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German Pages 516 Year 2023
Alexander Sigl
www.narr.de
Die Modellierung epikureischer personae
Der Epikureismus gehört zweifellos zu einer der umstrittensten Philosophenschulen in der Antike. Seine Lebensmaximen, die sich um Begriffe wie „Lust“, „Seelenruhe“ und ein „Leben im Verborgenen“ drehen, wurden schon in der antiken Literatur ganz unterschiedlich rezipiert und oftmals sehr kritisch beurteilt. Eine zentrale Gestaltungstechnik, die bei der Rezeption epikureischen Gedankenguts bisher noch nicht systematisch untersucht wurde, stellt die autorenspezifische Inszenierung entsprechender Figuren in der römischen Literatur dar. Neben den philosophischen Dialogen Ciceros bildet die römische Dichtung im 1. Jhd. v. Chr. und im 1. Jhd. n. Chr. mit einer thematisch geordneten Textauswahl von Vergil, Horaz, Silius Italicus und Statius den Schwerpunkt dieser Arbeit. Sie richtet sich an Interessierte und Kenner:innen der antiken Literatur und Philosophie.
ISBN 978-3-8233-8503-5
Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur
von Alexander Sigl
Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur
CLASSICA MONACENSIA CLASSICA Münchener Münchener Studien Studien zur Klassischen Philologie Herausgegeben von Martin Herausgegegeben von MartinHose Hoseund und Claudia Wiener Wiener 57 · 2023 Band 53 2018
Alexander Sigl
Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur
Umschlagabbildung: Marmorsphinx als Basis. Neapel, Museo Nazionale, Inv. 6882. Guida Ruesch 1789. H: 91 cm INR 67. 23. 57. Su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e del Turismo – Museo Archeologico Nazionale di Napoli. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Diss. Ludwig-Maximilians-Universität 2020 DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395034 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: [email protected] CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-4274 ISBN 978-3-8233-8503-5 (Print) ISBN 978-3-8233-9503-4 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0316-9 (ePub)
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1
Thematische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Problemstellung und Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13 19 23
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Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur . 37 2.1 Zur Tradition der Rezeption philosophischen Gedankenguts in der griechischen Dichtung vor Epikur . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2 Epikureer in der Neuen Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.2.1 Zur Rolle der (epikureischen) Philosophie bei Menander 39 2.2.2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in den Komödienfragmenten bei Athenaios . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.3.1 Zur Rolle der Philosophie für die plautinische Figurenmodellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.3.2 Fazit und Ausblick auf Terenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.4.1 Epikureisch ‚gefärbtes‘ Gedankengut in den Tragödien des Ennius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.4.2 Epikureisch ‚gefärbtes‘ Gedankengut in den Tragödien des Pacuvius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2.5 Fazit zur Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ Figuren in der vor- und frührömischen Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
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Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.1 Die simulata tristitia versutaque des L. Calpurnius Piso im Werk Ciceros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3.1.1 Piso als belua immanis in Post reditum in senatu . . . . . . 115 3.1.2 Pisos enttarnte obstructio in Pro Sestio . . . . . . . . . . . . . . 126 3.1.3 Piso als adulescens non acriter intellegens in In Pisonem 140 3.1.4 Fazit zur Bedeutung des Epikureismus für das Gesamtbild des ciceronischen Piso . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.2 Eruditio und Scheitern des L. Manlius Torquatus in De finibus bonorum et malorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.2.1 Torquatus als homo omni doctrina eruditus in Buch I . . 156 3.2.2 Torquatus und die dialecticae captiones in Buch II . . . . 161 3.2.3 Die voluptas convicta in Buch III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3.2.4 Vergleichendes Fazit zu Ciceros Umgang mit Piso und Torquatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.3.1 Odysseus als utile exemplar in Hor. epist. 1, 2 . . . . . . . . 174 3.3.2 Das Prinzip des nil admirari in Hor. epist. 1, 6 . . . . . . . 178 3.3.3 Die multo corrupta dolore voluptas in Hor. sat. 1, 2 . . . . 183 3.3.4 Ofellus und die voluptas summa in Hor. sat. 2, 2 . . . . . . 192 3.3.5 Die gaudia vana und der demptus mentis gratissimus error im zweiten Epistel-Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3.4 Der autorenspezifische Umgang mit der voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 3.4.1 Zur Gestaltung und Funktion von voluptas und virtus als kontrastive Begriffskonzepte und Handlungsprinzipien bei Silius Italicus . . . . . . . . . . . . . 206 3.4.2 Zur weiteren Motivtradition der ‚Scheidewegsszene‘ in der antiken Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3.4.3 Zwischenfazit über die literaturgeschichtliche Verwandlung von der zur Voluptas . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3.5 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit dem voluptas-Begriff in den behandelten Werken . . . . . . . . . . . . . . 241
Inhalt
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Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 4.1.1 Die übersteigerte fides des Velleius in Buch I . . . . . . . . 249 4.1.2 Das Eingeständnis der rhetorischen Niederlage in Buch II und III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 4.2.1 Epikureisch ‚gefärbte‘ Göttervorstellungen bei Horaz . 269 4.2.2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Todesszenarien bei Horaz . . . . . 306 4.2.3 Ergebnisse über die Gestaltung und Funktion theologischer und thanatologischer Aspekte im Werk des Horaz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge . . . 343 4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius . . . . . 358 4.5 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit epikureisch ‚gefärbten‘ Götter- und Todesvorstellungen im Kontext römischer Figurenmodellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
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Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία im Kontext römischer Figurenmodellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens in Vergils Bucolica und Georgica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Die Kontrastierung von Tityrus und Meliboeus in der ersten Ekloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Der fortunatus (agricola) im zweiten und der Corycius senex im vierten Buch der Georgica . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Fazit zu den epikureisch ‚gefärbten‘ Figuren in Vergils Bucolica und Georgica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des Horaz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Lateinische Übertragungen des λάθε βιώσας in Hor. epist. 1, 17 und 1, 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Kontrastierung von Stadt- und Landleben in Hor. sat. 2, 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Die Relativierung des Stadt-Land-Kontrastes in Hor. epist. 1, 10 und 1, 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
375 381 383 392 401 402 403 411 413
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5.2.4 Die fabella des Volteius Mena in Hor. epist. 1, 7 . . . . . . 418 5.2.5 Fazit über die differenzierende Ausdeutung des epikureischen λάθε βιώσας bei Horaz . . . . . . . . . . . . . . 425 Das epikureische Lebensideal in den Silven des Statius . . . . . . 426 5.3.1 Die villa Tiburtina des Manilius Vopiscus in silv. 1, 3 . . 427 5.3.2 Die villa Surrentina des Pollius Felix in silv. 2, 2 . . . . . . 432 5.3.3 Fazit über die Rezeption des epikureischen Lebensideals in den Silven des Statius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit den epikureischen Lebensprinzipien λάθε βιώσας und ἀταραξία im Kontext römischer Figurenmodellierung . . . . . . . . . . . . . . . 443
Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata . . 6.1 Allgemeine Darstellung und Beurteilung der Philosophen im Werk Lukians . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Das Duell Kepos vs. Stoa in Lukians satirischen Dialogen . . . 6.2.1 Der Streit zwischen Hermon und Zenothemis im Symposium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Das rhetorische Duell zwischen Damis und Timokles im Iuppiter tragoedus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Epikur als advocatus voluptatis im Bis accusatus . . . . . . 6.3 Fazit über die Inszenierung und Funktionalisierung epikureischer Figuren im Werk Lukians . . . . . . . . . . . . . . . . . .
445 445 447 447 451 454 458
Auswertung der Einzelergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritische Texteditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentare und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
473 473 476 479
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
Meinen geliebten Eltern Ὁ γενναῖος περὶ σοφίαν καὶ φιλίαν μάλιστα γίγνεται, ὧν τὸ μέν ἐστι θνητὸν ἀγαθόν, τὸ δέ ἀθάνατον. (Epik. sent. Vat. 78)
Vorwort Die vorliegende Monographie ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2020 an der Ludwig-Maximilians-Univer‐ sität eingereicht wurde. Nachfolgende Forschungsliteratur wurde daher nicht mehr berücksichtigt. Das individuell gewählte Forschungsprojekt wurde im Herbst 2016 begonnen und profitierte nicht nur von eigenen Recherchen in Münchens reicher Bibliothekenlandschaft, sondern in erster Linie von wert‐ vollen Anregungen in zahlreichen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, sei es im Rahmen von abteilungsinternen Forschungsseminaren, von nationalen und internationalen Kongressen oder auch von zufälligen Begegnungen im Flur oder Treppenhaus. Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die früheren Philologus-Mitarbeiterinnen Prof. Dr. Lisa Cordes und Dr. Janja Soldo sowie meine ehemaligen (Büro-)Kollegen Dr. Tobias Uhle, Christoph Mayr und Dr. Johannes Singer. Von den externen Gelehrten, die mich in persönlichen Gesprächen immer wieder inspiriert haben, gilt mein Dank vor allem Prof. Dr. Yasmina Benferhat, die mich darüber hinaus großzügig mit Forschungsmaterial versorgt hat, sowie Prof. Dr. Michael Erler, Prof. Dr. Christian Tornau, Prof. Dr. Katharina Wesselmann, Prof. Dr. Thorsten Burkard und Prof. Dr. Gernot Michael Müller. Mein größter Dank gebührt zweifellos meiner Doktormutter Prof. Dr. Claudia Wiener, die mich in meinem Promotionsvorhaben zu jeder Zeit fachlich und persönlich gefördert und mir auch in schwierigen Zeiten Mut zugesprochen hat. Schon während meines Studiums hat sie mich mit ihrem leidenschaftlichen Engagement für Lehre und Forschung begeistert und mein Interesse an Vergil und nachvergilischer Epik geweckt. Prof. Dr. Therese Fuhrer möchte ich nicht nur für die Erstellung des Zweit‐ gutachtens danken, sondern auch für die förderliche Zusammenarbeit während meiner einjährigen Zeit in der Redaktion des Philologus und für die mehrfache Gelegenheit, Teile meiner Arbeit vor Fachpublikum zu präsentieren und zu diskutieren. Prof. Dr. Christof Schuler hat mich bereits im Rahmen des Promotionapro‐ gramms Altertumswissenschaften (PAW) am Münchener Zentrum für Antike Welten (MZAW) mit regelmäßigen Anregungen begleitet und in meiner Dispu‐ tatio dankenswerterweise die Rolle des Drittprüfers übernommen. Das Promotionsprojekt hat nachhaltig davon profitiert, dass ich meine Ideen und Ergebnisse im Rahmen des genannten Programms am MZAW
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Vorwort
mit Vertreterinnen und Vertretern anderer altertumswissenschaftlicher Diszi‐ plinen diskutieren und vertiefen konnte. Dabei bin ich insbesondere Prof. Dr. Elke-Stein-Hölkeskamp und Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl, die im Jahr 2016/2017 bzw. 2018/2019 als Gastprofessorin bzw. Gastprofessor am MZAW fungierten, zu großem Dank verpflichtet. Darüber hinaus möchte ich mich auch für die langjährige Beschäftigung als zunächst studentische und später wissenschaftliche Hilfskraft an der Mün‐ chener Zweigstelle der Année Philologique bedanken, da mir diese Tätigkeit einen direkten Zugang zu aktueller Fachliteratur in all ihren Teildisziplinen eröffnet und das breite Spektrum möglicher Forschungsschwerpunkte nahege‐ bracht hat. Hierbei gilt mein Dank vor allem Prof. Dr. Martin Hose als Leiter der Münchener Arbeitsstelle, Dr. Christina Abenstein als wissenschaftlicher Mitar‐ beiterin und langjähriger Kollegin sowie dem unvergessenen Dr. Maximilian Braun, der mich zu Beginn meines Studiums für die bibliographische Arbeit bei der Année Philologique begeistern konnte. Die Studienstiftung des deutschen Volkes e. V. hat mich während der Promo‐ tion finanziell und ideell sehr großzügig gefördert und mir bei der Abfassung meiner Dissertation einige Freiräume für Forschung und Austausch ermöglicht. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Für die Betreuung von Seiten des Verlags danke ich zudem Tillmann Bub und Arkin Keskin. Schließlich gebührt mein tiefster Dank meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden, die mich während meiner gesamten Promotion und vor allem in der abschließenden Schreibphase unterstützt haben. Gewidmet sei das vor‐ liegende Buch meinen Eltern, auf die ich immer zählen kann und denen ich alles zu verdanken habe. München, im April 2023
Alexander Sigl
1 Thematische Einführung 1.1 Problemstellung und Ziel der Arbeit Sind Vertreter des Epikureismus als eine delicata et umbratica turba in convivio suo philosophantium (Sen. benef. 4, 2) oder vielmehr als terroribus ab Epicuro soluti et in libertatem vindicati (Cic. nat. deor. 1, 56) anzusehen? Bis heute hält sich das gegensätzliche Bild, das die römischen Schriftsteller zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und der christlich-konstantinischen Ära von der hellenistischen Schule des Kepos1 entworfen haben. Auch wenn der römischen Epikur-Rezeption in der Forschung großes Interesse entgegengebracht wird, scheinen längst noch nicht alle relevanten Autoren auf epikureisches Gedan‐ kengut und dessen kontextuelle Funktionalisierung im jeweiligen Fall einge‐ hend untersucht worden zu sein. Die vorliegende Arbeit hat daher zum Ziel, nicht nur die bekannten philo‐ sophischen Schriftsteller von der ausgehenden römischen Republik bis zum Ende der frühen Kaiserzeit in den Blick zu nehmen, sondern sich auch mit den mutmaßlichen Anfängen der Epikur-Rezeption im römischen Drama aus‐ einanderzusetzen; insgesamt liegt der Schwerpunkt jedoch auf der spätrepubli‐ kanischen und frühkaiserzeitlichen Dichtung. Die Fokussierung der römischen Dichtung in den genannten Epochen erfolgt vor allem aus vier Gründen: Erstens bildet die Dichtung in der Frühzeit der römischen Literatur den Hauptbestand der erhaltenen Texte und hat somit einen hohen Stellenwert bei der ersten Rezeption philosophischen Gedankenguts in der römischen Literatur. Zweitens ist auch das bedeutendste Werk, das den Epikureismus in lateinischer Sprache thematisiert, die sechs Bücher De rerum natura von Lukrez, als (Lehr-)Dichtung abgefasst. Drittens sind – mit Ausnahme von Vergil und Horaz – Texte der rö‐ mischen Dichtung bisher nur am Rande bzw. vereinzelt auf ihre philosophische 1
Die philosophische Dimension des Gartens geht nach Plutarch auf das vierte vorchrist‐ liche Jahrhundert zurück, an dessen Ende auch die Schule des epikureischen Gartens ins Leben gerufen wurde; siehe dazu Grimal (31984) 71f.: „A vrai dire, c’est à Cimon que remonte, selon Plutarque, la plantation de platanes sur l’agora d’Athènes et l’aménagement de l’Académie [Plut. Cimon, 13, 7 (487 c)], mais c’est avec Platon et ses successeurs que ce ‚jardin public‘ devint le jardin par excellence de la philosophie, et que l’on vit se multiplier à Athènes ce que l’on pourrait appeler les parcs d’enseignement. Chaque école avait le sien : pour les Péripatéticiens, le Lycée et, à l’intérieur même de la ville, le fameux jardin d’Épicure […]“.
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1 Thematische Einführung
Dimension untersucht worden.2 Viertens legen gerade die zahlreichen Studien zum philosophischen Gehalt von Vergil- und Horaz-Texten nahe, dass in diesem Zeitraum und auch im folgenden Jahrhundert, in dem beide Dichter einen unübersehbar großen Einfluss auf die römische Dichtung hatten, entsprechende Untersuchungen durchaus erfolgsversprechend sein dürften. Für die Zusammenstellung eines geeigneten Textcorpus war jeweils die in den Texten feststellbare oder bereits nachgewiesene, zum Teil auch die – insbeson‐ dere auf der Basis philologischer Kommentare – zu erwartende philosophische Dimension von Figurencharakterisierungen und -äußerungen ein entscheidendes Kriterium. Frequenz und Ausmaß der Einbeziehung epikureischer Inhalte in der Modellierung entsprechender Figuren waren anschließend für die Auswahl der Texte entscheidend. Zum zentralen Corpus dieser Studie zählen daher neben den bereits genannten Texten bzw. Autoren einzelne Werke und Textpassagen aus der griechischen (Menander, Damoxenos, Baton, Antiphanes, Hegesipp) und römischen Komödie (Plautus, Terenz) sowie aus der römischen Tragödie (Ennius, Pacivius), Ciceros Reden Post reditum in senatu, Pro Sestio und In Pisonem und seine philosophischen Dialoge De finibus bonorum et malorum und De natura deorum sowie ausgewählte Texte von Silius Italicus und Statius, die bezüglich ihrer autorenspezifischen Verarbeitung von epikureischem Gedankengut analysiert werden: Was wirkt in den Werken dieser Autoren epikureisch und auf welche Weise tut es das? Wird dabei der Kepos-Eindruck verstärkt? Oder kommt es stattdessen zu einer innovativen Neukontextualisierung von Lehrinhalten und Denkmodellen, die typischerweise den Anhängern Epikurs zugeschrieben werden? Welche Funktion erfüllt die Rezeption epikureischen Gedankenguts und im Speziellen die prosopographische Darstellung literarischer Figuren, die mit einem color Epicureus 3 versehen sind, für das jeweilige Werk? Anhand der gestellten Leitfragen sollen also Erklärungen für das kontrast‐ reiche Darstellungsbild der Epikureer4 gefunden werden, wie es sich beispiels‐ weise auch aus der Gegenüberstellung von Ciceros Velleius aus dem ersten
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Siehe dazu v. a. Kapitel 1.2. Der Begriff des color Epicureus bzw. der epikureischen ‚Färbung‘ wird in Kapitel 1.3. näher ausgeführt. Relativ aktuelle Einführungen zu Epikur finden sich u.a bei Guttzeit, „Epikur“; in: Peter von Möllendorff/Annette Simonis/Linda Simonis (Hrsg.), Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 8), Stuttgart/Weimar 2013, Sp. 413–424; Goulet, „Épicure de Samos“; in: Dictionn‐ aire des philosophes antiques 3 (2000) 154–181; Erler, „Epikur“; in: Friedo Ricken (Hrsg.), Philosophen der Antike, Stuttgart/Berlin (u. a.) 1996, 40–60; einen ausführlichen und immer noch nützlichen Überblick bieten ferner Hossenfelder (32006) passim; Erler (1994) 29–202.
1.1 Problemstellung und Ziel der Arbeit
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Buch von De natura deorum, einer überwiegend unsympathisch wirkenden Epikureerfigur,5 und dem Selbstbild der horazischen Sprecher-persona ergibt, welche sich bekanntermaßen als Epicuri de grege porcu[s] (Hor. epist. 1, 4, 16) bezeichnet, ohne sich jedoch selbst als einen orthodox-dogmatischen Vertreter dieser philosophischen Schule zu beschreiben.6 Während Cicero mit Velleius einen geradezu aggressiv wirkenden Dialogteilnehmer darstellt, der sich der epikureischen Lehre völlig verschrieben hat und sich energisch für deren Anerkennung und Übernahme durch andere einsetzt, indem er die Ansichten der anderen Schulen zu widerlegen versucht, stößt man bei Horaz (u. a. in den Saturae) auf einen ‚spielerischen‘ und gleichsam ‚irenischen‘ Umgang mit Kepos und Stoa, der eine strikte Zuordnung des Dichters zu einer dieser beiden miteinander vielfach konkurrierenden Denkschulen nicht zulässt. Vielmehr erkennt man gerade am Beispiel des Horaz, wie in der römischen Dichtung Orthodoxie und Dogmatismus immer mehr der Bedeutung von Philosophie als ars vitae, also als Lebenshilfe in den unruhigen Zeiten des Bürgerkrieges und in der römischen Kaiserzeit, weichen. Neben der Frage, wie es zu einem so facettenreichen Epikureer-Bild kommt und welche Motive der jeweilige Autor dabei verfolgt, müssen folglich auch politisch und zeitge‐ schichtlich bedingte Veränderungen in der römischen (Bildungs-)Gesellschaft berücksichtigt werden, die für den literarischen Umgang mit epikureischem Gedankengut eine erhebliche Rolle spielen können.7
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Dieser Eindruck einer größtenteils ‚negativen‘ Präsentation wird in der Regel auf Ciceros starke Ablehnung der epikureischen Lehre zurückgeführt, was unter anderem eben jener Velleius sowie der in De finibus bonorum et malorum auftretende Torquatus als bekannteste literarische exempla nahelegen. So weigert sich beispielsweise Kimmich (1993) 42, Horaz trotz erkennbarer Parallelen zum epikureischen Lebensstil „als ein[en] dogmatische[n] Epikureer“ zu bezeichnen. Sogar aus seinem eigenen Werk wird ersichtlich, dass Horaz keinem starren Dogma‐ tismus folgt (vgl. Hor. carm. 1, 34). In ähnlicher Weise äußert sich Timpe (2000) 55: „Aber im gleichen Maße wie die epikureische Färbung der Lebensanschauungen zunahm, schwand ihre dogmatische Grundlage. Man konnte wohl schließlich die Seelenruhe preisen oder carpe diem! sagen, ohne dem Unterschied zwischen kinetischer und katastematischer ἡδονή besonderes Interesse abzugewinnen. Ich möchte meinen, dass damit das Entscheidende zur Frage des Epikureismus bei Vergil, Horaz, Varius Rufus und anderen gesagt ist“. Im Übrigen ist es sehr erstaunlich, dass es wohl gerade in den letzten Jahren der römischen Republik zahlreiche Epikureer gab, die in Rom politisch tätig waren, wie Benferhat (2005) 233–310 am Ende ihrer Arbeit über historische Persönlichkeiten des römischen Epikureismus und ihr Verhältnis zu politischer Macht darlegt (z. B. Cassius, Piso, Pansa, Hirtius); siehe dazu auch Malitz (2012) 101 f.; Vesperini (2012) 251 f.; Sedley (2009) 44 f.; Timpe (2000) 55; Ferguson (1990) 2262; Fussl, „Epikureismus im Umkreis Caesars“;
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1 Thematische Einführung
Mit dem Beispiel von Cicero und Horaz ist eine Diskrepanz im Umgang mit der epikureischen Lehre und ihren Vertretern bereits angedeutet, die in dieser Arbeit für einen Zeitraum in den Blick genommen wird, der sich insgesamt vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. erstreckt und damit die Blütezeit des römischen Epikureismus abdeckt.8 Gerade der Beginn des römischen Epikureismus ist durchaus problematisch zu sehen, da historische Erkenntnisse über die ersten epikureischen Philosophen in Rom relativ vage sind und noch keine zuverlässigen Rückschlüsse auf erste Spuren epikureischen Gedankenguts in der römischen Literatur zulassen:9 Cicero nennt zwar C. Amafinius als Archegeten des römischen Epikureismus,10 doch im Allgemeinen gilt T. Albucius, der als Redner in Rom am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. wirkte, als erster bekannter Epikureer im Imperium Romanum.11 Ob‐ wohl die Epikureer an der berühmten griechischen Philosophengesandtschaft nach Rom 155 v. Chr. nicht beteiligt waren, gibt es bereits Hinweise auf die Vertreibung der Epikureer Alkios und Philiskos aus Rom, die sich wohl einige Jahre zuvor zugetragen haben soll.12 Jedenfalls bleiben die tatsächlichen Anfänge des römischen Epikureismus weiterhin im Dunkeln. Mögliche Spuren
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in: Joachim Dalfen/Kart Forstner/Maximilian Fussl/Wolfgang Speyer (Hrsg.), Symmicta philologica Salisburgensia Georgio Pfligersdorffer sexagenario oblata, Rom 1980, 61–80. Einen ausführlichen Überblick über den Epikureismus in der späten Republik und in der römischen Kaiserzeit bieten u. a. Malitz (2012) 93–115; Vesperini (2012) 249–319; Erler (2012a) 77–92; Sedley (2009) 29–45 bzw. Erler (2009) 46–64; Haltenhoff (2003) 219–244; Timpe (2000) 42–63; Kimmich (1993) 36–53; Ferguson (1990) 2260–2285; Grimal (1969a) 139–168; siehe ferner dazu Albrecht (2009) 23–45. Vgl. dazu Timpe (2000) 53f. Vgl. Cic. Tusc. 4, 6 f.; fam. 15, 19, 2; ac. 1, 2; siehe dazu u. a. Malitz (2012) 97–100; Benferhat (2005) 60–64; Castner (21991) 7–11; Garbarino (1973) 462–470. Vgl. Cic. Brut. 35; 102; 103; fin. 1, 8 f.; vgl. ferner auch Cic. prov. 15 f.; Pis. 92; orat. 149 f.; nat. deor. 1, 93; Cic. Tusc. 5, 108 ; siehe dazu u. a. Vesperini (2012) 252–258; Castner (21991) 1–6; Ferguson (1990) 2262; Grimal (1969a) 143f. Während Vesperini (2012) 249 und Benferhat (2005) 59 f. weiterhin klar machen, dass eine genaue Datierung dieser Vertreibung unsicher ist und dafür entweder das Jahr 173 oder 154 v. Chr. infrage kommen, will Dutsch (2014) 1 die Vertreibung von Alkios und Philiskos im Jahr 173 v. Chr. und zudem eine zweite Epikureer-Vertreibung mit unbe‐ kannten Beteiligten im Jahr 161 v. Chr. glaubhaft machen; Ferguson (1990) 2261 f. datiert die Alkios-Philiskos-Episode dagegen auf das Jahr 161 v. Chr.; Ferrary, Philhellénisme et impérialisme. Aspects idéologiques de la conquête romaine du monde hellénistique, de la seconde guerre de Macédoine à la guerre contre Mithridate, Paris 1988, 354–356 spricht sich für eine Datierung auf das Jahr 157 v. Chr. aus; Sedley (2009) 30 setzt die Vertreibung von Alkios und Philiskos sogar erst nach der Philosophengesandtschaft von 155 v. Chr. an; siehe dazu ferner Morford (2002) 14–33.
1.1 Problemstellung und Ziel der Arbeit
17
epikureischen Gedankenguts in der frühesten römischen Literatur scheinen daher nicht kategorisch ausgeschlossen.13 Neben dieser zeitlichen Problematik stellt sich auch die Frage nach einer Konkretisierung des Untersuchungsgegenstands, der bislang recht allgemein als Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Literatur bezeichnet wurde. Im Unterschied zu einem rein philosophiegeschichtlichen Interesse an epikureischen Inhalten soll hier der Schwerpunkt nicht nur auf der Identifizie‐ rung und Analyse epikureischen Gedankenguts in der römischen Literatur liegen, sondern vor allem auch auf der Figurenmodellierung, genauer gesagt auf der Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ personae in einem ausgewählten Corpus, das hauptsächlich Texte der römischen Dichtung enthält. Der Begriff persona, der das lateinische Pendant zum griechischen Begriff πρόσωπον bildet, entstammt der antiken Theatersprache („Schauspielmaske“; „Rolle“) und hat durch den Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung (1875–1961) sogar Eingang in die moderene Tiefenpsychologie gefunden.14 Von maßgebli‐ cher Bedeutung für das antike Verständnis dieses Ausdrucks ist Ciceros (stoisch geprägte) personae-Theorie, die er Buch I von De officiis im Rahmen seiner Ausführungen über die temperantia bzw. modestia präsentiert, für die das decorum eine große Bedeutung hat.15 Dort werden vier Arten von personae unterschieden:16 die allen Menschen gemeinsame und durch die menschliche ratio bestimmte persona, die von der individuellen Natur des Menschen geprägte persona (Cic. off. 1, 107–114), die durch casus und tempus bedingte persona sowie die selbst zugewiesene und damit durch die eigene voluntas bestimmte persona (Cic. off. 1, 115–121). Es ist naheliegend, dass für die hier im Zentrum stehende philosophische Dimension von literarischen Figuren insbesondere die beiden letztgenannten persona-Konzepte im Fokus stehen, doch auch die übrigen per‐ sonae kommen je nach Text und Autor bei der Modellierung literarischer Figuren in unterschiedlicher Weise zur Geltung. In diesem Forschungsprojekt wird der
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Vgl. dazu u. a. Benferhat (2005) 58 f.; Grimal (1969a) 141–143; Dutsch (2014) 1–25 legt den Fokus ihrer Studie über Philosophie in der römischen Literatur vor 155 v. Chr. auf Ennius und Plautus. In der Tiefenpsychologie wird die persona ebenfalls als eine Art ‚Maske‘ eines Indi‐ viduums verstanden, die das Produkt seiner sozialen Selbstanpassung ist, um den Ansprüchen und Vorstellungen einer sozialen Gruppe zu genügen; eine nähere Analyse der persona im psychologischen Verständnis findet sich bei Jung, Psychologische Typen (= Gesammelte Werke 6), Olten 111971. Zur Interpretation von Ciceros persona(e)-Theorie siehe zuletzt v. a. Machek (2016) 163–191; Faure-Ribreau (2011) 126–169; Lefèvre (2001) 57–65; ferner bereits Gill (1988) 169–199 und DeLacy (1977) 163–172. Vgl. Cic. off. 1, 107–121.
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1 Thematische Einführung
persona-Begriff jedenfalls auf Figuren in der lateinischen Literatur angewandt, die vom jeweiligen Autor namentlich genannt bzw. eingeführt und/oder näher charakterisiert werden und für das jeweilige Werk eine bedeutende Funktion haben. Dabei kann auch ein namentlich nicht näher bekannter Ich-Sprecher als persona fungieren. Damit soll nicht nur ein Beitrag dazu geleistet werden, Ansehen und Wir‐ kungsgeschichte des Kepos in Rom zu rekonstruieren. Insbesondere wird mit der Figurenmodellierung eine literarische Gestaltungsstrategie untersucht, mit der epikureische (Stereo-)Typen17 etabliert und eingesetzt werden, um bestimmte Bewertungsmuster zu bestärken oder auch zu kritisieren. Nicht zuletzt geht es also um die Frage, wie die römischen Dichter in besagtem Zeitraum jeweils die epikureische Lehre wahrgenommen und in ihr Werk integriert haben. Die Leitziele, die mit dieser Studie verfolgt werden, lassen sich also wie folgt zusammenfassen: 1.
2.
3. 4.
Ermittlung literarischer Figuren mit epikureischer ‚Färbung‘ in der spätre‐ publikanischen und vor allem frühkaiserzeitlichen Literatur mit Schwer‐ punkt auf den poetischen Texten; inhaltliche und sprachliche Analyse der einzelnen Textpassagen zur kon‐ textuellen Anbindung an die weitgehend orthodoxe Lehre des (griechi‐ schen) Epikureismus; Analyse der funktionalen Einbettung der einzelnen Protagonisten bzw. der entsprechenden Textpassagen im jeweiligen Gesamtwerk; Ermittlung von Kontinuitäten und Brüchen im literarischen Epiku‐ reer-Typus.
Um sich diesen Leitzielen systematisch anzunähern, sollen in den ausgewählten Werken zentrale Philosopheme untersucht werden, die mit der epikureischen Lehre in Abgrenzung zu anderen griechischen Philosophieschulen assoziiert und in Rom rezipiert und weiterentwickelt werden. Mit diesen distinktiven Merkmalen des Epikureismus können Kontrastierungen innerhalb der römi‐ 17
Auch Timpe (2000) 49 erwähnt beispielsweise „die stereotypen Vorwürfe gegen die epikureische Lehre“. Der hierbei fallende Begriff des Stereotyps wird in seiner sozialwis‐ senschaftlichen Sinnrichtung verwendet und definiert sich dabei als Abgrenzung und Bildung von Kategorien um Personengruppen, denen Komplexe von Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben werden, wobei diese oft karikierend hervorgehoben werden, was zu einer stark vereinfachten Repräsentation der betroffenen Personen‐ gruppe(n) führt; siehe dazu einführend Petersen/Six (Hrsg.), Stereotypen, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen, Weinheim 22020; zur Stereotypik in der Literatur siehe ferner Streiter, Begegnung mit der Fiktion. Vorstellungssequenzen literarischer Figuren, Marburg 2006, 53–87.
1.2 Forschungsstand
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schen Epikureer-Darstellung, aber auch in Abgrenzung zu Stoa und Akademie verdeutlicht werden. Im Vergleich von Autoren und den von ihnen vertretenen literarischen Gattungen können zudem über intertextuelle Beziehungen Ent‐ wicklungslinien im Einsatz dieser Gestaltungsstrategien erkennbar werden.
1.2 Forschungsstand Insgesamt betrachtet hat die internationale Epikureismus-Forschung die römi‐ sche Kaiserzeit in den letzten Jahren deutlich verstärkt in den Blick genommen. Dies ist im deutschen Raum vor allem zahlreichen Publikationen von Michael Erler zum Epikureismus im kaiserzeitlichen Rom zu verdanken, aber auch neueren Dissertationsprojekten wie etwa Susanne Gatzemeiers Studie Ut ait Lucretius. Die Lukrezrezeption in der lateinischen Prosa bis Laktanz (2013). Die vorliegende Arbeit möchte dagegen den Blick gerade auch auf Autoren – vor allem auf Dichter der römischen Kaiserzeit – lenken, die in diesem Zusammenhang – mit Ausnahme von Vergil und Horaz – bislang weniger beachtet worden sind. Seit der Jahrtausendwende hat das Forschungsinteresse für den römischen Epikureismus deutlich zugenommen, wie zahlreiche Arbeiten über historisch nachweisbare Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Politik und Literatur belegen:18 Dieter Timpe hat in seinem Aufsatz über den römischen Epikure‐ ismus der Kaiserzeit, der im von Michael Erler herausgegebenen Sammelband Epikureismus in der späten Republik und der Kaiserzeit (2000) erschienen ist,19 zum einen den schulinternen Entwicklungen des Kepos mit seiner soteriolo‐ gischen Grundausrichtung und zum anderen den politischen und sozialen Rahmenbedingungen im spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom als Voraussetzungen für eine Verbreitung und Etablierung des Epikureismus in der römischen Gesellschaft und Literatur Rechnung getragen. Dabei erweist sich gerade die epikureische Ethik in großen Teilen als salonfähige Lebenspraxis im kaiserzeitlichen Rom. Unter dem Dachthema von römischen Wertbegriffen in der römischen Li‐ teratur (O tempora, o mores! Römische Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik, 2003) hat auch Andreas Haltenhoff die so‐ zialen Entstehungsbedingungen und die historischen Anfänge des römischen Epikureismus untersucht. Im Mittelpunkt seiner Studie steht der Einfluss des 18 19
Siehe dazu Anm. 7 und 8 in diesem Kapitel. Eine repräsentative Auswahl an Forschungsliteratur zum römischen Epikureismus vor 2000 bietet unter anderem ebenfalls Timpe (2000) 42 f., Anm. 1.
20
1 Thematische Einführung
lukrezischen Lehrgedichts auf die soziale Etablierung der Kepos-Lehre in Rom und damit auch die Frage nach der Kompatibilität des epikureischen Weltbilds mit dem römischen mos maiorum. Diese Problematik löst Haltenhoff, indem er „eine gewisse Wandlungsfähigkeit des römischen Traditionsbewusstseins“ zu bedenken gibt und in Orientierung an Erlers Erkenntnissen insbesondere „eine[r] Anpassung der epikureischen Doktrin an ihren kulturellen Kontext“ hervorhebt.20 Eine Neubetrachtung des römischen Epikureismus leisten David Sedley (rö‐ mische Republik) und Michael Erler (römische Kaiserzeit) im 2009 publizierten Cambridge companion to Epicureanism: Sedley betont darin die Bedeutung Philodems als Wegbereiter des römischen Epikureismus und daneben auch die Leistung des Lukrez, der die epikureische Lehre in poetischem Gewand für die römische Welt systematisch darstellt;21 Erler zeichnet die vielschichtigen Gründe für die zunehmend polemische Behandlung epikureischer Lehrinhalte in der Literatur der Kaiserzeit nach, ohne die ‚wohlwollende‘ Rezeption bei Lukian oder Diogenes von Oinoanda außer Acht zu lassen.22 In seinem Beitrag, der zusammen mit Jürgen Malitz’ Aufsatz über römische Epikureer im 1. Jahrhundert v. Chr. im Sammelband Athen, Rom, Jerusalem (2012) erschienen ist, knüpft Erler sowohl an Timpes als auch an Haltenhoffs Fragestellungen an. Ausgehend von Philodems De bono rege stellt er vor allem die ethische Allegorese23 traditionsreicher Figuren aus Mythos und Literatur, die Erler als „epikureische προκόπτοντες“24 bezeichnet, als wichtigen Bestandteil einer Konvergenzstrategie des römischen Epikureismus heraus. Der angespro‐ chene Beitrag von Malitz richtet den Fokus dagegen erneut auf die schwierigen Rahmenbedingungen für den römischen Epikureismus im politischen Span‐ nungsfeld der späten Republik. Neben dieser Vielzahl an hilfreichen Arbeiten zur Ausbreitung des Epikure‐ ismus in Rom und seiner weiteren Entwicklung in Kaiserzeit und Spätantike ist auch eine Zunahme an Studien zur Prosopographie römischer Epikureer festzustellen:25 Catherine Castner (Prosopography of Roman Epicureans between 20 21 22 23
24 25
Haltenhoff (2003) 243. Zu Philodem siehe Sedley (2009) 31–40; zu Lukrez siehe Sedley (2009) 40–43. Siehe dazu v. a. Erler (2009) 52–59. Zur Definition und problematischen Begriffsunterscheidung von ‚Allegorie‘, ‚Allego‐ rese‘, ‚Personifikation‘ und ‚allegorischer Personifikation‘ siehe Selent, Allegorische Mythenerklärung in der Spätantike. Wege zum Werk des Dracontius, Rahden 2011, 17–36; 56–87. Vgl. Erler (2012a) 85–89. Eine Auflistung der relevanten Forschungsliteratur vor 2000 findet sich erneut bei Timpe (2000) 53, Anm. 34.
1.2 Forschungsstand
21
the second century B.C. and the second century A.D., 21991) versucht durch eine Zusammenstellung der jeweils wichtigsten literarischen Belege zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. bekannte römische Persönlichkeiten, die immer wieder mit dem Epikureismus assoziiert werden, in verschiedene Kategorien (Epicurei certi – Epicurei incerti – Epicurei dubii) einzuordnen. Dagegen verfolgt Mark Morfords Arbeit The Roman philosophers. From the time of Cato the Censor to the death of Marcus Aurelius (2002) über die römischen Philosophen von Cato dem Älteren bis Marc Aurel einen literar‐ historischen Ansatz, der von der Ausbildung der philosophia togata bzw. der Integration griechischer Philosophie in Rom über die Blütezeit des Epikureismus (bei Lukrez und in der augusteischen Dichtung) bis zur Dominanz der stoischen Philosophie im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. reicht.26 Die Dissertation Cives Epicurei. Les épicuriens et l’idée de monarchie à Rome et en Italie de Sylla à Octave (2005) von Yasmina Benferhat konzentriert sich in einem enger gesteckten Zeitrahmen auf die prosopographische Darstellung der cives Epicurei im Zen‐ trum der politischen Macht bis zu Caesars Ermordung. Damit verbindet sie das (vor allem durch Cicero geprägte) literarische Bild ausgewählter Epikureer (v. a. Atticus, Piso und das politische Umfeld Caesars) mit den politischen Umwälzungen des 1. Jahrhunderts v. Chr. Ein ähnlicher Forschungsansatz wird in Pierre Vesperinis Studie La philosophia et ses pratiques d’Ennius à Cicéron (2012) über die prosopographische Darstellung von griechischen und römischen Philosophen (v. a. Pythagoras, Epikur, Panaitios, Albucius, Piso, Philodem, Cassius) in der Literatur von Ennius bis Cicero erkennbar. Der Verbindung von philosophischem Gedankengut und römischer Dich‐ tung, die auch im Mittelpunkt der vorliegenden Dissertation steht, haben sich in den letzten Jahren unter anderem Diskin Clay, Régine Chambert, Gregson Davis, Walter Johnson und David Armstrong in ihren Beiträgen zu dem Sammelband Vergil, Philodemus, and the Augustans (2004) gewidmet.27 Hinzu kommen die noch jüngeren Studien in den Sammelbänden The philosophizing muse (2014) von Myrto Garani und David Konstan bzw. Philosophie in Rom – römische Philosophie? (2018) von Gernot Michael Müller und Fosca Mariani Zini: Für den Einfluss des Epikureismus auf das Werk römischer Dichter sind
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Zur Darstellung der epikureischen Philosophie bei Lukrez und ihrer literarischen Nach‐ wirkung siehe Morford (2002) 98–130; zur Philosophie bei Horaz siehe Morford (2002) 136–146; zur Philosophie bei Vergil siehe Morford (2002) 147–153; zur Philosophie bei Ovid siehe Morford (2002) 153–157; zum stoischen Weltbild bei Manilius siehe Morford (2002) 157–160. Einzelstudien zu spezifischen Autoren werden in den entsprechenden Kapiteln berück‐ sichtigt und vorgestellt.
22
1 Thematische Einführung
davon insbesondere die Beiträge von Joseph Farrell (2014) zu Vergil und David Armstrong (2014) und Sergio Yona (2018) zu den horazischen Satiren bzw. von Gernot Michael Müller (2018) zu den horazischen Episteln 28 und Michael Erler (2018) zum Verhältnis von Philosophie und Rhetorik bei Lukrez zu nennen. Diese kleine, aber doch repräsentative Auswahl an Forschungsliteratur zur epikureischen Philosophie in der römischen Dichtung macht deutlich, dass der Fokus der Forschung in dieser Hinsicht weiterhin vor allem auf Philodem, Lukrez, Vergil und Horaz liegt. Der letzte Aspekt in diesem knappen Überblick über Forschungstendenzen bildet die (Einzel-)Analyse epikureischer Philosopheme bzw. Leitbegriffe, die ebenfalls in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt untersucht wurden.29 So ist die epikureische Göttervorstellung zuletzt vor allem im Sammelband Epicurus and the Epicurean tradition (2011) von Jeffrey Fish und Kirk Sanders mehrfach thematisiert und wirft erneut den Konflikt zwischen der ‚idealistischen‘ (David Sedley) und ‚realistischen‘ Theorie (David Konstan) auf:30 Dieser Konflikt geht auf die unterschiedliche Auslegung der epikureischen πρόληψις zurück, die entweder eine Vorstellung von den Göttern als idealisierten und imaginären oder vielmehr als real existierenden Wesen beinhaltet.31 Die Anwendung des epikureischen λάθε-βιώσας-Konzepts auf die römische Dichtung hat insbeson‐ dere Geert Roskams Monographie ‚Live unnoticed‘ (Λάθε βιώσας). On the vicissitudes of an Epicurean doctrine (2007) mit je einem Kapitel über Lukrez und Philodem sowie einem Appendix zu Vergil, Horaz und Ovid überprüft. Bei der Untersuchung relevanter Textstellen in der augusteischen Dichtung kommt Roskam zu dem Ergebnis, dass in weniger Fällen als bisher vermutet tatsächlich das epikureische Verständnis des λάθε βιώσας als philosophischer Hintergrund nachzuweisen ist. Die größte Aufmerksamkeit hat zuletzt allerdings der ‚Lust‘-Begriff des Kepos erfahren: Boris Nikolsky hat sich in seinem Aufsatz Epicurus on pleasure von 2001 mit der Problematik auseinandergesetzt, die die Differenzierung von katastematischer und kinetischer Lust mit sich bringt, und dabei die 28 29
30 31
Neuere Untersuchungen des philosophischen Inhalts im ersten Epistel-Buch bietet neben Armstrong (2004) 267–298 insbesondere die Monographie von Stephanie McCarter (2015). Grundlegend zur schulspezifischen Auslegung zentraler philosophischer Begriffe und Konzepte unter systematischer Aufbereitung literarischer Belegstellen ist immer noch das zweibändige Werk von Long und Sedley über hellenistische Philosophen (1987); zur Einführung in den epikureischen Lustbegriff siehe beispielsweise auch Hossenfelder (32006) 63–75. Vgl. dazu auch Anm. 28 in Kapitel 4. Zur Bedeutung der πρόληψις in Ciceros De natura deorum siehe S. 253–259.
1.3 Methodisches Vorgehen
23
Authentizität dieser Differenzierung zumindest infrage gestellt. Daraufhin hat zunächst Julia Annas (Epicurus on pleasure and happiness, 2003) unter Einbezie‐ hung des Zusammenhangs zwischen virtus und voluptas in der epikureischen Ethik nachzuweisen versucht, dass Epikur zu Unrecht im Ruf eines rigorosen Hedonisten steht.32 Raphael Woolf (What kind of hedonist was Epicurus?, 2004) hat in diesem Zusammenhang eine psychologische Deutung des epikureischen Hedonismus vorgeschlagen. Katharina Held hat in ihrer Dissertation Hēdonē und Ataraxia bei Epikur (2007) die klassischen Textzeugnisse für eine möglichst vollständige und präzise Definition der epikureischen Leitprinzipien ἡδονή und ἀταραξία zusammengetragen und ausgewertet. Im zurückliegenden Jahrzehnt hat sich insbesondere in den Sammelbänden von Erler und Rother (Philosophie der Lust, 2012) bzw. von Harris (Pain and pleasure in classical times, 2018) eine Vielzahl an Referentinnen und Referenten zu verschiedenen Aspekten des antiken Hedonismus und seiner Entwicklung in Mittelalter und Neuzeit geäußert.33
1.3 Methodisches Vorgehen Nach diesem Überblick zu ausgewählten Aspekten der neueren Epikur-For‐ schung gilt es im Folgenden, näher auf das methodische Vorgehen, auf die daraus abgeleitete Auswahl und Strukturierung des umfangreichen Textcorpus und auf die literarischen Werke und Textgattungen zu sprechen zu kommen, die für diese Untersuchung von Belang sind. Ein erstes Ziel ist es, eine syste‐ matische Ordnung für die Untersuchung epikureisch ‚gefärbter‘ Figuren nach bestimmten Philosophemen zu finden, die üblicherweise mit der epikureischen Ethik assoziiert werden. Die Ordnungskriterien sollen nicht anachronistisch wirken und daher aus zwei frühen, aber einflussreichen Textzeugnissen der epikureischen Lehre in Rom abgeleitet werden: Hierbei handelt es sich zum einen um die berühmte Kineas-Episode, die bei Plutarch, Cicero und Valerius Maximus überliefert ist und als literarischer Nachweis für den ersten Kontakt zwischen Römern und der epikureischen Lehre gilt,34 zum anderen um die
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34
Zu dieser Fragestellung siehe beispielsweise auch Mensching (2012) 71–82. Für die Rezeption des epikureischen Lustkonzepts in der römischen Dichtung sind vor allem die Beiträge von Beate Beer (2012) und Elizabeth Asmis (2018) zu Lukrez und von Thomas Baier (2012) zu Vergils Georgica hervorzuheben; zum Hedonismus bei Epikur selbst siehe etwa Erler (2012b) 53–70; Mensching (2012) 71–82; Essler (2012) 139–160. Vgl. Plut. Pyrrhus 20, 6 f.; Cic. Cato 43; Val. Max. 4, 3, 6.
24
1 Thematische Einführung
von Epikur begründete und bei Philodem und Diogenes Laertios überlieferte τετραφάρμακος-Lehre.35 Den thematischen Rahmen der Kineas-Anekdote bildet ein Bankett bei Pyrrhos, dem König der Molosser, das im Jahr 280 v. Chr. nach der römischen Niederlage in der Schlacht bei Heraclea in Anwesenheit des römischen Ge‐ sandten C. Fabricius Luscinus stattgefunden haben soll.36 Dabei berichtet Kineas, der Berater des Pyrrhos, bei einem Gespräch über griechische Philosophen von den wesentlichen Lehrinhalten in der epikureischen Schule: […] ἐν δὲ τῷ δείπνῳ λόγων παντοδαπῶν γενομένων, πλείστων δὲ περὶ τῆς Ἑλλάδος καὶ τῶν φιλοσοφούντων, ἔτυχέ πως ὁ Κινέας ἐπιμνησθεὶς τοῦ Ἐπικούρου, καὶ διῆλθεν ἃ λέγουσι περὶ θεῶν καὶ πολιτείας καὶ τέλους, τὸ μὲν ἐν ἡδονῇ τιθέμενοι, πολιτείαν δὲ φεύγοντες ὡς βλάβην καὶ σύγχυσιν τοῦ μακαρίου, τὸ δὲ θεῖον ἀπωτάτω χάριτος καὶ ὀργῆς καὶ τοῦ μέλειν ἡμῶν εἰς ἀπράγμονα βίον καὶ μεστὸν εὐπαθειῶν ἀποικίζοντες. (Plut. Pyrrhus 20, 6) Beim Abendessen, als Gespräche aller Art geführt wurden, am meisten aber über Griechenland und die Philosophen, erinnerte Kineas irgendwie zufällig an Epikur und ging durch, was sie über Götter, Staat und höchstes Gut sagen: Letzteres setzen sie in die Lust, meiden aber den Staat, weil er für den glücklichen Menschen Schaden und Verderben bringe, das Göttliche aber entfernen sie am weitesten weg von Gunst und Zorn und der Fürsorge für uns in ein Leben, das frei von Tätigkeit und voller Annehmlichkeiten ist.37
Bei seiner Präsentation der epikureischen Lehre konzentriert sich Kineas in Plutarchs Darstellung also auf drei Bereiche: Theologie, Politik (Engagement) und Ethik (höchstes Gut).38 Während die Epikureer das Göttliche frei von
35 36 37
38
Vgl. Epik. sent. rat. 1–4; PHercul. 1005, 5, 8 Angeli; Diog. Laert. 10, 139f. Vgl. dazu Vesperini (2012) 249; Benferhat (2005) 44–47. Sofern nicht anders gekennzeichnet stammen die Übersetzungen der griechischspra‐ chigen Texte vom Verfasser der vorliegenden Arbeit. Auf Übersetzungen der lateini‐ schen Texte wurde dagegen weitgehend verzichtet; ausgenommen davon sind lediglich fragmentarisch überlieferte Texte. In den anderen Versionen dieser Anekdote bei Cicero und Valerius Maximus wird hingegen die voluptas als einziger Bestandteil bzw. als alleinige Leitmaxime der epikureischen Lehre hervorgehoben; vgl. Cic. Cato 43: Saepe audivi ex maioribus natu, qui se porro pueros a senibus audisse dicebant, mirari solitum C. Fabricium, quod, cum apud regem Pyrrhum legatus esset, audisset a Thessalo Cinea esse quendam Athenis, qui se sapientem profiteretur, eumque dicere omnia, quae faceremus, ad voluptatem esse referenda. […]; Val. Max. 4, 3, 6: […] legatus enim ad Pyrrum profectus, cum apud eum Cineam Thessalum narrantem audisset quendam Athenis esse clarum sapientia suadentem
1.3 Methodisches Vorgehen
25
jeglicher Emotion und von jeglichem Interesse für menschliche Belange sehen und ihnen stattdessen ein zurückgezogenes Leben ohne Verantwortung für andere zuweisen, entscheiden sie sich auch selbst gegen jede Beteiligung an der Politik, da sie den Menschen unglücklich mache (indem sie ihm die Ruhe raubt). Als ethisches Leitziel für eine glückliche Lebensführung rufen sie schließlich die ἡδονή aus. Diese zentralen Lebensmaximen, die Kineas den Epikureern zuschreibt, lassen sich auch im ‚Katalog‘ der sogenannten τετραφάρμακος wiederfinden, der als wichtigstes Dokument der epikureischen Ethik gilt. Darunter versteht man die ersten vier Lehrsätze von Epikurs κύριαι δόξαι,39 die auch Diogenes Laertios in seinen Philosophenviten überliefert:40 Τὸ μακάριον καὶ ἄφθαρτον οὔτε αὐτὸ πράγματα ἔχει οὔτε ἄλλῳ παρέχει· ὥστε οὔτε ὀργαῖς οὔτε χάρισι συνέχεται· ἐν ἀσθενεῖ γὰρ πᾶν τὸ τοιοῦτον. (Epik. sent. rat. 1 = Epik. sent. Vat. 1) Das glückselige und unvergängliche Wesen hat weder selbst Sorgen noch bereitet es sie einem anderen; daher wird es weder durch Wutausbrüche noch durch Gunst‐ erweise beansprucht; denn alles Derartige gibt es nur bei einem schwachen Wesen. Ὁ θάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς· τὸ γὰρ διαλυθὲν ἀναισθητεῖ, τὸ δ’ ἀναισθητοῦν οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς. (Epik. sent. rat. 2 = Epik. sent. Vat. 2) Der Tod ist nichts, was uns betrifft: Das Aufgelöste ist nämlich empfindungslos, das Empfindungslose aber ist nichts, was uns betrifft. Ὅρος τοῦ μεγέθους τῶν ἡδονῶν ἡ παντὸς τοῦ ἀλγοῦντος ὑπεξαίρεσις. ὅπου δ’ ἂν τὸ ἡδόμενον ἐνῇ, καθ’ὃν ἂν χρόνον ᾖ, οὐκ ἔστι τὸ ἀλγοῦν ἢ λυπούμενον ἢ τὸ συναμφότερον. (Epik. sent. rat. 3)
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ne quid aliud homines quam uoluptatis causa facere uellent, pro monstro eam uocem accepit continuoque Pyrro et Samnitibus istam sapientiam deprecatus est. […]. Diese Lehrsätze werden im Folgenden mit ihrer lateinischen Bezeichnung als Ratae sententiae (abgekürzt Epik. sent. rat.) zitiert. Zur Definition der τετραφάρμακος siehe zuletzt Giovacchini (2019) 33–37. Siehe dazu Anm. 35 in diesem Kapitel. Während Epik. sent. rat. 1 mit Epik. sent. Vat. 1 bzw. Epik. sent. rat. 2 mit Epik. sent. Vat. 2 bzw. Epik. sent. rat. 4 mit Epik. sent. Vat. 3 übereinstimmt, findet sich Epik. sent. rat. 3 in den Sententiae Vaticanae nicht wörtlich wieder. Sämtliche Epikur-Zitate, die in dieser Arbeit angeführt werden, orientieren sich – wenn nicht anders vermerkt – an der Edition von Arrighetti (21973).
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1 Thematische Einführung
Grenze der Größe der Lustempfindungen ist die Aufhebung alles Schmerzenden. Wo auch immer das Lustspendende auftritt, da gibt es, solange es anwesend ist, nichts Schmerzendes oder Leiderregendes oder beides zusammen. Οὐ χρονίζει τὸ ἀλγοῦν συνεχῶς ἐν τῇ σαρκί, ἀλλὰ τὸ μὲν ἄκρον τὸν ἐλάχιστον χρόνον πάρεστι, τὸ δὲ μόνον ὑπερτεῖνον τὸ ἡδόμενον κατὰ σάρκα οὐ πολλὰς ἡμέρας συμμένει· αἱ δὲ πολυχρόνιοι τῶν ἀρρωστιῶν πλεονάζον ἔχουσι τὸ ἡδόμενον ἐν τῇ σαρκὶ ἤπερ τὸ ἀλγοῦν. (Epik. sent. rat. 4 = Epik. sent. Vat. 3) Es verharrt das Schmerzende nicht ununterbrochen im Fleische, sondern das Extrem ist nur ganz kurze Zeit zugegen; was aber das Lustspendende im Fleische gerade noch überwiegt, verweilt nicht viele Tage; die lange anhaltenden Gebrechen hingegen haben ein Übermaß an Lustspendendem im Fleische über das Schmerzende. (alle Übersetzungen nach Hans-Wolfgang Krautz, mit leichten Änderungen)
Die τετραφάρμακος fasst die zentralen Aspekte der epikureischen Ethik zu‐ sammen, die in der römischen Rezeption Bestand hatten. Philodems Vermitt‐ lung zeigt, dass sie für römische Anhänger des Epikureismus ebenfalls von fundamentaler Bedeutung in ihrer philosophischen Bildung waren.41 Im ersten der oben zitierten Lehrsprüche wird die Idealvorstellung der vollkommenen ἀταραξία veranschaulicht, wie sie der epikureische Weise oder, wie in diesem Fall, die fern von den Menschen lebenden Götter (τὸ μακάριον καὶ ἄφθαρτον) im Rahmen des μακαρίως ζῆν verkörpern. Diese ἀταραξία erfolgt zum einen wechselseitig (οὔτε αὐτὸ πράγματα ἔχει οὔτε ἄλλῳ παρέχει) und zeigt sich zum anderen immun gegen jegliche denkbaren Affekte (οὔτε ὀργαῖς οὔτε χάρισι). Die zweite Sentenz erhebt in diesem Zusammenhang den Anspruch der vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, da sich Körper und Seele nach dem Leben auflösten und keinerlei Empfindungen mehr zuließen. Während im dritten Merksatz das summum bonum bzw. die μεγίστη ἡδονή als Aufhebung von allem Schmerzenden definiert wird, sodass die Begriffe τὸ ἡδόμενον und τὸ ἀλγοῦν ἢ λυπούμενον ἢ τὸ συναμφότερον kontradiktorische Gegensätze bilden, lehrt der vierte Punkt den vorübergehenden, kurzfristigen Bestand des Schmerzes als summum malum.
41
Vgl. PHercul. 1005, 5, 8 Angeli; siehe dazu Anm. 44 in diesem Kapitel.
1.3 Methodisches Vorgehen
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Im Wesentlichen lässt sich die τετραφάρμακος in abgewandelter Form auch in Epikurs Brief an Menoikeus entdecken, wenn das Ideal des epikureischen Weisen beschrieben wird:42 Ἐπεὶ τίνα νομίζεις εἶναι κρείττονα [I] τοῦ καὶ περὶ θεῶν ὅσια δοξάζοντος [II] καὶ περὶ θανάτου διὰ παντὸς ἀφόβως ἔχοντος καὶ τὸ τῆς φύσεως ἐπιλελογισμένου τέλος [III] καὶ τὸ μὲν τῶν ἀγαθῶν πέρας ὡς ἔστιν εὐσυμπλήρωτόν τε καὶ εὐπόριστον διαλαμβάνοντος, [IV] τὸ δὲ τῶν κακῶν ὡς ἢ χρόνους ἢ πόνους ἔχει βραχεῖς […]; (Epik. Men. 133) Denn wer, glaubst du, ist stärker als derjenige, [I] der über die Götter ehrfürchtige Vermutungen hegt, [II] sich im Hinblick auf den Tod ganz und gar furchtlos verhält und das Ziel unserer Veranlagung durchdacht hat und [III] klar erfasst, dass das Höchstmaß der Güter leicht zu erfüllen und leicht zu beschaffen ist, [IV] das Höchstmaß der Übel aber nur kurze Phasen oder Qualen hat? (Übersetzung nach Hans-Wolfgang Krautz, mit leichten Änderungen)
Beim Vergleich mit den ersten vier Lehrsätzen der κύριαι δόξαι fällt auf, dass sich in der rhetorischen Frage Epikurs nahezu dieselben Aspekte wie in der τετραφάρμακος finden und dies zudem in der gleichen Abfolge: der rechte Glaube an die Götter, die in Epik. sent. rat. 1 als τὸ μακάριον καὶ ἄφθαρτον bezeichnet werden; die völlige Angstfreiheit gegenüber dem Tod; die Vorstellung vom summum bonum; die Einsicht über das flüchtige summum malum. Nuancen ergeben sich dabei am ehesten für das erste und das dritte Philoso‐ phem: Die allgemeinere und kürzere Formulierung über das Wesen der Götter im Brief an Menoikeus lässt einen größeren Spielraum für die Deutung der epikureischen Göttervorstellung zu (z. B. die Ansicht, dass sich die Götter ganz im Sinn ihrer ἀταραξία mitnichten um menschliche Belange kümmern); das dritte Merkmal des epikureischen Weisen, das im Brief an Menoikeus beschrieben wird, umfasst im Vergleich mit Epik. sent. rat. 3 einen zusätzlichen Aspekt: die Einsicht, dass das höchste Gut auf einfache Weise erreicht werden kann. Diese Differenzierungsmöglichkeiten führen allerdings zu keinem Wider‐ spruch zwischen den beiden herangezogenen Textzeugnissen, sondern lassen lediglich Rückschlüsse auf einen unterschiedlichen Abstraktionsgrad bzw. einen variierenden Fokus bei der Formulierung von Epikurs ethischer Doktrin zu.43
42
Zum engen Zusammenhang zwischen Epik. sent. rat. 1–4 und Epik. Men. 133 siehe u. a. Giovacchini (2019) 34; 37; Morford (2002) 104 f. Die durch Fettdruck hervorgehobenen römischen Ziffern dienen lediglich einer anschaulichen Strukturierung des Satzes und sind vom Verfasser der vorliegenden Arbeit eingefügt worden.
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1 Thematische Einführung
Auch der für den römischen Epikureimus einflussreiche Philosoph Philodem von Gadara vermittelt die Lehrsprüche der τετραφάρμακος, wenn auch wie‐ derum in leicht abgewandelter und stark verkürzter Form.44 Damit erscheint es umso mehr gerechtfertigt, in Orientierung an dieser Zusammenstellung der Hauptpunkte epikureischer Lehre die Untersuchungsparameter auszuwählen, die der systematischen Erfassung epikureisch ‚gefärbter‘ Figuren im bereits angesprochenen Zeit- und Gattungsspektrum dienen. Da sich die epikureische ‚Lust‘ (griech. ἡδονή; lat. voluptas) vor allem auch ex negativo als Abwesen‐ heit von ‚Schmerz‘ (griech. τὸ ἀλγοῦν; lat. dolor) definiert und eine separate Thematisierung der beiden Begriffskonzepte nicht nur kaum möglich wäre, sondern überdies der epikureischen Lehre nicht gerecht würde,45 werden die beiden komplementären Begriffskonzepte zu einem Untersuchungsparameter zusammengefasst und in Kapitel 3 gemeinsam behandelt. Somit ergibt sich bei der Zusammenstellung der Untersuchungskriterien folgende Einteilung: a. b. c.
der Umgang mit der Lehre von der voluptas als erstrebenswertem summum bonum (Kap. 3); die Umsetzung einer angstfreien Götter- und Todesvorstellung (Kap. 4); die Realisierung des ἀταραξία-Ideals in einem zurückgezogenen Lebensstil (Kap. 5).
Je nach Autor und Textpassage werden Schwerpunkte gesetzt, die für den Kon‐ text bzw. die übergeordnete Intention des jeweiligen Werkes nutzbar gemacht werden, auch wenn eine trennscharfe thematische Zuordnung natürlich nicht möglich ist. Überhaupt steht die funktionale Einbettung der Textstellen, die in dieser Arbeit herangezogen werden, im Mittelpunkt, um eine oberflächliche und isolierte Präsentation rezipierten Epikur-Gedankenguts zu vermeiden.46 So lassen sich beispielsweise Rückschlüsse auf einen stark divergierenden Umgang mit dem epikureischen voluptas-Konzept aus Ciceros Piso-Invektiven (Kap. 3.1.), dem Auftritt des Torquatus in De finibus bonorum et malorum (Kap. 3.2.), der Verwendung des Begriffs im horazischen Briefcorpus (Kap. 3.3.), der Personifizierung zur göttlichen Allegorie im Kriegsepos des Silius Italicus (Kap. 3.4.) und in den Silven des Statius (Kap. 3.4.3.; Kap. 5.3.) ziehen: Während Cicero 43 44 45 46
Ebenso verhält es sich etwa in Epik. sent. rat. 11. Vgl. PHercul. 1005, 5, 8 Angeli: ἡ τετραφάρμακος· ἄφοβον ὁ θεός, ἀν[ύ]ποπτον ὁ θάνατος καὶ τἀγαθὸν μὲν εὔκτητον, τὸ δὲ δεινὸν εὐεκκα[ρ]τέρητον; zur umstrittenen Authentizität dieses Textes siehe zuletzt Giovacchini (2019) 36–53. Dies geht allein schon aus der Definition bzw. aus der komplementären Beziehung der beiden Begriffe in Epik. sent. rat. 3 und 4 hervor. Vgl. dazu Gaiser (1967) 16 f., der für die Untersuchung philosophischer Motive bei Menander denselben methodischen Anspruch hat.
