P. Hollander: Understanding Anti-Americanism.

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vasion von 1912 hatte sich der liberale Diskurs durch die Betonung dieses Gegensatzes ausgezeichnet, vor dem Hintergrund der Dollardiplomatie erhielten die Selbstdarstellungen der Eliten jedoch noch eine stärker wirtschaftliche Ausrichtung. War der Kampfbegriff der „Rückständigkeit" ursprünglich eingesetzt worden, um die ausschließenden sozialen Praktiken der konservativen Oligarchen anzugreifen, bezeichnete er ab den zwanziger Jahren in erster Linie deren wirtschaftliche Praktiken, die angeblich bewiesen, dass sie mit Wall Street gemeinsame Sache machten und zusammen mit den US-Bankiers die Entwicklung Nicaraguas blockierten. Die konservativen Oligarchen waren indes alles andere als wirtschaftlich rückständig. Sie hatten die wichtigste Periode wirtschaftlicher Modernisierung in der nicaraguanischen Geschichte eingeleitet und konnten die fuhrende Rolle als Vorhut des wirtschaftlichen Fortschritts auch unter der Dollardiplomatie bewahren. Die durch die Dollardiplomatie geschaffenen Rahmenbedingungen trieben zwar viele konservative Oligarchen in den Ruin, doch dasselbe Schicksal widerfuhr auch ihren nationalistischen Gegnern. Angesichts dieser Tatsachen war der Gegensatz zwischen wirtschaftlich „rückständigen", unpatriotischen Oligarchen und „modernen", nationalistischen Eliten nichts weiter als eine diskursive Konstruktion. Die nationalistischen Eliten konstruierten diesen Gegensatz vor allem als Antwort auf die Schwächung ihrer wirtschaftlichen Macht durch die Politik der Dollardiplomatie. Besonders die häufigen Zwangsvollstreckungen von Kaffeeplantagen durch den Banco Nacional riefen bei den lokalen Eliten große Ängste hervor - Ängste, die oft als eine Krise der Männlichkeit dargestellt wurden. Die Existenzangst der Eliten spitzte sich während der zwanziger Jahre auch unter dem Eindruck des offensichtlichen Gegensatzes zwischen ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten und dem Erfolg der übrigen zentralamerikanischen Eliten, die rasch an wirtschaftlicher Macht gewannen, zu. Als noch bedrohlicher dürfte ihnen indessen die Tatsache erschienen sein, dass auch die nicaraguanischen Bauern unter der Herrschaft der Dollardiplomatie ihren wirtschaftlichen Einfluss ausdehnen konnten, indem sie jenen Unternehmergeist an den Tag legten, den die Eliten zwar idealisierten, jedoch oft selbst nicht zeigten. In dieser Situation suchten gerade die nationalistischen Sektoren der nicaraguanischen Elite, gleichsam zur Stabilisierung des Selbstbewusstseins, ihre Eigenidentifikation mit „modernen" Werten zu bekräftigen. Gleichzeitig machten sie für ihren wirtschaftlichen Niedergang die von den Dollardiplomaten und deren konservativen Verbündeten verfolgte „feudale" Wirtschaftspolitik verantwortlich. Die Unterscheidung zwischen „modernen" und „rückständigen" Eliten wurde durch die von der Dollardiplomatie verursachten Krise der Männlichkeit in wirtschaftliche Kategorien gefasst und erfuhr dadurch eine deutliche Akzentuierung. Nur unter Berücksichtigung der kulturellen Dimension wirtschaftlicher Praktiken und der Materialität kultu-

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reiler Praktiken können wir jene zwei Paradoxa imperialistischer Modernisierung wirklich begreifen, die bislang kaum auf wissenschaftliches Interesse gestoßen sind: Warum ein hoch gelobtes amerikanisches Modernisierungsprojekt nicht nur selbst als anti-moderner Impuls wahrgenommen werden konnte, sondern auch die wichtigsten Agenten der kapitalistischen Moderne in einer unterworfenen Nation als Inbegriff der wirtschaftlichen Rückständigkeit erscheinen ließ.

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Monica Budowski / Christian Suter

LATEINAMERIKA ALS MODERNISIERUNGSVORBILD? UNIVERSALISTISCHE, KORPORATISTISCHE UND NEOLIBERALE MODELLE DER SOZIALPOLITIK Einleitung Die aktuelle Debatte um die Modernisierung der Sozialpolitik ist geprägt durch den Verlust der Gestaltungsmöglichkeit (national)staatlicher Wohlfahrtspolitik. Dabei geht es sowohl in den Ländern des Zentrums wie der Peripherie einerseits um die sozialpolitischen Konsequenzen zunehmender ökonomischer Unsicherheiten (Flexibilisierung, fragile Beschäftigungsformen, wachsende Prekarisierungsrisiken) und andererseits um eine, zumeist marktorientierte, institutionelle Reform sozialstaatlicher Sicherung. Ziel und Zweck dieser Umgestaltung ist die Anpassung der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung an die demografische Alterung, die Verbesserung der Zielgenauigkeit sozialpolitischer Instrumente (etwa im Sinne einer klareren Fokussierung auf bestimmte armutsbetroffene Gruppen) sowie die Stärkung von „workfare"-orientierten Formen der Existenzsicherung (mit entsprechenden Beschäftigungs- und Arbeitsmarktanreizen). Dabei werden auch zunehmend nichtstaatliche Akteure sozialpolitischen Handelns gesucht - sowohl im Sinne einer Wiederbelebung traditioneller Unterstützungssysteme (wie Familie, Verwandtschaft, kirchliche Institutionen und religiöse Gemeinschaften) als auch der Mobilisierung neuer Akteure, wie zivilgesellschaftlicher Initiativen oder privatwirtschaftlicher Versicherungsgesellschaften und Fonds. Staatliche Wohlfahrts- und Sozialpolitik wird nicht nur in der traditionellen, funktionalistischen Modernisierungstheorie als zentrales Element des westlichen Modemisierungspfades betrachtet. Aus der Sicht der Modernisierungstheorie geht die Herausbildung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen einher mit wirtschaftlichem Wachstum, Industrialisierung und Urbanisierung und der damit verbundenen Erosion traditioneller Sicherungs- und Unterstützungsformen (Großfamilie, Kirche, patrimoniale Unternehmensbeziehungen). Empirische Befunde zeigen jedoch große Unterschiede in Niveau und Form sozialstaatlicher Leistungen zwischen Ländern auf vergleichbarer sozioökonomischer Stufe. Diese Differenzen werden durch eine Vielzahl zusätzlicher Faktoren zu erklären versucht. Genannt werden etwa der Grad der Weltmarktintegration, die institutionelle Eigendynamik wohlfahrtsstaatlicher Strukturen, verschiedene soziokulturelle, politische, institutionelle und sozialstrukturelle Einflussfaktoren, wie der Demokratisierungsgrad beziehungsweise der Demo-

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kratisierungspfad, politisch-institutionelle Strukturen, wie das Vorhandensein von „Vetospielern" und Interessengruppen, der Fragmentierungsgrad des politischen Systems, die Elitenstruktur (zum Beispiel heterogene, konkurrierende vs. homogene, konsensuale Eliten), Werthaltungen, unterschiedliche Formen sozialer und politischer Mobilisierung. 1 Die vor allem in den 1990er Jahren aufgekommene vergleichende Sozialpolitikforschung hat mittlerweile aufgezeigt, dass sich in den europäischen Zentrumsländern nicht der Wohlfahrtsstaat, sondern verschiedene Typen und Modelle wohlfahrtsstaatlicher Regelungen entwickelt haben. Neben den Pionierarbeiten von Richard Titmuss 2 sind diesbezüglich insbesondere die Typologien von Peter Baldwin, 3 Gosta Esping-Andersen 4 sowie Walter Korpi und Joakim Palme 5 zu nennen, deren Klassifikation auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Solidaritätsmodellen basiert. Auf der Grundlage des unterschiedlichen Grades an „Dekommodifizierung", das heißt der Befreiung der Beschäftigten vom Arbeitsmarktzwang (gemessen anhand der Einkommensersatzquoten der sozialen Sicherung) unterscheidet etwa Esping-Andersen zwischen konservativen (zum Beispiel Deutschland, Frankreich), liberalen (zum Beispiel USA, Kanada, Australien) und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten (zum Beispiel Schweden, Norwegen). Trotz verschiedenen Schwachstellen - besonders kritisiert wurde etwa die Vernachlässigung des südeuropäischen Sozialpolitikmodells, der fehlende Einbezug der Geschlechter- und Generationenverhältnisse sowie die Ausblendung hybrider Formen und Entwicklungen (wie zum Beispiel der Fall des schweizerischen Sozialpolitikmodells) 6 - hat sich die Verwendung solcher Typologien in der Sozialpolitikforschung als äußerst fruchtbar erwiesen. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die Sozialpolitikmodelle der Peripherie im Rahmen der vergleichenden Sozialpolitikforschung bislang kaum behandelt worden sind. 7 Eine solche Vorgehensweise würde sich schon deshalb anbieten, weil sich auch in den Ländern der Peripherie eine Vielfalt unterschiedlicher Formen und Entwicklungsverläufe wohlfahrtsstaatlicher Politiken erkennen lassen. Dies trifft in besonderem Maße auf Lateinamerika zu, das nicht nur in der Gegenwart, sondern seit dem frühen 20. Jahrhundert ein eigentliches Experimentier- und Praxisfeld für unterschiedliche Sozialpo-

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G. Tsebelis: Veto-Players; E. Huber / Ch. Ragin / J.D. Stephens: Social Democracy. R.M. Titmuss: Essays on the Welfare State; ders.: Social Policy. P. Baldwin: The Politics of Social Solidarity. G. Esping-Andersen: The Three Worlds of Welfare Capitalism. W. Korpi / J. Palme: The Paradox of Redistribution and Strategies of Equality. S. Lessenich / J. Ostner (Hg.): Welten des Wohlfahrtskapitalismus; B. Pfau-Effinger: Wandel wohlfahrtsstaatlicher Geschlechterpolitiken im soziokulturellen Kontext. P. Kenneth (Hg.): A Handbook of Comparative Social Policy.

Lateinamerika als Modernisierungsvorbild?

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litikmodelle ist.8 Insbesondere was die neoliberale Reform der Alterssicherung anbelangt, setzte Lateinamerika mit der chilenischen Privatisierungsreform von 1981 weltweit neue Maßstäbe. Tatsächlich orientierten sich zahlreiche andere Länder - zunächst in Lateinamerika selbst, später auch in Europa bei ihrer Sozialpolitikreform am neuen, auf dem Kapitaldeckungsverfahren basierenden und durch private Fonds verwalteten chilenischen Rentensystem. Kann Lateinamerika deshalb als Pionier und „Modernisierungsvorbild" für die Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden? Dieser Frage möchten wir in diesem Beitrag nachgehen. Dabei zeichnen wir den Wandel der Sozialpolitik Lateinamerikas im 20. Jahrhundert anhand eines Vergleichs dreier Länder nach, die unterschiedliche Sozialpolitikmodelle repräsentieren: Chile, Mexiko und Costa Rica.

Sozialpolitikmodelle in Lateinamerika: konservative, korporatistische und universalistische Varianten Die sozialpolitische Entwicklung Lateinamerikas wird üblicherweise anhand der unterschiedlichen historischen Entwicklungspfade und -kontexte beschrieben. Besonders deutlich zeigt sich dies an den Referenzstudien von Carmelo Mesa-Lago,9 dessen Unterscheidung zwischen „Pionieren", „Nachzüglern" und einer „Zwischengruppe" mittlerweile zur Standardeinteilung geworden ist. Dabei gehören Chile, Argentinien und Uruguay aufgrund ihrer frühen Industrialisierung und der damit verbundenen gewerkschaftlichen Mobilisierung der Arbeiterklasse zu den Vorreitern, wo bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein System sozialpolitischer Regelungen entstand. Die so genannte Zwischengruppe - hauptsächlich bestehend aus Kuba, Brasilien, Peru, Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Costa Rica - gründete ihre sozialen Sicherungssysteme im Wesentlichen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Gruppe der Nachzügler - insbesondere Zentralamerika (ohne Costa Rica und Panama), Bolivien, Dominikanische Republik - begann hingegen erst sehr spät, sozialpolitische Instrumente zu entwickeln. Mesa-Lago versuchte mit seiner Typologie insbesondere die erheblichen Länderunterschiede in der Universalität (beziehungsweise dem Deckungsgrad) der sozialen Sicherung und in der finanziellen Ausstattung des Wohlfahrtsstaates in Lateinamerika zu erklären: hoch in der ersten und zum Teil in der zweiten Gruppe, niedrig in der dritten und zum Teil in der zweiten Gruppe.

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C. Mesa-Lago: Models of Development, Social Policy and Reform in Latin America; F. Filgueira: Welfare and Democracy in Latin America. C. Mesa-Lago / F.M. Bertranou: Manual de economía de la seguridad social; C. MesaLago: Models of Development; C. Mesa-Lago et al.: Market, Socialist, and Mixed Economies.

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Aus analytischer Sicht vermag allerdings diese historische (und evolutionistisch geprägte) Perspektive nicht zu überzeugen. Auch trägt diese historische Typenbildung nur wenig bei zum Verständnis der Dynamiken des Umbaus und der Neugestaltung sozialstaatlicher Sicherung im Gefolge der Krise der 1980er und 1990er Jahre. Wir schlagen deshalb eine an Esping-Anderson sowie Korpi und Palme10 orientierte Typologie vor, die auf der Art des Solidaritätsmodells beziehungsweise der Redistributionslogik basiert, gleichzeitig aber den soziopolitischen Kontext mitberücksichtigt, da sich diese Faktoren als besonders bedeutsam erwiesen haben (vgl. etwa die eingangs erwähnten Studien). Esping-Anderson unterscheidet drei Solidaritätsmodelle, die er als universalistisch, partikularistisch und begrenzt bezeichnet, während Korpi und Palme von einem korporatistischen Modell (das im Wesentlichen der partikularistischen Solidarität in Esping-Andersons konservativem Wohlfahrtsstaat entspricht), einem umfassenden („encompassing", basierend auf dem „Mathäusprinzip"11), einem bedarfsorientierten („targeted", basierend auf der „Robin-Hood-Strategie"12) und einem Grundversicherungs-Modell sprechen (im Sinne des ursprünglichen Beveridgemodells13). Bedeutsam dabei ist, dass diese verschiedenen Solidaritätsmodelle sehr unterschiedliche Umverteilungsziele beinhalten. So streben das korporatistische (partikularistische) und das liberale Modell keinen sozialen Ausgleich an (etwa im Sinne einer Umverteilung von oben nach unten), sondern vielmehr die Aufrechterhaltung (beziehungsweise Vergrößerung) bestehender Privilegien. Die Länderauswahl für unseren Fallvergleich orientiert sich an den oben skizzierten Solidaritätsmodellen - im Sinne der Kontrastierung von konservativen, staatskorporatistischen, liberalen und sozialdemokratischen Varianten. Gleichzeitig interessieren aber auch das „Modernisierungspotenzial" der jeweiligen Modelle und die Frage, inwieweit sie über Lateinamerika hinaus eine Vorbildfunktion erlangen. In Chile kristallisierte sich unter dem christdemokratischen Einfluss ein frühes konservatives Sozialpolitikmodell heraus (weitgehend im Sinne der Typologie von Esping-Anderson), das unter der Militärdiktatur (1973-1989) zu einem Vorreiter der liberalen Wohlfahrtsstaatsreform wurde. Mexiko re10

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G. Esping-Andersen: The Three Worlds of Welfare Capitalism; W. Korpi / J. Palme: The Paradox of Redistribution and Strategies of Equality. „Wer hat, dem wird gegeben", mit anderen Worten: Auch mittlere und obere Einkommensgruppen sollen von den sozialpolitischen Transfers profitieren. „Wer hat, dem wird genommen - wer nichts hat, dem wird gegeben", mit anderen Worten: eine gezielte Umverteilung von Reich zu Arm. Das von William Beveridge in seinem Bericht Social Insurance and Allied Services von 1942 vorgeschlagene „universalistische" Sozialversicherungsmodell ist (1) durch den Einbezug der gesamten Bevölkerung, (2) durch einheitliche Pauschalleistungen und (3) durch eine Finanzierung über das Staatsbudget gekennzeichnet. W. Beveridge: Social Insurance and Allied Services.

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präsentiert das staatskorporatistische Sozialpolitikmodell, das sich nach dem revolutionären Umbruch und den Reformen unter Präsident Lázaro Cárdenas (1934-1940) etablierte, sich im Gefolge der Krise der achtziger Jahre schrittweise aufzulösen begann und sich in Richtung eines neoliberalen Modells entwickelte. Costa Rica schließlich bezeichnen wir als universalistisches (und sozialdemokratisch orientiertes) Sozialpolitikmodell, das sich trotz des (im Vergleich zu Chile) relativ späten Beginns sozialstaatlicher Politik durch eine rasche und dauerhafte Ausweitung sozialer Errungenschaften auszeichnete.

Chile: Vom konservativen Bismarck'schen Wohlfahrtsstaat zum neoliberalen Modell Chile ist ein Vorreiter staatlicher Sozialpolitik in Lateinamerika gewesen. Insbesondere zwei mit einander verknüpfte Faktoren können für diese frühen sozialpolitische Errungenschaften verantwortlich gemacht werden: Erstens zeichnete sich die wirtschaftliche, politische und soziale Elite Chiles während der parlamentarischen Republik (1891-1920/25 mit Nachwehen bis 1973) durch eine vergleichsweise starke Spaltung aus. Chile kann deshalb als Exportoligarchie mit fragmentierter Elite charakterisiert werden,14 in der unterschiedliche, gleich starke Gruppen um die Macht rivalisierten, im Falle Chiles die Liberalen (ilustrados) und die konservativen Aristokraten (criollos), wobei ideologische Unterschiede weniger bedeutsam waren als regional und sozial differenzierte Klientelsysteme. Diese Elitenkonkurrenz führte zu einer politischen Mobilisierung und einer Ausweitung (konkurrierender) Klientelnetze bis in die breite Bevölkerung hinein. Ein zweiter Faktor ist der „Druck von unten", insbesondere die einflussreiche und kämpferische Arbeiterbewegung. Die Bedeutung dieses Faktors zeigt sich an der öffentlichen Debatte zur „sozialen Frage", insbesondere am Erlass eines Verfassungsartikels zu Gesundheit, Arbeitsschutz, minimalem Lebensstandard und sozialer Sicherheit (1925), verschiedener Sozialgesetze sowie an der Konzeption einer Alters Vorsorge nach dem Bismarck'schen Pensionskassenmodell (1924).15 Als Folge dieser sozialpolitischen Initiativen wuchs das Ausmaß der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen: Während die Sozialausgaben zwischen 1900 und 1920 noch etwa 1 % des Bruttoinlandprodukts (BIP) betrugen, stiegen sie bis 1925 auf 2.1 % und bis 1930 auf 2.7 %.16 Der Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung erfolgte zwischen den dreißiger und den frühen siebziger Jahren im Rahmen einer binnenmarktorientierten, importsubstituierenden Industrialisierungsstrategie. Der wirtschaftliche Erfolg dieses Entwicklungsmodells (insbesondere zwischen 1945 und 14 15 16

C. Suter: Gute und schlechte Regimes. J. Jäger: Politische Ökonomie der Sozialpolitik, S. 40. Ebd., S. 40.

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1971) führte zu einer Vergrößerung der Mittelschicht.17 Entsprechend nahm der chilenische Staat mit seiner „dualen Sozialpolitik" neben dem Schutz der Arbeiterschaft auch die Anliegen der Mittelschicht auf. Der Grundcharakter des konservativen chilenischen Sozialpolitikmodells blieb dabei weitgehend erhalten. Auch die oben genannten zwei Hauptfaktoren für die frühe und umfassende Ausgestaltung der Sozialpolitik Chiles - eine starke Arbeiterbewegung und heterogene, konkurrierende Eliten - waren weiterhin prägend (in der Nachkriegszeit allerdings im Rahmen formaldemokratischer Strukturen). Zwischen 1930 und 1950 wandelte sich die Rolle des Staates, der nicht mehr nur Schutz vor spezifischen Risiken bot, sondern zu einem umfassenden „Wohlfahrtsstaat" wurde.18 Die konservativen und christlichdemokratischen Regierungen in den fünfziger und sechziger Jahren zielten auf den Einbezug der ruralen sowie der marginalen Urbanen Bevölkerung ab, die bislang vernachlässigt worden waren. Dies führte zu hohen und mit den OECD-Ländern vergleichbaren Sozialleistungsquoten. Im Rahmen der korporatistischen Expansionslogik, die sich in einer ungleichen und ungleichzeitigen Einführung diverser sozialpolitischer Maßnahmen für einzelne Gruppen ausdrückte, wurde ein immer größerer Anteil der Bevölkerung in sozialer und gesundheitlicher Hinsicht versorgt, wobei die Leistungsansprüche im Detail sehr verschieden waren. So zeigt sich, dass die Mutterschutzleistungen, die Arbeitslosenversicherung sowie ein nach Berufsgruppen aufgesplittertes Förderungswesen im Wohnungsbau korporatistischer Natur waren, während die Familienbeihilfen eher universalistisch ausgerichtet waren.19 Ein wesentliches Element der Kristallisation des konservativen Sozialpolitikmodells bildet die Ausweitung des Pensionskassensystems Bismarck'scher Prägung. Im Jahr 1956 waren schon 65 % der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung von sozialen Sicherungsprogrammen gedeckt;20 zwischen 1960 und 1980 variierte der Deckungsgrad der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung zwischen 60% und 79 %.21 Dieser - auch im Vergleich mit den europäischen Zentrumsländern und den USA - überdurchschnittlich hohe Deckungsgrad zeugt von der Vorreiterrolle Chiles. Wie beim Bismarck'schen Grundmodell beruhte das chilenische Rentensystem auf Berufsgruppen mit einer Vielzahl von Kassen mit unterschiedlichen Pensionsprogrammen und entsprechenden Ungleichheiten zwischen den Berufsgruppen (zu Beginn der siebziger Jahre existierten über dreißig Kassen mit über hundert verschiede-

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Ebd., S. 43. J.P. Arellano: Social Policies in Chile, S. 412. Ebd., S. 409ff.; J. Jäger: Politische Ökonomie der Sozialpolitik, S. 43. J.P. Arellano: Sistemas alternativos de seguridad social, S. 130. Gobierno de Chile: The Chilean Pension System, S. 30; R. Acuña R./ A. Iglesias P.: Chile's Pension Reform after 20 Years.