1.3 Methodisches Vorgehen
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den Konsul seines Verbannungsjahres, L. Calpurnius Piso, als beluus immanis Epicureus mit einer simulata tristitia darstellt, der zur Legitimierung seines unmoralischen Lebenswandels als Privatmann und Politiker die epikureische voluptas-Lehre missversteht und für seine eigenen Zwecke missbraucht, bemüht sich der ciceronische Torquatus um eine sachliche und argumentative Ausein‐ andersetzung mit dem summum bonum, das er nicht erfolgreich zugunsten der epikureischen Position zu verteidigen versteht, weil die Definition der voluptas angreifbar bleibt und Cicero seine rhetorische Überlegenheit im Dialog inszeniert. Dagegen greift Horaz auf den philosophischen voluptas-Begriff im ersten Epistel-Buch zurück, um das epikureische Lustkalkül zu empfehlen. Dazu führt die Sprecher-persona in epist. 1, 2 und 1, 6 jeweils eine ethische Allegorese durch: Es ist jeweils der homerische Odysseus, der etwa bei gefährlichen Verführungen wie dem Gesang der Sirenen oder den Zaubergetränken der Kirke rational kalkulierend agiert und mit diesem Lustkalkül zur idealen Verkörperung von virtus et sapientia werden kann. In den Satiren – dargestellt an sat. 1, 2 und sat. 2, 2 – löst sich der voluptas-Terminus mitunter ein wenig aus seinem epikureischen Gewand, da der Fokus dort nicht zuletzt auf der Sozialkritik liegt, wenn mora‐ lisch nur schwer vertretbare Gesellschaftsphänomene angeprangert werden. Eine geradezu poetologische Dimension hingegen haftet der Thematisierung der voluptas in den ersten beiden Briefen des zweiten Epistel-Buchs an. Im Gegensatz dazu tritt die Voluptas im Epos des Silius Italicus als weibliche Allegorie im Rahmen der Lebenswahl antiker Helden in Erscheinung: Die Personifizierung des mit altrömischen Werten unvereinbaren Lebensweges, die einen berühmten Helden der römischen Geschiche wie Scipio Africanus natürlich ebenso wenig vereinnahmen kann wie den Herakles des Xenophon bzw. des Prodikos, steht in der langen Tradition eines Erzählmotivs, das bis zu Hesiod zurückzuverfolgen ist. Im enkomiastischen Gedicht auf Manilius Vopiscus und seine villa Tiburtina (silv. 1, 3) setzt Statius schließlich die Voluptas zusammen mit Venus als göttliche Instanz und Schutzherrin eines architektonisch bemerkenswerten Gebäudes ein, das sowohl einen philosophischen Idealort der fecunda quies darstellt, auf den sogar Epikur selbst erpicht wäre, als auch ein optimales Umfeld für literarische Betätigung im Sinn der docta otia bietet. Ähnlich lässt Statius auch in silv. 2, 2 (Pollius Felix, seine Gattin und die villa Surrentina) die voluptas als omnipräsenten Effekt mehrfach erscheinen, der nicht nur die Villenbesitzer, sondern auch die Besucher des Anwesens erfasst. Ein nicht minder distinktives Merkmal der epikureischen Lehre stellt das Ideal einer von Angst befreiten Götter- und Todesauffassung dar: Gemeint ist
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1 Thematische Einführung
damit die Vorstellung, dass der Mensch für sich selbst verantwortlich ist und ohne Todesangst und unabhängig von den Göttern handelt, die zwar existieren, aber in sogenannten Intermundien47 leben und sich nicht um das Schicksal der Sterblichen kümmern.48 Für die Rezeption dieses epikureische Philosophems wird zunächst die Darstellung des Velleius in Ciceros De natura deorum analy‐ siert, der ein geradezu musterhaftes exemplum für die Figurenmodellierung im Kontext der epikureischen Theologie bildet (Kap. 4.1.). Im Anschluss daran wird der Fokus mit den horazischen Oden auf die Verarbeitung epikureisch ‚gefärbter‘ Götterapparate und Todesszenarien in der römischen Dichtung gelegt (Kap. 4.2.). Die vergilische Zusammenführung von Totenklage und Apotheose in der fünften Ekloge knüpft in erster Linie an Theokrit und Lukrez an und lässt die traditionsreiche Figur des Daphnis nach seinem Tod zu einem epikureisch ‚gefärbten‘ Schutzgott der bukolischen Lebenswelt werden (Kap. 4.3.). In scharfem Gegensatz dazu steht der rasende Gottesleugner Capaneus in der Thebais des Statius, der auf Seiten der Argiver gegen die Thebaner kämpft und mangels Furcht vor den Göttern letztlich sogar Jupiter zum Duell herausfordert (Kap. 4.4.). Interessant scheint dabei die Frage nach einer Aktualisierung philo‐ sophischer Konzepte des griechischen Hellenismus im Kontext des römischen Epos: Was bewirkt der Dichter, indem er diese Konzepte in eine bestimmte Gattungstradition integriert? Was passiert, wenn epische Helden wie Capaneus zumindest teilweise ihr Verhalten an philosophischen Konzepten orientieren, sofern sich eine solche Behauptung überhaupt stützen lässt? In seinen Silven thematisiert Statius auch das von Epikur proklamierte λάθε-βιώσας-Prinzip vor dem Hintergrund des ἀταραξία-Ideals, das natürlich eng mit der epikureischen voluptas verknüpft ist (Kap. 5.3.).49 Im Hintergrund steht dabei vor allem der Kontrast zwischen der epikureischen Empfehlung eines ruhigen und zurückgezogenen Lebensstils und der stoischen Aufforderung zu politischem Engagement. Dieser philosophische Konflikt geht nicht selten mit der traditionsreichen Stadt-Land-Motivik einher. Diese kommt etwa bei Vergil in den Georgica zur Geltung, wenn man an das Lob des Landlebens am Ende von Buch II oder an das vorgeführte Lebensideal des Corycius senex in Buch IV denkt (Kap. 5.1.). Im Hinblick auf Vergils Bucolica und Georgica mit den
47 48 49
Bei diesem Begriff handelt es sich um eine lateinische Nachbildung des griechi‐ schen Wortes μετακόσμια, die wohl aus dem Kunstwortschatz Ciceros stammt; vgl. Blank-Sangmeister (2011) 378, Anm. 38. Diese Sichtweise widerspricht von Grund auf der deterministischen Providenz in der Stoa. Zum Lebensprinzip des λάθε βιώσας vgl. v. a. Epik. fr. 551 Usener; Epik. sent. rat. 14.
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jeweils stadtfernen Schauplätzen erscheint dabei insbesondere die Frage reiz‐ voll, inwiefern die Entpolitisierung im Stadt-Land-Kontrast als epikureisches Konzept eingestuft werden kann und soll und wie sich in Vergils Werken die Ablehnung aktiver politischer Initiative durch den Kepos manifestiert. Ziel ist dabei keinesfalls zu klären, ob Vergil ein Epikureer war, sondern inwiefern bei Vergil möglicherweise ein neuer Umgang mit Epikur und seiner Lehre erkennbar wird und auf welche Kontexte, auf welche Weise und aus welchen Motiven heraus dort gegebenenfalls Epikur-Bilder im Gegensatz zu Lukrez und Horaz angewandt werden.50 Im Mittelpunkt steht das Ideal des Landlebens auch in den Satiren und Episteln des Horaz, das dort wiederum in Kontrast zum Stadtleben gestellt wird (Kap. 5.2.). Trotz einer erkennbaren Offenheit für alternative Lebensmodelle hält die horazische Sprecher-persona an ihrem Plädoyer für das zurückgezogene Leben auf dem Land fest und macht es zum Mittelpunkt seiner moralphilosophischen Ausführungen. Dass diese deutlich gemachte Präferenz für das Landleben nicht unproblematisch ist, zeigt vor allem die Lektüre des ersten Epistel-Buchs. Im Vorfeld der Textuntersuchungen ist es unerlässlich, den Begriff des color Epicureus bzw. der epikureischen ‚Färbung‘ von Texten und Figuren näher darzulegen und durch eine präzisere Skalierung fassbarer zu machen. Für die Identifizierung und Auswertung geeigneter Texte ist der Nachweis intertextu‐ eller Referenzen ein wichtiges Kriterium. Dabei gelten als Prätexte vor allem Werke, die die epikureische Lehre in ihrer Orthodoxie dokumentieren und auf die römische Literatur nachweislich einen großen Einfluss ausgeübt haben (v. a. Epikurs Briefe und Spruchsammlungen in den Ratae sententiae und Sententiae Vaticanae, Lukrez und z.T. auch Philodems Schriften). Mit Hilfe der Kriterien, die Ulrich Broich und Manfred Pfister systemati‐ siert für die Intertextualitätsforschung in anglistischer Literaturwissenschaft vorgestellt haben, lässt sich das Ausmaß der epikureischen Prägung eines Textes deutlicher beschreiben. Broich/Pfister unterscheiden zunächst zwischen Einzeltext- und Systemreferenz. Mit der Systemreferenz kann der intertextuelle Bezug eines Autors z. B. auf eine Gattungstradition, auf die mythische Überlieferung, aber eben auch auf die 50
Um diese komplexe Fragestellung in angemessener Weise untersuchen zu können, ist eine genaue Beobachtung erforderlich, ob Vergil seinen Protagonisten eindeutige Lehrsätze der epikureischen Philosophie in den Mund legt, wie wir sie durchgehend in der Lehrdichtung des Lukrez finden, oder ob es vielmehr zu einer Abwandlung und Vermischung philosophischer Anschauungen im Bereich des täglichen Lebens wie bei Horaz kommt. Ferner gilt es, bei Vergil die jeweilige Szenerie seiner Werke in Zusammenhang mit den politischen Umständen seiner Zeit zu setzen.
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1 Thematische Einführung
philosophische Tradition bestimmt werden, ohne dass ein bestimmter Prätext benannt werden kann oder muss. Die Art der Einzeltextreferenz wiederum kann durch ein modellhaftes Skalierungsmodell präzisiert werden. Dabei kann die Intensität intertextueller Bezüge durch quantitative Kriterien (die Dichte und Häufigkeit intertextueller Bezüge und die Zahl und Streubreite der Prätexte) sowie durch sechs qualitative Kriterien bestimmt werden:51 a.
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R EFERENTIALITÄT: Dabei geht es um die Frage, wie stark der Metatext den Prätext thematisiert und seine Eigenart kenntlich macht. Dies wird besonders an der Art der Einbindung eines Zitats aus dem Prätext ersicht‐ lich: Von einem hohen Grad an Referentialität spricht man, wenn „der Zitatcharakter hervorgehoben und bloßgelegt und damit auf das Zitat und seinen ursprünglichen Kontext verwiesen wird […]“52. In antiker Kunstprosa und Dichtung wird man in den seltensten Fällen markierte Referentialität finden. Selbst dort, wo Ciceros Sprecher tatsäch‐ lich Lehrsätze Epikurs in lateinische Sprache übersetzen und zitieren (v. a. in Ciceros De finibus bonorum et malorum I + II und De natura deorum I), ist die Zitation nicht immer markiert. Schon die Nennung eines Namens ist ein ungewöhnlich hoher Grad an Referentialität in antiker Dichtung. So finden sich bereits in Fragmenten der Komödiendichter Damoxenos und Baton, die bei Athenaios überliefert sind, mehrfach namentliche Verweise auf Epikur (Damox. fr. 2 Kassel/Austin; Bat. fr. 3; 5 Kassel/Austin). Die ‚alexandrinische Fußnote‘ wurde erstmals in der Studie von David O. Ross jr. zum Verhältnis von Gallus und den augusteischen Dichtern Vergil und Properz beschrieben: Der römische Autor gibt einen Hinweis auf seine Prätexte nur dadurch, dass er selbst Formulierungen wie „man sagt“ oder „es ist überliefert“ einfügt (z. B. fama est; dicitur).53 Stephen Hinds (1998) hat diese Hinweise auf metaphorische Ausdrucksweisen ausgeweitet. Auch Figuren, wie Ovids Ariadne, benutzen den Ausdruck memini, um auf die Tradition ihrer eigenen literarischen Modellierung zu verweisen; und Figuren wie der Papagei oder Echo stehen bei Ovid selbst metaphorisch für literarische Wiederholungen.54 Gerade bei Cicero sind dagegen solche Ausdrücke, die auf die epikureische Lehre verweisen, mit konkreten Namen verbunden. Seine Rede gegen Piso enthält beispielsweise Formulierungen wie audistis profecto dici philosophos
Vgl. dazu Broich/Pfister (1985) 26–30. Broich/Pfister (1985) 26. Ross (1975) 78. Hinds (1998) 5f.
1.3 Methodisches Vorgehen
b.
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56
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Epicureos (Cic. Pis. 68), dicit, ut opinor (Cic. Pis. 69) und ceteris studiis quae fere ceteros Epicureos neglegere dicunt (Cic. Pis. 70).55 K OMMUNIKATIVITÄT: Darunter verstehen Broich/Pfister den „Grad der Be‐ wusstheit des intertextuellen Bezugs beim Autor wie beim Rezipienten, der Intentionalität und der Deutlichkeit der Markierung im Text selbst“56. Für ein hohes Maß an Kommunikativität muss der intertextuelle Bezug also sowohl dem Autor selbst als auch dem Rezipienten (des Metatextes) klar sein, weshalb Verweisen auf kanonisierte (Prä-)Texte der Weltliteratur bzw. auf damals aktuelle und weit verbreitete Texte eine große Bedeutung zukommt. Besonders innerhalb von Gattungstraditionen, aber auch bei thematischen Überschneidungen wird für die antike Literatur eine hochgradige Kommu‐ nikativität angenommen. Auf Prätexte der Vorgänger Bezug zu nehmen, indem sie dem neuen Werkkontext angepasst werden, gehört zu den Grundanforderungen an anspruchsvollere Autoren. Vergils Aeneis wird in der Antike vor der Folie der beiden homerischen Prätexte gelesen, indem die Odyssee-Hälfte von der Ilias-Hälfte unterschieden wird. Vergil selbst weist unter anderem in Buch VI und VII seine Leser auf diese Stoffver‐ teilung hin: Sibylle prophezeit Aeneas einen Krieg in Italien, der in der Personenkonstellation einem zweiten trojanischen Krieg gleicht, sodass die Referenzen auf die Ilias als Lesehinweise für Buch VII–XII angekündigt werden. Kurz vor der Ankunft in Ostia fährt Aeneas’ Schiff unbehelligt an Circes Palast vorbei: Für eine Episode der Odysseus-Irrfahrten ist in Buch VII also kein Platz mehr. Kommunikativität kann auch in anamorphotischer Weise erfolgen, wofür Ovid berühmt ist: Er greift gerne die literarische Gestaltung eines Mythos oder einer berühmten literarischen Figur seiner Vorgänger auf, um sie in einem anderen Genre unter anderen Gattungskonventionen neu zu gestalten (z. B. eine liebeselegische Dido oder Medea in den Heroides) oder um andere Schwerpunkte in der Erzählung zu setzen, indem er Leerstellen, die die Erzählung des Prätextes gelassen hat, ausfüllt. Mit seinem Aeneas in der ‚Kleinen Aeneis‘ der Metamorphosen erleben wir Leser die privaten Verhaltensweisen außerhalb der großen repräsentativen Szenen, die Vergil gestaltet hat; für diese verzerrende Perspektive hat sich der filmtechnische Bereits in den erwähnten Fragmenten der griechischen Komödiendichter Damoxenos und Baton liegen vergleichbare Formulierungen mit konkreter Namensnennung wie Ἐπίκουρος οὕτω κατεπύκνου (Damox. fr. 2 Kassel/Austin, 62), ὁ […] Ἐπίκουρός φησιν (Bat. fr. 5 Kassel/Austin, 7) und Ἐπίκουρος ἔλεγε (Bat. fr. 3 Kassel/Austin, 4) vor. Broich/Pfister (1985) 27.
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Begriff ‚anamorphotisch‘ durchgesetzt. Intertextuell könnte man es als eine Sonderform der Dialogizität (siehe f) werten. Neben den bereits erwähnten Fragmenten der griechischen Komödien‐ dichter Damoxenos und Baton und den relevanten Philosophica Ciceros weisen auch dessen rhetorische Werke bei den Bezügen auf Epikurs Lehre einen hohen Grad an Kommunikativität auf.57 Zudem stellen vor allem die beiden Villengedichte des Statius silv. 1, 3 und silv. 2, 2, die in Kapitel 5.3. untersucht werden, anschauliche Beispiele für eine ‚anamorphotische‘ Verarbeitung epikureischen Gedankenguts dar: In der Charakterisierung der beiden Villenbesitzer und in der Beschreibung ihres Landguts werden die Ideale aus Epikurs Lehrbriefen als musterhafte Lebensform im Impe‐ rium Romanum des 1. Jahrhunderts n. Chr. widergespiegelt. A UTOREFLEXIVITÄT: Dieses Kriterium erfüllt der Autor eines (Meta-)Textes gerade dann, wenn er „über die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit seines Textes in diesem selbst reflektiert, d. h. die Intertextualität nicht nur markiert, sondern sie thematisiert, ihre Voraussetzungen und Leistungen rechtfertigt und problematisiert“58. Markierte Autoreflexivität ist vor allem in programmatischen und poeto‐ logischen Äußerungen zu erwarten. Besonders Metaphern werden als Hinweise auf metapoetische Aussagen gewertet; so verweist Vergil auf das benutzte Material seiner Vorgänger (u. a. Ennius), wenn er die epische Beschreibung des Bäumefällens mit itur in antiquam silvam (Verg. Aen. 6, 179a) beginnt.59 Auch die wiederholte Auseinandersetzung der beiden Kepos-Anhänger Velleius (in De natura deorum) und Torquatus (in De finibus bonorum et malorum) mit Epikurs Lehrbedingungen und Leistungen zeugt zumindest stellenweise von einem gewissen Grad an Autoreflexivität. Wenn etwa Torquatus in Cic. fin. 14 von den ständigen Anfeindungen gegen Epikur aufgrund seines provokanten und isolierten Standpunktes berichtet, wird nicht nur der inhaltliche Bezug seiner folgenden Ausführungen auf Epikurs Lehre markiert, sondern darüber hinaus auch die Verteidigung dieser Lehrinhalte legitimiert. S TRUKTURALITÄT: Dies betrifft „die syntagmatische Integration der Prätexte in den [Meta-]Text“60, wobei die Skalierung von einem „bloß punktuelle[n] und beiläufige[n] Anzitieren von Prätexten“61 bis zur Einbeziehung eines Siehe dazu Kapitel 3.1. Broich/Pfister (1985) 27. Hinds (1998) 12f. Broich/Pfister (1985) 28.
1.3 Methodisches Vorgehen
e.
f.
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Prätextes als strukturelle Folie des (gesamten) Metatextes reicht (z. B. in Form einer Parodie, Travestie, Kontrafaktur, Übersetzung oder Imitation). Ein hoher Grad an Strukturalität lässt sich an folgenden zwei Beispielen besonders gut nachweisen: In Buch XV der Punica überführt Silius Italicus den Dialog der Allegorien Virtus und Voluptas in die Epik, indem er die Dialogform als Altercatio beibehält.62 In der Archytas-Ode (carm. 1, 28) behält Horaz die Form der Grabinschrift bei, obwohl es sich eigentlich um den Wunsch nach einer Grabinschrift handelt. S ELEKTIVITÄT: Im Mittelpunkt dieses Kriteriums steht die Frage, „wie poin‐ tiert ein bestimmtes Element aus einem Prätext als Bezugsfolie ausgewählt und hervorgehoben wird und wie exklusiv oder inklusiv der Prätext gefasst ist, d. h. auf welchem Abstraktionsgrad er sich konstituiert“63. Demnach zeigt ein wörtliches Zitat eine größere intertextuelle Intensität an als ein indirekter Verweis und dieser ist wiederum ein stärkeres Indiz für Intertextualität als der Bezug auf Gattungskonventionen des Prätextes. Selektivität wird oft dadurch erreicht, dass mit einem Stichwort, einem Schlüsselbegriff, einem Motiv oder einem Topos ein bestimmter Prätext oder Themenbereich aufgerufen wird, der für den Metatext relevant wird. Wenn etwa Horaz anaphorisch den Begriff otium zum Thema seiner Ode 2, 16 erklärt, ist damit der epikureische Zielbegriff angesprochen. Die Intensität dieser spezifischen Bedeutung kann allerdings dadurch geschwächt werden, dass der Begriff, das Motiv oder der Topos nicht nur auf einen bestimmten Prätext verweist, sondern in einem weiter gefassten motivgeschichtlichen Kontext oder auch gattungsübergreifend vorkommen kann. D IALOGIZITÄT: Das letzte qualitative Kriterium zielt auf das Spannungsver‐ hältnis zwischen Prä- und Metatext in semantischer und ideologischer Hinsicht ab. Ist also beispielsweise eine ironische Relativierung oder eine differenzierende Neukontextualisierung des Prätextes bzw. ausgewählter Elemente des Prätextes festzustellen, wird die intertextuelle Intensität höher eingestuft als bei (weitgehend wortgetreuen) Übersetzungen und Imitationen des Prätextes. Der Leser kann die Neugestaltung erst vor der Folie des Prätextes in vollen Zügen genießen. Dialogizität ist deshalb in antiker Literatur sehr häufig als intendiert anzunehmen: Die Spannung kann bei Horaz beispielsweise auf der Ebene der Systemreferenz dadurch erzeugt werden, dass ein Thema, Ebd. Siehe dazu Kapitel 3.4.1. Broich/Pfister (1985) 28.
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1 Thematische Einführung
das vom Leser als typisch für die epikureische Ethik (also für eine philoso‐ phische Darstellung) identifiziert werden kann, mit literarischen Mitteln gestaltet wird, die zu Epikurs Lehre in Widerspruch stehen. Ein großes Problem der Oden-Forschung ist etwa die von Epikur strikt abgelehnte Vorstellung, dass Götter in das menschliche Leben eingreifen. Trotzdem gibt es zahlreiche Stellen, an denen Horaz Götter einsetzt, die das mensch‐ liche Leben nicht nur beobachten, sondern aktiv beeinflussen (z. B. carm. 1, 10; 1, 17; 1, 21; 1, 34; 3, 1), oder Menschen die Götter um Hilfe bitten (z. B. carm 1, 3; 1, 31; 1, 32; 1, 35), ohne dass diese Vorstellung als falsch markiert wird. Durch die Anwendung dieser Kriterien für Intertextualität soll unter Berück‐ sichtigung von autoren- und gattungsspezifischen Charakteristika eine dia‐ chrone und die literarischen Gattungsgrenzen überschreitende Entwicklung der facettenreichen Darstellungsweisen epikureischen Gedankenguts im Kontext römischer Figurenmodellierung aufgezeigt werden. Wie kommt es etwa dazu, dass Statius zum einen in Orientierung an Horaz und seine Maecenas-Darstel‐ lung die Figur des ‚guten‘ Epikureers in einem Gedicht seiner Silvae rezipiert, während er zum anderen mit dem wilden Gottesleugner Capaneus in der Thebais eine dazu diametral entgegengesetzte Figur mit scheinbar epikureischer ‚Färbung‘ skizziert? Inwiefern knüpfen beispielweise römische Elegiker oder Epiker an moralphilosophische Gedanken und Motive an, die dem Epikureismus nahestehen und bereits bei Lukrez vorzufinden sind? Welche literarischen Funk‐ tionen lassen sich der jeweiligen Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ personae mit Blick auf ihre kontextuelle Einbindung in das Werkganze zuordnen?
2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur 2.1 Zur Tradition der Rezeption philosophischen Gedankenguts in der griechischen Dichtung vor Epikur Auch wenn in dieser Arbeit hauptsächlich Cicero mit seiner Darstellung epiku‐ reischer Anhänger als Ausgangspunkt für die Modellierung solcher Figuren in der spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Dichtung dienen soll, ist es in der heutigen Forschung längst unumstritten, dass epikureisches Gedan‐ kengut schon vor Cicero in der römischen Literatur rezipiert worden war. In diesem Kapitel soll anhand einiger Textbeispiele dem begründeten Verdacht nachgegangen werden, dass auch in der vor- und frührömischen Literatur, die nach Epikurs Schulgründung entstanden ist, einige Indizien für eine literarische Beschäftigung mit der damals – zumindest in ihrer institutionalisierten Form – noch recht jungen Lehre des Kepos vorhanden sind. Wenn man die Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr. als Zeitraum annimmt, in dem Epikur seinen ‚Garten‘ gegründet haben soll, lässt sich ein sinnvoller Startpunkt für eine derartige Suche frühestens ab dem Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. ansetzen. In der antiken Dichtung haben moralische Reflexionen außerhalb von philosophischen Schriften, die somit auch nicht auf eine konkrete philosophische Lehre zurückzuführen sind, zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Tradition: Schon in den homerischen Epen – verwiesen sei etwa auf die achilleische Lebenswahl im neunten Buch der Ilias – und in den Werken Hesiods finden sich zahlreiche Spuren von Phänomenen, die man nachträglich als philosophische Grundmotive bezeichnen könnte. Hinzu kommen staatsphilosophische Inhalte, die in frühgriechischen Werken wie etwa in Solons Eunomie oder bei Tyrtaios thematisiert wurden.1 1
Neben der berühmten Eunomie-Elegie Solons (4 West = Demosth. or. 19, 254 f.) sind in diesem Rahmen insbesondere auch einige andere Solon-Gedichte zu nennen, z. B. 13 West = Stob. 3, 9, 23; 23 West = Plat. Lys. 212 d–e; 24 West = Thgn. 719–728; Stob. 4, 33, 7; 14 West = Stob. 4, 34, 23; 16 West = Clem. Al. Strom. 5, 81, 1; 17 West = Clem. Al. Strom. 5, 129, 5; 22 a West = Prokl. Tim. 1 c; 27 West = Phil. opif. mund. 104; zur berühmten Elegie des Tyrtaios über den Tod für das Vaterland siehe 10 West = Lykurg. 107; thematisch daran anschließend die Tyrtaios-Gedichte 11 West = Stob. 4, 9, 16; 12 West = Stob. 4, 10, 1 (1–14) und 6 (15–44); 14 West = Plut. de Stoic. rep. 14 p. 1039 e.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
Am meisten verbindet man mit der poetischen Aufbereitung und Neukon‐ textualisierung philosophischer Fragen, Themen und Vertreter das Drama der klassischen Zeit, wenn man nur an die moralphilosophischen Problemstel‐ lungen in Tragödien – und dort gerade auch in den Chorliedern – wie den sophokleischen Ödipus-Dramen (v. a. König Oedipus und Oedipus auf Kolonnos) und den unterschiedlichen Tragödien um Elektra und Orest (Aischylos, Orestie; Sophokles, Elektra; Euridpides, Elektra) denkt oder natürlich auch an den karikierend-parodistische Philosophenspott in den Komödien des Aristophanes (z. B. Die Wolken).2 Überhaupt ist mit fortschreitender Entwicklung des Dramas als literarischer Gattung eine kontinuierlich gesteigerte Beschäftigung mit wirkmächtigen Persönlichkeiten und Schulen der Philosophiegeschichte nach‐ weisbar: Waren etwa in der Alten Komödie noch Sokrates und sein revolutio‐ näres Philosophieren im Blickpunkt der aristophanischen Karikierung zeitge‐ nössischer intellektueller Strömungen, so richtete sich das Hauptaugenmerk des Philosophenspotts in der Mittleren Komödie in erster Linie auf die Pythagoreer und auf Platon mit seiner Akademie.3 In diesem Zusammenhang müssen auch unbekanntere Zeugnisse wie die Komödien-Fragmente des Pythagoreers Epi‐ charmos berücksichtigt werden, die von zahlreichen philosophischen Motiven durchzogen sind.4 Der Verdacht liegt nahe, dass gerade nach der Gründung der beiden jüngsten hellenistischen Philosophenschulen, Stoa und Kepos, die Rezeption philosophi‐ schen Gedankenguts in der antiken Literatur einen neuen Aufschwung erfährt, deutliche Spuren hinterlässt und Aussagen über die Verbreitung und die litera‐ rische Funktionalisierung entsprechender Philosopheme ermöglicht. Bezüglich der Epikureer ist das gerade auch deshalb gut nachvollziehbar, da philosophische Schulen, die in ihrer Lebensweise – vereinfacht gesagt – mitunter hedonistische Züge aufweisen (wie die soeben angesprochenen Pythagoreer), schon zuvor mit‐ tels Figurenmodellierung, d. h. mittels karikierender Figuren(über)zeichnung, in der griechischen Komödie häufig thematisiert wurden.5 Zu diesem Zweck seien
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Vgl. zur Verbindung von Tragödie und (politischer) Philosophie u. a. Flaig (2013) 71–98; Ahrensdorf (2009) passim; Schottlaender (1989) 202–218; zur Verbindung von Komödie und Philosophie u. a. Konstan (2014) 278–294; Hošek (1991) 23–35; Schottlaender (1989) 219–228. Vgl. v. a. Hošek (1991) 23–35; zur Rolle von Philosophie und Tragödie in der Mittleren Komödie siehe auch Stark (21972) 73–95. Vgl. u. a. die Platon-Parodie in PCG I fr. 277 Kassel/Austin (= 171 Kaibel); doch auch in kürzeren Fragmenten kommt der sarkastisch-parodistische Umgang mit philosophi‐ schen Lehrsätzen zur Geltung, vgl. z. B. PCG I fr. 270 Kassel/Austin (= 286 Kaibel): σώφρονος γυναικὸς ἀρετὰ τὸν συνόντα μὴ ἀδικεῖν {ἄνδρα}; fr. 271 Kassel/Austin (= 287 Kaibel): τῶν πόνων πωλοῦσιν ἁμῖν πάντα τἀγαθ’ οἱ θεοί.
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einige Textpassagen griechischer (Menander, Damoxenos, Baton, Antiphanes, Hegesipp) und frührömischer Dichter (Plautus, Terenz, Ennius, Pacuvius) vor‐ geführt und vor dem Hintergrund ihrer Entstehung und des inhaltlichen Kontextes in den einzelnen Werken sowie unter Einbeziehung des jeweiligen Forschungsstandes auf ihre philosophische Dimension hin untersucht.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie 2.2.1 Zur Rolle der (epikureischen) Philosophie bei Menander Es ist sicherlich naheliegend, dass Menander der erste Autor ist, den man in diesem Zusammenhang näher betrachten muss. Seit jeher wird in der Menander-Forschung die Frage diskutiert, ob und inwiefern die von ihm über‐ lieferten Werke eine schlüssige und nachweisbare Nähe zu philosophischem und speziell zu peripatetischem Gedankengut aufweisen, zumal er als Schüler des Aristoteles-Nachfolgers Theophrast gilt.6 Noch weitaus umstrittener ist bis heute eine mögliche Auseinandersetzung Menanders mit epikureischem Gedankengut, von der im Grunde genommen nur recht weit zurückliegende Arbeiten wie die von Karl Büchner (1937), Max Pohlenz (1943) und Norman DeWitt (1952) ausgehen.7 Tatsächlich wird eine philosophische Komponente in Menanders Komödien in der Forschung zumeist nicht angezweifelt, eine klare Zuordnung der je‐ weiligen Textstellen bzw. der Äußerungen von Komödienfiguren zu einer bestimmten philosophischen Schule ist meist jedoch recht spekulativ, auch wenn die Dominanz peripatetischen Gedankenguts wohl kaum zu bestreiten ist.8 Ausgehend von der Erkenntnis, dass Menander und Epikur zwar (na‐ hezu) Altersgenossen waren und offenbar auch gemeinsam den Ephebendienst 5 6
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Vgl. Hošek (1991) 26–29, der dabei insbesondere die kulinarische Komponente pytha‐ goreischer Lebensweise als Angriffspunkt für den Philosophenspott in der Mittleren Komödie hervorhebt. Als Hauptzeugnis für diese Verbindung zwischen Theophrast und Menander fungiert immer noch Diog. Laert. 5, 36 = test. 7 Körte/Thierfelder. Für einen deutlichen Einfluss peripatetischen Gedankenguts im Werk Menanders sprechen sich u. a. insbesondere Barigazzi (1965), der Menander gar als „poet of the Peripatos“ (S. 230) bezeichnet, Gaiser (1967) 17–40, Schottlaender (1989) 219–228, Blume (1998) 6 und zuletzt Casanova (2014) 137–151 aus; große Bedenken gegen eine allzu enge und überbetonte Verbindung von Peripatos und Menanders Werk hegen dagegen u. a. bereits Luria (1965) 23–31, Lasserre (1966) 618 f., Arnott (1967) 150, Wehrli (1970) 147–152 und Gigante (1971) 465–484. Einen Überblick über ältere Forschungsliteratur, die Epikureisches bei Menander nachzuweisen versucht, gibt insbesondere Gaiser (1967) 17, Anm. 44.
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verrichteten, ist eine Bekanntschaft der beiden relativ wahrscheinlich.9 Die Datierung von Epikurs Schulgründung auf das Jahr 306 oder 305 v. Chr. lässt allerdings den Schluss zu, dass Menander höchstens in seinem Spätwerk auf (institutionalisiertes) Gedankengut des Kepos hätte zurückgreifen können – eine wenig haltbare Annahme, die ohnehin von zahlreichen Menander-For‐ schern abgelehnt wird.10 Wenn man dabei von ca. 290 v. Chr. als Todesjahr des Komödiendichters ausgeht, bliebe also maximal – aber immerhin – ein Zeitraum von fünfzehn Jahren, um epikureischem Gedankengut in irgendeiner Weise einen Platz in Menanders Dichtung einzuräumen. Als einzige Textpassage, die für eine derartige Untersuchung diskussion‐ würdig scheint, haben sich die Äußerungen des Onesimos in den Epitrepontes herausgestellt, was nicht nur aufgrund dieses ‚Alleinstellungsmerkmals‘ proble‐ matisch für die Annahme einer nachweisbaren und textimmanent zu begrün‐ denden Auseinandersetzung Menanders mit epikureischem Gedankengut ist: Zu den bislang schon angedeuteten Einwänden gegen eine solche Annahme kommt die fehlende Datierbarkeit des Stückes erschwerend hinzu. Trotz all dieser massiven Vorbehalte besteht für die Entdeckung von Szenen mit epi‐ kureischem Gedankengut zumindest eine theoretische Möglichkeit, die auch Casanova mit Blick auf den schmalen Zeitkorridor einräumt, in der eine solche Bezugnahme überhaupt denkbar scheint.11 Gerade (spät-)antike Zeugnisse, die eine entsprechend einflussreiche Verbindung zwischen Menander und Epikur annehmen, wie etwa der Bezug einer Verspassage aus Menanders Epitrepontes auf Epikur, den der neuplatonische Philosoph Elias (wohl 6. Jahrhundert n. Chr.)
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Das Resümee von Gaiser (1967) 8 über die Beurteilung dieser diffizilen Frage in der Forschung scheint auch heute nur wenig von seiner Aktualität verloren zu haben: „Wer die philologische Literatur über das Verhältnis Menanders zur Philosophie seiner Zeit durcharbeit, erhält einen unsicheren und zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite wird sehr vieles bei Menander auf die Philosophie, besonders auf den Peripatos zurückgeführt; […]. Auf der anderen Seite aber wird bis heute erklärt, nichts sei uns von Menander bekannt, was nicht ebenso gut auch ohne den Einfluss der Philosophenschule verstanden werden könne“. Vgl. test. 3 Körte/Thierfelder (über Geburts- und Sterbejahr Menanders); test. 6 Körte/ Thierfelder = Strab. 14, 638: καὶ δὴ καὶ τραφῆναί φασιν ἐνθάδε (sc. Ἐπίκουρον ἐν Σάμῳ) καὶ ἐφηβεῦσαι Ἀθήνησι· γενέσθαι δ’ αὐτῷ συνέφηβον Μένανδρον τὸν κομικόν; siehe dazu auch Büchner (1937) 162; Pohlenz (1943) 274; DeWitt (1952) 116–120; Gomme/ Sandbach (1973) 1; 378; anders dagegen Barigazzi (1965) 88–92. Vgl. u. a. Casanova (2014) 137; Webster (21960) 217; Wilamowitz (1925) 110–113. Casanova (2014) 139 macht seine strikte Ablehnung sehr deutlich: „If we look for traces of Epicureanism and Stoicism in Menander’s cultural development, we commit a historic mistake: one’s masters are not one’s coevals“. Vgl. Casanova (2014) 139f.
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in seinem Kommentar zu den Kategorien des Aristoteles herstellt, dürften dafür Rechtfertigung genug sein.12 Daher wird der betreffende Passus aus Menanders Komödie, die von dem Streit um die vermeintlich untreu gewordene Pamphile handelt, zumindest kurz in den Blick genommen, um dem vermeintlich epikureisch ‚gefärbten‘ Dialog zwischen Onesimos und Smikrines auch inhaltlich gerecht zu werden.13 Smikrines, der Vater der Pamphile, die von ihrem Gatten Charisios der Untreue beschuldigt wurde, ist darauf bedacht, die Mitgift seiner Tochter zu retten, und begibt sich aufgebracht über die offensichtlichen Mahnungen seiner Dienerin Sophrone zum Haus des Charisios, um sein ehemaliges Eigentum samt Tochter zurückzufordern: Ον. Σμ. Ον. Σμ. Ον. Σμ. Ον. Σμ.
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τίς ἐσθ’ ὁ κόπτων τὴν θύραν; ὤ, Σμικρίνης ὁ χαλεπός, ἐπὶ τὴν προῖκα καὶ τὴν θυγατέρα ἥκων. ἔγωγε, τρισκατάρατε. καὶ μάλα ὀρθῶς· λογιστικοῦ γὰρ ἀνδρὸς καὶ σφόδρα φρονοῦντος ἡ σπουδή, τό θ’ ἅρπασμ’, Ἡράκλεις, θαυμαστὸν οἷον. πρὸς θεῶν καὶ δαιμόνων – οἴει τοσαύτην τοὺς θεοὺς ἄγειν σχολὴν ὥστε τὸ κακὸν καὶ τἀγαθὸν καθ’ ἡμέραν νέμειν ἑκάστωι, Σμικρίνη; λέγεις δὲ τί; σαφῶς διδάξω σ’. εἰσὶν αἱ πᾶσαι πόλεις, ὅμοιον εἰπεῖν, χίλιαι· τρισμύριοι οἰκοῦσ’ ἑκάστην. καθ’ ἕνα τούτων οἱ θεοὶ ἕκαστον ἐπιτρίβουσιν ἢ σώιζουσι; πῶς; λέγεις γὰρ ἐπίπονον τιν’ αὐτοὺς ζῆν [βίον.
(720) 1080 (725) 1085 (730) 1090
Vgl. Elias in Aristot. cat. prooem. CAG XVIII, 1, p. 111, l. 32–p. 112, l. 16; siehe dazu auch Gaiser (1967) 28, Anm. 83. Auch in einem Brief Alkiphrons (Alki. 4, 19, 14) und in einem Epigramm der Anthologia Palatina (Anth. Pal. 7, 72) lassen sich generell ähnliche Interpretationstendenzen für eine enge Verbindung zwischen Menander und Epikur herauslesen; der (literar-)historische Wert dieser beiden Textzeugnisse wird indes von der Forschung seit geraumer Zeit stark angezweifelt; siehe dazu Körte (1931) 709 f.; DeWitt (1952) 116. In der maßgeblichen Edition von Sandbach, die für diese Arbeit herangezogen wurde, orientieren sich die Versangaben ohne Klammern an der Zählung von Gomme, die Verszahlen in Klammern sind dagegen der dritten Edition von Körte entnommen.
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Ον.
οὐκ ἆρα φροντίζουσιν ἡμῶν οἱ θεοί, φήσεις; ἑκάστωι τὸν τρόπον συν[ώικισαν φρούραρχον· οὗτος ἔνδο[ν] ἐπ[ ἐπέτριψεν, ἂν αὐτῶι κακῶς χρη[σώμεθα, ἕτερον δ’ ἔσωσεν. οὗτός ἐσθ’ ἡμῖν θεὸς ὅ τ’ αἴτιος καὶ τοῦ καλῶς καὶ τοῦ κακῶς πράττειν ἑκάστωι· τοῦτον ἱλάσκου ποῶν μηδὲν ἄτοπον μηδ’ ἀμαθές, ἵνα πράττηις καλῶς.
(735) 1095 (740)
1094 fortasse ἐπιτεταγμένος : non fuit ἐνδελεχής (Robert) neque ἔνδον ἕτερον (Lefebvre) (Men. Epitr. 1078–1099 [720–741]) On. Wer ist’s, der an die Türe klopft? Oh, Smikrines, der Quälgeist, kommt hier um die Mitgift her und um die Tochter. Sm. Allerdings, verdammter Schuft! On. Und sehr zu Recht; den rechnenden und klug bedachten Mann zeigt dieser Eifer, und die Beute – Herakles, erstaunlich! Sm. Bei den Göttern und Dämonen, ja – On. Glaubst du, die Götter hätten so viel Zeit, um Glück und Unglück einem jeden einzeln Tag für Tag uns zuzuteilen, Smikrines? Sm. Was redest du? On. Ich will’s dir klar erläutern. Städte gibt’s gesamt, so angenommen, tausend, mit je dreißigtausend Bewohnern: messen jedem einzelnen davon die Götter denn sein Wohl und Wehe zu? Sm. Wie das? Da sprichst du ihnen ja ein mühsames Leben zu. On. Dann kümmern also sich die Götter nicht um uns, nicht wahr? Sie pflanzen jedem den Charakter ein als Wächter; dieser drinnen […] zermürbt uns wohl, wenn wir verkehrt umgehn mit ihm, und er beschützt den Rechten. Der ist uns der Gott und Urheber jedem einzelnen, ob es ihm gut geht oder schlecht; den musst du sänftigen, indem du nichts Verkehrtes tust noch Dummes, so geht’s dir gut. (Übersetzung nach Peter Rau, mit leichten Änderungen)
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Diese Konfrontation erfolgt, nachdem sich der Irrtum über Pamphiles angeb‐ liche Untreue bereits für alle Protagonisten außer für Smikrines aufgeklärt hat. Onesimos als treuer Sklave des Charisios bemüht sich darum, seinen Herrn in Schutz zu nehmen und vor möglichen (verbalen und tätlichen) Angriffen zu bewahren. Dieses Ziel versucht er nicht zuletzt dadurch zu erreichen, dass er sein rhetorisches Geschick anwendet und so auch das Ansinnen des zornigen Brautvaters zu verhindern weiß. Teil dieses rhetorischen Geschicks bzw. der Argumentation des Onesimos in diesem Dialog ist insbesondere seine unvermittelte Thematisierung der Frage nach dem Einfluss der Götter auf die Menschen. Dieser thematische Exkurs dient allerdings nicht allein als abruptes Ablenkungsmanöver, um Smikrines von seinem eigentlichen Vorhaben, der Rückholung von Tochter und Mitgift, abzubringen, indem er auf die moralische Falschheit seines Tuns hingewiesen wird. Vielmehr zielt dieser rhetorische Schachzug des Onesimos letztlich auf die Aufklärung des Smikrines und damit auf die Auflösung des restlichen Konfliktpotentials ab, das die Komödienhandlung an dieser Stelle noch birgt. Wenn man nun den philosophischen Gehalt der ab V. 1084 vorgebrachten Äußerungen näher betrachtet, so stellt man recht schnell fest, dass es sich nicht um das einheitliche Lehrgut einer genau bestimmbaren Schule handelt, sich aber doch punktuell durchaus Versatzstücke aus den Lehren verschiedener Schulen identifizieren lassen. Natürlich erinnert die vorgetragene Ansicht, dass die Götter sich nicht um das Schicksal aller Menschen kümmern würden bzw. könnten, weil sie sonst ein ἐπίπονος βίος hätten (V. 1091), auf den ersten Blick an die theologische Überzeugung der Epikureer.14 Mit V. 1093 wird Onesimos jedoch eine philosophische Ansicht in den Mund gelegt, die der epikureischen Vorstellung widerspricht und – mit der Annahme eines indirekten Einflusses der Götter über die menschliche Charakterbildung – stattdessen viel stärker dem sokratisch-platonischen Glauben an ein δαιμόνιον gleicht:15 Dieser Gedanke reicht ferner wohl bis Heraklit zurück und findet sich im Übrigen auch sowohl in den Epicharmos-Fragmenten als auch bei Senecas stoischen Ausführungen in seinen Lucilius-Briefen.16 Vor diesem Hintergrund kommen Gomme/Sandbach in ihrem Menander-Kommentar für die oben zitierte Passage zu einem folge‐ 14 15
Vgl. Cic. nat. deor. 1, 51 f.; siehe dazu auch Furley (2009) 246; Pohlenz (1943) 274. In Men. Epitr. 1093–1098 wird diese Art von Schutzgeist zwar nicht explizit als δαιμόνιον bezeichnet, sondern einmal als τρόπος φρούαρχος und einmal als θεός bzw. αἴτιος καὶ τοῦ καλῶς καὶ τοῦ κακῶς πράττειν, doch die Beschreibung und Funktion dieser Gottheit steht sehr im Einklang mit der Vorstellung, die Platon in zahlreichen Werken seinem Lehrer Sokrates zuschreibt; vgl. u. a. Plat. apol. 24 b–c; 31 c–d; 40 a–c; Euthyphr. 3b; Euthyd. 272 e–273a; rep. 496 c; Phaidr. 242 b–243 b; Tht. 151 a; siehe dazu auch Gomme/Sandbach (1973) 378f.
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richtigen Schluss: „The idea […] is Epicurean, e.g. Cic. ND i. 52 […], but not necessarily solely Epicurean. At any rate there is nothing Epicurean about the sequel that the gods do care for the world, but by the mediation of men’s own characters“.17 Die thematische Rückbindung an die problematische Gesamtsituation erfolgt jedoch erst ab V. 1100, als auch Smikrines – natürlich voller Empörung über den kaum versteckten Tadel in den Ausführungen des Onesimos – seine Einstellung und sein Verhalten auf das soeben Gehörte zu übertragen beginnt. Dass Smikrines nun selbst auf philosophische Terminologie zurückgreift und zwischen dem ἀγαθόν und dem ἀναγκαῖον differenziert (V. 1104), macht sich Onesimos für seine eigene Position zunutze, indem er Smikrines die Worte im Mund verdreht und ihm ein κακόν (V. 1105) bzw. ein πονηρὸν πρᾶγμα (V. 1107) vorhält. Mit dem zusätzlich eingeführten Begriff des αὐτόματον in V. 1106 zeigt Onesimos seinem Widersacher zudem die Diskrepanz von dessen Charakter und einer übergeordneten Schicksalsmacht auf, die er mit eben jenem Ausdruck bezeichnet.18 Festzuhalten für diesen Dialog im Schlussteil von Menanders Komödie bleibt also einerseits, dass eine Referentialität auf epikureisches Gedankengut kaum nachzuweisen ist, andererseits aber auch, dass im Sinne von System‐ referenz eine Einbeziehung allgemeinphilosophischer Gedanken, die damals schon eine reiche Tradition aufweisen konnten, unverkennbar ist.19 Somit ist sicherlich jeder Versuch, die philosophischen Überlegungen des Onesimos einheitlich einer bestimmten – auch der peripatetischen – Schule zuzuweisen oder gar auf den Komödiendichter selbst zu projizieren, ein aussichtsloses und wenig aufschlussreiches Unterfangen.20 Der ‚Witz‘ dieser Passage besteht wohl vielmehr in der Kombination von unverträglichen Lehrmeinungen, die 16
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Vgl. Herakl. fr. Diels/Kranz 22 B 78 = Orig. c. Cels. 6, 12: ἦθος γὰρ ἀνθρώπειον μὲν οὐκ ἔχει γνώμας, θεῖον δὲ ἔχει; fr. Diels/Kranz 22 B 119 = Stob. 4, 40, 23: ἦθος ἀνθρώπωι δαίμων; Epich. fr. B 17 Diels/Kranz = 258 Kaibel: ὁ τρόπος ἀνθρώποισι δαίμων ἀγαθός, οἷς δὲ καὶ κακός; Sen. epist. 41, 2: […] sacer intra nos spiritus sedet, malorum bonorumque observator et custos […]; siehe dazu vor allem Furley (2009) 248 und Gomme/Sandbach (1973) 378 f. und schon Wilamowitz (1925) 112f. Gomme/Sandbach (1973) 378; ähnlich dazu schon Pohlenz (1943) 274, der für die Epitrepontes insgesamt eine deutliche Distanzierung Menanders zu epikureischem Gedankengut annimmt. Näheres dazu v. a. bei Vogt-Spira (1992) 180–183. Blume (1968) 475 ist in diesem Zusammenhang zu einem gut vertretbaren Ergebnis ge‐ kommen: „Epikur […] konnte dem Dichter schwerlich nahegestanden haben. Dennoch ist ‚epikureisches‘ Gedankengut, wie es etwa Büchner, Klotz und Pohlenz nachzuweisen suchten, nicht zu leugnen: es handelt sich eben nicht um direkte Abhängigkeit, sondern um Spiegelungen von Gedanken, die in gebildeten Kreisen Allgemeingut waren […]“.
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Onesimos aufgeschnappt hat und nun rhetorisch so einsetzt, dass er seine Ziele erreicht. Notwendige Voraussetzung dafür ist, dass man als Zuschauer diese philosophischen Gedankengänge im Sinne der Systemreferenz identifizieren und zugleich erkennen muss, dass es sich um unverträgliche Lehrmeinungen handelt. Dazu reicht es aus, die Widersprüchlichkeit festzustellen, denn eine Einzeltextreferenz ist zum Verständnis nicht unbedingt nötig, vielleicht sogar gar nicht möglich. Aufgrund der eingangs geschilderten Unsicherheit, die zeitliche Abfolge der hier behandelten Menander-Komödie und der Epikur-Vorschriften zweifelsfrei zu rekonstruieren, verbietet es sich, die intertextuellen Relationen zwischen beiden Werken und damit die Kommunikativität, wie weit dem Rezipienten dieser Bezug bewusst sein kann und soll, bestimmen zu wollen, zumal nicht einmal grundlegend geklärt werden kann, welcher Text als Prätext und welcher als Metatext fungieren würde. Zudem handelt es sich nur um eine einzige Stelle in der Menander-Komödie, die überhaupt für eine epikureische Deutung infrage käme. Um abschließend – trotz eines fehlenden epikureischen bzw. philosophisch klar kategorisierbaren Fundaments – nochmals auf die Funktion zu sprechen zu kommen, die der unerwartete Philosophie-Exkurs von Onesimos für die Gesamthandlung einnimmt, sei über das oben schon angesprochene Ziel des Sklavens, den wütenden Smikrines aufzuhalten und von seinem Vorhaben abzulenken, hinaus generell auf die komödiantische Wirkung dieser Szene hin‐ gewiesen:21 Die Beobachtung, dass Onesimos offensichtlich auf ein ‚Potpourri‘ theologischer Anschauungen rekurriert,22 um Smikrines zu besänftigen und 20
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Ähnlich dazu etwa Luria (1965) 23 f. und zuletzt auch Casanova (2014) 141 f. Während Barigazzis Ablehnung von epikureischem Einfluss in Menanders Werk recht schnell und vielfach Unterstützung gefunden hat (vgl. dazu u. a. Gaiser, 1967, 17, Anm. 44, sowie die Rezensionen von Arnott, 1967, 149–151, und Webster, 1967, 472–474), ist sein hartnäckiger Versuch, Menanders enge Anlehnung an den Peripatos zu beweisen, unterschiedlich beurteilt worden; siehe dazu Anm. 6 in diesem Kapitel; anerkennend äußert sich dagegen Vogt-Spira (1992) 180. Blume (1998) 125 vertritt sogar die Auffas‐ sung, dass Onesimos „nur mit Gedanken [jongliere], die damals zum Allgemeingut der Gebildeten zählten“; ähnlich dazu schon Gomme/Sandbach (1973) 377: „It need hardly be said that it would be absurd to look for any expression of Menander’s own opinions in Onesimos’ philosophizing. He uses scraps of various current ideas with the object of exasperating Smikrines. This is a comic scene not a sermon“. Vgl. Casanova (2014) 142: „the speech intentionally pieces together different and incoherent arguments in order to prevent the opponent from responding. It should be regarded rather as a set piece meant to amuse the audience rather than convey a definite message“; dazu ähnlich schon Wilamowitz (1925) 113: „Menander hat also den Sklaven ebenso wie vorher den Syriskos mit halbverstandenen Erinnerungen an die höhere Bildung aufspielen lassen“.
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seinen Herrn Charisios zu beschützen, verstärkt in Kombination mit der daraus resultierenden Verunsicherung des Smikrines den Eindruck des Lesers, dass Pamphiles Vater, der ohnehin als Letzter über alle Irrtümer aufgeklärt wird, in seiner Gier, seiner Wut und seiner Verwirrung eine besonders lächerliche Figur in Menanders Komödie darstellt.23 Das komische Element in dieser Szene überwiegt in jedem Fall somit jegliche philosophische Interpretationen.24 2.2.2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in den Komödienfragmenten bei Athenaios Natürlich ist Menander nicht der einzige griechische Komödiendichter, der für eine Spurensuche nach einer frühen Rezeption epikureischen Gedankenguts infrage kommt. Von einer Reihe an diesbezüglich diskussionswürdigen Autoren werden mit Damoxenos, Baton, Antiphanes und Hegesipp exemplarisch die in dieser Hinsicht wohl einschlägigsten Dramatiker des 3. Jahrhunderts v. Chr. für eine nähere Betrachtung herangezogen, zumal uns ihre relevanten Fragmente im thematischen Rahmen der sogenannten „Gastrologie“ des Archestratos in den Deipnosophistai des Athenaios aus Naukratis vorliegen. In seinem Gelehrtenmahl schildert der Poikilograph Athenaios (2./3. Jahr‐ hundert n. Chr.) ein mehrtägiges Gastmahl bei Larensius, einem hohen Staats‐ funktionär und Literaturkenner in Rom; der wiedergegebene Verlauf dieses Gastmahls ist wiederum eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der der gleichnamige Erzähler seinem Freund Timokrates von ebendiesem Gelage und den dort geführten Tischgesprächen zwischen den rund 30 Gästen berichtet. Unter der hohen Zahl an Zitaten aus sonst nur geringfügig bekannten Werken der griechischen Literatur befinden sich insbesondere Auszüge und Titel der Mittleren und Neuen Komödie.
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Vgl. Casanova (2014) 140: „[…] a comic pastiche whimsically mixing together different philosophical doctrines“; 141f.: „a pastiche of philosophical commonplaces meant to bewilder and mock the old man“; siehe dazu schon DeWitt (1952) 121: „[…] a specimen of multiple allusion“. Den komisch-ironischen Charakter dieser Szene und ihre Bedeutung für die ganze Komödie betont auch Vogt-Spira (1992) 183, wenn er zu dem Ergebnis kommt, „dass hinter Onesimos’ Erhebung des τρόπος zum göttlichen ‚Platzkommandanten‘ kaum ein ernsthafter menandrischer Gedanke zu erkennen ist, vielmehr auch dieses Stück ein Wechselspiel zwischen Zufall und Charakter zeigt“; zur generellen Bedeutung von Schicksal, Zufall und Charakter in Menanders Epitrepontes siehe auch Vogt-Spira (1992) 168–179. Vgl. insbesondere Casanova (2014) 141f.
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Zu den teilnehmenden Deipnosophistai zählen neben Rechtsgelehrten, Dichter und Grammatikern vor allem auch Philosophen, Rhetoriker, Naturfor‐ scher und Musiker.25 Einer der bemerkenswertesten Gäste, der zugleich den dominanten Gesprächspart übernimmt, ist Ulpian, der sich insbesondere mit dem Kyniker Theodoros – von Ulpian nahezu durchgehend mit dem Spottnamen Κύνουλκος angesprochen (z. B. Athen. 3, 100 b) – zum Teil hitzige Wortgefechte liefert.26 Neue Themenblöcke bzw. Gesprächsabschnitte werden dabei häufig durch neu servierte Spiesen initiiert, die die jeweiligen Teilnehmer zur Fortfüh‐ rung des symposialen Gesprächs veranlassen.27 2.2.2.1 Archestratos und Epikurs Lustlehre Als besonders diskussionswürdig stellt sich dabei die Inszenierung des Archest‐ ratos aus Gela (oder Syrakus), der von Athenaios wohl nach dem historischen Dichter des 4. Jahrhunderts v. Chr. angelegt ist und in Athen. 1, 4 e als Autor der Gastronomia (Chrysipp) bzw. Hedypatheia (Lynkeus; Kallimachos) bzw. Deipnologia (Klearchos) bzw. Opsopoiia eingeführt wird.28 So wird dieser von Ulpian als ὀψοδαίδαλος (Athen. 3, 101 b) charakterisiert, dem die zentralen Lehrvorschriften über gastronomische Gepflogenheiten zu verdanken seien. Eine besondere Rühmung wird ihm in der Mitte von Buch III des Athenaios durch besagten Ulpian zuteil: θαυμάζειν δ᾽ ἐστὶν ἄξιον τοῦ τὰς καλὰς ὑποθήκας παραδιδόντος ἡμῖν Ἀρχεστράτου, ὡς Ἐπικούρῳ τῷ σοφῷ τῆς ἡδονῆς καθηγεμὼν γενόμενος κατὰ τὸν Ἀσκραῖον ποιητὴν γνωμικῶς καὶ ἡμῖν συμβουλεύει τισὶ μὲν μὴ πείθεσθαι, αὑτῷ δὲ προσέχειν τὸν
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Eine genaue Auflistung der Teilnehmer findet sich in Athen. 1, 1 c–f; siehe dazu auch Romeri (2002) 278–282. Dementsprechend wird Ulpian auch einmal als ὁ τῶν δείπνων ταμίας bezeichnet (Athen. 2, 58 b); zum Verhältnis dieser beiden Antagonisten zueinander siehe Romeri (2002) 282–290, die folgende Rollenverteilung ermittelt: „En attirant l’attention sur la τροφή, […] le philosophe cynique incarne le côté alimentaire du banquet, de la même manière qu’Ulpien, par le fait qu’il est à l’origine de presque tout λόγος, incarne le côté erudit et savant“ (Romeri, 2002, 289). Vgl. Romeri (2002) 282: „En somme, tout est matière d’érudition et occasion d’exhibition: les ingredients des plats qui passent sur la table de Larensis [= Larensios] coïncident parfaitement avec les arguments de discussion qui se déroulent autour de la table de Larensis. Les deipnosophistes réunis par Larensis ne sortent jamais du circuit proprement alimentaire du banquet, mais ils en suivent chaque passage et chaque moment en les marquant par la circulation de leur parole“. Vgl. dazu den DNP-Artikel von Schmitt-Pantel/Degani (1996) 988. Etwa 330 Verse seines Werkes werden bei Athenaios zitiert, die von gastronomischen Regeln und wichtigen Bestandteilen des Tafelschmucks handeln; zusätzlich dient es als Vorbild für die Hedyphagetica des Ennius.
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νοῦν, καὶ ἐσθίειν παρακελεύεται τὰ καὶ τά, οὐδὲν ἀποδέων τοῦ παρὰ Δαμοξένῳ τῷ κωμῳδιοποιῷ μαγείρου […]. (Athen. 3, 101 f) Archestratos verdient unsere Bewunderung, weil er uns die guten Ratschläge ver‐ mittelt hat, und dafür, dass er für Epikur, den Weisen, ein Wegbereiter zum sinnli‐ chen Genuss geworden ist und auch uns nach Art des Dichters aus Askra durch Lehrvorschriften dazu rät, auf manche Leute nicht zu hören, sondern ihm selbst Aufmerksamkeit zu schenken, und uns auffordert, dieses und jenes zu essen, wobei er dem Koch bei dem Komödiendichter Damoxenos in nichts nachsteht.
Wie schon zu Beginn dieser Passage erkennbar, legt Ulpian im Folgenden vermeintlich wesentliche Lehrinhalte des Archestratos, der hier (mit sichtlich karikierenden Zügen) als philosophierender Meisterkoch – fast in der Art eines arbiter elegantiae wie Petron – inszeniert wird, mittels Referenzen auf frühere Dichter mit vergleichbaren Motiven und Inhalten dar. Die Intertextualität wird also auf dieser Sprecherebene deutlich markiert, beim Rezipienten wird die allgemeine Kenntnis der Prätexte vorausgesetzt. Archestratos wird dabei hinsichtlich seines hedonistischen Weltbilds explizit als Proto-Epikur eingeführt und bezüglich seines protreptischen Ansinnens mit Hesiod als dem Schöpfer des Lehrgedichts verglichen. Um die Kochtheorie des Archestratos in seiner philosophischen Dimension zusätzlich zu veranschaulichen, verweist der Dialogsprecher Ulpian auf eine Stelle in den Syntrophoi des Damoxenos.29 Durch diese wenig seriöse Referenz auf eine Komödienfigur, die sich als treuer und bauernschlauer Anhänger der epikureischen Lehre versteht, scheint es, dass Athenaios an dieser Stelle Ulpian als Dialogfigur lächerlich wirken lassen will. Über das offensichtliche Motiv der Philosophiekarikierung hinaus gilt es nun aber zu ermitteln, aus welchen inhaltlichen Gründen Ulpian in diesem Zusammenhang gerade auf das Damo‐ xenos-Fragment zurückgreift bzw. inwiefern der zitierte Textauszug erkennen lässt, dass die epikureische Lehre mit den gastronomischen Vorschriften des Archestratos in Einklang gebracht werden kann.30 Vor allem ist dabei auch die Frage entscheidend, ob die karikierende Darstellung der Philosophie hier tatsächlich auf die Philosophen selbst – in diesem Fall also auf Epikur und seine
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Zur Datierung des Autors siehe u. a. Dohm (1964) 161 f., der aus plausiblen Rück‐ schlüssen die Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. als Blütezeit des Damoxenos annimmt. Zur Philosophenkarikierung in der griechischen Komödie siehe u. a. Belardinelli (2008) 86–102; Hošek (1991) 23–35; Nesselrath (1990); Weiher (1913).
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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Lehre – abzielt oder ob vielmehr die Figuren, die sie wiedergeben und auf andere Bereiche anwenden bzw. sie falsch verstehen.31 Das Damoxenos-Fragment in Athen. 3, 102 a–103 b gibt einen Dialog zwi‐ schen zwei nicht näher bekannten Sprechern wieder, wobei Sprecher A sich gleich zu Beginn unverhohlen als begeisterter Anhänger Epikurs zu erkennen gibt:32 Ἐπικούρου δέ με ὁρᾶις μαθητὴν ὄντα τοῦ σοφοῦ, παρ᾽ ὧι ἐν δύ᾽ ἔτεσιν καὶ μησὶν οὐχ ὅλοις δέκα τάλαντ᾽ ἐγώ σοι κατεπύκνωσα τέτταρα. (Damox. fr. 2 Kassel/Austin, 1–4) Dass ich aber von Epikur, dem Weisen, ein Schüler bin, siehst du, bei dem ich dir in zwei Jahren und nicht ganz zehn Monaten vier Talente ‚angehäuft‘ habe.
Dem philosophischen Bekenntnis folgt in der Aussage von Sprecher A sogleich eine sonderbare Bemerkung über finanzielle Auswirkungen, die ihm die Aus‐ bildung bei Epikur beschert habe. Die Frage, wie diese Aussage zu deuten ist und in welchem Bezug sie zum philosophischen Unterricht steht, beschäftigt indes nicht nur den Leser dieser Passage, sondern auch den Gesprächspartner B, der gleich darauf aufgeklärt wird: (Β.) τοῦτο δὲ τί ἐστιν; εἰπέ μοι. (Α.) καθήγισα. μάγειρος ἦν κἀκεῖνος † οὐκ ἤιδει θεοί † (B.) ποῖος μάγειρος; (A.) ἡ φύσις πάσης τέχνης ἀρχέγονόν ἐστ᾽. (B.) ἀρχέγονον, ὦλιτήριε; (A.) οὐκ ἔστιν οὐθὲν τοῦ πονεῖν σοφώτερον, ἦν τ᾽ εὐχερὲς τὸ πρᾶγμα τοῦ λόγου τριβὴν ἔχοντι τούτου· πολλὰ γὰρ συμβάλλεται. διόπερ μάγειρον ὅταν ἴδηις ἀγράμματον μὴ Δημόκριτόν τε πάντα διανεγνωκότα, {μᾶλλον δὲ κατέχοντα καταγέλα ὡς κενοῦ}
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Letzteres ist gerade auch bei Horaz in der Satire 2, 4 der Fall, in der die Gastrologen die Kulinarik als Kunst etablieren und deswegen mit Versatzstücken aus der Philosophie und anderen Wissenschaften aufwerten wollen. Die folgenden Zitate der griechischen Komödienfragmente beziehen sich nicht auf die Kaibels Athenaios-Edition, sondern auf die jeweils maßgebliche PCG-Ausgabe von Kassel/Austin.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
καὶ τὸν Ἐπικούρου Κανόνα, μινθώσας ἄφες ὡς ἐκ διατριβῆς. (Damox. fr. 2 Kassel/Austin, 5–16a)
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(B.) Was aber soll das heißen? Sag es mir! (A.) Ich habe sie geopfert. Ein Koch war auch jener. † Er wusste (es) nicht, ihr Götter † (B.) Was für ein Koch war er? (A.) Die natürliche Anlage jeder Kunst ist von Geburt an gegeben. (B.) Von Geburt an, du Quälgeist? (A.) Nichts ist weiser als Mühen zu ertragen, und leicht ist die Sache der Vernunft für den, der Übung damit hat; vieles fügt sich nämlich zusammen. Wenn du daher mal einen ungebildeten Koch antriffst, der Demokrit nicht ganz durchgelesen hat {} und die Lehre Epikurs, mach ihn fertig und schick ihn wie aus einer Unterrichtsstunde weg.
Hinter der seltsamen Angabe des κατεπύκνωσα (V. 4) steckt also ein finanzi‐ elles Opfer für die Kochkünste Epikurs, das ähnlich wie eine Bezahlung für sophistische Lehrtätigkeit verstanden werden kann, allerdings wohl im Sinn von Ausgaben, die regelmäßig für die mit dem Kochen verbundenen Gelage im epi‐ kureischen Kreis aufgebracht werden mussten.33 Diese plakative Verschiebung des eigentlichen Philosoph-Schüler-Verhältnisses auf eine Koch-Lehrling- bzw. Koch-Gast-Beziehung erzeugt eine verzerrte Darstellung der epikureischen Lehre, die auch terminologisch – durch entsprechende intertextuelle Verweise auf Epikur-Zitate – verankert ist (v. a. Lehre von der Verdichtung der ἡδονή bzw. verfügtes Totenopfer zum Gedenken an Vorfahren).34 Nachdem bis hierhin lediglich Epikur selbst zum Koch stilisiert worden ist, steht ab V. 7 auch seine philosophische Lehre verstärkt im Mittelpunkt und zwar im Zuge einer alten Streitfrage in der Philosophiegeschichte:35 Geht die φύσις
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Vgl. hierzu besonders Dohm (1964) 166. Zur antiken Darstellung des Epikureismus als ‚Küchenphilosophie‘ siehe auch Cic. fam. 15, 18. Vgl. zu κατεπύκνωσα Epik. sent. rat. 9; Epik. fr. 432 Usener; zu καθήγισα Epik. fr. 217 Usener; PHercul. 1232 fr. 8 col. Ι, 19. Genaueres dazu entnehme man der überzeugenden Interpretation von Dohm (1964) 164–167 – zuletzt aufgegriffen von Belardinelli (2008) 82 – sowie dem Testimonienapparat in der Ausgabe von Kassel/Austin (2001) 3; die grundlegenden Erkenntnisse gehen jedoch v. a. auf Bignone (1917) 288 f. bzw. Bignone (21973) 561–563 zurück. Bei den Anspielungen auf ‚chemische‘ Bereiche der epikureischen Lehre ist ferner an den Atomismus zu denken, was schon die Erwähnung Demokrits nahelegt. Vgl. Bignone (1917) 290 f. bzw. Bignone (21973) 562 f., v. a. Anm. 325; Dohm (1964) 167.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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der τέχνη voraus oder ist vielmehr die τέχνη die Basis für eine dadurch ausge‐ bildete φύσις? Während Epikurs Kochlehrling (A.) die erstgenannte Sichtweise vertritt, scheint sein verwunderter Gesprächspartner (B.) eher eine andere – eventuell platonische oder aristotelische – Auffassung zu vertreten.36 Auch die folgenden drei Verse (V. 9–11) von Damox. fr. 2 Kassel/Austin knüpfen inhaltlich deutlich an das Gedankengut Demokrits und Epikurs an, wobei die unreflektierte Vermischung bzw. Gleichsetzung beider Lehren den Kochlehrling als eben einen solchen μάγειρος ἀγράμματος entlarvt, vor dem er seinen Gesprächspartner kurz darauf selbst warnt (V. 12–16a): Gerade die Betonung des πονεῖν – mag dieser Begriff auch im geistigen Sinn zu verstehen sein – lässt sich wohl durchaus mit den Anschauungen Demokrits im Einklang bringen, schwerlich jedoch und keinesfalls reibungslos mit Epikurs philosophi‐ schen Überzeugungen.37 Die mangelnde Abtrennung zwischen Demokrit und Epikur bzw. deren Zusammenfassung zu Vertretern derselben philosophischen Strömung zeigt sich nicht zuletzt auch in den V. 13–15, in denen die Kenntnis ihrer Lehrsätze für die Tauglichkeit eines Kochs zwingend vorausgesetzt wird. Spätestens an dieser Stelle deutet sich an, dass in erster Linie der Sprecher dieser Verse, der sich selbst als Epikur-Anhänger bezeichnet, als Karikatur dient. Der erste Teil des Damoxenos-Fragments hat also auf vielfache Weise die karikierende Umdeutung von Epikurs (und Demokrits) Lehrgut auf den Bereich der Kochkunst vorgeführt und damit ein Zeugnis für die verzerrende Darstel‐ lung von Philosophie in der Neuen Komödie überliefert. Nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell werden die philosophischen Prätexte integriert, indem der Dialog in Form von Fragen strukturiert wird, auf die Antworten in Form von Lehrsätzen gegeben werden. Dabei wird allerdings wohl weniger die hemmungslose Verspottung neuer, zeitgenössischer Philosophenschulen – in diesem Fall des Kepos mit seiner Lustlehre und dem vermeintlichen Hang zu maßlosen Gelagen – in den Fokus gerückt, als vielmehr eine Art Mode‐ phänomen, dass Bürger mit pseudo-intellektueller Veranlagung glauben, bei
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Ebenso wie Epikur hat sich auch Demokrit bereits für den Vorrang der φύσις ausge‐ sprochen; vgl. u. a. fr. 67 A 22 Diels/Kranz; fr. 68 B 154 Diels/Kranz; Plat. leg. 889 a–892 b; Lucr. 5, 186. Vgl. zu Demokrit fr. 68 B 179 Diels/Kranz; 68 B 182 Diels/Kranz; dagegen zu Epikur u. a. Epik. fr. 227 Usener; zur epikureischen Ablehnung von molestia bzw. labor als erstrebenswerte Lebenswege siehe auch Cic. fin. 1, 49 und nat. deor. 1, 52. Eine wesentliche Ausnahme stellt dabei natürlich der labor bzw. die molestia als in Kauf genommener Bestandteil eines vorübergehenden dolor im Rahmen des sog. Lustkalküls dar; vgl. Cic. fin. 1, 32 f.; 68. In Cic. fin. 1, 17–21; 28 wird überdies der traditionelle Vorwurf der allzu engen Anlehnung Epikurs an die Lehre Demokrits aufgegriffen und diskutiert.
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wissenschaftlichen Fragestellungen mitreden zu können, und dabei meinen, die eigene Beschäftigung mit Philosophie aufwerten zu müssen. Trotzdem kann man im Sinne von Dialogizität werten, dass vor allem die Manipulierkeit des epikureischen Kerngedankens von der ἡδονή für eine Philosophie des rein kulinarischen Genusses im Gedächtnis erkennbar bleibt und somit die Schwäche der epikureischen Lehre, dass sie auch pseudo-intellektuelle Menschen zum Mitreden und Mitphilosophieren ermuntert, bereits in einer Frühphase ihres Bestehens schonungslos offengelegt wird. Bereits an dieser Stelle dürfte der hohe Grad an Intertextualität zwischen der epikureischen Lehre und dem Damoxenos-Fragment deutlich geworden sein. Zu erkennen sind wörtliche Übereinstimmungen einzelner Textelemente (Selektivität), mehrfache explizite Bezüge auf Epikur (Kommunikativität) und die parodistische Neukontextualisierung von Epikurs philosophischen Thesen (Strukturalität, Dialogizität). Auch wenn dem Strukturschema von Dohm zufolge auf den ersten Abschnitt, in dem die (epikureische) Philosophie thematisiert wird, zunächst zwei größere Abschnitte folgen, die sich hauptsächlich mit Medizin bzw. Astronomie (V. 16–41) und Musik (V. 42–61) beschäftigen, sind diese Passagen natürlich auch nicht frei von philosophischen Fragestellungen und Anspielungen auf bestimmte Lehren, die Epikurs Kochschüler erneut auf den kulinarischen Bereich anwendet:38 In den V. 16–24, die den Einfluss astronomischer Wechselphänomene auf die Zubereitung und das Servieren verschiedener Fischarten thematisiert, ist mit dem (hier problematischen) Wechsel der Jahreszeiten eine wichtige und regelmäßig wiederkehrende Komponente in der Tradition naturphilosophischer Forschung angesprochen (V. 21: αἱ μεταβολαὶ γὰρ αἵ τε κινήσεις; V. 24: καθ᾽ ὥραν).39 Auch mit der ab V. 29 aufgegriffenen Säftelehre als zentralem Bestandteil der antiken Medizin wird in V. 31 f. eine Brücke zur Philosophie geschlagen, namentlich zu Demokrit und einem von ihm überlieferten Lehrsatz aus seinem Werk Περὶ χυμῶν.40 Gerade die konstatierte Tatsache, dass die eigenen Kochschüler von
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Zur inhaltlichen Gliederung des überlieferten Textes siehe grundlegend Dohm (1964) 162 f., die Belardinelli (2008) 82 für ihre Ausführungen mit kleinen Abänderungen übernimmt: V. 1–16 (Verspottung der Philosophie); V. 16–41 (Verspottung der Medizin); V. 42–61 (Verspottung der Musik); V. 62–68 (erneute Verspottung der Philosophie); V. 68 f. (Schlusssatz). Zur Bedeutung von „Bewegung“ und „Veränderung“ für die Naturphilosophie der Vor‐ sokratiker denke man nur an Heraklit und Empedokles; in der römischen Literatur greift insbesondere Horaz bei der Entwicklung seiner Philosophie in den Oden mehrfach auf den Jahreskreislauf zurück (z. B. Hor. carm. 1, 4; 1, 9; 4, 7). Eine aufschlussreiche Einbeziehung der medizinischen Literatur (Corpus Hippocraticum) für die betreffende Passage bei Damoxenos bietet Dohm (1964) 175–177.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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Sprecher A und damit die junge Koch-Generation diese Demokrit-Vorschrift miss‐ achten und sich aufgrund ihres mangelhaften naturphilosophischen Weitblicks auch gastronomisch als inkompetent erweisen (V. 34: ἀπειρία), führt ihm zufolge unweigerlich zu kulinarischem Misserfolg. Wie Dohm in seiner terminologischen Analyse plausibel nachgewiesen hat, deutet sich kurz darauf ein Wechsel vom medizinischen in den musikali‐ schen Fachbereich an:41 Sprecher A, der sich inzwischen selbst als Kochlehrer inszeniert, der die Vorschriften seiner (gastro-)philosophischen Vorbilder zur Gänze verinnerlicht hat, meisterhaft beherrscht für die Anwendung in der Küche und nun an seine eigenen Schüler weitergeben kann, berichtet von seinem passiv-reaktivem Lehrverhalten gegenüber den anderen Köchen, die gastrophilosophisch noch unerfahren sind. Seine wiederholten Einwürfe, mit denen er seine Schüler zu korrigieren versucht, sind dabei deutlich von einer Terminologie der Harmonielehre durchzogen, wie sie insbesondere Aristoxenos vertreten hat.42 Diese seltsame Vermischung gastronomischer Inhalte mit mu‐ sikalischem Fachvokabular bestätigt einerseits die Aufgeblasenheit, mit der sich Sprecher A infolge seiner philosophischen Lehrzeit nun gegenüber seinen Schüler gebiert, und verstärkt somit auf karikierende Weise das entstandene Bild eines eingebildeten Kochs, der Philosophie und Kochhandwerk in Einklang zu bringen versucht, um damit seinem Beruf eine pseudo-intellektuelle Basis im Bereich der Geistes- bzw. Naturwissenschaft zu verschaffen; andererseits wird so natürlich auch die Parodie philosophisch-wissenschaftlicher Lehren fortgesetzt und intensiviert, indem neben der epikureischen Philosophie sogar die antike Musiktheorie in den Komödienspott einbezogen wird.43 Nach diesen ineinandergreifenden Übergängen zwischen den von Dohm eingeteilten Sinnabschnitten, weshalb Gallo nicht zu Unrecht und im Gegensatz zu Dohm von einer „unità strutturale e tematica“44 spricht, wirkt die explizite 40
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Vgl. Diog. Laert. 9, 46, wo Demokrits Werk Über die Säfte unter den „physischen“ bzw. naturwissenschaftlichen Schriften eingeordnet wird; siehe zur Verbindung von antiker Medizin und den entsprechenden Versen im Damoxenos-Fragment erneut Dohm (1964) 177f. Vgl. Dohm (1964) 182–187. Vgl. ebd.; dazu passt auch der empörte, aber offenbar im Redeschwall von Sprecher A untergehenden Einwand seines Gesprächspartners in V. 49, er drücke sich wie ein ἁρμονικός und nicht (mehr) wie ein echter μάγειρος aus. Vgl. dazu Dohm (1964) 186 f., der die Aktualität und Problematik der antiken Musik‐ wissenschaft im 3. Jahrhundert v. Chr. zusammenfasst und dabei das Interesse der griechischen Komödie an ihrer Entwicklung betont. Gallo (1981) 96. Diese Auffassung begründet sich nicht zuletzt mit der fehlenden Trennschärfe zwischen den von Dohm ins Feld geführten Wissenschaftsdisziplinen der Philosophie, der Medizin und der Musik in ihrem antiken Verständnis; siehe dazu
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
Rückkehr zur epikureischen Philosophie ab V. 62 geradezu abrupt. Innerhalb des überlieferten Textstücks entsteht auf diese Weise der Eindruck einer Ringkom‐ position, obgleich der Umstand, dass das Wechsel- bzw. Streitgespräch zwischen den beiden Dialogpartnern möglicherweise noch im nicht mehr erhaltenen Teil der Komödie fortgeführt wird, nicht außer Acht gelassen werden darf:45 Ἐπίκουρος οὕτω κατεπύκνου τὴν ἡδονήν· ἐμασᾶτ᾽ ἐπιμελῶς. εἶδε τἀγαθὸν μόνος ἐκεῖνος οἷόν ἐστιν· οἱ δ᾽ ἐν τῆι στοᾶι ζητοῦσι συνεχῶς, οἷόν ἐστ᾽ οὐκ εἰδότες. οὐκοῦν ὅ γ᾽ οὐκ ἔχουσιν, ἀγνοοῦσι δέ, οὐδ᾽ ἂν ἑτέρωι δοίησαν. (Β.) οὕτω συνδοκεῖ ἀφῶμεν οὖν τὰ λοιπά· δῆλα δὴ πάλαι (Damox. fr. 2 Kassel/Austin, 62–69)
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Epikur fasste auf diese Weise die Lust zusammen; er kaute sie mit Bedacht durch. Jener verstand als einziger, wie das Gute beschaffen sein; die in der Stoa aber forschen ununterbrochen danach, wie es ist, ohne es zu wissen. Dementsprechend haben sie es nicht, kennen es nicht und könnten es keinem weitergeben. (B.) So scheint es also auch gut; lass uns also das Übrige übergehen; klar ist gewiss schon längst
Sprecher A kehrt mit diesen Sätzen ganz in die Rolle des loyalen und über‐ zeugten Epikur-Schülers zurück, die er schon zu Beginn eingenommen hat. Sein Wissen über die Gastronomie sowie die Rechtfertigung seines (Lehr-)Verhaltens leitet er demzufolge aus der epikureischen ‚Lust‘-Lehre ab, indem er den eigentlich damit verbundenen ethischen Anspruch des ἀγαθόν auf das „Gute“ in gastronomischer bzw. gastrologischer Hinsicht überträgt.46 Neu hinzu kommt in diesem philosophischen Bekenntnis die rigorose Ab‐ grenzung zu den Stoikern, denen der Epikur-Schüler (Sprecher A) die Kenntnis des ἀγαθόν trotz hartnäckiger, letztlich aber erfolgloser Forschungsversuche
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auch Belardinelli (2008) 85, die diese Unterschiede in den Ausführungen von Dohm und Gallo dokumentiert, zugleich aber auch betont, dass beide Deutungsansätze im Grunde miteinander übereinstimmen. Der Eindruck einer solchen Ringkomposition ergibt sich nicht nur aus der erneuten Bezugnahme auf Epikur, sondern auch aus einer sprachlichen Rückbindung an den Anfangsteil durch die Wiederverwendung des Verbs καταπυκνοῦν (V. 4; 62). V. 62 des Damoxenos-Fragments ist als eine mindestens ebenso deutliche Anspielung auf den Lehrsatz von der Verdichtung der Lust in Epik. sent. rat. 9 zu verstehen wie V. 4; vgl. Dohm (1964) 164; 188.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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vollkommen abspricht.47 Der Grund für diese Äußerung ist sicherlich zum einen auch in den wechselhaften Formulierungen der Stoiker bei der Definition des ἀγαθόν zu suchen; zum anderen lässt sich der verbale Seitenhieb des Epikur-Zöglings ganz einfach dadurch erklären, dass ihm die ethische Lehre der Stoa wohl eher ungeeignet für eine Anwendung auf die Gastrologie schien oder – mit anderen Worten – wegen ihrer Komplexität weniger leicht für eine pseudo-philosophische Legitimierung eines Lebensbereichs zu missbrauchen war, der in erster Linie von direkter sinnlicher Wahrnehmung bestimmt wird. Vor dem Hintergrund, dass Epikur und seinen Anhängern wiederholt – gerade von den Vertretern der Stoa – der Vorwurf der Genusssucht und Völlerei unter einem philosophischen Deckmantel gemacht wurde, hat Dohm ganz recht in seinem Fazit über Charakter und Wirkung der gesamten Szene: „Der beson‐ dere Witz dieses Schlussstücks liegt nun darin, dass der Meister [= Sprecher A], aufbauend auf dem, was er früher über die Lebensgewohnheiten Epikurs hatte durchblicken lassen, hier genau die falsche Interpretation der Lustlehre vertritt, obwohl er vorgibt, ein echter Epikureer zu sein. Durch diese landläufige, aber ungerechte Auslegung […] war Epikur in den Ruf eines Schlemmers und Wüstlings geraten – und unser Meister stößt ihn unter dem Vorwand, ihn gegen die Stoiker zu verteidigen, nur noch tiefer hinein, womit er auch sicher den gebührenden Beifall des Publikums findet“.48 Damox. fr. 2 Kassel/Austin stellt somit ein wichtiges Zeugnis für die unsach‐ gemäße Aneignung zeitgenössischer Wissenschaften und ihrer innovativen Erscheinungsformen, wobei alle behandelten (Teil-)Disziplinen (V. 7–11: Natur‐ lehre bzw. Anthropologie; V. 16–24: Astronomie; V. 25–39: Medizin; V. 40–61: Harmonielehre; V. 62–67: Ethik) in einem mehr oder weniger engen Verhältnis zur Philosophie im Allgemeinen stehen, welche folglich als übergeordneter Themenbereich bezeichnet werden kann. Ob hierbei nun die Figur des Kochs als Karikatur im Vordergrund steht oder die philosophische Lehre samt ihren Vertreter, lässt sich schon aufgrund der Kürze und Unvollständigkeit des Damo‐ xenos-Textes nicht mit letzter Gewissheit klären.49 So lässt auch der überlieferte Titel der Komödie (Σύντροφοι; „Gemeinsam Erzogene“), in die dieses Fragment eingebettet ist, keine eindeutige Beantwortung dieser Frage zu, sondern fasst möglicherweise die in der Gesamtkomödie verfolgte Verquickung von Philoso‐
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Vgl. dazu Philem. fr. 71, 1–5 K.; siehe auch schon Helm (1967) 381 f.; Weiher (1913) 71–74. Dohm (1964) 189. Während Dohm (1964) 201–203 die Figur des Kochs im Fokus wähnt, sieht Belardinelli (2008) 86–92 die Funktion dieses abgebrochenen Dialogs fast ausschließlich in der Parodie der philosophischen Lehre sowie in der Karikierung Epikurs.
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phie und Kochkunst zusammen, indem die vergleichbare und sogar gleichzu‐ setzende Lebens- und Arbeitsweise der jeweiligen Schülergemeinschaften von Philosophie- und Kochschule angedeutet wird. Jedoch deutet die Tatsache, dass nicht nur die epikureische Lehre, sondern eine Vielzahl an Wissenschaften einbezogen werden, darauf hin, dass in erster Linie der Umgang mit diesen Wissenschaften und somit der Sprecher dieser Verse im Zentrum der Kritik steht. Unter dem Dachthema von Archestrats Gastrologie, zu der sich die eingestreute Episode mit dem Koch im Damoxenos-Fragment wie eine mise en abyme verhält,50 setzt Ulpian seine Ausführungen indes mit weiteren Auszügen aus ansonsten nicht erhaltenen Stücken der Neuen Komödie fort. Zunächst wird im Rahmen der Gastrologie des Archestratos nahtlos ein Fragment des Komödien‐ dichters Baton51 angefügt (Athen. 3, 103 b–e), in dem ein Mann (Sprecher A), der über den sittenlosen Lebenswandel seines Sohnes verärgert ist, den dafür verantwortlichen Erzieher (Sprecher B) zur Rede stellt:52 (A.) ἀπολώλεκας τὸ μειράκιόν μου παραλαβών, ἀκάθαρτε, καὶ πέπεικας ἐλθεῖν εἰς βίον ἀλλότριον αὑτοῦ· καὶ πότους ἑωθινοὺς πίνει διὰ σὲ νῦν, πρότερον οὐκ εἰθισμένος. (Bat. fr. 5 Kassel/Austin, 1–4) (A.) Du hast mir meinen Sohn verdorben, der die anvertraut war, du Schandmaul, und hast ihn überredet, eine Lebensweise anzunehmen, die ihm eigentlich fremd ist: Sogar am frühen Morgen schon trinkt er nun Alkohol durch dich, früher tat er das für gewöhnlich nicht.
Der Pädagoge sieht sich also einem ähnlichen Vorwurf ausgesetzt, wie er auch Sokrates gemacht wurde: dem verderblichen Einfluss auf junge Leute.53 Gegen
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Eine prominente Wiederaufnahme der Verbindung von Philosophie und kulinarischen Vorschriften zu einer regelrechten Gastrologie liegt im Übrigen in Hor. sat. 2,4 mit der Figur des Catius vor; siehe dazu u. a. Kiessling/Heinze (101968) 264–279; Rudd (1966) 202–213; Classen (1978) 333–348; Fedeli (1993) 13–38; Gowers (1993) 135–161; Lefèvre (1993) 119–121; Freudenburg (1996) 196–206; Muecke (21997) 166–177; Knorr (2004) 195–200; White (2009) 331–337. Nach dem DNP-Artikel von Nesselrath (1997) 494 handelt es sich dabei ebenfalls um einen attischen Komödiendichter des 3. Jahrhunderts v. Chr., von dem vier Stücke mit Titeln belegt sind und dessen fünf überlieferte Fragmente allesamt philosophische Aussagen enthalten. Die im Folgenden zitierten Verse stellen insofern eine Besonderheit dar, da sie in Athen. 7, 279 a–c erneut aufgeführt werden.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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den konkreten Vorwurf, den Zögling gar zum Trinker gemacht zu haben, verteidigt sich der Erzieher, indem er diesen Lebenswandel durch den Verweis auf entsprechende philosophische Lehren – allen voran auf die Epikurs – zu legitimieren versucht: (B.) εἶτ᾽ εἰ μεμάθηκε, δέσποτα, ζῆν, ἐγκαλεῖς; (A.) ζῆν δ᾽ ἐστὶ τὸ τοιοῦθ᾽; (B.) ὡς λέγουσιν οἱ σοφοί. ὁ γοῦν Ἐπίκουρός φησιν εἶναι τἀγαθὸν τὴν ἡδονὴν δήπουθεν· οὐκ ἔστιν δ᾽ ἔχειν ταύτην ἑτέρωθεν, ἐκ δὲ τοῦ ζῆν παγκάλως † ευσωσιαπαντη τυχὸν δώσεις ἐμοί. (Bat. fr. 5 Kassel/Austin, 5–10)
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(B.) Dann wirfst du mir also vor, mein Herr, wenn er zu leben gelernt hat? (A.) Aber ist das denn leben? (B.) Wie es die Weisen sagen. Zumindest Epikur behauptet, dass das Gute zweifellos die Lust sei; es ist unmöglich, diese anderswoher zu bekommen, sondern nur, wenn man völlig gut lebt. † Dass alle gut und wohlbehalten leben, wirst du mir vielleicht einräumen.
Auch in diesem Text wird Epikurs Lehre von der ἡδονή also ohne Umschweife auf die Lebenspraxis übertragen;54 allerdings steht hierbei nicht ein bestimmter Lebensbereich wie das Kochhandwerk im Mittelpunkt, sondern die Lebensfüh‐ rung im Allgemeinen (δίαιτα). Erneut wird auf diese Weise der tatsächliche Sinngehalt der epikureischen Lehrsätze, auf die der Pädagoge Bezug nimmt, ad absurdum geführt bzw. genau ins Gegenteil verkehrt:55 Während Epikur in seinem Brief an Menoikeus gerade um das richtige Verständnis des von ihm verwendeten ἡδονή-Begriffs bemüht ist und sich dabei von rein sinnlichen Genüssen, die einer reflektierten und vernunftgeleiteten Lebensführung ent‐ behren, distanziert, deutet der Erzieher das epikureische ζῆν παγκάλως (V. 9) bzw. ἡδέως ζῆν ganz offenbar als philosophische Erlaubnis, ja als Ermunterung für einen ausschweifenden Lebensstil mit Trinkgelagen und Ähnlichem.56
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Vgl. u. a. Plat. apol. 24 b: Σωκράτη φησὶν ἀδικεῖν τούς τε νέους διαφθείροντα […]; Athen. 3, 103 b–c: καὶ Βάτων δ᾽ ἐν Συνεξαπατῶντι δυσχεραίνοντα ποιήσας μειρακίου πατέρα ὡς διαφθαρέντος κατὰ τὴν δίαιταν ὑπὸ τοῦ παιδαγωγοῦ φησίν […]. Vgl. zu Bat. fr. 5, 7–9 v. a. Epik. fr. 427 Usener; Epik. Men. 128f. Vgl. dazu insbesondere Bignone (21973) 575. Vgl. dazu Epik. Men. 132; Epik. sent. rat. 5. In beiden Schriften betont Epikur für seine Ethik die Bedeutung eines νήφων λογισμός und der φρόνησις bzw. des φρονίμως ζῆν. Bignone (21973) 358 bzw. 575 sieht darüber hinaus in Epik. sent. rat. 5 eine deutliche Polemik gegen die Akademie und den Peripatos.
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Auf die Nachfrage des verärgerten Vaters, ob es einen Philosophen (außer Epikur) gebe, der sich tatsächlich von einer solchen Lebensauffassung verein‐ nahmen ließe, antwortet der Erzieher voller Überzeugung:57 (B.) ἅπαντας· οἱ γὰρ τὰς ὀφρῦς ἐπηρκότες καὶ τὸν φρόνιμον ζητοῦντες ἐν τοῖς περιπάτοις καὶ ταῖς διατριβαῖς ὥσπερ ἀποδεδρακότα, οὕτως, ἐπὰν γλαυκίσκος αὐτοῖς παρατεθῆι, ἴσασιν οὗ δεῖ πρῶτον ἅψασθαι τόπου καὶ τὴν κεφαλὴν ζητοῦσιν ὥσπερ πράγματος, ὥστ᾽ ἐκπεπλῆχθαι πάντας (Bat. fr. 5 Kassel/Austin, 13–19)
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(B.) Alle; diejenigen nämlich, die ihre Augenbrauen hochgezogen haben und den Klugen in den Wandelhallen suchen und in den Philosophenschulen wie einen Entflohenen, wissen auf diese Weise, wenn ihnen ein Graufisch vorgesetzt wurde, an welcher Stelle sie ihn zuerst anfassen müssen, und erforschen dann den Kopf wie den Kern einer Angelegenheit, sodass alle starr vor Schrecken sind.
Der angeklagte Erzieher bringt mit seiner ausführlichen Umschreibung zum Ausdruck, dass sich seiner Meinung nach alle klugen Köpfe, die sich wahrhaft Philosophen nennen dürfen, an dem von ihm soeben vorgetragenen Lebensideal Epikurs orientieren würden und damit sowohl erfolgreich wären als auch bei anderen einen bleibenden Eindruck hinterließen.58 Dabei erfolgt in V. 14 f. ähnlich wie in den Schlussversen des zuvor behandelten Damoxenos-Fragments ein Seitenhieb auf die konkurrierenden Philosophenschulen wie die Peripate‐ tiker, denen die verständigen und zur rechten Lebensweise tauglichen Schüler offenbar abspenstig gemacht und stattdessen für die eigene Lehre gewonnen werden sollen.59 Die Verbindung zum voranstehenden Damoxenos-Text kommt
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Die Beschreibung eines derartigen Philosophen als μεθύων und κηλούμενος (V. 12) ist natürlich wiederum als sarkastische Anspielung auf den epikureischen Lebensstil zu verstehen, den sich im Baton-Fragment auch der Sohn des Mannes angeeignet hat (V. 3 f.). Die Bezeichnung von Philosophen als οἱ γὰρ τὰς ὀφρῦς ἐπηρκότες (V. 13) ist in ähnlicher Form bei Menander zu finden und daher eine wohl durchaus geläufige Formulierung in der (Neuen) Komödie; vgl. Men. fr. 34; 395 Koerte; Men. Sic. 160. Eine sinngetreue und zur Hälfte sogar wörtliche Wiederholung dieser Verse weist das längere der beiden Baton-Fragmente aus dem Stück Ἀνδροφόνος auf, das ebenfalls durch Athenaios überliefert ist; siehe dazu Bat. fr. 2, 1–4 bzw. Athen. 4, 163 b.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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noch deutlicher zur Geltung, als der Pädagoge anschließend auf das Bild des vorgesetzten Graufischs zurückgreift (V. 16–18), den der Koch in Damox. fr. 2, 18 allerdings weniger in einem metaphorischen Kontext, sondern vielmehr in einem ganz wörtlichen Sinn erwähnt. Im Baton-Fragment, das mit diesem Gleichnis ebenfalls einen Bogen zum gastronomischen Bereich spannt, steht dieser Fisch ganz offensichtlich für eine Frage- oder Problemstellung, mit der der Philosoph konfrontiert wird und bei der er unter Beweis stellen muss, wie man sie richtig ‚anpackt‘, um zum ‚Kern der Sache‘ durchzudringen. Gerade diese Doppeldeutigkeit des Fischs – realiter bei Damoxenos, metaphorisch bei Baton – macht den Witz bei der Gesamtlektüre dieser beiden Komödienzitate im Zusammenhang aus. Auch dieser unvollständige Textauszug, der an dieser Stelle abbricht und den weiteren Verlauf des Streitgesprächs offenlässt, schließt also mit dem philoso‐ phischen Bekenntnis eines Epikur-Anhängers, das dieser schon in seiner ersten Äußerung deutlich gemacht hat. Ebenso wie der Koch im Damoxenos-Fragment beruft sich auch der Pädagoge in einer Konfliktsituation auf das Gedankengut Epikurs, das er mittels Übertragung auf seinen Erziehungsauftrag entsprechend umdeutet und so als philosophische Legitimationsgrundlage für das von ihm proklamierte Lebensideal ge- bzw. missbraucht. Erneut muss auch in diesem Fall die Frage unbeantwortet bleiben, ob und inwiefern der Titel des Stücks (Συνεξαπατῶν; „Mitbetrüger“), in das dieses Fragment eingeordnet wird, auf die geschickte Wortverdreherei des Erziehers und seine gezielte Falschauslegung der epikureischen Lehre zu beziehen ist. Ungeachtet dessen sind intertextuelle Bezüge zwischen Epikurs Lehrvor‐ schriften und dem Baton-Fragment noch deutlicher festzumachen: Neben einem hohen Grad an Kommunikativität, Selektivität, Strukturalität und Dialogizität kommt hier auch das Kriterium der Referentialität hinzu, da Epikur in Bat. fr. 5, 6–9 eine bestimmte Aussage explizit in den Mund gelegt und dieses Zitat entsprechend markiert wird. Im Anschluss daran (Athen. 3, 103 e–104a) zitiert Ulpian im thematischen Rahmen der Gastrologie des Archestratos mit einem Antiphanes-Fragment noch eine weitere Passage aus dem Werk eines dritten Komödiendichters, dessen Lebens- und Schaffenszeit jedoch im 4. Jahrhundert v. Chr. (Mittlere Komödie) und damit sicherlich vor Epikur und seiner Schulgründung anzusetzen ist.60
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Vgl. etwa Gallo (1976) 209–213. Die Suche nach dem φρόνιμος deckt sich mit Epikurs bereits erwähnter Betonung der φρόνησις bzw. des φρονίμως ζῆν. Siehe dazu v. a. Konstantakos (2000) 173–196, der nicht nur die mögliche Datierung von Autor und Werk untersucht, sondern insbesondere auch die Frage nach einem ‚jüngeren
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass im Gegensatz zu den beiden voranstehenden Textauszügen von zwei Autoren der Neuen Komödie der Name Epikurs nicht auftaucht. Der Grund für die Tatsache, dass es bei Athenaios dennoch in dieser exemplarischen Reihe philosophischer Unterhaltungskomik erscheint, ergibt sich in erster Linie daraus, dass die nachfolgend zitierten Verse aus dem Antiphanes-Fragment durchaus starke Anklänge an epikureisches Gedankengut aufweisen, auch wenn dieses zur Abfassungszeit des Stückes noch nicht institutionalisiert und als eigenes philosophisches Dogma dokumentiert war. Der Sprecher der im Folgenden aufgeführten Verse, die angeblich aus einer Komödie namens Στρατιώτης ἢ Τύχων stammen, wird als ἄνθρωπος τοιοῦτο ς bezeichnet und somit mit den beiden Figuren aus den zuvor behandelten Ko‐ mödien-Fragmenten (Koch; Pädagoge) hinsichtlich Situation, (Lehr-)Verhalten (παραινέσεις εἰσφέρων) und Inhalt seiner (philosophischen) Aussagen auf eine Ebene gestellt: ὅστις ἄνθρωπος δὲ φὺς ἀσφαλές τι κτῆμ᾽ ὑπάρχειν τῶι βίωι λογίζεται, πλεῖστον ἡμάρτηκεν· ἢ γὰρ εἰσφορά τις ἥρπακεν τἄνδοθεν πάντ᾽, ἢ δίκηι τις περιπεσὼν ἀπώλετο, ἢ στρατηγήσας προσῶφλεν χορηγὸς αἱρεθεὶς ἱμάτια χρυσᾶ παρασχὼν τῶι χορῶι ῥάκος φορεῖ ἢ τριηραρχῶν ἀπήγξατ᾽, ἢ πλέων ἥλωκέ ποι, ἢ βαδίζων ἢ καθεύδων κατακέκοφθ᾽ ὑπ᾽ οἰκετῶν. οὐ βέβαιον οὐθέν ἐστι, πλὴν ὅσ᾽ ἂν καθ᾽ ἡμέραν εἰς ἑαυτὸν ἡδέως τις εἰσαναλίσκων τύχηι. οὐδὲ ταῦτα σφόδρα τι· καὶ γὰρ τὴν τράπεζαν ἁρπάσαι κειμένην ἄν τις προσελθών· ἀλλ᾽ ὅταν τὴν ἔνθεσιν ἐντὸς ἤδη τῶν ὀδόντων τυγχάνηις κατεσπακώς, τοῦτ᾽ ἐν ἀσφαλεῖ νόμιζε τῶν ὑπαρχόντων μόνον (Antiph. fr. 202 Kassel/Austin)
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Jeder Mensch aber, der damit rechnet, dass irgendein Besitz, den er hervorgebracht hat, für sein Leben sicher zur Verfügung steht, hat meist einen Fehler begangen: Entweder hat nämlich irgendeine Steuer alles, was eigenhändig angespart wurde, entrissen oder jemand ist durch einen Prozess, in den er geraten war, zugrunde gegangen
Antiphanes‘ problematisiert; siehe dazu auch die beiden Antiphanes-Einträge im DNP von Nesselrath (1996a/b) 781f.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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oder er hat sich als Stratege schuldig gemacht, ist zum Choregen gewählt worden und stellte dem Chor goldene Gewänder bereit, während er nur Lumpenkleidung trug, oder er hat sich als Trierarch erhängt oder er wurde auf See irgendwohin gefangen genommen oder er ist beim Spazierengehen oder im Schlaf von Haussklaven ermordet worden. Gar nichts ist sicher außer das, was jemand Tag für Tag auf angenehme Weise für sich selbst durch Zufall aufbringt. Und das ist nicht gerade viel; es könnte nämlich sogar jemand kommen, der den gedeckten Tisch entreißt. Sobald du aber gerade zufällig schon den Bissen hinter deine Zähne geschoben hast, zähle allein das zu dem, was von den vorhandenen Dingen sicher ist
Der abgedruckte Textauszug unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von den anderen beiden Komödienfragmenten: Offenbar handelt es sich bei der Antiphanes-Passage um eine zusammenhängende Äußerung eines nicht näher bekannten oder eingeführten Sprechers bzw. Ratgebers, der seine Ansicht über den rechten Umgang mit Besitz zum Ausdruck bringt. Ob der Auszug Teil eines Dialogs oder eines noch fortgesetzten oder bereits abgeschlossenen Monologs ist, lässt sich genauso wenig sagen, wie man genauere Angaben zu Identität, Situation und Charakter des Sprechers dieser Verse machen kann. Abgesehen von der in dieser Szene unklaren Personenkonstellation sind jedoch auch Thema und Inhalt der offenbar paränetischen Aussage bemerkenswert: Die philosophi‐ sche Grundtenor dieser Verse wirkt wesentlich seriöser als die polemischen und überspitzten Formulierungen des damoxenischen Kochs und des batonischen Pädagogen, zumal die ganze Stelle des Antiphanes-Fragments generell auf eine gnomische Aussage abzielt (V. 9 f.) und allenfalls am Ende wie eine Parodie philosophischer Handlungsempfehlungen wirkt. Außerdem wird auch nur in den letzten Versen eine Verbindung zum kulinarisch-gastronomischen Lebens‐ bereich hergestellt, was wohl noch den deutlichsten Anknüpfungspunkt an die gastrologische Lehre des Archestratos bietet. Die ersten acht Verse hingegen thematisieren die Flüchtigkeit und Vergäng‐ lichkeit von materiellem Besitz und damit einen Aspekt, der in den beiden Fragmenten des Damoxenos und des Baton ebenfalls nicht zur Sprache kommt. Genau dieser Hinweis auf die Risiken des Lebens, die jemanden um sein Hab und Gut bringen und ihn schlimmstenfalls in den finanziellen Ruin stürzen und sogar zu Tod bringen können, findet sich häufig auch in den Lehrsätzen Epikurs, der daher für den angemessenen Umgang mit dem eigenen Besitz emotionale Zu‐ rückhaltung und Distanz empfiehlt und diese emotionale Unabhängigkeit von
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materiellen Güter für unbedingt notwendig erachtet.61 Während der Ratgeber im Antiphanes-Fragment seine Maxime allerdings durch zahlreiche Beispiele aus der Lebenspraxis zu veranschaulichen versucht, ist die Terminologie bei Epikur natürlich allgemeiner und abstrakter gehalten, wie zentrale Begriffe zeigen: τὸ εὐπόριστον (Epik. sent. rat. 15; 21); ἡ εὐδιάχητος ὄρεξις (Epik. sent. rat. 26); ἡ κενοδοξία (Epik. sent. rat. 15; 30); τὰ δυνατά (Epik. sent. rat. 39); τὸ θαρρεῖν (Epik. sent. rat. 40); ἡ αὐτάρκεια (Epik. sent. Vat. 36; 44; 45; 77); ὁ ἐλεύθερος βίος bzw. ἡ ἐλευθερία (Epik. sent. Vat. 67; 77); τὸ ἱκανόν (Epik. sent. Vat. 68). Allerdings fasst der Ratgeber im Antiphanes-Fragment seine Überlegungen schließlich in einer gnomischen Formel zusammen (V. 9), wie man sie auch in den Lehrsätzen Epikurs lesen könnte: „Gar nichts ist sicher außer das, was jemand Tag für Tag auf angenehme Weise für sich selbst durch Zufall aufbringt“. Die Ausrichtung der eigenen Lebensführung auf jeden einzelnen Tag und der Hinweis auf die Ungewissheit über alle übrigen Dinge, die die Zukunft mit sich bringen kann, stellen ebenfalls zentrale Punkte der epikureischen Lebensphilosophie dar, in der sich als zusätzlicher Gedanke zur betonten Macht‐ losigkeit des Menschen gegenüber zukünftigen Ereignissen die Aufforderung zur Dankbarkeit für das Vergangene und bereits Erhaltene findet.62 In V. 10 setzt sich diese weitgehende inhaltliche Übereinstimmung sogar auf terminologischer Ebene fort: Der Ratgeber bei Antiphanes hebt hervor, dass der tägliche Lebenserwerb „auf angenehme Weise“ (ἡδέως) erfolgen solle, was an die epikureische Maxime vom ἡδέως ζῆν (Epik. Men. 132; sent. rat. 5 = sent. Vat. 5) bzw. καλῶς ζῆν (Epik. Men. 123; 132; sent. rat. 5 = sent. Vat. 5) bzw. μακαρίως ζῆν (Epik. Men. 128) bzw. ἥδιστα βιοῦν (Epik. sent. rat. 40) bzw. εὖ βιοῦν (sent. Vat. 47) erinnert. Ferner nimmt der Begriff der τύχη, der mit dem Verb τυγχάνειν in V. 10 des Antiphanes-Fragments anklingt, einen hohen Stellenwert im epikureischen Lebensentwurf ein:63 Während bei Antiphanes jedoch der Terminus nur indirekt und dabei zudem relativ neutral verwendet wird, ist Epikur und seinen Nachfolgern ganz vehement daran gelegen, durch überlegtes Handeln gerade den Unwägbarkeiten des Zufalls entgegenzutreten und auf diese Weise den Menschen die Furcht vor der τύχη zu nehmen. Wie sehr sich die Aussagen des Ratgebers bei Antiphanes und die Lehrsätze Epikurs inhaltlich überschneiden, ist dennoch nicht zu übersehen.
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Vgl. Epik. sent. rat. 15; 21; 26; 30; 39; 40; sent. Vat. 25; 35; 36; 44; 45; 55; 67; 68; 77; 81. Vgl. Epik. Men. 122; 127; sent. rat. 20; 39; sent. Vat. 14; 35; 55; 75. Die prominenteste Rezeption dieses Philosophems in der römischen Literatur ist im Übrigen das aus Hor. carm. 1, 11 bekannte carpe diem. Vgl. Epik. Men. 131; 133–135; sent. rat. 16; sent. Vat. 47.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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Mit den letzten vier Versen des bei Athenaios zitierten Antiphanes-Textes schlägt der Ratgeber einen deutlich satirisch-komödiantischen Ton in seinen philosophischen Ausführungen an: Dort wendet er seine in V. 9 f. geäußerte Sentenz auf eine hyperbolische Vorstellung des Mundraubs an und bezeichnet in diesem Zusammenhang das bereits verzehrte Essen als den einzig sicheren Besitz, der einem Menschen nicht mehr zu nehmen ist. Dieser Transfer einer philosophischen Maxime (abstrakte, gnomische Ebene) auf das leibliche Wohl (konkrete Ebene) stellt vor dem Hintergrund des zuvor offenbar sehr ernsten Grundtons einen gewissen Bruch im rhetorischen Vorgehen des Ratgebers dar, zum anderen wird diese später auch von Epikur in größten Teilen repräsentierte Lehre wieder einmal – wenn auch in diesem Fall nur ganz am Ende – auf den Bereich der eigenen Küche reduziert. Damit stellt sich zum Schluss – zwar in viel geringerem Maß als bei Damo‐ xenos und Baton – ein ähnlicher Effekt ein wie bei dem Vortrag des Kochs und des Pädagogen: Eine epikurnahe Vorschrift wird durch ihren Vertreter selbst ins Lächerliche gezogen, indem er sie von ihrer philosophisch-theoretischen Ebene auf den allzu lebenspraktischen Bereich der Ernährung herunterbricht. Der Unterschied zu den anderen beiden Texten besteht allerdings darin, dass es nicht um kulinarische Genüsse geht, sondern ganz grundsätzlich um die Sicherung der eigenen lebensnotwendigen Ernährung. Auch wenn also ein direkter Zusammenhang zu Epikurs Lehre aus Gründen der literaturhistorischen Chronologie auszuschließen ist, lassen sich die Aussagen des ansonsten nicht näher bestimmbaren Sprechers aus der Anti‐ phanes-Komödie zum größten Teil mühelos in Einklang bringen mit einer Lebensmaxime, wie sie gerade auch Epikur vertritt. Auch in diesem Fall gibt der Titel keinen Aufschluss darüber, welche Rolle der Ratgeber aus dem Fragment im gesamten Stück einnimmt und wovon die Komödie genau handelt; daran ändert auch der ergänzende Hinweis direkt im Anschluss an das Komödienzitat nichts, dass ein sinngetreuer ‚Lehrvortrag‘ desselben Ratgebers wohl auch im Antiphanes-Stück Ὕδρια zu finden ist. Zum Abschluss dieser Reihe von intertextuellen Referenzen, die Ulpian zur Veranschaulichung der Gastrologie des Archestratos einbrachte und mit Hilfe derer er die enge Verknüpfung mit der epikureischen Lehre – hinsichtlich ihrer praktischen Anwendung – aufzuzeigen versuchte, zieht Ulpian ein kurzes Fazit über die unübersehbare inhaltliche Nähe der beiden ‚Schulen‘ Archestrats und Epikurs, indem er auf die Epikur-Kritik des Chrysipp hinweist, der die Gastrologie des Archestratos als mutmaßlichen „Ausgangspunkt“ (μητρόπολις) der (später) epikureischen Philosophie entlarvt (Athen. 3, 104b); demzufolge habe Epikur genauso wie „alle Verfressenen unter den Philosophen“ (πάντες οἱ
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
τῶν φιλοσόφων γαστρίμαργοι) die Lehre des Archestratos als Legitimierungs‐ grundlage für ihr Leben und Handeln benutzt. 2.2.2.2 Kulinarische Forschungsreise und Chrysipps Epikurkritik Die Spottkritik an der epikureischen Schule und ihres Gründers ist jedoch nicht auf den Redebeitrag des Ulpian in Buch III der Deipnosophistai begrenzt, sondern wird in Buch VII – dort wiederum im Rahmen der Gastrologie des Archestratos und der Epikur-Kritik des Chrysipp – fortgeführt und erneut mit geeigneten Auszügen aus der griechischen Komödie literarisch veranschaulicht (Athen. 7, 278 d–279 d). Wer an dieser Stelle spricht (Athen. 7, 277 e), ist unklar (ἔφη τις), doch es liegt nahe, die dort einsetzende Rede dem Arzt Daphnos zuzuschreiben, da er sich in Athen. 3, 116 f bereits sehr ähnlich über Archestratos geäußert hat, wie es der Sprecher nun ab Athen. 7, 278 d tut.64 Wie zuvor schon Ulpian (Athen. 3, 101 b) führt auch der nicht näher identifizierbare Sprecher in Buch VII Archestratos als ὀψοδαίδαλος ein (Athen. 7, 278 a) und zitiert zunächst aus einem Werk des Archestrat selbst, das voller Anspielungen auf Einzelstellen in den homerischen Epen ist (Athen. 7, 278 a–d).65 Der von φιληδονία angetriebene Archestrat habe sich nach dem Vorbild der wissenschaftlichen περιηγήσεις und περίπλοι auf kulinarische For‐ schungsreisen begeben, die auf die Dokumentierung regionaler Köstlichkeiten in fremden Ländern abgezielt habe. Zu diesem bereits aus Buch III bekannten Ansinnen des Archestrat, fundierte kulinarische Ratschläge zu erteilen, kommt mit dem Verweis auf Chrysipps polemische Bemerkung über Archestrat und Epikur ein weiteres Element hinzu, das schon am Ende von Ulpians Redebeitrag zu lesen war (Athen. 3, 104 b). Dieses Mal wird der Vorwurf Chrysipps, der wohl im Gegensatz zu allen Anhängern einer hedonistischen Weltanschauung als ὁ ὄντως φιλόσοφος καὶ περὶ πάντα ἀνήρ beurteilt wird, näher ausgeführt, indem der Sprecher auch die schädlichen Konsequenzen der ἡδονή-Lehre(n) betont.66 Mit dem Zitat von Epik. fr. 67 Usener übt der Sprecher außerdem implizit Kritik an Epikurs angeblichem Vorwand, dass der Effekt eines angstfreien und Freude bringenden Zustands (τὸ ἀδεὲς καὶ ἵλεων), den ein zügelloses Leben nach sich ziehen könne, diese Lebensform sogar rechtfertige.
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Vgl. Nothers (1999) 323f. Vgl. Hom. Od. 12, 450; Il. 6, 150; 9, 103; 3, 239; 6, 209 f.; Nothers (1999) 324 spricht sogar von einer „Parodie“ dieser Homer-Stellen bei Archestratos bzw. in Athen. 7, 278 a–d, ohne jedoch nähere Angaben zu möglichen Beweggründen des Archestratos zu machen. Athen. 7, 278 f: […] τῆς πάντα διαλυμηναμένης ἡδονῆς.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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Vor dem Hintergrund dieses moralischen Konflikts verweist der Sprecher auf die Komödiendichter, die diese Art von Legitimierungsversuchen an den Pranger stellen und somit entschlossen gegen ἡδονή und ἀκρασία „vorgehen“ (κατατρέχοντες). Exemplarisch führt er dazu zwei Stellen aus Komödien des Baton und eine Passage aus den Φιλέταιροι des Hegesipp an, der aufgrund der ausdrücklichen Erwähnung Epikurs ebenfalls der Neuen Komödie zuzuordnen ist.67 Beim ersten Textabschnitt, den der Sprecher in Athen. 7, 279 a–c zitiert, handelt es sich um exakt dieselbe Passage aus Batons Συνεξαπατῶν (Bat. fr. 5 Kassel/Austin), die bereits in Athen. 3, 103 c–e vorlag. Zusätzlich gibt er zur Veranschaulichung von Batons Philosophenspott noch ein weiteres Textbeispiel an (Athen. 7, 279 c–d), das aus einem Stück namens Ἀνδρόφονος stammt und entsprechende Worte eines „geeigneten“ Philosophen enthält (τινὰ τῶν ἐπιεικῶν φιλοσόφων):68 ἐξὸν γυναῖκ᾽ ἔχοντα κατακεῖσθαι καλὴν καὶ Λεσβίου χυτρῖδε λαμβάνειν δύο· ὁ φρόνιμος ἐστι τοῦτο τἀγαθόν. Ἐπίκουρος ἔλεγε ταῦθ᾽ ἃ νῦν ἐγὼ λέγω. εἰ τοῦτον ἔζων πάντες ὃν ἐγὼ ζῶ βίον, οὔτ᾽ ἄτοπος ἦν ἂν οὔτε μοιχὸς οὐδὲ εἷς (Bat. fr. 3 Kassel/Austin)
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Man darf eine schöne Frau haben und bei ihr liegen und sich zwei Krüge Lesbierwein nehmen: Der kluge Mann ist und das das Gute. Epikur sagte das, was ich jetzt sage. Wenn alle dieses Leben hätten, das ich führe, gäbe es keinen, der unnatürlich handelt, und keinen Ehebrecher, nicht einen.
Mit ausdrücklichem Bezug auf Epikur gibt der nicht näher bekannte Philosoph und Sprecher dieser Verse die Empfehlung, seinen sinnlichen Trieben durchaus nachzugehen, die exemplarisch am Beischlaf mit einer attraktiven Frau und dem Genuss alkoholischer Getränke vorgeführt werden. Diesem Ratschlag versucht der anonyme Sprecher sogleich noch eine moralphilosophische Dimension zu geben, wobei seine ergänzenden Ausführungen einer Forderung nach morali‐
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Vgl. dazu den DNP-Artikel von Hidber (1998) 238f. Der Begriff ἐπιεικής ist hier sicherlich bewusst doppeldeutig gewählt, da er sich sowohl auf den Titel des Stücks als auch auf Epikur als nachahmenswertem Vorbild der im Folgenden sprechenden Komödienfigur beziehen kann. Die Fragmente Batons und Hegesipps werden wiederum nach der PCG-Edition von Kassel/Austin zitiert.
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scher Flexibilität in der Gesellschaft gleichkommen (V. 5 f.): Die dargelegte Ein‐ stellung würde salonfähig und mit gesellschaftlichen Konventionen vereinbar, wenn sie alle Menschen übernähmen und entsprechend handelten. Tatsächlich findet man im literarischen Erbe Epikurs eine vergleichbare Stellungnahme zum Problem des unvermeidlichen Sexualtriebs (Epik. sent. Vat. 51):69 Epikur erkennt die Bedeutung des menschlichen Grundbedürfnisses, zählt allerdings auch die Gefahren bei der Erfüllung des Verlangens nach amourösen Abenteuern; nur wenn diese ausgeschlossen werden könnten, was in der Praxis jedoch – wie Epikur selbst zugibt – niemals der Fall ist, könne man dieser ἀφροδίσια (theoretisch) bedenkenlos nachgehen; in Wahrheit gehe es aber nur darum, den daraus entstehenden Schaden so klein wie nur möglich zu halten, zumal ein Nutzen aus dem Sexualtrieb ohnehin nicht zu erwarten sei.70 Der Gefolgsmann Epikurs, der im Baton-Fragment spricht, scheint also eine Lösungsmöglichkeit für eine längst bekannte Problematik aufzeigen zu wollen. Inwiefern er damit in der Komödie tatsächlich Erfolg hat und wie die Reaktionen seiner Gesprächspartner im Stück ausfallen, bleibt jedoch ungewiss. Dagegen erscheint ein Nachweis der Intertextualität zwischen Epikurs Lehr‐ vroschriften und diesem Baton-Fragment weitaus unproblematischer, wie schon aus der Analyse des ersten Baton-Textes hervorgeht: Durch die explizite Nen‐ nung von Epikur als Referenz und die offensichtliche Übertragung philosophi‐ scher Maximen auf einen Komödien-Kontext sind die Intertextualitätskriterien Referentialität, Kommunikativität, Strukturalität und Dialogizität erfüllt. Durch den indirekten Verweis auf die in Epik. sent. Vat. 51 geäußerte Lehrmeinung ist an dieser Stelle zudem Selektivität gegeben. Mit dem Begriff des φρόνιμος erfolgt – ebenso wie in Bat. fr. 5, 14 – ein mehr oder weniger deutlicher Querverweis auf die bereits angesprochene zentrale Bedeutung des φρόνησις-Begriffs im epikureischen Denken. Damit eng verbunden ist die Suche nach dem (epikureischen) ἀγαθόν, das es im Rahmen der ἡδονή-Lehre genauer zu definieren und in der Lebenspraxis zu verankern gilt, zumal sich ähnliche Bestrebungen bereits in Damox. fr. 2, 62–67 und Bat. fr. 5, 7–10 herauskristallisiert haben. Auch in der Textpassage aus einer Hegesipp-Komödie, die im Anschluss an Bat. fr. 3 bei Athen. 7, 279 d zitiert wird, wird die ἀγαθόν-Thematik aufgegriffen: 69 70
Vgl. dazu auch Bignone (21973) 574. Diese Ansicht deckt sich u. a. mit Epikurs Sentenz, dass bestimmte „Lustempfindungen“ (ἡδοναί) noch stärkere „Störungen“ (ὀχλήσεις) hervorrufen (Epik. sent. rat. 8 = Epik. sent. Vat. 50). In der römischen Satire wird dieses Thema insbesondere von Horaz aufgegriffen und mit nahezu denselben Gedanken versehen (Hor. sat. 1, 2); siehe dazu Kapitel 3.3.3.
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
Ἐπίκουρος ὁ σοφὸς ἀξιώσαντός τινος εἰπεῖν πρὸς αὐτὸν ὅ τι ποτ᾽ ἐστὶ τἀγαθόν, ὃ διὰ τέλους ζητοῦσιν, εἶπεν ἡδονήν. εὖ γ᾽, ὦ κράτιστ᾽ ἄνθρωπε καὶ σοφώτατε· τοῦ γὰρ μασᾶσθαι κρεῖττον οὐκ ἔσθ᾽ οὐδὲ ἓν ἀγαθόν· πρόσεστιν ἡδονῆι γὰρ τἀγαθόν (Heges. fr. 2 Kassel/Austin)
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Als jemand Epikur, den weisen Mann, aufforderte, ihm zu sagen, was denn das Gute sei, das sie fortwährend suchen, sagte Epikur, es sei die Lust. Gut so jedenfalls, mein bester und weisester Mann; besser als das Schlemmen ist nämlich wahrlich kein einziges Gut; zur Lust fügt sich nämlich das Gute hinzu.
In diesem Fall ist die kontextuelle Einbettung und die formale Struktur dieser Verse noch schwerer zu rekonstruieren: Der Testimonienapparat von Kassel/ Austin (2001) enthält die Annahme, dass diese Worte von einem Schmarotzer und damit von einer typischen Komödienfigur stammen könnten, während in Kaibels Athenaios-Edition eine dialogische Struktur mit mindestens zwei nicht näher bestimmbaren Sprechern angelegt wird. Ungeachtet dessen wird zumindest erkennbar, dass der intertextuelle Bezug zur epikureischen Lehre ähnlich wie bei Bat. fr. 3 deutlich markiert ist: Der Sprecher von V. 4 des Hegesipp-Fragments begrüßt die epikureische Gleich‐ setzung von ἀγαθόν und ἡδονή ausdrücklich und rühmt Epikur für diese Erkenntnis. Wie schon in Damox. fr. 2 und Bat. fr. 5 transferieren die V. 5 f. die philosophische Theorie auf die kulinarische Praxis: Mit dem Begriff μασᾶσθαι – als Infinitiv Präsens Medium zu μασάομαι („kauen“, „essen“, „verzehren“) – wird die ‚Lust‘ am sinnlichen Genuss des Essens konkretisiert.71 Anders als in Bat. fr. 3 ist somit die Schlemmerei kein denkbares Nebenphänomen einer epikurei‐ schen Lebensart, sondern gerade deren Inbegriff und Kern, genauer gesagt das ἀγαθόν κράτιστον in der Hierarchie aller vorstellbaren Güter. Der letzte, unter Umständen nur unvollständig zitierte Satz in diesem Hegesipp-Zitat ist dabei so zu verstehen, dass ἀγαθόν und ἡδονή eine komplementäre, untrennbare und festgelegte Einheit bilden, und nicht etwa so, dass sich ἀγαθόν erst nach aufgetretener ἡδονή als zusätzliches Phänomen einstelle.
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Vgl. Damox. fr. 2, 63.
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Die besprochenen Komödienzitate in Athen. 3, 102 a–104 a (Ulpian) und in Athen. 7, 279 a–d (Daphnos?) reichen aus, um aus den durchgeführten Analysen bereits wesentliche Rückschlüsse zu ziehen, was den Umgang mit epikureischem Gedankengut und die Figurenmodellierung in diesem Rahmen in der Neuen Komödie betrifft: Im Zentrum der behandelten Komödienfragmente in Buch III und Buch VII von Athenaios steht die epikureische Lustlehre und ihre mögliche Anwendung auf die eigene Lebenspraxis. Die philosophische Lehre Epikurs, die von den Komödiencharakteren auf eine hedonistische Auffassung reduziert wird, dient dabei als Ausgangspunkt und vor allem als Legitimati‐ onsgrundlage für das eigene Handeln und Denken. Bei der Anwendung der epikureischen Lehrvorschriften auf ihre individuelle Lebenslage scheinen die Komödienfiguren, die sich namentlich auf Epikur beziehen, dessen Lehre gera‐ dezu mutwillig misszuverstehen, um sich in Konfliktsituationen rechtfertigen zu können. Für die konkrete Ausgestaltung dieser Form der Rezeption wird aus dem reichhaltigen Bestand der typischen Komödiencharaktere offenbar eine Viel‐ falt an Figuren ausgewählt (Koch, Pädagoge, Berater), die die epikureische Lehre oder Aussagen, die dieser nahekommen, vertreten. Der Aspekt der literaturgeschichtlichen Autor- und Werkchronologie spielt beim Zitieren der Komödientexte offenbar keine Rolle, es geht allein um die thematische und situative Verknüpfbarkeit der einzelnen Szenen unter dem Dachthema der Wirkmacht und Praktikabilität der epikureischen Lehre. Dass die Figuren, denen epikureisches Gedankengut in den Mund gelegt wird, in erster Linie selbst Gegenstand des Spotts werden, da sie für sich nur gewisse Aspekte der Kepos-Lehre auswählen und diese dann für ihre eigenen Zwecke und Lebensbereiche umdeuten, wird gerade in den längeren Komödienfragmenten von Damoxenos und Baton deutlich. Konkret führt in diesen Texten die Rollenmodellierung auf folgende Weise zu einem komischen Effekt: Die Erwartungen an berufliche bzw. soziale Rollen – hier beispielsweise an den Erzieher und den Koch – werden mit der epi‐ kureischen Lehre auf unterschiedliche Weise in Verbindung gebracht. Vom Erzieher erwartet man die Vermittlung gesellschaftlich anerkannter Werte und die Förderung der Leistungsbereitschaft von Jugendlichen, nicht aber die zusätzliche Förderung ihrer ohnehin vorhandenen Neigungen zum eigenen Vergnügen. Der komische Effekt in Bat. fr. 5 ist derart plakativ, dass man nicht einmal eine paränetische Absicht vermuten bzw. suggerieren muss, welche zeigen soll, dass Epikur die Jugend verderbe oder seine Lehre grundsätzlich nicht mit gesellschaftlichen Wertevorstellungen vereinbar sei. Umgekehrt erwartet man von einem Koch, dass das Ergebnis seiner Kunst natürlich Lust bei den
2.2 Epikureer in der Neuen Komödie
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Speisenden erzeugt; damit steht seine Rolle also prinzipiell mit dem Ziel von Epikurs Lehre in Einklang. Die Komik entsteht aber dadurch, dass der ‚Gastro‐ loge‘ die epikureische Theorie von der ‚Lust‘ dazu benutzt, seine eigene Kunst, die rein körperliche bzw. sinnliche Lust hervorruft, durch die Philosophie enorm aufzuwerten und damit gewissermaßen selbst zur Philosophie zu machen. Im Zentrum des Spotts stehen also nicht historisch belegbare Repräsentanten der epikureischen Lehre, zumal außer Epikur keine weiteren Anhänger des Kepos genannt oder auch nur indirekt erwähnt werden, sondern die oft abs‐ trakten und leicht umzudeutenden bzw. für eigene Zwecke manipulierbaren Kernaussagen der epikureischen Lustlehre. Die hier behandelten Komödienfi‐ guren, die sich auf Epikurs Lehre beziehen, stellen somit konkrete Beispiele für die sachfremde, falsche Anwendung epikureischer Lebensmaximen dar. Von einem Philosophenspott, wie ihn Aristophanes in den Wolken noch an Sokrates selbst vorgeführt hat, unterscheidet sich diese Form der Karikierung also recht deutlich.72 Bereits in diesem sehr frühen Stadium der Existenz von Epikurs Philosophen‐ schule und der Verbreitung seiner Lehre zeigt sich das Interesse der griechischen Dichtung, speziell der Komödie, an der karikierend-parodistischen Rezeption von entsprechenden Lehrinhalten und Vertretern. Damit bestätigt sich eine Tendenz, die Italo Gallo in einem Aufsatz über die Bedeutung der Philosophie in Batons Komödien als generelle Entwicklung im Verhältnis von Philosophie und Komödie konstatiert: „[…] non c’è dubbio che la critica ai filosofi, sia come parodia che come semplice canzonatura, inserisce Batone nella lunga e vitale tradizione che si diparte da Epicarmo […], si afferma e se consolida nel IV sec. con gli autori della μέση, Alessi in primo luogo, a spese soprattutto di Platone e dei pitagorici, e continua tra la fine del IV e il III sec. con i poeti della νέα, interessati alle vecchie e più ancora alle nuove scuole filosofiche.“73
72 73
Vgl. dazu auch Hošek (1991) 23–26; siehe zudem bereits Weiher (1913) 1–4, der Aristophanes als Pionier des literarischen Philosophenspotts darstellt und schon erste Differenzierungen innerhalb des Philosophenspotts vornimmt. Gallo (1976) 240.
70
2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie Dieses Interesse der Komödie, philosophische Inhalte parodistisch einzusetzen und ihre Repräsentanten zu verspotten, beschränkt sich nicht auf die griechische Literatur. Auch in Rom lassen sich entsprechende Tendenzen feststellen, obwohl der Bezug auf bestimmte Philosophen und ihre Weltanschauungen nur selten explizit gemacht wird, d. h. konkrete Namen bekannter Philosophen bzw. Schulen nur in Ausnahmefällen auch tatsächlich genannt werden. Dabei muss man bedenken, dass die Kenntnis von Philosophenschulen – gerade bei der Übernahme von Gattungen wie der Komödie, aber auch durch den Kontakt mit der Magna Graecia – schon vor der berühmten Philosophengesandtschaft im 2. Jahrhundert v. Chr. vorhanden war, aber dass der praktische Umgang damit (in der Politik und durch die Einstellung von griechischen Philosophen als Lehrern) erst um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. einsetzt, so dass da die Philosophengesandtschaft zu einem Schlüsselerlebnis stilisiert werden konnte. Daher ist eine frühere Ansetzung für eine literarische Auseinandersetzung mit der Kepos-Lehre und seiner Anhänger durchaus plausibel, wie insbesondere die französischen Epikur-Forscher André und Grimal schon in den 1960er Jahren klarzustellen versuchten: „On est assez mal renseigné sur les débuts de la prédication épicurienne à Rome: il est vraisemblable qu’elle précéda largement l’ambassade de 155 et que la persécution s’exerça très tôt contre une doctrine réputée subversive, sans doute dès 230 avant J.-C.“74
Vor diesem unsicheren zeitgeschichtlichen Hintergrund sei also zumindest der Versuch gerechtfertigt, anhand ausgewählter Stücke des Plautus (ca. 250–184 v. Chr.) und – in ganz knapper Form – des Terenz (ca. 195/185–159 v. Chr.) möglichen Spuren philosophischen Gedankenguts, soweit es sich zumindest in‐ haltlich auf die jüngsten hellenistischen Schulen, (Kepos und Stoa) zurückführen lässt, nachzugehen.
74
André (1966) 209; vgl. dazu auch Grimal (1969a) 141: „Il [sc. Le nom d’Épicure] avait été prononcé, semble-t-il, pour la première fois par Cinéas, plus d’un siècle auparavant, alors qu’Épicure, à la fin de sa vie, était l’une des gloires de la vie intellectuelle hellénique“.
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie
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2.3.1 Zur Rolle der Philosophie für die plautinische Figurenmodellierung Obgleich die Bedeutung der Philosophie in den plautinischen Komödien schon mehrfach analysiert wurde,75 bleibt der tatsächliche Einfluss der beiden jüngsten bzw. der hellenistischen Philosophenschulen weitgehend rätselhaft. Die Tat‐ sache, dass in diesen Stücken sehr wohl auch philosophische Themen zur Sprache kommen, wird indes kaum mehr bestritten. Vor beinahe fünf Jahrzehnten hatte Garbarino zahlreiche Passagen der frührömischen Dichtung gesammelt, deren Inhalt auf möglicherweise philoso‐ phisches Gedankengut hindeutet – sei es einer spezifischen Schule oder lediglich in einer generell thematischen Hinsicht. Damals war sie für die Untersuchung epikureischer Anklänge bei Plautus zu folgendem Ergebnis gekommen:76 Die bloße Referenz einer Komödienfigur auf ein hedonistisches Lebenskonzept reiche noch längst nicht dafür aus, dahinter sogleich eine epikureische Prägung zu vermuten; als Beispiele hierfür nennt sie die regelmäßig wiederkehrenden Aufrufe zur sinnlichen voluptas, d. h. zum Wein- und Liebesgenuss, und ebenso die Mahnungen mancher Akteure zu Mäßigung und Zurückhaltung. Dennoch schließt Garbarino Spuren epikureischen Gedankenguts in den plautinischen Komödien nicht pauschal aus, wie es – auf der Basis chronologischer und stilistischer Rückschlüsse – auch Della Corte in seinem Aufsatz kurz nach Garbarinos Publikation getan hat:77 Anders als Della Corte, der Plaut. Most. 15– 33 und 43–48 (Streitgespräch zwischen Grumio und Tranio) sowie Plaut. Capt. 139–166 (Wechselgespräch zwischen Hegio und Ergasilus) für den Nachweis des rezipierten und neu gestalteten Stoa-Kepos-Konflikts untersucht,78 sieht 75 76 77
78
Vgl. hierzu insbesondere den DNP-Artikel von Ducos (2012a) 868–870; Petrone (1992) 51–57; Grimal (1975) 485–498; Della Corte (1974) 80–94; Zehnacker (1974) 769–785; Garbarino (1973) 544–560; Grimal (1969b) 363–375; Musso (1968) 187–198. Vgl. dazu Garbarino (1973) 557f. Allerdings handelt es sich nach Della Corte lediglich um abgewandelte Anspielungen auf die epikureische Lehre aus den griechischen Vorlagen einiger Plautus-Komödien: Zu Beginn seiner Ausführungen macht Della Corte nämlich klar, dass es aus seiner Sicht „für eine Verbreitung der epikureischen Lehre in Rom […] vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts keine Anzeichen“ gebe (Della Corte, 1974, 80); trotzdem konstatiert er in einigen Szenen in der Mostellaria und in den Captivi „stoisch-epikureische[s] Kolorit“ (Della Corte, 1974, 89), das jedoch den griechischen Vorlagen geschuldet sei, an denen sich Plautus jeweils bei der Formulierung der lateinischen Verse orientiert. Vgl. dazu Della Corte (1974) 86–94. Für die relevanten Verse in der Mostellaria kommt er darin zu folgendem Fazit: „Was ursprünglich Antagonismus zwischen Stoizismus und Epikureismus war, ist zwar in den Antagonismus von Stadt und Land verlagert worden; aber trotzdem bewahrt die Szene noch Züge des Originals […]“ (Della Corte, 1974, 89). Die griechische Vorlage für die relevanten Verse in den Captivi verortet Della Corte
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
Garbarino vor allem in drei Stücken des Plautus entsprechendes Potential, die im Folgenden entsprechend neu analysiert werden sollen: Es handelt sich um einzelne Szenen in den Komödien Trinummus, Mercator und Amphitruo.79 In der Plautus-Komödie Trinummus, dessen Titel als freie Übersetzung von Philemons Thesauros bereits die enge Verbindung zum griechischen Original anzeigt,80 ist die Verschwendungssucht und Schuldenanhäufung des Lesbonicus Ausgangspunkt für die typischen Verstrickungen und Intrigen im Handlungs‐ ablauf der Komödie. Charmides, der Vater des Lesbonicus, befindet sich zu Beginn des Stücks auf Geschäftsreise und hat zuvor Haus und Familie für die Zeit seiner Abwesenheit seinem Freund Callicles anvertraut – ebenso wie die Kenntnis von einem ansonsten geheimen Goldschatz, den er als feste Rücklage für die künftige Mitgift seiner Tochter auf seinem Grundstück vergraben hatte. Kompliziert wird es, als sowohl Callicles – durch den Kauf des Familienhauses – als auch Lysiteles, ein Freund des Lesbonicus, – durch die Hochzeit mit dessen Schwester bei gleichzeitigem Verzicht auf die Mitgift – dem hoch verschuldeten Lesbonicus aus seiner immer misslicheren Lage helfen möchten: Lesbonicus besteht nämlich auf die Bezahlung einer Mitgift und verleitet Callicles, der seinerseits jedoch auf den Familienschatz erpicht ist und dessen Existenz nicht verraten möchte, zu erneuter Hilfsbereitschaft mittels einer List, deren gute Absicht am Ende durch die Rückkehr des Charmides aufgeklärt wird. Vor seinem Entschluss, die Schwester des Lesbonicus zu heiraten und dem Freund durch den bereitwilligen Verzicht auf eine Mitgift aus der finanziellen Schieflage zu helfen, wägt Lysiteles folgende Gedanken in einem Monolog ab: Multas res simitu in meo corde vorso, multum in cogitando dolorem indipiscor: egomet me coquo et macero et defetigo, magister mihi exercitor animu’ nunc est. sed hoc non liquet nec satis cogitatumst,
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80
225
(1974) 92–94 thematisch und zeitlich im Umfeld der batonischen Dichtung, ohne aber den Verfasser des griechischen Originals genauer identifizieren zu können. Ausschlaggebendes und thematisch verbindendes Kriterium für die Auswahl dieser Stellen ist Garbarino (1973) 558 zufolge „l’idea che l’uomo deve farsi guidare nelle sue scelte dal calcolo del piacere e del dolore che gli possono derivare da ciascuna azione“. Zu den Entstehungs- und Aufführungsbedingungen der Plautus-Komödien siehe im Übrigen Deufert (2002) 18–25. Siehe dazu u. a. Grimal (1975) 487 f. Die für Philemon seit langem immer wieder konstatierte Nähe zu peripatetischen Ansätzen gibt zusätzlichen Anlass, auch in den plautinischen Nachfolge-Werken Trinummus und Mercator philosophisches Gedan‐ kengut zu vermuten; vgl. dazu Zehnacker (1974) 771.