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nen Pensionsordnungen).22 Im Vergleich zur durchschnittlichen Pension war beispielsweise die Pension von Armeeangehörigen die Pension des Militärs und der Polizei um 3.35 Mal höher; jene der Arbeiter des privaten Sektors nur halb so groß.23 Hinsichtlich seiner Finanzierungsform handelte es sich beim chilenischen Rentensystem interessanterweise zunächst um ein Kapitaldeckungsverfahren, wobei Arbeitgeber, Arbeitnehmer sowie der Staat Beiträge entrichteten. Ende der fünfziger Jahre wurde das bestehende Kapitaldeckungsverfahren unter anderem aufgrund seiner geringen Rentabilität durch ein Umlageverfahren abgelöst. Der Ausbau der sozialen Sicherung widerspiegelt sich im Wachstum der Aufwendungen für die Sozialpolitik. So lag das Verhältnis der Sozialausgaben zum BIP im Jahre 1935 bei lediglich 5 %; 1945 machte der Anteil der Sozialausgaben 8% des BIP aus, bis 1955 stieg er auf 15% und bis 1965 auf 20%; im Jahre 1972 erreichten die Sozialausgaben bereits 25%, wobei fast die Hälfte davon auf die Altersvorsorge (beziehungsweise das Pensionssystem) entfiel.24 Das Wachstum der Sozialausgaben ist auch vor dem Hintergrund der unterschiedlichen (sozial-)politischen Orientierungen der aufeinander folgender Regierungen zu interpretieren (der konservativen Regierung von Jorge Alessandri, 1958-1964; der christdemokratischen Regierung unter Eduardo Frei, 1964-1970 und der sozialistisch orientierten Regierung unter Salvador Allende, 1970-1973). Zwar verringerte sich die Armut in den sechziger und frühen siebziger Jahren. Doch gelang es weder Frei noch Allende, das Regime der Altersvorsorge zu vereinheitlichen und die Privilegien einzelner Gruppen zu eliminieren. Das Sozialpolitikmodell blieb trotz der Ausweitung und der Reformen in seinen konservativen Grundzügen erhalten: Es zeichnete sich durch eine vergleichsweise umfassende Deckung aus, gleichzeitig aber auch durch eine starke Fragmentierung und eine geringe Effizienz (beziehungsweise hohe Kosten).25 Mit der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet (1973-1989) kam es zu einer grundlegenden Umgestaltung der chilenischen Sozialpolitik. Hintergrund dieses Umbruchs bildete die tiefe Krise des importsubstituierenden Entwicklungsmodells - Ende 1973 hatte Chile mit einem massiven Handelsbilanz- und Staatsdefizit zu kämpfen, die Inflation kletterte auf über 500% und die Reallöhne verringerten sich um durchschnittlich 30 %.26 Im Rahmen 22

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A. Arenas de Mesa et al.: The Chilean Pension Reform Turns 25, S. 4; R. Acuña R. / A. Iglesias P.: Chile's Pension Reform after 20 Years, S. 20; J.P. Arellano: Sistemas alternativos de seguridad social, S. 128. J.P. Arellano: Sistemas alternativos de seguridad social, S. 132. J. Jäger: Politische Ökonomie der Sozialpolitik, S. 43. A. Arenas de Mesa et al.: The Chilean Pension Reform Turns 25, S. 4. C. Mesa-Lago et al.: Market, Socialist, and Mixed Economies, S. 29-31.

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der Etablierung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung setzte das Militärregime nicht nur die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der „Chicago Boys" um (Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung der Kapital- und Arbeitsmärkte), sondern änderte auch das soziale Sicherungssystem entsprechend ab, das heißt im Sinne einer Privatisierung und eines generellen Rückzugs des Staates aus der sozialpolitischen Verantwortung.27 In wirtschaftlicher Hinsicht waren die ersten Jahre der Diktatur allerdings ruinös - insbesondere die Krise von 1982 bis 1983 führte zu einem weiteren dramatischen Zerfall der Einkommen und des Lebensstandards mittlerer und unterer Schichten. Erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre kam es zu einer deutlichen wirtschaftlichen Erholung und einem hohen Wirtschaftswachstum. Allerdings vermochte die Konjunktur der späten achtziger und der neunziger Jahre die großen sozialen Ungleichheiten nicht zu verringern.28 Während der Militärdiktatur wurden die Ausgaben im Sozialbereich entsprechend dem neoliberalen Credo erheblich reduziert - so verringerte sich der Anteil der Sozialausgaben am BIP von über 25 % (zu Beginn der siebziger Jahre) bis zum Ende der Herrschaft von Pinochet auf knapp die Hälfte (13% im Jahr 1990).29 Mit zielgruppenspezifischen, „fokussierten" Programmen wurden prekäre Notlagen der ärmsten Bevölkerungsgruppen gezielt gelindert. Universelle Programme wurden hingegen reduziert und für bestimmte früher kostenlos angebotene Leistungen wurden neu einkommensabhängige Beiträge gefordert.30 Die tief greifendste Reform der Sozialpolitik betraf jedoch das nationale Rentensystem, das 1981 von einem staatlich verwalteten und mitfinanzierten Umlageverfahren auf ein privatwirtschaftlich administriertes Kapitaldeckungsverfahren mit individuellen Konten der Arbeitnehmer umgebaut wurde. Dieses neue chilenische Rentensystem basierte auf einem so genannten „Drei-Säulen-Modell", wobei die Bedeutung der drei Säulen sehr unterschiedlich ist. Den wichtigsten Pfeiler des reformierten Rentensystems bildet die vollständig privatisierte, auf einem Kapitaldeckungsverfahren basierende zweite Säule. Diese für alle im formellen Arbeitsmarkt beschäftigte unselbständig Erwerbstätige obligatorische Alterssicherung wird ausschließlich durch Arbeitnehmerbeiträge finanziert. Die Verwaltung der individuellen Vorsorgekonti wird durch private Pensionsfonds durchgeführt (so genannte AFPs, Administradores de Fondos de Pensiones) - der Staat übernimmt lediglich bestimmte Aufsichts- und Rückversicherungsfunktionen (zum Beispiel im Falle 27

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E. Huber: Options for Social Policy in Latin America; C. Mesa-Lago et al.: Market, Socialist, and Mixed Economies, S. 33-35. Y. Baytelman et al.: Chile, S. 239. J. Jäger: Politische Ökonomie der Sozialpolitik, S. 48. Y. Baytelman et al.: Chile.

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eines Bankrotts).31 Die Arbeitnehmer und -nehmerinnen wählen die Pensionsfonds und können sie problemlos wechseln. Der Wettbewerb unter den Pensionskassen um die Anlagegelder funktioniert - so wechselten im Jahr 1997 rund ein Drittel der Versicherten ihre Kasse.32 Ob allerdings die Reform zu höheren Renten fuhren wird, ist umstritten. Neben den im Vergleich zur Rentenhöhe erheblichen Verwaltungskosten,33 ist insbesondere die Umgehung der Beitragszahlungen ein großes Problem. Deshalb werden sich gemäß Schätzungen von Mesa-Lago im neuen Rentensystem etwa 40 % der Rentenbezüger mit der Minimalpension (das heißt 70 % eines Mindestlohnes) zufrieden geben müssen, was exakt mit dem Erfahrungswert des alten Rentensystems übereinstimmt.34 Die staatlich getragene und steuerfinanzierte erste Säule hat ausschließlich ergänzende Funktionen. Drei Aspekte stehen dabei im Vordergrund: Erstens soll die erste Säule eine staatlich festgelegte Minimalrente der zweiten Säule garantieren. Die erste Säule übernimmt den Differenzbetrag sofern 20 Jahre einbezahlt wurde und die Minimalrente nicht erreicht wird. Zweitens werden so genannte „pensiones asistenciales" ausgerichtet (PAS1S), eine bedarfsorientierte Ergänzungsleistung für die ärmsten Erwerbstätigen. Drittens übernimmt die erste Säule die aufwändige Übergangsfinanzierung für die Versicherten des alten, auf dem Umlageverfahren basierende Rentensystems (bonos de reconocimiento), das zwar seit 1980 für Neueintretende geschlossen ist, aber dem Staat bis ca. 2050 noch hohe Finanzierungslasten aufbürdet. 35 Das erhebliche Ausmaß dieser Transformationskosten lässt sich daran ermessen, dass auch 20 Jahre nach der Reform über 40 % der gesamten staatlichen Sozialausgaben für die Finanzierung des (alten) Rentensystems aufgewendet werden.36 Die dritte Säule ist eine private freiwillige Zusatzversicherung, die auf denselben Prinzipien wie die zweite Säule basiert, wobei Beitragszahlungen mit Steuererleichterungen belohnt werden. Die chilenische Privatisierungsstrategie hatte zwei wichtige Begleiterscheinungen: Erstens führte die Rentenreform zu einem Abbau der berufsgruppenbezogenen Privilegien und zu einer Vereinheitlichung der Zutritts-

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A. Arenas de Mesa et al.: The Chilean Pension Reform Turns 25; Gobierno de Chile: The Chilean Pension System. L.F. Jiménez / J. Cuadros: Evaluación de las reformas a los sistemas de pensiones, S. 37. M. Queisser: The Second-Generation Pension Reforms in Latin America. C. Mesa-Lago: An Appraisal of a Quarter-Century of Structural Pension Reforms in Latin America, S. 76. A. Arenas de Mesa et al.: The Chilean Pension Reform Turns 25. R. Castiglioni: The Politics of Retrenchement, S. 45; A. Arenas de Mesa et al.: The Chilean Pension Reform Turns 25.

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und Leistungsbedingungen (eine Ausnahme bildete allerdings die Alterssicherung von Polizei und Militär). Zweitens verschaffte sich das Militärregime mit dem Verkauf der gegen 500 im Rahmen der Importsubstitutionsstrategie aufgebauten Staatsunternehmen (einschließlich 19 Banken) an private Beteiligungsgesellschaften und dem Aufbau privater Pensionsfonds eine wichtige politische und soziale Basis im aufstrebenden Finanzsektor. 37 Das neue liberale Sozialpolitikmodell wurde nach der Ablösung der Militärherrschaft unter den verschiedenen Regierungen der Concertaciön (ab 1990) weitgehend beibehalten. Die Kernelemente blieben unangetastet, doch wurden gezielte Programme in wichtigen Bereichen initiiert, um bestimmte besonders benachteiligte Gruppen zu unterstützen. Entsprechend stieg die Zahl dieser „gezielten" (aber kaum koordinierten) Programme bis 1996 auf 125. Verschiedene Autoren verweisen auf die Bedeutung der Reformen im Bildungssektor - the economics of knowledge.38 Diese Reorientierung der Sozialpolitik im Sinne einer Fokussierung auf Prävention und Investition in Humanund Sozialkapital bedeutet auch eine bewusste Abkehr vom traditionellen „assistenzialistischen" Modell. 39 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Chile in der Sozialpolitik einen nachhaltigen Regimewechsel vollzogen hat. Die Auswirkungen dieser Transformation sind vielfaltig. Zu nennen ist an erster Stelle die Veränderung der Umverteilungswirkungen (beziehungsweise des Solidaritätsmodells). Bezüglich des Rentensystems fallen insbesondere im Kapitaldeckungsverfahren die im früheren Umlage verfahren vorhandenen Umverteilungswirkungen vollständig weg. Neben diesen größeren Ungleichheiten zwischen ärmeren und begüterteren Bevölkerungsgruppen nahmen auch geschlechterbezogene Ungleichheiten zu. 40 Diese negativen Umverteilungswirkungen wurden allerdings teilweise durch höhere positive Umverteilungswirkungen des Gesundheits- und Bildungssystems kompensiert. 41 Der Deckungsgrad der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung des neuen Pensionskassensystems hat sich trotz Obligatorium im Vergleich zur Situation vor der Reform verringert. 42 Dieser Rückgang ist nicht zuletzt auf die Zunahme der Beschäftigten im informellen

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C. Suter: Gute und schlechte Regimes. M. Kurtz: State Developmentalism without a Developmental State; O.L. Acosta / J.C. Ramirez: Las redes de protección social. Y. Baytelman et al.: Chile, S. 256; T. Mkandawire (Hg.): Social Policy in a Development Context. C. Mesa-Lago: An Appraisal of a Quarter-Century of Structural Pension Reforms in Latin America. Ebd. Von 64 % im Jahre 1980 auf 58 % im Jahre 2002, vgl. ebd., S. 63, 66.

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Sektor zurückzufuhren. Versicherte mit niedrigen Löhnen verlassen entsprechend häufig das kapitalgedeckte Pensionskassensystem (zweite Säule).

Mexiko: Sozialpolitik im korporatistischen Staat Das langlebige politische System des nachrevolutionären Mexiko - der aus der Mexikanischen Revolution hervorgegangene Partido Nacional Revolucionario, später umbenannt in Partido Revolucionario Institucional (PRI), blieb ohne Unterbrechung bis 2000 an der Macht - gilt gemeinhin als typisches Beispiel für korporatistische Herrschaftsformen. 43 Die institutionelle Ausgestaltung mit staatlich organisierten und mittels klientelistischen Techniken kooptierten Interessenverbänden und Vereinigungen erfolgte insbesondere während der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas in den dreißiger Jahren. Aufbau und Ausgestaltung der mexikanischen Sozialpolitik bezweckten in erster Linie, die entsprechenden sozialen Gruppen zu inkorporieren und an das Regime zu binden. Obgleich bereits im 19. Jahrhundert verschiedene karitative Institutionen tätig waren und mit dem staatliche Lotteriefonds auch eine - wenngleich begrenzte - Finanzierungsbasis vorhanden war, kann erst nach der Mexikanischen Revolution von einer staatlichen Sozialpolitik gesprochen werden. Die Revolutionsverfassung von 1917 schrieb nicht nur erstmals die Verantwortung und die Kontrolle des (Zentral-)Staates in den zentralen sozialpolitischen Politikfeldern fest - insbesondere in der öffentlichen Fürsorge, dem Gesundheits- und dem Bildungswesen. Darüber hinaus wurden auf Verfassungsstufe grundlegende sozialpolitische Ziele und Maßnahmen verankert - beispielsweise die obligatorische Schulpflicht, eine umfassende Krankheits- und Altersversicherung, arbeitsgesetzliche Regelungen und Landverteilungsprogramme. 44 Auf dieser Grundlage wurden im Verlaufe der zwanziger und dreißiger Jahre die entsprechenden Ministerien und Verwaltungsstellen aufgebaut, erste staatliche Schulen und Spitäler errichtet und verschiedene Gesetze und Bestimmungen im Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsbereich erlassen. Einer der wichtigsten Erlasse war wohl die Verfassungsreform von 1929, die die Ausarbeitung eines Gesetzes zu einer umfassenden sozialen Sicherung verlangte, welche Risiken der Invalidität, von Krankheit und Unfall, Alter und Witwenschaft sowie Arbeitslosigkeit abdecken sollte. Es dauerte jedoch bis 1942, bis das entsprechende Gesetz erlassen wurde, das auch die Grundlage bildete für das 1943 errichtete mexikanische Sozialversicherungsinstitut IMSS (Instituto Mexicano del Seguro Social), das zum Rückgrat der mexikanischen Sozialpo-

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M. Mols / H.W. Tobler: Mexiko; H.W. Tobler: Die mexikanische Revolution. M.L. Fuentes: La asistencia social en Mexico, S. 74 ff.

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Utile werden sollte. Das Auseinanderklaffen zwischen dem Anspruch der Revolutionsverfassung und der sozialpolitischen Realität zeigt sich auch daran, dass sich der Anteil der staatlichen Sozialaufwendungen nach der Revolution nur geringfügig erhöhte: Ende der fünfziger Jahre beliefen sich die gesamten Sozialausgaben auf lediglich 15-20% des Staatsbudgets - in den letzten Jahren des Porfiriats (1910-1911) waren es 9 % gewesen.45 Charakteristisch für die Sozialpolitik des mexikanischen Staates ist die Privilegierung der wichtigen sozialen Gruppen, die das Kernsegment der korporatistischen Struktur bilden. Dazu gehören neben den Staatsangestellten und dem Militär Teile der Industriearbeiterschaft aus dem formalen Sektor - zum Beispiel die Beschäftigten in den staatlichen Monopolgesellschaften. Die privilegierte Behandlung zeigt sich nicht nur im besseren Versicherungsgrad, sondern auch daran, dass für diese Gruppen eigenständige, finanziell erheblich besser ausgestattete sozialpolitische Institutionen errichtet wurden. Die hinsichtlich der Zahl der Versicherten größte dieser eigenständigen Institutionen für die soziale Sicherung von Staatsangestellten ist der Ende der fünfziger Jahre aus dem IMSS ausgegliederte Instituto de Seguridad de Servicios Sociales para los Trabajadores del Estado (ISSSTE). Weitere kleinere Versicherungsinstitute, die aber mit den größten Privilegien ausgestattet waren, wurden für besonders wichtige Gruppen geschaffen, zum Beispiel für die Erdölarbeiter oder die Armeeangehörigen. Die Privilegierung dieser Versicherten zeigt sich nicht nur daran, dass die Versicherungsprämien vollständig oder zum großen Teil vom Staat getragen wurden, sondern auch in zahlreichen Zusatz- und Sachleistungen.46 Der IMSS nahm seine Tätigkeit 1944 auf, wobei die Zahl der Versicherten nur sehr langsam zunahm. Bis Ende der fünfziger Jahre wurden lediglich 7 % der Bevölkerung beziehungsweise 9 % der Arbeitnehmer in das soziale Sicherungssystem eingegliedert. Hinzu kommt, dass der IMSS seine Tätigkeit vorwiegend auf die Hauptstadt beziehungsweise die wirtschaftlich fortgeschrittensten Regionen beschränkte. Erst als sich in den siebziger Jahren der durch die Revolution und die Importsubstitutionsstrategie geschaffene soziale Konsens aufzulösen begann, unternahmen die PRI-Regierungen größere sozialpolitische Anstrengungen von Bedeutung war insbesondere der auf marginalisierte Regionen ausgerichtete IMSS-COPLAMAR (Coordinación General del Plan Nacional de Zonas Deprimidas y Marginadas). Im Rahmen dieses Programms wurden hauptsächlich ländliche Kliniken und Spitäler errichtet sowie Gesundheitszentren für Basisversorgung, Prävention und Ausbildung. Aufgrund seiner starken Bedarfsorientierung gelang es dem IMSS-COPLAMAR tatsächlich, 45 46

C. Mesa-Lago: Changing Social Security in Latin America. P.M. Ward: Welfare Politics in Mexico.

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die medizinische Versorgung in den ländlichen Regionen nachhaltig zu verbessern und den Deckungsgrad bei der Sozialversicherung zu steigern: Am Vorabend der Schuldenkrise von 1982 waren immerhin 59% der Bevölkerung gegen Krankheit versichert, während 43 % der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung über eine Altersvorsorge verfügten.47 Die infolge der schweren Wirtschaftskrisen von 1982, 1985/86 und 1994/95 eingeleitete Stabilisierungs- und Anpassungspolitik führte zu einem Abbau der Sozialausgaben, die sich sowohl betrags- wie anteilsmäßig deutlich verringerten.48 Tatsächlich wurde die Sozialpolitik unter Präsident de la Madrid (1982-1988) in den Hintergrund gedrängt und - ähnlich wie in Chile ganz der (orthodoxen) wirtschaftlichen Stabilisierung untergeordnet. Erst unter der nachfolgenden Regierung von Carlos Salinas de Gortari (1988-1994) begannen die Sozialausgaben aufgrund von neu initiierten Sozialprogrammen wieder anzusteigen. Hintergrund dieser Bestrebungen waren die zunehmenden sozialen und politischen Desintegrationstendenzen, die sich nicht zuletzt im umstrittenen und nur dank Wahlfälschung zustande gekommenen Wahlerfolg des PRI-Kandidaten Salinas manifestierten. Kernstück der neuen Sozialpolitik war das mit umfangreichen finanziellen Mitteln ausgestattete Sozialprogramm PRONASOL (Programa Nacional de Solidaridad).49 Das politische Ziel von PRONASOL bestand in der Schaffung neuer Klientelbeziehungen zwischen der Regierung und den einkommensschwachen städtischen und ländlichen Bevölkerungsschichten.50 Die finanziellen Mittel des Programms flössen direkt von der Zentralregierung zu den lokalen Projektkomitees und folgten damit nicht den traditionellen Verteilungskanälen, wie sie vor der Krise der achtziger Jahre typisch gewesen waren. Mit der Umgehung lokaler Machteliten und Bürokratien sollte die Effizienz des neuen Programms gewährleistet werden. PRONASOL kann damit als Versuch interpretiert werden, die alten, ineffizient gewordenen Klientelnetze zu reformieren und dem mexikanischen Staat eine neue Legitimationsgrundlage zu verschaffen. Hinsichtlich der Umgehung lokaler Machtstrukturen war PRONASOL allerdings wenig erfolgreich. Dies zeigte sich am deutlichsten in Chiapas, dem Gliedstaat, der die meisten Mittel zugesprochen erhielt. Dass PRONASOL ausgerechnet in Chiapas scheiterte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, hatte doch Carlos Salinas das Sozialprogramm im Rahmen seiner Präsidentschaftskampagne gerade in dieser Region erstmals vorgestellt. In den ersten drei Jahren des Programms kam es zwischen PRONASOL-De47 48 49 50

C. Mesa-Lago: Changing Social Security in Latin America, S. 22. C. Suter: Gute und schlechte Regimes, S. 309. Ebd., S. 324 ff. J. Molinar Horcasitas / J. Weldon: Electoral Determinants and Consequences of National Solidarity.

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legierten, die Basisprojekte und autonome Initiativen zu unterstützen versuchten und den lokalen Eliten - Großgrundbesitzern, Kaziken, Partei- und Verbandsfunktionären - , die um ihre Macht fürchteten, zu wachsenden Spannungen. Der Konflikt führte schließlich dazu, dass verschiedene PRONASOL-Aktivisten abberufen wurden und die Kontrolle über die PRONASOLRessourcen weitgehend dem PRI-Gouverneur und Repräsentanten der lokalen Elite überlassen wurde. PRONASOL wurde schließlich 1995 (im Jahr der Wirtschaftskrise!) für beendet erklärt. Auch wenn mit Ausnahme des Krisenjahres 1995 die Sozialausgaben real nicht verringert wurden, verhielten sich die nachfolgenden Regierungen (Ernesto Zedillo, 1994-2000, und Vicente Fox, 2000-2006) vor allem in den ersten Jahren sozialpolitisch eher passiv. So lancierte Zedillo erst Mitte 1997 - nachdem der PRI zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die absolute Parlamentsmehrheit verloren hatte - mit PROGRESA ein eigenes sozialpolitisches Programm, dessen finanzielle Ausstattung mit PRONASOL vergleichbar war.51 Unter der konservativen Regierung von Fox wurde PROGRESA durch das Sozialprogramm OPORTUNIDAD ersetzt, das ähnlich aufgebaut war (vergleichsweise hohe Anteile monetärer Leistungen, die an einkommensarme Familien gewährt wurden, die sich im Gegenzug dazu verpflichteten, ihre Kinder zur Schule zu schicken). Bis zu Beginn der neunziger Jahre veränderte sich die institutionelle Grundlage des mexikanischen Sozialversicherungssystems nur unwesentlich. Dennoch machte die Ende der achtziger Jahre initiierte und in den neunziger Jahren vertiefte Privatisierungspolitik Mexikos auch vor dem Sozialwesen nicht halt, wobei sie sich bislang vorwiegend auf die Altersvorsorge konzentrierte: Inspiriert durch das chilenische Privatisierungsmodell wurde die Altersund Invalidenversicherung des IMSS aufgelöst und privaten Versicherungsanstalten und Banken zur Verwaltung übertragen. Gründe für die marktwirtschaftlichen Reformbestrebungen bildeten das wachsende Defizit (ab 1989) der dem IMSS angegliederten Altersvorsorge aufgrund der Entkoppelung von Beitragszahlungen und Leistungen, der Verwendung der aus den Beitragszahlungen angefallenen Überschüsse für den Aufbau der medizinischen Versorgungsleistungen und Mutterschaftsprogramme, der hohen Beiträge für die soziale Sicherung, die zur Umgehung motivierten, sowie der demographischen Veränderungen. Auch die hohen Inflationsraten in den achtziger Jahren spielten insofern eine Rolle, als die Sparquote zurückging.52

V.M. Soria: Crecimiento económico, crisis estructural y evolución de la pobreza en México, S. 226. R. Madrid: The Politics and Economics of Pension Privatization in Latin America.

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In einem ersten Reformschritt wurde neben einer Erhöhung der Beitragsquoten zunächst die Altersvorsorge aus dem IMSS ausgegliedert. In einem zweiten Schritt wurde 1992 - zusätzlich zu der auf dem Umlageverfahren basierenden Altersversicherung des IMSS - das mit individuellen Konten und dem Kapitaldeckungsverfahren arbeitende SAR (Sistema de Ahorro para el Retiro) aufgebaut. Schließlich wurde in einem dritten Schritt mit einer vom Parlament 1995 abgesegneten und 1997 in Kraft getretenen Gesetzesreform die alte Altersversicherung des IMSS und das neue SAR im Rahmen der Afore (Administradoras de fondos para el retiro) zusammengelegt. Im Rahmen dieses Versicherungssystems verfugt jeder Arbeitnehmer über ein individuelles Konto, das er bei einer von ihm bestimmten Bank verwalten lassen kann. Der Bezug der Altersrenten ist ab 65 Jahren möglich, wobei eine minimale Beitragsdauer von 24 Jahren erforderlich ist (anstatt bisher 10 Jahre). Sowohl im alten wie im neuen System besteht ein Anspruch auf eine Minimalrente, die dem (indexierten) Minimallohn der Hauptstadt entspricht - wobei hier auf den massiven und kontinuierlichen Zerfall der Minimallöhne seit der Krise der achtziger Jahre hinzuweisen ist.53 Im Vergleich zu anderen Ländern ist Mexikos Lösung für die Versicherten wenig großzügig - ein Hinweis darauf ist der außerordentlich tiefe Anteil der Beitragszahlenden. Überdies hatte die Rentenreform ein begrenztes Ausmaß, was den Abbau von Privilegien anbelangt. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass es nicht gelang, den öffentlichen Bereich und die Angestellten der Staatsunternehmen in die Reform mit einzubeziehen.54 Zusammenfassend zeigt sich eine große Kontinuität im mexikanischen Sozialpolitikmodell, das im ganzen 20. Jahrhundert korporatistisch geprägt war. Kennzeichen dieses Modells waren die geringen Verteilungswirkungen, das Vorhandensein von Privilegien für die inkorporierten Gruppen sowie ein insgesamt niedriger Deckungsgrad. Erst an der Jahrhundertwende begann sich dieses staatskorporatistische Modell aufzuweichen, indem es durch liberale Elemente ergänzt wurde.

Costa Rica: Kontinuität einer universalistisch geprägten Sozialpolitik Der in der Literatur häufig beschworene „typisch costaricanische Charakter" die vergleichsweise geringen kulturellen, sozialen und ökonomischen UnterC. Suter: Gute und schlechte Regimes; A.C. Laureil: La reforma de los sistemas de salud y de seguridad social; dies.: Salud y seguridad social; O. Avendaño Carbellido: El sistema de ahorro para el retiro; A.G. Ruiz Moreno: Las Afore. R.L. Madrid: Labouring against Neoliberalism; M. Queisser: The Second-Generation Pension Reforms in Latin America, S. 34; O. Avendaño Carbellido: El sistema de ahorro para el retiro; A.G. Ruiz Moreno: Las Afore.

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schiede, die geringe Zahl der (überlebenden) indigenen Bevölkerung, der ländliche Charakter mit einem breiten bäuerlichen Mittelstand und einer schwachen Landoligarchie, die frühe Demokratisierung und die Stärke der Zivilgesellschaft - spielte für Entstehung und Ausgestaltung der Sozialpolitik in Costa Rica eine prägende Rolle. Bereits im 19. Jahrhundert wurde ein Gesetz erlassen, das die Primarschule als obligatorisch erklärte. Während sich zu dieser Zeit noch vorab religiöse Gruppierungen um soziale und gesundheitliche Anliegen kümmerten, begann die Bevölkerung im 20. Jahrhundert sich selbst zu organisieren, teilweise mit Unterstützung der Regierung. So wurden in den wichtigen Städten etwa Juntas Progresistas (Quartiergruppen) gebildet, die sich autonom für kommunale sozialpolitische Anliegen einsetzten. 55 Die staatlichen Sozialausgaben blieben in dieser Zeit jedoch marginal. Eine prägende Rolle für die Herausbildung staatlicher Sozialpolitik spielte Jorge Volio, ursprünglich ein katholischer Priester und Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen von 1924. Volio setzte sich für die sozialen Anliegen der wenig begüterten Bevölkerungsgruppen ein, ebenso wie für die soziale Sicherung der Lohnarbeiter. Seine sozialen Ideen brachte er aus seiner europäischen Studienzeit mit, die er an der Katholischen Universität von Louvain (Belgien) verbracht hatte. Des Weiteren wurde sein Denken beeinflusst durch die Ideen der Mexikanischen Revolution. 56 Volio verstand soziale Sicherung in erster Linie als eine staatliche Aufgabe. Ricardo Jiménez, der durch die Koalition mit Volios Partei Staatspräsident wurde, beauftragte Volio, ein Konzept für die soziale Sicherung Costa Ricas auszuarbeiten. Dem liberalen Zeitgeist entsprechend wurde in der Folge die Versicherungsbank (Banco de Seguros) gegründet (1924) - später (1981) wurde diese Institution umbenannt in Instituto Nacional de Seguros, Nationales Versicherungsinstitut. Zwar waren zu Beginn die Leistungen der Versicherungsbank an die Versicherungssummen gebunden, doch wurde dies zu einem späteren Zeitpunkt geändert. Im Jahre 1927 wurde das Ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung gegründet und ein Jahr später der Código de Trabajo der ILO unterzeichnet. Die umfassendere Umsetzung des costaricanischen Sozialpolitikmodells erfolgte jedoch erst zu Beginn der vierziger Jahre, während der Präsidentschaft von Rafael Angel Calderón Guardia, der, ähnlich wie Volio in den zwanziger Jahren, der katholischen Soziallehre nahe stand. Chile spielte dabei eine wichtige Rolle als Vorbild für das System der sozialen Sicherung Costa Ricas. Die wichtigsten Pfeiler der sozialen Sicherung bildeten die Gründung der Caja Costarricense de Seguro Social (CCSS, 1941), die Garantías Sociales (soziale Garantien, 1942) und die Inkraftsetzung des Código de Trabajo (1943). Das Gesetz zur sozialen Sicherung (Garantías Sociales) war ur55 56

C. Suter: Gute und schlechte Regimes, S. 356. G. Miranda Gutiérrez: La seguridad social y el desarrollo en Costa Rica.

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sprünglich von Calderón im Sinne eines umfassenden universalistischen Modells für tiefere und mittlere Einkommen konzipiert worden. Der starke politische Widerstand wichtiger Interessengruppen (wie etwa der Ärzteschaft, die einen Verlust zahlungskräftiger Klienten befürchtete) führte jedoch schließlich zu einer Beschränkung der obligatorischen Versicherung auf die einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen.57 Im Unterschied zu den konservativ-korporatistischen Modellen in Chile und Mexiko existierten aber keine Ungleichheiten zwischen Berufsgruppen (beziehungsweise inkorporierten und nicht-inkorporierten Gruppen). Die soziale Sicherung wurde nach dem Bürgerkrieg von 1948 durch den siegreichen José Figueres Ferrer und seinen sozialdemokratisch orientierten Partido Liberación Nacional (PLN) weitergeführt und vertieft. So formulierte José Figueres Ferrer 1948 in einer Rede das Ziel, dass die costaricanische Bevölkerung bis zum Ende des Jahrtausends ein durchschnittliches Lebensalter von etwa siebzig Jahren erreichen sollte, ein Ziel das schon 1978 erreicht wurde. Die Übergangsregierung unter Figueres (1948/1949) legte entscheidende Weichen bezüglich der weiteren sozial- und gesellschaftspolitischen Entwicklungstendenzen des Landes: Der liberale Staat wich einem universalistischen, sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaat - die liberale Konstitution von 1871 wurde durch die neue, sozialdemokratisch inspirierte Verfassung von 1948 ersetzt, die die politische, wirtschaftliche und soziale Partizipation der Bevölkerung ausweitete. Kennzeichen der „neuen Demokratie" wurde die Verhandlungs- und Konsenspolitik zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren und die institutionelle Eingliederung zivilgesellschaftlicher Anliegen.58 Die CCSS wurde kontinuierlich ausgebaut. Ihre Leistungen waren ursprünglich nur für die direkt Versicherten gedacht, die Versicherung wurde aber schon fünfzehn Jahre nach der Gründung (1956), in eine Familienversicherung umgewandelt, indem neben den direkt Versicherten auch deren Lebenspartner sowie die vom versicherten Arbeitnehmer abhängigen Eltern und Kinder unter 12 Jahren mitversichert wurden.59 Somit ging aus der anfanglichen Krankenversicherung für Berufstätige nach und nach ein System für eine umfassende soziale Sicherung hervor. Schließlich wurde 1961 und 1971 per Gesetz die CCSS angewiesen, innerhalb von zehn Jahren die Mutterschaftsund Krankheitsversicherung für die gesamte Bevölkerung einzuführen - so auch die Hausangestellten, die saisonal Beschäftigten, die Angestellten von

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M.B. Rosenberg: Social Reform in Costa Rica, S. 286 ff. L. Garnier / R. Hidalgo: El estado necesario y la política de desarrollo, S. 20; C. Suter: Gute und schlechte Regimes. G. Miranda Gutiérrez: La seguridad social y el desarrollo en Costa Rica, S. 121.

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Kleinunternehmen sowie die Selbständigerwerbenden (letztere auf freiwilliger Basis). Als Folge dieser Anstrengungen gelang es, bis 1980 den Deckungsgrad bei der Altersvorsorge auf gegen 50 % und bei der Krankenversicherung auf 76 % zu steigern. Gegenwärtig beträgt der Deckungsgrad der Krankenversicherung fast 90 %.60 Da die nicht versicherten 10% mehrheitlich zu den oberen Einkommensklassen gehören, kann von einer vollständigen Sicherung ausgegangen werden. Der Deckungsgrad der Krankenversicherung im informellen Sektor beträgt 93 %.61 Heute bietet die CCSS neben der Alters- und Invalidenversicherung (Pensionen) medizinische, zahnmedizinische sowie sozialmedizinische Leistungen für die gesamte Bevölkerung (wie zum Beispiel Ausbildung in Hygiene und Sexualerziehung). Als Folge dieser universell ausgerichteten Sozialpolitik verringerten sich in den sechziger und siebziger Jahren die Armutsquoten deutlich. Gleichzeitig verbesserten sich die Werte der grundlegenden Sozialindikatoren (Lebenserwartung, Kindersterblichkeit etc.), so dass Costa Rica heute diesbezüglich näher bei den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern des Zentrums liegt als bei den Ländern Lateinamerikas. Bis zur Krise von 1980 basierte Costa Ricas Sozialpolitik auf einem institutionellen Apparat, der alle Aktivitäten im Sozialbereich auf sich konzentrierte und zentralisierte. Damit verbunden war eine wachsende Bürokratisierung der Sozialpolitik: Alleine zwischen 1970 und 1980 wurden im Sozialbereich über hundert neue staatliche Institutionen errichtet.62 Ihre Dienstleistungen überlappten sich häufig - dies just in einer Zeit, in der sie vermehrt beansprucht wurden und die Finanzen knapp waren.63 Mangelnde Koordination der Anstrengungen, fehlende Federführung der Programme mit umfassenden Zielsetzungen und ein träger bürokratischer Apparat führten dazu, dass die sozialen Institutionen ihre Effizienz verloren. In den achtziger Jahren erlebte Costa Rica wie die anderen Länder eine starke Verschuldungskrise. Innerhalb von zwei Jahren (1980-1982) sanken die Reallöhne um 30—40 % und der private Konsum um 20 %, während sich die Arbeitslosen- und Unterbeschäftigtenrate verdoppelte.64 Im Unterschied zu Chile und Mexiko war die Krise jedoch von kurzer Dauer: Insbesondere die gesetzlichen Mindestsaläre und die (niedrigen) Löhne im Landwirtschaftssektor erholten sich rasch und erreichten bereits nach zwei Jahren (1984) wieder das Vorkrisenniveau. Ausgangspunkt des erfolgreichen Krisenmanagements bildete die währungs- und sozialpolitische Umorientierung unter der

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Organización Panamericana de la Salud: Estrategia de cooperación con Costa Rica, S. 24. C. Mesa-Lago: Changing Social Security in Latin America. M. Lungo: Politica social y pobreza urbana en El Salvador y Costa Rica, S. 106. J.D. Trejos: La política social y la valorización de los recursos humanos, S. 73-107. P. Sauma / J. D. Trejos: Costa Rica.; C. Suter: Gute und schlechte Regimes, S. 374.

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Regierung von Luis Alberto Monge (1982-1986). Anstelle der in Chile und Mexiko praktizierten „orthodoxen", neoliberalen Strukturanpassungsstrategie wurden die strukturellen Defizite schrittweise abgebaut (so wurden über eine Periode von 10 Jahren regelmäßige Miniabwertungen durchgeführt und der Wechselkurs erst 1992 vollständig freigegeben) und die Liberalisierungsreformen (wie die Privatisierung öffentlicher Unternehmen) nur allmählich umgesetzt. Begleitet wurde diese Strukturanpassungsstrategie von kompensatorischen, stärker fokussierten sozialpolitischen Maßnahmen.65 Trotz Kosteneinsparungen und Effizienzsteigerungen im Verwaltungsbereich und der stärkeren Zusammenarbeit des Ministerio de Salud und der CCSS blieben die Ausgaben im Sozialbereich hoch.66 Versuche, bestimmte Leistungen einzuschränken und Privilegien (vor allem der Staatsangestellten) abzubauen, scheiterten und verschiedene soziale Errungenschaften, wie der Mittagstisch in den Schulen, ließen sich trotz mehrmaliger Versuche infolge starker Proteste nicht abbauen. Während der Amtszeit von Monge wurde überdies unter Einbezug der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteure und Stakeholder so genannte Sozialkommissionen initiiert (Consejo Social, Gabinete Social), um besser auf die Krise reagieren zu können.67 Diese Foren waren verwurzelt im traditionell stark konsensualen Charakter der Politik in Costa Rica. Ähnliche Mitwirkungsmodelle wurden später auch von den internationalen Organisationen empfohlen, was auf den innovativen Charakter des costaricanischen Modells hindeutet. In diesem Zusammenhang ist auch auf den seit 1992 jährlich herausgegebenen Bericht zur Lage der Nation hinzuweisen, der wichtige Indikatoren enthält, so auch zum Sozialwesen und zur Sozialpolitik.68 Diese Publikation wird vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen zusammen mit der Defensoria de los Habitantes (Ombudsman) und den vier staatlichen universitären Institutionen des Landes erarbeitet. Der Bericht zur Lage der Nation ist inhaltlich auf die Praxis orientiert und dient als Grundlage für die Politikevaluation sowie zur Diagnose des (sozial)politischen Handlungsbedarfs. Diese zivilgesellschaftliche Sicht auf die (sozial)politischen Programme spielt eine wichtige Rolle in der öffentlichen Debatte und wird deshalb von der jeweiligen Regierung zur Kenntnis genommen. Die sozialpolitischen Maßnahmen der achtziger und neunziger Jahre beinhalteten auch einen gewissen Systemwandel gegenüber der bisherigen Sozialpolitik. Bis zur Schuldenkrise basierte die soziale Sicherung auf einem Mo65

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P. Sauma / J. D. Trejos: Costa Rica; C. Suter: Gute und schlechte Regimes, S. 362 ff.; M. Barahona / L. Güendel / C. Castro: Política social y reforma social „a la tica", S. 10. P. Sauma / J. D. Trejos: Costa Rica; Economic Commission for the Latin America and the Caribbean ECLAC: The Fiscal Covenant. M. Barahona / L. Güendel / C. Castro: Política social y reforma social „a la tica". Proyecto Estado de la Nación: Estado de la nación en desarrollo humano sostenible.

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dell, das als „assistenzialistisch" bezeichnet wurde, 69 da die Gewährung von materiellen Hilfeleistungen im Vordergrund stand. Das neue Sozialpolitikmodell betonte demgegenüber die Prävention. Auf der organisationellen Ebene bedeutete dies die Aufhebung des Monopols staatlicher Dienstleistungen und den Einbezug von privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Gleichzeitig sollte die lokale Ebene (Gemeinde, Nachbarschaft) gestärkt und (lokal abgestützte) empowerment-Programme initiiert werden. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind insbesondere die diesbezüglichen Initiativen während der Präsidentschaft von José Maria Figueres Olsen (1994-1998), etwa im Rahmen des Plan Nacional de Combate a la Pobreza. Diese auf stark benachteiligte Bevölkerungsgruppen ausgerichteten empowerment-Programme (zum Beispiel alleinerziehende Mütter) waren recht erfolgreich, wurden aber von den nachfolgenden konservativen Regierungen (1998-2006) nur noch auf Sparflamme weitergeführt. 70 Im Bereich der Alterssicherung wurden ab den neunziger Jahren verschiedene Reformen zur Verringerung der Kosten (beziehungsweise der Anpassung an den demographischen Wandel) und zur Vereinheitlichung der Leistungsbedingungen vorgenommen - ohne allerdings damit die strukturelle Basis des Rentensystems zu verändern. So wurde 1991 das Mindestalter für die Bezugsberechtigung erhöht - bei den Frauen von 55 auf 60 Jahre, bei den Männern von 57 auf 62 Jahre, nachdem die Altersgrenzen eine Dekade zuvor von 65 Jahren auf 55 beziehungsweise 57 gesenkt worden waren.71 Um die Attraktivität des frühzeitigen Rentenbezugs zu verringern, wurden die Beitragsleistungen der Versicherten abhängig gemacht vom Zeitpunkt des Rentenbezugs (höhere Beiträge bei früherem Rentenbezug). Des Weiteren wurden 1992 die Privilegien der Staatsangestellten, die von besonders günstigen Bedingungen eigener Pensionskassen profitierten, abgebaut, indem die neu eintretenden Staatsangestellten zu den üblichen Bedingungen der CCSS versichert wurden. 72 Alle Pensionen, die zu Lasten des Staatshaushaltes gingen, wurden 1992 zusammengelegt, um die Verwaltung zu vereinfachen und verbessern. Eine bedeutsame, strukturelle Änderung tems erfolgte erst mit der Ley de Protección bei das Reformprojekt aufgrund des breiten wichtigen gesellschaftlichen Akteuren und 69 70

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des costaricanischen Rentensysal Trabajador im Jahr 2000, woMitwirkungsprozesses mit allen Gruppen erst 2005 vollständig

G. Miranda Gutiérrez: La seguridad social y el desarrollo en Costa Rica. J.D. Trejos: La política social y la valorización de los recursos humanos; M. Budowski: Dignity and Daily Practice. J. Martínez Franzoni: Undécimo informe dobre el estado de la nación en desarrollo humano sostenible. C. Mesa-Lago: Changing Social Security in Latin America; J.M. Villasuso: Reformas estructurales y política económica en Costa Rica.

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ausgearbeitet war. Ziel der Reform war, eine universalistische Grundversicherung für die gesamte Bevölkerung einzurichten, aktuelle Probleme des bestehenden Sicherungssystems zu lösen, insbesondere die demografiebedingte Kostenzunahmen (beziehungsweise Leistungsreduktionen), die große Zahl der nicht versicherten Selbständigen, die Unterdeklaration bei den Einkommen, und Privilegien abzubauen.73 Das innovative System, das auf einer Kombination verschiedener Finanzierungsformen basiert, zeichnet sich durch vier Säulen aus:74 Die Säule Null (pilar cero, régimen nocontributivo oder régimen solidario) ist steuerfinanziert und garantiert eine minimale Rente für alle bedürftigen älteren Personen. Die Basissäule (régimen básico) bildet den tragenden Pfeiler der Alterssicherung. Sie basiert auf dem Umlageverfahren und wird finanziert durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge sowie den Staat (Steuern). Eine Minimalrente ist garantiert entsprechend unterschiedlicher Einkommens- beziehungsweise Beitragskategorien. Im Unterschied zur Situation vor der Reform mit identischen Lohnersatzquoten für alle Berufsgruppen, wird im neuen Rentensystem ein inverser Schlüssel angewandt.75 Der Unterschied kann jedoch von den höheren Einkommensgruppen durch ihre üblicherweise höhere Zahl der Beitragsjahre wettgemacht werden.76 Die dritte, ergänzende Säule besteht aus einer obligatorischen Zusatzversicherung (pilar complementario), die auf dem Kapitaldeckungsverfahren und individuellen Konten beruht. Arbeitnehmer und Arbeitgeber tragen zu gleichen Teilen mit einem fixen Prozentsatz zur Finanzierung bei, wobei die Beitragszahlungen durch den Staat mit Steuerbegünstigungen belohnt werden. Die vierte Säule besteht aus einer freiwilligen, auf dem Kapitaldeckungsverfahren beruhenden Zusatzversicherung, zu der auch Arbeitgeber freiwillig beitragen können. 10% des einbezahlten Beitrags dieser Säule ist steuerfrei. Mit dieser Reform wurden die Privilegien spezieller Gruppen weitgehend aufgelöst, beziehungsweise in der dritten und vierten Säule der sozialen Sicherung vereinheitlicht. Zusammenfassend zeigt sich in Costa Rica eine hohe Kontinuität des Sozialpolitikmodells im Sinne einer Akzentuierung universalistischer Elemente im Rahmen einer umfassenden sozialen Sicherung.