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie
utram potius harum mihi artem expetessam, utram aetati agundae arbitrer firmiorem: amorin med an rei opsequi potiu’ par sit, utra in parte plus sit voluptati’ vitae ad aetatem agundam. (Plaut. Trin. 223–232)
73
230
In den Anfangsversen des Lysiteles-Monologs lässt sich das bekannte ‚Schei‐ deweg‘-Motiv erkennen, wie es seit Homer bereits in der antiken Literatur ver‐ breitet ist:81 Der aktuelle Zustand des Lysiteles ist von quälendem Selbstzweifel und innerem dolor geprägt, denn er steht vor der Entscheidung, sich zukünftig entweder aus Liebe zu einer Frau (amor) oder aus finanziellen Gründen (res) zu verheiraten. Das übergeordnete Kriterium bei dieser Entscheidung bildet für Lysiteles allerdings weder der Drang nach einer politischen oder militärischen Karriere noch das Streben nach einem sicheren und zurückgezogenen Leben, sondern ganz allgemein gesprochen die „Lebensfreude“ (voluptas). An ihr allein richtet er die Entscheidung um seine Zukunft aus und ist dazu gewillt, sich durch rationale Abwägung der beiden Möglichkeiten aus dem gegenwärtig noch unbefriedigenden und sogar schmerzhaften Zustand zu befreien. Obwohl diese Strategie auf den ersten Blick an eine auf Vernunft basierte Persönlichkeitsentwicklung erinnert, wie sie gerade auch die epikureische Ethik bzw. das epikureische Lustkalkül vorsieht und empfiehlt,82 und in diesem Zusammenhang auch den momentanen dolor des Lysiteles rechtfertigen würde, ist von einer vorschnellen Einschätzung des Lysiteles als möglicherweise epi‐ kureisch ‚gefärbten‘ Figur Abstand zu nehmen: Zum einen ist keine der beiden Optionen ohne Weiteres mit einer epikureischen Lebensweise vereinbar, da das Liebesbedürfnis zwar in seinem Bestehen anerkannt, aber nicht sonderlich geschätzt wird, sondern vielmehr mit großer Vorsicht zu behandeln sei, und die Frage nach dem finanziellen Auskommen ohnehin keine große Bedeutung für das epikureische Lebensideal hat;83 zum anderen spricht sich Lysiteles im weiteren Verlauf seines Monologs gerade gegen Amor aus, den er in seinen Überlegungen durchgehend negativ beurteilt. Er lehnt explizit eine mögliche Zukunft als inops amator (V. 255), der die Öffentlichkeit und jeglichen Umgang mit anderen scheut (V. 261 f.), für sich ab und wehrt sich gegen eine denkbare „Freundschaft“ (amicitia) zu Amor (V. 258–269), die stattdessen auf Kosten
81 82 83
Näheres dazu siehe in Kapitel 3.4. Vgl. dazu u. a. Epik. Men. 129 f.; sent. rat. 4; sent. Vat. 73; Cic. fin. 1, 29–36. Vgl. dazu Epik. sent. rat. 26; 29 f.; sent. Vat. 21; 51 bzw. sent. rat. 14 f.; sent. Vat. 25; 43; 67; 81.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
zwischenmenschlicher Freundschaften ginge (V. 263).84 Ferner lassen sich keine aussagekräftigen intertextuellen Bezüge zur epikureischen Lehre konstatieren, da der voluptas-Begriff allein bzw. die bloße Möglichkeit zur losen Verknüp‐ fung mit dem epikureischen Lustkalkül eine entsprechende Deutung noch keineswegs rechtfertigt (niedriger Grad an Referentialität, Autoreflexivität, Selektivität, zudem kein konkreter Nachweis hinsichtlich Kommunikativität, Strukturalität und Dialogizität möglich). Ungeachtet dessen lohnt sich ein Blick auf die weiteren Überlegungen des Lysiteles, da sie weiteren Aufschluss für eine philosophische Einordnung seiner Gedanken geben. Er entscheidet sich im Folgenden nämlich mit vermeintlicher Entschlossenheit für die res-Option, die mit stoisch ‚gefärbten‘ Wertebegriffen seiner väterlichen Erziehung in vollem Einklang steht:85 certast res ad frugem adplicare animum, quamquam ibi [animo] labos grandis capitur. boni sibi haec expetunt, rem, fídem, honorem, gloriam et gratiam: hoc probis pretiumst. eo mihi magi’ lubet cum probis potius quam cum improbis vivere vanidicis. (Plaut. Trin. 270–275)
270 275
Lysiteles scheint sich also völlig den väterlichen Grundsätzen verschrieben zu haben und sich gegenüber Menschen, die er in V. 275 als improbi vanidici etwas unspezifisch definiert, rigoros abgrenzen zu wollen. Zu den erwähnten improbi vanidici rechnet Lysiteles in diesem Moment der emotionalen Entschei‐ dungsfindung sicherlich auch seinen Freund Lesbonicus, der im Begriff ist, das gesamte Hab und Gut seiner Familie zu verprassen. Umso überraschender ist es, wenn Lysiteles beim anschließenden Zusammentreffen mit seinem Vater Philto von seinem vermeintlichen Vorhaben plötzlich ablässt und diesem sein Anliegen
84
85
Der rigorose Ausschluss einer amicitia würde zwar prinzipiell gegen die epikureische Wertevorstellung verstoßen, in der die (zwischenmenschliche) amicitia – ebenso wie im peripatetischen Lehrsystem – einen hohen Stellenwert einnimmt (vgl. u. a. Epik. sent. rat. 27 f.; sent. Vat. 23; 28; 39; 52; 78); doch da die Begriffe aus dem Wortfeld amicitia, die in dieser Szene bemerkenswert häufig fallen, hier – mit Ausnahme von V. 263 – stets im übertragenen Sinn zur Beschreibung seiner Beziehung zu einem Gott verwendet wird, ist an den epikureischen Freundschaftsbegriff in diesen Versen wohl ohnehin nicht zu denken. Im Übrigen steht ein ähnlich enges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Gott und Mensch, wie Lysiteles an dieser Stelle und auch in der folgenden Unterredung mit seinem Vater Philto (V. 346 f.; 355) imaginiert, dem epikureischen Weltbild absolut fern (vgl. u. a. Epik. sent. Vat. 65). Vgl. dazu Plaut. Trin. 279–300; siehe dazu auch Ducos (2012a) 869.
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie
75
vorträgt, Lesbonicus einen wertvollen Freundschaftsdienst leisten und ihm dadurch aus seiner finanziellen Not helfen zu wollen (V. 326–328; V. 374 f.). Trotz der Einwände seines Vaters, der in dem Fehlverhalten des Lesbonicus jegliche virtus vermisst (V. 335–337), gelingt es Lysiteles letztendlich, dass Philto seinen selbstlosen Plan akzeptiert und sogar selbst bei Lesbonicus für den Heiratsantrag seines Sohnes vorstellig wird. Ein entscheidendes Argument für die erfolgreiche Überredung seines Vaters bildet der wiederholte Hinweis des Lysiteles, auch sie hätten ihren Besitz einzig und allein der deum virtus zu verdanken (und nicht etwa ihrer eigenen Leistung) und somit auch ausreichend Mittel, um Freunden zu helfen (V. 346–348; 355 f.). Spätestens in dieser Szene wird deutlich, dass Denken und Handeln des Lysiteles ihn aufgrund seiner Inkonsequenz jedenfalls nicht zu einem Anhänger einer spezifischen Philosophenschule machen: Während die Betonung der deum virtus offenbar eindeutig auf stoisches Gedankengut hinweisen würde, weisen dagegen die in V. 231 f. noch angegebene Lebensausrichtung auf die voluptas sowie die große Bedeutung der Freundschaft für Lysiteles Anzeichen epikureischer Maximen auf.86 Ohne also den Sinneswandel bzw. den inneren Entscheidungsprozess des Lysiteles an moralphilosophischen Überlegungen festmachen zu können, die sich eindeutig und sinnvoll in Schulen kategori‐ sieren ließen, sind die Abwägungen des Lysiteles als Impuls für den weiteren Handlungsverlauf von wesentlicher Bedeutung, aber auch im Hinblick auf die Beurteilung der moralischen Denk- und Verhaltensweise der Akteure in dieser Komödie. Eine eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Philosophenschule ist in diesem Fall hingegen weder haltbar noch zielführend oder notwendig für die Charakterisierung von Lysiteles und seinem Moralverhalten, was die philoso‐ phische Dimension der betrachteten Verse aber keineswegs schmälert oder gar in Abrede stellt.87 Das inkonsequente Verhalten des Lysiteles ist jedenfalls als Ausdruck seines inneren Konflikts zu verstehen und sicherlich nicht als Zeichen eines oberflächlichen Komödientypus. Dementsprechend kommt Grimal zu 86
87
Vgl. vor dem Hintergrund der Äußerung in V. 275 und dem letztlich trotzdem gefassten Entschluss, Lesbonicus zu unterstützen, insbesondere den situationsgerechten Lehr‐ satz in Epik. sent. Vat. 28: Οὔτε τοὺς προχείρους εἰς φιλίαν οὔτε τοὺς ὀκνηροὺς δοκιμαστέον· δεῖ δὲ καὶ παρακινδυνεῦσαι χάριν φιλίας. Dennoch gilt es, im Hinblick auf die Bedeutung von Freundschaft für Lysiteles auch einen möglichen peripatetischen Einfluss nicht auszuschließen, wie es etwa Grimal (1975) 490 und Ducos (2012a) 869 andeuten. Eine Untersuchung der Moral in den plautinischen Komödien bietet Grimal (1975), der zwei grundsätzliche Tendenzen konstatiert: „la condamnation des amours de jeunesse“ und „l’indulgence [pour ces amours]“ (Grimal, 1975, 486).
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
folgender Schlussfolgerung über die Bedeutung der Moral in der plautinischen Komödie: „Tout indique que le débat […] est déjà institué dans les pièces grecques, que les termes dans lesquels était posé le problème étaient ceux dans lesquels le posaient les philosophes grecs, et plus particulièrement, ceux d’Athènes, à la fin du IVe siècle avant J.-C. et pendant toute la première moitié du IIIe. Ce qui revient à dire que Plaute se trouvait en presence d’un théâtre où l’on débattait de questions morales – le même que celui de Térence puisera une generation plus tard – et qu’il n’a pas jugé utile simplifier les réflexions et les theories qu’il rencontrait dans ses modèles […].“88
In vergleichbarem Maß wie im Trinummus ist das Motiv der Freundschaft, aus dem handlungsleitende Probleme und Verstrickungen im typischen Stil der antiken Komödie herrühren, auch im Mercator vorhanden:89 Darin kommt dem jungen Charinus, der den Kauf einer Hetäre vor seinem Vater Demipho verbergen möchte, der befreundete Nachbarssohn Eutychus zu Hilfe, während Demipho, der selbst ein (sexuelles) Interesse an der Hetäre seines Sohnes hegt, auf die Unterstützung seines Nachbarn Lysimachus zurückgreift.90 Somit liegt der Personenkonstellation des Stücks also der komödientypische Generationen‐ konflikt zwischen zwei Vätern und ihren beiden Söhnen zugrunde. Tatsächlich schlägt sich der Interessenkonflikt der beiden Hauptfiguren Charinus und Demipho vor allem auch in der Formulierung ihrer zum Teil sehr moralphilosophischen Gedanken nieder, die die beiden Antagonisten hinsicht‐ lich ihrer Rolle und Funktion in der Plautus-Komödie charakterisiert. In diesem Zusammenhang hat sich insbesondere Hubert Zehnacker mit einem Aufsatz von 1974 verdient gemacht, in dem er anhand ausgewählter Textpassagen verdeutlicht, wie unterschiedlich Charinus und sein Vater mit philosophischen Termini und ethischen Fragen überhaupt umgehen und dabei Überlegungen anstellen, die spätestens seit den hellenistischen Philosophenschulen zumindest der gebildeten Elite im griechischen Raum bekannt sind. Die relevanten Stellen aus dem Mercator seien in Ergänzung zu Zehnackers Ausführungen kurz kommentiert. In einem längeren Prolog berichtet Charinus 88 89 90
Grimal (1975) 488. Vgl. Grimal (1975) 490. Auch der Mercator geht laut seinem Prolog (Plaut. Merc. 9 f.) auf eine Komödie Philemons zurück, die in diesem Fall den Titel Emporos trägt; siehe dazu u. a. Marshall (2010) 74–78; Grimal (1975) 489. Marshall (2010) 71 relativiert diesen Freundschaftsbegriff zu Recht: „Friendship in Mer‐ cator is not a reciprocal relationship but a unidirectional one, felt only by Lysimachus and Eutychus for their undeserving neighbors“.
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie
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zunächst über die Vorfälle, die sich bisher abgespielt haben, und bringt dabei seine Verzweiflung zum Ausdruck, die aus seinen amores herrührt: non ego item facio ut alios in comoediis vidi amoris facere, qui aut Nocti aut Dii aut Soli aut Lunae miserias narrant suas: quos pol ego credo humanas querimonias non tanti facere, quid velint, quid non velint; vobis narrabo potius meas nunc miserias. (Plaut. Merc. 3–8)
5
Charinus hält also offenbar nichts davon, das eigene Leid irgendwelchen kosmischen Mächten anzuvertrauen, da er davon ausgeht, sie kümmerten sich um die Belange der Menschen nicht im Geringsten. Da seine Verzweiflung im Laufe des Stücks noch stärker wächst, wiederholt er diese Aussage mit anderen Worten, als Eutychus ihm vorerst schlechte Nachrichten überbringt: Ch.: perdidisti me et fidem mecum tuam. Eu.: di sciunt culpam meam istanc non esse ullam. Ch.: eugepae, deos apsentis testis memoras: qui ego istuc credam tibi? (Plaut. Merc. 625b–627)
625
Charinus scheint über seinen Liebesschmerz und die Ausweglosigkeit seiner Lage also gänzlich den Glauben an eine göttliche Schutzmacht verloren zu haben. Ihn aufgrund dieser beiden Textauszüge als Anhänger eines epikurei‐ schen Götterbildes aufzufassen, wie es Zehnacker getan hat,91 ist jedoch unzu‐ lässig, da eine solche Annahme andere Textstellen außer Acht lässt, die deutlich machen, dass derartige theologische Aussagen des Charinus gänzlich seiner schwankenden Stimmung zwischen Hoffnung und Verzweiflung geschuldet sind: So betont er noch im Prolog ausdrücklich die Macht der Venus als einer unberechenbaren Liebesgöttin (V. 37 f.) und klagt im Schlussteil über die grausame Wirkmacht des Cupido (V. 854b–856).92 Selbst als er schon jede Hoffnung auf ein gutes Ende aufgegeben hat und für den Abschied aus seiner Heimat bereit ist, wendet er sich noch an die Götter als Schutzmacht für seine
91 92
Vgl. Zehnacker (1974) 776: „Il semblerait, comme il est naturel pour un adulescens de comédie, que Charinus professe la doctrine épicurienne“. Nach der Lindsay-Edition, in der zu Beginn der Szene 3,4 zwei zusätzliche Verse einge‐ schoben sind, die mit den Versen 842 f. identisch sind, ruft Charinus die Liebesgöttin als vermeintliche Heilsbringerin an, als er Eutychus erblickt und noch auf gute Neuigkeiten hofft: divom atque hominum quae speratrix atque era eadem es hominibus, / spem speratam quom optulisti hanc mihi, tibi gratias ago (Plaut. Merc. 598a–b).
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Familie (V. 834–837) und erbittet kurz darauf von den Lares viales Sicherheit auf seiner Reise (V. 864 f.).93 Doch selbst wenn eine eindeutige und unproblematische Zuordnung zu einem spezifischen philosophischen Gedankengut auch in diesem Fall nicht möglich ist, liegt Zehnacker mit seiner Charakterisierung des Charinus nicht ganz falsch: Tatsächlich beschreibt Charinus selbst seinen Seelenzustand und sein offenbar immer schwerer zu erreichendes Liebsglück mit Pasicompsa mit lateinischen Begriffen und Überlegungen, die später von Lukrez und Cicero für die epikureische Güterlehre verwendet werden und somit Elemente eines philosophischen Sprach- und Sprechstils sind: [Ch.:] ibi hoc malum ego inveni. ubi voluptatem aegritudo vincat, quid ibi inest amoeni? nequiquam abdidi, apscondidi, apstrusam habebam: (Plaut. Merc. 358b–360)
360
Auf der Suche nach voluptas, die sich für Charinus nun anders als früher in der glücklichen Vereinigung mit Pasicompsa erfüllen würde,94 muss er alle negativen Auswirkungen seiner Liebespein ertragen, die er bereits im Prolog aufzählt (V. 18–33). Wie Zehnacker richtig bemerkt, lohnt ein Vergleich mit den thematisch und inhaltlich weitgehend identischen Gedanken, die Lukrez viele Jahre später in De rerum natura zum Ausdruck bringt (Lucr. 4, 1052– 1287):95 Zur Bezeichnung der schmerzlichen Symptome findet man in beiden Textpassagen Begriffe wie cura (Plaut. Merc. 19; Lucr. 4, 1067) und aerumna (Plaut. Merc. 25; Lucr. 4, 1069).96 Charinus tritt tatsächlich im gesamten Stück als junger Mann auf, der seine frühere tranquillitas animi verloren hat und inzwischen durch seelischen dolor und seelische aegritudo gequält wird.97 In einer späteren Szene, in der Charinus zum letzten Mal Eutychus begegnet, behauptet der resignierende amator zwar, aufgrund der aussichtslosen Lage keinerlei Gefahren mehr zu scheuen und auch vor dem Tod keine Angst mehr zu haben, was aber natürlich mitnichten als Idealzustand nach epikureischen Vorstellungen anzusehen ist, da Charinus weiterhin keine Ruhe gefunden hat
93 94 95 96 97
Vgl. auch Plaut. Merc. 402; 436. Eutychus erwähnt in seinem Versuch, Charinus zum Bleiben zu überreden, ein gaudium antiquum des Charinus, das inzwischem dem um sich greifenden pavor gewichen sei; siehe dazu Plaut. Merc. 885f. Vgl. Zehnacker (1974) 772 f. Tatsächlich fällt der voluptas-Begriff in dieser Lukrez-Passage mehrfach (u. a. V. 1057; 1081; 1085). Vgl. u. a. auch Plaut. Merc. 869f. Vgl. Plaut. Merc. 345; 369 f.; 374; 388; 889–891.
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie
79
und auch nach eigenen Angaben innerlich völlig zerrissen und sorgengeplagt ist (V. 857b–870). Charinus wälzt also von Anfang bis Ende bei seinen szenischen Auftritten zum Teil sehr tiefgreifende Gedanken von Sorge und Ungewissheit sowie von der Sehnsucht nach der verlorenen Lebensfreude, die ihn bisweilen in die Nähe epikureischen Gedankenguts rückt, ohne ihn jedoch als rigorosen Anhänger einer bestimmten Lehre zu kennzeichnen. Fest steht allerdings, dass Charinus als authentischer Charakter auftritt, der seine wahren Gefühle kaum verbergen kann und ein aufrichtiges Interesse an einem Leben mit Pasicompsa an den Tag legt. Ganz anders verhält es sich mit seinem Vater Demipho, der zwar ebenso für die neue Hetäre seines Sohnes schwärmt, insgesamt jedoch als heuchlerischer Gegenspieler zu Charinus fungiert, der seine eigenen Anschauungen, die er einst seinem Sohn mit Nachdruck ans Herz gelegt hat, durch sein perfides und intrigantes Verhalten mit Füßen tritt.98 Zehnacker zeigt die bewusst angelegte Widersprüchlichkeit in der Charakterzeichnung des plautinischen Demipho auch auf einer philosophischen Ebene nachvollziehbar auf, da er auf der einen Seite mit seinem Glauben an den göttlichen Ursprung von Träumen als göttlichem Medium der Menschenlenkung (V. 225 f.; V. 285; V. 321) unter anderem der stoischen Lehre recht nahe komme und sich auf der anderen Seite jedoch als senex amans dem Prinzip der (erneuerten) voluptas verschreibe und als ‚Mann in seinem zweiten Frühling‘ einen überaus lächerlichen Eindruck beim Komödienpublikum hinterlasse.99 Tatsächlich bezeichnet sich Demipho selbst als insanus (V. 261–265), ist aber wider besseres Wissen nicht imstande, seinen sexuellen Trieben zu widerstehen, und gibt sich gänzlich der Verlockung hin, die Hetäre seines Sohnes mittels einer List für sich zu gewinnen. Um die moralische Korrumpierung des Demipho im Text nachzuverfolgen, ist insbesondere sein Monolog in Szene 3,2 aufschluss‐ reich:
98 99
Vgl. dazu Plaut. Merc. 46–78, als Charinus von einer moralischen Scheltrede seines Vaters berichtet, nachdem dieser von der ersten Liebschaft seines Sohnes erfahren hat. Vgl. Zehnacker (1974) 779–783. Von den traditionellen Figurentypen in der Komödie eignet sich gerade die Gruppe der senes, die zu einer voluptas in ihrer sinnlichen Dimen‐ sion neigen, für die Ausgestaltung mit epikureischen Versatzstücken; vgl. dazu Grimal (1969a) 143: „L’épicurisme apparaît en position d’accusé: c’est à lui que se rattachent les vieillards trop amis du plaisir, c’est lui qui justifie les raffinements voluptueux de la cuisine, tout ce contre quoi s’efforcent alors de lutter les lois somptuaires“.
80
2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
De.: Tandem impetravi egomet me ut corrumperem: emptast amica clam uxorem et clam filium. certumst, antiqua recolam et servibo mihi. breve iam relicuom vitae spatiumst: quin ego voluptate, vino et amore delectavero. nam hanc se bene habere aetatem nimiost aequius. adulescens quom sis, tum quom est sanguis integer, rei tuae quaerundae convenit operam dare; demum igitur quom sis iam senex, tum in otium te conloces, dum potest ames: id iam lucrumst quod vivis. hoc ut deico, facteis persequar. (Plaut. Merc. 544–554)
545 550
Obwohl er den moralischen Makel seines Tuns im Ansatz zu erkennen scheint, sieht Demipho in der Hetäre seines Sohnes demzufolge seine letzte Gelegenheit, nach einem – nach eigenem Befinden – entbehrungsreichen Leben nun endlich den eigenen Interessen und Neigungen nachzugehen, ohne Rücksicht auf andere – auch nicht auf Familienangehörige – zu nehmen. Vor diesem Hintergrund definiert sich Demiphos voluptas-Begriff über die sicherlich exemplarisch dafür genannten Mittel vinum und amor als Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach der Erfüllung sinnlicher Gelüste. Er verdreht damit den Sinn seiner eigenen Lebensanschauung, genauer gesagt, er erweitert zur Rechtfertigung seines jetzigen Handelns seine ethischen Grundsätze von früher, die er schon seinem Sohn als Erziehungsmaßnahme vermittelt hat (V. 46–78),100 indem er die voluptas zu seinem einzig verbliebenen Lebensziel macht und sie ganz unepikureisch in erster Linie über den Liebes- und Weingenuss definiert.101 Der moralphilosophische Gegensatz zwischen Demipho und seinem Sohn, der letztlich doch noch zu seiner Geliebten kommen wird, kann also sicherlich so verstanden werden, dass Demipho sich durch sein Denken und Tun als ‚Scheinepikureer‘ herausstellt; auch wenn eine Verknüpfung der Modellierung des Demipho mit der epikureischen Lehre plausibler bzw. mehr Indizien aufzu‐ weisen scheint (mittlerer Grad an Kommunikativität und Selektivität, hoher Grad an Dialogizität), gestaltet es sich jedoch auch in diesem Fall problematisch, eine direkte und bewusste Intertextualität zu Epikurs Lehrvorschriften ohne 100
101
Vgl. dazu insbesondere Plaut. Merc. 53–58: amorem multos inlexe in dispendium: / intem‐ perantem, non modestum, iniurium / trahere, exhaurire me quod quirem ab se domo; / ra‐ tione pessuma a me ea quae ipsius optuma / omnis labors invenisset perferens / amoris vi diffunditari ac didier. Vgl. ähnlich dazu Zehnacker (1974) 783.
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie
81
größere Zweifel zu belegen (niedriger Grad an Referentialität und Autoreflexi‐ vität mangels Hervorhebung und Thematisierung entsprechender Zitate, zudem auch insgesamt niedriger Grad an Strukturalität). Weitaus überzeugender ist daher das Argument, dass sich Demipho einfach nicht seinem Alter entsprechend verhält und sich so zur zentralen Figur des plautinischen Komödienspotts macht, indem er die Wertmaßstäbe, die er bei seinem Sohn angewendet hat, zugunsten seiner eigenen Lage umdeutet und sich somit gewissermaßen selbst karikiert. Daher scheint es insgesamt zu weit gegriffen (und dennoch nicht völlig ausgeschlossen), wenn Zehnacker in seinem Fazit gleich von einem plautinischen Rundumschlag gegen den Epikureismus, der leicht misszuverstehen sei, ausgeht.102 Neben einer karikierend-verzerrenden Zeichnung von Akteuren mit einer nur scheinbaren epikureischen Prägung reflektieren allerdings einzelne Protago‐ nisten in der römischen Komödie selbst in Situationen, die fast mehr tragische als komische Elemente aufweisen, über unterschiedliche Lebensauffassungen. Als prominentes Beispiel könnte hierfür die Klagearie der Alcumena aus dem Amphitruo des Plautus genannt werden, in der die weibliche Hauptprotagonistin über ihr Lebenslos klagt, nachdem sie von Jupiter in der Gestalt ihres Gatten Amphitruo getäuscht, verführt und geschwängert worden ist: Al.: Satin parva res est voluptatum in vita atque in aetate agunda praequam quod molestum est? ita quoiq’ comparatum est in aetate hominum; ita dis est placitum, voluptatem ut maeror comes consequatur: quin incommodi plus malique ilico adsit, boni si optigit quid. nam ego id nunc experior domo atque ipsa de me scio, quoi voluptas parumper datast, dum viri [mei] mi potestas videndi fuit noctem unam modo; atque is repente abiit a me hinc ante lucem. sola hic mi nunc videor, quia ille hinc abest quem ego amo praeter omnis. plus aegri ex abitu viri, quam ex adventu voluptati’ cepi. sed hoc me beat saltem, quom perduellis vicit et domum laudis compos revenit: id solacio est. apsit, dum modo laude parta domum recipiat se; feram et perferam usque abitum eiius animo forti atque offirmato, id modo si mercedis datur mi, ut meus victor vir belli clueat.
102
635 640 641a 645
Vgl. ebd.: „Sans doute ne faut-il voir dans de tels passages qu’une attaque globale portée contre l’épicurisme – du moins contre un épicurisme mal compris, dans lequel les austères disciples du Jardin étaient confondus avec de vulgaires jouisseurs“.
82
2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
satis mi esse ducam. virtus praemium est optumum; virtus omnibus rebus anteit profecto: libertas, salus, vita, res et parentes, patria et prognati tutantur, servantur: virtus omnia in sese habet, omnia adsunt bona quem penest virtus. (Plaut. Amph. 633–653)103
647a 650
Alcumena sieht in der Anwesenheit ihres Ehemannes und in der gemeinsam verbrachten Nacht ihre ganz persönliche voluptas, die sich allerdings durch die erneute Abreise ihres Mannes als schnell vergänglich erweist. In der ersten Texthälfte (V. 633–641) ist die voluptas (im Text auch als bonum bezeichnet) also in ihren Augen dem dolor (im Text tauchen synonym die Ausdrücke molestum, maeror, malum und aegrum auf) unterlegen;104 in den Versen 641a– 653 aber findet Alcumena ausgerechnet Trost in der virtus ihres Gatten auf dem bevorstehenden Feldzug.105 Diese virtus bedeute für sie wahres Glück, da sie im Gegensatz zur voluptas ein dauerhaft bestehendes Gut sei. Über die philosophische Dimension von Alcumenas canticum lässt sich Folgendes konstatieren:106 Dass die von Alcumena ersehnte voluptas mit ihrem vermeintlichen Ehemann ausgerechnet durch den stoischen Leitbegriff ersetzt wird, ist sicherlich als komisches Element und als plautinisches Spiel mit philosophisch besetzten Begriffen und zugleich auch mit der Lesererwartung zu sehen. Beide Begriffe werden nämlich in diesem Kontext gerade nicht als ausschließ‐ lich moralphilosophische Leitziele verwendet, wie sie sowohl Stoiker als auch
103
104 105 106
Alle Hervorhebungen durch Fettdruck und Unterstreichung wurden vom Verfasser dieser Arbeit vorgenommen. Während die durch Fettdruck hervorgehobenen Aus‐ drücke Alcumenas Glücksgefühle und damit ihre voluptas bzw. ihren voluptas-Ersatz (virtus ihres Mannes) kennzeichnen, enthalten die unterstrichenen Formulierungen Alcumenas ‚Schmerzen‘. Vgl. dazu Ter. An. 716–720, wo Mysis Pamphilus zunächst als summum bonum ihrer Herrn Glycerium bezeichnet, das sich durch sein schnelles Fortgehen aber in einen großen labor verkehrt. Neben dem gehäuft vorkommenden virtus-Begriff finden sich auch die Substantive laus, merces, praemium und omnia bona. Christenson (2001) 248, Anm. 29, scheint zwar eine philosophische Auslegung von Alcumenas Überlegungen zu voluptas und dolor infrage zu stellen, rekurriert dann aber (249, Anm. 35) für die Gegenüberstellung von voluptas und virtus in ihrem canticum doch auf die moralphilosophische Kontrastierung der beiden Begriffe bei Sen. dial. 7, 7, 3; siehe dazu S. 238.
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie
83
Epikureer verstehen und definieren würden, sondern mit unübersehbaren Kon‐ notationen versehen, die den sarkastischen Unterton dieser Szene ausmachen: Während sich hier der virtus-Begriff für Alcumena in erster Linie unmissver‐ ständlich über den militärischen Ruhm ihres Gatten definiert, ist den Versen 633–638, in denen sie wehmütig an die gemeinsame Nacht mit ihrem vermeint‐ lichen Ehemann denkt, ein deutlich erotischer Unterton entnehmbar, der sich nicht zuletzt aus der Ambiguität des voluptas-Begriffs ergibt.107 Vor diesem Hintergrund ist auch für den virtus-Begriff in diesem Kontext eine sexuelle Konnotation naheliegend:108 Die männliche Potenz ihres Mannes nach seiner Heimkehr entschädigt Alcumena für die Seltenheit ihrer sexuellen Aktivitäten. Überhaupt ist die plautinische Alcumena im Amphitruo tragische und komi‐ sche Figur zugleich und damit ein Opfer ‚dramatischer Ironie‘109:110 Auf der einen Seite leidet sie sichtlich unter der Abwesenheit ihres Mannes und der Sorge um ihn und wird noch dazu von Jupiter mittels einer List getäuscht, was zu einem unvermeidlichen Konflikt mit ihrem Ehemann führt (‚tragische‘ Komponente); auf der anderen Seite tragen gerade ihre Ahnungslosigkeit über den göttlichen Betrug und ihre nach wie vor feste Überzeugung von ihrer eigenen virtus all ihre moralphilosophisch anmutenden Überlegungen und ihr selbstsicheres Auftreten gegenüber den späteren Anschuldigungen des echten Amphitruo zur ‚komischen‘ Wirkung der Figur bei.111 Dazu trägt neben ihrer Empörung über die Anklage ihres Mannes und dem wiederholten Verweis auf ihre eigene virtus (V. 925–927) auch eine Äußerung Jupiters bei, als er sich im Namen (und zudem immer noch in der Gestalt) des Amphitruo für die Vorwürfe, die der echte Amphitruo seiner ahnungslosen
107
108 109 110
111
Vgl. dazu u. a. Christenson (2000) 251 f.; Lefèvre (1999a) 27 f.; Phillips (1985) 125. Der komische Effekt in der Verwechslungskomödie verstärkt sich unmittelbar im Anschluss an Alcumenas Monolog und zeichnet sich in erster Linie durch die doppelte Unwissenheit von Alcumena und Amphitruo über die von Jupiter angewandte List nach der Rückkehr des echten Amphitruo aus. Vgl. erneut Phillips (1985) 125f. Zum Begriff der ‚dramatischen Ironie‘ siehe v. a. Müller (2007) 188. Zum tragikomischen Charakter des Alcumena-canticum siehe insbesondere Manuwald (1999) 193–195. Während u. a. Sedgwick (1960) 103, Romano (1974) 875 und Gratwick (1982) 109 f. bzw. 130 Alcumena eindeutig zu einer tragischen Figur ohne komische Elemente deklarieren, betonen insbesondere Perelli (1983) 383–394, Phillips (1985) 121–126 und Christenson (2001) 243–260 die Komik der plautinischen Alcumena. Christenson (2001) 247 hebt als zentralen Aspekt für die komisch-satirische Charak‐ terzeichnung der plautinischen Alcumena deren sexuelle Unersättlichkeit hervor und bezeichnet sie dabei unter anderem als matrona non satura: „The sexually caricated Alcmena stands in stark contrast to the reserved and dignified public persona oft he idealized Roman matron“.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
Frau gemacht hatte, entschuldigt und damit seine spätere Funktion als deus ex machina (V. 1131–1143) vorwegnimmt:112 nam in hominum aetate multa eveniunt huiusmodi: capiunt voluptates, capiunt rusum miserias; irae interveniunt, redeunt rusum in gratiam. verum irae si quae forte eveniunt huiusmodi inter eos, rusum si reventem in gratiam est, bis tanto amici sunt inter se quam prius. (Plaut. Amph. 938–943)
940
Nicht nur aufgrund der (nahezu) wörtlichen Anleihen aus Plaut. Amph. 633–636 (v. a. voluptatum; in aetate hominum; molestum; maeror), sondern vor allem auch wegen des immer noch aufrechterhaltenen Phänomens der Verwechslung ist diese ethische Sentenz Jupiters sicherlich als Karikierung der Alcumena-Klage zu deuten.113 Deutet man diese Verse tatsächlich als göttliche Antwort auf die menschliche Klage, stellt sich der komische Effekt in dieser Szene offenbar durch das plautinische Spiel mit einem Rollenbild ein, das man durchaus als epikureisch bezeichnen könnte: Durch seine rücksichtslose Aneignung einer fremden Identität, um mit Alcumena zu schlafen und mit ihr den Hercules zu zeugen, erfüllt Jupiter nicht die Rolle eines fürsorglichen Gottes, der sich um das menschliche Wohl kümmert, seine Handlungsmotivation scheint vielmehr der Lustgewinn zu sein. Genau damit verstößt Jupiter aber gegen das epikureische Götterbild, da er zum einen seine voluptas (V. 114) hauptsächlich über sein se‐ xuelles Abenteuer zu definieren scheint und zum anderen für seinen Lustgewinn massiv und intrigierend114 in die menschlichen Belange eingreift. Trotz seiner ‚guten‘ Absichten, die er in V. 861–881 äußert, zieht er sich in der oben zitierten Textpassage lässig in die Beobachterrolle zurück, indem er die Menschen und
112
113 114
Vgl. dazu Jupiters Monolog in V. 861–881, in dem er ankündigt, Alcumena angesichts der (unberechtigten) Anschuldigungen helfen zu wollen (V. 870: […] veni ut auxilium feram; V. 877: atque Alcumenae in tempore auxilium feram). Das Adjektiv insons wendet er im Rahmen des entstandenen Konflikts allerdings nicht nur auf Alcumena (V. 869) an, sondern auch auf Amphitruo (V. 893–895: Amphitruo treffe für seine Reaktion wegen Jupiters Begierde und Tat keine Schuld) und sogar auf sich selbst (V. 895f.: Jupiter sei schuldlos an Amphitruos Wutausbruch und seinen verbalen Entgleisungen gegenüber Alcumena). Vgl. Christenson (2000) 251, der in Jupiters Versen zu Recht bereits einen Vorverweis auf die spätere Versöhnung zwischen Alcumena und dem echten Amphitruo in V. 1141 f. erkennt. Zu Jupiter als schurkischem Intriganten siehe v. a. Sherberg (1999) 136–138.
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie
85
ihre komplizierte Beziehung zueinander amüsiert von außen betrachtet und kommentiert. Dieser intertextuelle Bezug steht ganz im Zeichen des komischen Effekts, den der plautinische Amphitruo trotz aller tragischen bzw. tragikomischen Elemente in sich birgt, und unterstreicht recht anschaulich, welche Hauptfunktion den moralphilosophischen Äußerungen in diesem Stück zukommt: Sie tragen zum einen wesentlich zur Darstellung der Alcumena als tragikomischem Charakter bei, der aus der Diskrepanz zwischen ihrer Selbstwahrnehmung und ihrem tatsächlichen Handeln resultiert. Zum anderen reihen sie Jupiter, der in dieser Komödie nicht nur als intriganter und rücksichtsloser Gott, sondern überdies als Vater und schier unersättlicher Lüstling in Erscheinung tritt, in die senesbzw. patres-Figuren ein (z. B. Demipho im Mercator), die in der antiken Komödie traditionell karikiert werden.115 2.3.2 Fazit und Ausblick auf Terenz Die Untersuchung der exemplarisch ausgewählten Texte aus den Plautus-Ko‐ mödien Trinummus, Mercator und Amphitruo hat also ergeben, dass keine der darin agierenden Figuren aufgrund ihrer Aussagen als ausgewiesener Anhänger epikureischen Gedankenguts betrachtet werden darf, zumal sich alle Handlungen im bürgerlichen Milieu abspielen und sich vorrangig um die Lösung amouröser Verstrickungen drehen, nicht um die Lösung ethischer Problemstellungen. Dennoch findet man durchaus Monologe und Dialoge mit moralphilosophischen Themen, die den konkreten Handlungskonflikt in einem Stück auf eine allgemeine Ebene heben und sowohl terminologische als auch inhaltliche Anklänge an Lehren hellenistischer Philosophenschulen erkennen lassen. Im Gegensatz zu den Fragmenten der Neuen Komödie, die im vorangehenden Kapitel behandelt wurden, fehlt jedoch in allen überlieferten Plautus-Komödien ein expliziter bzw. namentlicher Verweis auf eine bestimmte Schule. Eine mögliche Parodie der betreffenden Institutionen bzw. die Verspottung ihrer Repräsentanten in der Dramendichtung, wie sie in der Neuen Komödie noch evident war, ist auch in den römischen Komödien nicht auszuschließen und
115
Vgl. Sherberg (1999) 135: „Die Betonung von Juppiters Vaterrolle gewinnt indes vor dem Hintergrund seiner […] erotischen Unersättlichkeit eine besondere Bedeutung, wenn man bedenkt, mit welcher Freude und Konsequenz die römischen Dichter in ihren Komödien die senes und patres verspottet und bloßgestellt haben. Der Spott richtete sich dabei bevorzugt gegen deren stultitia […] sowie gegen deren Lüsternheit, die sie in der Rolle des senex amator erkennen lassen“.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
teilweise sogar recht plausibel, da sie sich ja mehr oder weniger originalge‐ treu an griechischen Vorbildern der Neuen Komödie wie Philemon (für den Trinummus und den Mercator) orientieren, die ihrerseits in ihren (maximal frag‐ mentarisch erhaltenen) Werken einen entsprechenden Philosophenspott mit direkten Bezügen sichtbar gemacht haben.116 Eine eventuell erst von römischer bzw. plautinischer Hand erfolgte Tilgung von Namen griechischer Philosophen oder ähnlichen expliziten Bezügen, die im griechischen Originalstück noch vorhanden waren, bleibt wegen der mangel- und lückenhaften Überlieferungs‐ lage allerdings eine weitgehend spekulative Vermutung ohne Möglichkeit auf ausreichend stichhaltige und aussagekräftige Textnachweise. Ungeachtet dessen belegen gerade die ausgewählten Textauszüge aus dem Mercator und dem Amphitruo, dass Plautus für die Modellierung epikureischer personae besonders auf die traditionell karikierten patres- bzw. senes-Figuren zurückgegriffen (Demipho, Jupiter) und die weitere Entwicklung des epiku‐ reischen Rollenbildes in der römischen Literatur prägt: An der Figur des Demipho führt Plautus einen ‚Scheinepikureer‘ vor, der nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist und sein moralisch verwerfliches Handeln in entsprechenden Überlegungen zu den ‚wahren‘ Lebenszielen eines senex zu rechtfertigen sucht. Diese Art der Figurendarstellung macht in erster Linie Cicero in seinen Reden gegen Piso, die er nach der Rückkehr aus seiner Verbannung hält, zum Kern seiner Diffamierungsstrategie, wie Kapitel 3.1. zeigen wird. Im Amphitruo dient der Einsatz moralphilosophischer Wertbegriffe und Sentenzen ebenfalls nicht zur Modellierung eines orthodoxen Epikureers, sondern einerseits zur Verstärkung des tragikomischen Effekts, der von der Figur der Alcumena ausgeht, und andererseits zur Erzeugung eines komischen Effekts, der aus dem inkonsequenten Denken und Handeln des plautinischen Jupiters und der damit einhergehenden Verkehrung des epikureischen Götterbilds resultiert. Philosophisches Vokabular, das auf einzelne Komödiencharaktere angewandt wird, kann also, wie Plautus zeigt, die situative Komik sprachlich manifestieren bzw. verstärkt zur Geltung bringen und um neue Nuancen bereichern. Es liegt nahe, für die Werke des Terenz, der mindestens zwei Generationen nach Plautus lebte und literarisch wirkte, diesbezüglich ähnliche Rückschlüsse zu ziehen, da seine sechs Komödien ebenfalls auf Werke der Neuen Komödie (v. a. von Menander und Apollodor von Karystos) zurückgehen und deren Inhalte und Themen in Rom verbreiteten und salonfähig machten. Daher seien auch für das
116
Siehe dazu auch André (1966) 211: „Or Plaute, qui prise peu la philosophie systématique, n’a pas retenu ces références dans sa peinture des débordements“.
2.3 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der römischen Komödie
87
Werk des Terenz Figuren mit implizitem Bezug zum Epikureismus zumindest als Anreiz für eine weiterführende Diskussion kurz erwähnt: Ähnlich wie der plautinische Charinus im Mercator ist auch der terenzische Pamphilus in der Andria 117 in einen Generationenkonflikt verstrickt, der seine Liebe zu einer (vermeintlichen) Hetäre gefährdet und ihn bis zur letzten Szene als sorgengeplagte und seelisch hin- und hergerissene Figur erscheinen lässt.118 Dennoch steht Pamphilus aus der Sicht seines Vaters Simo eigentlich für Werte wie Freiheit, Furchtlosigkeit und Freundschaft (V. 51–68) und wird von diesem sogar als magnum exemplum continentiae gelobt (V. 93).119 Genau wie im Fall des plautinischen Charinus scheint Pamphilus bei Terenz nur auf den ersten Blick ein epikureisches Götterbild zu haben, da er den Göttern zwar aufgrund ihrer voluptates propriae ein ewiges Leben zuschreibt,120 aber auch ihren Zorn und damit durchaus die Möglichkeit einer göttlichen Intervention fürchtet.121 Auch wenn Pamphilus damit nur in Teilen wie eine epikureisch ‚gefärbte‘ Figur wirkt, lässt sich im Vergleich mit dem plautinischen Charinus und anderen männlichen Jungakteuren in der Komödie (z. B. Chaerea in Ter. Eun. 1034 f.) zumindest konstatieren, dass voluptas und gaudium für Komödienfiguren der jungen Generation gemeinsame Leitmaximen bilden; deren Erfüllung definiert sich für diese Figuren über ein glückliches und dauerhaft gesichertes Zusammenleben mit der Geliebten und kann erst auf dem Weg schmerzlicher Zweifel und problematischer Verwirrungen erreicht werden. In der Hecyra 122 liegt weniger ein Generationen- als ein Geschlechterkonflikt vor, bei dem Pamphilus bemerken muss, dass seine ungeliebte Frau Philumena bereits vor der Eheschließung schwanger geworden ist. Nachdem er von dieser persönlichen Schande erfahren hat, trifft er auf seinen Vater Laches, der die Hochzeit zwischen Philumena und seinem Sohn veranlasst hat, und geniert sich, ihm von seiner Entdeckung zu erzählen. Stattdessen beginnt der Dialog zwischen Vater und Sohn mit einem recht belanglosen Gespräch über einen verstorbenen Verwandten namens Phania, der offenbar einen sehr ausschwei‐ fenden Lebensstil gepflegt (V. 459: homo voluptati obsequens) und sein Vermögen 117 118 119 120 121 122
Zur Forschungsdiskussion, inwiefern diese Terenz-Komödie das gleichnamige Me‐ nander-Stück und seine Perinthia für die römische Literatur adaptiert, siehe Lefèvre (2008) 11–50; vgl. dazu auch Ter. An. 9–14. Vgl. Ter. An. 260–264; 351; 655; 937. Vgl. dazu auch Garbarino (1973) 561f. Vgl. Ter. An. 959f. Vgl. Ter. An. 664. Zur Diskussion, ob dieses Werk eher der Menander-Komödie Epitrepontes folge oder sich vielmehr an Apollodors gleichnamigem Stück orientiere, siehe Lefèvre (1999b) 13–34.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
völlig verprasst hat, sodass für die Angehörigen nichts übrig geblieben ist (V. 458–465). Aufgrund der Kürze dieser Figurencharakterisierung, die für den weiteren Handlungsverlauf zudem ohne Bedeutung ist, kann jedoch nicht zweifellos geklärt werden, ob darin möglicherweise eine weitere Verspottung des epikureischen Lebensstils im Gewand der Komödie steckt. Schließlich ist auch der Parasit Gnatho im Eunuch 123 bereits Gegenstand meh‐ rerer Studien gewesen, die eine philosophische Komponente des Terenz-Stücks und dazu besonders den Monolog Gnathos (V. 232–264) in den Blick nehmen.124 Nachdem zu Beginn des Stücks bereits der Sklave Parmeno dem unglücklich ver‐ liebten Phaedria mit beinahe philosophischen Ratschlägen zur Seite steht, die in erster Linie die vitia der Liebe auflistet (V. 50–63), inszeniert sich gerade Gnatho, der Parasit von Phaedrias Nebenbuhler Thraso, als gerissener Lebemann, der sich sogar als Gründer einer neuen Philosophenschule, der Gnathonici, sieht. Während Büchner auf der Basis von (anachronistischen) Parallelen zur lukre‐ zischen Epikur-Darstellung noch der Auffassung ist, dass dessen Lebensideal als epikurnah einzustufen ist,125 betonen neuere Untersuchungen vielmehr die – auch schon von Büchner konstatierte – Funktion des Gnatho-Monologs als Parodie eines philosophischen Lehrvortrags im Diatribenstil, ohne eine spezifische Philosophenschule allein ins Auge zu fassen.126 Man kann also für die römische Komödie festhalten, dass die Parodie einer (pseudo-)philosophischen Lehre bzw. des philosophischen Lehrstils generell anhand einzelner Komödienfiguren fortgeführt wird; aber anders als manche Vertreter der Neuen Komödie (wie etwa Damoxenos und Baton), die zumindest nicht explizit als Vorbilder für die hier betrachteten Texte der römischen Komödie gelten, machen Plautus und Terenz, die ihre Stücke vor allem in der Tradition Menanders verfasst haben, entsprechende Passagen mit moralphilo‐ sophischem Grundcharakter nicht an spezifischen Namen berühmter griechi‐ scher Philosophen fest. Der Einfluss philosophischer Gedanken und Themen bekannter Schulen, die im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. in der griechischen
123 124 125 126
Diese Terenz-Komödie versteht sich selbst als Nachdichtung von Menanders Kolax; vgl. Ter. Eun. 30–46; siehe dazu v. a. Lefèvre (2003) passim. Vgl. u. a. Büchner (1937) 151–160; Garbarino (1973) 562f. Vgl. v. a. Büchner (1937) 153f. Vgl. Bureau/Nicolas (2015) 145–148, die zu Recht deutlich machen, dass der Name von Gnathos Parasiten-‚Schule‘ eine Anspielung auf die Anhänger Platons sei und der Inhalt von Gnathos ‚Lehre‘ an den Lebensstil der Kyniker erinnere. Lefèvre erkennt dagegen den philosophischen Hintergrund des Gnatho-Monologs zwar prinzipiell an, betont aber vor allem den Unterhaltungscharakter der Szene, die die Handlung nicht weiter vorantreibe; vgl. Lefèvre (2003) 56; 93 f.; 124; 182 f.; 187–189.
2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie 89
Literatur längst etabliert sind, hat durch diese römische ‚Eigenart‘ im Umgang mit entsprechenden Inhalten jedenfalls kaum an Wirkkraft verloren.
2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie Nachdem soweit als Zwischenergebnis festgehalten werden kann, dass Philo‐ sophisches – seien es ausgewiesene Bestandteile einer bestimmten Lehre oder generelle philosophische Fragestellungen – sowohl in der Neuen (griechischen) als auch – infolge der starken Orientierung an griechischen Vorbildern – in der römischen Komödie zu finden ist, stellt sich die Frage, ob und wo sich auch außerhalb der Komödie in der frührömischen Dichtung entsprechende Spuren in Form einer Figurenmodellierung bzw. -charakterisierung zeigen. Während Forscher wie Grimal der Auffassung sind, dass sich die (im Gegensatz zur römischen Komödie) wesentlich schlechter überlieferte römische Tragödie dafür nicht eigne, da sie in erster Linie auf griechische Werke der klassischen Zeit (5. Jahrhundert v. Chr.) rekurrierten,127 erweist sich eine Beschäftigung mit philosophischen Äußerungen und Themen, die zweifellos auch in der frührö‐ mischen Tragödie vorhanden sind, durchaus als lohnenswert;128 da es sich in der Regel um freie und nicht wortgetreue Nachdichtungen griechischer Tragödien handelt, ist zu erwarten, dass gemeinsame oder ähnliche philosophische Inhalte und Gedanken auf Basis der autorenspezifischen Neukontextualisierung sowie vor dem Hintergrund kulturhistorischer Veränderungen, wie sie etwa auch die Herausbildung und Weiterentwicklung der hellenistischen Philosophenschulen darstellen, in Rom durchaus neu betont und neu gedeutet werden. Daher soll der einführende Überblick über frührömische Zeugnisse mit erkennbar philosophischen Elementen um ausgewählte Texte aus dem Tragö‐ dienwerk des Ennius (239–169 v. Chr.) und des Pacuvius (ca. 220–130 v. Chr.) erweitert werden. Auch spätere römische Schriftsteller, die sich hauptsächlich mit philosophischen Fragestellungen auseinandergesetzt haben, scheinen näm‐ lich das philosophische Potential in der republikanischen Tragödie erkannt zu haben, denn in einem Brief Senecas ist beispielsweise im Anschluss an ein Epikur-Zitat Folgendes zu lesen:
127 128
Vgl. u. a. Grimal (1969a) 142. So erklärt Cancik (1978) 333 das philosophische Element sogar zu einem wesentlichen Bestandteil der republikanischen Tragödie.
90
2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
[…] quam multi poetae dicunt quae philosophis aut dicta sunt aut dicenda. non attingam tragicos nec togatas nostras […]. (Sen. epist. 8, 8)
2.4.1 Epikureisch ‚gefärbtes‘ Gedankengut in den Tragödien des Ennius Auch für die mehrfach anzutreffende Thematisierung von Problemen philo‐ sophischer Natur im vielfältigen ennianischen Gesamtwerk wurde in der Forschung in der Regel auf den Einfluss der griechischen Tragödie (v. a. Euripides) hingewiesen und ein direkter Bezug des Dichters auf eine spezifische Schule meist ausgeschlossen.129 Das liegt nicht zuletzt auch an der Tatsache, dass das ennianische Werk nur sehr fragmentarisch überliefert ist, sodass eine genauere Kontextualisierung erhaltener Texte mit entsprechendem Inhalt im Gegensatz zum römischen Komödiencorpus erheblich eingeschränkt und beinahe unmöglich ist. Immerhin ist die Überlieferungslage für Ennius130 aber als wesentlich besser einzustufen als die für Naevius, der zwar als Begründer der römischen Tragödie gilt, von dessen Werk aber nur Fragmente von überschau‐ barem Umfang auf die Nachwelt gekommen sind, sodass auch eine stichhaltige Aussage über die Bedeutung philosophischer Aspekte in der naevianischen Dichtung nicht getroffen werden kann. Was hingegen die Ennius-Fragmente betrifft, lässt sich zumindest in aus‐ reichendem Maß bestimmen, wo philosophische Fragestellungen Eingang in Dialog und Handlung innerhalb einer Tragödie finden: Zu nennen sind hierbei insbesondere die Problematisierung des otium-negotium-Gegensatzes in einem Fragment, das der ennianischen Iphigenie zugeordnet wird und mutmaßlich Teil eines Chorlieds von Soldaten ist (Enn. scaen. 234–241 Vahlen = 195–202 Jocelyn);131 die Anprangerung von Gier sowie die moralisch-ethische Bedeutung von virtus und libertas in zwei stilistisch auffällig gestalteten Fragmenten aus dem Phoenix (Enn. scaen. 298 Vahlen = 259 Jocelyn; scaen. 300–303 Vahlen = 254–257 Jocelyn);132 schließlich die Kritik an Weissagung und Astrologie 129
130 131
Vgl. dazu u. a. Skutsch (1953) 197 f.; Tuilier (1962) 388–398; Garbarino (1973) 580. Mit Blick auf die im Hexameter verfassten Annales, dem in trochäischen Septenaren geschriebenen Epicharmus und der Prosa-Schrift Euhemerus vel Sacra Historia ist in der Forschung jedoch vor allem der pythagoreische Einfluss auf das ennianische Werk hervorgehoben worden; siehe dazu Lévi (2013) 18–38; Vesperini (2012) 53–75; Ducos (2000) 100; Liuzzi Sambati (1973–1974) 281–299; Jocelyn (1972) 991 f.; Tuilier (1962) 397f. Für Ennius sind namentlich über 20 Tragödien bezeugt; siehe dazu u. a. Jocelyn (1972) 1001 f.; Tuilier (1962) 389f. Siehe dazu Baldarelli (2011) 172–180; Garbarino (1973) 582 f.; Jocelyn (1967) 333–339; Skutsch (1953) 193–201.
2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie 91
sowie Aussagen zum theologischen Weltbild, wie sie vor allem in einigen Versfragmenten aus der ansonsten weitgehend unbekannten Tragödie Telamo zur Geltung kommen.133 Das zuletzt genannte Beispiel soll im Folgenden ausgehend von Ciceros Schriften De divinatione und De natura deorum, in denen die relevanten Telamo-Fragmente hauptsächlich überliefert sind, näher ausgeführt werden. Gerade die Kontextuali‐ sierung dieser Ennius-Zitate in Ciceros Traktaten De divinatione und De natura deorum ist nämlich in dieser Hinsicht äußerst aufschlussreich und unterstreicht die Nähe von Telamos Äußerungen zu einem philosophischen Diskurs und damit möglicherweise auch zu epikureischem Gedankengut.134 Im dritten Buch von Ciceros De natura deorum nimmt der Akademiker Cotta ausführlich Stellung zur stoischen Götterlehre, die Balbus im zweiten Buch vorge‐ tragen hat; dabei widerlegt er unter anderem die stoische Vorstellung von einer göttlichen Fürsorge für die Menschen (Cic. nat. deor. 3, 65–93), indem er einen Ennius-Vers (Enn. scaen. 318 Vahlen = 265 Jocelyn) im Zusammenhang mit dem Tod etlicher römischer Helden (Cic. nat. deor. 3, 79–81) – allgemein also mit den mala, die viele Männer trotz ihrer guten Taten erlitten hätten – zitiert:135 […] Telamo autem uno versu totum locum conficit cur di homines neglegant: ‘nam si curent, bene bonis sit, male malis; quod nunc abest’. […] (Cic. nat. deor. 3, 79)
Der Einleitungssatz, den Cotta dem Ennius-Zitat vorausschickt, verweist auf die nachfolgende Erklärung, warum die Götter die Menschen vernachlässigen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass bei Ennius nicht die Existenz der Götter von Telamo angezweifelt wird, sondern ‚nur‘ ihre aktive Fürsorge für die Menschen. Ob das Zitat deshalb gleich in einen epikureischen Kontext zu rücken ist, bleibt unklar, zumal selbst der Kepos-Vertreter in De natura deorum, C. Vel‐ leius, bei der Beschreibung der Beziehung zwischen Göttern und Menschen nie
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134 135
Siehe dazu u. a. Caviglia (1970) 470–473. Tatsächlich ist keine andere antike Tragödie – auch nicht von Euripides – mit diesem Titel bekannt; vgl. dazu Manuwald (2012) 240; Jocelyn (1967) 394; Tuilier (1962) 390; Skutsch (1953) 197. Zur Thematiserung der divinatio bei Ennius siehe u. a. Aricò (2001) 53–58. Die Ennius-Tragödie handelt aller Wahrscheinlichkeit nach von Telamo, dem König von Salamis, der um seinen toten Sohn Aias trauert und seinen anderen Sohn Teucer mit schweren Vorwürfen konfrontiert, da er den Tod seines Bruders nicht gerächt habe. Siehe dazu v. a. Jocelyn (1967) 394f. Zur epikureischen Tendenz dieses Verses siehe auch Schierl (2006) 480, Anm. 41. Ähnliche Gedanken zum Thema der göttlichen Gerechtigkeit finden sich auch in der Komödie; z. B. Men. Epitr. 1084–1086; Plaut Bacch. 660. Die epikureische Position in De natura deorum (Velleius) steht im Fokus von Kapitel 4.1.
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von neglegere spricht.136 Jedenfalls wird dieser Ennius-Vers, der die berühmte Theodizee-Argumentation enthält, in Ciceros Dialog mit der Kritik an der Stoa kontextualisiert. Dieser Zusammenhang rechtfertigt somit lediglich, Telamos Äußerung in einem anti-stoischen Licht zu sehen, was nicht gleichbedeutend mit einer epikureischen Tendenz ist. Im ersten Buch von Ciceros Dialog De divinatione, der etwa ein Jahr später verfasst wurde, plädiert Ciceros Bruder Quintus als Vertreter der stoischen Lehr‐ meinung für einen hohen Stellenwert der divinatio und stellt ihre verschiedenen Formen ausführlich dar. Am Ende seines Vortrags widerspricht er zunächst einer Auffassung, die im Chryses des Pacuvius vorgebracht wird (Pacuvius fr. 77; 80 Schierl = 83–85; 90–92 Ribbeck3 = 131–133; 138–140 D’Anna) und in der der Nutzen von Auspizien angezweifelt wird (Cic. div. 1, 131). Danach schließt sich Quintus der polemischen Kritik an, die der ennianische Telamo in Enn. scaen. 319–323 Vahlen (= 272–276 Ribbeck) an den Wahrsagern und Sehern übt, indem er sie als Kritik an den Scharlatanen des Fachs ausdeutet. Dabei betont er allerdings, dass er an die Fürsorge der Götter glaubt und deswegen die divinatio in ernst zu nehmenden Formen verteidigt (Cic. div. 1, 132):137 […] non enim sunt hi aut scientia aut arte divini sed ‘superstitiosi vates inpudentesque harioli, aut inertes aut insani aut quibus egestas imperat, qui sibi semitam non sapiunt, alteri monstrant viam; quibus divitias pollicentur, ab iis drachumam ipsi petunt. de his divitiis sibi deducant drachumam, reddant cetera.’ (Cic. div. 1, 132)
In diesem Fall macht sich mit Quintus also sogar ein Repräsentant der stoischen divinatio die ennianischen Verse, die mutmaßlich Telamo in den Mund gelegt werden, zu eigen. Obwohl die Kritik an den falschen Wahrsagern natürlich durchaus auch mit der epikureischen Ansicht im Einklang steht, lässt die Tatsache, dass diese Verse hier in einem stoischen Kontext auftauchen, die Mög‐ lichkeit einer klaren und zudem sinnvollen Klassifizierung der Telamo-Überle‐ gungen auch in diesem Fall nicht zu. Im zweiten Buch von De divinatione bezieht Cicero dagegen selbst Stellung gegen die stoische Haltung seines Bruders. Er wirft den Stoikern den Einsatz 136 137
Zur Aktivität der Götter im Vortrag des Velleius siehe Cic. nat. deor. 1, 51–53. Zur kontextuellen Einbettung dieser Ennius-Verse in Ciceros De divinatione siehe auch u. a. Garbarino (1973) 585–587. Auch Lukrez hat als Fürsprecher der epikureischen Philosophie den Aberglauben der Menschen und ihr blindes Vertrauen in die vates angeprangert; vgl. Lucr. 1, 102–111.
2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie 93
von unhaltbaren Prämissen für ihre Schlussfolgerungen vor, mit denen sie die divinatio verteidigen, weil sie u. a. die Liebe der Götter zu den Menschen als Prämisse ihres Syllogismus einsetzen (Cic. div. 2, 101–104).138 Dagegen lobt Cicero sogar Epikur, dem sonst mangelnde Kenntnis der Dialektik unterstellt werde, der aber solche logischen Fehler in dieser Diskussion nicht begehe. Im selben Atemzug mit Epikur, der jegliche cura der Götter bestreitet, zitiert Cicero auch den ersten Teil der Telamo-Rhesis (Enn. scaen. 316 f. Vahlen = 270 f. Jocelyn) und erzeugt somit zumindest den Eindruck vollkommener Übereinstimmung zwischen der Götterlehre Epikurs und dieser Aussage:139 […] primum enim hoc sumitis: ‘si sunt di, benefici in homines sunt’. qui hoc vobis dabit? Epicurusne, qui negat quicquam deos nec alieni curare nec sui; an noster Ennius, qui magno plausu loquitur adsentiente populo: ‘ego deum genus esse semper dixi et dicam caelitum, sed eos non curare opinor, quid agat humanum genus’, […]. (Cic. div. 2, 104)
Auch wenn Cicero an dieser Stelle nicht weiter auf die Ennius-Verse eingeht,140 manifestiert sich eine gemeinsame Funktion, die der Erwähnung Epikurs und dem Ennius-Zitat zukommt: Sie sollen Ciceros Einwand gegen die stoische Methode zur Verteidigung der divinatio auf philosophisch-wissenschaftlicher und auf literarischer Ebene untermauern, indem sie die Schwachstelle der stoischen Argumentation, die Umstrittenheit ihrer Prämissen, entlarven und somit die divinatio-Vorstellung der Stoiker insgesamt angreifbar machen. Bei der Betrachtung dieser drei Testimonien für den ennianischen Telamo (Cic. nat. deor. 3, 79; div. 1, 132; div. 2, 104) ist folgende Gemeinsamkeit auffällig und bemerkenswert: Sie stehen alle im Kontext einer Diskussion über die stoische divinatio. Die enge Verknüpfung von Enn. scaen. 316 f. Vahlen mit der epikureischen Theologie in Cic. div. 2, 104 legt ferner die Annahme nahe, dass die miteinander zusammenhängenden Ennius-Zitate – auch Cicero hat ja den unmittelbaren Zusammenhang von Enn. scaen. 316 f. Vahlen und scaen. 319–323 Vahlen bestätigt (Cic. div. 1, 132)141 – insgesamt und damit in ihrer
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Ganz ähnlich ist Cicero mit Epikurs Götterbild bereits in Cic. div. 2, 40 verfahren. Vgl. dazu auch Cic. nat. deor. 1, 44 f. (Lehrvortrag des Velleius). Hinter der dort erwähnten ratio verbirgt sich sicherlich der in Cic. nat. deor. 3, 79 zitierte Ennius-Verse, der deshalb in Vahlens Edition unmittelbar nach der Ennius-Passage in Cic. div. 2, 104 angeführt wird (Enn. scaen. 318 Vahlen). Unmittelbar nach dem Ennius-Zitat mit der Kritik an falschen Wahrsagern (Enn. scaen. 319–323 Vahlen) findet sich nämlich in Form einer indirekten Rede eine nahezu wortge‐
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(mutmaßlich) ursprünglichen Form in einem philosophischen Kontext bzw. als Teil eines philosophischen Diskurses gesehen werden können:142 Ego deum genus esse semper dixi et dicam caelitum, sed eos non curare opinor, quid agat humanum genus: nam si curent, bene bonis sit, male malis, quod nunc abest. superstitiosi vates inpudentesque harioli, aut inertes aut insani aut quibus egestas imperat, qui sibi semitam non sapiunt, alteri monstrant viam, quibus divitias pollicentur, ab iis drachumam ipsi petunt. de his divitiis sibi deducant drachumam, reddant cetera. (Enn. scaen. 316–318 Vahlen = 270 f.; 265 Jocelyn; scaen. 319–323 Vahlen = 266–269 Jocelyn) Ich habe immer gesagt und werde immer sagen, dass das himmlische Geschlecht der Götter existiert, aber ich bin der Meinung, dass sie sich nicht darum kümmern, was das menschliche Geschlecht tut. Wenn sie sich nämlich darum kümmerten, ginge es wohl den Guten gut, den Schlechten schlecht; das ist nun aber nicht der Fall. abergläubische Seher und unverschämte Wahrsager, Faulpelze, Wahnsinnige oder von Armut gezwungene Leute, die den Pfad für sich selbst nicht kennen, einem anderen aber den Weg zeigen; von den Leuten, denen sie Reichtum versprechen, fordern sie selbst eine Drachme. Von diesem Reichtum sollen sie ruhig für sich eine Drachme abziehen, den Rest aber auszahlen.