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J.M. Villasuso: Reformas estructurales y política económica en Costa Rica. J. Cascante Elizondo: El paso de régimenes de reparto a régimenes mixtos o de capitalización individual, S. 2-6; J. Martínez Franzoni: Undécimo informe dobre el estado de la nación en desarrollo human sostenible. J.A. Acuña Ulate: Reformas recientes al régimen de invalidéz, vejéz y muerte, S. 41. Ebd., S. 44.

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Lateinamerika als Modernisierungsvorbild? In diesem Beitrag haben wir den Wandel der Sozialpolitik in drei lateinamerikanischen Ländern nachgezeichnet, die unterschiedliche sozialpolitische Modelle und Entwicklungsverläufe repräsentieren. Die eingangs skizzierten Wohlfahrtsstaatstypologien erwiesen sich dabei als hilfreiches analytisches Instrumentarium. So kristallisiert sich in Chile vor dem Hintergrund konkurrierender Eliten und einem vergleichsweise hohen Demokratieniveau in einer ersten Phase ein konservatives Sozialpolitikmodell heraus. In einer zweiten Phase setzt sich, gestützt auf das Militärregime, ein neoliberaler Sozialpolitiktypus durch. In Mexiko etabliert sich im Gefolge der Revolution ein korporatistischer Wohlfahrtsstaat, der, wie das konservative, chilenische Modell, ein hohes Maß von Ungleichheiten zwischen Berufsgruppen aufweist, gleichzeitig aber (und dies ist ein deutlicher Unterschied zu Chile) auch geringe Erfolge in der Ausweitung des Deckungsgrades. Dies deutet darauf hin, dass konservative und korporatistische Sozialpolitikmodelle analytisch besser voneinander getrennt werden müssen (und nicht wie bei Esping-Andersen demselben Typus zugeordnet werden können). In Costa Rica kristallisiert sich schließlich ein umfassendes, universalistisches Sozialpolitikmodell heraus. Die Vielfalt der Sozialpolitikmodelle und der Sachverhalt, dass sich die strukturellen Unterschiede im Verlaufe des 20. Jahrhunderts nicht vermindern, sondern eher akzentuieren, zeigt, dass es in Lateinamerika (und in der Weltgesellschaft als Ganzes) nicht nur einen, sondern verschiedene Modernisierungswege gibt. Auch die Veränderungs- und Transformationsmuster verlaufen in den drei Ländern sehr unterschiedlich. So findet in Chile ein klarer Wechsel des Sozialpolitikmodells statt (von konservativ zu neoliberal), während in Mexiko und Costa Rica die Kontinuität größer ist als die Veränderung. In Mexiko zeigt sich das große Beharrungsvermögen der korporatistischen Strukturen darin, dass es nicht gelang, das liberale Modell durchzusetzen. So lässt sich allenfalls ein gradueller Wandel von einem staatskorporatistischen zu einem korporatistischen Modell mit liberalen Elementen feststellen. Noch deutlicher scheint die Kontinuität in Costa Rica: Ein anfanglich limitiertes universalistisches Modell entwickelt sich im Verlaufe des 20. Jahrhunderts kontinuierlich zu einem umfassenden universalistischen Typus. Gegenseitige Einflüsse und Vorbildfunktionen bestimmter Sozialpolitikmodelle ließen sich verschiedentlich feststellen - nicht nur zwischen den drei lateinamerikanischen Ländern, sondern auch zwischen Zentrum und Peripherie (beziehungsweise Peripherie und Zentrum). Richtung und Ausmaß dieser Wechselwirkungen gestalteten sich unterschiedlich, was die Phase der Herausbildung und der Institutionalisierung staatlicher Sozialpolitik (bis zu den

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siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts) einerseits und die darauf folgende Phase der Reform des Wohlfahrtsstaates andererseits anbelangt. In der Aufbauphase fallt zunächst die prägende Rolle des konservativen zentraleuropäischen Wohlfahrtsstaatsmodells (das „Bismarck-Modell") für die Ausgestaltung der Sozialpolitik in allen drei hier betrachteten lateinamerikanischen Ländern auf. Tatsächlich spielte das Bismarck'sche Sozialpolitikmodell für ganz Lateinamerika die dominante Vorbildfunktion. Die Gründe dafür sind nicht nur in der kulturellen Nähe dieses Modells zum herrschenden Gesellschaftstyp Lateinamerikas zu suchen („katholisch-konservative" Prägung). Ebenso bedeutsam und attraktiv für die durch große Ungleichheiten geprägten lateinamerikanischen Gesellschaften waren wohl die im Bismarck-Modell vorhandenen korporatistischen Elemente und die ebenfalls in diesem Vorbild angelegte Akzentuierung bzw. institutionelle Verfestigung von Ungleichheitsstrukturen. Innerhalb Lateinamerikas hatte auch das konservative Sozialpolitikmodell Chiles eine wichtige Vorbildfunktion - in den hier betrachteten Fällen war dies sowohl für Costa Rica wie für Mexiko ersichtlich. Interessanterweise folgte Chile nicht nur in der Auf-, sondern auch in der Ausbauphase am deutlichsten seinem europäischen Vorbild, während Mexiko die korporatistischen Elemente akzentuierte und sich Costa Rica in Richtung eines universalistischen, sozialdemokratisch orientierten Wohlfahrtsstaats entwickelte. Während in der Aufbauphase die Richtung der Vorbildwirkung vom Norden (Europa) zum Süden führt, lässt sich diesbezüglich für die Reformphase eine Umkehr beobachten. So stand das neoliberale chilenische Modell nicht nur Pate bei der mexikanischen und costaricanischen Rentenreform - wobei sich allerdings in beiden Fällen Umsetzung und Resultat der Reform erheblich vom chilenischen „Vorbild" unterschieden - , sondern beeinflusste auch maßgeblich die Reformdiskussion in West- und Osteuropa. Während viele osteuropäische (und lateinamerikanische) Länder das chilenische neoliberale Sozialpolitikmodell rasch und umfassend verwirklichten, setzten die Zentrumsländer entsprechende Reformen - wenn überhaupt - nur schleppend und lediglich in Ansätzen um. Dieser Sachverhalt steht in Einklang mit der von Paul Pierson77 anhand der Erfahrungen in England und den USA formulierten „Retrenchment"-These, das heißt dem großen Beharrungsvermögen der sozialpolitischen Systeme in demokratisch verfassten Zentrumsländern gegenüber umfassenden neoliberal motivierten Kürzungsmaßnahmen. In Zusammenhang mit dem Erfolg neoliberaler Sozialpolitikreformen in Osteuropa (und ansatzweise Lateinamerika) ist auch auf die wichtige Rolle der Weltbank zu verweisen, die ab den Neunzigerjahren das chilenische Drei-Säulen-Modell als Vorbild für eine krisensichere Alterssicherung propagierte.78 Die neusten

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P. Pierson: Dismantling the Welfare State?

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World Bank: Averting the Old A g e Crisis.

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Entwicklungen in Chile, die in Richtung einer zunehmenden sozialen Abfederung des liberalen Modells gehen und den Wandel von einem „assistenzialistischen" zu einem empowerment-Ansatz beinhalten, lassen jedoch vermuten, dass der ehemalige Trendsetter Chile sich heute dem Modell Costa Ricas annähert. Angesichts der allseits immer wieder betonten Notwendigkeit eines Wandels der Sozialpolitik in Richtung Prävention und sozialer Investition ist es erstaunlich, dass diese Vorreiterrolle Costa Ricas bislang kaum wahrgenommen worden ist.

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Rolf Kappel

WIRTSCHAFTSPOLITISCHE UND INSTITUTIONELLE MODERNE IN LATEINAMERIKA EINE UNFERTIGE AGENDA

Einführung Der Begriff der Moderne ist in den Wirtschaftswissenschaften kaum gebräuchlich. Somit stellt sich zunächst die Frage, ob man überhaupt von einer wirtschaftspolitischen und institutionellen Moderne sprechen kann. Historiker, die wirtschaftliche Entwicklungsprozesse untersuchen, bejahen dies. So hat beispielsweise David Landes einen Katalog „moderner" wirtschaftspolitischer und institutioneller Leitlinien vorgelegt, die nach seinem Urteil die Grundlage für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung sind. Dazu schreibt er: „Diese Werte und Institutionen sind uns so vertraut (deshalb nennen wir sie modern), dass wir sie unbesehen voraussetzen. Gleichwohl bezeugen sie eine entschiedene Abkehr von früheren Normen und sind [...] nur gegen verbissenen Widerstand anerkannt und übernommen worden. Selbst heute ist die alte Ordnung noch keineswegs gänzlich verschwunden." 1

Der vorliegende Beitrag versucht zu klären, in welchem Umfang Lateinamerika den Übergang zur wirtschaftspolitischen und institutionellen Moderne einerseits schon vollzogen, andererseits noch vor sich hat. Während die Betrachtungen von Landes sehr langfristig orientiert sind und Zeitspannen von Jahrhunderten umfassen, wird in der folgenden Abhandlung eine wesentlich kürzere Frist von einigen Jahrzehnten ins Auge gefasst. Den Ausgangspunkt der Diskussion bilden die Bemühungen in Lateinamerika, die Schulden- und Entwicklungskrise der 1980er Jahre, der so genannten verlorenen Dekade, zu überwinden. Dafür hat John Williamson Ende der achtziger Jahre eine Liste wirtschaftspolitischer Empfehlungen vorgelegt, die er mit der Bezeichnung „Washington Consensus" versah.2 Der Begriff erlangte in den Folgejahren einen geradezu weltweiten Bekanntheitsgrad. Allerdings ist auch heute noch davon auszugehen, dass viele, die den Begriff im Munde führen, nicht sonderlich genau wissen, was sich an Politikempfehlungen dahinter verbirgt und wie diese begründet sind.3

2 3

D. Landes: Wohlstand und Armut der Nationen, S. 232. J. Williamson: What Washington Means by Policy Reform. Ders.: A Short History of the Washington Consensus.

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Kurz gesagt bestand das Ziel des Consensus darin, die Instabilitäten der lateinamerikanischen Volkswirtschaften zu beseitigen und die Länder wieder auf einen dauerhaften Wachstumspfad zurück zu fuhren. Im Kern handelte es sich um Politikmaßnahmen zur Stabilisierung und Liberalisierung der Ökonomien, zur Privatisierung verlustbringender Staatsuntemehmen sowie zur besseren Sicherung von Eigentumsrechten. Etwa zehn Jahre später postulierte Dani Rodrik, dass ein „erweiterter" Washington Consensus existiert, der zehn zusätzliche Reformvorschläge enthält.4 Die neuen Politikempfehlungen, häufig als Reformen der zweiten Generation bezeichnet, betreffen vor allem institutionelle Maßnahmen zur Verbesserung der Regierungsführung (Gouvernanz) sowie zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die beiden Fassungen des Washington Consensus plädieren für Politiken und Institutionen, die auf ein relativ liberales Wirtschafts- und Gesellschaftssystem abzielen. In diesem System fungieren Märkte, Wettbewerb und Leistungsorientierung als wichtige Regelsysteme der Wirtschaft. Gleichzeitig orientieren sich Politik und Institutionen am Gemeinwohl und basieren auf den Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungsführung. Diese Grundorientierungen werden im Folgenden als wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne bezeichnet. Die Tradition besteht aus der Umkehrung dieser Orientierungen, das heißt, Lateinamerikas traditionelle Wirtschaftspolitik und das institutionelle Umfeld richten sich an einem relativ stark interventionistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aus, das mehr auf geplante und gesteuerte als auf marktbasierte Entwicklung setzt. Gleichzeitig ermöglicht dieses System in großem Umfang die Gewinnung nicht-produktiver Renteneinkommen und stellt die Befriedigung von Partikularinteressen häufig über die Befriedigung gesamtgesellschaftlicher Bedürfhisse. Außerdem leidet Lateinamerika an erheblichen Demokratiedefiziten, schwacher Rechtsstaatlichkeit und schlechter Regierungsfuhrung. In wenige Schlagworte gefasst, kann man die politisch-institutionelle Tradition in der Region mit den Begriffen Interventionismus, Klientelismus und Populismus umschreiben. Wie bereits angesprochen, versucht der vorliegende Beitrag zu klären, inwiefern die beiden Fassungen des Washington Consensus dazu beigetragen haben beziehungsweise weiterhin beitragen können, die so verstandene wirtschaftspolitische und institutionelle Tradition Lateinamerikas zu überwinden. Obwohl die Region in wirtschaftspolitischer und institutioneller Hinsicht kein völlig homogener Raum ist, weisen viele Länder so wichtige und umfangreiche Gemeinsamkeiten auf, dass eine regionale Sichtweise gerechtfertigt ist. Die nachstehende Abhandlung ist in vier Abschnitte gegliedert. Zunächst wird die ursprüngliche Fassung des Consensus präsentiert. Im folgenden Ab4

D. Rodrik: The Global Governance of Trade, S. 15.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 407 schnitt wird dann dargelegt, inwiefern diese Politikempfehlungen in Lateinamerika umgesetzt wurden und zu welchen Fortschritten der wirtschaftlichen Entwicklung sie beigetragen haben. Im darauf folgenden Abschnitt wird erklärt, weshalb und wie der Consensus erweitert wurde und welche wirtschaftspolitischen und institutionellen Herausforderungen sich daraus für Lateinamerika ergeben. Schlussfolgerungen runden diese Ausfuhrungen ab.

Der ursprüngliche Washington Consensus Im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten fiir eine wissenschaftliche Konferenz postulierte John Williamson im Jahr 1989, dass zur Überwindung der lateinamerikanischen Krise eine neue Wirtschaftspolitik die traditionelle Politikpraxis ersetzen sollte und auch würde. Als Antwort auf die Frage, worin denn diese neue Politik im Einzelnen bestehe, stellte er zehn wirtschaftspolitische Maßnahmen zusammen, die im linken Teil von Tabelle 1 wiedergegeben sind. Seines Erachtens vertrat das „offizielle Washington" die Auffassung, dies seien wichtige und richtige Politikleitlinien für Lateinamerika. 5 Mit dem offiziellen Washington waren der Kongress, Regierungsbehörden, einzelne Regierungsvertreter, die Notenbank, die internationalen Finanzinstitutionen sowie die Washingtoner Denkfabriken gemeint. Im rechten Teil von Tabelle 1 befinden sich die traditionellen Politikpraktiken, die über viele Jahre hinweg in Lateinamerika verfolgt wurden. Wie schon erläutert, sind es Umkehrungen der im Consensus enthaltenen Politikempfehlungen. Nach Ansicht der Befürworter des Consensus haben diese traditionellen Wirtschaftspolitiken und Institutionen maßgeblich zur lateinamerikanischen Schulden- und Wirtschaftskrise der achtziger Jahre beigetragen. Das Etikett „Washington" hat Williamson später viel Kummer bereitet. Nicht selten beschwerten sich lateinamerikanische Politiker, dass die Verbindung der reformpolitischen Vorschläge mit dem Namen der Hauptstadt der USA die Durchsetzung eben dieser Maßnahmen im eigenen Land erschwert habe. Viele Bürger in den Ländern Lateinamerikas waren der Meinung, es handle sich beim Consensus um ein Politikpaket, das das offizielle Washington - allen voran der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank - ihnen aufzwingen wollte und das nicht dem Wunsch oder Willen ihrer Regierungen entsprach. 6 Zweifellos wurde diese Vorstellung aber auch dadurch gefördert, dass einige lateinamerikanische Politiker nicht davor zurückschreckten, die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen im eigenen Land sowie unpopuläre wirtschaftspolitische Maßnahmen ohne viel Federle-

6

J. Williamson: A Short History of the Washington Consensus, S. 2. Ebd., S. 6.

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sen dem Consensus beziehungsweise den Bretton-Woods-Institutionen als Vollstreckungsbehörden in die Schuhe zu schieben. Ähnlich abwegig wie diese Interpretationen und Schuldzuweisungen war die weit verbreitete Behauptung, der Consensus sei ein „neoliberales" Wirtschaftsprogramm. Gewiss plädierte der Consensus für die Liberalisierung der interventionistisch geprägten und überregulierten Volkswirtschaften Lateinamerikas. Aber zu Recht hat Williamson immer wieder betont, dass der Consensus nicht viel mit den radikalen Ideen der wirklichen (Neo-)Liberalen zu tun hat. Diese propagieren bekanntlich die Allokations- und Verteilungswirkung der Märkte als die beste aller Welten, fordern einen auf wenige Elementarfunktionen begrenzten Staat und hängen einem strengen Monetarismus sowie einer fast ausschließlich angebotsorientierten Wirtschaftsordnung an. Solche Doktrinen werden am ehesten von Mitgliedern der Mont-Pelerin-Gesellschaft vertreten, sind aber sicher nicht die geistige Grundlage des Consensus. Ebenso ist unzutreffend, dass alle Politikmaßnahmen des Consensus vollumfanglich von der Weltbank und dem Währungsfonds übernommen wurden; dieser Punkt wird weiter unten nochmals aufgegriffen. Außerdem hatte Williamson bei der Begriffsschöpfung nur die Verhältnisse und die Politik in Lateinamerika im Auge und nie den Anspruch vertreten, eine Art Kochrezept für alle Entwicklungsländer in die Welt zu setzen.7 Tabelle 1:

Ursprünglicher Washington Consensus und Tradition

Ursprünglicher Washington Consensus

Traditionelle Politik / Institutionen

• •



Fiskalische Disziplin Neuordnung der öffentlichen Ausgaben



• Steuerreform • Liberalisierung von Zinssätzen • Handelsliberalisierung • Einheitliche und wettbewerbsfähige Wechselkurse • • Offenheit für ausländische Direktinvestitionen • • Deregulierung • • Privatisierung • • Sichere Eigentumsrechte Quelle: J. Williamson: What Washington Means

• • • •

Überexpansive Fiskalpolitik Fehlallokation und Ineffizienz öffentlicher Ausgaben Ineffiziente Steuersysteme Administrierte Zinssätze Hohe Handelshemmnisse Gespaltene und fixe / überbewertete Wechselkurse Behinderung ausländischer Direktinvestitionen Überregulierte Wirtschaft Viele Staatsunternehmen Unsichere Eigentumsrechte by Policy Reform.

Trotz dieser Einwände gegen oberflächliche Fehlinterpretationen des Consensus ist aber zutreffend, dass die Politikempfehlungen auf einem gemein-

J. Williamson: The Washington Consensus as Policy Prescription for Development, S. 2 ff.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 409 samen diagnostischen und präskriptiven Nenner für die Volkswirtschaften Lateinamerikas basieren. Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, war die innen- und außenwirtschaftliche Stabilisierung der Ökonomien in der Region das erste Standbein des Consensus. Dies kam zunächst in der Empfehlung einer disziplinierten Fiskalpolitik zum Ausdruck, die im Gleichschritt mit einer ebenso umsichtigen Geldpolitik die chronische Inflation in der Region unterbinden sollte. In vielen Ländern Lateinamerikas waren seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hohe und eskalierende Preissteigerungsraten eine wesentliche Ursache für rückläufige Einkommen und zunehmende Armut. Die Neuordnung der Staatsausgaben sowie Steuerreformen zur Erhöhung von Staatseinnahmen sollten ebenfalls einen Beitrag zur Preisstabilisierung leisten und gleichzeitig durch eine bessere Mittelallokation und effizientere Mittelverwendung die Armutsreduktion voranbringen. Einheitliche und wettbewerbsfähige, das heißt hinreichend flexible Wechselkurse wurden gefordert, um einen wichtigen Beitrag zum Abbau der massiven Zahlungsbilanzdefizite zu leisten. Nominal fixe Wechselkurse in Verbindung mit einer inflationären Fiskal- und Geldpolitik waren eine der Hauptursachen für Lateinamerikas Schulden- und Entwicklungskrise der achtziger Jahre. Aus der Theorie der MakroSteuerung offener Volkswirtschaften, die den Stabilisierungsempfehlungen zugrunde liegt, wissen wir, dass Fiskal-, Geld- und Wechselkurspolitik ein untrennbares Dreigestirn erfolgreicher Stabilitätspolitik bilden. 8 Die Liberalisierung der Außen- und Binnenwirtschaft bildete das zweite Standbein der Anpassungspolitik im Consensus. Lateinamerika war nicht nur die geistige Heimat der Importsubstitutionsstrategie, sondern später auch der Dependenztheorie, die jegliche Art von Weltmarktverflechtungen für so ziemlich alle wirtschaftlichen Übel in der Region verantwortlich machte. In den 1980er Jahren verbreitete sich jedoch auch in Lateinamerika die Einsicht, dass Zölle und nicht-tarifare Handelsbarrieren die Produzenten handelbarer Güter diskriminierten und so einen wesentlichen Beitrag zu den chronischen Leistungsbilanzdefiziten und der Überschuldung vieler Länder lieferten. Es gab sicher divergierende Meinungen darüber, wie rasch man den Außenhandel liberalisieren sollte, aber man war sich einig, dass Schritte in diese Richtung unternommen werden mussten. Ähnliche Überlegungen galten auch für ausländische Direktinvestitionen, die in vielen Ländern der Region durch Beteiligungsvorschriften, Begrenzungen von Gewinntransfers sowie andere Regulierungsmaßnahmen stark behindert wurden. Erst in der Folge der lateinamerikanischen Schuldenkrise setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Direktinvestitionen nicht nur bei der Finanzierung von Leistungsbilanzdefiziten gegenüber Krediten gewisse Vorteile aufwiesen, sondern dass damit

Vgl. z.B. W.M. Corden: Inflation, Exchange Rates and the World Economy.