Nach der communis opinio stammen all diese Verse mutmaßlich aus dem Mund der Titelfigur Telamo, der allem Anschein nach an dieser Stelle über den Tod seines Sohnes Aias derart verbittert ist, dass er die Theodizee-Frage stellt. Er beantwortet sie aber damit, dass er den daraus folgenden Atheismus
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treue Wiedergabe von Enn. scaen. 316 f. Vahlen: […] atque haec quidem Ennius, qui paucis ante versibus esse deos censet, ‘sed eos non curare’ opinatur ‘quid agat humanum genus’. Anders als bei Jocelyn (1967) 127 f. und Manuwald (2012) 240 f. orientiert sich die Reihenfolge der hier zitierten Ennius-Verse nicht an deren chronologischem Vorkommen in den Cicero-Werken, sondern an der Edition von Vahlen (21928) 178 f., der dort die bei Cicero bezeugten Ennius-Zitate – ebenso wie Jocelyn und Ribbeck, nur in unterschiedlicher An‐ ordnung – unmittelbar aufeinander folgen lässt. Ausschlaggebend für diese Entscheidung ist der bereits in Anm. 141 (in diesem Kapitel) zitierte Hinweis des Quintus in Cic. div. 1, 132; siehe dazu auch Aricò (2001) 55; Grilli (1996) 227–230; Caviglia (1970) 474 f.; 478–481.
2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie 95
zwar leugnet, aber auch das Interesse der Götter am menschlichen Leben ausschließt.143 Auch wenn derartige Inhalte und Ausführungen bereits aus zahlreichen griechischen Tragödien vertraut sind, die Ennius für die Gestaltung dieser Verse zumindest als motivische Vorlage gedient haben könnten,144 ist nicht zu übersehen, wie eng sie auf der einen Seite an das epikureische Weltbild anknüpfen, das auch dem philosophisch interessierten Ennius bekannt gewesen sein dürfte:145 die Anerkennung der göttlichen Existenz und zugleich die Ableh‐ nung einer direkten Beziehung zu den Menschen (Enn. scaen. 316–318 Vahlen) sowie die Verschmähung der Providenz (Enn. scaen. 319–323 Vahlen). Auf der anderen Seite bringt Telamo an dieser Stelle aber wohl kein philosophisches Bekenntnis zum Ausdruck, sondern ‚lediglich‘ den mehr oder weniger impli‐ ziten Vorwurf, dass sich die Götter angesichts seines persönlichen Unglücks verantwortungslos verhielten. Für eine haltbare Einstufung Telamos als – zu‐ mindest in theologischer Hinsicht – epikurnaher Figur fehlt beispielsweise eine lobende Erwähnung der Götter und ihrer nachahmenswerten Verwirklichung von voluptas. Überhaupt würde es für eine explizite Markierung Telamos als epikureisch ‚gefärbte‘ persona sicherlich noch weiterer Merkmale epikureischer Theologie oder auch schulspezifischer Aspekte aus anderen Bereichen der
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Diese Verbitterung Telamos setzt sich in seiner Trauer und Wut gegenüber seinem anderen Sohn Teucer fort, den er für den Tod des Aias mitverantwortlich macht; vgl. Enn. scaen. 272; 277 f. Vahlen; siehe dazu auch Caviglia (1970) 486 f; siehe außerdem Schierl (2006) 480 zur inhaltlichen Verbindung zwischen dem ennianischen Telamo und dem Teucer des Pacuvius sowie zur unterschiedlichen Figurenfokussierung in beiden Tragödien. Vgl. u.a. Soph. Ai. 950–974; 1036–1039; Oid. T. 385–403; Ant. 1033–1063; Eur. Bacch. 255–257; Iph. T. 570–575; Hec. 488–491; Hel. 744–760; Hipp. 1103–1110; El. 400; 583f.; Herc. 339–347; Phoen. 954–959; Suppl. 610–617; Ion 252–254; Iph. A. 956–958; siehe dazu Vahlen (21928) 179; Garbarino (1973) 584, Anm. 4; 592, Anm. 4; Manuwald (2012) 243f.; zur letztgenannten Stelle siehe auch Garbarino (1973) 589f. und Tuilier (1962) 396. Thematisch nahestehend sind auch nicht-tragische Textstellen wie Plat. rep. 2, 364 b; leg. 10, 885 b; 886 c; 899 d; 900 b; 12, 948c; siehe dazu die umfangreiche Aufführung von Parallelstellen bei Pease (21968) 1177f. Vgl. v. a. Epik. sent. rat. 1; Epik. Men. 123: […] θεοὶ μὲν γὰρ εἰσίν· ἐναργὴς γὰρ αὐτῶν ἐστιν ἡ γνῶσις· οἵους δ’αὐτοὺς πολλοὶ νομίζουσιν, οὐκ εἰσίν· […]; 124: οὐ γὰρ προλήψεις εἰσὶν ἀλλ’ ὑπολήψεις ψευδεῖς αἱ τῶν πολλῶν ὑπὲρ θεῶν ἀποφάσεις. ἔνθεν αἱ μέγισται βλάβαι τε τοῖς κακοῖς ἐκ θεῶν ἐπάγονται καὶ ὠφέλειαι […]; siehe dazu auch Garabrino (1973) 592; Caviglia (1970) 469 f.; 475–477; Tuilier (1962) 388 f.; Vorbehalte gegen eine Überbetonung der Philosophie für das ennianische Werk äußert dagegen Jocelyn (1967) 991f.
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Kepos-Lehre bedürfen, die unter Umständen an anderen Stellen in der Tragödie zu finden waren.146 Telamo scheint aus den genannten Gründen also nicht als spezifisch epiku‐ reische Figur belegt werden zu können: Wenn man seine Äußerung überhaupt einem philosophischen Gedankengut zuordnen möchte, klingt seine Enttäu‐ schung doch eher wie eine skeptische Kritik an der Stoa, wie sie später auch von Cicero als literarischer Beleg eingesetzt wird. Ob und an welche philosophische Lehre Ennius bei der Gestaltung der besprochenen Verse aus seiner Telamo-Tragödie wohl gedacht haben mag, bleibt natürlich trotz der Annahme seiner philosophischen Bildung und wei‐ terer Spuren philosophischer Themen und Inhalte in anderen Werken recht spekulativ.147 Zumindest hat aber wohl Cicero und damit der einflussreichste Schriftsteller in der republikanischen Philosophie in besagten Versen das philo‐ sophische Potential erkannt und für die anti-stoische Argumentation in seinen philosophischen Dialogen nutzbar gemacht. 2.4.2 Epikureisch ‚gefärbtes‘ Gedankengut in den Tragödien des Pacuvius Wie bereits oben angedeutet, scheint das Tragödienwerk des Ennius-Neffen Pacuvius (ca. 220–130 v. Chr.) für die Konfrontation stoischer und epikureischer Lehrinhalte in Ciceros De divinatione eine ähnliche Bedeutung zu haben wie der ennianische Telamo. Generell zeigen nämlich vor allem zwei der fragmentarisch überlieferten Tragödien des Pacuvius, Antiopa und Chryses, eine grundlegende Offenheit für die Thematisierung philosophischer Fragestellungen:148 Während in der Antiopa, die auf die gleichnamige Tragödie des Euripides zurückgeht,149 146
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Die Tatsache, dass Cicero Telamos Äußerungen in ein epikureisches oder zumindest anti-stoisches Licht rückt, lässt jedenfalls noch keine sicheren Rückschlüsse über die schulspezifische Ausrichtung der Ennius-Verse im Original zu; vgl. dazu auch Garbarino (1973) 586: „Non dimentichiamo però che Cicerone usa adattare alle esigenze del suo discorso le citazioni che vi inserisce, per cui spesso queste assumono, inquadrate in un certo modo, un significato o un tono parzialmente diversi da quelli che avevano originariamente. In questo caso è Cicerone stesso a farci suppore che la critica contro la divinazione fosse in Ennio più radicale di quanto possa sembrarci a prima vista“. Cancik (1978) 334 erklärt Ennius gar zum „Philosoph[en] auf der republikanischen Bühne“ und bezeichnet ihn als „de[n] erste[n] römische[n] Dichterphilosoph[en]“. Vgl. Ducos (2012b) 81 f.; Manuwald (2003) 94–110; Champeaux (1987) 191–197; Garba‐ rino (1973) 594–616. Die Fragmente, die philosophische Äußerungen von Figuren in den Pacuvius-Tragödien enthalten, sind hauptsächlich in Werken Ciceros und beim anonymen Rhetor ad Herennium bezeugt; siehe dazu v. a. Schierl (2006) 40–43. Vgl. u. a. Garbarino (1973) 598–600.
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hierfür insbesondere die Debatte zwischen den beiden Zwillingen der Titelfigur, Amphion und Zethus, „über ihre verschiedenen Lebensweisen, worin Amphion für die ‚theoretisierend-geistige‘ und Zethus für die ‚praktisch-handelnde‘ Seite eintritt […]“150, zu nennen ist (Pacuvius fr. 4–7 Schierl = 348 f; 1b; 12–14 Ribbeck3 = 8–14 D’Anna), steht im Chryses eine Vielfalt an philosophischen Themen abwechselnd im Mittelpunkt wie die Kritik an der divinatio (Pacuvius fr. 77 Schierl = 83–85 Ribbeck3 = 131–133 D’Anna), die Überlegungen zur Kosmologie in den sogenannten ‚naturphilosophischen‘ Fragmenten (fr. 78–81 Schierl = 88; 86 f.; 89; 90–92; 93 Ribbeck3 = 137; 134–136; 138–140; 141 D’Anna) sowie die Diskussion über unterschiedliche Einstellungen zur Fortuna (fr. 262 Schierl = 366–375 Ribbeck3 = 105–115 D’Anna).151 Gerade die genannten Chryses-Fragmente bieten wichtige Anhaltspunkte für den Nachweis von möglicherweise epikureischem Gedankengut. Ein Großteil davon wird daher – wiederum ausgehend von Cicero – zunächst einzeln analysiert und dann mit relevanten Prätexten verglichen, bei denen es sich um Tragödienfragmente von Euripides handelt.152 Abschließend sei der Blick auf Lukrez gerichtet, bei dem eine inhaltlich und sprachlich vergleichbare Darstel‐ lung wie bei Euripides und Pacuvius zu finden ist. Die betreffenden Passagen integriert Lukrez in das epikureische Weltbild, was jedoch nicht beweisen kann, dass bereits bei Pacuvius epikureisches Gedankengut vorliegt, das auch bewusst so gekennzeichnet wird; vielmehr macht diese Beobachtung zumindest plausibel, dass Lukrez unter anderem aus Formulierungen und Motiven, die ihn mit Eurpides und Pacuvius verbinden, seine Darstellung der epikureischen Lehre entwickelt hat. Bei der Gegenüberstellung verschiedener philosophischer Ansichten über die divinatio (z. B. Posidonius in Cic. div. 1, 130; Demokrit in Cic. div. 1, 131) hat Quintus am Ende des ersten Buchs von Ciceros De divinatione vor der 150
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Manuwald (2003) 95; siehe dazu auch Ducos (2012b) 81; Garbarino (1973) 598–603; Castagna (1992) 88 f.; zu Überlieferung, Bedeutung und antiker Rezeption des Agons zwischen den Brüdern siehe die einleitenden Ausführungen von Schierl (2006) 98–100; zu den wichtigsten Testimonien T 45–48 Schierl (Rhet. Her. 2, 43; Cic. inv. 1,94; de orat. 2, 155; rep. 1,30) siehe auch Manuwald (2003) 96 f. und Garbarino (1973) 600–602. Vor dem Hintergrund dieser ungewöhnlichen Fülle an philosophischen Fragestellungen und der mutmaßlichen Intensität, mit der sie von den jeweiligen Figuren diskutiert wurden, spricht Manuwald (2003) 108 von Antiopa und Chryses als „Pacuvius’ ‚philoso‐ phischste[n]‘ Tragödien“; zu weiteren Pacuvius-Dramen mit philosophischen Inhalten siehe Manuwald (2003) 103f. Überhaupt nimmt Cicero offenbar ausschließlich in seiner philosophischen Spätphase (46–44 v. Chr.) vielfach und explizit auf Textstellen aus dem Chryses Bezug, was auch für eine langanhaltende Popularität der Pacuvius-Tragödie spricht; siehe dazu Schierl (2006) 203 mit Anm. 31; Manuwald (2003) 108.
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finalen Bekräftigung seiner stoischen Position unter anderem auch zwei Stellen aus dem Chryses des Pacuvius zitiert,153 die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Zumindest setzt sie der Stoiker Quintus so ein, dass sie sich nach stoischer Auffassung gegenseitig widerlegen. Quintus unterstellt dem nicht näher bestimmbaren und nur bei Cicero so genannten physicus im Chryses eine mangelnde Naturkenntnis, wenn dieser bezweifelt, dass ein haruspex aus der Leber eines anderen Organismus Prognosen über die Zukunft geben kann:154 < x – x > nam isti qui linguam avium intellegunt plusque ex alieno iecore sapiunt quam ex suo, magis audiendum quam auscultandum censeo. (Pacuvius fr. 77 Schierl) […] denn diese Leute, die die Sprache der Vögel verstehen und ihre Weisheit mehr aus einer fremden Leber als der eigenen beziehen, – denen, denke ich, sollte man lieber zuhören als auf sie zu hören. (Übersetzung von Petra Schierl)
Die in jambischen Senaren abgefasste Kritik an der Zuverlässigkeit von Weis‐ sagungen, die Auguren und Eingeweideschauer machen, ist nicht zu überhören. Sie basiert augenscheinlich auf dem Argument, dass aus Sicht des physicus diesen Prophezeiungen keine rational nachvollziehbare Verbindung von Unter‐ suchungsmedium (Tierleber) und Untersuchungsziel (zukünftige Geschehnisse, die das Leben eines Menschen betreffen) zugrunde liegt. Den Kritikpunkt der Kontingenz versucht dagegen Demokrit dadurch auszuräumen, dass er betont, aus den Innereien eines Tiers könne geschlossen werden, ob es sich bisher von einem fruchtbaren oder sterilen Land ernährt habe, so dass daraus für die zukünftige Situation eine Prognose gegeben werden könne. Über die Identität der Sprecherfigur im Chryses und über die Personenkons‐ tellation lässt sich keine gesicherte Aussage treffen:155 Im Allgemeinen legt 153
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Zum ersten Mal in Ciceros De divinatione erwähnt Quintus Pacuvius, als er in Cic. div. 1, 24 Verse zitiert, die mutmaßlich aus dem Teucer stammen und in denen ein aufkommender Sturm und die in der Natur sichtbaren Folgen geschildert werden; vgl. Pacuvius fr. 239 Schierl, 1–4. Dass dieses Pacuvius-Zitat eine andere Funktion als am Ende von Buch 1 hat, nämlich die Verteidigung der divinatio, geht beispielsweise aus den Erläuterungen von Schierl (2006) 495 hervor: „Ciceros Bruder Quintus verweist in De divinatione (44 v. Chr.) auf die Sturmschilderung, um zu zeigen, da[ss] selbst eine ars wie die Seemannskunst nicht fehlerfrei ausgeübt werde; ebenso dürfe die divinatio nicht angezweifelt werden, weil nicht alle Vorhersagen einträfen“. Vgl. Cic. div. 1, 131: […] ut ille Pacuvianus qui in Chryse physicus inducitur minime naturam rerum cognosse videatur: […]; die folgenden Pacuvius-Zitate werden nach der kommentierten Edition von Schierl (2006) zitiert.
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man zwar den Teil des Mythos, den Hyg. fab. 120 f. wiedergibt, dem Inhalt des pacuvianischen Chryses zugrunde,156 dennoch bleibt im Unklaren, ob Chryses157, Sohn des Agamemnon und der Chryseis und mutmaßliche Titel- und Hauptfigur in der Pacuvius-Tragödie, die oben zitierten Verse spricht oder sein Halbbruder Orest158, der ihm zusammen mit Iphigenie und Pylades auf der Flucht vor dem taurischen König Thoas auf der Insel Sminthe begegnet (Anagnorisis), oder ebendieser Thoas159 oder eher noch eine andere Dramenfigur, auf den die Bezeichnung physicus zutrifft. Unabhängig davon ist es frappierend, wie sehr diese Pacuvius-Verse in der polemischen Grundausrichtung gegen die vielfältigen Berufsgruppen der antiken Zukunftsdeuter mit dem besprochenen Telamo-Zitat übereinstimmen (Enn. scaen. 319–323 Vahlen).160 Aufgrund dieser inhaltlichen Analogie zu Ennius ist es naheliegend, auch für die in Pacuvius fr. 77 geäußerte Kritik an der Deutungskunst von Wahrsagern und generell für vergleichbare Passagen in der republikanischen Tragödie als motivisches Vorbild entsprechende Verse in den Werken der griechischen Tragiker-Trias anzunehmen.161 Diese ohnehin schon längst etablierte Forschungserkenntnis steht zudem in Einklang mit der Tatsache, dass dem Chryses des Pacuvius, der wohl zum Spätwerk des römischen Tragödiendichters gehört,162 mit der Iphigenie bei den Taurern des Euripides und dem nur namentlich bezeugten Chryses des Sophokles gleich zwei griechische
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Vgl. Schierl (2006) 229; D’Anna (1967) 71–74; Ducos (2012b) 81 vermutet mit Vorsicht einen Philosophen hinter der persona des physicus; ähnlich schon Garbarino (1973) 604. Während Slater (2000) 319 und – wenn auch mit Vorbehalt – Champeaux (1987) 195, Anm. 104, für beide Pacuvius-Zitate den taurischen König Thoas als Sprecher annehmen, bezweifeln Garbarino (1973) 603 f. und Schierl (2006) 210 f. eine mögliche Identifizierung mit Thoas und Chryses und gehen stattdessen von einer nicht näher bekannten dramatis persona aus. Vgl. dazu Manuwald (2003) 19 f., Anm. 19; Schierl (2006) 193 f. (zu Homer und Hygin als Hauptquellen des Mythos); 196 f. (zu den Unterschieden zwischen Hygins Mythos‐ wiedergabe und der Tragödie des Pacuvius). Vgl. Welcker (1839) 212; Ribbeck (31897) 257. Vgl. Frassinetti (1956) 117. Neben Slater (2000) 319 plädierten schon Zillinger (1911) 126 f., Warmington (1957) 200 f., Argenio (1959) 23 und Sutton (1984) 189 für eine damit einhergehende Kritik des Thoas an Orests Glauben an die divinatio. Ähnlich dazu Garbarino (1973) 604f. Vgl. S. 95, v. a. Anm. 144 in diesem Kapitel; siehe dazu auch Schierl (2006) 229; Garbarino (1973) 605. Zur Datierung des Chryses auf die Zeit um 130 v. Chr. siehe zuletzt v. a. Schierl (2006) 202 f.; Manuwald (2003) 140 f.; Cancik (1978) 327; D’Anna (1967) 46; 75 f.; das diesbezüglich aufschlussreichste antike Zeugnis ist sicherlich Cic. Lael. 3; 24.
100
2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
Tragödien inhaltlich und strukturell nahestehen und daher als mutmaßliche Hauptvorlagen einzustufen sind.163 Nach dem ersten Chryses-Zitat, das in der kommentierten Edition von Schierl als fr. 77 aufgeführt ist, zeigt Quintus in Ciceros De divinatione, dass aus stoischer Sicht die Kritik des physicus nicht angemessen ist, weil er im Folgenden nach Quintus’ Deutung eine stoisch-pantheistische Gottesauffassung vertritt, die eben die Grundlage für die stoische Rechtfertigung von divinatio bildet: quidquid est hoc, omnia animat format alit auget creat sepelit recipitque in sese omnia omniumque idemst pater indidemque eadem aeque oriuntur de integro atque eodem occident. (Pacuvius fr. 80 Schierl) was auch immer dies ist, alles beseelt, formt, nährt, vermehrt, erschafft und bestattet es und nimmt alles wieder in sich auf, und derselbe ist Vater aller Dinge, und ebenso entstehen von dort dieselben Dinge neu, wie sie dort ihr Ende erreichen. (Übersetzung von Petra Schierl)
Diese Verse überraschen in zweifacher Hinsicht: Zum einen geht es hier gar nicht mehr um irgendeine Kritik an der divinatio, sondern um den fortlaufenden Prozess des Werdens und Vergehens, der auf eine allmächtige göttliche Macht zurückzuführen ist, die an dieser Stelle pater omnium genannt wird; zum an‐ deren manifestiert sich neben der inhaltlichen Veränderung auch ein metrischer Wechsel von jambischen Senaren in fr. 77 Schierl zu trochäischen Septenaren in fr. 80 Schierl. Der in einer kurzen Zwischenbemerkung des Quintus – unmittelbar nach fr. 77 Schierl und vor fr. 80 Schierl – implizierte Vorwurf der philosophischen Inkonsequenz an die Adresse des Pacuvianus physicus scheint also auf inhaltlicher und auf metrischer Ebene gleichermaßen zur Geltung zu kommen und in dieser Gestalt das rhetorische Geschick des Quintus zu verdeutlichen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob tatsächlich eine solche Inkonsequenz, wie sie Quintus verstanden haben möchte, bei der Gegenüberstellung der beiden Aussagen, die offenbar aus dem Munde desselben physicus stammen, zwangsläufig vorliegt: Für Quintus ergibt sich seinen Worten zufolge der philosophische Widerspruch hauptsächlich aus der direkten (kommunikativen) Verbindung zwischen einer göttlichen Macht und der menschlichen Welt, da diese mit der divinatio-Polemik in fr. 77 Schierl in Abrede gestellt wird, während
163
Vgl. dazu u. a. Schierl (2006) 198–201; Slater (2000) 315–317.
2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie 101
sie für die Vorstellung einer solchen göttlichen Ursprungsmacht, wie dem pater omnium in fr. 80 Schierl, unabdingbare Voraussetzung ist.164 Der Glaube an eine göttliche Allmacht, die alle Lebewesen schafft und nährt und nach dem Tod wieder in sich aufnimmt, lässt sich tatsächlich nur schwer in Einklang bringen mit dem kategorischen Ausschluss einer divinatio. In Wahrheit wird aber ja nirgends explizit jegliche Möglichkeit einer göttlichen Einflussnahme auf die Menschen bezweifelt, sondern nur die divinatio als Mittel ihrer Realisierung: Mithilfe von fr. 80 Schierl, in dem eine „Beseelung“ und „Bildung“ des Menschen durch den pater omnium gelehrt wird, lässt sich möglicherweise auch der implizite Ratschlag in fr. 77 Schierl erklären, die Menschen sollten lieber auf ihr eigenes Inneres, das durch einen göttlichen Schöpfer vorgeprägt wurde, als auf die Eingeweide fremder Wesen hören.165 Für eine stichhaltige Untersuchung der Fragen, inwiefern sich der physicus bei Pacuvius wirklich in inkonsistente Äußerungen verstrickt und ob eine bestimmte philosophische Denkrichtung als Quelle seiner Überlegungen dient, bedürfte es eines wesentlich größeren und aussagekräftigeren Kontextes, als ihn die Überlieferungslage des Chryses ermöglicht. Statt sich also der Spekulation hinzugeben, was eine möglicherweise philo‐ sophiehistorische Quelle im Sinn einer bestimmten Schulrichtung hinter diesen Zitaten anbelangt,166 hat die Forschung vielmehr den Vergleich mit ähnlich lautenden Passagen in der griechischen und lateinischen Literatur vorgezogen. Dennoch geben weitere Fragmente aus dem Chryses, sofern man sie diesem Stück zuordnen kann, möglicherweise Aufschluss über die Gottesvorstellung, die in der Tragödie des Pacuvius – vielleicht sogar ebenfalls aus dem Blickwinkel
164
165
166
Vgl. Cic. div. 1, 131: quid est igitur cur, cum domus sit omnium una eaque communis cumque animi hominum semper fuerint futurique sint, cur ii quid ex quoque eveniat et quid quamque rem significet perspicere non possint?; siehe dazu u. a. Schierl (2006) 232; Schultz (2014) 196. Zur Diskussion über eine genauere Vorstellung von diesem pater und seiner möglichen Gleichsetzung mit dem Aether siehe Schierl (2006) 233; Manuwald (2003) 99 f.; Schultz (2014) 196; auch Mandolfo (1975) 43 f. und Wardle (2006) 418 f. scheinen in den beiden Zitaten nicht unbedingt einen Widerspruch zu sehen und verweisen mit dem Stoiker Panaetius, der diese Ansichten in ähnlicher Weise kombiniert habe, sogar auf ein historisches Beispiel. Für die verweigerte Anerkennung der divinatio in fr. 77 Schierl, die sicherlich eine eigene literarische Tradition hat und zumindest ursprünglich keiner bestimmten Philosophenschule zugeordnet werden kann, ist eine gewisse Nähe zu epikureischen Überzeugungen weder zu bestreiten noch als alternativlose Deutungsmöglichkeit zu betrachten, während fr. 80 Schierl eher dem stoischen ‚Pantheismus‘ nahezukommen scheint, obwohl auch an den platonischen Demiurgen gedacht werden kann; vgl. Wardle (2006) 420.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
des physicus – dargelegt wird. Gerade die Frage, ob in den Chryses-Fragmenten eine (für alle Figuren) einheitliche Gottesvorstellung vorliegt, erweist sich jedoch als sehr problematisch. Auch wenn es daher methodisch fragwürdig ist, diese Fragmente mit fr. 77 Schierl oder fr. 80 Schierl als zusammenhängende Passage in einem Fragment abzudrucken, wie es Ribbeck einst getan hat,167 scheint es aufgrund der unübersehbaren inhaltlichen Nähe (und zudem auf‐ grund der Übereinstimmung im Versmaß) durchaus legitim, aus den folgenden Fragmenten Rückschlüsse auf die bisher dargelegten philosophischen Äuße‐ rungen zu ziehen, die in Ciceros De divinatione zitiert wurden:168 solisque exortu capessit candorem, occasu nigret (Pacuvius fr. 78 Schierl = 88 Ribbeck3 = 137 D’Anna) und beim Aufgang der Sonne nimmt er hellen Glanz an, bei ihrem Untergang wird er schwarz hoc vide circum supraque quod complexu continent terram id quod nostri caelum memorant, Grai perhibent aethera (Pacuvius fr. 79 Schierl = 86 f.; 89 Ribbeck3 = 134–136 D’Anna) sieh dies um und über uns, was in seiner Umarmung die Erde umfasst hält das, was die Unseren den Himmel nennen, die Griechen als Aether bezeichnen mater est terra, ea parit corpus, animam / aether adiugat (Pacuvius fr. 81 Schierl = 93 Ribbeck3 = 141 D’Anna) die Erde ist die Mutter: Sie bringt den Körper hervor, die Seele fügt der Aether hinzu (alle Übersetzungen von Petra Schierl)
Im Mittelpunkt dieser zusätzlich ‚naturphilosophischen‘ Fragmente, die über‐ einstimmend dem Chryses zugeordnet werden, steht also keine personale Gottheit, wie sie vielleicht noch hinter dem Begriff des pater omnium in fr. 80 Schierl vermutet werden kann, sondern eine Himmelsmacht, die offenbar im 167
168
Näheres dazu in der Argumentation bei Schierl (2006) 203, die zum einen auf die Überlieferung bei unterschiedlichen Autoren hinweist und zum anderen das Fehlen einer stichhaltigen Begründung für die Annahme einer bestimmten Reihenfolge der betreffenden Verse moniert. Diese Fragmente sind jedoch nicht in Ciceros De divinatione bezeugt, sondern bei Non. 209 L. (Pacuvius fr. 78 Schierl), bei Varro ling. 5, 17 bzw. 5, 19 bzw. Cic. nat. deor. 2, 91 (Pacuvius fr. 79 Schierl) sowie bei Non. 105 L. bzw. Varro ling. 5, 60 (Pacuvius fr. 81 Schierl).
2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie 103
Griechischen als aether bekannt ist und im Lateinischen mit caelum übersetzt wird.169 Aufgrund der mehrfach nachgewiesenen motivischen Verwandtschaft zu einem Fragment aus dem Chrysippos des Euripides (Eur. fr. 839 Kannicht) erscheint es durchaus plausibel, den aether aus fr. 79 und 81 Schierl mit dem pater omnium in fr. 80 Schierl gleichzusetzen,170 zumal die Erde (terra bzw. γαῖα) sowohl bei Pacuvius als auch bei Euripides als mater bzw. μήτηρ bezeichnet und zugleich als komplementäre göttliche Macht zum aether bzw. αἰθήρ präsentiert wird:171 Γαῖα μεγίστη καὶ Διὸς Αἰθήρ, ὁ μὲν ἀνθρώπων καὶ θεῶν γενέτωρ, ἡ δ’ ὑγροβόλους σταγόνας νοτίας παραδεξαμένη τίκτει θνητούς, τίκτει βοτάνην φῦλά τε θηρῶν· ὅθεν οὐκ ἀδίκως μήτηρ πάντων νενόμισται. χωρεῖ δ’ ὀπίσω τὰ μὲν ἐκ γαίας φύντ’ εἰς γαῖαν, τὰ δ’ ἀπ’ αἰθερίου βλαστόντα γονῆς εἰς οὐράνιον πάλιν ἦλθε πόλον· θνῄσκει δ’ οὐδὲν τῶν γιγνομένων, διακρινόμενον δ’ ἄλλο πρὸς ἄλλου μορφὴν ἑτέραν ἀπέδειξεν (Eur. fr. 839 Kannicht)
4 8 12
Gaia, die größte Göttin, und der Aether des Zeus, der eine ist der Erzeuger der Menschen und Götter, die andere nimmt die feuchten und regenähnlichen Tropfen in sich auf und gebärt dann daraus die Sterblichen,
169 170 171
Zur Wiedergabe des griechischen Terminus im Lateinischen siehe auch Star (2015) 244; Manuwald (2003) 104f. Vgl. u. a. Schierl (2006) 206; Manuwald (2003) 100. Vgl. dazu auch Eur. fr. 941 Kannicht, das zwar aus einer unbekannten Tragödie stammt bzw. keiner der namentlich überlieferten Stücke zugeordnet werden kann, aber ähnliche Motive enthält: ὁρᾷς τὸν ὑψοῦ τόνδ’ ἄπειρον αἰθέρα καὶ γῆν πέριξ ἔχονθ’ ὑγραῖς ἐν ἀγκάλαις; τοῦτον νόμιζε Ζῆνα, τόνδ’ ἡγοῦ θεόν (Eur. fr. 941 Kannicht). Zu Eur. fr. 839 und fr. 941 Kannicht als mutmaßliche motivische und inhaltliche Vorlage für die pacuvianische aether-Darstellung siehe insbesondere Schierl (2006) 203–210; 231 f.; 234; Manuwald (2003) 101–103; Garbarino (1973) 606 f.; 609 f.; D’Anna (1967) 202.
104
2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
gebärt das Weideland und die Tierarten; daher ist sie nicht zu Unrecht die Mutter aller genannt worden. Es kehrt aber das aus der Erde Gewachsene in die Erde zurück, das vom himmlischen Erzeuger Entsprungene kommt wieder in den Himmelsraum zurück. Es stirbt aber nichts von den erschaffenen Dingen, sondern indem sich das eine vom anderen löst, nimmt es eine andere Gestalt an.
Ein Vergleich dieses Fragments und zusätzlich relevanter Textpartien aus dem Tragödienwerk des Euripides172 mit den Pacuvius-Fragmenten legt (trotz geringer Differenzen, die sich wohl als zusätzlich ergänzte oder nuanciert veränderte Elemente aus pacuvianischer Hand verstehen lassen)173 die Vermu‐ tung nahe, Euripides als literarische Hauptvorlage für die oben zitierten Pacu‐ vius-Verse zu sehen; eine spezifische philosophische Lehre als Hintergrundfolie der Pacuvius-Verse kommt daher kaum in Betracht.174 Die mindestens auf Euripides zurückgehenden Ansichten über Himmel und Erde sind jedoch offen‐ sichtlich für die Entwicklung verschiedener philosophischer Schultraditionen sehr bedeutsam: Während Alfonsi die Bedeutung des Euripides-Fragments speziell für die mittlere Stoa unterstreicht,175 scheint auch Ennius zumindest in Ansätzen darauf zu rekurrieren – gerade in Werken, die immer wieder in die Nähe des Pythagoreismus gerückt worden sind.176
172
173 174
175
Neben den bekannten fr. 839; 941 Kannicht verweist Manuwald (2003) 101, Anm. 113, überdies auf relevante Parallelstellen in fr. 484 (aus dem nur fragmentarisch erhaltenen Stück Die weise Melanippe) und 944 Kannicht sowie in Eur. Suppl. 531–536; ähnlich schon Alfonsi (1968) 120. Manuwald (2003) 101 f. stellt mit Blick auf diese Unterschiede „zumindest eine etwas andere Akzentuierung“ fest. Da Euripides als Hörer des Anaxagoras gilt und bei Vitruvs Paraphrasierung von Eur. fr. 839 Kannicht nicht nur als auditor Anaxagorae, sondern auch als philosophus scaenicus bezeichnet wird (Vitr. 8 praef. 1), ist die Annahme von anaxagoreischem Gedankengut in den ‚naturphilosophischen‘ Versen des Euripides noch der plausibelste Deutungsversuch; siehe dazu Schierl (2006) 205; Molsberger (1989) 196; Alfonsi (1968) 120. Vgl. Alfonsi (1968) 118–121; der Bezug des Poseidonios auf Eur. fr. 839 Kannicht in der Version von Diog. Laert. 7, 60 erfolgt jedoch in erster Linie aufgrund des Untersuchungsgegenstandes im betreffenden Werk des Poseidonios und der damit verbundenen stilistisch-ästhetischen Zielsetzung, weniger und zumindest nicht explizit aufgrund des philosophischen Inhalts in der Euripides-Passage.
2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie 105
Die deutlichste und unmittelbarste Nachahmung der Euripides-Verse findet sich allerdings nicht bei Pacuvius, sondern im lukrezischen Lehrgedicht:177 Im zweiten Buch von De rerum natura, das sich unter dem Dachthema der kosmologischen bzw. phänomenologischen Prinzipienlehre zum einen dem Atomismus nach epikureischem Verständnis widmet (V. 62–332), zum anderen den daraus abgeleiteten rationalen Erklärungen von Empfindungen (V. 333– 729: cunctarum exordia rerum variata; V. 730–1022: Farbenlehre und weitere Sinneswahrnehmungen; Empfindung von Tod und Schmerz) und am Schluss der apokalyptischen Entwicklung der vergehenden Welt (V. 1023–1174), geht der Dichter mehrfach auf die kosmologische Bedeutung von Erde und Himmel ein, wobei die Erde für die Entwicklung irdischen Lebens deutlich im Vordergrund steht.178 Zum Ende des Hauptteils der sensus-Lehre entwirft der Lehrdichter ein Modell zum Lebenskreislauf, dessen Ausgangs- und Endpunkte Erde und Himmel bilden: Denique caelesti sumus omnes semine oriundi: omnibus ille idem pater est, unde alma liquentis umoris guttas mater cum terra recepit, feta parit nitidas fruges arbustaque laeta et genus humanum, parit omnia saecla ferarum, pabula cum praebet quibus omnes corpora pascunt et dulcem ducunt vitam prolemque propagant: quapropter merito maternum nomen adepta est. cedit item retro, de terra quod fuit ante, in terras, et quod missumst ex aetheris oris, id rursum caeli relatum templa receptant. (Lucr. 2, 991–1001)
995 1000
Die nicht nur thematisch, sondern auch inhaltlich und motivisch enge Orientie‐ rung dieser Lukrez-Passage an Eur. fr. 839 Kannicht mit teilweise sogar wörtli‐ chen Übersetzungen wurde in der Forschung bereits mehrfach nachgewiesen.179 In der Darstellung des Himmels als Zeugungsmacht aller Dinge stimmt Lukrez
176 177 178
179
Vgl. Enn. var. 48–58 Vahlen (Epicharmus); ann. 13 f. Vahlen; siehe dazu Manuwald (2003) 101, Anm. 113. Vgl. Schierl (2006) 204–209; Manuwald (2003) 108f. Vgl. beispielsweise Lucr. 2, 589–603, wo die tellus als magna deum mater materque ferarum / et nostri genetrix […] corporis una (V. 598 f.) tituliert wird und der Himmel (aer) lediglich als Raumgeber für die magna tellus in Erscheinung tritt (V. 602 f.); siehe dazu auch Alfonsi (1968) 119f. Vgl. Alfonsi (1968) 120; Garbarino (1973) 611, Anm. 2; Manuwald (2003) 109, Anm. 128; Schierl (2006) 205–207.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
deutlich mehr mit Pacuvius (fr. 80 Schierl) als mit Euripides überein.180 Dennoch stehen die kosmologischen Modelle von Euripides und Lukrez einander näher, zumal bei Pacuvius – zumindest in den erhaltenen Tragödienteilen und damit eventuell auch der defizitären Überlieferungssituation geschuldet – der Aether offenbar als alleiniger Ursprung und Zielpunkt irdischen Lebens präsentiert wird,181 während bei Euripides und Lukrez die Vereinigung von Himmel und Erde ausschlaggebend für die Erzeugung irdischen Lebens ist und in beiden Fällen für den Abschluss des Lebenskreislaufs eine dichotomische Vorstellung zugrunde liegt.182 Diese Erkenntnisse führen zu dem Schluss, dass sich sowohl Pacuvius als auch Lukrez bei der Gestaltung zentraler kosmologischer Passagen in ihrem jeweiligen Werk an Darstellungen bei Euripides orientiert haben. Lukrez scheint sich dabei wesentlich enger an die griechische Vorlage gehalten und bis auf einzelne Begriffe kaum Formulierungen von Pacuvius übernommen zu haben. ‚Naturphilosophische‘ Passagen in griechischen Tragödien wie etwa Eur. fr. 839 Kannicht wurden also offenbar als geeignete Prätexte für die Ausbildung und Weiterentwicklung von entsprechendem Gedankengut in Rom angesehen, wobei die rezipierenden Autoren – in diesem Fall vor allem Ennius, Pacuvius und Lukrez – jeweils eine eigene Intention verfolgen oder zumindest einen neuen literarischen Kontext wählen und die euripideischen Inhalte in diverse philo‐ sophische Richtungen weiterentwickeln. Natürlich schließt dieses Phänomen mitnichten aus, dass es in unterschiedlichem Ausmaß auch zu intertextuellen Übernahmen zwischen den römischen Autoren gekommen ist, wenn man insbesondere die sprachliche Herausforderung berücksichtigt, Überlegungen und Begriffe aus der griechischen Tragödie in einen adäquaten lateinischen Sprachduktus zu übertragen. Bestätigt wird dieser Eindruck auch für die Motivrezeption, was die Vereini‐ gung von Himmel und Erde durch Umarmung in Eur. fr. 941 Kannicht betrifft:183 Dieses Motiv findet sich wiederum sowohl im pacuvianischen Chryses (fr. 79 Schierl) wieder, ohne dass jedoch der Aether dort explizit und eindeutig als 180
181
182 183
Ein entscheidender Unterschied, der dabei nicht übersehen werden darf, besteht jedoch darin, dass der Aether bei Pacuvius als Ursprung der anima präsentiert wird (Pacuvius fr. 81 Schierl), wohingegen bei Euripides und bei Lukrez nur vom feuchten Samen die Rede ist. Dieser Eindruck wird allerdings durch eine mögliche, aber (aufgrund der unsicheren Einordnung in den Kontext des Chryses) nicht unproblematische Einbeziehung von Pacuvius fr. 81 Schierl abgeschwächt, in dem die Erde als Schöpferin des corpus und der Himmel als Quelle der anima präsentiert werden. Vgl. hierzu insbesondere die synoptischen Ausführungen von Schierl (2005) 206f. Vgl. u. a. Schierl (2006) 208 f.; 231 f.; Garbarino (1973) 608f.
2.4 Die (mögliche) Rezeption epikureischen Gedankenguts in der republikanischen Tragödie 107
höchste Gottheit identifiziert wird, als auch im fünften Buch des lukrezischen Lehrgedichts; dort werden die kosmologischen Ausführungen aus Buch II wiederaufgenommen und einerseits als Endzeit-, andererseits als Kulturentste‐ hungstheorie fortgeführt. Das Prinzip von Werden und Vergehen wird anhand irdischer Wesen, ver‐ schiedener Elemente, meteorologischer Phänomene und sichtbarer Himmels‐ körper vorgeführt (V. 110–415); diesem Prinzip sind folglich auch Himmel und Erde unterworfen und damit als endliche Gebilde zu betrachten: Denique iam tuere hoc, circum supraque quod omnem continet amplexu terram: si procreat ex se omnia, quod quidam memorant, recipitque perempta, totum nativo ac mortali corpore constat. nam quodcumque alias ex se res auget alitque, deminui debet, recreari, cum recipit res. (Lucr. 5, 318–323)
320
Sowohl der Kreislauf des Werdens und Vergehens (fr. 80 Schierl) wie die Vorstellung, dass alles auf der Erde vom Himmel umfasst wird (fr. 79 Schierl), wird bei Pacuvius und Lukrez mit vergleichbaren Formulierungen ausgedrückt, wie entsprechende Untersuchungen bereits wiederholt gezeigt haben.184 Eine direkte intertextuelle Verbindung zwischen den beiden römischen Dichtern erscheint daher an dieser Stelle ungleich wahrscheinlicher als noch im zuvor behandelten Fall. Umgekehrt ist aus dieser Beobachtung natürlich nicht zu schließen, dass sich Lukrez pacuvianischer Verse bedient habe, da sie bereits als epikureisches Gedankengut im Chryses angelegt waren; vielmehr macht sich Lukrez wohl Formulierungen und Motive aus der römischen Tragödie zu eigen, um sie in die Gesamtargumentation seiner philosophischen Darlegungen an passender Stelle und in geeigneter Form einzugliedern und kontextbedingt zu modifizieren: In Lucr. 2, 991–1001 scheint er sich beispielsweise unmittelbar mit Euripides- und Ennius-Texten auseinanderzusetzen.185 184
185
Die intertextuelle Verbindung manifestiert sich an Formulierungen wie hoc vide (Pacuvius fr. 79 Schierl) – tuere hoc (Lucr. 5, 318); circum supraque quod complexu continet / terram (Pacuvius fr. 79 Schierl) – circum supraque quod omnem / continet amplexu terram (Lucr. 5, 318 f.); id quod nostri caelum memorant (Pacuvius fr. 79 Schierl) – quod quidam memorant (Lucr. 5, 320); alit auget (Pacuvius fr. 80 Schierl) – auget alitque (Lucr. 5, 322); recipitque in sese omnia (Pacuvius fr. 80 Schierl) – cum recipit res (Lucr. 5, 323); siehe dazu auch Alfonsi (1968) 119; Garbarino (1973) 611 f.; Champeaux (1987) 195, Anm. 104; Manuwald (2003) 109, Anm. 128; Schierl (2006) 209. Vgl. Schierl (2006) 209f.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
Für Pacuvius bzw. das in den ‚naturphilosophischen‘ Chryses-Fragmenten transportierte Gedankengut bedeutet das hingegen, dass eine Zuweisung zu einer bestimmten philosophischen Denkrichtung oder gar einer bestimmten Schule nicht nur nicht möglich ist, sondern auch die Motivtradition, die haupt‐ sächlich von ‚naturphilosophischen‘ Verspartien in griechischen Tragödien ausgeht, und zudem den literarischen Eigenwert des Chryses, die sich offenbar auch an einem philosophischen Diskurs in der frührömischen Dichtung betei‐ ligt, untergraben würde.186 Pacuvius ist es also ähnlich wie Ennius als große Leistung anzurechnen, philosophische Themen und Debatten auf die römische Bühne gebracht zu haben. Die exemplarisch herangezogenen Pacuvius-Fragmente mit ‚philosophi‐ schem‘ Inhalt lassen also für sich betrachtet meist weder eine genaue Rekon‐ struktion ihres ursprünglichen Kontextes im Chryses oder auch in anderen Tragödien zu noch geben sie explizite und unmissverständliche Hinweise auf spezifische philosophische Schultraditionen, an die sie sich inhaltlich an‐ lehnen.187 Stattdessen kann man von traditionsreichen Motiven und ‚allgemein‐ philosophischen‘ Überlegungen in der griechischen Tragödie (v. a. bei Euripides) ausgehen, die von Pacuvius wie auch von Ennius in die sich noch ausbildende römische Literatursprache übernommen und vor dem Hintergrund römischer Zeitgeschichte und öffentlicher Ansprüche an römische Bühnenstücke weiter‐ entwickelt wurden.188 Sicherlich ist die Bedeutung ‚philosophischer‘ Themen und Debatten in den Tragödien des Pacuvius nicht unerheblich, wie die Zahl und der Inhalt der präsentierten Fragmente trotz des sehr lückenhaften Überlieferungszustandes insgesamt nahelegen. Sein Beitrag am aufkommenden philosophischen Diskurs in der frührömischen Literatur darf demnach keinesfalls unterschätzt werden.
186
187 188
Vgl. hierzu insbesondere Manuwald (2003) 108–110; darauf Bezug nehmend auch Ducos (2012b) 82. Cancik (1978) 334 betont hingegen mit seiner Charakterisierung des Chryses als „Philosophendrama[s]“ die Bedeutung der Philosophie wohl allzu sehr, zumal nach wie vor der traditionelle Orest-Mythos aus den griechischen Tragödien die wesentliche Grundlage der Pacuvius-Tragödie zu bilden scheint. Dementsprechend nimmt auch Schierl (2006) 210, Anm. 63, nur unter Vorbehalt eine Kategorisierung des philosophischen Gedankenguts bei Pacuvius vor. Vgl. v. a. Manuwald (2003) 107–110; siehe auch Boyle (2006) 91.
2.5 Fazit zur vor- und frührömischen Dichtung
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2.5 Fazit zur Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ Figuren in der vor- und frührömischen Dichtung Die chronologische Untersuchung der zahlreichen, in ganz unterschiedlichen Kontexten und Dramengattungen überlieferten Texte aus dem 3. und 2. Jahr‐ hundert v. Chr., in denen eine oder mehrere literarische Figuren ‚philosophische‘ Gedanken zum Ausdruck bringen, hat gezeigt, dass unabhängig von der jewei‐ ligen Textgattung eine klare und eindeutige bzw. explizit gemachte Zuordnung der meisten Gedanken und Äußerungen zu einer spezifischen Schultradition bekannter philosophischer Lehrsysteme nur in den wenigsten Fällen möglich und sinnvoll zu begründen sind. Für Menander, dem immer wieder eine pe‐ ripatetische Prägung seiner Komödien nachgesagt wurde, ist eine (direkte) Anspielung auf die epikureische Lehre und damit auch eine enstprechende Figurenmodellierung nirgends nachweisbar. Auch wenn man diese Feststellung natürlich mit der lückenhaften Überlieferungssituation begründen könnte, erweist sich doch jegliche anderslautende Hypothese als reine Spekulation ohne fundierten Erkenntisgewinn. Vielmehr scheinen die ‚philosophischen‘ Inhalte, wenn man sie im erhaltenen menandrischen Werk so bezeichnen möchte, allge‐ mein zur Komik in den einzelnen Stücken beizutragen und sich weniger als Teil eines literarischen Diskurses über verschiedene philosophische Schulsysteme verstehen zu lassen, wie es dagegen noch für Aristophanes anzunehmen ist. Die bei Athenaios rezipierten Fragmente von Dichtern, die ebenfalls der Neuen Komödie angehören, nehmen in dieser Hinsicht jedoch eine Sonderstel‐ lung ein: Am Beispiel ausgewählter Texte von Damoxenos, Baton, Antiphanes und Hegesipp konnte deren karikierende Darstellung von verschiedenen Fi‐ gurentypen gezeigt werden, die sich (meist) ganz explizit als Anhänger der epikureischen Ethik – insbesondere der ‚Lust‘-Lehre – präsentieren und diese in unterschiedlichen Kontexten (z. B. Koch, Erzieher, Berater) auf die unmittelbare Lebenspraxis übertragen, wobei der ursprünglich philosophische Anspruch des Kepos ignoriert bzw. größtenteils (bewusst?) missverstanden wird. Die frührömische Dramendichtung ist bei der Darstellung philosophischer Inhalte und ihrer Schulzuweisung weitaus weniger explizit; dennoch zeichnet sich eine kontrastive Gegenüberstellung unterschiedlicher ‚philosophischer‘ Weltmodelle in komischen und tragischen Kontexten ab, sodass durchaus von einem philosophischen Diskurs in diesen Gattungen gesprochen werden kann. So haben gerade die Textanalysen von Auszügen aus den Plautus-Komödien Trinummus (innerer Monolog des Lysiteles) und Mercator (‚moralphilosophi‐ sche‘ Abwägungen der Kontrahenten Charinus und Demipho) erkennen lassen, dass diese Arten von Zwiegesprächen wesentlicher Bestandteil eines auf der
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Bühne ausgetragenen Generationenkonflikts sind, der seit Aristophanes ein traditionelles inhaltliches Merkmal antiker Komödien bildet. Alcumenas Zer‐ rissenheit zwischen den Idealen der voluptas und der virtus greift zumindest terminologisch am deutlichsten den traditionellen Konflikt zwischen Kepos und Stoa auf; die Folgen ihrer Klage und damit der weitere Gesprächs- und Handlungsverlauf im Amphitruo (v. a. die Reaktionen von Amphitruo und Jupiter) lassen Alcumena als tragikomische Figur erscheinen, geprägt durch die Problematik zwischen ihrer dargelegten Lebenshaltung und ihrem unwis‐ sentlichen Ehebruch. Jedenfalls kann auch keine dieser plautinischen Figuren als ausgewiesener Anhänger eines bestimmten philosophischen Lehrsystems bestimmt werden, vielmehr sind die ‚(moral-)philosophischen‘ Äußerungen und Konflikte Ausdruck der jeweils figurentypischen Lebenswünsche und nehmen dabei eine ausschließlich charakterisierende Funktion ein, ohne die Handlung letztlich entscheidend voranzutreiben. Dieser Eindruck bestätigt sich auch bei der Betrachtung ‚philosophischer‘ Szenen in den Terenz-Komödien, die allerdings diesbezüglich insgesamt we‐ niger ergiebig sind: Während sich auch Pamphilus in der Andria von voluptas und gaudium leiten lässt, führt Gnatho im Eunuch gar sein eigenes philosophi‐ sches Credo aus und evoziert damit die Lehrmethode von Philosophen wie Platon und Epikur. Insofern knüpft Terenz hiermit an die karikierende Darstel‐ lung von Philosophen an, wie sie bei Aristophanes oder den bei Athenaios überlieferten Komödiendichtern zur Geltung kommt. Mindestens in gleichem Maß scheinen Tragödiendichter wie Ennius und Pacuvius an einem philosophischen Diskurs teilzunehmen. Insbesondere die divinatio-Polemik kristallisiert sich hierbei als verbreitetes und seit der klassi‐ schen griechischen Tragödie etabliertes Motiv in ‚philosophischen‘ Verspartien heraus, wie entsprechende Äußerungen im ennianischen Telamo und im pacu‐ vianischen Chryses belegen. Die Mehrheit dieser Fragmente, deren Inhalt zum Teil erkennbare Überschneidungen mit epikureischem Gedankengut zeigt bzw. zumindest eine epikureische Grundtendenz aufweist, thematisieren Theologi‐ sches und Kosmologisches, während in den ‚philosophischen‘ Textpassagen der griechischen und der frührömischen Komödie zumeist Ethisches im Vorder‐ grund steht. Ob und wo genau sich epikureisches Gedankengut tatsächlich in der frührö‐ mischen Dichtung ausgebreitet hat, lässt sich also insgesamt nur sehr vage und nur in den (seltenen) Fällen sicher beantworten, wenn ein expliziter Verweis auf eine Philosophenschule zu finden ist. Vor dem historisch gesicherten Hintergrund der zunehmenden Ausbreitung hellenistischer Philosophie in Rom – insbesondere im 2. Jahrhundert v. Chr. – erscheint es plausibel, dass intellek‐
2.5 Fazit zur vor- und frührömischen Dichtung
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tuelle und für die griechische Kultur und Literatur offene Autoren wie etwa Plautus, Ennius und Pacuvius ihrem Interesse an hellenistischer Philosophie durch Textabschnitte mit entsprechenden Inhalten Ausdruck verliehen haben, auch ohne die betreffenden Passagen als spezifische Lehre einer bekannten Schule markieren. Diese Art von ‚philosophischem‘ Diskurs im frührömischen Drama erwächst hauptsächlich aus bereits bekannten Motiven, Themen und Formulierungen im griechischen Drama und bindet sich offenbar niemals – zumindest nicht, was die erhaltenen Textzeugnisse betrifft – explizit an eine spezifische philosophische Lehrinstitution. Mit Blick auf junge Schulen wie dem Kepos ist daher insbesondere einem möglicherweise anachronistischen Rückschluss vorzubeugen, was die vorschnelle Klassifizierung ‚philosophischer‘ Haltungen als epikureisch angeht, zumal schon vor Epikurs Schulgründung entsprechende Äußerungen als offenbar verbreitetes Motiv in der griechischen Tragödie und Komödie vorhanden sind, die man nachträglich als epikurnah einstufen könnte. Trotz dieser kaum aufzulösenden Problematik und der dadurch gebotenen Vorsicht bei der Beurteilung ‚philosophischer‘ Verspartien in der frührömischen Dichtung blieb es den Pionieren des römischen Dramas sicherlich nicht ver‐ borgen, dass sie gerade wegen der starken Orientierung an ihren griechischen Vorbildern auch gewisse Themen rezipieren, mit denen sich bekanntermaßen hauptsächlich die theoretische bzw. (natur-)wissenschaftliche Philosophie aus‐ einandersetzt und die daher auch in erster Linie als philosophische Fragestel‐ lungen und nicht etwa als reine Tragödienmotive aus der griechischen Literatur aufgefasst werden. Gerade in der römischen Tragödie setzen sich Motive wie dem Zweifel an göttlicher Fürsorge und die Kritik an der divinatio fort, die in der Regel mutmaßlich auf eine Verzweiflung der betreffenden Figur zurückzuführen sind: So finden sich nämlich auch in den ebenfalls nur fragmentarisch erhaltenen Werken des Accius (ca. 170–90 v. Chr.), dem mitunter ein geringeres Interesse an philosophischen Themen als bei Ennius und Pacuvius nachgesagt wird,189 noch Verse wie iam iam neque di regunt / neque profecto deum supremus rex curat hominibus (Acc. trag. 142 f. Ribbeck3)190 und nil credo auguribus, qui auris verbis divitant / alienas, suas ut auro locuplent domos (Acc. trag. 169 f. Ribbeck3).191 Mit dem frührömischen Drama sind also zwangsläufig auch Refle‐
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Vgl. etwa Garbarino (1973) 616, der diese These an die Beobachtung knüpft, dass zumindest die erhaltenen Textstücke nur wenige Spuren ‚philosophischer‘ Reflexion offenbaren; siehe auch Ducos (1989) 47; Molsberger (1989) 196. Garbarino (1973) 623 macht zu Recht auf die enge inhaltliche und thematische Verknüp‐ fung dieses Doppelverses, der wohl aus der accianischen Antigona stammt, mit Enn. scaen. 316–318 Vahlen aufmerksam.
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2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Figuren in vor- und frührömischer Literatur
xionen und Formulierungen philosophischer Natur in die römische Literatur eingeflossen und haben sich dort etabliert.
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Vgl. dazu Enn. scaen. 318 Vahlen; Plaut. Merc. 6 f.; Ter. Hec. 772; siehe dazu auch die umfangreiche Auflistung einschlägiger Parallelstellen bei Pease (21968) 1177 f. und Manuwald (2012) 243f.
3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung Obwohl also durchaus schon im frührömischen Drama Handlungsfiguren in Erscheinung treten, die ‚philosophische‘ Gedanken zum Ausdruck bringen, verbindet man die literarische Modellierung von Figuren mit einer spezifi‐ schen philosophischen Grundhaltung in erster Linie mit Cicero. So ist es fast ausschließlich diesem Autor zu verdanken, dass man in der heutigen Zeit Kenntnis über einige der mutmaßlich ersten römischen Epikureer hat, die als Philosophen und Lehrer im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. tätig waren: In diesem Zusammenhang ist zum einen T. Albucius zu nennen, den Cicero einerseits als doctus Graecus vel potius paene Graecus rühmt, ihn andererseits aber als perfectus Epicureus zu einem minime aptum ad dicendum genus zählt;1 zum anderen C. Amafinius, der von Cicero als einflussreicher und öffentlichkeitswirksamer Vertreter der Kepos-Lehre zusammen mit Catius und Rabirius dargestellt wird.2 Neben solchen historischen Persönlichkeiten, die Cicero lediglich beiläufig als Anhänger der epikureischen Lehre präsentiert, weist der römische Redner und Philosoph insbesondere zeitgenössische Staatsmänner wie seinen politi‐ schen Widersacher Piso (Kapitel 3.1.) oder seinen späteren Freund und Unter‐ stützer L. Manlius Torquatus, den er als seinen Gesprächspartner in De finibus bonorum et malorum I und II inszeniert, als Repräsentanten des epikureischen Dogmas aus. Bei den unterschiedlichen Darstellungen dieser beiden Figuren steht der ethische Teil der Kepos-Lehre und damit vornehmlich das schulspezifi‐ sche voluptas-Konzept sowie seine Konsequenzen für die eigene Lebensführung im Vordergrund.
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Vgl. Cic. Brut. 131: […] Doctus etiam Graecis T. Albucius vel potius paene Graecus. Loquor, ut opinor; sed licet ex orationibus iudicare; fuit autem Athenis adulescens, perfectus Epicureus evaserat, minime aptum ad dicendum genus […]. Weitere Erwähnungen von Albucius, die Ciceros epikurkritische Haltung erkennbar machen, finden sich in Cic. Pis. 92; nat, deor. 1, 93; Tusc. 5, 108; prov. cons. 15 f.; fin. 1, 8 f.; orat. 149 f.; off. 2, 50; siehe dazu u. a. Castner (21991) 1–6; Garbarino (1973) 468–472; Vesperini (2012) 252–258 (auch zu relevanten Textzeugnissen bei Lucilius). Vgl. Cic. Tusc. 4, 6f.; fam. 15, 19; ac. 1, 5; siehe dazu u.a. Castner (21991) 7–11; Garbarino (1973) 462–470; Malitz (2012) 97–100.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
3.1 Die simulata tristitia versutaque des L. Calpurnius Piso im Werk Ciceros Mit Cicero begegnet man bekanntermaßen einem Schriftsteller, der zwar ebenso wie Lukrez der spätrepublikanischen Zeitspanne angehört, allerdings eine weitaus zwiespältigere Haltung gegenüber den Epikureern einnimmt. Unge‐ achtet dieser zumeist ablehnenden Haltung, die sich nicht immer auf objektiv und mit neutraler Distanz hergeleitete Argumente stützen lässt, gibt Cicero aufgrund seines breit gefächerten literarischen Œuvres, der reichen Vielfalt der in seinen Werken vorkommenden Protagonisten und nicht zuletzt seiner wechselhaften politischen Karriere in den letzten Jahrzehnten der Republik Aufschluss über den Umgang mit hellenistischer Philosophie in der römischen Literatur. Außerdem sind gerade bei Cicero literarisch konstruierte Epikureer in einer Vielzahl von Werken fassbar und zugleich oftmals so ausführlich dargestellt – sei es als ‚passive‘ (d. h. als bloß erwähnte historische) Figuren oder als ‚aktive‘ (d. h. als handelnde und vor allem sprechende) Protagonisten –, dass sich ein aussagekräftiger Gesamteindruck für die Behandlung von Epikureer und ihrem Gedankengut bei Cicero ergibt. Schon vor der Abfassung seines reichhaltigen philosophischen Werkes, dessen Entstehung insbesondere in die Jahre 46 bis 44 v. Chr. fällt, beschäftigt sich Cicero mit historisch fassbaren Persönlichkeiten und ihrem philosophi‐ schen Gedankengut. Die erste dieser Figuren tritt im Zusammenhang mit Ciceros politischer Anklagerede In L. Calpurnium Pisonem oratio aus dem Jahr 55 v. Chr. facettenreich in Erscheinung.3 Schon aufgrund seiner Abstammung aus der alten Plebejerfamilie der Cal‐ purnii, die seit dem Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. in traditioneller Regelmä‐ ßigkeit einen römischen Konsul aus ihrem Geschlecht stellen,4 bildet der spätere Schwiegervater von Julius Caesar grundsätzlich einen sozialen Gegenpol zu Cicero. Dieser offenbart sich schließlich auch auf politischer Ebene, als er infolge der catilinarischen Verschwörung die Hinrichtung von Catilinas Komplizen aufs Schärfste verurteilt und diese Cicero als dem damals verantwortlichen Konsul anlastet.5 Es ist wohl neben der Initiative von Ciceros Erzfeind Publius
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Es geht hierbei um den Konsul von 58 v. Chr., also dem Jahr von Ciceros ca. einjähriger Verbannung nach Griechenland. Der mit vollem Namen Lucius Calpurnius Piso Caeso‐ nius heißende Widersacher Ciceros wird in dessen rhetorische Schriften bereits früher erwähnt und beschrieben, beispielsweise in den ungefähr ein Jahr zuvor erschienenen Werken De provinciis consulariis und Pro Publio Sestio; vgl. etwa Meister (2009). Vgl. Benferhat (2012a) 623. Vgl. Benferhat (2012a) 624.
3.1 Die simulata tristitia versutaque des L. Calpurnius Piso im Werk Ciceros
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Clodius Pulcher gerade auch ihm als amtierendem Konsul im Jahre 58 v. Chr. zuzuschreiben, dass Cicero verbannt wurde. Durch diese Konstellation und die politische Nähe zum späteren Diktator Caesar wird das konfliktreiche Verhältnis von Cicero und Piso mehr als deutlich.6 Im Folgenden geht es nun darum, unter der Einbeziehung aktueller For‐ schungsliteratur zum literarischen Umgang Ciceros mit Piso die Darstellung dieser real existierenden Persönlichkeit im Spiegel von Ciceros Reden Post reditum in senatu, Pro P. Sestio und In Pisonem chronologisch zu untersuchen7 und kritisch zu prüfen, inwiefern der Schwiegervater Caesars als Anhänger epikureischen Gedankenguts inszeniert wird und aus welchen Gründen Cicero eine solche Darstellung vornimmt.8 Auch der biographische Hintergrund Pisos, wie er hier nur in aller Kürze aufgezeigt wurde, soll in das abschließende Fazit dieser Überlegungen einfließen. 3.1.1 Piso als belua immanis in Post reditum in senatu Kurze Zeit nach der Rückkehr aus seiner Verbannung wendet sich Cicero in zwei Reden an die politische Öffentlichkeit, in denen er sich bei denjenigen, die sich in Rom für seine Begnadigung und Rückholung eingesetzt haben, bedankt 6
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Bis zu diesem Zeitpunkt – davon kann man jedenfalls ausgehen – bestand ein gutes oder zumindest kein durch irgendwelche Fehden belastetes Verhältnis zwischen Piso und Cicero, zumal es sogar verwandtschaftliche Beziehungen zwischen beiden Familien gab; vgl. u. a. Grillo (2015) 24. Mit dieser Auswahl an Redeauszügen folge ich der These von Castner (21991) 20, dass darin die wesentlichsten und aussagekräftigsten Stellungnahmen zu Piso enthalten seien. Somit dürfte der Entwurf eines ziemlich vollständigen Bildes der ciceroniani‐ schen Piso-Figur gewährleistet sein. Entscheidend für die nähere Betrachtung der erwähnten Texte ist ferner die Tatsache, dass Piso nur dort mehr oder weniger explizit von Cicero mit dem Epikureismus in Verbindung gebracht wird; vgl. Griffin (2001) 95. Eine umfangreiche Auflistung mit den Werken, in denen Cicero Piso in den Monaten nach der Rückkehr aus seinem Exil attackiert, findet sich u. a. bei Griffin (2001) 85. In der Forschung ist man über die eindeutige Einstufung Pisos als Epikureer ohnehin geteilter Meinung. Während etwa Castner (21991) rigoros von Pisos Zugehörigkeit zum epikureischen Gelehrtenkreis ausgeht, bezweifelt Benferhat (2012a) 626 in ihren Ausführungen über Pisos Leben aus Mangel an stichhaltigen Beweisen vehement die Unstrittigkeit seiner philosophischen Kategorisierung. Die von Castner (21991) ebenfalls berücksichtigten Darlegungen von DeLacy (1941) monieren zumindest die geringe Authentizität von Ciceros Ausführungen, was die reale Person Pisos anbelangt. Insbesondere die These, dass Piso nur über ein oberflächliches (Miss-)Ver‐ ständnis der epikureischen voluptas-Lehre verfügt und ein dementsprechendes Verhalten an den Tag gelegt habe, bestreitet DeLacy (1941), wie auch Castner (21991) 21 bemerkt.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
und zugleich wieder die politische Bühne zu betreten wünscht. Davon ist die eine an das Volk (ad Quirites), die andere an den Senat (in senatu) gerichtet. Gerade diese letztgenannte Rede, die er nur einen Tag nach seiner Rückkehr aus dem Exil am 5. September 57 v. Chr. gehalten hat,9 nutzt Cicero unter anderem für eine Abrechnung mit seinen Gegnern, die einst ihren Einfluss für seine Verbannung geltend machten. Um sich selbst auf diese Weise als politisch in Ungnade gefallenen Exil-Heimkehrer zu rehabilitieren und seinen Anspruch auf ein politisches Mitspracherecht zu erneuern,10 geht er in seiner Senatsrede wie folgt vor:11 §§ 1–5: Dank für die Bemühungen des Senats um Ciceros Rückkehr aus dem Exil; §§ 6–23: Lob der Cicero gewogenen Magistrate (v. a. der beiden Konsuln des Jahres 57 v. Chr., P. Lentulus Spinther und Q. Metellus Nepos) und Invektive gegen die ehemaligen Konsuln Piso und Gabinius; §§ 24–31: Erneuertes Lob und Dank an seine mächtigen Befürworter (z. B. Pompeius) mit einer chronologischen Darstellung der Ereignisse bis zum Beschluss über Ciceros Begnadigung;12 §§ 32–39: Erläuterung von Ciceros Motiven für sein Exil, Versprechen für die politische Zukunft und Dank an seinen Bruder (Q. Tullius Cicero) und seinen Schwiegersohn (C. Calpurnius Piso Frugi).