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auch willkommene Technologie- und Wissenstransfers sowie Vorteile beim Zugang zu den Weltmärkten verbunden waren. Tabelle 2:

Binnen- und außenwirtschaftliche Stabilität Inflation (BIP-Deflator)

Budgetsaldo2 (% des BIP)

Leistungsbilanzsaldo (% des BIP)

Außenschuld / Exporte (%)

1990-94' 1994 2005 1990-94' 2005 1990-94' 2005 2005 555 9.2 -0.7 2.2 -1.5 2.1 410 348 Argentinien -5.7 435 180 Bolivien 10.8 7.4 -9.1 3.3 1.9 162 Brasilien 1623 8.2 -7.7 -3.0 0.1 315 1.7 160 103 Chile 16.6 7.0 3.1 -2.6 1.7 -3.2 -0.4 -4.3 -4.5 148 42 Costa Rica 25.3 11.6 -4.4 162 Dom. Rep. 26.3 51.4 5.8 3.5 7.6 70 138 Ecuador 11.5 6.7 2.0 -2.0 -0.5 343 El Salvador 6.8 3.2 1.0 -1.9 -3.9 146 III -0.2 141 83 Guatemala 21.7 7.0 -0.1 -4.5 -4.3 19.7 7.7 -6.8 -5.6 344 198 Honduras Kolumbien 29.4 6.2 -1.1 -0.8 0.2 -1.0 171 133 Mexiko 16.7 7.5 -1.4 -0.3 -5.4 -1.0 231 60 Nicaragua 10.0 3.6 8.2 -31.2 -17.2 2887 440 1933 2.1 Panama 2.7 2.5 3.03 -1.0 -8.0 130 83 84 Paraguay 20.0 9.2 3.6 5.0 0.9 2.7 91 -3.4 -5.6 0.0 470 180 Peru 1471 5.7 -0.8 7.4 -0.3 176 271 Uruguay 70.6 -1.0 -0.5 -0.8 Venezuela 37.2 31.2 -3.9 -1.2 2.9 12.6 189 85 Durchschnitt der Fünfjahresperiode 1990-94. 2 Vor Schenkungen; positiv: Überschuss, negativ: Defizit. 3 2001. Quelle: J. Williamson: After the Washington Consensus, S. 10; World Bank: World Development Indicators 2007; World Bank: World Debt Tables 1994-95; Inter-American Development Bank, Research Department: CLYPS-Dataset on Public Debt Level and Composition in Latin America 1970-2004.

Die Liberalisierung in der Binnenwirtschaft beinhaltete zum einen den Abbau schädlicher Regulierungen in der Wirtschaft, zum anderen die Abschaffung administrierter Preise. Spätestens seit den Arbeiten von Hernando de Soto über das Ausmaß und die Folgen unternehmensbezogener Regulierungen in Peru war breiten Kreisen in ganz Lateinamerika bewusst, dass viele Unternehmen durch wirtschaftlich sinnlose Verwaltungsvorschriften in die Informalität gedrängt und in ihrer Entwicklung stark behindert wurden.9 Neben regulatorischen Reformen sollten die Marktkräfte selbst gestärkt werden,

H. de Soto: El otro sendero.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 411 das heißt konkret, dass administrierte Preise abgeschafft werden sollten. Staatlich verordnete Höchst- und Mindestpreise auf Güter- und Faktormärkten verursachten chronische Ungleichgewichte, umfangreiche Parallel- und Schwarzmärkte sowie massive Fehlallokationen von Produktionsfaktoren. Ende der achtziger Jahre herrschte unter vielen Beobachtern Lateinamerikas weitgehend Einigkeit darüber, dass die damit verbundenen Effizienzverluste das Wirtschaftswachstum erheblich reduzierten. Die Privatisierung verlustbringender Staatsunternehmen bildete das dritte Standbein des Consensus. Die in Lateinamerika über lange Zeit hinweg verfolgte Importsubstitutionsstrategie war vielfach mit einer staatlich geleiteten Industrialisierung gekoppelt. Nicht nur im Rohstoffsektor, sondern ebenso in der verarbeitenden Industrie war der Staat im Besitz vieler Unternehmen oder hielt namhafte Beteiligungen. Diese Betriebe wurden selten gut geführt, litten zum Teil massiv unter den angesprochenen Preisadministrierungen und produzierten hohe Verluste, die der Staat deckte. Die „weiche Budgetbeschränkung" dieser Unternehmen riss in vielen Ländern große Löcher in die Staatskasse. 10 Ähnliches galt für staatliche oder parastaatliche Infrastruktur- und Dienstleistungsunternehmen, etwa in der Wasserversorgung, dem Kommunikationsbereich, dem Transportwesen oder der Energieversorgung. Die im Consensus propagierte Privatisierung sollte nicht nur zur Entlastung der Staatshaushalte beitragen, sondern ebenso das defizitäre Infrastruktur- und Dienstleistungsangebot verbessern, das für die wirtschaftliche und menschliche Entwicklung vielfach einen kritischen Engpass darstellte. Das vierte Standbein des Consensus war schließlich die Empfehlung, die Kodifizierung und Durchsetzung von Eigentumsrechten zu verbessern. Solche Rechte, von Landtiteln bis zu Vertragsrechten, waren in vielen Ländern Lateinamerikas häufig dermaßen unsicher, dass sie für die betroffenen Wirtschaftsakteure maßgebliche Entwicklungshindernisse darstellten. Dieses Gedankengut hat in den achtziger Jahren ebenfalls de Soto mit seinen Untersuchungen sehr prominent vorgetragen und empirisch belegt. 11 Die Empfehlungen im Consensus unterstrichen die Erkenntnis, dass gesicherte Eigentumsrechte (im weitesten Sinn des Wortes) eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung darstellen und deshalb mit der Reformpolitik entschieden verbessert werden sollten.

Was hat der Washington Consensus Lateinamerika gebracht? Die Wirkung des Consensus wird nachstehend in zwei Schritten beschrieben, wobei sich die Diskussion, wie schon in der Einleitung hervorgehoben, auf 10

"

Vgl. J. Kornai, der den Begriff der „Soft Budget Constraint" zum ersten Mal verwendete: Resource-Constrained vs Demand-Constrained Systems. H. de Soto: El otro sendero.

412

Rolf Kappel

ausgewählte, wichtige Politik- und Wirkungsbereiche beschränkt und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Zunächst wird anhand politiknaher Ergebnisindikatoren dargelegt, welche Fortschritte mit der Wirtschaftspolitik seit Beginn der 1990er Jahre erzielt wurden. Damit kann man näherungsweise veranschaulichen, wie konsequent und mit welchem Erfolg die Empfehlungen des Consensus umgesetzt wurden. In einem zweiten Schritt wird dann zusammenfassend dargestellt, wie sich seit Beginn der neunziger Jahre die Durchschnittseinkommen und die Armut entwickelt haben. Daran lässt sich, wiederum in erster Näherung, die diesbezügliche Wirkung der wirtschaftspolitischen und institutionellen Reformen ablesen. Tabelle 3:

Durchschnittliche Zollsätze für Fünfjahresperioden (in Prozent, ungewichtet) 1986/90

1991/95

1996/2000

2000/05

Argentinien

24.6

11.9

15.1

Bolivien

18.4

9.9

9.5

12.8 8.7

Brasilien

42.0

17.2

15.8

13.8

Chile

17.0

10.9

10.4

6.2

Costa Rica

18.8

11.9

6.5

6.1

17.8

18.0

10.2

Ecuador

34.3

10.6

12.1

11.8

El Salvador

20.0

11.1

7.7

6.3

Guatemala

19.4

10.3

7.7

6.3

9.6

8.4

6.5

28.9

13.9

12.4

12.0

Mexiko

13.9

13.1

15.3

14.1

Nicaragua

21.4

11.0

5.4

5.0

Dom. Republik

Honduras Kolumbien

Panama

9.7

7.8 11.5

Paraguay

10.9

13.7

12.0

Peru

41.0

17.0

13.2

10.1

Uruguay

29.9

16.8

14.0

11.7

10.5 7.7 Venezuela 28.9 14.5 Quelle: World Bank: http://siteresources.worldbank.org/INTRES/Resources/tar2005.xls.

Tabelle 2 veranschaulicht für 18 Länder der Region wichtige stabilitätspolitische Fortschritte, die seit der ersten Hälfte der neunziger Jahre erreicht wurden. Die Inflationsraten sind in allen Ländern gefallen - mit Ausnahme Argentiniens und der Dominikanischen Republik, die 2005 noch unter den inflationären Nachwehen vorangehender Finanzkrisen litten. Ebenso wurden in allen Ländern Budgetdefizite, gemessen als Anteile am BIP, abgebaut oder in Überschüsse umgewandelt. In einigen Ländern nahmen Budgetüberschüsse im Trend sogar zu. Leistungsbilanzdefizite, wiederum gemessen als Anteile am BIP, sind in der Regel ebenfalls gesunken oder wurden in Überschüsse

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 413 umgewandelt. Mit Ausnahme Argentiniens haben sich durch zunehmende Exporterlöse sowie Schuldenerleichterungen die Schuldenpositionen all jener Länder verbessert, die in den achtziger Jahren in schwere Schuldenkrisen geraten waren. Außerdem ist in den meisten Ländern der Anteil der kurzfristigen Schulden an den gesamten Außenschulden gesunken, in der Vergangenheit immer wieder eine gefahrliche Quelle der Krisenanfalligkeit.12 Tabelle 4:

Außenhandel und ausländische Direktinvestitionen, Durchschnitte für Fünfjahresperioden (% des BIP) Außenhandelsquote

Ausländische Direktinvestitionen

(Exporte + Importe) / BIP, in % 1990-94

1995-99

2000-04

(Anteil am BIP, in %) 1990-94

1995-99

2000-04

Argentinien

15.6

21.8

33.4

1.4

3.7

2.1

Bolivien

48.1

49.0

50.1

1.5

9.0

5.9

Brasilien

17.9

18.1

27.9

0.4

2.8

3.7

Chile

58.5

53.6

66.8

2.8

7.1

6.1

Costa Rica

75.3

88.1

92.3

2.7

3.6

3.2

Dom. Republik

68.3

86.4

94.8

1.9

3.8

4.3

Ecuador

60.5

52.4

56.0

2.1

3.0

5.0

El Salvador

50.9

60.4

69.1

0.2

2.4

2.1

Guatemala

43.4

43.5

47.5

0.8

1.2

1.0

Honduras

73.9

97.5

91.0

1.3

2.5

3.6

Kolumbien

35.0

35.8

41.7

1.5

2.8

2.8

Mexiko

36.4

61.5

59.0

1.5

3.0

2.8

Nicaragua

66.4

66.1

74.8

0.9

5.5

5.2

187.1

166.9

131.1

2.8

7.5

4.6

Panama



Paraguay

75.9

72.7

70.0

1.5

2.1

0.9

Peru

28.4

31.7

35.2

1.9

4.3

2.5

Uruguay

39.8

39.3

45.4

0.4

0.8

2.1

Venezuela

56.0

48.7

49.1

1.6

4.0

2.5

Quelle: World Bank: World Development Indicators 2007.

Diese stabilitätspolitischen Erfolge sind ohne Zweifel auf eine disziplinierte Fiskalpolitik, eine ebenso vorsichtige Geldpolitik sowie eine flexible Wechselkurspolitik zurückzufuhren - somit auf den Kern der orthodoxen makropolitischen Empfehlungen des Washington Consensus. In der Tat haben die Stabilisierungsbemühungen der lateinamerikanischen Länder in den 1980er und 1990er Jahren erneut gezeigt, dass man in aller Regel auf Anpassungsmaßnahmen in keinem der drei genannten Politikbereiche verzichten kann. Mehrere Länder haben mit so genannten „heterodoxen" Stabilitätsprogrammen experimentiert, die schmerzhafte Anpassungslasten zu umgehen 12

J. Williamson: After the Washington Consensus, S. 10.

414

Rolf Kappel

suchten. Diese Versuche sind jedoch allesamt gescheitert. Am Ende war es stets die stabilitätspolitische Orthodoxie, die den Erfolg brachte.13 Abbildung 1: Ausländische Direktinvestitionen in Lateinamerika (netto), Mrd. US-Dollar, laufende Preise

Quelle: World Bank: World Development Indicators 2007.

Die Außenhandelsliberalisierung war ähnlich konsequent und erfolgreich. Tabelle 3 zeigt, dass seit den frühen neunziger Jahren in 15 der 18 Länder die Zollsätze in der Tat deutlich reduziert wurden und zur verstärkten Weltmarktintegration der betreffenden Volkswirtschaften beigetragen haben.14 Auch wenn es sich hierbei um ungewichtete Durchschnitte der Zollsätze handelt und nicht-tarifare Handelshemmnisse unberücksichtigt bleiben, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Offenheit der betreffenden Volkswirtschaften zugenommen hat. Die obige Tabelle 4 belegt denn auch, dass die Außenhandelsquote (die Summe von Exporten und Importen als Anteil am BIP, gemittelt über jeweils 5 Jahre) in 13 der 18 Länder angestiegen ist. Im rechten Teil der Tabelle ist ersichtlich, dass Ähnliches ebenso für ausländische Direktinvestitionen gilt. Deren Anteil am BIP war in der Periode 2000-2004 in 17 der 18 Länder höher als in der Periode 1990-1994. Die Daten indizieren auch, wie volatil diese Kapitalzuflüsse waren beziehungsweise sind. Abbildung 1 zeigt im Aggregat für die gesamte Region, dass die ausländischen Direktinvestitionen nach 1990 zunächst um einen Faktor zehn zunahmen, aber wähR. Kappel: Orthodoxe und heterodoxe Stabilisierungsprogramme. In Mexiko wurden die Zollsätze bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre abgebaut, in Panama und Paraguay noch früher.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 415 rend der Finanzkrisen um die Jahrhundertwende herum innerhalb von vier Jahren auf die Hälfte des Spitzenwertes von ca. 90 Milliarden Dollar zurückgingen. Tabelle 5:

Indikatoren für Regulierungen und Eigentumsrechte von Unternehmen, Lateinamerika und OECD-Länder

Gründung eines Unternehmens Prozeduren (Anzahl) Lateinamerika OECD

Dauer (Tage)

Kosten (% des BSP pro Kopf)

10.2

73.3

48.1

6.2

16.6

5.3

Schließung eines Unternehmens Zeit (Jahre)

Kosten (% des Anlagewerts)

Gläubigerentschädigung (% der Forderungen)

Lateinamerika

2.6

13.6

25.7

OECD

1.4

7.1

74.0

Unternehmenssteuem Zahlungen (Anzahl p.a.)

Zeit (Stunden)

Steuersatz (% des Gewinns)

Lateinamerika

41.3

430.5

49.1

OECD

15.3

202.9

47.8

Registrierung von Eigentumsrechten (Land und Immobilien) Prozeduren (Anzahl)

Dauer (Tage)

Kosten (% des Eigentumswerts)

Lateinamerika

6.6

77.4

6.0

OECD

4.7

31.8

4.3

Durchsetzung von Vertragsrechten Prozeduren (Anzahl) Lateinamerika

39.3

OECD 22.2 Quelle: World Bank: Doing Business 2007.

Zeit (Tage)

Kosten (% der Vertragssumme)

641.9

23.4

351.2

11.2

Neben der außenwirtschaftlichen Liberalisierung wurden ebenso die Märkte in der Binnenwirtschaft gestärkt. Hierzu stehen zwar keine systematischen Indikatorreihen zur Verfügung, aber die empirische Evidenz für Fortschritte in diese Richtung ist umfangreich. 15 In vielen Ländern wurden administrierte Preise freigegeben oder näher an geschätzten Marktgleichgewichten fixiert. Ebenso wurden die Deregulierung des Unternehmensumfelds sowie die Stärkung von Eigentums- und Vertragsrechten vorangetrieben. Die Verhältnisse sind heute in der Regel nicht mehr so krass, wie sie Hernando de 15

Vgl. z.B. diesbezügliche Darstellungen in den Beiträgen in P.-P. Kuczynski / J. Williamson (Hg.): After the Consensus.

416

Rolf Kappel

Soto in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre für Peru beschrieben hat. Dennoch steht Lateinamerika bei der Verbesserung des Unternehmensumfelds noch vor großen Herausforderungen. Tabelle 5 stellt dazu ausgewählte Indikatoren aus der „Döing Business"-Datenbasis der Weltbank für Lateinamerika und den OECD-Raum einander gegenüber. Die Regulierungen für die Gründung von Unternehmen sind demnach in Lateinamerika deutlich umfangreicher als in den OECD-Ländern (60% mehr Prozeduren), sie beanspruchen wesentlich mehr Zeit (Faktor 4.5), und sie verursachen höhere Kosten (relativ zum Durchschnittseinkommen, Faktor 9). Ähnliches gilt für die Schließung von Unternehmen. Zeit- und Kostenaufwand liegen fast doppelt so hoch wie in den OECD-Ländern, und die Gläubigerentschädigung im Insolvenzfall umfasst nicht viel mehr als ein Drittel der Quote im OECD-Raum. Die Gesamtbelastung der Gewinne durch Unternehmenssteuem ist zwar kaum höher als in den OECD-Ländern, aber die Häufigkeit der Steuerzahlungen und der Zeitaufwand für die Abwicklung der Prozeduren liegen mehr als doppelt so hoch wie im OECD-Raum. Bei der Registrierung unternehmerischer Eigentumsrechte (es handelt sich um den Eintrag von bereits registriertem Land und Gebäuden in einer städtischen Region) sind die Anzahl der Prozeduren und die Kosten relativ zum Eigentumswert um ca. 40 % höher als in den OECD-Ländern, und der ganze Vorgang dauert etwa doppelt so lange wie im OECDRaum. Schließlich ist die Durchsetzung nicht honorierter Verträge, von der Einreichung einer Klage vor Gericht bis zur Zahlung der Forderung, in Lateinamerika eine wesentlich aufwendigere Angelegenheit als in den OECDLändern. Die Anzahl der Prozeduren, die erforderliche Zeit und die Kosten (relativ zum Vertragsvolumen) liegen grob gesprochen doppelt so hoch wie im OECD-Raum. Alles in allem wird deutlich, dass die regulatorische und rechtliche Umgebung von Unternehmen in Lateinamerika noch erheblich verbessert werden kann und sollte. Mit ähnlich gemischten Erfolgen ist in Lateinamerika die Privatisierung staatlicher Unternehmen vorangekommen, die in mehreren Ländern der Region auf breiter Basis angepackt wurde. Neben respektablen Erfolgen hat man dabei auch Erfahrungen gemacht, die zu größerer Umsicht mahnen.16 Zum einen haben so genannte Insiderprivatisierungen stattgefunden, bei denen sich Vertreter der Privatwirtschaft und der öffentlichen Hand bereichert haben, ohne dass am Ende wirklich produktive beziehungsweise dauerhaft wettbewerbsfähige Unternehmen entstanden sind und der Staat korrekt entschädigt wurde. Zum anderen sind viele Privatisierungsprozesse im Infrastruktur- und Dienstleistungsbereich auf Schwierigkeiten gestoßen oder gescheitert, weil die angestrebten „Public Private Partnerships" nicht funktioniert haben. Verträge zwischen Privatunternehmen und dem Staat (als Regulierer) konnten oft 16

Vgl. z.B. P.-P. Kuczynski: Reforming the State, S. 36-41.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 417 von beiden Seiten nicht eingehalten werden. Deshalb verfolgt man heute vielfach bescheidenere Ziele. Man belässt zum Beispiel Unternehmen in öffentlichem Besitz, übergibt jedoch die Unternehmensführung einem Privatunternehmen, das einen Versorgungsauftrag kosteneffizienter erfüllen sollte als das öffentlich geführte Unternehmen zuvor. Private Versorgungsunternehmen, etwa im Energie-, Wasser-, Kommunikations- oder Transportbereich, sind in Lateinamerika nach wie vor sehr unpopulär. Immerhin hat sich die Zufriedenheit mit dem Preis-Leistungsverhältnis solcher Unternehmen von 18% im Jahr 2003 auf 30% im Jahr 2006 verbessert. Trotz der positiven Veränderung ist dies aber offenkundig kein hoher Erfolgsausweis oder Vertrauensbeweis.17 Mehr als 70% der Bevölkerung sind der Meinung, dass Unternehmen in den Bereichen Bergbau, Erdöl und Ergas sowie in der Elektrizitätsversorgung und Telekommunikation in die öffentliche Hand gehören.18 Solche Meinungsbilder sind zweifellos der Hintergrund dafür, dass beispielsweise in Bolivien und Venezuela in jüngerer Zeit Versorgungsunternehmen und ganze Produktionszweige wieder verstaatlicht wurden. Tabelle 6:

Entwicklung von Einkommen und Armut in Lateinamerika

Einkommensentwicklung Wachstum des BIP pro Kopf, % p.a.

1980-1990

1990-2005

-0.4

1.2

Armutsentwicklung

1981

1984

Prozentsatz der Armen (Armutslinie 1 $ PPP)

10.8

13.1

10.2

8.9

8.6

Millionen Arme (Armutslinie 1 $ PPP)

39.3

51.0

44.6

42.9

46.0

Prozentsatz der Armen (Armutslinie 2 $ PPP)

28.5

32.3

26.2

25.2

22.2

Millionen Arme (Armutslinie 2 $ PPP)

103.8

125.8

115.0

122.2

120.6

1990

1996

2004

Quelle: World Bank: World Development Indicators 2007; S. Chen / M. Ravallion: How Have the World's Poorest Fared?

Wie haben sich nun die Reformen auf die wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika ausgewirkt? Tabelle 6 verdeutlicht, dass seit Beginn der 1990er Jahre eine Trendwende beim Wirtschaftswachstum und der Armutsreduktion stattgefunden hat. Nachdem die Durchschnittseinkommen der Region in den achtziger Jahren mit etwa -0.4% p. a. rückläufig waren, sind sie seit 1990 im 17 18

The Democracy Dividend, S. 56. Corporation Latinobarómetro, Informe 2007, S. 33.

418

Rolf Kappel

Durchschnitt um ca. 1.2 % p. a. angestiegen. Bis zum Jahr 2005 ergibt dies einen kumulierten Zuwachs von 25 %. Wie Abbildung 2 zu entnehmen ist, war das Wachstum des regionalen Durchschnittseinkommens nach 1990 in 11 von 14 Jahren positiv - in den 1980er Jahren war es in 7 von 10 Jahren rückläufig. Auch wenn die wieder gewonnene Wachstumsdynamik im Durchschnitt bescheiden ist, so ist die Trendwende dennoch unbestreitbar. Abbildung 2: Durchschnittseinkommen in Lateinamerika, kaufkraftbereinigte US-Dollar, Preisbasis 2000

Quelle: World Bank: World Development Indicators 2007.

Ein ähnliches Bild resultiert für die Armutsentwicklung. In den 1980er Jahren nahm die Quote extremer Armut (Anteil der Bevölkerung mit einem täglichen Konsum von weniger als 1 US Dollar, kaufkraftbereinigt, Preisbasis 1985) von knapp 11 % zunächst auf über 13 % zu (1984). Danach fiel die Armutsquote, stieg in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wieder an, und ist seit der Jahrhundertwende erneut rückläufig. In absoluten Zahlen leben in der Region gegenwärtig jedoch immer noch etwa so viele Menschen in extremer Armut (46 Millionen) wie 1990. Die Entwicklung der moderateren Armut mit der Grenze von 2 Dollar folgt etwa demselben Muster. Der Prozentsatz der betroffenen Bevölkerung ist zwar rückläufig, aber die Anzahl der Menschen, die in diese Armutskategorie fallen, schwankt seit Mitte der achtziger Jahre ständig um etwa 120 Millionen. Eine wirtschaftliche Trendwende in Lateinamerika ist also zweifelsohne zu konstatieren, aber mit der Einschränkung, dass die Erfolge bescheiden sind. Das regionale Wachstum seit 1990 hat noch längst nicht die Werte vor 1980

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 419 erreicht und ist deutlich niedriger als in Ost- und Südasien, wo im selben Zeitraum Wachstumsraten der Durchschnittseinkommen von 7.0% beziehungsweise 3.6% erzielt wurden. Entsprechend sind dort auch die Quoten der extremen Armut nicht nur um magere 1.5 Prozentpunkte wie in Lateinamerika, sondern um 20 (Ostasien) beziehungsweise 12 Prozentpunkte (Südasien) gefallen. Bei der moderaten Armut belaufen sich die Reduktionen auf 33 (Ostasien) und 8.5 Prozentpunkte (Südasien).19 An diese Dynamik reicht die Entwicklung Lateinamerikas bei weitem nicht heran. Immerhin, dies sei am Rand erwähnt, sind die Erfolge dort größer als in Sub-Sahara-Afrika.20 Alles in allem kann man somit festhalten, dass in Lateinamerika in den frühen neunziger Jahren eine positive Trendwende in der wirtschaftlichen Entwicklung stattgefunden hat. Die Trendraten des Einkommenswachstums und der Armutsreduktion sind jedoch gering und bleiben immer noch hinter vielen Erwartungen zurück. Die Wiedergewinnung außen- und binnenwirtschaftlicher Stabilität ist hingegen trotz verschiedener Rückschläge respektabel und hat nach allen verfugbaren Kenntnissen maßgeblich zur Trendwende beigetragen. Diesbezüglich darf man den Schluss ziehen, dass die meisten der im Washington Consensus enthaltenen makroökonomischen Politikempfehlungen umgesetzt wurden und Wirkung gezeigt haben. Der Erfolgsausweis bei der Liberalisierung der Binnenwirtschaft und der Privatisierung verlustbringender öffentlicher Unternehmen ist gemischt. Inwiefern Regelsysteme reformiert wurden, die unmittelbar das Umfeld von Unternehmen und deren Entwicklungschancen beeinflussen, lässt sich mit Indikatorreihen leider nicht präzis überprüfen. Verfugbare Informationen und Daten indizieren zwar Fortschritte, aber auch den Tatbestand, dass die Region in dieser Hinsicht - und relativ zu den Standards der OECD-Länder - noch vor großen Herausforderungen steht.

Weshalb wurde der Washington Consensus erweitert? Die insgesamt schwache Trendwende in Lateinamerika ist zweifellos der Hauptgrund für Rodriks These, dass seit den späten 1990er Jahren ein erweiterter Washington Consensus existiert. Die von ihm postulierte Ausdehnung der Reformagenda um zehn weitere Maßnahmen impliziert, dass „das offizielle Washington" die Ursache für die enttäuschenden Fortschritte nicht nur

19 20

Quelle für alle Datenangaben: World Bank: World Development Indicators 2007. In Sub-Sahara-Afrika waren die Durchschnittseinkommen in der Dekade von 1980 bis 1989 mit -0.9% p.a. in noch stärkerem Umfang rückläufig als in Lateinamerika. Zwischen 1990 und 2005 stiegen sie dann um ca. 0.3 % p.a. zu. Obwohl auch die Armutsquoten seit 1990 leicht rückläufig waren, nahm die Anzahl der Menschen zu, die unterhalb der Ein-Dollargrenze und der Zwei-Dollargrenze leben: von 240 beziehungsweise 396 Millionen im Jahr 1990 auf 299 beziehungsweise 523 Millionen im Jahr 2004.

420

Rolf Kappel

in der mangelnden Umsetzung der ursprünglichen Politikempfehlungen sieht (auch wenn dies nicht heißt, dass alle Reformen konsequent durchgeführt wurden), sondern darin, dass die Maßnahmen des ursprünglichen Consensus nicht ausreichen. Stabilisierung, Liberalisierung, Privatisierung und Sicherung der Eigentumsrechte sind demnach (bestenfalls) notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedingungen, um dauerhaft hohe Raten des Wirtschaftswachstums und der Armutsreduktion zu erreichen. Tabelle 7 enthält im linken Teil die von Rodrik genannten zusätzlichen Reformmaßnahmen, im rechten Teil wiederum die traditionellen Politikorientierungen. Man erkennt auf den ersten Blick, dass die Mehrzahl der Reformempfehlungen auf die Verbesserung von Institutionen abzielt. Wie schon zuvor erwähnt, steht dahinter erneut die Vorstellung, dass das offizielle Washington die Auffassung teilt, bei diesen Reformempfehlungen handle es sich um Maßnahmen, die für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung unabdingbar sind. Tabelle 7:

Erweiterter Washington Consensus und Tradition

Erweiterter Washington Consensus

Traditionelle Politik / Institutionen

Die ursprüngliche Liste plus: • Einfuhrung nicht-intermediärer Wechselkurssysteme





Kluge Liberalisierung des Kapitalverkehrs





Übernahme von WTO-Vereinbarungen







• •

Einfuhrung von Codes und Standards im Finanzsektor Flexibilisierung der Arbeitsmärkte Rechtliche / politische Reformen



Reform von Regelsystemen



• •

Korruptionsbekämpfung Soziale Sicherungsnetze

• •

• •

Interventionistische Wechselkurssysteme Kapitalverkehrskontrollen und überhastete Liberalisierung Defizite bei der Übernahme von WTORegelungen Mangelnde Sorgfalt im Finanzsektor Rigide Arbeitsmärkte Schwache Rechtssysteme und Demokratiedefizite Mangelhaft definierte oder durchgesetzte Regelsysteme Hohes Maß an Korruption Mangel an wirksamen sozialen Sicherungsnetzen

• Armutsreduktion • Mangelnde Armutsbekämpfung Quelle: D. Rodrik: The Global Governance of Trade.

Bei der Diskussion des erweiterten Consensus ist allerdings zu berücksichtigen, dass Rodrik die Gültigkeit der ursprünglichen Fassung des Consensus nicht nur auf Lateinamerika beschränkt, wie dies von Williamson intendiert war, sondern als ein Bündel von Politikempfehlungen interpretiert, das für Entwicklungsländer generell gilt. Der erweiterte Consensus hat also nicht ausschließlich Lateinamerika im Visier. Außerdem sind einige von Rodriks

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 421 Erweiterungen bei weitem nicht so fokussiert und präzis gefasst wie Williamsons Empfehlungen. So werden beispielsweise mit den Begriffen „Armutsreduktion" und „soziale Sicherungsnetze" sowie „politische Reformen" und „Reformen von Regelsystemen" äußerst breite und sich überschneidende Politikfelder in sehr allgemeiner Form angesprochen. Rodrik verweist auch darauf, dass verschiedene Varianten des erweiterten Consensus von anderen Autoren im Umlauf sind, die von seinem Vorschlag in einigen Aspekten abweichen.21 Die folgende Diskussion greift zunächst die fünf eng und präzis gefassten Reformvorschläge im oberen Teil von Tabelle 7 auf und geht dann auf die fünf breiter und auch vager formulierten Empfehlungen im unteren Teil ein. Tabelle 8:

Einkommensentwicklung, Trend und Volatilität Wachstum BIP pro Kopf (% p. a.) 19801990

Standardabweichung

19902005

19801990

19902005

Variationskoeffizient 19801990

19902005 2.40

Argentinien

-2.34

2.71

4.98

6.49

-2.13

Bolivien

-2.15

1.34

2.82

1.36

-1.31

1.02

Brasilien

0.21

1.34

4.66

1.89

21.76

1.83 0.69

2.64

4.26

5.69

2.93

2.15

Costa Rica

-0.39

2.37

3.98

2.53

-10.16

1.06

Dom. Rep.

0.72

3.27

3.66

2.90

5.09

0.88

Ecuador

-0.28

1.17

2.98

3.00

-10.48

2.57

El Salvador

-2.43

1.77

5.23

1.87

-2.15

0.80

Guatemala

-1.21

1.21

2.56

0.97

-2.10

0.80

Honduras

-0.85

0.74

2.40

2.21

-2.8

2.97

Chile

Kolumbien

1.51

1.04

1.61

2.38

1.07

2.29

Mexiko

0.39

1.51

4.01

3.06

10.23

2.03

Nicaragua

-3.27

1.08

4.41

2.32

-1.35

2.14

Panama

-0.62

2.76

5.90

2.52

-9.44

0.91

0.81

-0.58

4.77

1.78

5.89

-3.08

-2.43

2.33

7.38

3.49

-3.04

1.50

0.03

1.75

5.84

5.48

213.68

3.13

-2.26

0.38

4.69

6.76

-2.07

17.62

Paraguay Peru Uruguay Venezuela

Lateinamerika 1 -0.37 2.37 2.37 -5.36 1.63 1.15 Einschließlich Karibik. Quelle: World Bank: World Development Indicators 2007; eigene Berechnungen.

Der ursprüngliche Consensus enthielt die Empfehlung, durch geeignete Interventionen der Zentralbanken die Wechselkursregime der lateinamerikani-

21

D. Rodrik: Growth Strategies, S. 4.

422

Rolf Kappel

sehen Länder zu flexibilisieren, um auf diese Weise zur Wiedergewinnung und Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit beizutragen. Neben diesen intermediären (interventionistischen) Systemen unterstützten die Bretton-Woods-Institutionen seit den 1990er Jahren jedoch auch nicht-intermediäre Regime an den Endpunkten des Kontinuums von Wechselkurssystemen: „Currency Boards", mit einer fixen Bindung der Binnenwährungen an eine stabile Außenwährung auf der einen Seite und äußerst flexible, praktisch ausschließlich marktbestimmte Wechselkursregime („Free Floating") auf der anderen Seite. Aufgrund der Politikpraxis von Weltbank und Währungsfonds postulierte Rodrik, dass diese beiden nicht-intermediären Wechselkurssysteme Teil eines neuen Consensus seien. Insbesondere hinter der Einbeziehung des „Currency Board" in den erweiterten Consensus steht eine doppelte Ironie der Geschichte. In den achtziger Jahren waren Fixkurssysteme in den Bretton-Woods-Institutionen geradezu Anathema - nach der Schuldenkrise in Lateinamerika und Afrika durchaus verständlich. Dennoch banden in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren nicht wenige Entwicklungs- und Transformationsländer ihre Währungen an stabile Außenwährungen, um Inflationserwartungen zu überwinden und das Vertrauen der Bevölkerung in die eigenen Währungen zurückzugewinnen. In Lateinamerika gehörte Argentinien zu der Ländergruppe, die ein solches Fixkurssystem verfolgte, und der Währungsfonds sowie die Weltbank unterstützten die argentinische Währungspolitik anfanglich eher skeptisch. Mit dem Erfolg des Regimes in Argentinien und anderen Ländern stieg aber die Reputation des Systems und wurde nach geraumer Zeit von den BrettonWoods-Institutionen als durchaus praktikables Wechselkursregime akzeptiert. In der Zwischenzeit wissen wir, dass die Bindung des argentinischen Pesos an den US-Dollar nicht gut ausging. Die Aufwertung des Dollar gegenüber anderen Handelswährungen in den neunziger Jahren, die Abwertung des brasilianischen Real, der Währung des stärksten regionalen Konkurrenten Argentiniens im internationalen Wettbewerb, sowie höhere Inflationsraten in Argentinien als auf den Weltmärkten führten zu einer realen Überbewertung des Peso. Diese trug maßgeblich dazu bei, dass 2001 eine Zahlungsbilanz- und Finanzkrise ausbrach, die schwerste wirtschaftliche Rückschläge verursachte und in eine tief greifende politische Krise mündete.22 Der immer wieder erhobene Vorwurf, Argentinien sei in diese Finanzkrise geraten, weil es sich am ursprünglichen Washington Consensus orientierte, der dem Land von den Bretton-Woods-Institutionen aufgezwungen wurde, ist somit doppelt falsch. Erstens hat der Consensus fiir intermediäre Wechselkurssysteme plädiert, nicht für ein „Currency Board", und zweitens waren es die argentinischen Behörden, die sich für dieses Regime und seine 22

Vgl. z.B. M. Mussa: Argentina and the Fund.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 423 langjährige Beibehaltung entschieden haben, und nicht die Bretton-WoodsInstitutionen, die am Ende den Wünschen des Landes nachgaben. Die bittere Lektion Argentiniens ergänzt die Erkenntnisse aus Finanzkrisen in anderen Schwellenländern Lateinamerikas und Asiens in den neunziger Jahren: Fixkurssysteme laufen immer Gefahr, die Folgen externer Schocks sowie fiskal- und geldpolitischer Nachlässigkeiten zu lange unbeachtet zu lassen. Rodrik interpretiert das gegenwärtige Meinungsbild sicher korrekt, wenn er das „Currency Board" (und das flexible Pendant am anderen Ende des Spektrums) in den erweiterten Consensus aufnimmt. Aber alle verfügbaren Erfahrungen belegen, dass ein Fixkurssystem intermediären Systemen nicht zwangsläufig überlegen ist. Die zuvor präsentierte Abbildung 2 veranschaulicht, wie volatil sich auch nach 1990 die Pro-Kopf-Einkommen in Lateinamerika entwickelten. Insbesondere die rückläufigen Durchschnittseinkommen in den Jahren 1995, 1999 sowie 2001 und 2002 verdeutlichen, dass die Volkswirtschaften Lateinamerikas interne und externe Schocks kaum abfedern konnten. Tabelle 8 schlüsselt die in der Abbildung dargestellte Trendwende beim Wachstum und die Volatilität für die 18 größten Länder der Region auf. Die Wachstumsdaten zeigen, dass nicht nur in der Region als Aggregat, sondern in jedem einzelnen Land eine Trendwende beim Wachstum stattgefunden hat (mit Ausnahme Kolumbiens). Gleichzeitig belegen die Standardabweichungen und Variationskoeffizienten, dass die Mehrzahl der Länder zwar nach wie vor relativ starke Schwankungen der Wachstumsraten aufweist, die Volatilität gegenüber den achtziger Jahren dennoch abgenommen hat. Wie bereits angesprochen, waren Störungen im Währungs- und Finanzbereich eine herausragende Ursache für die anhaltenden Wachstumsschwankungen. Zwischen 1990 und 2006 ereigneten sich in sieben lateinamerikanischen Ländern Finanzkrisen (Währungskrisen, Schuldenkrisen, Bankenkrisen oder eine Mischung von allem), die erhebliche realwirtschaftliche Rückschläge zur Folge hatten. Die Krisen trafen Mexiko 1994 und 1995, Brasilien und Ecuador 1999, Argentinien 2001, Brasilien und Uruguay 2002 und die Dominikanische Republik 2003. Darüber hinaus haben jedoch auch klimatische Störungen (zum Beispiel El-Nino-Ereignisse und Hurrikane) sowie politische Instabilitäten (zum Beispiel der Sturz von Regierungen in Bolivien, Ecuador und Peru) wirtschaftliche Rückschläge verursacht. Die dichte Folge teilweise massiver wirtschaftlicher Einbrüche belegt die Notwendigkeit, weitere Maßnahmen zur Stärkung der Krisenfestigkeit Lateinamerikas zu implementieren.23 Mit den Finanzkrisen sind untrennbar die im erweiterten Consensus geforderten Reformen im Finanzsektor sowie im internationalen Kapitalverkehr und Handel verbunden. Empirische Untersuchungen lassen keine Zweifel 23

Vgl. z.B. J. Williamson: An Agenda for Restarting Growth and Reform, S. 7 ff.

424

Rolf Kappel

darüber zu, dass die Informations-, Überwachungs- und Kontrollinstitutionen im Finanzsektor sowie der Privatwirtschaft insgesamt erhebliche Defizite aufwiesen und als wichtige Krisenursachen einzustufen waren.24 Die massiven Kapitalabzüge internationaler Anleger führten unter anderem zu der Erkenntnis, dass die Liberalisierung der Kapitalverkehrsbilanz mit der Implementierung international anerkannter Verhaltenskodizes und Standards im Finanzsektor einhergehen sollte. Darüber hinaus kann ein liberales Außenhandelsregime, das die konsequente Einhaltung des WTO-Regelwerks einschließt, dazu beitragen, die Wirkung externer Schocks auf die Leistungsbilanz abzufedern. Alles in allem war und ist in Lateinamerika ein ausgeprägter Mangel an außen- und binnenwirtschaftlicher Krisenfestigkeit zu diagnostizieren, der durch die angesprochenen Reformen gemildert werden kann. Tabelle 9:

Armutselastizitäten des Wachstums Wachstum des BIP pro Kopf, (dY/Y), 1990-2004 (% p.a)

Reduktion der Armutsquote, (dH/H) 1990-2004 (% p.a.)

Elastizität: dH/H / dY/Y

1 PPP$

2 PPP $

1 PPP$

2 PPP$

Lateinamerika

1.15

-1.17

-1.20

-1.017

-1.043

Ostasien

7.0

-8.17

-4.50

-1.167

-0.643

Südasien -0.74 3.6 -2.35 -0.653 -0.206 Quelle: World Bank: World Development Indicators 2007; eigene Berechnungen.

Es ist nicht überraschend, dass der erweiterte Consensus eine Liberalisierung der Arbeitsmärkte empfiehlt. In fast allen Ländern Lateinamerikas tragen administrierte Löhne, strenge Kündigungsschutzregeln und andere Beschäftigungsvorschriften sowie hohe Lohnnebenkosten dazu bei, dass Beschäftigte im formellen Sektor - insbesondere im öffentlichen Bereich - privilegiert und Arbeitssuchende benachteiligt werden. Mit anderen Worten ist die Regulierung der Arbeitsmärkte vielfach eine wesentliche Mitursache dafür, dass hohe Raten der Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung andauern und Beschäftigte sowie Unternehmen in die Informalität gedrängt werden beziehungsweise dort verbleiben. Man darf erwarten, dass eine kluge Liberalisierung der Arbeitsmärkte die formelle Beschäftigung fordern und einen nicht unerheblichen Beitrag zur Armutsreduktion leisten kann. Die fünf institutionellen Reformvorschläge im unteren Teil von Tabelle 7 bilden zweifellos die umfangreichste und wichtigste Neuerung gegenüber dem ursprünglichen Consensus. Hier geht es um Änderungen fundamentaler staatlicher Regelsysteme, von Prinzipien der Regierungsführung bis zu demokratischen Strukturen und Prozessen, von denen man annimmt, dass sie das Wirtschaftswachstum und die Armutsreduktion wesentlich beeinflussen. Die 24

P.-P. Kuczynski: The Financial System.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 425 Kenntnisse über die zugrunde liegenden Wirkungszusammenhänge sind allerdings zum Teil noch recht unsicher und werden nachstehend mit der Diskussion von drei Fragestellungen beleuchtet. Tabelle 10:

Gini-Koeffizienten seit Ende der 1980er Jahre

Gini-Koeffizienten (in %) 52.24 44.50 48.58 (1986) (1996) (2001) 42.04 54.68 Bolivien 58.46 (1991) (1997) (1999) Brasilien 59.31 59.98 59.25 (1987) (1996) (2001) 57.88 57.47 57.61 Chile (1989) (1996) (2000) 45.66 47.08 46.50 Costa Rica (1990) (1996) (2000) Dominikanische 50.46 48.71 Republik (1989) (1996) Ecuador 50.49 52.00 53.53 (1998) (1987) (1994) 51.92 El Salvador 48.96 52.25 (2000) (1989) (1992) 59.60 55.83 Guatemala (1989) (1998) 53.72 56.24 Honduras 57.36 (1996) (1999) (1990) Kolumbien 53.59 56.96 57.92 (1989) (1996) (1999) 50.31 51.86 54.93 Mexiko (1990) (1996) (2000) Nicaragua 50.33 45.24 (1993) (1998) 56.57 Panama 56.31 56.56 (1989) (1996) (2000) 39.74 Paraguay 59.13 56.85 (1990) (1995) (1999) 43.87 46.24 49.82 Peru (1990) (1996) (2000) Uruguay 42.33 43.76 44.56 (1989) (1996) (2000) Venezuela 44.08 48.79 44.08 (1989) (1996) (2000) Relative Veränderung zwischen dem letzten und ersten Wert. Quelle: World Bank: World Development Indicators 2007. Argentinien

52.79 (2003) 60.05 (2002) 57.96 (2003)

A1 (%) 18.63 42.84 -2.28 -0.47

49.88 (2001) 51.69 (2003)

9.24 2.44 6.02

52.36 (2002) 55.14 (2002) 53.84 (2003) 58.62 (2003) 49.54 (2002) 43.06 (2001) 56.45 (2002) 57.77 (2002) 54.57 (2002) 44.85 (2003)

6.94 -7.48 -6.14 9.39 1.53 -14.44 -0.21 45.37 24.39 5.95 0.00

Die erste Frage lautet, weshalb in Lateinamerika seit Beginn der neunziger Jahre der Rückgang der Armut trotz aller Reformbemühungen deutlich geringer ausfiel als (wie zuvor erläutert) in Ost- und Südasien. Grundsätzlich sind