Ciceros Ansinnen ließ sich wohl zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Rückkehr am besten im noch relativ intimen Kreis der Senatoren verwirklichen, indem er durch die scharfe Anklage des ebenfalls anwesenden Piso vor den ranghöchsten Politikern aus der römischen Nobilität nicht nur seine eigenen Befürworter im Senat in dieser Hinsicht ganz für sich zu gewinnen, sondern auch eine Spaltung des gegnerischen Lagers zu bewirken suchte.13 Neben dem ausschweifendem
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Zu dieser genauen Datierung vgl. u. a. Fuhrmann (42013a) 152; Grillo (2015) 7. Dementsprechend hat es Steel (2001) 183 auch im Hinblick auf andere Reden nach Ciceros Rückkehr treffend auf den Punkt gebracht: „The invective is an essential part of the recreation of Marcus Tullius Cicero as a political force“. Zum überblickshaften Aufbau von Ciceros Senatsrede des Jahres 57 v. Chr. siehe u. a. Fuhrmann (42013a) 156. Eine detaillierte Gliederung der Rede nach den klassischen partes orationis der antiken Redetheorie bietet MacKendrick (1995) 124–127. Für eine bessere Kenntnis der historischen Geschehnisse sei hier auch auf die knapp gehaltenen, aber wertvollen Hintergrundinformationen zu den Ereignissen in Rom in Ciceros Abwesenheit und zu den Umständen seiner Rückkehr aus dem Exil bei MacKendrick (1995) 127 f. hingewiesen. Zum chronologischen Ablauf der Verbannung Ciceros, die de facto vom 20. März 58 v. Chr. (Cicero verlässt Rom) bis zum 4. August 57 v. Chr. (Annahme der rogatio zur Aufhebung von Ciceros Exil und Ankunft Ciceros in Dyrrachium) bzw. bis zum 4. September 57 v. Chr. (Ankunft in Rom) andauerte, siehe auch Grimal (1967) passim.
3.1 Die simulata tristitia versutaque des L. Calpurnius Piso im Werk Ciceros
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Lob für seine Unterstützer und die Befürworter seiner Rückkehr (z. B. P. Lentulus) nimmt daher in seiner rhetorischen Rehabilitierung vor allem die Invektive gegen die für seine Verbannung letztlich verantwortlichen Konsuln aus dem Jahre 58 v. Chr., L. Calpurnius Piso und A. Gabinius, einen zentralen Platz ein: Sed fuerunt ii consules quorum mentes angustae humiles pravae, oppletae tenebris ac sordibus, nomen ipsum consulatus, splendorem illius honoris, magnitudinem tanti imperi nec intueri nec sustinere nec capere potuerunt, – non consules, sed mercatores provin‐ ciarum ac venditores vestrae dignitatis; quorum alter a me Catilinam, amatorem suum, multis audientibus, alter Cethegum consobrinum reposcebat; qui me duo sceleratissimi post hominum memoriam non consules sed latrones non modo deseruerunt, in causa praesertim publica et consulari, sed prodiderunt, oppugnarunt, omni auxilio non solum suo sed etiam vestro ceterorumque ordinum spoliatum esse voluerunt. (Cic. p. red. in sen. 10)
In diesem ersten schriftlichen Zeugnis findet sich unter all den Vorwürfen und Verunglimpfungen gegenüber Piso und Gabinius noch kein einziger ver‐ wertbarer Hinweis auf die Einstufung Pisos als Epikureer oder überhaupt als Staatsmann mit Verbindung zur Philosophie. Stattdessen wird ganz im Stil ciceronianischer Invektiven14 – dem hier behandelten Werk sollten noch viele weitere Beispiele folgen – bereits weit über die persönlich erlittene Ungerechtigkeit hinaus die öffentliche und politische Dimension in drastischen Formulierungen aufgerufen und hervorgehoben. Trotz ihrer vornehmen Ab‐ stammung und Erziehung15 spricht Cicero seinen beiden Widersachern die geistige Fähigkeit ab, dem Konsulat gewachsen zu sein und sich dieses Amts als würdig zu erweisen. Diese Demontage ihrer sozialen Herkunft und ihres persönlichen Werdegangs findet in der antithetischen Formulierung mercatores provinciarum ac venditores vestrae dignitatis ihren vorläufigen Höhepunkt, was
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Vgl. dazu die Ausführungen Macks (1937) 32–34, der damals eine synoptische Betrach‐ tung von Ciceros Senatsrede und seiner unmittelbar danach gehaltenen Volksrede als methodischen Ansatz gewählt hat. Auffällig ist ferner die Beobachtung, dass sich die verbalen Attacken gegen Ciceros Feinde weitaus weniger explizit – zumindest aus dem Blickwinkel des römischen Bürgers in der Zuhörerschaft – gegen konkret genannte Zielpersonen richten. Zur Tradition der Invektive und ihrer Ausgestaltung bei Cicero siehe u. a. Koster (1980) 210–281 (zu In Pisonem); Corbeill (2002) 197–217; Corbeill (1996) 16–20 (zu Pro Murena, Pro Caelio und In Pisonem); Seager (2007) 25–46. Wie die Calpurnii waren auch die Gabinii eine angesehene Familie, die seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. im römischen Senat vertreten war; vgl. Elvers (1998) 727; Konrad (1984) 151–156.
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die sprachliche Darstellung der beiden Konsuln aus dem Jahre 58 v. Chr. angeht (soziale und moralische Degradierung). Zugleich wird an dieser Stelle der Senat als repräsentatives Organ des römischen Volkes direkt angesprochen und der Fokus von den beiden Konsuln auf die Hauptverschwörer von 63 v. Chr., Catilina und Cethegus, gelenkt, deren enge Verbindung den zeitlichen Bogen von dem gescheiterten Staatsputsch bis zur Verbannung spannt und somit Ciceros Bild von seinem erlittenen Unrecht vervollständigt. Nach diesem eingeflochtenen Tadel an einigen der treibenden Kräfte bei seiner politischen Kaltstellung16 rechnet Cicero mit den Konsuln Gabinius (p. red. in sen. 11 f.) und Piso (p. red. in sen. 13–15) im Einzelnen ab. Dabei geht er genauer auf ihre Gewohnheiten und – natürlich in sehr subjektiver und abwertender Darstellungsweise – auf ihre Charaktereigenschaften ein,17 die Piso bei Cicero als einen völlig untalentierten und auch äußerlich arg heruntergekommenen Machtmenschen und Lüstling erscheinen lassen: […] Nam ille alter Caesonius Calventius ab adulescentia versatus est in foro, cum eum praeter simulatam versutamque tristitiam nulla res commendaret, non consilium, non dicendi copia, non rei militaris, non cognoscendorum hominum studium, non liberalitas. Quem praeteriens cum incultum horridum maestumque vidisses, etiam si agrestem et inhumanum existimares, tamen libidinosum et perditum non putares. Cum hoc homine an cum stipite in foro constitisses, nihil crederes interesse: sine sensu, sine sapore, elinguem, tardum, inhumanum negotium, Cappadocem modo abreptum de grege venalium diceres. Idem domi quam libidinosus, quam impurus, quam intemperans, non ianua receptis sed pseudothyro intromissis voluptatibus! […] (Cic. p. red. in sen. 13f.)
Neben seiner traurigen Erscheinung (incultum horridum maestumque, agrestem et inhumanum)18, die noch dazu seine Heuchelei erkennen lässt (simulatam ver‐ 16
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Natürlich darf dabei als entscheidender Faktor das Triumvirat um Caesar, Crassus und Pompeius aus dem Jahre 60 v. Chr., das nur ein Jahr nach Ciceros Rückkehr sein Bündnis erneuern sollte und bereits seit einigen Zeit im Hintergrund die Fäden der politischen Macht in Rom in seinen Händen hielt, nicht vergessen werden. Wie Meister (2009) 76 bereits treffend ausgeführt hat, wird Gabinius in den Reden Post reditum in senatu und Pro Sestio jeweils unmittelbar vor Pisos Darstellung (Cic. p. red. in sen. 11 f.; Cic. Sest. 18) als vorausgehendes Kontrastbild zu diesem gezeichnet und „entspricht damit einer stereotypen Figur, die immer wieder in Invektiven zum Einsatz kommt: dem effeminierten vir mollis“. Dazu die Ausführungen von Meister (2009) 84: „Der Vorwurf, agrestis und inhumanus zu sein, ist hart. Damit werden Piso zentrale Qualitäten abgesprochen, die einen Aristokraten auszeichnen: Ihm fehlt nicht nur jegliche Bildung, sondern vor allem die urbanitas, die kultivierte städtische Lebensweise der römischen Aristokratie. Dass Piso
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sutamque tristitiam)19, bestreitet Cicero also jegliche Fähigkeit Pisos, ein hohes Staatsamt mit all seinen Herausforderungen und persönlichen Voraussetzungen (consilium, dicendi copia, rei militaris […] studium, liberalitas) angemessen bekleiden zu können. Gleichzeitig liefert Cicero mit der simulata tristitia aus seiner Sicht auch die Erklärung für Pisos erfolgreiche Wahl zum Konsul, da er Volk und Senat mit seiner Erscheinung getäuscht habe. Dazu greift er auf Merkmale zurück, die ihn als einen fast schon übertriebenen Stoiker20 in der Art des berühmten M. Porcius Cato Uticensis (95–46 v. Chr.) kennzeichnen.21 Gerade die mit der Stoa verknüpften Werte, die in der langen Tradition der römischen Republik immer wieder als Ideale herangezogen wurden, lassen allerdings einen verantwortungsvollen Politiker erwarten, der nicht nur durch seine äußere Erscheinung ein Musterbeispiel römischer Sittenstrenge und Vernunft abgibt. Stattdessen erweist sich Piso in Ciceros weiteren Ausführungen als das genaue Gegenteil eines idealen Politikers wie Cato, da er nur durch Täuschung, d. h. durch unlautere Mittel und ohne die integre Haltung eines Cato, zu Ruhm und Macht gekommen sei. Doch Cicero geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er Piso als libi‐ dinosu[s] et perditu[s] bezeichnet und damit sein vermeintlich vollkommen unmoralisches Wesen zur Sprache bringt. Schließlich spricht er Piso gänzlich seine Menschlichkeit ab (v. a. inhumanum negotium) und macht ihn zu einem Sklaven, der nur einer unter vielen ist (Cappadocem modo abreptum de grege venalium).22 Der Vergleich mit einem kappadokischen Sklaven zielt ferner wohl ebenso wie der stipes-Vergleich auf seine vollkommene Ungerührtheit
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unmenschlich und unkultiviert sei, zieht sich durch das ganze ciceronische Porträt seiner Person durch“. Zur tristitia, die für die Beschreibung Pisos auch in Cic. prov. 12 nochmals erwähnt wird, siehe die Überlegungen von Meister (2009) 73f. In die postulierte Überzeichnung eines stoischen Erscheinungsbildes fügt sich zudem die im selben Textauszug thematisierte Apathie eines Holzklotzes, der keine Leiden‐ schaften kennt und zulässt. Auch mit dem Schlagwort der tristitia wird ein Stoiker-Kli‐ schee bedient, das in der Kaiserzeit etwa von Tacitus oder Juvenal angewandt wird, obwohl sich gerade Seneca mit Rückbesinnung auf alte stoische Lehrsätze und gegen die Kritik der Peripatetiker für einen sapiens sine tristitia ausgesprochen hat; vgl. u. a. Sen epist. 61, 3; 85, 2–4. Ganz im Gegensatz zu Pisos Heuchelei ist Catos tristitia natürlich dem Ausbruch des Bürgerkrieges 49 v. Chr. geschuldet und rückt sein Trauergebahren somit in das positive Licht einer ehrenhaften Reaktion der Selbstaufopferung für den Staat; vgl. Plut. Cato minor 53; Lucan. 2, 372–378. Auch die berühmte Gegenüberstellung von Caesars und Catos Charakter in Sall. Catil. 54 macht die gravierenden Unterschiede zwischen Ci‐ ceros Piso-Bild und dem Ansehen Catos dadurch deutlich, dass dem Letztgenannten bei Sallust Begriffe wie eloquentia, magnitudo animi, integritas vitae, severitas, constantia, modestia, abstinentia und nicht zuletzt virtus zugesprochen werden.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
gegenüber äußeren Einflüssen ab,23 die er durch sein Auftreten an den Tag legt, wobei allerdings auch – so impliziert es Ciceros Beschreibung – der Eindruck eines unnahbaren und fast schon unmenschlichen oder zumindest für menschliche Belange unempfindlichen Machtpolitikers aufkommt. Als ob diese Demontage seines öffentlichen Lebens und Wirkens noch nicht genug wäre, prangert Cicero auch noch seine im Privaten ausgelebte sittliche Verdorbenheit an, die dieser wiederum vor der Öffentlichkeit ge‐ heim zu halten versucht (non ianua receptis, sed pseudothyro intromissis voluptatibus). So ist Piso also im Verhältnis zu seinem Amtskollegen Gabinius trotz seines „Gegenbild[es] zum unmännlichen, moralisch verkommenen vir mollis“ 24, das jedenfalls in weiten Teilen seiner äußeren Beschreibung illustriert wird, auch „nicht die ideale Verkörperung eines elitären Habitus, er ist lediglich nicht mollis“ 25. Genau in diesem Zusammenhang und mit dem Schlagwort der voluptas 26 am Ende des voranstehenden Textausschnitts führt Cicero seinen Rivalen nun ganz explizit als eine Art Möchtegern-Epikureer ein, der selbst im Umgang mit der philosophischen Lehre des Kepos seine frappierende intellektuelle Unfähigkeit an den Tag legt: […] Cum vero etiam litteras studere incipit et belua immanis cum Graeculis philosophari, tum est Epicureus non penitus illi disciplinae, quaecumque est, deditus, sed captus uno verbo voluptatis. Habet autem magistros non ex istis ineptis qui dies totos de officio ac de virtute disserunt, qui ad laborem, ad industriam, ad pericula pro patria subeunda
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Auch wenn Cicero im Potentialis der Vergangenheit darüber spricht, wie Pisos Erschei‐ nungsbild auf den ersten Blick zu deuten gewesen wäre, wird natürlich dennoch bewusst ein Zusammenhang zwischen Aussehen und Auftreten und deren hypothe‐ tische Deutung hergestellt und den Hörern für die Gesamtbeurteilung Pisos sogar suggestiv nahegelegt. Im philosophischen Kontext, der für Ciceros Aussageabsicht sicherlich wieder von entscheidender Bedeutung ist, müsste man bezüglich des Kappadokier-Vergleichs von einer Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen und anderen schädlichen Störfaktoren sprechen, die im Übrigen, um den ethischen Ansprüchen einer guten Lebensweise zu genügen, sowohl für die Stoiker als auch für die Epikureer ein höchst erstrebenswertes Ziel darstellte. Meister (2009) 76. Meister (2009) 84. Dieser für die Kennzeichnung der epikureischen Lehre so charakteristische Begriff wird in diesem Fall jedoch bereits in dieser Passage äußerst negativ konnotiert und in die Nähe der Adjektive libidinosus, impurus und intemperans gerückt. Dadurch wird den Hörern bzw. Lesern gerade in sexueller Hinsicht Pisos ausschweifender Lebensstil vor Augen geführt, der für eine Person des öffentlichen Lebens schon damals nicht tragbar war.
3.1 Die simulata tristitia versutaque des L. Calpurnius Piso im Werk Ciceros
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adhortantur, sed eos qui disputent horam nullam vacuam voluptate esse debere, in omni parte corporis semper oportere aliquod gaudium delectationemque versari. (Cic. p. red. in sen. 14)
Der zu Beginn dieser Passage zur belua immanis degenerierte Piso betreibe folglich philosophische Studien mit ein paar Griechen, die durch den verächt‐ lich wirkenden Deminutiv ebenfalls in ihrer Bildung, aber zugleich auch in ihrer historischen Bedeutung für die Philosophiegeschichte in Rom abgewertet werden. In diesem Kreis entpuppe er sich als Epikureer, der sich jedoch nur aufgrund der voluptas-Lehre, die er zudem – wie schon seine vorangehende Beschreibung erkennen lässt – falsch versteht,27 zur epikureischen Philosophie hingezogen fühlt. Die darauf folgende Präzisierung seiner philosophischen Lehrmeister ist insofern bemerkenswert, als sie im Wortlaut von Cicero eine plakative Diffe‐ renzierung zwischen Stoiker und Epikureer mit sich bringt:28 Während die Erstgenannten mit der äußerst abschätzigen Formulierung ex istis ineptis ein‐ geführt werden, deren Tauglichkeit für höhere Bildung ebenso wie im Falle Pisos in Abrede gestellt und deren Lehre von Cicero durch die Begriffe officium, virtus, labor, industria und pericula pro patria subeunda gekennzeichnet wird,29 drehen sich die Bemühungen der Epikureer – also auch die Pisos – einzig um den dauerhaften Gewinn und Erhalt von voluptas, die Cicero im Bereich der physischen Wahrnehmung mit dem Hendiadyoin gaudium und delectatio benennt. Damit geben beide Schulen kein positives Bild in Ciceros Darstellung ab, da sie als dogmatische und zugleich weltfremde Institutionen erscheinen, die zu jeder Zeit die gesamte Lebensgestaltung der Menschen zu regulieren versuchen.30 Diese These manifestiert sich auch im nächsten Abschnitt der Senatsrede, in der Cicero folgendermaßen fortfährt:
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Konkret wird dieses Missverständnis allerdings erst in Cic. Pis. 42 und 69 angeprangert; vgl. u. a. Meister (2009) 84. Es wird jedoch keineswegs ersichtlich, wie es etwa Maso (2015) 19, Anm. 26, behauptet, dass es zu einer Vermischung von Stoa- und Kepos-Lehre und zu einer Unterscheidung zwischen Philosophen erster und zweiter Klasse komme. Schon die Syntax zieht eine klare Grenze zwischen Stoikern und Epikureern in Ciceros Darstellung (non ex istis ineptis qui […] – sed eos qui […]). Zu diesen Schlagworten als Kennzeichen stoischer Philosophie in Abgrenzung zu anderen Schulen vgl. u. a. Hossenfelder (1996) 63–162. Die Vielzahl an Substantiven, mit denen die inhaltliche Ausrichtung der Stoiker wiedergegeben wird, bildet auch einen starken Kontrast zu der im Wesentlichen einzig durch den Begriff der voluptas geprägten Lehre der Epikureer (die Ausdrücke gaudium und delectatio dürfen als Synonyme oder genauer gesagt als auf den körperlichen Bereich reduzierte Formen der voluptas betrachtet werden.
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His utitur quasi praefectis libidinum suarum, hi voluptates omnis vestigant atque odorantur, hi sunt conditores instructoresque convivi, idem expendunt atque aestimant voluptates sententiamque dicunt et iudicant quantum cuique libidini tribuendum esse videatur. Horum ille artibus eruditus ita contempsit hanc prudentissimam civitatem ut omnis suas libidines, omnia flagitia latere posse arbitraretur, si modo vultum importunum in forum detulisset. […] (Cic. p. red. in sen. 15)31
Durch den Kontakt zu epikureisch gesinnten Leuten hat sich Piso also gewis‐ sermaßen aus eigenen Stücken in eine auf alle Lebensbereiche ausufernde Unmündigkeit begeben, allerdings – und das ist das Entscheidende – in der Art, dass er diese Philosophen ganz offenbar für seine eigenen Zwecke missbraucht und beispielsweise die mit systematischer Begrifflichkeit erklärte Lehre vom Lustkalkül bei der Selbstanwendung absichtlich manipuliert und missversteht.32 In diesem Kontext erscheinen die Epikureer, deren Lehre sich Piso zu eigen gemacht hat, einerseits als kühl kalkulierende, andererseits aber auch als naive Personengruppe, was die arglose Verbreitung ihrer Lehre angeht: Während die Epikureer in Ciceros Darstellung gemäß ihrer traditionellen praecepta zwischen voluptates verschiedener Art und Wertigkeit abwägen und diese für den eigenen langfristigen Nutzen zu berechnen bemüht sind, erkennen sie trotz ihrer näheren Bekanntschaft mit Piso dessen wahren Absichten genauso wenig wie den möglichen Schaden, den sie mit der grenzenlosen Verbreitung ihrer Lehre anrichten (nämlich die mit unlauteren Motiven verbundene Umdeutung und Selbstanwendung). All diese Beobachtungen lassen vermuten, dass auch der intertextuelle Bezug von Cic. p. red. in sen. 14 f. zu Epikurs Lehre nach den Kriterien von Broich/Pfister relativ stark ausgeprägt sein muss: Obwohl wörtliche Zitate in dieser Textpassage nicht nachzuweisen bzw. ausreichend markiert sind und die Verweise auf epikureisches Gedankengut indirekt bleiben, ist mit dem expliziten 30 31 32
Diese ganzheitliche Vereinnahmung wird in den Wendungen dies totos, horam nullam vacuam […] esse sowie in omni parte corporis semper zum Ausdruck gebracht. An dieser Stelle neigt die ansonsten zuverlässige Übersetzung Fuhrmanns (42013a) dazu, den Leser des deutschen Textes in die Irre zu führen: Nicht die Epikureer manipulieren Piso und leiten ihn, sondern er missbraucht sie und ihre Lehre für seine Zwecke. Diese massiven Eingriffe in Pisos Lebensgestaltung manifestieren sich im vorliegenden Textauszug abwechselnd durch die außerordentliche Anhäufung nominaler (praefectis libidinum suarum; conditores et instructores convivi) und verbaler Wendungen (vestigant atque odorantur; expendunt atque aestimant; dicunt et iudicant), wobei der inhaltliche und auch sprachlich-stilistische Höhepunkt in dieser makrostrukturell parataktisch geprägten Ausformulierung sicherlich im polysyndetisch konstruierten Satzteil idem expendunt atque aestimant voluptates sententiamque dicunt atque iudicant […] liegt.
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Bezug auf die Epikureer und ihre Lebensmaximen ein hoher Grad an Kommu‐ nikativität erreicht. Indem das philosophische Gedankengut in dieser Rede als Invektive fungiert, ist die Dialogizität in diesem Text besonders ausgeprägt. Im zweiten Teil des obigen Ausschnitts aus Cic p. red. in sen. 15 wird der Fokus wieder auf Piso selbst gerichtet. Dieser erweist sich im Hochgefühl und in maßloser Selbstüberschätzung angesichts seiner vermeintlich erlernten artes 33 respektlos gegenüber den römischen Bürgern, indem er diese durch seine Verstellung (vultus importunus) über seine heimlichen Ausschweifungen hinwegzutäuschen meint. Wiederum bezieht Cicero sehr geschickt das römische Volk und damit auch den Senat als adressiertes Repräsentationsorgan des Volkes unmittelbar mit ein und veranschaulicht so das Ausmaß von Pisos angeblichem Frevel, der hinterlistigen und dauerhaften Täuschung des Volkes, die in der geschilderten Form kaum gerechtfertigt werden kann. Den Ruhm, Pisos heimliche Machenschaften erkannt und aufgedeckt zu haben, beansprucht Cicero indes für sich allein und unterstreicht dabei bewusst die Legitimität seiner Rehabilitierung in Rom: […] Is nequaquam me quidem – cognoram enim propter Pisonum adfinitatem quam longe hunc ab hoc genere cognatio materna Transalpini sanguinis abstulisset – sed vos populumque Romanum non consilio neque eloquentia, quod in multis saepe accidit, sed rugis supercilioque decepit. (Cic. p. red. in sen. 15)
Entgegen der prudentia, die Cicero dem Volk kurz zuvor noch bescheinigt hat, konstatiert er unter Ausblendung von Pisos Raffinesse, dass sich das Volk habe täuschen lassen und es nur ihm, Cicero, zu verdanken habe (auch aufgrund seiner guten Kenntnisse über Piso, die aus ihrer verwandtschaftlichen Beziehung herrühren),34 endlich über Pisos Heuchelei aufgeklärt zu werden. Ebenso wenig wie das in seiner folgenden Rede adressierte Volk (ad Quirites) vermag aus Ciceros Sicht nämlich auch der Senat die Problematik, die mit der
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Sicherlich ist die Formulierung artibus eruditus aus der Feder Ciceros an dieser Stelle ironisch und in deutlichem Kontrast zu dem Superlativ in hanc prudentissiman civitatem zu verstehen: Pisos scheinbare Bildung ist in keiner Hinsicht mit dem traditionell geschickten Agieren des römischen Volkes zu vergleichen, dem er jedoch an dieser Stelle nicht suggeriert, die heimlichen Machenschaften Pisos schon lange durchschaut zu haben. Dies kann je nach Betrachtungsweise sicherlich vor dem Hintergrund von Ciceros Verbannung auch als subtiler Seitenhieb des Rückkehrers auf die Tatenlosigkeit und Ohnmacht des nur von wenigen Männern gelenkten römischen Staates gedeutet werden. Diese verwandtschaftliche Beziehung kommt, wie u. a. auch in Cic. p. red. in sen. 17 erwähnt, durch Tullias (erste) Ehe mit einem gewissen Calpurnius Piso Frugi zustande.
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Diskrepanz zwischen Pisos öffentlichem Auftreten und seinem tatsächlichen Lebensstil verbunden ist, nicht zu erkennen, da den meisten anders als Cicero Einblicke in Pisos Privatleben fehlen. Überdies lässt Cicero die Gelegenheit nicht ungenutzt, auf Pisos zum Teil unrömische Abstammung (cognatio materna Transalpini sanguinis) hinzuweisen und damit einen Bogen zu seiner abstoßenden äußeren Erscheinung zu schlagen, durch deren Beschreibung er seinen Rivalen als eines römischen Aristokraten unwürdig oder zumindest als einen nicht mehr zeitgemäßen Politiker auftreten lässt.35 Allerdings sei Pisos Verstellungskunst laut Cicero nicht auf dessen consilium und eloquentia zurückzuführen, sodass also eine Anknüpfung an den Beginn von Pisos Beschreibung in Cic. p. red. in sen. 13 ersichtlich wird, sondern auf scheinbar rein oberflächliche Merkmale, nämlich Pisos Stirnfalten und seine Augenbraue(n).36 Auf der einen Seite wird Piso also erneut diskreditiert, indem seine geistige Unfähigkeit herausgestellt wird, auf der anderen Seite werden mit Hilfe äußerlich sichtbarer Merkmale, die in der Antike mit bestimmten Charaktereigenschaften assoziiert wurden und daher vor allem auch in ihrem übertragenen Sinn verstanden werden müssen,37
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Vgl. nochmals Cic. p. red. in sen. 13 f.; siehe dazu Meister (2009) 87f.: „Es herrschte also zu Ciceros Zeit die Vorstellung, urbanitas sei eine Errungenschaft der neueren Zeit, etwas, was den Vorfahren fehlte. Damit war aber auch Piso, dessen struppige, ungepflegte Er‐ scheinung für Cicero wie eine imago antiquitatis wirkte, nicht die vollkommene Verkör‐ perung des idealen Arsitokraten: Auch ihm fehlte, genau wie den maiores, die urbanitas eines gebildeten und kultivierten Römers des 1. Jahrhunderts v. Chr. […] Der ,Habitus‘ eines römischen Aristokraten umfasste also mehr als nur das männlich-altrömische Ideal, das der struppige Piso so perfekt verkörperte, er beinhaltete auch eine urbanitas, die sich geradezu als Gegensatz zu diesem Ideal präsentierte“. Darüber hinaus macht Meister (2009) 89 in seinen aufschlussreichen Ausführungen klar, dass sowohl das gepflegte als auch das ungepflegte Erscheinungsbild eines römischen Aristokraten – je nach Intention der beschreibenden Person – einen positiven wie negativen Deutungs‐ spielraum bieten, wodurch es in den rhetorisch funktionalisierten Darstellungen von Personen zwangsweise zu Verzerrungen des tatsächlichen Auftretens und Charakters gekommen sein muss: „Ein Aristokrat konnte in der stadtrömischen Öffentlichkeit also entweder gepflegt und ,urban‘ oder aber ungepflegt und ,männlich‘ auftreten, und in beiden Fällen standen Diskurse zur Verfügung, welche die jeweilige Körperästhetik mit einer positiven Symbolik versehen konnten. Beides macht jedoch angreifbar, da sich beide ästhetischen Modelle gegenseitig ausschlossen […]“. Zur Bedeutung von Pisos Augenbrauen für dessen Darstellung bei Cicero siehe Meister (2009) und Hughes (1992) 234–237. Unabhängig vom tatsächlichen Aussehen Pisos, das sich durch die Behandlung in Cicero allenfalls teilweise zuverlässig rekonstruieren lässt, ist es kaum verwunderlich, dass die genannten Merkmale im Gesicht des römischen Politikers zu finden sind, da dieses seit jeher als markantes und in der Öffentlichkeit ständig sichtbares Körperteil für die individuelle und identitätsstiftende Unterschei‐ dung herangezogen werden konnte und kann.
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Heimtücke und Volkstäuschung als frevelhafte und zu verurteilende Ansinnen Pisos offenbar. Obwohl sich die Hasstirade gegen Piso und Gabinius in dieser expliziten Weise – sogar im Stil einer Apostrophé – bis zum achtzehnten Paragraphen von Ciceros Senatsrede fortsetzt, sollen die bisher zitierten Auszüge für Pisos Beschreibung in dieser Rede genügen, um sich ein erstes Bild von Ciceros Vorgehensweise bei seiner Invektive gegen Piso zu machen und die rhetori‐ sche Funktion seiner ausdrücklichen Stigmatisierung zu einem Anhänger der epikureischen Schule (Cic. p. red. in sen. 14 f.) zu berücksichtigen. An dieser Stelle kann selbstverständlich noch kein eindeutiges Urteil gefällt werden, inwiefern die negative Beschreibung eines politischen Rivalen zugleich mit dessen Darstellung als Epikureer einhergeht, der zudem für jedes öffentliche Amt (geistig) untauglich ist. Dennoch hatte diese Vorgehensweise zumindest im Falle Pisos bei Cicero Methode, wie man noch anhand der anderen Reden sehen wird, die sich gegen Piso richten. Bereits bei Pisos Darstellung in Ciceros Senatsrede wird jedenfalls deutlich, wie die philosophische Kategorisierung für ein negatives Gesamtbild der betreffenden Person funktionalisiert werden kann. Dass Cicero dabei ausgerechnet auf die Epikureer zurückgreift, scheint aus mehreren Gründen nicht weiter erstaunlich zu sein: Zum einen bietet sich diese philosophische Gruppe, der aufgrund ihrer ethischen Lehre (λάθε βιώσας) aus römischer Sicht der Makel anhaftet, sich keineswegs für Politik zu interessieren und mit dem von ihnen propagierten zurückgezogenen Lebensstil ein asoziales Verhalten der Staatsbürger fördern zu wollen, in politisch turbulenten Zeiten wie im Entstehungsjahr der Senatsrede, aber auch vor einem angesehenen Gremium des öffentlichen und politischen Lebens wie dem Senat geradezu an, zum Zwecke der Verunglimpfung eines römischen Senators und sogar Konsuls herangezogen zu werden; zum anderen ist die Philosophenschule des Kepos in der damaligen öffentlichen Wahrnehmung noch fast ausschließlich griechisch geprägt und steht damit gleichsam als repräsentative Bevölkerungsgruppe in einer engen Verbindung mit dem jahrhundertelangen Vorbild und Rivalen, was insbesondere die kulturellen Errungenschaften und militärhistorischen 37
Vgl. dazu die Übersetzung Fuhrmanns (42013a), der supercilium im Deutschen sogleich mit „Hochnäsigkeit“ wiedergibt. Für den markanten Gebrauch des Singulars, der in der Forschung zu Ciceros Invektive gegen Piso im Jahr 55 v. Chr. bei der Lesart und Deutung von oculus in Cic. Pis. 4; 8 noch von wesentlicher Bedeutung sein sollte, steht außerdem noch folgende Interpretation von Vesperini (2012) 269 im Raum, die allerdings – zumindest in Anwendung auf supercilium in Cic. p. red. in sen. 16 – etwas zu weit hergeholt scheint: „Il est possible que cette évocation de l’oeil au singulier fasse de Pison un cyclope, ‚borgne‘ étant synonyme de ‚cyclope‘ au moins depuis Cratinos“.
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Erfolge angeht.38 Dieser Gedanke ließe sich ferner mit dem Vergleich, in dem Cicero Piso durch sein äußeres Erscheinungsbild mit einem Sklaven gleichsetzt, in Zusammenhang bringen, da die Römer im 1. Jahrhundert v. Chr. den Grie‐ chen schon seit längerem den Rang als Hegemonialmacht im Mittelmeerraum abgelaufen hatten.39 Schließlich scheint der Umstand, dass für die Epikureer die ἡδονή bzw. die voluptas als höchstes Gut auf dem Weg zur εὐδαιμονία galt, für Cicero sehr gelegen zu kommen, diese negativ auszulegen und damit Pisos angeblich ausschweifenden und von heimlichen sexuellen Eskapaden geprägten Lebensstil durch seine Kontakte im philosophischen Bereich, also den persönlichen Umgang mit Epikureern, zu unterstreichen. Dass es für Cicero keineswegs ungewöhnlich ist, epikureische Ausrichtung und rhetorische Unfähigkeit in Einklang zu bringen, geht indes nicht nur aus Reden gegen politische Intimfeinde, sondern auch aus (später verfassten) philosophischen Traktaten hervor, die sich in einer theoretischen und weitaus sachlicheren Art und Weise mit den verschiedenen Schulen auseinandersetzen.40 In besonderem Ausmaß zeigt sich diese Diffamierungsstrategie jedoch bei seinen politischen Gegnern, wie auch die Piso-Darstellung in Pro Sestio beweist. 3.1.2 Pisos enttarnte obstructio in Pro Sestio In der politischen Strafsache gegen den Volkstribun des Jahres 57 v. Chr., Publius Sestius, zielt Ciceros Rede als dessen Verteidiger zwar bei weitem nicht in derselben despektierlichen und angriffslustigen Art gegen Piso und seinen Amtskollegen Gabinius ab, doch auch diese Gelegenheit des öffentlichen Auftritts 38
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Diese These wird in Cic. p. red. in sen. 14 auch dadurch untermauert, dass in einem vorangehenden, mit cum eingeleiteten Nebensatz zunächst nur in abschätziger, aber zumindest noch sehr allgemein gehaltener Weise von Graeculi die Rede ist, während im unmittelbar folgenden Hauptsatz relativ unvermittelt die konstatierende Angabe tum est Epicureus ins Feld geführt wird. Dieselbe Vorstellung bildet im Übrigen auch den ideologischen Hintergrund für die eingangs zitierte Textstelle aus dem zweiten Buch von Ciceros De divinatione. Die Weichen für den hegemonialen Machtwechsel im Mittelmeerraum wurden vor allem in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. im Zuge der Makedonischen und der Punischen Kriege (171–168 v. Chr. Bzw. 149–146 v. Chr.) gestellt, in deren Folge die Provinzen Macedonia (148 v. Chr.) und Achaia (146 v. Chr.; zugleich Zerstörung der strategisch und kulturell bedeutenden Stadt Korinth) eingerichtet wurden; im Jahr 133 v. Chr. fiel auch die Westküste Kleinasiens als Provinz Asia in römische Hände; vgl. dazu beispielsweise Schneider (32010) 284–288. Vgl. etwa Cic. fat. 38, wo der Autor ein verheerendes Urteil über die scheinbar verzweifelten Bemühungen der Epikureer, ihre Anfechtung des stoischen (und vor allem von Chrysipp geprägten) Bivalenzprinzips zu verteidigen, fällt: O admirabilem licentiam et miserabilem inscientiam disserendi!.
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nutzt Cicero zur Fortsetzung seiner politischen Rehabilitierung. Schauplatz und Anlass seiner Rede unterscheiden sich natürlich von den Umständen seiner Rede unmittelbar nach der Rückkehr aus dem Exil, die Intention, die Cicero mit seinem Plädoyer für Sestius verfolgt hat und die über die eigentliche Strafsache in gewohnter Manier deutlich hinausgeht,41 hat sich allerdings kaum geändert.42 Den Prozess gegen Sestius strengt schließlich Clodius an, ein auch vor Gewalt nicht zurückschreckender Politiker, der jedoch namentlich in den Cicero-Unterstützern Milo und Sestius auf harte Gegenwehr traf und deshalb einen juristischen Ausweg aus seiner unerwartet misslich gewordenen Situation sucht. Die nach dem klassischen Schema der antiken Rhetorik gegliederte Rede43 verankert die für die Untersuchung der Piso-Figur relevanten Passagen unmit‐ telbar nach der Darstellung des persönlichen Umfelds und des politischen Werdegangs von Sestius44 (§§ 6–13) und zwar in Form eines Rückblicks auf die Ereignisse, die in etwa die einjährige Periode von März 59 v. Chr. bis März 58 v. Chr. umfasst. Über diesen Redeteil (§§ 15–35) liest man bei Fuhrmann (42013a) 284: „[…] [S]ie gibt ein Porträt der Konsuln vom Jahre 58 v. Chr., des Gabinius und des Piso, das, wenn man es an der Realität misst, als groteske Karikatur, wenn man es jedoch nach literarischen Kriterien beurteilt, als Bra‐ vourstück gelten muss, und befasst sich sodann mit dem angeblichen Handel über die Provinzen, den Clodius mit jenen Konsuln abgeschlossen habe […]“. Im Mittelpunkt stehen demnach wiederum die für Ciceros politisches Scheitern und seine Verbannung maßgeblich verantwortlichen Clodius, Piso und Gabinius,
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So kündigt Cicero bereits in der dispositio mit gutem Grunde an, nämlich durch den Verweis auf die Reden seiner Vorgänger (u. a. zählte auch Hortensius, Ciceros großer Rivale im Verres-Prozess, zu den Verteidigern des Sestius), dass er auf die allgemeine politische Situation blicken möchte, um neue Aspekte für die Beurteilung des Falls vorbringen zu können. Dabei gilt es nicht nur zu bedenken, dass zwischen der Senatsrede und der nun behan‐ delten Gerichtsrede kaum ein halbes Jahr verstrichen ist und sich die politische Situation für Cicero bislang nicht spürbar verändert hat, da er weiterhin den Launen des im selben Jahr erneuerten Triumvirats ausgeliefert ist. Man kann ohne Weiteres sogar so weit gehen zu behaupten, dass zu dieser Zeit ein wesentlicher Teil, wenn nicht sogar das Hauptquartier der politischen Macht in Rom in Gestalt von Caesar vorübergehend nach Gallien verlagert worden ist. Vgl. v. a. Kaster (2006) 24 f.; Fuhrmann (42013a) 283–287, der den Hauptteil der Rede (1, 6–147) in einen „historischen“ (1, 6–95) und einen „systematischen“ Abschnitt (1, 96–143) gliedert. Schon in Cic. p. red. in sen. 20 findet Cicero viele lobende und dankende Worte für seinen späteren Mandanten, da er sich unermüdlich für Ciceros Rehabilitierung in Rom eingesetzt habe.
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wobei auch die in Ciceros Augen unrechtmäßige Verteilung der Provinzen im Zuge des Konsulats von 58 v. Chr. erneut zur Sprache kommt.45 Wie schon in Ciceros Dankesrede vor dem Senat kritisiert er zunächst beide Konsuln für ihren politischen Frevel,46 bevor er sich – beginnend mit Gabinius (Cic. Sest. 18) – einzeln mit seinen Rivalen auseinandersetzt und diese einander erneut kontrastiv gegenüberstellt.47 So wird Piso dieses Mal folgendermaßen beschrieben: Alter, o di boni, quam taeter incedebat, quam truculentus, quam terribilis aspectu! unum aliquem te ex barbatis illis, exemplum imperi veteris, imaginem antiquitatis, columen rei publicae diceres intueri. Vestitus aspere nostra hac purpura plebeia ac paene fusca, capillo ita horrido ut Capua, in qua ipsa tum imaginis ornandae causa duumviratum gerebat, Seplasiam sublaturus videretur. […] (Cic. Sest. 19)
Die Ähnlichkeit zu Pisos äußerem Erscheinungsbild aus Ciceros Senatsrede ist frappierend.48 Dennoch soll hier von der Frage Abstand genommen werden, 45 46
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Vgl. Cic. p. red. in sen. 10, wo Piso und Gabinius despektierlich als mercatores provinciarum ac venditores vestrae dignitatis bezeichnet wurden. Cic. Sest. 17: […] sed fuit profecto quaedam illa rei publicae fortuna fatalis, ut ille caecus atque amens tribunus plebis [sc. P. Clodius Pulcher] nancisceretur – quid dicam? consules? hocine ut ego nomine appellem eversores huius imperi, proditores vestrae dignitatis, hostis bonorum omnium, qui ad delendum senatum, adfligendum equestrem ordinem, exstinguenda omnia iura atque instituta maiorum se illis fascibus ceterisque insignibus summi honoris atque imperi ornatos esse arbitrarentur? […]. Dabei bezieht Cicero seine Zuhörerschaft im Gerichtssaal und darüber hinaus zentrale politische Institutionen und repräsentative Teile des römischen Volkes in sozialer (equester ordo) und historischer Dimension (maiores) ein (man könnte innerhalb der Gerundivkonstruktionen im mit qui eingeleiteten Relativsatz eine gradatio bzw. Klimax bezüglich der drei Bezeichnungen für einen repräsentativen Teil des römischen Volkes (senatus – equester ordo – maiores) sehen); in noch stärkerem Ausmaß als in seiner Rede vor dem Senat tut er das in seiner Empörung über das schändliche Amtsverhalten der beiden Konsuln. Vgl. auch Kaster (2006) 152, der in diesem Zusammenhang hervorhebt, dass Cicero erst im Zuge seiner politischen Diskreditierung diese feindselige Haltung gegen Piso und Gabinius eingenommen hat und dazu auf einen Brief Ciceros an seinen Bruder Quintus aus dem Jahre 59 v. Chr. verweist (Cic. ad Q. fr. 2, 16: Pompeius omnia pollicetur et Caesar; quibus ego ita credo, ut nihil de mea comparatione deminuam. tribuni pl. designati sunt nobis amici; consules se optime ostendunt; praetores habemus amicissimos et acerrimos cives, Domitium, Nigidium, Memmium, Lentulum; […]). Die Beschreibungen der beiden Konsuln fügen sich mit den bereits in Ciceros Senatsrede erhaltenen Angaben jeweils zu einem homogenen Gesamtbild zusammen; dieses ist primär von Äußerlichkeiten und Verhaltensmustern geprägt, die von Cicero natürlich bereits negativ ausgedeutet wurden. Zu Ciceros taktischer und invektivenkonformer Demontage Pisos hinsichtlich körper‐ licher Erscheinung, familiärer Abstammung, Gang und Kleidung siehe insbesondere Corbeill (1996) 169–173.
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inwiefern man dadurch von einer authentischen Darstellung von Pisos Äußerem ausgehen kann, auch wenn dies angesichts der Tatsache, dass sich in der antiken Literatur ähnliche Beschreibungen von Piso finden, nahezuliegen scheint.49 Ungleich interessanter scheint es jedoch, Ciceros rhetorische Strategie mit dem Vorgehen in seiner Senatsrede zu vergleichen und schließlich die erneut hergestellte Verbindung Pisos zur epikureischen Schule in Cic. Sest. 23 f. zu untersuchen und funktional einzuordnen. Zu Beginn der obigen Textstelle wird Piso, der dieses Mal in Form einer von Entrüstung gekennzeichneten exclamatio nach seinem Amtskollegen Gabinius präsentiert wird, sogleich in seiner Wirkung auf den äußeren Beobachter seines Erscheinungsbildes erfasst. Der sich dabei erneuernde Kontrast zu seinem Amtskollegen Gabinius50 kann gegen die Ausführungen von Meister (2009) nicht ausschließlich positiv im Sinn einer Cato-ähnlichen Reminiszenz an die Strenge und Selbstlosigkeit der Vorfahren, die ohnehin bei Piso nur im äußeren Schein gewahrt wird, gedeutet werden, denn dafür ist das Trikolon taeter – truculentus – terribilis schlichtweg zu negativ konnotiert.51 Ebenso dürfte der empörte Ausruf Ciceros nicht nur dem eklatanten Gegensatz zum Erscheinungsbild des Gabinius geschuldet, sondern vielmehr auf eine Art Entsetzen darüber zurückzuführen sein, dass Piso in maßloser Überheblichkeit und zum Zwecke der Selbstinszenierung als traditionsverbundener Römer, die laut Cicero jedoch leicht durchschaut werden kann, eine äußere Maske anlegt, die sich durch eine derart ungepflegte Erscheinung auszeichnet, dass sie geradezu übertrieben und lächerlich zu wirken scheint und dass somit die suggerierte Absicht Pisos einer positiven Selbstdarstellung deutlich verfehlt wird. Natürlich erwähnt Cicero die Möglichkeit, dass man von Pisos Erscheinung den Eindruck bekommen könnte, er sei eine Art Reinkarnation des alten Roms (exemplum imperi veteris; imago antiquitatis; columen rei publicae), doch schon die sprachliche Gestaltung dieses Abschnitts (Wortwahl, Formulierung im Potentialis der Vergangenheit) fördert Ciceros tatsächliche und ohnehin naheliegende Intention zutage:52 Bei Pisos kläglich versuchter und zudem heuchlerischer Maskerade handelt es sich bei diesem Ausmaß des verwahrlosten 49 50 51
Ein eher prosopographisch ausgerichteter Ansatz liegt etwa den Studien von Benferhat (2005) 173–232 und von Meister (2009) bzw. (2012) zugrunde. Meister (2009) 80 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Antithese zum vir mollis, als eine Darstellung von Männlichkeit, die sich markant von den konventionellen Zeichen der Unmännlichkeit absetzt“; vgl. dazu auch Meister (2012) 58. Auch wenn es keine wörtlichen Anklänge gibt, ist die inhaltliche Nähe zu Cic. p. red. in sen. 13 nicht zu übersehen (incultum horridum maestumque; agrestem et inhumanum); vgl. auch Kaster (2006) 161, der auch auf zwei ähnliche Beschreibungen in De provinciis und In Pisonem verweist, die wir später noch näher betrachten werden.
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Äußeren – so die mutmaßliche Deutungsabsicht Ciceros – allenfalls um die Verkörperung einer überholten römischen Staatsführung, die in dieser radikalen Nachahmung in Zeiten der politischen Krisen, die die römische Politik in ihrem Mark erschüttert, überhaupt nicht mehr erfolgreich wirkmächtig sein kann.53 In erster Linie sucht Cicero also zum wiederholten Male die Täuschungsab‐ sicht und Raffinesse Pisos an seinem äußeren Erscheinungsbild zu manifestieren – der Gipfel dieser Strategie ist Ciceros Ausführungen zufolge offenbar in der Anmaßung erreicht, den plebejischen Kleidungsstil zu imitieren und da‐ durch Solidarität mit dem einfachen Volk zu heucheln – und räumt dabei mögliche Fehldeutungen ein, die er schon in seiner Senatsrede dem römischen Volk unterstellt hat. Anschließend thematisiert Cicero erneut Pisos Stirn als ausdrucksstärksten Körperteil und deutet die bereits aus seiner Senatsrede bekannten Details entsprechend:
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Auch Gigante (1987) 74 will diese Charakterisierung Pisos durch Cicero nicht wörtlich nehmen: „[…] Pison, que Cicéron qualifiait ironiquement de ,imago antiquitatis‘ […]“. Griffin (2001) 97 f. konstatiert mit Blick auf die in Cic. Sest. 20 wiedergegebene Meinung des Volkes (omnium sermo) und in Anlehnung an Hughes’ (1992) These vom senex iratus den allgemeinen Eindruck einer „traditional figure of authority“. Diese Analyse geht allerdings meines Erachtens nicht weit genug, da die Anwendung eines bekannten Komödientypus auf die Beschreibung eines ranghohen römischen Politikers gerade dafür spricht, diesen durch diese überzeichnete Darstellung in beträchtlichem Maß der Lächerlichkeit preisgegeben zu haben. Ferner ist es wohl zutreffend, den Ausdruck ex barbatis illis im Satzgefüge der übrigen, oben genannten Nominalphrasen auf die Männer jener alten römischen Republik zu beziehen, wie es auch Fuhrmann (42013a) in seiner Übersetzung getan hat. Diese Auslegung ließe sich auch mit dem mutmaßlichen Urteil des Redners Cicero über den vergeblichen und amateurhaften Versuch Pisos, sich in die Tradition alter republikanischer Werte zu stellen, in Einklang bringen. Kaster (2006) 161 f., erläutert durch den Verweis auf künstlerische Darstellungen öffentlicher Personen der späten Republik, dass eine tägliche Rasur im Zeitalter des letzten vorchristlichen Jahrhunderts durchaus zur gängigen Gepflogenheit gehörte, und ferner anhand mehrerer Textstellen aus Ciceros epistolographischem und rheto‐ rischem Werk, dass dieser eine ablehnende Haltung gegenüber Bartträgern einnahm bzw. dieses äußerliche Merkmal eines Mannes in seinen Reden des Öfteren gerne in einem negativen Sinn auslegte, um einen Widersacher zu diskreditieren; vgl. Cic. leg. agr. 2, 13 (Auseinandersetzung im Jahre 63 v. Chr. mit dem damaligen Volkstribunen P. Servilius Rullus über ein von diesem beantragtes Landverteilungsgesetz): Ineunt tandem magistratus tribuni plebis; contio exspectatur P. Rulli, quod et princeps erat agrariae legis et truculentius se gerebat quam ceteri. Iam designatus alio voltu, alio vocis sono, alio incessu esse meditabatur, vestitu obsoletiore, corpore inculto et horrido, capillatior quam ante barbaque maiore, ut oculis et aspectu denuntiare omnibus vim tribuniciam et minitari rei publicae videretur […]. Die oft wörtlichen Anklänge an Pisos Beschreibung bei Cicero sind dabei nicht zu überhören (z. B. Cic. p. red. in sen. 13: […] cum incultum horridum maestumque vidisses […]; Cic. Sest. 19: […] quam truculentus […]).
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[…] Nam quid ego de supercilio dicam, quod tum hominibus non supercilium, sed pignus rei publicae videbatur? Tanta erat gravitas in oculo, tanta contractio frontis, ut illo supercilio annus ille niti tamquam vade videretur. (Cic. Sest. 19)
Noch weitaus expliziter – zumal mehrfach genannt – als in Ciceros Senatsrede (dort §§ 15 f.) wird in diesem Redeabschnitt Pisos supercilium erwähnt und dessen täuschende Ausstrahlung auf die römischen Bürger als pignus rei publicae konstatiert.54 Auch die kurz darauf folgende Behauptung zu Beginn von Sest. 21, dass Piso im Gegensatz zu seinem Amtskollegen Gabinius eine umfangreiche Irreführung der Öffentlichkeit gelungen ist,55 erinnert stark an Ciceros These in p. red. in sen. 15, wo der Redner seinen ungetrübten Scharfblick zum Wohle des römischen Staates selbst lobend hervorhebt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt in Ciceros Verteidigungsrede für Sestius kann eine Doppelung der Anklagekriterien, die er bereits in der Senatsrede einige Monate zuvor gegen Piso geltend gemacht hat, und im Zuge dessen auch eine Wiedererkennung seiner sprachlich-rhetorischen Vorgehensweise, um Pisos Spiel mit Schein und Wirklichkeit anzuprangern, nicht mehr geleugnet werden.56 Inwiefern diese Beobachtung für die zum zweiten Mal ins Spiel gebrachte Nähe Pisos zu den Epikureern von Bedeutung ist, deutet sich in dem zur Kernpassage in Sest. 23 f. überleitenden Abschnitt an, in dem – wie schon
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Zur näheren Deutung von Pisos supercilium im Zusammenhang mit anderen Erwäh‐ nungen in Ciceros Piso-Reden sei erneut auf Meister (2009), Griffin (2001) 85–100 und Hughes (1992) 234–237 verwiesen; zusammenfassend dazu Kaster (2006) 163, der auch entsprechende Paralleltextstellen in Ciceros Œuvre auflistet. Vgl. Cic. Sest. 21: Alter multos plane in omnis partis fefellit […]. Dies zeigt sich gleichermaßen im weiteren Verlauf von Pisos Darstellung in Cic. Sest. 21, wo zum einen die Bedeutung von Pisos adeliger Abstammung mit der Einschränkung der Herkunft mütterlicherseits – zum familiären Hintergrund Pisos gibt etwa Kaster (2006) 166, nähere Auskunft –, zum anderen das unnahbare und distanzierte Auftreten des ehemaligen Konsuls – in diesem Fall sogar abermals in fast wortgetreuer Formulierung wie in der Senatsrede – erneut thematisiert wird: […] Quia tristem semper, quia taciturnum, quia subhorridum atque incultum videbant, et quod erat eo nomine, ut ingenerata familiae frugalitas videretur, favebant, gaudebant, et ad integritatem maiorum spe sua hominem vocabant materni generis obliti. In ähnlicher Weise äußert sich Meister (2012) 58 f. hinsichtlich der kontrastiven und jeweils sukzessiven Darstellung der beiden Konsuln bei Cicero, in der er völlig zu Recht ein wiederkehrendes rhetorisches Muster erkennt: „Piso, so Ciceros Argumentation, sei zwar kein Lot besser als Gabinius, doch habe er dies hinter seinem Äusseren zu verbergen gewusst. Dass dieser horridus consul hinter seiner Stirn und seinen Augenbrauen sein wahres Wesen verborgen gehalten habe, während der cicinnatus consul Gabinius dies offen zur Schau getragen habe, ist ein Leitmotiv bei Ciceros Behandlung der beiden ungeliebten Aristokraten“.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
in Cic. p. red. in sen. 13 f. – von Pisos angeblich ausschweifendem Lebensstil die Rede ist: […] etenim animus eius vultu, flagitia parietibus tegebantur. Sed haec obstructio nec diuturna est neque obducta ita ut curiosis oculis perspici non possit. Videbamus genus vitae, desidiam, inertiam; inclusas eius libidines qui paulo propius accesserant intuebantur; denique etiam sermo nobis ansas dabat quibus reconditos eius sensus tenere possemus. (Cic. Sest. 22)
An dieser Stelle häufen sich Ciceros diffamierende Anschuldigungen gegenüber Piso in extremem Maß, nachdem er ihn unmittelbar davor schon mit den stark negativ aufgeladenen Begriffen scelus, audacia und crudelitas behaftet und als nequam homo et levis gebrandmarkt hat. Im Zuge der erneut thematisierten Täuschungsabsicht und Verstellungsstrategie Pisos wird deren Zwecklosigkeit und lediglich kurzfristige Wirksamkeit angesichts von Ciceros eigenem Scharf‐ sinn (curiosis oculis) hervorgehoben, der das implizierte Eigenlob kaum nicht verbergen kann. Infolgedessen wird Pisos Lebensweise be- oder vielmehr verurteilt, indem Cicero sie erneut mit den negativ konnotierten Termini desidia, inertia und libidines in Verbindung bringt. Schon jetzt wird Ciceros rhetorische Strategie ersichtlich, mit Hilfe von Stereotypen, die in seinem weiteren Werk traditionell den epikureischen Philosophen zugewiesen werden, Piso als abschreckendes Beispiel eines Vertreters der epikureischen ‚Sekte‘ zu kennzeichnen und damit wiederum an seine Senatsrede anzuknüpfen, in der er Piso bereits eine unverhohlene Nähe zur epikureischen voluptas-Lehre unterstellt hat. Mit dem auf Pisos rhetorische Fähigkeiten anspielenden Begriff des sermo schlägt Cicero einen weiteren Bogen zurück in seine Senatsrede, wo er diesem jegliches Rednertalent und überhaupt die Voraussetzungen für einen orator perfectus, wie ihn Cicero etwa in De oratore konzipiert und zum erstrebenswerten Ideal macht, von vornherein abspricht (vgl. Cic. p. red. in sen. 13). Im Zuge dessen stellt Cicero Piso nicht nur als triebgesteuerten Politiker mit einem ausgeprägten Hang zu heimtückischer Verstellung und öffentlicher Täuschung bloß, sondern als leicht zu entlarvenden Lebemann auf Kosten des
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Staates, der sich aufgrund mangelnden rhetorischen Geschicks sogar selbst verrät.57 Die Zeilen, die für die Einschätzung von Pisos epikureischem Potential entscheidend sind und darüber die beste Auskunft geben, lauten schließlich folgendermaßen: Laudabat homo doctus philosophos nescio quos, neque eorum tamen nomina poterat dicere, sed tamen eos laudabat maxime qui dicuntur praeter ceteros esse auctores et laudatores voluptatis; cuius et quo tempore et quo modo non quaerebat, verbum ipsum omnibus viribus animi et corporis devorarat; eosdemque praeclare dicere aiebat sapientis omnia sua causa facere, rem publicam capessere hominem bene sanum non oportere, nihil esse praestabilius otiosa vita, plena et conferta voluptatibus; eos autem qui dicerent dignitati esse serviendum, rei publicae consulendum, offici rationem in omni vita, non commodi esse ducendam, adeunda pro patria pericula, vulnera excipienda, mortem oppetendam, vaticinari atque insanire dicebat. (Cic. Sest. 23)
Wie in Cic. p. red. in sen. 14 f. wird auch bei der Lektüre dieser Passage die intertextuelle Verbindung zu Epikurs Lehre deutlich: Erneut mangelt es zwar an wörtlichen Zitaten, stattdessen aber finden sich indirekte Verweise auf epikureisches Gedankengut. Die Epikureer werden in diesem Fall zwar nicht namentlich genannt, sind aber dennoch eindeutig zu identifizieren (ein hoher Grad an Kommunikativität ist erreicht). Erneut ist die Dialogizität intensiviert, weil Cicero auch an dieser Stelle innerhalb seiner Gerichtsrede die Merkmale der epikureischen Philosophie für seine Invektive einsetzt. Wenn Cicero im oben zitierten Textausschnitt über Pisos philosophische Be‐ mühungen referiert, so erweisen sich seine Wortwahl und seine Formulierungen als derart doppelbödig und voller mehrdeutiger Anspielungen, dass Pisos Dilet‐ tantismus vollkommen zur Schau gestellt und für die Diskreditierung seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit nutzbar gemacht wird: Der schon aufgrund seiner Herkunft und seines politischen Werdegangs zum homo doctus prädesti‐ nierte, in Wahrheit aber – jedenfalls aus der Sicht Ciceros – rhetorisch und auch auf dem Gebiet anderer Wissenschaften, ja selbst in seiner Verstellungskunst
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Den lateinischen Terminus sensus als Anspielung auf die sensualistische Erkenntnis‐ lehre im Sinn der epikureischen Kanonik zu verstehen, würde zwar durchaus in den Kontext der Indizien von Pisos Verbindung zum Epikureismus passen, dürfte jedoch an dieser Stelle vielleicht etwas zu weit gehen. Auf die unabhängig davon bestehende Wirkkraft der oben erwähnten impliziten Vorausdeutungen, was die im Folgenden erneut ins Feld geführte Nähe Pisos zur epikureischen Lehre anbelangt, hat dies ohnehin keinen großen Einfluss.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
völlig unbegabte L. Calpurnius Piso tritt in aller Öffentlichkeit voll des Lobes für eine Philosophengruppe ein, deren einzelne Mitglieder er jedoch entweder nicht zu identifizieren weiß oder deren Namen er nicht einmal aussprechen kann.58 Die Verwendung von nescioquos, das sich ja rein syntaktisch auf den Sprecher Cicero bezieht und dabei dessen Gleichgültigkeit und Distanzierung zu der von Piso favorisierten Philosophengruppe zum Ausdruck bringt, baut zu der für seinen Rivalen ausgewählten Bezeichnung als homo doctus eine Antithese mit stark ironischem Anklang auf, da Cicero ja in Wahrheit sich selbst als kompetenten und jedes falsche Spiel durchschauenden Verstandesmenschen sieht und sich so auch in der Senatsrede und in diesem Verteidigungsplädoyer präsentiert, während er Piso fehlende Bildung, einen frevelhaften Charakter und unüberlegtes Verhalten in der Öffentlichkeit zur Last legt. Die von Cicero angeprangerte Einfältigkeit Pisos und sein unreflektiertes Handeln spiegeln sich zudem in der These wider, dass der Konsul von 58 v. Chr. trotz mangelhafter Informationen über die besagte Philosophengruppe lobende Worte für diese findet und damit geradezu öffentlich für deren Lehre zu werben scheint.59 Auch wenn der Name dieser Philosophen bzw. ihre Zugehörigkeit zu einer philosophischen Schule im Gegensatz zu Cic. p. red. in sen. 14 nicht angegeben ist, kann man sie nicht zuletzt aufgrund ihrer Umschreibung als auctores et laudatores voluptatis und der sich somit erhärtenden Parallele zur voluptas-Passage in der Senatsrede ziemlich sicher der epikureischen Strömung zuordnen.60 Auch im weiteren Verlauf von Ciceros Ausführungen bleibt sein Fokus stets auf den von ihm an den öffentlichen Pranger gestellten Piso, während das epikureische Argument nicht dazu dient, näher auf die dahinter stehenden Philosophen, ihre Lebensweise und ihr Wirken in Rom einzugehen, sondern le‐ diglich darauf abzielt, die erbarmungslose Verunglimpfung von Pisos Charakter, 58
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Vgl. Kaster (2006) 168. Dabei ist für die Beurteilung von Pisos Verstand und Seriosität die Deutung von dicere insofern unerheblich, als beide Verfehlungen nach Cicero von seiner im öffentlichen Leben unhaltbaren Ignoranz zeugen und ihn in seiner Gesamtwahrnehmung beim römischen Volk äußerst lächerlich wirken lassen. Interessant ist ferner, dass an dieser Stelle auch Cicero selbst keine Namen der betreffenden Philosophen nennt, was wohl auch darauf abzielt, den Fokus weiterhin auf Piso als Angeklagten zu richten und dessen Unkenntnis durch die fehlende Identifizierung noch stärker zu veranschaulichen. Trotzdem ist an der einhelligen Forschungsmeinung, diese namentlich nicht näher er‐ wähnten Philosophen der Schule des Kepos zuzuordnen, kaum zu rütteln. Diese Feststellung erschließt sich mir aus dem iterativen Aspekt der doppelt gebrauchten Imperfektform laudabat, dem beim zweiten Mal sogar noch der Superlativ maxime zur Seite gestellt wird. Ferner impliziert das Imperfekt, dass sich Piso schon öfter für seine Lebensweise zu rechtfertigen versuchte oder dass zumindest seine Parteinahme für die der voluptas nahestehenden Philosophen schon seit einiger Zeit bekannt war. Vgl. dazu auch Kaster (2006) 168f.
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seinem Ansehen und seinen politischen Verdiensten immer mehr auf die Spitze zu treiben. Dass der Redner dabei eine sehr ähnliche Strategie wie schon ein halbes Jahr zuvor unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Exil verfolgt, zeigt sich auch in dem wiederholten Vorwurf, dass Piso sich angeblich ohne jegliche wissenschaftliche Reflexion und ohne die gebotene Vorsicht auf eine Befürwortung der epikureischen Anschauungen eingelassen habe und dabei ausschließlich von der Idee oder, genauer gesagt, vom sprachlichen Klangkörper (verbum ipsum) der voluptas, die er sehr einseitig auslege, in den Bann gezogen worden sei.61 Des Weiteren legt Cicero seinem Rivalen sogar bestimmte Aussagen in den Mund (aiebat)62, in denen dieser eine klare Grenze zwischen den Epikureern als favorisierte und den Stoikern als abgelehnte Philosophengemeinschaft zu ziehen sucht und in der Darstellung der beiden Lager, die vermeintlich eine diametral entgegengesetzte Lehre vertreten, auf stark vereinfachende und in der Sache unzureichende Maximen zurückgreift.63 Demzufolge plädiert die epi‐ kureische Partei für ein auf Eigennutz ausgerichtetes Handeln (omnia sua causa facere), für eine rigorose Zurückhaltung von Staatsgeschäften (rem publicam capessere […] non oportere) und für eine otiosa vita, plena et conferta voluptatibus. Während Ciceros Intention mit der erstgenannten Vorschrift leicht zu er‐ ahnen ist, nämlich Pisos Begeisterung für diesen angeblichen Lehrsatz in direkten Bezug zu seiner Verhaltensweise im öffentlichen Leben zu setzen, erweist es sich als diffizil, eine Verbindung Pisos, dem Konsul des Jahres 58 v. Chr. und weiterhin präsenten Politiker Roms, zu einem gewollten Rückzug von politischer Betätigung herzustellen. Dasselbe trifft wohl auch für die von den Epikureern zur besten Lebensform erklärte otiosa vita zu, die zweifelsohne in diesem Kontext auf den durch ein Werk Plutarchs berühmt gewordenen epikureischen Lehrsatz λάθε βιώσας rekurriert.64 Allerdings stellt der Zusatz 61
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Im Gegensatz zu Piso vertraten die Epikureer bekanntlich einen differenzierten voluptasbzw. ἡδονή-Begriff, der schon auf Epikur selbst zurückgeht; vgl. u. a. Schmid (1962) 719. Mit Bezugnahme auf Cic. Cael. 41, einer Stelle, die mit Piso in keinerlei direktem Zusammenhang steht, weist Kaster (2006) 169 zu Recht daraufhin, dass Cicero – wohl im Zuge seiner inzwischen verfestigten antiepikureischen Gesinnung – selbst zu einem ähnlich unreflektierten Umgang mit dem epikureischen Gedankengut geneigt habe. Erneut schwingt beim hier verwendeten Imperfekt der iterative Aspekt deutlich mit, genauso verhält es sich mit kurz darauf stehenden dicebat, das sich nach nahezu unangefochtenem Forschungskonsens auf Aussagen Piso über die Stoiker bezieht; vgl. dazu auch Cic. Sest. 24: ex his adsiduis eius cotidianisque sermonibus […]. Diese Maximen werden im Falle der epikureischen Perspektive in drei verschiedene For‐ mulierungen gekleidet, die die typisch variantenreiche Präsentation philosophischen Gedankenguts bei Cicero an dieser Stelle abbilden: sapientis [sc. esse] – hominem bene sanum non oportere – nihil esse praestabilius.