426

Rolf Kappel

zwei Ursachen denkbar: Erstens, dass das Wirtschaft Wachstum niedriger war; zweitens, dass die armutsmindernde Wirkung des Wachstums geringer war. Nun lag in Lateinamerika das durchschnittliche Einkommenswachstum in der Tat deutlich unter dem in Ost- und Südasien. Damit trifft die erstgenannte mögliche Ursache zu. Zur Überprüfung der zweiten Ursache stellt Tabelle 9 die Armutselastizität des Wachstums in Lateinamerika den entsprechenden Werten für Ost- und Südasien gegenüber - für die beiden Armutsgrenzen von 1 und 2 PPP $. Diese Elastizität, das heißt die Relation zwischen der relativen Veränderung des Durchschnittseinkommens und der relativen Änderung der Armutsquote, ist die einfachste Messgröße, um die Wirkung des Wachstums auf die Armut in ihrer Gesamtheit zu erfassen. In der betrachteten Periode von 1990-2004 sind die Elastizitäten für beide Armutsgrenzen in Lateinamerika höher als in Südasien. Im Vergleich zu Ostasien ist Lateinamerikas Elastizität bei der Armutsgrenze von 1 PPP $ etwas geringer, liegt aber deutlich über dem dortigen Wert für die Armutslinie von 2 PPP $. Mit anderen Worten: Die Wirkung des Einkommenswachstums auf die Armut ist in Lateinamerika durchaus vergleichbar mit den Werten, die in anderen Entwicklungsregionen zu beobachten sind. Dies deutet stark darauf hin, dass die geringe Armutsreduktion in Lateinamerika vorwiegend auf niedrige Wachstumsraten zurückzuführen ist. Damit stellt sich die zweite Frage, weshalb die Region eine so schwache Wirtschaftsdynamik aufweist. In jüngerer Zeit wird zunehmend die Hypothese vertreten, dass die ausgeprägten wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in Lateinamerika eine maßgebliche Rolle spielen.25 Dies ist eine Umkehrung der früher vielfach vorgetragenen Hypothese, dass Ungleichheit - zumindest Einkommensungleichheit - Wirtschaftswachstum eher befördert.26 Empirische Tests der Wirkungsbeziehungen zwischen Ungleichheit und Wachstum sind methodisch überaus schwierig. Deshalb überrascht es nicht, dass diesbezüglich widersprüchliche Forschungsergebnisse vorliegen, die heftig umstritten sind.27 Folgt man den Arbeiten, die Evidenz dafür präsentieren, dass Ungleichheit das Wirtschaftswachstum behindert, so lassen sich zwei Erklärungsmuster erkennen. Zum einen wird argumentiert, dass hohe Einkommensungleichheiten staatliche Umverteilungsmaßnahmen mit Steuern und Transfers induzieren. Dadurch entstehen wirtschaftliche Ineffizienzen, Verteilungskonflikte und politische Instabilitäten, die die Spar- und Investitionsbereitschaft der Wirtschaftsakteure und damit die Wachstumsdynamik beeinträchti25

26

27

D. de Ferranti et al.: Inequality in Latin America; G.E. Perry et al.: Poverty Reduction and Growth. Vgl. z.B. K. Forbes: A Reassessment of the Relationship Between Inequality and Growth. Vgl. z.B. die Ergebnisse und Schlussfolgerungen von A. Banerjee / E. Duflo: Inequality and Growth.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 427 gen. Zum anderen wird argumentiert, dass Einkommensungleichheiten wesentlich durch eine ungleiche Verteilung von produktiven Vermögenswerten sowie durch gruppenspezifische Zugangsbarrieren zu Märkten und öffentlichen Gütern verursacht werden. Diese Diskriminierungen und daraus resultierende gesellschaftliche Auseinandersetzungen behindern das Einkommenswachstum großer Bevölkerungsteile und damit die Wachstumsdynamik insgesamt. Empirische Untersuchungen indizieren, dass in Lateinamerika beide Kausalketten eine wichtige Rolle spielen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Länder der Region in der Tat hohe bis sehr hohe Einkommensungleichheiten aufweisen, die im aggregierten Durchschnitt die Ungleichverteilungen anderer Entwicklungsregionen übertreffen. Die in Tabelle 10 wiedergegebenen GiniKoeffizienten belegen zudem, dass seit Ende der achtziger Jahre nur in drei der 18 größten Länder der Region die Einkommensungleichheit im Trend signifikant abgenommen hat, in der überwiegenden Mehrheit der Länder hingegen stagniert hat oder sogar gestiegen ist. Die großen Einkommensdisparitäten und die geringen Erfolge bei der Armutsreduktion sind in Lateinamerika immer wieder Anlass für die Forderung, durch fiskalische Umverteilungsmaßnahmen korrigierend einzugreifen. Insbesondere unter populistischen Regierungen ist dies ein gern wiederholtes Versprechen. Nüchtern betrachtet darf man von Umverteilungen durch Transferund Steuersysteme in Lateinamerika jedoch keine nennenswerten Beiträge zur Reduktion von Einkommensdisparitäten und Armut erwarten. So belegt eine aktuelle Analyse von acht Ländern der Region eindrücklich, dass die staatlichen Transfersysteme sehr geringe umverteilende Wirkung haben - im Durchschnitt resultieren sie in einer Abnahme des Gini-Koeffizienten von gerade einmal einem Prozentpunkt. In Peru haben die Transfers insgesamt sogar zu einer Erhöhung des Gini-Koeffizienten geführt. In allen Ländern sind die Sozialversicherungssysteme regressiv („Pro-rich"), die Sozialhilfesysteme hingegen (mit Ausnahme Mexikos) progressiv („Pro-poor").28 Die Korrekturwirkungen der Steuersysteme sind ähnlich gering zu veranschlagen. Vor allem wegen der chronischen und weit verbreiteten Steuerhinterziehung beeinflussen sie die Verteilung verfügbarer Einkommen kaum. In Chile beispielsweise, das über das wirksamste Steuersystem Lateinamerikas verfügt, sinkt der GiniKoeeffizient beim Übergang von Bruttoeinkommen zu Einkommen nach Steuern um weniger als einen Prozentpunkt.29 Im Vergleich mit Industrieländern ist die gesamte Verteilungswirkung der lateinamerikanischen Transfer-

28

29

K. Lindert / E. Skoufias / J. Shapiro: Redistributing Income to the Poor and the Rich, S. 32 ff. E. Engel / A. Galetovic / C. Raddatz: Taxes and Income Distribution in Chile, S. 49.

428

Rolf Kappel

und Steuersysteme als marginal einzustufen. In den EU15-Ländern30 beispielsweise sinkt der Gini-Koeffizient beim Übergang von Markteinkommen zu verfügbaren Einkommen von 47% auf 33 %.31 Von einem derart umverteilungswirksamen Staat kann man in Lateinamerika nur träumen. Tabelle 11:

Ungleichheiten im Bereich Gesundheit und Gesundheitsversorgung von Kindern und Müttern (Lateinamerika und Karibik insgesamt) 1. Quintil

Kindersterblichkeit (unter 5 Jahren, pro

97.3

5. Quintil 36.8

1000) Untergewichtige Kinder (unter 5 Jahren, %)

19.0

3.7

Kompletter Impfschutz (Kinder unter 5

39.6

56.5

19.7

10.9

Medizinisch betreute Schwangerschaft (%)

57.5

95.6

Medizinisch betreute Geburt (%)

40.2

94.3

Jahren, %) Durchfallerkrankungen (Kinder unter 5 Jahren, %)

Quelle: D. de Ferranti et al.: Inequality in Latin America and the Caribbean, Statistical Appendix, S. 447.

Aus diesem Grund muss man auch fiskalisch induzierte Beiträge zur Armutsreduktion in Lateinamerika als schlicht unrealistisch einstufen. In vielen Ländern der Region würde eine angestrebte Abnahme der Armut um 25% (innerhalb von 10 Jahren) Erhöhungen der direkten Steuersätze zwischen 10 und 20 Prozentpunkten erfordern. Selbst wenn man die Steuererhöhungen mit einem Wachstum der Durchschnittseinkommen von 3 % p. a. kombinieren könnte, würde dies in mehr als der Hälfte der lateinamerikanischen Länder Grenzsteuersätze und Steigerungen der Steuereinnahmen bedingen, die realistisch gesehen nicht erreichbar sind.32 Kurzum: Wenn man in Lateinamerika die Einkommensdisparitäten und die Armut erfolgreich bekämpfen will, muss man ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum mit möglichst starken Verteilungskorrekturen bei den Markteinkommen erreichen, das heißt bei den Einkommen vor Steuern und Transfers. Der zweite Wirkungszusammenhang von Ungleichheit und Wachstumsbeschränkung resultiert aus der Ungleichverteilung produktiver Vermögenswerte sowie aus ungleichen Zugangsmöglichkeiten zu öffentlichen Gütern und zu Märkten. Verfugbare Daten aus Haushaltsuntersuchungen belegen eine 30

31 32

Belgien, Dänemark, Deutschland, England, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien. Vgl. z.B. G.E. Perry et al.: Poverty Reduction and Growth, S. 92 ff. L. Gasparini / F. Gutierrez / L. Tornarolli: Growth and Income Poverty in Latin America and the Caribbean.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 429 fatale Korrelation: Je niedriger das Einkommen eines Haushalts ist, desto geringer ist sein Produktivvermögen und desto weniger wahrscheinlich haben die Haushaltsmitglieder Zugang zu wichtigen öffentlichen Gütern und zu Märkten. Auch wenn zwischen diesen beiden Formen der Ungleichheit eine Rückkopplung besteht, darf man davon ausgehen, dass die Kausalität von den begrenzten Produktivvermögen und Zugangsbarrieren zu den Einkommen dominant ist. Tabelle 12:

Ungleichheiten in der Bildung und Kinderarbeit Schulquote (%) Alter 1 3 - 1 7 Jahre 1. Q u i n t i ]

5. Q u i n d i

Kinderarbeitsquote (%) Alter 1 0 - 14 Jahre 1. Quintil

5. Quintil

Anzahl Schuljahre Erwachsene 1. Q u i n t i l

5. Q u i n t i l

Argentinien

87

99

0.9

0.1

7.3

13.4

Bolivien

41

89

60.3

10.0

2.8

11.4 10.4

Brasilien

81

96

19.9

4.4

3.0

Chile

87

98

1.2

0.3

7.4

13.2

Costa Rica

59

84

4.3

1.4

5.4

11.6

Dom. Republik

85

91

7.3

4.7

5.2

10.3

Ecuador

50

85

46.3

22.7

4.8

11.4

El Salvador

61

81

10.5

5.0

3.8

9.0

Guatemala

42

75

36.2

15.4

1.4

8.5

Honduras

40

67

16.2

12.5

2.8

9.1

Kolumbien

66

85

10.7

5.8

6.3

12.2

Mexiko

57

90

9.3

4.8

3.5

11.6

Nicaragua

45

79

18.1

9.4

2.7

8.1

Panama

70

96

2.9

1.5

6.6

13.1

Paraguay

60

84

19.5

9.6

4.0

10.1

Peru

86

96

52.7

9.0

5.9

12.5

Uruguay

68

98

7.2

1.4

7.0

12.1

72 Venezuela 91 3.6 1.7 6.0 11.1 Quelle: D. de Ferranti et al.: Inequality in Latin America and the Caribbean, Statistical Appendix, S. 424.

Die ungleiche Verteilung von Landeigentum ist in vielen Ländern Lateinamerikas seit Jahrzehnten auf der politischen Agenda, in den meisten Fällen jedoch eine nach wie vor weitgehend ungelöste Aufgabe: Ad nauseam verkündete Landreformen kommen nur im Schneckentempo voran. Aber die Verteilungsdisparitäten reichen weit über die Landnutzung hinaus. Der Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, zu Infrastrukturleistungen wie Wasser-, Abwasser- und Energieversorgung, zu Kapital- und Arbeitsmärkten sowie zu Institutionen des Polizeiwesens, der Rechtssprechung und der politischen Partizipation sind ebenfalls ungleich verteilt. Untergliedert man die Bevölkerung in Einkommensgruppen, zum Beispiel Quintile, so ist die Zu-

430

Rolf Kappel

gangshäufigkeit zu den genannten öffentlichen Gütern und Märkten bei Empfängern höherer Einkommensgruppen systematisch größer als bei Empfängern niedrigerer Einkommen. In den Tabellen 11, 12 und 13 sind ausgewählte Indikatoren jeweils nur für das erste und fünfte Quintil wiedergegeben, um die Diskrepanz zwischen den ärmsten 20 % und den reichsten 20 % der Einkommensempfanger abzubilden. Die Daten belegen am Beispiel des Gesundheitsund Bildungswesens sowie ausgewählter Infrastrukturbereiche den ungleichen Zugang zu wichtigen öffentlichen Gütern, der mit der Einkommenshöhe stark korreliert. Tabelle 13:

Ungleicher Zugang zu Infrastruktur und Dienstleistungen Trinkwasser

Abwasser

Elektrizität

(% der Bevölkerung)

(% der Bevölkerung)

(% der Bevölkerung)

1. Quintil

5. Quintil

1. Quintil

5. Quintil

1. Quintil

5. Quintil

Argentinien

96

100

80

99

98

Bolivien

20

66

24

90

22

95

33

90

86

100

Brasilien

100

Chile

83

93

65

98

95

100

Ecuador

55

86

55

96

81

99

El Salvador

22

77

22

77

68

98

Guatemala

57

92

8

74

49

93

Honduras

79

97

26

82

41

94

Kolumbien

70

96

97

100

87

98

Mexiko

74

98

35

96

92

100 97

Paraguay

71

97

16

60

73

Peru

51

93 .

60

82

53

96

Uruguay

99

100

76

100

97

100

Venezuela

87

97

76

88

97

99

Quelle: D. de Ferranti et al.: Inequality in Latin America and the Caribbean, Statistical Appendix, S. 451.

Abschließend stellt sich als dritte Frage, wie man die Ungleichheiten reduzieren oder beseitigen kann - und damit ist man bei den Gouvernanz- und Demokratiereformen angelangt, die den Ausgangspunkt dieser Diskussion bildeten. Die Wurzeln der angesprochenen Disparitäten reichen historisch weit zurück, nicht selten bis in die Kolonialzeit. Sie basieren unter anderem auch auf ethnischen Diskriminierungen, vor allem gegenüber indigenen und afrikanischstämmigen Bevölkerungsgruppen. Eine Reduktion der Ungleichheiten erfordert somit einerseits die Beendigung teilweise tief verwurzelter gesellschaftlicher Benachteiligungen, andererseits aber ebenso den Abbau von Privilegien, die in erster Linie der Oberschicht und einem Teil der Mittelschicht (zum Beispiel der Beamtenschaft) zu Gute kommen. Schließt man realistisch

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 431 die Herrschaft eines „wohlmeinenden Diktators" aus, ist nicht vorstellbar, wie ein Abbau der Ungleichheiten ohne institutionelle Änderungen geschehen sollte, mit denen die Rechte und Ansprüche großer, bislang umfangreich benachteiligter Bevölkerungsteile stärker berücksichtigt werden. Man kann dies nur als Aufgabe historischen Ausmaßes bezeichnen, da zur Erreichung dieses Ziels die politische Kultur Lateinamerikas in erheblichem Umfang geändert werden müsste: Umverteilungsorientierte Reformen bei der Bereitstellung öffentlicher Güter und dem Zugang zu Märkten bedingen nicht nur technischorganisatorische Maßnahmen und entsprechende Finanzmittel, sondern vor allem die Durchsetzung der Änderung formeller und informeller Institutionen gegen mächtige Interessensgruppen, die vom Status quo profitieren. Tabelle 14:

Qualität der Regierungsführung (Max. 2.5, Min. -2.5) 1996

2000

2005

0.432

0.197

-0.289

Bolivien

-0.108

-0.229

-0.694

Brasilien

-0.083

0.071

-0.079

0.899

1.058

1.181

Trend1

0.596

0.912

0.589

Dominik. Rep.

-0.162

0.017

-0.293

Ecuador

-0.334

-0.752

-0.748

El Salvador

-0.115

-0.134

-0.139

Guatemala

-0.493

-0.475

-0.706

1] U Ii u u u w

Honduras

-0.503

-0.291

-0.575

=>

Kolumbien

-0.221

-0.642

-0.515

Mexiko

-0.107

-0.058

-0.097

Nicaragua

-0.399

-0.400

-0.431

Panama

0.175

0.244

0.076

Paraguay

-0.190

-0.949

-0.778

Peru

-0.275

-0.229

-0.476

u u u

0.623

0.755

0.603

=>

-0.394

-0.673

-0.987

1.529

1.829

1.720

Argentinien

Chile Costa Rica

Uruguay Venezuela Schweiz

=> =>

=>

USA 1.286 1.482 1.243 => Eine Trendänderung nach oben oder unten bedeutet, dass der Wert fiir 2005 mindestens 20% über oder unter dem Wert des Jahres 1996 liegt. Quelle: D. Kaufmann et al.: Governance Matters.

Institutionelle Indikatoren zur Qualität von Regierungsfuhrung und Demokratie verdeutlichen jedoch, dass sich die Dinge in dieser Hinsicht in den vergangenen zehn Jahren in Lateinamerika eher verschlechtert als verbessert haben, und die Bedeutung diesbezüglicher Reformempfehlungen so gesehen sogar eher zunimmt als abnimmt. Zur Beschreibung der Qualität der Regie-

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rungsfiihrung hat die Weltbank die derzeit umfassendste Indikatorensammlung zusammengetragen, die für eine Periode von zehn Jahren zur Verfügung steht. Der aggregierte Gouvernanzindikator setzt sich aus sechs Indikatorkomponenten zusammen:33 dem Maß der zivilen und politischen Rechte sowie der politischen und bürokratischen Rechenschaftspflicht; der politischen Stabilität; der Wirksamkeit und Effizienz des Staates; der Qualität von Regulierungen im Wirtschaftssystem; der Durchsetzung von Recht und Rechtsstaatlichkeit; der Kontrolle der Korruption. Die den Komponenten zugrunde liegenden Einzelindikatoren umfassen sowohl statistisch gemessene als auch von Experten kodierte Variablen sowie durch Umfragen erhobene Wahrnehmungsgrößen. In Tabelle 14 sind die sechs Indikatorkomponenten mit identischen Gewichten zu einem einzigen Sammelindikator für die zuvor schon betrachteten 18 lateinamerikanischen Länder zusammengefasst. Die Indikatorwerte für die Schweiz und die USA sind zu Vergleichszwecken angefügt. Zwei Dinge sind auffallend. Erstens liegen die Werte für die lateinamerikanischen Länder deutlich unter den „Benchmark"-Werten der Schweiz und der USA, das heißt die Qualität der Regierungsführung ist in Lateinamerika noch in erheblichem Umfang verbesserungsfahig. Zweitens ist seit Mitte der neunziger Jahre ein positiver Trend in der Region leider nicht zu erkennen. In elf der 18 Länder hat sich die Qualität der Regierungsfuhrung verschlechtert, in sechs Ländern ist sie etwa konstant geblieben, und nur in einem Land (Chile) hat sie sich verbessert. Im betrachteten Zeitraum ist die Entwicklung der Gouvemanz also keine Erfolgsgeschichte. Ähnlich präsentiert sich die Wertschätzung und Einschätzung demokratischer Strukturen und Prozesse in der Region. Seit den achtziger Jahren wurden in nicht wenigen Ländern Lateinamerikas autoritäre und militärische Regime durch zunehmend demokratischere Regierungen abgelöst. Aber in den vielfach jungen Demokratien klaffen Anspruch und Wirklichkeit institutioneller „Checks and Balances" noch weit auseinander. Seit Mitte der neunziger Jahre fuhrt „Latinobarömetro" in ganz Lateinamerika repräsentative Umfragen unter anderem zur Wertschätzung der Demokratie als Regierungsform und zur Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie durch. Tabelle 15 zeigt, dass nur knapp 60% der erwachsenen Bevölkerung in der Demokratie die bevorzugte Regierungsform sehen und dass nicht einmal 40 % mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden sind. Außerdem ist in praktisch allen Ländern der Region seit Mitte der neunziger Jahre ein U-förmiger Verlauf D. Kaufmann / A. Kraay / M. Mastruzzi: Governance Matters.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 433 dieser Wahrnehmungsvariablen zu beobachten. Die Wertschätzung und die Zufriedenheit mit der Demokratie erreichten immer dann einen Tiefpunkt, wenn die Folgen von Finanz- und Wirtschaftskrisen am stärksten spürbar waren. In solchen Phasen nahmen die Zweifel an der Wünschbarkeit und der Funktionsweise der Demokratie offenkundig zu. Im Jahr 2006 lagen die Wahrnehmungswerte allerdings nicht nur wegen der wirtschaftlich besseren Situation wieder höher, sondern auch weil in den Jahren 2005 und 2006 in mehreren Ländern freie und faire Wahlen über die Bühne gingen. Tabelle 15:

Haltung gegenüber der Demokratie (% der erwachsenen Bevölkerung

Argentinien Bolivien Brasilien Chile Costa Rica Dominik. Rep. Ecuador El Salvador Guatemala Honduras Kolumbien Mexiko Nicaragua Panama Paraguay Peru Uruguay Venezuela

Demokratie als bevorzugte Regierungsform 1996 2001 2006 2007 71 58 74 63 64 54 62 67 50 30 46 43 54 45 56 46 80 71 75 83 71 64 52 40 54 65 56 25 51 38 41 51 33 32 42 57 51 38 60 36 53 47 53 46 54 48 59 43 56 61 34 75 55 62 59 35 41 33 62 63 55 47 80 79 77 75 62 57 70 67

Zufriedenheit mit der Demokratie 1996 2001 2006 2007 34 20 50 33 41 25 16 39 20 21 36 30 28 42 36 23 51 51 48 47 49 49 22 33 15 35 26 21 25 33 17 17 31 30 19 35 34 31 32 16 8 33 12 26 41 31 24 24 26 43 28 21 40 38 21 11 12 9 28 16 23 17 51 56 66 66 30 41 57 59

Lateinamerika

61

27

48

58

54

25

38

37

Quelle: Corporación Latinobarómetro: Informe Latinobarómetro 2006; Corporación Latinobarómetro: Informe Latinobarömetro 2007.

Dennoch ist aufgrund der insgesamt niedrigen Beurteilungswerte nicht zu bezweifeln, dass die Demokratieentwicklung in der Region noch vor großen Herausforderungen steht. Dieser Tatbestand kommt abschließend auch in Tabelle 16 zum Ausdruck. Das Vertrauen in staatliche Institutionen, die wesentliche Träger der Demokratie sind beziehungsweise sein sollten, ist auf einem erschreckend niedrigen Niveau. Erneut ist auffallend, dass in Zeiten wirtschaftlicher Krisen das Misstrauen in staatliche Institutionen besonders aus-

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geprägt ist. Wie bei der Wertschätzung und Beurteilung der Demokratie darf der Anstieg der Vertrauenswerte in der jüngsten Zeit unter anderem auch auf die angesprochenen Wahlen zurückgeführt werden. Tabelle 16:

Vertrauen in Institutionen, Lateinamerika insgesamt (% der erwachsenen Bevölkerung) 1996

2000

2003

2005

2006

Kirche

76

77

62

71

71

2007 74

Fernsehen

50

42

36

44

64

47

Präsident

43

39"

39

31

43

47

Streitkräfte

41

43

30

42

44

51

Polizei

30

29

29

37

37

39

Rechtswesen

33

34

20

31

36

30

Kongress

27

28

17

28

27

29

22 Parteien 20 20 11 18 20 1997 Quelle: Corporación Latinobarómetro: Informe Latinobarómetro 2006; Corporación Latinobarómetro: Informe Latinobarómetro 2007.

Alles in allem ist nicht zu bezweifeln, dass in Lateinamerika die Qualität staatlicher Institutionen, welche die Qualität der Regierungsführung und der Demokratie maßgeblich bestimmen, gering ist und sich in den vergangenen zehn Jahren nur in Ausnahmefallen dauerhaft verbessert hat. Wenn die Hypothese zutrifft, dass diese institutionellen Defizite die zuvor angesprochenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ungleichheiten wesentlich mit verursachen, und diese ihrerseits das Wirtschaftswachstum und die Armutsreduktion behindern, dann erhebt der erweiterte Consensus seine institutionellen Reformforderungen zu Recht. Leider sind die empirischen Belege, die diese vermutete Kausalkette für die kurze Frist stützen, erst fragmentarisch. In der langen Frist ist hingegen unbezweifelbar, dass signifikante und dauerhafte Raten der Einkommenssteigerung und Armutsreduktion nur erreichbar sind, wenn die Qualität der Regierungsführung und der Demokratie verbessert wird.

Schlussfolgerungen Die vorangehende Diskussion hat gezeigt, dass der ursprüngliche und der erweiterte Washington Consensus für Lateinamerika eine Agenda wirtschaftspolitischer und institutioneller Modernisierungen darstellen, deren Umsetzung in unterschiedlichem Umfang vorangeschritten ist. Am weitesten ist man mit den stabilitätspolitischen Politikempfehlungen des ursprünglichen Consensus von 1989 vorangekommen, die auch sichtbare Erfolge gezeigt haben. Die großen Herausforderungen liegen nun vor allem im institutionellen Bereich.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 435 Trotzdem ist zu beachten, dass man mit den Reformen der ersten Generation die betreffenden Aufgaben nicht einfach als gelöst abhaken kann. Nicht zuletzt die Sicherung binnen- und außenwirtschaftlicher Stabilität ist eine Daueraufgabe, die laufend bewältigt werden muss. Zum einen müssen die Behörden konsequent weiter daran arbeiten, ihre Volkswirtschaften weniger krisenanfällig und volatil zu gestalten. Zum anderen gilt, dass externe und interne Schocks sowie schleichende Trends und Politikfehler jederzeit Instabilitäten verursachen können, die dann möglichst rasch und konsequent bekämpft werden müssen. Lateinamerika ist ein Paradebeispiel dafür, dass wirtschaftliche Stabilität eine unverzichtbare Grundlage für Wirtschaftswachstum und Armutsreduktion bildet. Darüber hinaus sind die Regierungen aber ebenso gefordert, die strukturellen Reformen der ersten Generation konsequent fortzuführen. Die Liberalisierung der Außen- und Binnenwirtschaft, der Abbau schädlicher (Über-)Regulierungen sowie die Umwandlung verlustbringender Staatsunternehmen in effiziente und wettbewerbsfähige Betriebe sind noch längst nicht abgeschlossen. Mit den Reformempfehlungen des ursprünglichen Consensus sind jedoch offenkundig keine hinreichenden Bedingungen für eine dauerhaft hohe Wirtschaftsdynamik zu erreichen. Empirische Belege indizieren zwar erst bruchstückhaft, aber doch zunehmend, dass Lateinamerikas niedrige Raten des Wirtschaftswachstums und der Armutsreduktion wesentlich durch massive wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheiten verursacht werden, die ihrerseits vor allem auf schwach definierte und schwach durchgesetzte Institutionen zurückzuführen sind. Deshalb werden im erweiterten Consensus institutionelle Reformen zur besseren Durchsetzung von Recht und Rechtsstaatlichkeit gefordert, zur Erhöhung der Rechenschaftspflicht von Politik und Behörden sowie zur Steigerung der politischen Stabilität und der Effizienz des Angebots öffentlicher Güter. Mit anderen Worten, höheres Einkommenswachstum und ein rascherer Rückgang der Armut sind nur zu erreichen, wenn die gesellschaftlichen Ungleichheiten über bessere Regierungsführung und die Stärkung demokratischer Strukturen und Prozesse abgebaut werden. Dieser institutionelle Wandel muss gegen mächtige Partikularinteressen durchgesetzt werden, die vom Status quo profitieren. Deshalb werden Fortschritte vielfach nur langsam zu erzielen sein, und heftige Interessenkonflikte und Auseinandersetzungen sowie auch Reformrückschläge sind nicht auszuschließen. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob der erweiterte Washington Consensus mit zwanzig Reformempfehlungen (und in einigen Versionen noch mehr) nicht zu umfangreich ist, um für Politiker wirklich von Nutzen zu sein. Dies gilt besonders für die relativ vage formulierten institutionellen Reformen, deren Umsetzung teilweise lange Zeiträume beanspruchen kann. Rodrik selbst, dessen erweiterte Consensusvariante hier zur Debatte stand, vertritt genau diese Auffassung mit großem Nachdruck. Seines Erachtens ist es wenig

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gewinnbringend, wenn Regierungen und Behörden mit einem immer größeren Bündel von Politikempfehlungen konfrontiert werden, nachdem sie einen kleineren Satz von Präskriptionen in nicht unerheblichem Umfang umgesetzt, aber die damit verbundenen (vielleicht zu hochgesteckten) Erwartungen nicht erreicht haben.34 Rodrik nennt in verschiedenen Veröffentlichungen mehrere Beispiele von Ländern, die mit wenigen Reformmaßnahmen länger andauernde Wachstumsphasen in Gang gesetzt haben und selbst heute noch wichtige Empfehlungen des erweiterten Consensus nicht erfüllen.35 Die Paradebeispiele sind natürlich China und Indien, die zu Beginn beziehungsweise gegen Ende der achtziger Jahre spektakuläre Wachstumsphasen eingeleitet haben; aber auch Länder wie Mauritius und Vietnam haben mit relativ bescheidenen Politikbündeln beachtliche Wachstumsprozesse initiiert. Dies steht in starkem Kontrast zu den Erfahrungen vieler Länder Lateinamerikas, die zwar den umfangreichen Consensusempfehlungen gefolgt sind, aber viel geringere Wachstumsraten erreicht haben. Wie kommt das? Nach Auffassung von Rodrik sind die Initiierung einer Wachstumsphase und die Aufrechterhaltung des Wachstumsprozesses zwei sehr unterschiedliche Dinge. In einer Querschnittsanalyse von Wachstumsepisoden seit den 1950er Jahren zeigen Hausmann, Pritchett und Rodrik, dass Wachstumsphasen in der Regel mit einer ziemlich kleinen Anzahl von Politikmaßnahmen eingeleitet wurden.36 Deshalb empfiehlt Rodrik, zunächst die am stärksten bindende Wachstumsbeschränkung zu identifizieren und dort den Reformhebel anzusetzen. Das ist nach seiner Auffassung auch in den zuvor genannten Erfolgsländern geschehen. Wirtschaftspolitiker, Berater und Wissenschaftler sollten anhand dieser Beispiele außerdem zur Kenntnis nehmen, dass in diesen Ländern „heterodoxe" Maßnahmen eine wichtige Rolle gespielt haben, die im orthodoxen Instrumentenkasten des wirtschaftlichen Liberalismus kaum Platz finden. Um die Wachstumsdynamik dann aufrecht zu erhalten, fuhrt aber auch nach Rodriks Meinung kein Weg an langfristig angelegten institutionellen Reformen vorbei. Dabei ist interessant, dass sein diesbezüglicher Katalog von acht breit gefassten institutionellen Reformbereichen ziemlich genau das ganze Spektrum des erweiterten Consensus abdeckt.37 Im Gegensatz zum Consensus unterscheidet Rodrik jedoch zwischen der Funktion, die eine Institution erfüllen muss, und der Form, die dafür gewählt wird. Damit betont er zu Recht, dass wichtige marktwirtschaftliche Prinzipien, wie beispielsweise leistungsorientierte Anreizsysteme, gesicherte Eigentumsrechte, fiskalische Disziplin und stabiles Geld mit unterschiedlich gestalteten Institutionen er34 35

36 37

D. Rodrik: Goodbye Washington Consensus, S. 13. Vgl. z.B.: D. Rodrik / R. Hausmann / A. Velasco: Growth Diagnostics; D. Rodrik: Growth Strategies. R. Hausmann / L. Pritchett / D. Rodrik: Growth Accelerations. D. Rodrik: Growth Strategies, S. 27 ff.

Wirtschaftspolitische und institutionelle Moderne in Lateinamerika 437 reicht werden können.38 Diese Wahlmöglichkeiten und die Notwendigkeit, Regelsysteme möglichst gut lokalen Gegebenheiten anzupassen, wurden beziehungsweise werden bei institutionellen Reformempfehlungen möglicherweise zu wenig beachtet. Rodriks Einwände gegen umfangreiche „Wäschelisten" von Reformempfehlungen und seine beispielhaften Belege haben zweifellos ihre Berechtigung, aber auch ihre Grenzen. Zunächst muss man damit rechnen, dass es eventuell gar nicht möglich ist, die am stärksten bindende Wachstumsbeschränkung zu identifizieren. Es kann ja ohne weiteres Fälle geben, in denen eine größere Anzahl Beschränkungen vergleichbar stark wirkt, so dass eine relativ umfangreiche Reformagenda praktisch unumgänglich ist. Außerdem sind nicht wenige Politikempfehlungen auch im erweiterten Consensus mit relativ geringen Kosten realisierbar. Das oft ins Feld geführte Argument, dass mehrere Reformprozesse gleichzeitig nicht finanzierbar seien, verschleiert nicht selten mangelnde Reformbereitschaft. Einige Entwicklungs- und Transformationsländer, wie beispielsweise Mosambik, Uganda, Polen und die Tschechei, haben durchaus vorgeführt, dass eine breite Palette von Reformschritten in relativ kurzer Zeit vorangetrieben werden kann. Im Verlauf der Zeit muss eine solche Verbreiterung ohnehin stattfinden, wie ja auch Rodrik konzediert. Weder Chinas noch Indiens Erfolgsgeschichten wären denkbar, ohne die laufend weiter reichenden institutionellen Reformprozesse, die beide Länder in Gang halten. Die dabei ständig zunehmende Annäherung an die Orthodoxie zeigt auch deutlich die Grenzen der von Rodrik so gepriesenen Heterodoxie auf. Für die Länder Lateinamerikas heißt dies, dass der erweiterte Washington Consensus nicht als Kochrezept zu betrachten ist, das in jedem Land mit derselben Gewichtung der einzelnen Empfehlungen und denselben institutionellen Ausgestaltungen angewendet werden kann. Dies galt am ehesten noch für den ursprünglichen Consensus, der mit seinen Schwerpunktsetzungen auf Stabilität, Liberalisierung, Privatisierung und Sicherung von Eigentumsrechten einen inhaltlich, instrumenteil und institutionell vergleichsweise engen Fokus hatte; und schon dort war die fehlende Trennung von Funktion und Form eine Schwäche - da hat Rodrik völlig Recht. Mit seiner institutionell wesentlich breiteren Perspektive kann der erweiterte Consensus hingegen nur als ein Bündel von Reformleitlinien gelten, die im Einzelnen erst noch ausgestaltet werden müssen. Für jedes Land müssen inhaltliche Prioritätenlisten, zeitliche Reformabfolgen und instrumenteile beziehungsweise institutionelle Formgebungen entwickelt werden, die unter den jeweiligen Gegebenheiten optimale Ergebnisse erwarten lassen. Diese Knochenarbeit ist Aufgabe der Realpolitik. Somit haben die Empfehlungen des Consensus für die konkrete 38

Ebd., S.U.

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Politikgestaltung zwar nur eine begrenzte Reichweite, aber sind deswegen natürlich nicht irrelevant oder gar falsch. Empirische Untersuchungen begründen und belegen zur Genüge, dass in der langen Frist die wirtschaftspolitische und institutionelle Moderae, wie sie im erweiterten Washington Consensus zum Ausdruck kommt, die Entwicklung Lateinamerikas voranbringen wird. Auf Länderebene werden weitere Reformschritte in Richtung dieser Moderne unterschiedlich ausfallen, so wie schon heute Politikinstrumente und Institutionen von Land zu Land variieren - in Entwicklungsländern ebenso wie in Industrieländern. Während man auf der funktionellen Ebene von einer Moderne auszugehen hat, die universelle Gültigkeit besitzt, darf man in der Form durchaus von multiplen Modernen sprechen, die sich schon herausgebildet haben und sich noch weiter ausdifferenzieren werden. Funktional betrachtet ist jedoch eine Konvergenz von Reformprozessen zu erwarten beziehungsweise zu empfehlen, deren Fixpunkte mit dem erweiterten Washington Consensus vorgezeichnet sind.

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Rolf Kappel

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David Gugerli

APERÇU: DIE TEUFELCHEN VON CHALCO ODER DAS GÖTTLICHE LICHT DES PRÄSIDENTEN Zu Beginn der Präsidentschaft von Carlos Salinas de Gortari bin ich im Sommer 1989 auf dem Weg in die mexikanische Volkswagenstadt Puebla an der ciudad perdida de Chalco vorbeigekommen. Von diesem Slum der mexikanischen Megalopolis blieb mir bis heute neben dem Gestank der Abfallhalden vor allem die fantastische Szenerie elektrischer Verkabelungen in Erinnerung. Susi Lindig, die Fotografin, hat es festgehalten: Ein wahrhaftes Chaos von Drähten, Leitungen und überkreuzten Verbindungen wand sich der Schnellstrasse entlang. Unzählige Fläschchen, kleine Schachteln und Plastiksäcke schienen sich in diesem Leitungsgewirr verfangen zu haben. Dem Reisenden bietet sich vieles zur schnellen Deutung an, die ihn in die Irre führt. So auch hier: Dies seien keine vom Wind in die Drähte verwehten Abfalle, wurde mir bedeutet, sondern vielmehr Orientierungsmarken, welche den Weg jeder Leitung mitten aus dem Spinnennetz heraus zum nächsten Anschlusspunkt der staatlichen Elektrizitätswerke angeben würden. Das Leitungsgewirr stand für vieles gleichzeitig: Es war Ausdruck einer moral economy, Zeuge einer populären Elektrifizierungsform, sichtbarer Beweis für illegale Ansiedelung, Konsequenz stadtplanerischer Überforderung, infrastrukturelle Manifestation von sozialen Gegensätzen, relativer Rückständigkeit und mangelnder Modernisierung. Die Bewohner Chalcos nannten solche Verbindungen „Teufelchen". Das zärtliche Diminutiv „diablitos" ist auch als Euphemismus zu verstehen und entsprach auf technischer Ebene dem, was im politischen System Mexikos die „mordidas", also die euphemistisch als kleine Bisse bezeichneten Bestechungszahlungen waren. Für den Zugang zur Elektrizität stellten „diablitos" und „mordidas" recht eigentlich funktionale Äquivalente dar. Denn entweder erhielt man den Strom, indem man jemand bestach, oder man versorgte sich damit, indem man sein Haus auf eigene Rechnung irgendwo anschloss - mit einem kleinen Teufelchen zum Beispiel. Die „diablitos" haben darüber hinaus aber auch eine hochsymbolische Bedeutung: Die Leute, die ohne Elektrizität leben müssen, das Volk, das im Dunkeln wandelt, würde zu elektrischem Licht niemals so kommen, wie es Jesaja prophezeit hatte. In lateinamerikanischen Kontexten jedenfalls können solches höchstens infernalische Kräfte be-

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Foto Susi Lindig

David Gugerli

Die Teufelchen von Chalco

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werkstelligen. So kam es, dass Luzifer, der Lichtträger, das elektrische Licht mit seinen diabolischen Gehilfen nach Chalco trug und dabei die Netzladung der staatlichen Elektrizitätswerke durcheinander brachte. Auch mich hatten die „diablitos" verwirrt, so dass ich diese Elektrifizierungsform nach meiner Rückkehr aus Puebla näher untersuchen wollte. Für einen an geordnete Archive und klimatisierte Bibliotheken gewohnten Historiker war dies schon von den äußeren Bedingungen her eine harte Übung. Zudem erhielt ich in meinen Interviews Antworten, die sich nur schwer klassifizieren ließen. Meine Fragen nach Elektrizitätsbedarf, Technikperzeption, Formen der Stromverteilung und Funktionsweise der „diablitos" wurden mit Antworten versehen, die mehr aussagten über das tägliche Leben in Chalco, als mir lieb war. So erzählte man mir - im Schein einer flackernden Glühbirne - von der Wiederverwertung alter Schuhe, von sozialer Unsicherheit und Armut, von gestohlenen Fahrrädern und von Mord und Totschlag in allen Varianten. Der Schuhmacher, der mich auf einem Bein und zwei Krücken durch das Labyrinth seiner Stadt führte, hieß Don Arturo. Er erzählte mir vom Versprechen des Präsidenten, als dieser noch Kandidat für sein Amt gewesen sei. „Ich werde Chalco Licht bringen, um die ciudad perdida zu beleuchten und zu modernisieren", habe Salinas erklärt. Und die Einwohner Chalcos hätten dem selbsternannten Lichtträger Glauben und Stimme geschenkt. Wenige Monate nach dem ersten Gespräch mit Don Arturo fuhr ich wieder nach Chalco, um mir die Fortschritte der Elektrifizierungsarbeiten anzusehen. Beinahe hätte ich den Schuhmacher nicht mehr gefunden. Was mir die Orientierung nahm, war das Fehlen der „diablitos". Man hatte sie durch reguläre Leitungen ersetzt, und ich wusste deshalb nicht, wo ich von der Schnellstrasse abzuweichen hatte. Chalco war verwandelt. Als ich dann Don Arturo doch noch gefunden hatte, erklärte mir dieser mit einem Leuchten in den Augen: „Ya tenemos luz, gracias a Dios y al Presidente." („Nun haben wir Licht, Gott und dem Präsidenten sei Dank."). Die Vertreibung der Teufelchen bedeutete einen drastischen Wandel für die Bewohner Chalcos. Die sichtbare Unordnung der Verkabelung hatte einem neuen soziotechnischen Regime der Beleuchtung weichen müssen. So verschwanden zum Beispiel mit den „diablitos" auch jene lokalen Potentaten, die die Stromversorgung Chalcos bislang kontrolliert hatten. Ihr nicht selten existentieller Kampf um Anschlusspunkte und Kunden war plötzlich ohne Gegenstand geblieben. Was sie ersetzte, war jedoch keineswegs die moderne Klarheit und Transparenz des system-building. Vielmehr hatten sich in nur wenigen Monaten neue, hochkomplexe Beziehungen zwischen Stromversorgung, Legalisierung von Grundbesitz, Stimmenkauf, Wahlbetrug, Kreditvergabe durch die Staatspartei für die Bezahlung von Grundstücksteuern und elektrischen Anschlüssen

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ergeben. „Ya tenemos luz, gracias a Dios y al Presidente." Die „diablitos" fielen der Geschichte anheim, und es blieben zwei bedeutendere Mächte im Spiel: die Göttliche und die des Präsidenten. Das Elektrifizierungsprojekt in Chalco hat die ciudad perdida nicht zur Elektropolis machen können. Die Ordnung der Dinge und den Alltag im Slum hat es dennoch verändert. Die Strassen wurden beleuchtet, einige Glühbirnen in den Häusern angeschlossen. Die Wohlhabenderen unter den Armen konnten sich nun an die Unterhaltungs- und Propagandamaschinerien des staatlich kontrollierten Fernsehens anschließen, sie kauften gekühlte Getränke und saßen unter einem Ventilator. Vieles zeitigte seine Wirkung auch einfach auf der Ebene politischer Orientierungen, so die gleichzeitige Verehrung von präsidialer und göttlicher Macht im Bericht von Don Arturo. Dennoch war die Elektrifizierung Chalcos Teil einer weiterführenden wirtschaftspolitischen Strategie. Die mexikanische Regierung hatte damals eben damit begonnen, das Land (wenigstens auf dem Papier) so zu modernisieren, dass es kurze Zeit später in die OECD und damit (ebenfalls auf dem Papier) in die Erste Welt aufgenommen werden konnte. Dass die Rechnung vor allem für den Präsidenten aufging, ist heute kein Staatsgeheimnis mehr.

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Jean-François Bergier, Dr. phil., em. Professor flir Geschichte, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Schweiz Walther L. Bemecker, Dr. phil., Professor für Auslands Wissenschaft (Romanischsprachige Kulturen), Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Bundesrepublik Deutschland Monica Budowski, Dr. phil., Professorin für Sozialarbeit und Sozialpolitik, Universität Freiburg, Schweiz Peter Feldbauer, Dr. phil., Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien, Österreich Peter Fleer, Dr. phil., Historiker, Bern, Schweiz Michel Gobat, Dr. phil., Assistant Professor, Department of History, University of Iowa, USA David Gugerli, Dr. phil., Professor für Technikgeschichte, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Schweiz Rolf Kappel, Dr. oec., Professor für Probleme der Entwicklungsländer, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Schweiz Friedrich Katz, Dr. phil., Morton D. Hull Distinguished Service Professor Emeritus of Latin American History, University of Chicago, USA Manfred Mols, Dr. phil., em. Professor für Politikwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Bundesrepublik Deutschland Christof Parnreiter, Dr. phil., Professor für Wirtschaftsgeographie, Universität Hamburg, Bundesrepublik Deutschland Horst Pietschmann, Dr. phil., em. Professor für Geschichte Lateinamerikas, Universität Hamburg, Bundesrepublik Deutschland Barbara Potthast, Dr. phil., Professorin für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Universität zu Köln, Bundesrepublik Deutschland Stephan Scheuzger, Dr. phil., Oberassistent am Institut für Geschichte, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Schweiz Christian Suter, Dr. phil., Professeur de Sociologie, Université de Neuchâtel, Schweiz

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Autorinnen und Autoren

Peter Waldmann, Dr. phil., em. Professor ftir Soziologie, Universität Augsburg, Bundesrepublik Deutschland Béatrice Ziegler, Dr. phil., Privatdozentin, Historisches Seminar, Universität Zürich, Schweiz