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plena et conferta voluptatibus – man beachte den Plural – einen deutlichen und von Cicero sicherlich bewusst gewählten Rückbezug auf den Lebensstil, den er Piso schon in seiner Senatsrede zum Vorwurf gemacht hat, und auf die unreflektierte Faszination Pisos für den voluptas-Begriff her. Tatsächlich zeigt aber diese in Teilen widersprüchliche Haltung des ciceronischen Piso zur epikureischen Lehre nur umso mehr, wie sehr sich dieser von bloßen Worthüllen vereinnahmen lässt und mit der Unterstützung der epikureischen Thesen, wenn auch unbemerkt oder vielmehr unüberlegt, im Grunde genommen die eigene politische Karriere in Frage zu stellen scheint. Zudem offenbart Cicero auf diese Weise, dass die so von ihm dargelegte und auf wenige, nur oberflächlich wiedergegebene Grundsätze reduzierte Lehre Epikurs nicht mit dem Leben eines römischen Poltikers in Einklang zu bringen ist.65 Den Gegensatz dazu – und zwar sowohl im Verständnis Ciceros als auch seiner Piso-Figur66 – bildet die mutmaßliche, da nicht explizit genannte stoische Schule, der in Ciceros Rede bei der Kontrastierung mit der epikureischen Lehre zum einen der längere Part eingeräumt wird und – was noch viel entscheidender ist – die zum anderen mit traditionellen und wertehaltigen römischen Begriffen wie dignitas, res publica, officium und patria in Zusammenhang gebracht wird. Alternativ zu Kasters Einschätzung67 ließen sich die für die miteinander konkurrierenden Lehrmeinungen bezüglich der Lebensausrichtung auf den ei‐ genen Nutzen, die politische Betätigung und allgemeine Lebensinhalte folgende Kontrastbezüge herstellen: omnia sua causa facere – offici rationem in omni vita, non commodi esse ducendam;68 rem publicam capessere […] non oportere – rei 64
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Tatsächlich ist diese Wendung bekanntermaßen kein Zitat aus einem erhaltenen Werk Epikurs oder einer seiner Nachfolger als Oberhaupt bzw. Anhänger des Kepos, sondern dem griechischen Titel von Plutarchs entsprechender Moralia-Schrift entnommen (griech.: Εἰ καλῶς εἴρηται τὸ λάθε βιώσας; lat.: De latenter vivendo bzw. An recte dictum sit latenter esse vivendum). Gerade diese unmöglich erscheinende Kompatibilität des römischen Staatswesens und seines traditionellen republikanischen Wertgefüges mit dem ethischen Dogma des Kepos wird immer wieder als Hauptgrund für Ciceros stark antiepikureische Gesinnung ins Feld geführt; vgl. André (1966) 205–209; Maslowski (1974) 55 f.; Erler (1992) 308 f.; Haltenhoff (2003) 222; Malitz (2012) 96. Die Formulierung eos autem […] vaticinari et insanire dicebat macht diese Distanzierung des ciceronischen Piso unmissverständlich klar. Dieser konstatiert in all diesen Begriffen bzw. in ihrer sprachlichen Einbettung in Ciceros Rede einen Kontrast zur vorangehenden Passage, der sich hauptsächlich auf die Wendung omnia sua causa facere bezieht; vgl. Kaster (2006) 170. Auch die vorangehende Gerundivkonstruktion dignitati esse serviendum, die sich aufgrund ihrer sehr allgemein gehaltenen Aussage nicht ohne Weiteres als formulierter Gegensatz zu einem der epikureischen Standpunkte zuordnen lässt, fügt sich wohl am ehesten als Gegensatz zu omnia sua causa facere in diese Kontrastreihe ein.
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publicae consulendum [esse]; otiosa vita, plena et conferta voluptatibus – adeunda pro patria pericula, vulnera excipienda, mortem oppetendam.69 Nachdem also in dieser Textpassage zwar nicht auf konkret genannte, aber immerhin doch auf zwei Philosophengruppen Bezug genommen wird, deren schulische Zugehörigkeit relativ klar bestimmt werden kann, und Pisos unter‐ schiedliche Haltung gegenüber diesen beiden Lagern eindeutig zum Ausdruck kommt, werden auch im folgenden Abschnitt Anspielungen auf Personen ge‐ macht, die zu dieser Zeit offenbar regelmäßigen Umgang mit Piso pflegten: So lässt den Zuhörer bzw. Leser Ciceros Bekundung quod videbam quibuscum hominibus in interiore parte aedium viveret in Cic. Sest. 24 unwillkürlich an die historisch belegte Tatsache denken, dass Piso mit dem epikureischen Philosophen Philodem aus Gadara, der wohl in den 70er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. nach Italien übergesiedelt und von Piso mutmaßlich in dessen Landhaus in Herculaneum aufgenommen worden ist.70 Ob mit dieser Bemerkung Ciceros auch andere konkrete Personen wie tägliche Bittsteller oder ähnlich epikureisch gesinnte Römer gemeint sind, was durchaus plausibel wäre, bleibt indes ungeklärt. Bemerkenswert sind an dieser Stelle jedenfalls noch der Vergleich Pisos mit einem parvus puer bzw. einem imbecillus senex aut debilis und wenig später – bei der Anwendung des Gleichnisses vom schwachen Menschen und seiner unter gewissen Umständen dennoch gegebenen Schadensmöglichkeit auf die aktuelle politische Situation im damaligen Rom – die ebenfalls eindeutig auf Piso zu beziehende Formulierung cum hominibus enervatis atque exsanguibus consulatus tamquam gladius esset datus (Cic. Sest. 24).71 Auch hier gehört die Herstellung einer analogen Verbindung zu anderen Menschen aus Pisos Umfeld oder zur von ihm so gerühmten epikureischen Philosophengruppe in den Bereich der Spe‐ kulation, obwohl eine implizite Brandmarkung der angesprochenen Personen sicherlich nicht völlig von der Hand zu weisen wäre und im Einklang mit Ciceros evident gewordener Intention stünde. 69
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All diese Formulierungen sind Cic. Sest. 23 entnommen. Aufgrund der emphatischen Positionierung dieser dreigliedrigen Klimax ans Ende des Satzes, was die einander gegenübergestellten Lehrvorschriften betrifft, wird ein besonders starker und damit auch der für den Redner (Cicero) hier entscheidende Kontrast zwischen der epikure‐ isch geprägten und der mehr der Stoa zugewandten Lehre aufgebaut, welcher nicht zuletzt den intendierten Gegensatz zwischen Piso, der wegen seines ausschweifenden Lebensstils in die Kritik geraten ist, und dem erst kürzlich aus der Verbannung zurückgekehrten Cicero, der sich kraft all seiner verfügbaren (v. a. rhetorischen) Mittel als Überlebender einer lebensbedrohlichen Situation zu sehen scheint, verdeutlicht. Vgl. u. a. Dorandi (2000) 822 f.; Longo Auricchio/Indelli/Del Mastro (2012) 337; Sider (1997) 5–9. Solche Analogien sind bei Cicero keineswegs unüblich, vgl. z. B. Cic. Sex. Rosc. 56 f.; dazu auch Kaster (2006) 171.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Welche Rückschlüsse können also für Piso als literarische Figur Ciceros und seine Verbindung zum Epikureismus gezogen werden? Zum einen ist es schon anhand der beiden bisher behandelten Reden, die jeweils eine Invektive gegen Piso enthalten, mehr als deutlich geworden, dass Ciceros rhetorische Strategien und Anklagepunkte in beiden Reden fast eins zu eins abgebildet werden und sich vor dem Hintergrund der gleich gebliebenen Beweggründe Ciceros – die öffent‐ liche Diffamierung der für seinen politischen Sturz verantwortlichen Politiker und zugleich seine eigene Rehabilitierung – abgesehen von minimalen Abwand‐ lungen wiederholen. Zum anderen wird in beiden Fällen eine Verbindung Pisos zur epikureischen Schule geschaffen, was nicht dazu führt, dass Cicero seinen Rivalen als gebildeten Philosophen verstanden haben will. Vielmehr spiegelt Pisos dilettantischer Versuch, sich der epikureischen Lehre anzunähern, dabei allerdings immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, seine in Ciceros Augen ebenso gescheiterte Heuchelei und Verstellungstechnik wider. Somit steht in beiden Reden ganz klar die Kritik an Piso im Vordergrund und weniger eine Abrechnung mit den Epikureern, wenngleich sie Cicero bei der Verunglimpfung Pisos als nützliches Mittel zum Zweck dienen, da ihre Grundsätze mit den Werten der römischen Republik vollkommen unvereinbar scheinen. Es ist also trotz der von Cicero angedeuteten Verbindungen und Präferenzen für eine bestimmte philosophische Schule ganz und gar unzulässig, Piso mit orthodoxen Epikur-Anhängern gleichzusetzen oder ihn gar als typischen Repräsentanten des (römischen) Kepos zu betrachten. Stattdessen stellt Pisos Fall von politischer und philosophischer Inkompetenz die Gefahren von Manipulation und Verstellung dar, die sich gerade auch aus der Fehldeutung der epikureischen voluptas-Lehre ergeben; diese hat sich Piso laut Cicero nämlich als eine Art von philosophischer Legitimitätsgrundlage für seinen unsoliden Lebenswandel angeeignet, was in erster Linie den äußerst verschiedenen Facetten geschuldet ist, die mit dem antiken voluptas-Konzept assoziiert werden können.72 Zu den wirkungsvollsten Aspekten von Ciceros rhetorischer Vorgehensweise zählt auch die doppelte Gegenüberstellung der beiden Konsuln des Jahres 58 v. Chr., Gabinius und Piso. Obwohl die beiden Männer in der Senatsund in der Sestius-Rede jeweils sehr unterschiedlich beschrieben werden und ihr äußeres Erscheinungsbild bei Cicero den extremen Gegensatz zum Amts‐ kollegen darstellt, können beide Politiker und Rivalen Ciceros – Gabinius als verweichlichter und unmännlicher vir mollis, Piso als verwahrloster und 72
Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des voluptas-Begriffs in der römischen Literatur siehe u. a. Farrington (1952) 26–31 (zu Lukrez); Giancotti (1989) passim (zu Lukrez); Glei (1992) 82–94 (zu Lukrez); Leonhardt (1999) passim (zu Cicero); Evenepoel (2014) 45–78 (zu Seneca).
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heimtückisch täuschender vir agrestis et incultus – als Sklaven ihrer moralisch verwerflichen (römisch-ciceronianische Sichtweise) voluptas beurteilt werden, deren Umgang mit ihrem zum untragbaren Laster degenerierten Leitgedanken der voluptas sich lediglich in unterschiedlicher Weise äußert, was allerdings nichts an ihrer gemeinsamen Schuld gegenüber dem römischen Staat im Zuge ihrer moralischen Dekadenz ändert. In diesem Zusammenhang muss aber auch festgehalten werden, dass bei Cicero nur Piso explizit mit den Epikureern und ihrer falsch ausgelegten Lehre in Verbindung gebracht wird. Schließlich bleibt bei diesem ersten Vergleich der beiden Piso-Darstellungen in Ciceros ersten öffentlichen Reden nach seiner Rückkehr aus der Verbannung die Frage offen, ob Piso – unabhängig davon, ob er nun als gescheiterter und opportunistischer Epikur-Anhänger oder praktizierender Epikureer – mit seinem Aussehen und Verhalten, das ja in beiden bisher behandelten Reden in den Fokus gerückt wird, ein möglicherweise typisches und allgemein bekanntes Erscheinungsbild eines (römischen) Epikureers verkörpert, auch wenn viele der genannten Aspekte darauf hindeuten.73 Um also noch ein konkreteres Bild von Piso und seiner Verbindung zum Epikureismus zu erzeugen, sei zum Abschluss dieser Voruntersuchung über epikureische Figuren anhand exemplarisch aus‐ gewählter Textstellen im Werk Ciceros eine kurze Passage in der Rede über konsularischen Provinzen für das ciceronische Epikureerbild herangezogen und anschließend in Ausschnitten auch dessen Hauptinvektive gegen Piso, die Rede In Pisonem aus dem Jahre 55 v. Chr.74
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Vgl. dazu Griffin (2001) 98 f., die mit ihrem wertvollen Hinweis auf die plastische Darstellung griechischer Epikureer in der Skulpturenkunst (weitgehende physische Annäherung der Skulpturen der verschiedenen Philosophen) insbesondere im Hinblick auf die charakteristische Augenbraue einer Epikur-Skulptur aussagekräftige Parallelen zum ciceronischen Piso-Konstrukt aufzeigen kann. Diese Auswahl aus dem ciceronischen Textcorpus zur Piso-Figur soll und darf auf keinen Fall darüber hinwegtäuschen, dass der Konsul von 58 v. Chr. noch in einigen anderen Schriften Ciceros thematisiert wird, vor allem im Kontext mit dem ‚Provinzhandel‘, der Gabinius und Piso von Cicero immer wieder zur Last gelegt wird; vgl. u. a. Cic. p. red. in sen. 10; Cic. p. red. ad Quir. 11; Cic. dom. 23 f.; Cic. har. resp. 3 f.; Cic. prov. 2). Allerdings lassen sich dort nurmehr vereinzelte Andeutungen von Pisos Epikureismus finden, die jedoch keine neuen hervorzuhebenden Erkenntnisse mehr einbringen. Stattdessen verhält es sich wohl so, dass das von Cicero für Piso literarisch konstruierte Bild keiner wesentlichen Ergänzungen mehr bedarf, sondern als Stereotyp eines umstrittenen Politikers mit moralischen Verfehlungen, der zu dieser Zeit allen Bürgern präsent war, zumindest im Hinblick auf Ciceros wirkmächtige Reden bereits etabliert scheint.
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3.1.3 Piso als adulescens non acriter intellegens in In Pisonem In De provinciis consularibus, einer im Juni 56 v. Chr. gehaltenen Rede Ciceros, wird trotz der fortbestehenden Beleidigungen gegen Gabinius und Piso, die sich dort mitnichten reduzieren,75 der Fokus mehr auf Argumente gelegt, die direkt im Zusammenhang mit Ciceros Plädoyer der Abberufung von Gabinius und Piso stehen, und weitaus weniger auf Pisos äußeres Erscheinungsbild oder seinen Kontakt zur epikureischen Schule. Dennoch lassen vereinzelte Ausdrücke wie cupiditates in prov. 2, libidines in prov. 6 und libidines eius illae tenebricosae in prov. 876 die Anspielungen, die Cicero schon zuvor auf Pisos falsch verstandene und ebenso ausgelebte voluptas gemacht hat, durchscheinen und können durchaus als negativ konnotierte Termini im Zusammenhang mit der epikureischen Lustlehre betrachtet werden. Darüber hinaus wird man, wenn man auf Verbindungen Pisos zu epikureischen Philosophen achtet, an einer Stelle besonders hellhörig: […] Itaque ille alter [sc. Piso] aut ipse est homo doctus et a suis Graecis subtilius eruditus, quibuscum iam in exostra helluatur, antea post siparium solebat, aut amicos habet prudentiores quam Gabinius, cuius nullae litterae proferuntur. (Cic. prov. 14)
Das in diesem Fall nicht einmal so abschätzige Urteil des Redners über Piso ge‐ genüber seinem Amtskollegen Gabinius dürfte durchaus ein wenig überraschen. Zwar rücken diese Zeilen Ciceros Rivalen auf keine Weise in ein positives Licht, aber Piso wird zumindest ein klügeres Verhalten, wenn nicht sogar eine höhere Bildung als Gabinius unterstellt, was nicht zuletzt mit seinen griechischen Kontakten zu tun haben könnte.77
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Vgl. etwa Cic. prov. 2: duo rei publicae portenta ac paene funera; prov. 3: pestiferi illi consules; prov. 7: te imperatore infelicissimo et taeterrimo, Caesonine Calventi; prov. 8: eius urbana […] audacia; prov. 12: omnium nequissimus; in starkem Ausmaß außerdem in prov. 13: et has duplicis pestis sociorum, militum cladis, publicanorum ruinas, provinciarum vastitates, imperi maculas teneretis? […]. Mit diesem durch die emphatische Satzstellung und die Alliteration am Anfang äußerst markante Formulierung wird ein Anklagepunkt aus den beiden früheren Reden, die Geheimhaltung seines ausschweifenden Lebensstils und die damit einhergehende Täuschung der Öffentlichkeit, wieder aufgegriffen; vgl. dazu Grillo (2015) 125, der die erwähnten libidines ebenfalls in den epikureischen Kontext stellt, der sich in weitaus stärkerem Ausmaß auch noch in Ciceros Hauptrede gegen Piso ein Jahr später fortsetzen wird. Grillo (2015) 157 kennzeichnet diesen Fokuswechsel als „quick and ironic comparison, synkrisis, wondering which is worse“, denn bei diesem Vergleich schneiden natürlich weder Gabinius noch Piso wirklich gut ab.
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Mit dem Vorwissen über diese für Cicero nicht ungewöhnliche verallge‐ meinernde Bezeichnung und über den epikureischen Einfluss auf Piso bzw. seine Rechtfertigungstaktik in den beiden bisher behandelten Cicero-Reden lassen sich sui Graeci problemlos mit Pisos philosophischem Bekanntenkreis identifizieren, zu dem Cicero sicherlich auch den aus Athen ausgewanderten Philodem von Gadara gezählt hat. Auf der anderen Seite darf Pisos erneute Ernennung von Cicero zum homo doctus und subtilius eruditus gewiss nicht für bare Münze genommen werden, sondern ist auch hier – wie schon in Cic. Sest. 23 – mit einem deutlich ironischen Unterton versehen: Piso habe sich Cicero zufolge hinsichtlich eines ähnlich verheerenden Urteils durch den Senat, wie es Gabinius zuteilgeworden ist, lediglich besser bzw. geschickter aus der Affäre gezogen, was allerdings nicht gleichbedeutend ist mit einer wirklichen Aufwertung des bisher mindestens ebenso negativ dargestellten Piso oder gar mit einer Art Freispruch von seinen öffentlichen Verfehlungen. Der Ausdruck a suis Graecis ist infolgedessen wohl genauso despektierlich gemeint wie in der zu Beginn dieses Kapitels zitierten Aussage in Cic. div. 2, 5, 4. Dazu passt auch der nur wenig verschleierte Vorwurf Ciceros, dass Piso seine philosophischen Kontakte zu diesem Zeitpunkt offenbar gar nicht mehr geheim hielt, sondern inzwischen sogar öffentlich zur Schau stellte (iam in exostra helluatur)78, was wohl in Ciceros Augen ein Zeichen von enormer Dreistigkeit von Seiten Pisos war. Bei der folgenden Analyse der Rede Ciceros gegen Piso aus dem Jahr 55 v. Chr., die zweifellos den Höhepunkt ciceronischer Invektive gegen den Konsul seines Verbannungsjahres bildet, sei der Fokus in erster Linie auf die Passage §§ 51–72 gerichtet, da dort einige Aspekte epikureischer Figurendarstellung für Piso zutage treten, die bislang kaum oder noch nicht erfasst worden sind. Nachdem Piso im Sommer 55 v. Chr. von seiner zweieinhalbjähriger Statthal‐ terschaft in Makedonien nach Rom zurückgekehrt war und es im Zuge von Senatssitzungen, an denen er und Cicero gemeinsam teilgenommen hatten, bereits mehrfach zu einer persönlichen Konfrontation der beiden Widersacher gekommen war,79 entlud sich Ciceros Abneigung gepaart mit seiner Eloquenz, aber auch mit zahlreichen, aus den früheren bereits bekannten Vorwürfen in 78 79
Bei der exostra handelt es sich um eine Vorrichtung auf der Bühne des griechischen bzw. römischen Dramas (v. a. in der Komödie), um eine im Innenraum stattfindende Szene vor Publikum aufzuführen; vgl. Grillo (2015) 157. Wie schon Fuhrmann (42013b) in der Einleitung zu seiner Übersetzung der Rede gegen Piso richtig bemerkt (dort v. a. S. 137f.), hat Cicero mit seinen Ausführungen in De provinciis consularibus sicherlich einen nicht unerheblichen Anteil an der Entscheidung des Senats, Piso aus der römischen Provinz zurückzuberufen.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
einer Rede, mit der er auf Anschuldigungen reagierte, die ihm Piso seinerseits öffentlich vorgehalten hatte.80 Eine nützliche Grobgliederung der Rede lässt im Wesentlichen vier Teile erkennen: Den größten Part nimmt die kontrastierende Selbst- und Piso-Darstellung durch Cicero ein (§§ 1–63)81, an die sich der hier im Zentrum stehende Abschnitt über Pisos Verbindungen zum Epikureismus anschließt (§§ 64–72). Am Ende seiner Darlegungen äußert sich Cicero mit Be‐ zugnahme auf die Vorwürfe seines zu dieser Zeit persönlich anwesenden Rivalen zunächst zum Verhältnis, das zwischen ihm und Caesar und Pompeius besteht (§§ 72–82), bevor er belastendes Material für einen angedrohten, tatsächlich aber nie stattgefundenen Prozess gegen Piso aus dessen Statthalterschaft in Makedonien vorlegt und diese Thematik auch in sein Schlusswort übernimmt (§§ 82–99).82 In seiner Rede entwirft Cicero immer wieder expressis verbis ein despektier‐ liches und ins Lächerliche gezogenes Bild von Pisos regelmäßiger Rekurrenz auf epikureische Lehren zur Legitimierung seines privaten wie öffentlichen Lebensstils. Zur Vervollständigung des ciceronischen Piso-Bildes als eines scheinheiligen Staatsverbrechers mit epikureischen Anwandlungen sei bis auf zwei Ausnahmen, die Ciceros Zurückgreifen auf bereits bekannte Topoi der pisonischen Invektive verdeutlichen sollen, nur noch auf die wesentlichen Assoziationen Pisos mit dem Epikureismus in §§ 51–72 eingegangen:83 Gleich zu 80 81 82
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Zur fragmentarischen Überlieferung einer vorausgehenden Rede Pisos siehe van der Blom (2013) 300f. Die Konstruktion Pisos als eines Anti-Ciceros behandelte zuletzt u. a. Dugan (2005) 55–66 (Vergleich zwischen Ciceros Selbstdarstellung in Pro Archia und den Piso zugeschriebenen Eigenschaften in In Pisonem). Vgl. Dugan (2005) 61 f., mit Bezug auf Cic. Pis. 99: „Not only does ,Piso‘ take the role of Cicero’s double and serve as a vehicle through which Cicero seeks to master his past, but the invective delivered in the senate replaces a courtroom accusation; the fear of prosecution substitutes for real legal jeopardy; and Piso is attacked instead of Pompey or Caesar. […] Piso also serves as a substitute for other targets against whom Cicero dared not raise his voice“. Die vorgenommene Einteilung der Rede orientiert sich im Übrigen weitgehend an den Erläuterungen Fuhrmanns (1980) 139–143. Eine Zusammenstellung einiger (aber längst nicht aller) Passagen aus Ciceros In Pisonem-Rede, in denen Piso explizit mit dem Epikureismus in Verbindung gebracht wird, findet sich bei Castner (21991) 16–19. Dabei sei eine kleine Anmerkung zu den beiden dort zuerst aufgeführten Textstellen erlaubt, die ganz im Zeichen von Ciceros Prinzip der doppelten (Piso und Gabinius in Cic. Pis. 20) bzw. der kontrastierenden Anklage (Piso und Cicero in Cic. Pis. 37) stehen: Im Gegensatz zu Ciceros Reden gegen Piso aus den Vorjahren wird der kontrastive Charakter der Darstellungen von Piso und Gabinius zugunsten der hier im Vordergrund stehenden Gegenüberstellung von Piso und Cicero deutlich reduziert. Piso verkörpert unbestritten Ciceros Hauptfeindbild, dem die öffentliche Anklage in allererster Linie gilt, was natürlich schon aus dem Titel der Rede hervorgeht. Die Erwähnung des Gabinius scheint daher in diesem Fall einzig
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Beginn seiner Invektive gegen Piso werden wesentliche Attribute aus früheren Beschreibungen von Pisos äußerem Erscheinungsbild und seinem Verhalten in der Öffentlichkeit zusammengefasst.84 Dadurch ergibt sich nicht nur ein kohärentes Bild von Pisos Physiognomie und seinem Charakter, auch die Kombination dieser Eigenheiten mit Pisos Hang zum Epikureismus verfestigt sich derart, dass für den Leser bzw. Hörer von Ciceros Reden das fixe Profilbild eines römischen Epikureers vor dem geistigen Auge entstehen dürfte, welches mit allerlei negativen Eigenschaften behaftet ist. Dazu gehört nicht zuletzt auch der falsche Umgang mit weitgehend ortho‐ doxen Vorschriften der epikureischen Lehre, der in einen bewussten Missbrauch dieses philosophischen Erbes für eigene Zwecke übergeht. Dieser aus Cic. p. red. in sen. 14 und Sest. 23 bekannte Topos der Schein-Bildung Pisos wird in Pis. 42 erneut thematisiert. Trotz der auch an dieser Stelle erkennbar antiepikureischen Haltung Ciceros, der sich besonders im Ausdruck isti tui voluptarii Graeci widerspiegelt, nimmt er die Kepos-Kehre hier fast schon ein bisschen in Schutz, da es nur aufgrund Pisos unentschuldbarer Fehldeutungen
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die Funktion zu haben, Pisos Diskreditierung als römischer Politiker zu verstärken, indem er als sein ehemaliger Amtskollege im Konsulat einen Hauptbestandteil in seinem näheren politischen Umfeld bildet. Ferner stellt Cicero Piso in diesen beiden Pas‐ sagen nicht mehr nur als inkompetenten und nach philosophischen Rechtfertigungen suchenden Bewunderer epikureischer Philosophen und der von ihnen vertretenen voluptas-Lehre dar, sondern als überzeugten Epikureer, der im politischen Rom sogar schon einen repräsentativen Status für die Schule des Kepos eingenommen zu haben scheint, wenn man Ciceros Titulierungen für Piso als barbarus Epicureus und Epicurus noster diesbezüglich Glauben schenken mag. Diese eindeutig negativ konnotierten und in sarkastischem Tonfall gehaltenen Bezeichnungen ändern nichts an dem von Cicero entworfenen Bild eines unseriös wirkenden Politikers aus römischem Adel, der auf plumpe Weise versucht, sich Lehrinhalte einer hellenistischen Philosophenschule zunutze zu machen, die nur schwer mit dem Weltbild der römischen Republik in Einklang zu bringen sind. Vgl. Cic. Pis. 1; Cic. p. red. in sen. 13 f.; Cic. Sest. 19 und 22. In diesem Zusammenhang sind vor allen Dingen mehrere Kennzeichen eines verwahrlosten und für ein politisches Amt unwürdigen Aussehens (color iste servilis, […] pilosae genae, […] dentes putridi […]), die markante Augenpartie Pisos als entscheidende optische Täuschungsmittel ([…] oculi, supercilia, frons, voltus denique totus, qui sermo quidam tacitus mentis est, hic in fraudem homines impulit, hic eos quibus erat ignotus decepit, fefellit, induxit), die fatale Verbindung eines lasterhaften Lebensstils, geistiger Mängel und rhetorischer Unfähigkeit (Pauci ista tua lutulenta vitia noramus, pauci tarditatem ingeni, stuporem debilitatemque linguae) sowie Pisos fehlende Präsenz in der Öffentlichkeit und sein Defizit an anerkannten Leistungsnachweisen (Numquam erat audita vox in foro, num‐ quam periculum factum consili, nullum non modo inlustre sed ne notum quidem factum aut militiae aut domi) zu nennen. Mit den in Cic. Pis. 1 angesprochenen vitia sind zweifellos die in den früheren Reden meist als voluptates oder libidines bezeichneten sittlichen Verstöße Pisos gemeint.
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der entsprechenden Inhalte zu seinen flagitia gekommen sei.85 Statt auch auf die Lehre vom epikureischen Weisen im Rahmen der Auffassung vom Schmerz als Übel und der geistigen voluptas als Gut seine Aufmerksamkeit zu lenken, habe Piso nur den sinnlichen voluptates Gehör geschenkt.86 Es drängt sich also durch das prominente Beispiel Pisos erneut der Ver‐ dacht auf, dass sich römische Nachahmer epikureischer Lehrinhalte wegen mangelnder philosophischer Kompetenz oder bewusster Fehldeutung in der Regel in nur schwer auflösbare Widersprüche verstrickt haben könnten, was ihre individuelle Lebensführung, die nach außen hin weiterhin eher vom stoischen Pflichtbewusstsein geprägte Wertehaltung der römischen Politik sowie die tatsächliche Bedeutung der epikureischen Vorschriften betrifft. Diese Erkenntnis gilt es bei der nachfolgenden Untersuchung weiterer epikureischer Figuren in der römischen Literatur im Gedächtnis zu behalten. Im Rahmen der Gegenüberstellung von Ciceros und Pisos Werdegängen vergleicht der Redner auch die Rückkehr der beiden Männer nach Rom, die zwar nur etwa zwei Jahre auseinander liegt, aber jeweils von unterschiedlichen Umständen (Rückholung aus der Verbannung nach Griechenland bzw. Rückbe‐ rufung aus der Statthalterschaft in Makedonien) begleitet war.87 Nach einigen der üblich gewordenen Beleidigungen und Diffamierungen88 spricht Cicero im Zusammenhang mit Pisos Erklärungsversuch für den ausgebliebenen Triumph erstmals – und zwar unverhohlen spöttisch – über dessen ‚philosophisches Wesen‘:
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Vgl. Cic. Pis. 42: […] Atque hoc quidem etiam isti tui dicunt voluptarii Graeci: quos utinam ita audires ut erant audiendi; numquam te in tot flagitia ingurgitasses. Unter diesen Oberbegriff fallen die ebenfalls in Cic. Pis. 42 exemplarisch aufgelisteten Themen, die einen nach der Ansicht Ciceros und wohl auch nach dem allgemeinen römischen Verständnis einen ausschweifenden Lebensstil implizieren, der in dieser Form epikureischen Philosophen offenbar auch immer wieder zugeschrieben wurde: […] Verum audis in praesepibus, audis in stupris, audis in cibo et vino. Vgl. Cic. Pis. 51 f. (Cicero); 53 (Piso). Beispielsweise stellt Cicero unter dem Hauptaspekt der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Rückkehr der beiden Politiker Pisos Auftreten als nobilis imperator vehement in Abrede und bezeichnet dessen Erscheinung als mortuus infamis (Cic. Pis. 53). Kurz darauf, aber noch im selben Abschnitt äußert sich Cicero zum wiederholten Male sehr despektierlich über die mütterliche Abstammung Pisos (u. a. […] Calventiae […], […] Placentini municipii […], […] bracatae cognationis dedecus!), ehe er die Bedeutungslo‐ sigkeit von Pisos Heimkehr in der öffentlichen Wahrnehmung durch einen weiteren Vergleich eindringlich unterstreicht (Cic. Pis. 55: […] in urbem se intulit ut nullius negotiatoris obscurissimi reditus umquam fuerit desertior […]) und ihm als homo promptus vorhält, als erster und einziger Statthalter Makedoniens erfolglos und ohne triumphale Würdigungen zurückgekehrt zu sein (ebenfalls in Cic. Pis. 55).
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At audistis, patres conscripti, philosophi vocem. Negavit se triumphi cupidum umquam fuisse. O scelus, o pestis, o labes! […] (Cic. Pis. 56)
Diese Feststellung Ciceros, der sogleich eine rhetorische Welle der Empörung folgt, rückt Piso erneut als Anhänger epikureischer Ansichten ins Licht89 – mit dem entscheidenden Unterschied zu Pisos Darstellung in den vorausgegan‐ genen Reden, dass er in diesem Falle nicht die epikureische voluptas-Lehre zu seiner Verteidigung heranzieht. Dennoch lässt Cicero seiner harschen Kritik an den vermeintlichen Ausflüchten Pisos freien Lauf und konfrontiert ihn mit weiteren schwerwiegenden Anschuldigungen, die die Senatoren als Adressaten der Rede am Wahrheitsgehalt von Pisos Bekenntnis arg zweifeln lassen sollten.90 Im Folgenden kennt Ciceros Spott für Pisos Ausflüchte keine Grenzen mehr, wobei er geschickt mit dem hohen Stellenwert des öffentlichen Triumphzuges in der römischen Gesellschaft und seiner historischen Bedeutung für namhafte Persönlichkeiten (v. a. Pisos Schwiegersohn Caesar) der Zeitgegenwart argu‐ mentiert.91 Dadurch wird Pisos vorgeschützte Einstellung gegenüber einer offiziellen Anerkennung seiner politischen Verdienste unhaltbar und unglaub‐
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Vgl. Nisbet (1961) 117, der auf die einschlägigen Stellen im Werk Epikurs nach der Edition Useners verweist. Dass mit philosophus Piso oder vielleicht sogar Epikur bzw. Zenon von Sidon, der Lehrer Philodems, der durch Piso spricht, gemeint ist, dürfte angesichts der mehrfachen Assoziationen Pisos mit den Epikureern, die Cicero in seinen früheren Reden stets einigermaßen explizit gemacht hat, dürfte relativ unumstritten sein. Vgl. dazu weiter in Cic. Pis. 56: […] Cum exstinguebas senatum, vendebas auctoritatem huius ordinis, addicebas tribuno pl. consulatum tuum, rem publicam evertebas, prodebas caput et salutem meam una mercede provinciae, si triumphum non cupiebas, cuius tandem te rei cupiditate arsisse defendes? Saepe enim vidi qui et mihi et ceteris cupidiores provinciae viderentur triumphi nomine tegere atque celare cupiditatem suam. […]; Pis. 57: […] cum exhauriebas aerarium, cum orbabas Italiam iuventute, cum mare vastissimum hieme transibas, si triumphum contemnebas, quae te, praedo amentissime, nisi praedae ac rapinarum cupiditas tam caeca rapiebat? Dabei versteht es Cicero mal wieder, den Senat, seine eigene Person und die res publica insgesamt als Opfer von Pisos Verfehlungen im Konsulat darzustellen und die gemeinsame Strafverfolgung Pisos zu forcieren, auch wenn es aufgrund der politischen Umstände der damaligen Zeit nicht dazu kommen sollte; vgl. u. a. Dugan (2005) 55. Zur Isolierungsstrategie in Ciceros Rede gegen Piso, die diesen in eine Trias-Reihe mit Catilina und Clodius stellt, siehe Reischmann (1986) 61–63. Auch Caesars Kollegen und späteren Rivalen Pompeius bezieht Cicero mit reichlich Ironie in seine Verballhornung Pisos ein: Non est integrum Cn. Pompeio consilio iam uti tuo; erravit enim; non gustarat istam tuam philosophiam; ter iam homo stultus triumphavit […] (Cic. Pis. 58).
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würdig zugleich, zumal er damit den mächtigsten Mann im Staate, Caesar, brüskieren würde. Um den im Senatssaal anwesenden Gegner in die Enge zu treiben, schöpft Cicero eben diese Erkenntnis sogleich voll und ganz für seine rhetorischen Zwecke aus, indem er in Pis. 59–61 eine philosophische Lehrstunde Pisos für seinen triumphsüchtigen Schwiegersohn imaginiert.92 In diesem fingierten Dialog nimmt er außerdem Pisos Überzeugungskunst im Hinblick auf seine un‐ genügende Bildung und Eloquenz, die Cicero ihm schon mehrfach bescheinigt hat, aufs Korn.93 Nun aber wird Piso in seiner fiktiven Ansprache an Caesar wiederum mehr als deutlich als Repräsentant und Verbreiter epikureischer Ansichten gekennzeichnet, deren Spektrum dabei auf den theologischen Bereich erweitert wird: […] ‘quid est, Caesar, quod te supplicationes totiens iam decretae tot dierum tanto opere delectent? in quibus homines errore ducuntur, quas di neglegunt; qui, ut noster divinus ille dixit Epicurus, neque propitii cuiquam esse solent neque irati.’ […] (Cic. Pis. 59)
Auf das wahre Lebensziel kommt der ciceronische Piso als praeceptor voluptatis corporis zu sprechen, als er Caesar ganz konkret von einem kostspieligen Triumph abzuhalten versucht und bezüglich einer öffentlichen Schaufahrt durch Rom zu folgendem Schluss gelangt:
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Vgl. dazu den Beginn von Cic. Pis. 59: Sed quoniam praeterita mutare non possumus, quid cessat hic homullus, ex argilla et luto fictus Epicurus, dare haec praeclara praecepta sapientiae clarissimo et summo imperatori genero suo? […]. Da trotz anders lautender Belege in manchen Handschriften eine Tilgung von Epicurus, das ansonsten wohl dieselbe Funktion wie in Cic. Pis. 37 eingenommen hätte, absolut plausibel scheint, sind auch die praeclara praecepta sapientiae weniger auf die epikureische Lehre an sich zu beziehen – dies stünde ferner im Widerspruch zu Cic. Pis. 42, wo er die Vorstellung vom epikureischen Weisen noch als Beweis für Pisos undifferenzierte Verwendungsweise des voluptas-Begriffs ins Feld geführt hat –, sondern vielmehr auf Pisos verzweifelte Suche nach einer passablen Begründung für seine fehlenden Triumphzüge; vgl. dazu Nisbet (1961) 120. Vgl. v. a. Cic. p. red. in sen. 13; 15; Cic. Sest. 22 f.; siehe dazu die ironische Stelle bei Cic. Pis. 59: […] Valebis apud hominem volitantem gloriae cupiditate vir moderatus et constans, apud indoctum eruditus, apud generum socer. Dices enim, ut es homo factus ad persuadendum, concinnus, perfectus, politus ex schola […]; vgl. auch die entsprechenden Anmerkungen Nisbets (1961) 121.
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‘[…] Inania sunt ista, mihi crede, delectamenta paene puerorum, captare plausus, vehi per urbem, conspici velle. 94 Quibus ex rebus nihil est quod solidum tenere, nihil quod referre ad voluptatem corporis possis […]’. (Cic. Pis. 60)
Im Zentrum von Pisos Interesse stehen Cicero zufolge also ausschließlich Dinge, die zur physischen voluptas beitragen. Piso scheint also für das von den wahren Epikureern angestrebte voluptas-Konzept, das vorrangig einen geistigen Optimalzustand beschreibt, nichts übrig zu haben oder diese (philosophisch entscheidende) Komponente zumindest zu missachten und seinen sinnlichen Trieben völlig unterzuordnen.95 Wenn man lediglich ein paar Zeilen in Ciceros Rede, die wiederum von polemischen Beleidigungen durchzogen sind,96 überspringt und nach dem Abschnitt, in dem Cicero die These vom allseitigen Hass des römischen Imperiums auf Piso ob seines angeblich staatsschädigenden Verhaltens im po‐ litischen Amt aufstellt, weiterliest, kann man feststellen, dass Cicero ein wei‐ teres inhaltliches Charakteristikum der epikureischen Lehre zu rhetorischen 94
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Der Wunsch nach öffentlicher Bewunderung steht dem epikureischen Lebensideal λάθε βιώσας vollkommen unvereinbar gegenüber; vgl. Nisbet (1961) 122. Auf diesen berühmten philosophischen Topos spielt auch Pisos fingierte Sparsamkeitsbekundung Nummus interea mihi, Caesar, neglectis ferculis triumphalibus, domi manet et manebit (Cic. Pis. 61) an. Der imaginierte Lehrvortrag des Piso wird schließlich durch ein humorvolles Plautus-Zitat abgerundet, das einem römischen Steuerbeamten in den Mund gelegt wird und Pisos Selbstbild vom wohltätigen und maßvoll lebenden Staats‐ bürger auf den Kopf stellt, indem es Pisos geheim gehaltene Verschwendungssucht und seinen ausschweifenden Lebensstil nach seinem Verständnis von gelebter voluptas (vgl. insbesondere Cic. Pis. 67) offen zutage fördert: ‘ratio quidem hercle apparet, argentum οἴχεται’ (Cic. Pis. 61). Natürlich lässt Cicero diesem Schlusssatz der von ihm entworfenen Komödienszene noch einen eigenen Kommentar folgen, der noch zu den Erfolgsaussichten von Pisos Überzeugungskunst ironisch Stellung nimmt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Piso nach einer gewissen Beständigkeit (solidum) dieser voluptas strebt, denn von einer katastematischen ἡδονή im klassisch epikureischen Sinn kann hier keine Rede sein. Stattdessen wird diese epikureische Idealform ethischen Lebens von Cicero bewusst verzerrt. Vgl. Cic. Pis. 62: O tenebrae, o lutum, o sordes, o paterni generis oblite, materni vix memor! […]. Allerdings kleidet Cicero sein Schlussurteil bei der endgültigen Offen‐ legung von Pisos wahren Beweggründen, einen Triumph für sich zu beantragen, nochmals in den epikureischen Kontext, indem er Pisos moralische Hybris auch auf den Topos des epikureischen Weisen projiziert: […] Neque vero contempsisti, sis licet Themista sapientior, sed os tuum ferreum senatus convicio verberari noluisti […] (Cic. Pis. 63). Die aus ihrer Briefkorrespondenz mit Epikur bekannte Themista – sie stand also dem von seinen Schülern wie ein Gott verehrten Meister des Kepos also wohl sehr nahe – findet im Übrigen bei Cicero in sehr abfälliger Weise nochmals Erwähnung (Cic. fin. 2, 68); vgl. Nisbet (1961) 127.
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Zwecken aufgreift und dieses Piso angesichts seiner mutmaßlichen Angst vor öffentlichen Auftritten spöttisch vorhält: die Maxime der Freiheit von Furcht zur Gewährleistung der ἀταραξία.97 Piso wird also mit einem angeblichen Verstoß gegen die von ihm propagierte Lehre der Epikureer konfrontiert, sodass es Cicero nicht nur zu gelingen scheint, Pisos pseudo-philosophische Legitimationsversuche zu entkräften, sondern ihn sogar mit den eigenen Waffen zu schlagen. Nachdem er zum wiederholten Male Pisos Präferenz für das trivial sinnliche Verständnis von voluptas gegenüber ihrer geistigen Dimension anprangert98 und das Ausmaß von Pisos frevelhaftem Lebensstil ins nahezu Unermessliche stei‐ gert,99 gesteht Cicero seinem Widersacher an dieser Stelle zwar überraschend ein überwiegend sparsames Lebensauskommen zu, zeigt anhand dessen jedoch die negativen Auswüchse seiner unsoliden Lebensführung auf, die sich insgesamt um den Vorrang von Quantität vor Qualität drehen.100 Angesichts der deutlich negativen Konnotierung von Pisos Lebensweise, die für einen Römer von vornehmer Abstammung untypisch und wenig schmeichelhaft ist,101 ist das Lob des Feindes (laudabo inimicum) ohne Zweifel nicht ernst zu nehmen, zumal ein solches Zugeständnis der bisherigen Argumentation völlig zuwider laufen würde. Mit der eher nebenbei gefallenen Bemerkung über Pisos vertrauten Umgang mit einigen griechischstämmigen Männern lenkt Cicero in Pis. 68 den Fokus auf einen bestimmten Hausphilosophen Pisos, dessen Einfluss dieser ständig ausgesetzt sei und der von der Forschung mit Berufung auf den antiken 97
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Vgl. Cic. Pis. 65: […] Da te populo, committe ludis. Sibilum metuis? Ubi sunt vestrae scholae? Ne acclametur times? Ne id quidem est curare philosophi. Manus tibi ne adferantur? Dolor enim est malum, ut tu disputas; existimatio, dedecus, infamia, turpitudo verba atque ineptiae. Sed de hoc non dubito; non audebit accedere ad ludos […]. In diesem Sinn muss die Bemerkung solet enim in disputationibus suis oculorum et aurium delectationi abdominis voluptates anteferre zu Beginn von Cic. Pis. 66 meines Erachtens verstanden werden. Mit dieser Formulierung greift Cicero außerdem einen traditionellen Kritikpunkt an einem Zitat Epikurs auf (Epik. fr. 409 Usener), der wohl auf eine absichtlich einseitige Deutung ohne Beachtung des philosophischen Kontexts in Epikurs Gesamtwerk zurückzuführen ist; vgl. Nisbet (1961) 129. Vgl. Cic. Pis. 66: […] nihil scitote esse luxuriosius, nihil libininosius, nihil protervius, nihil nequius. Vgl. Meister (2012) 70, der nicht nur in dieser Beschreibung Pisos mangelhaft ausge‐ prägte urbanitas erkennt, die damals als Zeichen von Bildung und Geschmack von einem römischen Politiker erwartet wurde. Vgl. Cic. Pis. 67: […] Nihil apud hunc lautum, nihil elegans, nihil exquisitum […]. […] exstructa mensa non conchyliis aut piscibus, sed multa carne subrancida. Servi sordidati ministrant […].
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Cicero-Kommentator Asconius in allgemeinem Tenor seit jeher als Philodem von Gadara identifiziert wird.102 Als interessant und aufschlussreich für die Beurteilung epikureischer Philosophen im rhetorischen Werk Ciceros erweist sich dabei folgende Beobachtung: Im Gegensatz zu Piso, der bei Cicero meist mit dem abschätzig gebrauchten Demonstrativpronomen iste gebrandmarkt wird, wird Philodem als humanus vorgestellt,103 der nur dann negativ auffalle, wenn er Umgang mit Piso habe.104 Obwohl also der mit Graecus quidam gemeinte Philodem im weiteren Verlauf als Epikureer gekennzeichnet wird,105 nimmt Cicero eine nicht zu vernachlässigende Differenzierung zwischen dem griechischen Gelehrten und dem römischen Politiker Piso vor.106 Gerade mit diesem markierten Kontrast bindet er Philodem in seine Argu‐ mentation so ein, dass erneut Pisos unreflektierter Umgang mit der epikurei‐ schen Lehre und die mit dieser Schule verbundenen Gefahren eines ideologi‐ schen Missbrauchs, wie er sich bei Piso zeige, zur Schau gestellt werden: […] Audistis profecto dici philosophos Epicureos omnis res quae sint homini expetendae voluptate metiri; rectene an secus, nihil ad nos aut, si ad nos, nihil ad hoc tempus; sed tamen lubricum genus orationis adulescenti non acriter intellegenti et saepe praeceps. (Cic. Pis. 68)
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Vgl. u. a. Nisbet (1961) 134; Dugan (2005) 64 f.; Benferhat (2005) 211. Ganz im Zeichen der deutlichen Kontrastierung steht auch die Beschreibung Pisos in Cic. p. red. in sen. 13 als agrestis und inhumanus. Vgl. Cic. Pis. 68: […] Est quidam Graecus qui cum isto vivit, homo, vere ut dicam – sic enim cognovi – humanus, sed tam diu quam diu aut cum aliis est aut ipse secum […]. Das genaue Verhältnis zwischen Piso und Philodem kann auch nach dem heutigen Stand der Forschung nur näherungsweise rekonstruiert werden, ebenso sind die exakte Datierung und die Art ihres Kennenlernens weitgehend ungeklärt und eher spekulativer Natur; plausible Thesen zur Bekanntschaft der beiden Männer finden sich u. a. bei Gigante (1987) 109–122; Sider (1997) 3–24; Benferhat (2005) 210–232; Vesperini (2012) 278–307. Vgl. insbesondere Cic. Pis. 68–72. Diese wird wenig später noch genauer ausgeführt: […] Graecus primo distinguere et dividere, illa quem ad modum dicerentur; iste, ‘claudus’ quem ad modum aiunt ‘pilam’; retinere quod acceperat, testificari, tabellas obsignare velle, Epicurum diserte dicere existimare. Dicit autem, opinor, se nullum bonum intellegere posse demptis corporis voluptatibus. Quid multa? Graecus facilis et valde venustus nimis pugnax contra impera‐ torem populi Romani esse noluit […] (Cic. Pis. 69f.). Während Philodem sich also um eine wissenschaftliche und differenzierende Herangehensweise an die philosophische Thematik bemüht, klammert sich der geistig „lahme“ Piso an bloße Schlagwörter und bleibt gegenüber jedweder Präzisierung und Korrektur voreiliger Schlussfolgerungen immun. Für diese überstürzte und triebgesteuerte (sensus voluptarios) Auslegung des voluptas-Begriffes verwendet Cicero kurz zuvor mit dem admissarius ein für Piso ebenso wenig schmeichelhaftes Bild aus der Tierwelt.
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Wieder einmal – wie in Cic. Sest. 23 – werden die Anhänger der epikureischen Lehre über den voluptas-Begriff definiert und genau in diesem mehrdeutigen und facettenreichen Terminus steckt die Gefahr des Missverständnisses (lu‐ bricum genus orationis […] et saepe praeceps) – unabhängig von der Absicht des jeweiligen Rezipienten.107 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die in Worten ausgedrückte (vorläufige) Neutralität gegenüber den epikureischen Lehrinhalten. Cicero geht es an dieser Stelle und in der gesamten Rede also mit‐ nichten um eine rigorose Diabolisierung des Epikureismus,108 sondern vielmehr um dessen Anfälligkeit für einen möglichen Missbrauch durch außenstehende Personen, die eigentlich einer anderen Tätigkeit als der philosophischen nach‐ gehen und entkontextualisierte Leitbegriffe für egoistische Zwecke nutzen. Auf diese Weise kommt es auch zu dem Eindruck, dass Philodem ein auctor libidinis statt ein magister virtutis sei, sodass Piso wiederum als unreflektierter Lehrling dargestellt wird. Der darin herauszulesende leise Vorwurf an Philodem bzw. die von ihm vertretene Philosophenschule sowie der ebenso anklingende Tadel, sich Pisos einseitigen und daher unzutreffenden Interpretationen der epikureischen voluptas nicht widersetzt zu haben,109 deuten ungeachtet des auf Piso liegenden Fokus der ciceronischen Invektive die Vorbehalte des Redners gegenüber der Sozialverträglichkeit solcher Lehren an. Abgesehen davon grenzt Cicero den griechischen Hausphilosophen Pisos hinsichtlich seines weiten Bildungshorizontes und seiner poetischen Begabung sogar von den übrigen
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Dennoch kann natürlich im Fall von Piso nicht von einer unbewussten Fehldeutung die Rede sein, wie Ciceros Angriffe in früheren Reden bereits zu unterstreichen versuchten. Der auf Pisos philosophische Inkompetenz anspielende Ausdruck adulescens non acriter intellegens stellt eine weitere Degradierung seines Bildungshorizontes dar. Dabei rückt sich Cicero selbst mal wieder in ein kontrastierendes Licht zu Piso, wenn er sich kurz darauf (Cic. Pis. 69) bei einer spezifischeren Definition des epikureischen bonum lieber mit inhaltlichen Dingen bzw. überlieferten Lehrmeinungen Epikurs auseinandersetzt als sich vom bloßen Klang losgelöster Worthülsen vereinnahmen zu lassen. Diese These soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Cicero mitunter sehr wohl mit verbreiteten Vorurteilen gegenüber den Anhängern Epikurs arbeitet und diese geschickt mit der Figurendarstellung Pisos verwoben. So tritt die gottgleiche Verehrung Epikurs, die seinen Schülern und Nachfolgern nachgesagt wird, in der Piso zugeschriebenen Ansicht Epicurum diserte dicere (Cic. Pis. 69) deutlich zutage. Zugleich erzielt Ciceros mit dieser Angabe eine ironische Anspielung auf Pisos eigene rhetorische Unfähigkeit, die er ihm insbesondere in Cic. p. red. in sen. 13 unterstellt. Dass ein solches Lob auf Epikur also gerade von Piso, einem vorschnellen und zur philosophischen Reflexion unfähigen voluptas-Fan, kommt, ist bezeichnend. Vgl. Cic. Pis. 70: […] Graecus facilis et valde venustus nimis pugnax contra imperatorem populi Romani esse noluit […]. Daran wird zugleich der große politische Einfluss Pisos und somit die mögliche Einschüchterung von Gegnern seiner selbst erschaffenen Lebensweisheit ersichtlich.
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Epikureern ab,110 ohne ihn jedoch auf eine Stufe mit den römischen Dichtern und Denkern zu stellen, was seiner doch relativ positiven Darstellung in Ciceros Anti-Piso-Rede jedoch keinen Abbruch tut.111 Trotzdem ließ sich Philodem nach Ciceros Worten – immer noch im selben Abschnitt der Rede – natürlich genauso von Pisos äußerer Erscheinung112 täuschen wie das römische Volk und schneidet dabei im Urteil des Redners weder besser noch schlechter ab als Ciceros Landsleute und frühere Kollegen. Dabei wird Philodem dem Leser bzw. Zuhörer vielmehr als Opfer von Pisos Vereinnahmungsstrategie präsentiert (familiaritate implicatus; rogatus, invitatus, coactus), das unfreiwillig zum Medium (delicatissimis versibus […], in quibus, si qui velit, possit istius tamquam in speculo vitam intueri)113 für Pisos frevelhaften Lebensstil (omnis libidines, omnia stupra, omnia cenarum conviviorumque genera, adulteria denique eius) wird und allein durch den Inhalt seiner Verse und seine persönliche Abhängigkeit von Piso sein literarphilosophisches ingenium völlig einbüßt.114
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Die Ablehnung der παιδεία und die restriktive Haltung gegenüber jeglicher Form von Dichtung sind klassische Merkmale der griechischen Epikureer; vgl. Epik fr. 163 Usener; siehe dazu auch die Erläuterungen von Nisbet (1961) 138. Eine wichtige Relati‐ vierung dieser pauschalen Beurteilung epikureischer Philosophie liefert beispielsweise Spahlinger (2005) 71 f., der mit dem Verweis auf eine Stelle bei Diogenes Laertios zu dem Fazit gelangt, dass „der Topos der radikalen Ablehnung von Dichtung und der Bildungsfeindlichkeit der Epikureer in seiner Undifferenziertheit ein Bestandteil anti-epikureischer Polemik“ sei, „dem möglicherweise einzelne orthodoxe Vertreter entsprachen“ (S. 72). Auch Torquatus nimmt zum Vorwurf, Epikur und seinen Nachfol‐ gern fehle es an eruditio, in Cic. fin. 1, 71 f. Stellung. Vgl. Cic. Pis. 70: […] Est autem hic de quo loquor non philosophia solum sed etiam ceteris studiis quae fere Epicureos neglegere dicunt perpolitus; poema porro facit ita festivum, ita concinnum, ita elegans, ut nihil fieri possit argutius. In quo reprehendat eum licet, si qui volet, modo leviter, non ut improbum, non ut audacem, non ut impurum, sed ut Graeculum, ut adsentatorem, ut poetam […]. Allerdings ließ sich Philodem nach Ciceros Worten genauso von Pisos äußerer Erscheinung täuschen wie das römische Volk und schneidet dabei im Urteil des Redners weder besser noch schlechter ab als Ciceros Landsleute und frühere Kollegen. Erneut wird hierbei die markante Augenpartie Pisos als Garant für dessen Täuschungskunst genannt: […] Devenit autem seu potius incidit in istum eodem deceptus supercilio Graecus atque advena quo tot sapientes et tanta civitas […] (Cic. Pis. 70). Zum Spiegel-Motiv in der römischen Invektive vgl. auch Dugan (2005) 65. Vgl. Cic. Pis. 71f.: […] Qui si fuisset in discipulo comparando meliore fortuna, fortasse austerior et gravior esse potuisset; sed eum casus in hanc consuetudinem scribendi induxit philosopho valde indignam, si quidem philosophia, ut fertur, virtutis continet et offici et bene vivendi disciplinam; quam qui profitetur gravissimam sustinere mihi personam videtur. Sed idem casus illum ignarum quid profiteretur, cum se philosophum esse diceret, istius impurissimae atque intemperantissimae pecudis caeno et sordibus inquinavit […]. Cicero hantiert in diesem Zusammenhang ironischerweise mit zahlreichen philosophischen termini technici, die
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Die nahezu gesichert erscheinende Erwähnung von Philodem dient Cicero also insgesamt betrachtet weniger einer rhetorischen Demontage der von diesem Gelehrten vertretenen Lehre, sondern vielmehr als anschauliches Bei‐ spiel für Pisos skrupelloses Vorgehen und seinen schädlichen Einfluss, der weder vor dem römischen Staatswesen noch vor der Philosophie Halt macht. Angesichts der häufigen, wenn auch philosophisch wenig fundierten Beru‐ fungen Pisos auf die epikureische Denkerschule kommt Cicero allerdings nicht umhin, auch an der voluptas-Lehre und ihrem Gefahrenpotential des ethischen Missbrauchs immer wieder Kritik zu üben. Es dürfte im Übrigen deutlich geworden sein, dass sich das Hauptangriffsziel zu jeder Zeit in den hier behandelten Redeauszügen Ciceros der Konsul bzw. Prokonsul L. Calpurnius Piso (und sein Amtskollegen Gabinius) ist und sich Ciceros Vorwürfe gegen den Epikureismus meist nur dann äußern, wenn sein Gedankengut (in erster Linie die Lehre von der voluptas) Piso als Werkzeug für die vermeintlich philosophische Legitimierung seiner Lebensweise dient und wenn der politische Rivale Ciceros sich in die Tradition der epikureischen Philosophie zu stellen versucht. Dass dieses dilettantische Bemühen in Ciceros Augen letztlich vollkommen gescheitert ist, bleibt dem Rezipienten seiner Reden nicht verborgen, zumal jegliche positiv zu wertende oder gar anerkennende Assoziierung von Piso mit dem Kepos anders als in den kurzen Passagen über Philodem völlig ausgespart bleiben. Es wäre also grundsätzlich falsch, im Falle des ciceronischen Piso von einem orthodoxen Epikureer in römischem Gewand zu sprechen. Die epikureische Komponente der Piso-Darstellung hat einen rein instrumentellen Charakter, der zu einem negativ aufgeladenen Leitmotiv für die ciceronische Piso-Figur wird. Die spekulative Diskussion, inwiefern Cicero damit ein authentisches Bild des historischen Piso vor dem Hintergrund seiner überlieferten biographischen Daten entwirft, wird in der Forschung schon seit langem geführt und kann – trotz vielversprechender Beobachtungen mit manch plausiblen Schlussfolgerungen –115 mangels bildlicher Darstellungen und aufgrund einer häufig stark subjektiven Personenbeschreibung nie zu einem vollkommen befriedigenden und historisch verlässlichen Ergebnis führen. Was dabei jedoch als nahezu unumstrittene Erkenntnis gelten kann, ist Pisos viel‐ fach belegte und auch aus seinem politischen Werdegang zumindest teilweise erklärbare Verbindung zur epikureischen Philosophie.
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Philodems Scheitern dokumentieren und zugleich zum polemischen Tonfall von Ciceros Invektive zurückführen. Vgl. beispielsweise Benferhat (2005) 178–189; Vesperini (2012) 261–277.
3.1 Die simulata tristitia versutaque des L. Calpurnius Piso im Werk Ciceros
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3.1.4 Fazit zur Bedeutung des Epikureismus für das Gesamtbild des ciceronischen Piso Zusammenfassend kann man für die Einschätzung des ciceronischen Piso als Anhänger des Epikureismus, wie sie sich aus Ciceros Rede Post reditum in senatu, aber auch aus den entsprechenden Passagen in den anderen Post-re‐ ditum-Invektiven gegen Piso ergibt,116 festhalten, dass der Konsul des Jahres 58 v. Chr. in Ciceros Reden zwar mit traditionellen epikureischen Topoi in Verbindung gebracht, jedoch keinesfalls als authentischer oder gar seriöser Philosoph der Kepos-Lehre gezeichnet wird. Noch in viel stärkerem Maß als beim plautinischen Demipho in der Komödie Mercator entsteht durch Ciceros Darstellung der Eindruck eines ‚Scheinepikureers‘. Schon aufgrund seiner äu‐ ßeren Beschreibung, die zunächst eher den Typus eines Stoikers vermuten lässt, und der Charakterisierung durch Cicero als unsensibler Holzklotz wird klar, dass Piso, der allein durch das Stichwort voluptas angelockt wird, die epikureische Lustlehre missverstehen ‚muss‘ und auf seine eigene Weise interpretieren wird. Der im Senatsgebäude zum Zeitpunkt der Rede anwesende Piso wird somit von Cicero als absurde117 und widersprüchlich auftretende Figur der römischen Öffentlichkeit gezeichnet, der gegen die ihm zugedachte Rolle verstößt. Daher muss es für den ebenfalls beiwohnenden Zuhörer oder späteren Leser der publi‐ zierten Rede nachvollziehbar erscheinen, dem von Cicero derart beschriebenen Politiker nicht nur die Kompetenz, ein hohes Staatsamt angemessen ausüben zu können, sondern überhaupt jegliche Zurechnungsfähigkeit oder – wenn man nicht so weit gehen möchte – zumindest jegliche Authentizität und Auf‐ richtigkeit in öffentlichen, aber auch in ethisch-moralischen Angelegenheiten abzusprechen. Die von Cicero vorgenommene Assoziierung Pisos mit dem Epikureismus zielt also allein darauf ab, diesen als republikfeindlichen und politisch ungeeig‐ neten Sonderling in ein möglichst schlechtes Licht zu stellen, und nicht so sehr darauf, auch die Epikureer an sich oder sogar bestimmte Vertreter dieser Schule anzugreifen.118 Natürlich kann eine gewisse Kritik an der Naivität dieser Philo‐
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Vgl. dazu die Auflistung aussagekräftiger Textstellen bei Castner (21991) 16–23. Eine umfangreiche Zusammenstellung mit den Werken, in denen Cicero Piso in den Monaten nach der Rückkehr aus seinem Exil attackiert, findet sich darüber hinaus bei Griffin (2001) 85. Ebenso spricht Gildenhard (2007) 159 im Zusammenhang mit den philosophischen Kontakten, die Piso in Ciceros Hauptinvektive In Pisonem (55 v. Chr.) nachgesagt werden, von „‚absurdities‘ of Piso’s Epicureanism“. Einer solchen Behauptung würden nicht zuletzt Ciceros durchaus lobende Bemer‐ kungen über den epikureischen Philosophen Philodem in Cic. Pis. 69 entgegenstehen,
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
sophengruppe genauso wenig geleugnet werden wie Ciceros immer wieder anklingender Tadel am römischen Volk aufgrund seiner Fehleinschätzung Pisos. Cicero scheint den Epikureern also zumindest vorzuwerfen, dass sie Pisos unredliche Absicht im Umgang mit ihrer voluptas-Lehre nicht erkannt und die generelle Anfälligkeit ihres ethischen Konzepts für einen Missbrauch zu politischen Zwecken nicht annähernd richtig eingeschätzt zu haben, wie es etwa auch durch die falsche Auslegung und Umsetzung der voluptas-Lehre in Cic. Sest. 23 und Cic. Pis. 42 ersichtlich wird.119 Die Einbettung thematischer Abschnitte zum Epikureismus erfolgt dennoch überwiegend nach funktionalen Gesichtspunkten und steht nicht in erster Linie in der Dynamik eines weiteren Angriffsziels von Ciceros Rede.120 Das Hauptaugenmerk in den zitierten Passagen aus Ciceros Senatsrede bleibt näm‐ lich stets auf Piso als explizitem Feindbild von Cicero und der römischen Republik insgesamt gerichtet, das sich hinsichtlich der Quantität und Intensität an Anschuldigungen noch deutlich von Pisos Amtskollegen Gabinius abhebt. Auch wenn das literarische Zeugnis Ciceros mitnichten oder zumindest nicht als einzige Quelle für den historischen Piso herangezogen werden sollte – was keinesfalls im Interesse des Autors der vorliegenden Ausführungen liegt –, setzt Cicero mit seinen vielfachen Angriffen auf Piso in der Mitte der 50er Jahre v. Chr. für die lange Tradition der Invektive ein Beispiel rhetorischer Diffamierungskunst, das sich in eine Reihe mit den berühmten Anklagen gegen Verres, Catilina und Marcus Antonius bringen lässt und gleichermaßen einen bedeutsamen Einschnitt im Leben des berühmten römischen Redners markiert.121
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wenn er diesen in Abgrenzung von Piso als einen reflektierenden und differenzierenden Philosophen vorführt. Das Gefahrenpotential für einen solchen Missbrauch ist insofern erheblich, da dieser bewusst – wie im Falle Pisos suggeriert – oder auch unbewusst erfolgen kann. Damit übt Cicero wohl auch indirekt Kritik an Epikurs zu Beginn des Menoikeus-Briefes geäußerte Maxime, dass jeder Philosophie betreiben könne (Epik. Men. 122). Der missverständ‐ liche voluptas-Begriff wird auch in der dialektischen Auseinandersetzung mit Torquatus in Cic. fin. 2, 6–17 problematisiert, sodass eine systematische Angriffsgrundlage für Ciceros rhetorischen Umgang mit der epikureischen Ethik erkennbar wird. Vgl. dazu Reischmann (1986) 58: „Die Karikierung des Lustphilosophen Piso gehört zu den Konstanten des Ciceronischen Pisobildes“. Mit den Reden im Prozess gegen den sizilischen Statthalter Verres war Cicero im Jahre 70 v. Chr. der Durchbruch als Redner und Anwalt gelungen, die Aufdeckung der Catilinarischen Verschwörung in Ciceros Konsulatsjahr 63 v. Chr. gilt als entschei‐ dender Wendepunkt in seiner politischen Karriere und die Philippischen Reden von 44/43 v. Chr. stellen die Hauptursache für Ciceros Verfolgung und Ermordung auf Veranlassung des Marcus Antonius und Octavians dar.
3.2 Eruditio und Scheitern des L. Manlius Torquatus in De finibus bonorum et malorum
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3.2 Eruditio und Scheitern des L. Manlius Torquatus in De finibus bonorum et malorum Das nächste Kapitel über die literarische Modellierung epikureischer Figuren bei Cicero wendet sich einem weitaus positiver dargestellten Antagonisten und zugleich einer anderen literarischen Gattung zu: Die Rede ist vom Auftritt des Lucius Manlius Torquatus, der sich in Ciceros philosophischem Dialog De finibus bonorum et malorum aus dem Jahre 45 v. Chr. als energischer Befürworter der voluptas-Lehre herausstellt. Im Gegensatz zum Piso-Kapitel beschäftigt sich dieser Teil der Forschungsarbeit also nur mit einem einzigen literarischen Werk Ciceros, das gegen Ende seiner Lebenszeit entstand, als sein Einfluss auf die Alltagspolitik in Rom bereits auf ein minimales Ausmaß reduziert war. Das als sogenannter aristotelischer Dialog122 konzipierte Werk, das zu den wich‐ tigsten doxographischen Zeugnissen über die Güterlehre der konkurrierenden hellenistischen Schulen gezählt wird,123 dokumentiert in den beiden ersten der insgesamt fünf Bücher die relativ sachlich geführte Hauptdiskussion zwischen Torquatus und Cicero.124 Neben diesen werkspezifischen Aspekten weist auch der historische Tor‐ quatus einige wissenswerte Parallelen und Unterschiede zu seinem Zeitge‐ nossen Piso auf:125 Auch er engagierte sich – nach dem Vorbild seines gleich‐ namigen Vaters – politisch und erlangte im Jahr 49 v. Chr. die Prätur. Da bereits sein Vater seit der Schulzeit mit Cicero befreundet war und diesen bei seiner Rückkehr aus der Verbannung unterstütze,126 nahm auch Torquatus selbst spätestens in den politischen Ereignissen ab 49 v. Chr. eine völlig andere Position als Piso ein und schlug sich bei den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Caesar und Pompeius in den 40er Jahren v. Chr. eindeutig auf die republikanische Seite. Wie der jüngere Cato beging auch er nach der verlorenen Schlacht bei Thapsos Selbstmord.
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Vgl. hierzu u. a. Cic. de orat. 3, 80; Tusc. 2, 9. Zum Gesamteindruck von der ciceronischen Darstellung und Bewertung der verschie‐ denen Ethiken in De finibus bonorum et malorum siehe v. a. Leonhardt (1999) 53–61. Eine aktualisierte Übersicht über die Struktur des Gesamtwerkes nach philosophischen Gesichtspunkten bietet etwa Brittain (2016) 20–22. Vgl. u. a. Müller (2020) 74, Anm. 118. Zum freundschaftlichen Verhältnis zwischen Torquatus und Cicero siehe u. a. Cic. Att. 7, 2.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
3.2.1 Torquatus als homo omni doctrina eruditus in Buch I Schon angesichts dieser knapp gehaltenen Hintergrundinformationen kann man festhalten, dass die funktionale Eingliederung der beiden Politiker Piso und Torquatus als Repräsentanten epikureischer Ansätze im Werk Ciceros mit absoluter Sicherheit genauso unterschiedlich ausgefallen ist, wie ihre individu‐ ellen Lebensläufe und ihr jeweiliges Verhältnis zu Cicero erahnen lassen. So führt Cicero, nachdem er in den ersten Kapiteln von De finibus bonorum et malorum die Breite seines philosophischen Interesses deutlich gemacht hat,127 Torquatus als seinen Antagonisten auf epikureischer Seite folgendermaßen ein: Ut autem a facillimis ordiamur, prima veniat in medium Epicuri ratio, quae plerisque notissima est. Quam a nobis sic intelleges expositam ut ab ipsis qui eam disciplinam probant non soleat accuratius explicari; verum enim invenire volumus, non tamquam adversarium aliquem convincere. Accurate autem quondam a L. Torquato, homine omni doctrina erudito, defensa est Epicuri sententia de voluptate, a meque ei responsum, cum C. Triarius, in primis gravis et doctus adolescens, ei disputationi interesset. (Cic. fin. 1, 13)
Noch bevor er auf den von ihm ausgewählten Vertreter der epikureischen Lehre zu sprechen kommt, gibt Cicero ein vielsagendes Urteil über die Epicuri ratio ab, indem er sie einerseits zu den facillima rechnet und andererseits als plerisque notissima bezeichnet: Damit bescheinigt er zwar dem Kepos einen hohen Bekanntheitsgrad, der sich auch auf die römische Welt erstreckt, deutet aber zugleich an, dass die Auseinandersetzung mit dieser Lehre keines großen intellektuellen Aufwands bedarf. Dies könnte a priori sogar als unverhohlene Abwertung verstanden werden, wenn man den Superlativ von facilis im Sinn von „sehr leicht verständlich“ oder auch „sehr leicht widerlegbar“ auffasst.128
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Vgl. dazu etwa die Bemerkungen zur Lektüre einheimischer Autoren in Cic. fin. 1, 6: Quid? Si nos non interpretum fungimur munere, sed tuemur ea quae dicta sunt ab iis quos probamus eisque nostrum iudicium et nostrum scribendi ordinem adiungimus, quid habent cur Graeca anteponant iis quae et splendide dicta sint neque sint conversa de Graecis? Nam si dicent ab illis has res esse tractatas, ne ipsos quidem Graecos est cur tam multos legant quam legendi sunt. Quid enim est a Chrysippo praetermissum in Stoicis? Legimus tamen Diogenem, Antipatrum, Mnesarchum, Panaetium, multos alios in primisque familiarem nostrum Posidonium. Quid? Theophrastus mediocriterne delectat, cum tractat locos ab Aristotele ante tractatos? Quid? Epicurei num desistunt de isdem de quibus et ab Epicuro scriptum est et ab antiquis ad arbitrium suum scribere? Quodsi Graeci leguntur a Graecis isdem de rebus alia ratione compositis, quid est cur nostri a nostris non legantur?. Vgl. Karamanolis (2020) 152; vgl. auch die Erwähnung des C. Amafinius als des ersten bedeutenden römischen Epikureers mit aktiver Lehrpraxis und literarischer Betätigung
3.2 Eruditio und Scheitern des L. Manlius Torquatus in De finibus bonorum et malorum
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In dieselbe Kerbe schlägt Cicero, wenn er sich unmittelbar darauf anmaßt, kompetenter über die epikureische Lehre Auskunft geben zu können, als es die Anhänger dieser Philosophenschule selbst zu tun imstande sind. Beim Einschub, dass es ihm lediglich um die Suche nach der Wahrheit gehe, bestreitet Cicero den möglichen Vorwurf, dass er es nur darauf anlege, irgendeinen Widersacher zu widerlegen, und nennt schließlich L. Manlius Torquatus als perfektes Gegenbeispiel zu einem solchen adversarius aliquis. Ihn bezeichnet Cicero nicht nur als „sorgfältig“ (accuratus) bezüglich seiner Darlegung der epikureischen voluptas-Lehre, sondern sogar als homo omni doctrina eruditus. Das ändert zwar nichts daran, dass er letztlich von Cicero selbst trotz seines seriösen Auftretens und unbestreitbaren Kenntnisstandes widerlegt werden wird, aber diese Rühmung ist zweifellos nicht wie bei den entsprechenden Textstellen der Piso-Darstellung ironisch aufzufassen, zumal sich ungeachtet der philosophischen Differenzen auch im weiteren Verlauf der Rede kein Hinweis auf die Plausibiliät einer solchen Deutungsmöglichkeit findet. In dem Bestreben, eine möglichst sachliche Diskussion über verschiedene philosophi‐ sche Auffassungen des summum bonum zu führen und nicht den Eindruck einer Invektive auf persönlicher und politischer Ebene wie im Falle Pisos zu erneuern, ist Ciceros Wahl eines qualifiziert sprechenden Epikureers, mit dem er noch dazu in einem freundschaftlichen Verhältnis verbunden ist, überaus nachvollziehbar. Als ebenso aufschlussreich für die Einschätzung der ciceronischen Epiku‐ reer-Figur Torquatus erweist sich dessen erster Redeauftritt in Cic. fin. 1, 14, wo er sein kolloquiales Anliegen konkret vorbringt: Nam cum ad me in Cumanum salutandi causa uterque venisset, pauca primo inter nos de litteris, quarum summum erat in utroque studium, deinde Torquatus: ‘Quoniam nacti te’, inquit, ‘sumus aliquando otiosum, certe audiam quid sit quod Epicurum nostrum non tu quidem oderis, ut fere faciunt qui ab eo dissentiunt, sed certe non probes, eum quem ego arbitror unum vidisse verum maximisque erroribus animos hominum liberavisse et omnia tradidisse quae pertinerent ad bene beateque vivendum. Sed existimo te, sicut nostrum Triarium, minus ab eo delectari, quod ista Platonis, Aristoteli, Theophrasti orationis ornamenta neglexerit. Nam illud quidem adduci vix possum, ut ea quae senserit ille tibi non vera videantur’. (Cic. fin. 1, 14)
und den Hinweis auf die schnelle Verbreitung der epikureischen Lehre im Imperium Romanum in Cic. Tusc. 4, 6 f.; siehe dazu auch Anm. 2 in diesem Kapitel.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Mit dieser Gesprächsinitiative gibt Torquatus also den entscheidenden Impuls für die folgende philosophische Fachdiskussion, indem er die Gunst der Stunde und des gemeinsamen Zusammenkommens nutzen möchte, um die Gründe für Ciceros ablehnende Haltung gegenüber Epikur in Erfahrung zu bringen. Was ihn in Abgrenzung zu Piso und vielleicht auch zu Velleius in De natura deorum als homo vere doctus auszeichnet, ist seine Fähigkeit zur Differenzierung, die noch dazu bei der Beurteilung seines Antagonisten Cicero zum Vorschein kommt, da er ihm nicht odium, sondern lediglich dissensio im Hinblick auf die epikureische Lehre unterstellt. Damit grenzt er Cicero nicht nur von anderen Kritikern ab, die zu pauschalisierenden Urteilen neigen, sondern schafft sogleich die Basis für einen sachlichen und respektvollen Umgang mit seinem Gesprächspartner. Dies hindert Torquatus nicht daran, die Beweggründe für seine Präferenz der epikureischen Schule darzulegen:129 Der Gründer der Schule habe seiner Meinung nach die Wahrheit gesehen (vidisse verum), die Menschen von irrigen Annahmen befreit (maximisque erroribus animos hominum liberavisse) und ihnen alle Voraussetzungen für ein glückliches Leben verschafft (et omnia tradidisse, quae pertinerent ad bene beateque vivendum). Die einzige Schwäche, die man Epikur zum Vorwurf machen könne, aus der Sicht des Torquatus aber keinerlei Einfluss auf die Gültigkeit und den Nutzen seiner Lehre habe, liegt in den fehlenden orationis ornamenta, wodurch er sich von anderen führenden Philosophen in der griechischen Geschichte abgrenzt. Nachdem Cicero dem von Epikurs philosophischer Haltung völlig über‐ zeugten Torquatus130 zu verstehen gibt, dass er sich nicht an Redestil (oratio) und Wortwahl (verba) Epikurs störe, sondern der epikureischen Lehre schlichtweg dem Inhalt (res) nach nicht recht geben könne (1, 15), legt er auf Nachfrage des Torquatus seine Hauptkritikpunkte dar, indem er die einzelnen Teilgebiete der Philosophie abhandelt (1, 17–26). Von seinen Vorwürfen sei hier lediglich Ciceros Meinung erwähnt, dass Epikurs ethische Doktrin eine Unterminierung der Moral bedeute, weil sie den virtutes gleichgültig gegenüberstehe und sie nicht systematisch unterstütze. In dieser Aussage wird auch darauf hingewiesen,
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Diese Stellungnahme ist als polysyndetische Klimax gestaltet, mit deren Hilfe Torquatus die philosophische Leistung Epikurs in ihrem ganzen Ausmaß verdeutlichen will und damit zugleich unterstreicht, dass dessen Lehre in ihrem Nutzen für die Menschheit über jeden Zweifel erhaben ist. Vgl. Cic. fin. 1, 14: ‘[…] Nam illud quidem adduci vix possum, ut ea quae senserit ille tibi non vera videantur’.
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wie zahlreich zum damaligen Zeitpunkt die Anhängerschaft der Kepos-Lehre in Rom war.131 Erst als sich Cicero zu einer angemessenen Methodik bei der verbalen Auseinandersetzung um philosophische Standpunkte äußert, nimmt Torquatus durch seine Zustimmung den Gesprächsfaden wieder auf und erweist sich damit einerseits als höflicher Antagonist Ciceros, der die elementaren Grundregeln einer funktionierenden Kommunikation offenkundig beherzigt.132 Andererseits offenbart sich aber auch ein großes Selbstbewusstsein des ciceronischen Tor‐ quatus, wenn er den Gegenstand des folgenden Dialogs bestimmt (nunc dicam de voluptate) und für sich in Anspruch nimmt, den eloquenten Cicero für seine philosophische Position gewinnen zu können (ea tamen, quae te ipsum probaturum esse confidam) und mit seiner Entscheidung für eine oratio perpetua – und damit gegen eine interrogatio – auch die methodische Marschrichtung vorzugeben.133 Der Eindruck eines selbstbewusst auftretenden Redners wird sich bis zum Ende von Buch I fortsetzen. Da in dieser Arbeit der Fokus nicht so sehr auf die Beurteilung von Logik und Plausibilität der philosophischen Ausführungen des Torquatus über das Wesen der voluptas gelegt wird als vielmehr auf die Charakterisierung der Epikureer, die – wie in diesem Fall – auch in Form einer Selbstdarstellung durch die entsprechenden Protagonisten in Ciceros Dialog erfolgen kann, sei beim Lehrvortrag des Torquatus der Blick vor allem auf diesbezüglich aussagekräftige und aufschlussreiche Textpassagen gerichtet. In dieser Hinsicht bemerkenswert ist gleich der Beginn der Torquatus-Rede (1, 29–31), als sich Torquatus bei der konkreten Formulierung der thematischen Fragestellung, also der Suche nach 131
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Vgl. Cic. fin. 1, 25: ‘[…] Et quod quaeritur saepe, cur tam multi sint Epicurei, sunt aliae quoque causae, sed multitudinem haec maxime allicit, quod ita putant dici ab illo, recta et honesta quae sint, ea facere ipsa per se laetitiam, id est voluptatem. Homines optimi non intellegunt totam rationem everti, si ita res se habeat. Nam si concederetur, etiamsi ad corpus nihil referatur, ista sua sponte et per se esse iucunda, per se esset et virtus et cognitio rerum, quod minime ille vult, expetenda’. Auch im weiteren Verlauf des Dialogs lässt Cicero durchscheinen, welch große Resonanz in Rom der Epikureismus in dieser Zeit offenbar erfahren hat; vgl. Cic. fin. 2, 44; 49. Vgl. Cic. fin. 1, 28: Tum Torquatus: ‘Prorsus’, inquit, ‘assentior; neque enim disputari sine reprehensione nec cum iracundia aut pertinacia recte disputari potest. Sed ad haec, nisi molestum est, habeo quae velim’. […]; vgl. auch Gigon/Straume-Zimmermann (1988) 422. Vgl. dazu Cic. fin. 1, 28. Auch das emphatische probabo des Torquatus nach Ciceros Einwilligung zu Beginn von Cic. fin. 1, 29 ist Ausdruck dieses epikureischen Selbstbe‐ wusstseins, welches sich zwar auf die inhaltliche Logik der voluptas-Doktrin, jedoch offenbar nicht zwingend auf deren methodische Darstellung bezieht; vgl. dazu Annas (2016) 5: „Torquatus, the Epicurean spokesman, is portrayed as loyally committed to his position but unpractised in argument, and Cicero takes the opportunity to run down Epicurus’ whole philosophy as amateur and clumsy“.
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dem extremum et ultimum bonorum, explizit auf den Gründer des Kepos beruft und mit der voluptas als summum bonum und dem dolor als summum malum ein an kontradiktorischen Extremen orientiertes Grundgerüst der epikureischen Ethik in den Raum stellt, der an den Titel von Ciceros Dialog erinnert.134 Der unmittelbar anschließende Beweis, den Epikur offenbar für diese theo‐ retische Grundkonstellation ins Feld geführt hat und der sich beispielsweise mit der Beschreibung des idealen Epikureers im Brief an Menoikeus in Einklang bringen lässt, fußt auf dem sogenannten ‚cradle argument‘: Das Streben nach der voluptas als höchstem Gut sei genauso wie die Vermeidung des dolor als größtem Übel in der Natur eines jeden Lebewesens (omne animal), das noch keine äußeren Einwirkungen erfahren habe (ipsa natura incorrupte atque integre iudicante), verankert (1, 30). Die Notwendigkeit eines anderen logischen Beweises durch wissenschaftliche Erörterung sei aufgrund der Evidenz dieser sensualistischen Grunderfahrung hinfällig. Daraus leitet Epikur bzw. Torquatus eine Differenzierung der Erkenntnismethoden in Abhängigkeit von der Erkenn‐ barkeit des zu erforschenden Themengegenstandes ab, die zu einem trinären Modell der epikureischen Methodik führt: Wege zur Erkenntnis stellen entweder die Dialektik nach dem Kriterium der logischen Schlussfolgerung (argumentum conclusioque rationis), die bloße Sinneswahrnehmung (mediocris animadversio atque admonitio bzw. sensus) oder das instinktive Verhalten (natura) dar.135 Neben einer Differenzierung nach der Methodik thematisiert Torquatus aller‐ dings auch die unterschiedliche Einstellung zur methodischen Vorgehensweise unter den epikureischen Anhängern (1, 31): der mit der orthodoxen Lehrmei‐ nung Epikurs eng verknüpfte Primat der (sinnlichen) Evidenz, das Postulat nach rationaler Argumentation auf der Basis des πρόληψις-Gedankens und zu guter Letzt – und dieser Gruppe ordnet sich Torquatus auch selbst zu – die Bereitschaft zur offenen dialektischen Auseinandersetzung aus bloßem Interesse am philo‐ sophischen Diskussionsgegenstand.136 Der ciceronische Torquatus zeigt also nicht nur auf, dass man innerhalb der epikureischen Schule von ihrer Gründung an bis zu ihrer Etablierung in Rom durchaus verschiedener Ansicht sein konnte, was die Erkenntnismethode angeht, sondern er distanziert sich durch seine klare Stellungnahme sogar in einem gewissen Maß von der Haltung des verehrten 134 135 136
Es liegt nahe, hinter dieser von Torquatus zitierten Ausgangsthese Epikurs Werk Περὶ τέλους als Quelle zu vermuten, wie es u. a. Gigon/Straume-Zimmermann (1988) 422 tun. Vgl. dazu erneut Cic. fin. 1, 30. Vgl. Cic. fin. 1, 31: ‘[…] Alii autem, quibus ego assentior, cum a philosophis compluribus permulta dicantur cur nec voluptas in bonis sit numeranda nec in malis dolor, non existimant oportere nimium nos causae confidere, sed et argumentandum et accurate disserendum et rationibus conquisitis de voluptate et dolore disputandum putant’.
3.2 Eruditio und Scheitern des L. Manlius Torquatus in De finibus bonorum et malorum
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Schulgründers Epikur. Dieser hatte nämlich im originalen Wortlaut bei Cicero bzw. nach den Worten des Torquatus Folgendes geäußert: ‘[…] Itaque [sc. Epicurus] negat opus esse ratione neque disputatione quam ob rem voluptas expetenda, fugiendus dolor sit: […]’ (Cic. fin. 1, 30)
Der differenzierende Blick des Torquatus auf die eigene philosophische Schule ist insofern bermerkenswert, da sie den verbreiteten Vorwurf der bedingungs‐ losen Orthodoxie innerhalb der epikureischen Anhängerschaft relativiert und zumindest in der Person des Torquatus einen offeneren Umgang mit philoso‐ phischen Grundsatzthemen beweist, als es offenbar noch zur Zeit des frühen Epikureismus in Griechenland der Fall war. Das spricht gerade dafür, dass Tor‐ quatus nach Ciceros Kritik dem Vorwurf von außen entgegenwirken möchte.137 3.2.2 Torquatus und die dialecticae captiones in Buch II Ungeachtet dieser durchaus positiven Darstellung des Torquatus als wissen‐ schaftlich reflektiert agierenden Epikureer gelingt es Cicero natürlich, den methodischen Schwachpunkt der Argumentation des Torquatus ausfindig zu machen: Gerade an dessen voluptas-Definition wird Cicero als Wort führender Antagonist in Buch II nämlich beweisen, dass hier die Regeln der Logik aus seiner Sicht ganz offensichtlich verletzt sind, und die Schwächen des Torquatus in der dialektischen Gesprächsführung offenlegen.138 137
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Vgl. Spahlinger (2005) 79: „Insgesamt erweist sich in der Argumentation Torquatus als orthodoxer Epikureer, der aber insofern sich von Velleius unterscheidet, als er die argumentative Auseinandersetzung mit den Gegnern sucht und auf einen ähnlichen polemischen Ton verzichtet“. Beim Vergleich der beiden epikureischen Vertreter in De natura deorum (Velleius) und in De finibus bonorum et malorum (Torquatus) bemerkt Spahlinger (2005) 79 weiter: „Damit erweist sich ungeachtet aller dogmati‐ schen Übereinstimmung zwischen Velleius und Torquatus, die auch im Verzicht auf poetische Zitate sichtbar wird, eine sorgfältige Differenzierung des Autors Cicero bei der Personengestaltung dieser beiden Epikureer, des polemischen, radikal-orthodoxen Schulvertreters Velleius einerseits und des konzilianten, mit einer gewissen comitas auftretenden, um nichts weniger orthodoxen Torquatus andererseits“. Vgl. u. a. Müller (2020) 75 f.; Leonhardt (1999) 211. Der Vorwurf einer fehlenden bzw. sogar falschen Definition des Diskussionsgegenstandes richtet sich vornehmlich gegen Epikur selbst, wie etwa Cic. fin. 2, 4–6 verdeutlichen. Auch Ciceros Anmerkung, dass Epikur durch seine Selbstbezeichnung als sapiens selbst in Abgrenzung zu seinem berühmtesten Schüler Metrodor zu Arroganz geneigt habe (Cic. fin. 2, 7), unterstreicht die wiederholte Kritik an Epikur; dazu auch Cic. fin. 2, 15. Auch die Kritik der vernachlässigten Dialektik ist nicht nur an Torquatus im Speziellen, sondern an die Epikureer im Allgemeinen gerichtet; siehe dazu Cic. fin. 2, 18.
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Zunächst kommentiert Cicero die Ausführungen des Torquatus mit einer anerkennenden und doch recht beiläufigen Äußerung über dessen Vortrags‐ weise und Redeinhalt (admodum delectatus sum eius oratione perpetua).139 Dabei distanziert er sich von der von Torquatus gewählten Methodik, der oratio perpetua, die er ihm in Buch I noch freigestellt hat, und zwar zugunsten eines vorteilhaften kleinschrittigen Vorgehens (interrogatio), welches eine bessere Verständlichkeit gewährleiste, und setzt damit bereits zu seiner schon hier nur wenig verhüllten Kritik an: ‘Nos commodius agimus. Non enim solum Torquatus dixit quid sentiret, sed etiam cur. Ego autem arbitror, quamquam admodum delectatus sum eius oratione perpetua, tamen commodius, cum in rebus singulis insistas et intellegas quid quisque concedat, quid abnuat, ex rebus concessis concludi quod velis et ad exitum perveniri. Cum enim fertur quasi torrens oratio, quamvis multa cuiusque modi rapiat, nihil tamen teneas, nihil apprehendas, nusquam orationem rapidam coerceas. […]’ (Cic. fin. 2, 3)
Obwohl Cicero also in fin. 1, 13 Torquatus zwar bescheinigt hatte, die epiku‐ reische Lehre accurate darzulegen, macht er zu Beginn von Buch II erneut keinen Hehl daraus, dass seine dialektische Herangehensweise zielführender und strukturierter sei und nicht keine quasi torrens oratio nach der Façon des Torquatus gehalten werde.140 Über diese Kritik an der Methodik hinaus rückt Cicero allerdings den unklar gebliebenen voluptas-Begriff in den Fokus, indem er eine allgemeine Definition vorbringt, der Torquatus sogleich indirekt seine Zustimmung gibt: ‘[…] Omnes enim iucundum motum, quo sensus hilaretur, Graece ἡδονήν, Latine voluptatem vocant’. […] (Cic. fin. 2, 8)
Unter den Prämissen, dass ἡδονή und voluptas zwei verschiedensprachige Termini sind, die in ihrer Bedeutung jedoch völlig identisch sind,141 und dass voluptas gemeinhin in eine laetitia in animo und in eine commotio suavis 139 140
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Vgl. Leonhardt (1999) 40. Eine ähnliche Respektsbezeugung findet sich in Cic. fin. 2, 7. Vgl. ebd. Der Dialogverlauf in Buch II von De finibus bonorum et malorum erinnert nicht zufällig an die aus den platonischen Dialogen vertraute Gesprächsführung des Sokrates. Einen aufschlussreichen Vergleich der Gesprächsführung in De finibus bonorum et malorum II und in Tusculanae disputationes I legt Müller (2020) 74–80 dar. Zur Problematik dieser undifferenzierten und absoluten Gleichsetzung siehe Boer (1984) 339: „If we turn from ‚ἡδονή‘ to ,voluptas‘, we find ourselves again beset by problems, because the Latin word is often (although not exclusively) used for sensual pleasure. In Epicurus’ philosophy the notion of ,ἡδονή‘ is inconceivable wi‐
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iucunditatis in corpore unterschieden wird (also eine geistig-seelische und eine sinnlich-körperliche Komponente umfasse), gibt Cicero einerseits zu bedenken, dass der voluptas-Begriff im römischen Sprachgebrauch in der Regel ausschließ‐ lich auf den zweiten Bedeutungskontext bezogen werde.142 Auch wenn ein Transfer auf den seelischen Bereich stattfinde, bliebe andererseits wiederum eine entscheidende Frage offen: Ist es vor dem Hintergrund einer Theorie wie der des Hieronymus Rhodius, der zwischen der Schmerzfreiheit (nihil dolere) als höchstem Gut (finis)143 und der nicht weiter erstrebenswerten voluptas eine klare Trennlinie zieht,144 überhaupt legitim, diese beiden Begriffskonzepte als identisch anzusehen? Mit dieser alternativen Anschauung, die eine scharfe Begriffsdifferenzierung vornimmt, betont Cicero zugleich seine Forderung nach einem breit gefächerten Zwischenzustand zwischen voluptas und dolor, der ihren Status als kontra‐ diktorische Gegensätze maßgeblich relativiert und die absolute Stellung der (katastematischen) voluptas aufhebt.145 Schließlich verfehle auch die anhand des Durst-Gleichnisses in Cic. fin. 2, 9 veranschaulichte Unterscheidung in eine katastematische und in eine kinetische voluptas,146 die ohnehin nicht mit ein und
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thout ,ἀταραξία‘ […]. Because ,voluptas‘ so often has a broader meaning, its use as translation for ,ἡδονή‘ has led to misunderstanding“. Vgl. Cic. fin. 2, 13. Einer wie auch immer zustandekommenden Missdeutung des epiku‐ reischen ἡδονή-Gedankens versuchte schon Epikur im Brief an Menoikeus vorzubeugen: […] Ὅταν οὖν λέγομεν ἡδονὴν τέλος ὑπάρχειν, οὐ τὰς τῶν ἀσώτων ἡδονὰς καὶ τὰς ἐν ἀπολαύσει κειμένας λέγομεν, ὥς τινες ἀγνοοῦντες καὶ οὐχ ὁμολογοῦντες ἢ κακῶς ἐκδεχόμενοι νομίζουσιν, ἀλλὰ τὸ μήτε ἀλγεῖν κατὰ σῶμα μήτε ταράττεσθαι κατὰ ψυχήν (Epik. Men. 131). Gleich darauf wird überdies das Primat der auf die ψυχή bezogene ἀταραξία unterstrichen: οὐ γὰρ πότοι καῖ κῶμοι συνείροντες οὐδ’ ἀπολαύσεις παίδων καὶ γυναικῶν οὐδ’ ἰχθύων καὶ τῶν ἄλλων ὅσα φέρει πολυτελὴς τράπεζα, τὸν ἡδὺν γεννᾷ βίον, ἀλλὰ νήφων λογισμὸς καὶ τὰς ἀιτίας ἐξερευνῶν πάσης αἱρέσεως καὶ φυγῆς καὶ τὰς δόξας ἐξελαύνων, ἐξ ὧν πλεῖστος τὰς ψυχὰς καταλαμβάνει θόρυβος. […] (Epik. Men. 132). Im Übrigen kann auch in De finibus bonorum et malorum trotz einer engen Relation nicht von einer Gleichstellung von körperlichen und seelischen voluptates sein, wie es beispielsweise Berner (2000) 123 in seiner Abhandlung über Plutarchs Kritik an Epikurs Ethik suggeriert; vgl. Cic. fin. 1, 55–57. Das lateinische Wort finis, das schon im Titel von Ciceros Dialog den thematischen Hauptgegenstand angibt, bildet das lateinische Pendant zum weiter verbreiteten grie‐ chischen terminus technicus τέλος. Vgl. Cic. fin. 2, 8. Vgl. Cic. fin. 2, 16; diese Differenzierung wird darüber hinaus in Cic. fin. 1, 37, 2, 32 und 2, 75–77 konkret angesprochen. Obwohl Seneca in De vita beata die voluptas als geeignetes summum bonum kategorisch ausschließt, weil er sie als etwas extrem Unbeständiges und schnell Vergängliches ansieht (Sen. dial. 7, 7, 4: […] At voluptas tunc cum maxime delectat extinguitur; non multum loci habet, itaque cito inplet et taedio est et post primum impetum marcet. […]), relativiert
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demselben Begriff erfasst werden könne, die angestrebte Identität von vacuitas doloris und voluptas.147 Im Übrigen zeigt sich die unscharfe Begriffsverwendung, die der epikurei‐ schen Schule hier in Gestalt des Torquatus vorgehalten wird, bereits in der Formulierung, die Cicero dem Torquatus bei dessen voluptas-Definition in fin. 1, 37 in den Mund legt.148 Nachdem Torquatus dort die bekannte Gleichsetzung von maxima voluptas und omnis dolor detractus zur Sprache bringt, führt er nämlich weiter aus: ‘[…] Nam quoniam, cum privamur dolore, ipsa liberatione et vacuitate omnis molestiae gaudemus, omne autem id quo gaudemus voluptas est, ut omne quo offendimur dolor, doloris omnis privatio recte nominata est voluptas. […]’ (Cic. fin. 1, 37)
Obwohl mit den beiden Begriffen liberatio als Bezeichnung für den Prozess und vacuitas als dem daraus resultierenden Zustand die im Verlauf des Werkes präzisierte Differenzierung zwischen kinetischer und katastematischer voluptas angedeutet wird,149 bleibt der genaue ethische Stellenwert, den die Epikureer
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er kurz darauf seine Kritik an der epikureischen voluptas und unterscheidet dabei die ‚innere‘, aus der orthodoxen Auslegung der Lehre hervorgehende voluptas von der ‚nach außen sichtbaren‘, Verderben bringenden voluptas: […] Hoc est cur ista voluptatis laudatio perniciosa sit, quia honesta praecepta intra latent, quod corrumpit apparet (Sen. dial. 7, 12, 5). Noch konkreter wird diese Differenzierung in Sen. dial. 7, 13, 4 formuliert: […] nisi aliquis distinxerit illi voluptates, ut sciat quae ex eis intra naturale desiderium resistant, quae praeceps ferantur infinitaeque sint et quo magis inplentur eo magis inexplebiles. Vgl. Cic. fin. 2, 16; siehe dazu auch Ciceros Plädoyer für ultima bonorum iuncta kurz darauf (Cic. fin. 2, 19) als alternativen Lösungsvorschlag für die von ihm problemati‐ sierte Gleichsetzung von voluptas und indolentia durch die epikureische Schule. Diese setzt an der genannten Stelle mit der markanten Formulierung Nunc autem explicabo voluptas ipsa quae qualisque sit […] ein. Die der epikureischen Schule zugeschriebene Unterscheidung dieser beiden vo‐ luptas-Arten ist hauptsächlich in Ciceros De finibus bonorum et malorum und den Philosophenviten des Diogenes Laertios überliefert. Angesichts der geringen Menge an Werken, die von Epikur selbst erhalten sind, flammt die Frage um die nachweisbare Authentizität der Lustdifferenzierung in der epikureischen Schule immer noch hin und wieder auf; vgl. Evenepoel (2014) 50, der exemplarisch die Positionen von Stokes (1995) (Lustdifferenzierung als authentischer Bestandteil der epikureischen Lehre, deren wichtigste Quelle Cicero bilde) und Nikolsky (2001) (Differenzierung sei Epikur erst nachträglich in einem Rekonstruktionsversuch der epikureischen Ethik zugeschrieben worden) einander gegenüberstellt. Szekeres (2006) 49, dessen Untersuchung, ob Ciceros vorgebrachte Argumente stichhaltig sind und mit der ursprünglichen ἡδονή-Lehre vereinbar sind, ergeben hat, „dass es keinen Grund gibt, den Quellenwert der cicero‐ nischen Aussagen anzuzweifeln“, kommt zu folgendem Schluss: „Seine Angaben, die die zwei Arten der voluptas betreffen, können wir also als authentisch annehmen –
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den beiden voluptas-Arten zuweisen, durch die Ambiguität der torquatischen Formulierung im Unklaren, zumal wenig später von der im obigen Textauszug schon erwähnten omnis privatio doloris als summa voluptas die Rede ist.150 Ob dieser Interpretationsspielraum aus Sicht des ciceronischen Torquatus bewusst so offen gehalten wird und ein rhetorischer Schachzug ist, darf bezweifelt werden; vielmehr wirkt es so, als ob Cicero seinen Dialogpartner und Antago‐ nisten durch diese Wortwahl als – zumindest an dieser Stelle – ungeschickt agierenden Repräsentanten einer von Cicero ohnehin abgelehnten Lehrmei‐ nung auftreten lässt. Doch nach dieser Auswahl an inhaltlichen und logischen Ungereimtheiten, die den Lehrvortrag des Torquatus an zahlreichen Stellen nicht nur für Cicero leicht angreifbar machen und die sich noch um einige Punkte erweitern ließen, sollte man noch genauer auf die Reaktion des Torquatus auf Ciceros Einwände in Buch II zu sprechen kommen, die ihn letztlich zwar als unterlegenen Redner, aber einsichtigen und weiterhin diskussionsbereiten Anhänger der epikureischen Schule erscheinen lässt. Als Cicero in fin. 2, 17 auf das bereits in fin. 2, 9 aufgerufene Durstgleichnis rekurriert, fährt Torquatus unwirsch dazwischen: […] Tum ille: ‘Finem’, inquit, ‘interrogandi, si videtur: quod quidem ego a principio ita me malle dixeram, hoc ipsum providens, dialecticas captiones’. […] (Cic. fin. 2, 17)
Damit knüpft Torquatus an seine Entscheidung für die oratio perpetua bezüglich seiner eigenen Ausführungen in fin. 1, 29 an und legt somit in der Darstellung Ciceros eine konsequente Haltung in seiner methodischen Präferenz an den Tag. Doch auch wenn er in diesem Punkt ganz legitim auf seine bereits eingeräumte Unterlegenheit in einer dialektischen Gesprächsführung zurück‐ verweist, überwiegt hier der Eindruck eines methodisch in die Enge getriebenen Gesprächspartners, der sich mit seinen Argumenten in einer Sackgasse befindet und sich nicht besser zu verteidigen versteht als die dialektische Vorgehensweise des Gegenübers zu kritisieren.151 Ohne jeden Zweifel dient diese vom Autor
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die daraus gezogenen Folgerungen aber wohl kaum“. Darüber hinaus finden wir bei Diog. Laert. 10, 136 zum Beleg der Lustdifferenzierung einige Quellen von Epikur und seinen Nachfolgern, die heute verloren sind (u. a. Περὶ αἱρέσεως; Περὶ τέλους); zur voluptas-Differenzierung bei Seneca (dial. 7, 12, 5; 13, 4) siehe Anm. 146 in diesem Kapitel. Vgl. Cic. fin. 1, 38: ‘[…] Omni autem privatione doloris putat Epicurus terminari summam voluptatem. […]’. Der Begriff privatio kann dabei sowohl den Prozess als auch das Ergebnis bezeichnen. Vgl. dazu auch Leonhardt (1999) 40.
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eingeflochtene Reaktion des Torquatus Cicero nicht zuletzt als Gelegenheit, sich selbst als methodisch flexiblen und in der Dialektik überlegenen Dialogpartner zu profilieren und die Aporie des Torquatus direkt auf Epikurs angebliche Erklärungsnot zu projizieren.152 Als es Cicero und Triarius kurz darauf bei der wörtlichen Wiedergabe einer Sentenz aus Epikurs Κύριαι δόξαι (Epik. sent. rat. 10)153 darum geht, dem Torquatus eine Stellungnahme und Bestätigung zu entlocken, zeigt sich dieser wieder so selbstbewusst wie in seinem Epilog am Ende von Buch I: […] At ille non pertimuit saneque fidenter: ‘Istis quidem ipsis verbis’, inquit; ‘sed quid sentiat non videtis’. […] (Cic. fin. 2, 21)
Wie ein orthodoxer Gefolgsmann seines philosophischen Lehrmeisters, der an den Velleius in De natura deorum erinnert,154 stellt sich Torquatus an dieser Stelle also vehement hinter die von Epikur überlieferten Lehrsätze und hält seinen Dialogpartnern etwas beleidigt und vorwurfsvoll vor, den Äußerungen Epikurs nicht folgen zu können. Dieser einberechnete Zwischenruf des Torquatus fun‐ giert indes erneut als Katalysator für Ciceros ausführliche Kritik – die folgende oratio perpetua Ciceros nach der Forderung des Torquatus, in die zum besseren Verständnis immer wieder Zitate von Torquatus aus Buch I und insbesondere von Epikur eingestreut sind, erstreckt sich von fin. 2, 21 bis 2, 119 – an der in der inhaltlichen Logik inkohärenten und im sprachlichen Ausdruck unklaren Darstellung, die letztlich auf Epikur selbst zurückgeht.155 Die problematische Außenwirkung der epikureischen Lehre macht Cicero in erster Linie am unpassenden und unklar bleibenden voluptas-Begriff fest. Dass ein solcher Ausdruck für die Bezeichnung des summum bonum nicht salonfähig sei, prangert Cicero bereits in einem anschaulichen Gleichnis an, als er gleich zu Beginn von Buch II Kritik an der voluptas-Definition übt:
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Vgl. dazu Cic. fin. 2, 18. Vgl. dazu Leonhardt (1999) 99–102. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 18: Tum Velleius fidenter sane, ut solent isti, nihil tam verens quam ne dubitare aliqua de re videretur, tamquam modo ex deorum concilio et ex Epicuri intermundiis descendisset […] inquit […]. Dass davon die „wohlwollendere Haltung der Cicero-Figur Torquatus gegenüber“ nicht beeinträchtigt wird, erläutert Müller (2020) 77, als er über Ciceros Wechsel von der dialektischen zur rhetorischen Gesprächsführung Folgendes anmerkt: „Die oratio perpetua bewirkt nur, dass diese [sc. die Rolle des unterlegenen Gesprächspartners] nicht mehr hervortritt, indem sie die Kritik der Cicero-Figur von der Person des Torquatus ganz auf die Lehre, die er vertritt, verlagert und er gewissermaßen aus der Schusslinie genommen wird“.
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‘Quid enim necesse est, tamquam meretricem in matronarum coetum, sic voluptatem in virtutum concilium adducere? Invidiosum nomen est, infame, suspectum. […]’ (Cic. fin. 2, 12)
Diese Textstelle deutet sogleich an, dass Cicero im Hauptteil von Buch II die beiden Begriffe virtus und voluptas nicht nur sprachlich definieren, sondern vor allem auch deren ethischen und gesellschaftlichen Stellenwert zum Thema machen möchte. In der sogenannten certatio virtutis et voluptatis (fin. 2, 45–62), in der anschließenden Beispielreihe (fin. 2, 63–66) und in dem Abschnitt über die Nachteile und die fehlende Anerkennung der voluptas (fin. 2, 67–77) führt Cicero seine voluptas-Kritik näher aus.156 Dabei wird Ciceros Strategie erkennbar, Torquatus zunächst mit lobenden Worten mehrfach seine Anerkennung auszudrücken, bevor er diese Wertung argumentativ in Kontrast zur epikureischen Teloslehre setzt. Dies lässt sich besonders gut an zwei Beispielen veranschaulichen: Zum einen wiederholt Cicero in fin. 2, 51 das von Torquatus in lateinischen Worten vorgebrachte Zitat von Epik. sent. rat. 5 und lobt dabei die Wortwahl des Torquatus, von der eine starke Wirkung (tanta vis) und eine inhaltliche Würde (propter earum rerum dignitatem) ausgingen. Für die Definition des epikurei‐ schen iucunde vivere greife Torquatus bzw. Epikur nämlich auf die Worte honeste, sapienter und iuste sowie auf die vier Kardinaltugenden zurück.157 Diese Verbindung mit den genannten Tugenden und anderen Wertbegriffe prangert Cicero dagegen vehement an, wenn man die Lebensmaxime mit dem Begriff der voluptas verbindet, wie es die Epikureer tun: ‘[…] officium, aequitatem, dignitatem, fidem, recta, honesta, digna imperio, digna populo Romano, omnia pericula pro re publica, mori pro patria. Haec cum loqueris, nos barones stupemus, tu videlicet tecum ipse rides: nam inter ista tam magnifica verba tamque praeclara non habet ullum voluptas locum […]. […]’ (Cic. fin. 2, 76f.)
Zum anderen sucht Cicero am Ende der eigentlichen certatio virtutis et voluptatis Torquatus persönlich davon zu überzeugen, dass seine eigene politische Karriere mit dem Konzept der voluptas nicht vereinbar sei und er demnach selbst nicht vom Streben nach voluptas geleitet worden sei:158
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Zur Gesamtdisposition von Buch II siehe v. a. Leonhardt (1999) 95f. Zur dienenden Funktion der Kardinaltugenden für die voluptas vgl. Cic. fin. 1, 42–53; zu Ciceros Kritik am epikureischen Verständnis von honestum siehe beispielsweise Karamanolis (2020) 152. Diesen Gedanken greift Cicero in fin. 2, 74 wieder auf.
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‘[…] Quid enim? Te ipsum, dignissimum maioribus tuis, voluptasne induxit, ut adoles‐ centulus eriperes P. Sullae consulatum? […]’ (Cic. fin. 2, 62)
Im Anschluss an diese Überlegung hält Cicero Torquatus zudem sein Gleichnis von den beiden Männern, die die höchste Form von voluptas bzw. dolor ver‐ spüren,159 und seine daraus abgeleitete Festlegung des summum bonum und des summum malum vor, indem er anhand von beispielgebenden Römern (fin. 2, 63–66) stattdessen die Vorzüge der virtus, die auch mal dolor nach sich ziehen kann, zur Geltung bringt. Mit diesen Argumenten will Cicero seinen Gesprächspartner schließlich davon überzeugen, dass das Konzept der voluptas mit der tatsächlichen Einstellung des Torquatus nicht übereinstimme und er sich selbst darauf überprüfen solle, ob er sich bei seinen Äußerungen in Wahrheit nicht verstelle.160 Doch erst am Ende von Buch II meldet sich Torquatus recht kleinlaut wieder zu Wort, nachdem Cicero in seinem Schlusswort (fin. 2, 109–118) die beiden Lebensmodelle der tranquillitas sine dolore und des mit aerumnae und labores verbundenen ruhmvollen Engagements für das allgemeine Wohlergehen (de omnibus gentibus optime merere) kontrastiv aufgezeigt und Torquatus dabei aufgefordert hat, seine und damit die epikureische Position mit all ihren Konsequenzen für die eigene Lebenspraxis nochmals zu überdenken (fin. 2, 118): […] Quae cum dixissem, ‘habeo’, inquit Torquatus, ‘ad quos ista referam et, quamquam aliquid ipse poteram, tamen invenire malo paratiores’. […] (Cic. fin. 2, 119)
Die von Cicero gebotene Möglichkeit, das Gespräch zu vertagen und nach erneuter Reflexion auf einer höheren Ebene mit überzeugenderen Argumenten fortzusetzen, ergreift Torquatus sichtlich dankbar. Dazu möchte er die in dieser Zeit führenden Persönlichkeiten des römischen Epikureismus aufsuchen und um Rat fragen, die Cicero sogleich richtig errät: Es handelt sich um Siron und Philodem, die er hochachtungsvoll als optimi nostri und homines doctissimi bezeichnet und zu denen er offenbar auch einen persönlichen Bezug hat (familiares nostri). Den Vorschlag Ciceros, ihre verbale Auseinandersetzung abschließend von dem ebenfalls anwesenden Triarius beurteilen zu lassen, lehnt Torquatus mit einer süffisanten Bemerkung auf dessen Schulzugehörigkeit ab:
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Damit nimmt er Bezug auf die Ausführungen des Torquatus in Cic. fin. 1, 40f. Vgl. v. a. Cic. fin. 2, 69; 77.
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[…] ‘iuro’, inquit adridens, ‘iniquum, hac quidem de re; tu enim ista lenius, hic Stoicorum more nos vexat’. […] (Cic. fin. 2, 119)
Torquatus muss sich also angesichts von Ciceros Argumenten gegen die epi‐ kureische voluptas-Auffassung vorerst geschlagen geben, was aber keinesfalls bedeutet, dass er sich von seinen philosophischen Ansichten in irgendeiner Form abbringen ließe.161 Sein stark geschwundenes Selbstbewusstsein und seine momentane Hilflosigkeit angesichts der vorgebrachten Argumente Ciceros sind jedoch nicht zu bestreiten.162 3.2.3 Die voluptas convicta in Buch III Bevor man aber ein hinreichendes Fazit über die ciceronische Darstellung des Epikur-Repräsentanten Torquatus ziehen kann, ist es nicht nur hilfreich, sondern auch der Vollständigkeit halber notwendig, die abschließende Beurtei‐ lung der epikureischen voluptas-Lehre durch den Autor und die Überleitung zur Konfrontation mit der stoischen Position zu berücksichtigen. Obwohl mit der Einigung über die Vertagung der Diskussion mit Torquatus und mit der vereinbarten Beendigung dieses Gesprächsabschnitts die Thematisierung der epikureischen Ethik eigentlich ihren Abschluss gefunden haben müsste, wird sie gleich zu Beginn von Buch III in Form eines Autorenkommentars erneut aufgegriffen: Voluptatem quidem, Brute, si ipsa pro se loquatur nec tam pertinaces habeat patronos, concessuram arbitror, convictam superiore libro, dignitati. […] (Cic. fin. 3, 1)
Das erste Wort, die voluptas, zieht nicht nur wegen seiner markanten Stellung im Satz noch einmal die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich, sondern auch durch ihre imaginierte Personifizierung zum Zwecke ihrer eigenen Stellung‐ nahme.163 Dieses Stilmittel dient Cicero allerdings nur dazu, den Vertretern der
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Dementsprechend schließt der Kommentar von Gigon/Straume-Zimmermann (1988) 481 zu Buch II mit den Worten: „Entschieden ist nichts, und es soll auch nichts als endgültig entschieden gelten“. Ganz anderes verhält es sich bei Velleius in De natura deorum, der nach seiner Widerlegung durch Cotta seine epikureische Position regelrecht aufgibt (Cic. nat. deor. 2, 1; 3, 95); siehe dazu v. a. Leonhardt (1999) 37f. Vgl. v. a. Leonhardt (1999) 35f. Die literarmythologische Tradition der personifzierten voluptas wurzelt insbesondere im Mythos des ‚Herakles am Scheideweg‘, der auf den Sophisten Prodikos von Keos zurückgeht und in Xenophons Memorabilien prominent überliefert ist (Xen. mem. 2, 1,
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voluptas-Lehre (und damit auch Torquatus), die als pertinaces patroni bezeichnet werden, ihre mangelnde Einsicht zur Anerkennung ihrer Niederlage, was die Plausibilität ihrer ethischen Theorie betrifft, vor Augen zu führen. Statt auf eine Vertagung einer noch unentschiedenen philosophischen Debatte drängt der Autor also ganz offensichtlich auf eine allgemein gebilligte Ablehnung der epikureischen Ethik, welche dieses Kapitel von Ciceros Dialog beenden soll. Nachdem er ungeachtet der Erklärungsversuche des Torquatus in Buch I164 seine Auffassung von der voluptas als unvereinbarem Gegenpol zur (stoischen) virtus erneuert, da der voluptas-Gedanke eine Präferenz für die dulcedo corporis gegenüber der gravitas animi atque constantia vorsehe,165 schickt sich Cicero zwar an, die voluptas-Ethik mit dem Hinweis auf den Ernst und die Sachlichkeit der Diskussion ad acta zu legen, gesteht ihr aber immerhin einen gewissen Geltungsspielraum zu (suis se finibus tenere iubeamus), der den eigentlichen Kompetenzbereich jedoch nicht überschreiten dürfe.166 Damit vertritt Cicero of‐ fenbar keine radikal stoische Position, obgleich er sowohl die Annahme von der voluptas bzw. der vacuitas doloris als summum bonum kategorisch ausschließt, da in beiden Fällen der virtus nur eine untergeordnete Rolle zugewiesen wird. Zum Abschluss der Auseinandersetzung mit Torquatus und der epikurei‐ schen Ethik zieht Cicero folgendes Fazit: […] Itaque quamquam in eo sermone qui cum Torquato est habitus non remissi fuimus, tamen haec acrior est cum Stoicis parata contentio: quae enim de voluptate dicuntur, ea nec acutissime nec abscondite disseruntur; neque enim qui defendunt eam versuti in disserendo sunt nec qui contra dicunt causam difficilem repellunt. […] nec enim in Torquati sermone quicquam implicatum aut tortuosum fuit, nostraque, ut mihi videtur, dilucida oratio. […] (Cic. fin. 3, 2f.)
Auch wenn er Torquatus also zu Beginn des Dialogs als akkurat sprechenden Repräsentanten der epikureischen Lehre eingeführt hat,167 sieht er sich in der Widerlegung seiner Argumente weitaus weniger gefordert als in der nun
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21–34); siehe dazu Kapitel 3.4.2. Eine variantenreiche Rezeption dieses Mythos findet sich u. a. bei Silius Italicus (Sil. 15, 18–128); siehe dazu Kapitel 3.4.1. Bei Apuleius wird Voluptas lediglich als Tochter von Psyche und Cupido erwähnt (Apul. met. 6, 24, 4). Dieser hebt vor allem die instrumentale Funktion der virtus auf dem Weg zur voluptas hervor (z. B. Cic. fin. 1, 42) und sucht auf diese Weise die stoische Anschauung und die Argumentationen von anderen Kritikern der voluptas-Lehre zu entkräften. Vgl. Cic. fin. 3, 1. Vgl. Gigon/Straume-Zimmermann (1988) 482. Vgl. Cic. fin. 1, 13.
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folgenden Auseinandersetzung mit dem Stoiker Cato. Diese Unterlegenheit der Epikureer wird sowohl auf ein inhaltliches als auch insbesondere auf ein dialektisches Defizit zurückgeführt: Da Epikureer wie Torquatus bei einer Diskssion nicht sehr geschickt bzw. methodisch unsicher aufträten und ihre Gegner schon in dieser Hinsicht vor keine große Herausforderung stellten, stießen sie mit der Verfechtung ihrer philosophischen Idee seiner Meinung nach schnell an ihre Grenzen. Trotz der damit verbundenen Kritik am methodisch anspruchslosen und kaum haltbaren Evidenzpostulat Epikurs klingt im letzten Urteil über den torquatischen Redestil (nec quicquam implicatum aut tortuosum) eventuell zu‐ mindest ein kleines Lob für dessen klare Darlegung der epikureischen Lehre und damit für dessen rhetorische Fähigkeiten durch. Dennoch zielt sicherlich auch diese Äußerung – im Kontrast zu den Stoikern, die sich eloquenter auszudrücken wissen und angeblich geschickter zu argumentieren verstehen168 – in erster Linie auf Ciceros Behauptung über die leichte Widerlegbarkeit der torquatischen Thesen ab. 3.2.4 Vergleichendes Fazit zu Ciceros Umgang mit Piso und Torquatus Bevor ein kurzer Vergleich über Ciceros Modellierung der Piso- und der Torquatus-Figur dieses Kapitel abschließt, soll der hohe Grad der Intertextualität zwischen De finibus bonorum et malorum und den epikureischen Lehrsätzen, den es bei den hier behandelten Texten jeweils herauszustellen gilt, auch noch an den Kriterien von Broich/Pfister festgemacht werden: So finden sich bereits in den hier zitierten Textstellen einige wörtliche Übernahmen aus den Κύριαι δόξαι, die in der Regel auch deutlich markiert und in ihrem Originalkontext (direkte Verweise auf Epikur) thematisiert werden (Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität und Selektivität). Die Diskussionsstruktur in Buch I und II ist maßgeblich von lateinischen Übersetzungen solcher Lehrsätze bzw. deren sinngemäßen Übernahmen geprägt (Strukturalität). Eine derart starke intertex‐ tuelle Verbindung zwischen einem lateinischen Text und den epikureischen Lehrsätzen ist zuvor in der (erhaltenen) lateinischen Literatur wohl nur bei Lukrez nachweisbar, was die Bedeutung von Ciceros Philosophica für die Modellierung epikureischer, aber auch anderen Schulen zugeordneter Figuren nochmals eindrücklich vor Augen führt.
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Vgl. Cic. fin. 3, 3: […] Stoicorum autem non ignoras quam sit subtile vel spinosum potius disserendi genus […].
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Wie sich schon länger herausgestellt hat, ist für Ciceros Modellierung des Torquatus die im Dialog wiederholt thematisierte Differenzierung von rheto‐ rischer und dialektischer Gesprächsführung von zentraler Bedeutung:169 Wäh‐ rend Torquatus schon zu Beginn des Dialogs als versierter Redner präsentiert wird, der die Lehre des Kepos in einer oratio perpetua darzulegen versteht und sich mit Cicero rhetorisch messen möchte, werden gerade in Buch II seine Defizite im Bereich der Dialektik offenkundig. Dass Torquatus trotz dieser methodischen Schwäche – letztlich ist er Cicero natürlich auch noch rhetorisch unterlegen – einen verbalen Schlagabtausch mit Cicero wagt, darf man erneut als übermäßiges Vertrauen der Epikureer in die evidente Überzeugungskraft ihrer Lehre deuten. Jenseits der offensichtlichen Diskrepanz zwischen Piso und Torquatus, was die ciceronische Figurendarstellung und die jeweils hergestellte Verbindung zum Epikureismus anbelangt (berechnender ‚Scheinepikureer‘ vs. seriöser Redner und Dialogteilnehmer), zeigt Cicero folglich in beiden Fällen ein klares Schema im Umgang mit Vertretern des Kepos: Die Ethik wird dadurch in Misskredit gebracht, dass die Grundlage, nämlich die Definition des Lustbegriffs, nicht angemessen geleistet werden kann – und zwar hauptsächlich aufgrund des mangelnden dialektischen Geschicks beider Antagonisten bzw. der Epikureer im Allgemeinen.170 Das hat für die Außenwirkung und damit die Autorität der Lehre in der römischen Gesellschaft schwere Nachteile. Wenn Cicero gerade für die grundlegende Diskussion in De finibus bonorum et malorum eine seriöse Person der römischen Republik wählt, muss man das ernst nehmen; denn hier kann Cicero die Problematik der Außenwirkung des Epikureismus mit Nachdruck demonstrieren.
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Am deutlichsten trifft Cicero diese Unterscheidung, als er in Cic. fin. 2, 17 folgende Frage an Torquatus richtet: […] ‘Rhetorice igitur’ inquam ‘nos mavis quam dialectice disputare?’ […]. Im selben Abschnitt bezieht er sich dabei auf ein peripatetisch-stoisches Gleichnis: ‘[…] Omnem vim loquendi […] in duas tributam esse partes, rhetoricam palmae, dialecticam pugni similem esse dicebat, quod latius loquerentur rhetores, dialectici autem compressius. […]’. Vgl. v. a. Leonhardt (1999) 40; 211. In Cic. fin. 2, 18 äußert Cicero diesen Kritikpunkt konkret: ‘Sed dum dialecticam, Torquate, contemnit Epicurus, quae una continet omnem et perspiciendi quid in quaque re sit scientiam et iudicandi quale quidque sit et ratione ac via disputandi, ruit in dicendo, ut mihi quidem videtur, nec ea, quae docere vult, ulla arte distinguit […]’.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz Wie bereits mehrfach veranschaulicht hat der Epikureer-Typus nicht allein in die rhetorischen und philosophischen Schriften Ciceros, sondern mehr oder weniger direkten Eingang auch in die römische Dichtung gefunden.171 Um die kreative Rezeption der epikureischen voluptas im letzten vorchristlichen Jahr‐ hundert zu beobachten, stellt sich neben dem plakativ epikureischen Lehrge‐ dicht des Lukrez vor allem ein Blick in die augusteische Literatur als lohnenswert heraus. Beispielsweise hat sich der römische Dichter Horaz gegenüber Tibull bekanntermaßen einmal als „Schweinchen aus der Herde Epikurs“ (Epicuri de grege porcu[s])172 bezeichnet und damit einen weitreichenden Anstoß zu einer fortwährenden Diskussion über seine philosophische Einordnung gegeben, die nach wie vor umstritten ist.173 Während der voluptas-Begriff in den Oden und Epoden trotz der Dichte an epikureischem Gedankengut allerdings kein einziges Mal explizit genannt wird – sicher aber immer wieder in anderslautenden Umschreibungen zu erkennen ist –, kommt der Begriff selbst in den Satiren und Episteln an sieben Stellen vor.174 Auf diese Passagen muss die Aufmerksamkeit vornehmlich gerichtet werden, insofern dort die voluptas in Zusammenhang mit einer bestimmten Person oder Personengruppe gebracht wird und in erkennbarer Weise aus dem epikureischen Kontext herrührt oder zumindest als terminus technicus in einem allgemein philosophischem Zusammenhang verwendet ist. Eine explizite und eindeutige Kategorisierung der betreffenden Protagonisten als Epikureer wird man jedoch – anders als noch bei Cicero, der bei Piso aus politischem und rhetorischem Kalkül bzw. bei Torquatus aus methodischen Gründen der Dialektik in einem philosophischen Dialog so verfahren war – bei Horaz nicht vorfinden, vielmehr treffen hier Charakteristika und Haltungen verschiedener
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Siehe dazu Kapitel 2.3.–2.5. Vgl. dazu Hor. epist. 1, 4, 15f. Vgl. dazu u. a. Calboli (2013) 511–521; Müller (1993) 123–137 bzw. Müller (1985) 158–167; Lebek (1981) 2031–2092; Gantar (1972) 5–24; DeWitt (1939) 127–134. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Stellen: Hor. epist. 1, 2, 55: Sperne voluptates: nocet empta dolore voluptas; epist. 1, 6, 63f.: […] remigium vitiosum Ithacensis Ulixei, / cui potior patria fuit interdicta voluptas; epist. 2, 1, 187f.: verum equitis quoque iam migravit ab aure voluptas / omnis ad incertos oculos et gaudia vana; epist. 2, 2, 138–140: […] ‘pol me occidistis, amici, / non servastis’ ait, ‘cui sic extorta voluptas / et demptus per vim mentis gratissimus error’; ars (= epist. 2, 3) 338: ficta voluptatis causa sint proxima veris; sat. 1, 2, 39: […] multo corrupta dolore voluptas; sat. 2, 2, 19f.: […] non in caro nidore voluptas / summa, sed in te ipso est […].
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Philosophenschulen aufeinander, die jeweils der Gesamtaussage eines horazi‐ schen Einzelwerks dienen. 3.3.1 Odysseus als utile exemplar in Hor. epist. 1, 2 In den beiden genannten Horaz-Briefen (Hor. epist. 1, 2; 1, 6) wird der vo‐ luptas-Begriff tatsächlich in einer ethischen175 Dimension gebraucht und jeweils in den gleichen mythologischen Kontext (in Verbindung zu Odysseus) gerückt. In epist. 1, 2 werden die Handlungsstränge in den beiden homerischen Epen, der Ilias und der Odyssee, in moralphilosophischer Hinsicht gedeutet und dabei einander kontrastiv gegenübergestellt. Zu Beginn dieser Versepistel berichtet der horazische Dichter seinem Adres‐ saten von seiner wiederholten Homer-Lektüre, wobei er dem Epiker und seinem Werk neben der literarischen Ästhetik auch eine ethische Aussagekraft aufgrund der beispielhaften Figureninszenierung zuspricht:176 Fabula, qua Paridis propter narratur amorem Graecia barbariae lento collisa duello, stultorum regum et populorum continet aestus. Antenor censet belli praecidere causam. quid Paris? ut salvus regnet vivatque beatus cogi posse negat. Nestor componere litis inter Peliden festinat et inter Atriden; hunc amor, ira quidem communiter urit utrumque. quidquid delirant reges, plectuntur Achivi. seditione, dolis, scelere atque libidine et ira Iliacos intra muros peccatur et extra. rursus quid virtus et quid sapientia possit, utile proposuit nobis exemplar Ulixen, qui domitor Troiae multorum providus urbis et mores hominum inspexit latumque per aequor, dum sibi, dum sociis reditum parat, aspera multa pertulit, adversis rerum immersabilis undis.
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Zur zentralen Bedeutung ethischer Gedankengänge bei Horaz vgl. Lebek (1981) 2033: „Es […] soll aber noch einmal nachdrücklich betont werden, dass Horaz bei der Adaptation philosophischen Gedankenguts im allgemeinen und epikureischer Lehre im Besonderen fast ausschließlich an der Ethik interessiert ist“. Im Text ist auf der einen Seite das Verhalten der Könige und Völker (Unterstreichung) und auf der anderen Seite das Verhalten und die Charakterisierung des Odysseus (Fettdruck) hervorgehoben.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
Sirenum voces et Circae pocula nosti; quae si cum sociis stultus cupidusque bibisset, sub domina meretrice fuisset turpis et excors, vixisset canis immundus vel amica luto sus. (Hor. epist. 1, 2, 6–26)
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Während das Verhalten der iliadischen Kriegstreiber um Agamemnon und Achill unter ethischen Gesichtspunkten negativ bewertet und dabei mit Be‐ griffen wie scelus, libido und ira in Verbindung gebracht wird (V. 6–16),177 tritt mit Odysseus ein utile exemplar im Zeichen von virtus und sapientia in Erscheinung, da er zahlreiche labores auf sich nimmt, um sich und seinen Gefährten die gemeinsame Heimkehr zu ermöglichen, und für dieses Ziel anders als die Letztgenannten178 mehreren Verführungsversuchen göttlicher Urheberschaft erfolgreich standhält (V. 17–26). Der König von Ithaka glänzt auf seinem langen und gefahrvollen Rückweg in die Heimat durch ein besonnenes Vorgehen und die Überwindung verlockender Entscheidungsalternativen (z. B. beim Gesang der Sirenen oder den Zaubergetränken der Kirke), die dem großen übergeordneten Ziel, der Heimkehr nach Ithaka und dem Wiedersehen mit seiner Frau Penelope, entgegenstehen.179 Nachdem der horazische Ich-Sprecher diese ethische Allegorese der zen‐ tralen Handlungsfiguren in Ilias und Odyssee durchgeführt hat, folgt die phi‐ losophische Selbst- und Gesellschaftskritik: Ein auf rein körperliche Genüsse ausgerichteter und von Trägheit und Maßlosigkeit geprägter Lebensstil wird vehement getadelt und zur geistigen Betätigung und zum Streben nach einer besonnenen, aktiven und mit ethischen Prinzipien vereinbaren Lebensführung scharf abgegrenzt (V. 27–43). Daran anschließend wird die avaritia thematisiert, d. h. die maßlose Gier nach Geld und Grundbesitz unter Vernachlässigung von körperlicher Gesundheit und Seelenheil: Materielle Habseligkeiten können über körperliche und seelische Leiden nicht hinwegtäuschen (V. 44–53). In diesem Abschnitt in der horazischen Versepistel fällt der voluptas-Begriff endlich explizit – und das gleich zweimal in einem Vers: qui cupit aut metuit, iuvat illum sic domus et res ut lippum pictae tabulae, fulmenta podagrum,
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Vgl. Hor. epist. 1, 2, 15. Ferner ist in V. 8 von einem stultorum regum et populorum […] aestu[s] die Rede. Vgl. Hor. epist. 1, 2, 24. Odysseus steht also sowohl in Kontrast zu den anderen Kriegsteilnehmern in Troja als auch zu seiner eigenen Schiffsmannschaft. Auch in der Stoa gilt Odysseus zusammen mit Herkules als moralisches Vorbild: So tritt er u. a. in Sen. dial. 2, 2, 1 (= De constantia sapientis) als contemptor voluptatis auf.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
auriculas citharae collecta sorde dolentis. sincerum est nisi vas, quodcumque infundis acescit. Sperne voluptates: nocet empta dolore voluptas. (Hor. epist. 1, 2, 51–55)
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Die ethische Aufforderung sperne voluptates an Lollius in V. 55 mit der negativ konnotierten Pluralform ist zunächst überraschend, da sie doch eher stoisch klingt.180 In der Präzisierung nocet empta dolore voluptas mit Beachtung des Lustkalküls wird die epikureische Sinnrichtung wiederhergestellt: Die Freiheit von Schmerz ist das oberste Ziel. Dass man bis zur Trithemimeres in diesem Vers eine rein stoische Deutung vermuten könnte (sperne voluptates), die aber durch den entscheidenden Nachsatz nocet empta dolore voluptas noch ins epikureische Licht gerückt wird, kann hier exemplarisch für die horazische Intertextualität im Umgang mit dem Gedankengut traditionsreicher Philosophenschulen ver‐ standen werden. Diese insgesamt also epikureisch ‚gefärbte‘ Maxime illustriert der horazische Ich-Sprecher sogleich ex negativo mit der Warnung vor drei stereotypen Cha‐ raktereigenschaften (V. 56–63), die moralphilosophisch zu den vitia gerechnet werden: Erwähnt werden in diesem Fall der Geizige (avarus), der Neidische (invidus) und der Zornige (qui non moderabitur irae). Das Tier-Gleichnis mit dem protreptischen Aufruf an den Philosophieschüler Lollius rundet das moralphi‐ losophische Gedicht des Horaz ab (V. 64–71). Der Rückbezug der in V. 55 formulierten Mahnung auf die zuvor darge‐ legten mythologischen exempla ist evident: Während die kriegstreibenden Hauptakteure vor Troja und auch die Gefährten des Odysseus unreflektiert und von Emotionen geleitet ihren persönlichen und kurzfristigen voluptates besinnungslos nachgeben, gelingt es Odysseus, seine voluptates, denen er zweifellos gleichermaßen ausgesetzt ist, gegeneinander abzuwägen und – so gut es geht – zu bändigen und eine Entscheidung zugunsten seiner langfristigen und übergeordneten voluptas zu treffen: Er stellt also die Heimkehr in sein Kö‐ 180
Kiessling/Heinze (91970) 33 befürworten die texthistorische Richtigkeit der Pluralform voluptates, indem sie diese als rein „sinnliche Lüste“ verstehen und somit keine rigorose Ablehnung einer antistoischen voluptas zu erkennen meinen. Der Versuch, hier die Kon‐ trastierung zweier philosophischer Telos-Bestimmungen zu entschärfen, nimmt der Epistel aber den Überraschungseffekt. Wenn man dagegen annimmt, dass Horaz beim Leser eine Assoziation zum umstrittenen epikureischen Schlüsselbegriff herstellen wollte, ergibt sich für die Epistel durchaus eine philosophische Verstehensebene neben der moralischen Ebene, die Dichtung (seit Homer) zu vermitteln imstande ist. Somit wäre das Stichwort voluptas als Referenz auf die philosophische Auseinandersetzung zwischen Epikur und Stoa zu verstehen, deren Kenntnis beim Leser vorausgesetzt ist (Kommunikativität).
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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nigreich Ithaka zu seiner Frau Penelope an die Spitze seines Strebens und ordnet diesem Ziel alles andere unter. Vor diesem Hintergrund erscheint die Mahnung in V. 55 geradezu als das in Versform gebrachte Lustkalkül, wie es traditionell der epikureischen Lehre zugeschrieben wird. Für die strukturelle Einteilung des ersten Briefteils ergibt sich somit insgesamt die bereits angesprochene Kontrastierung von Ulixes/virtus bzw. kalkulierte voluptas auf der einen Seite (V. 17–22) und Gefährten, Freier, Phäaken und Jugend auf der gegenüberliegenden Seite der maßlosen voluptas (V. 23–31). Abhängig von der Perspektive ist in dieser Versepistel also sowohl eine stoische als auch eine epikureische Auslegung möglich, die sogar auf dasselbe Ziel hinausläuft: die Ausblendung unnötiger und sogar schädlicher voluptates. Bei einer stoischen Deutung liegt der Fokus stärker auf der Präsentation des Odysseus als „eines nützlichen Vorbilds“ (V. 18: utile exemplar) für virtus (V. 17), bei einer epikureischen Deutung dagegen auf der Maxime der Schmerzfreiheit (V. 55) und der daraus ableitbaren Hierarchie der unterschiedlichen voluptates. Die Möglichkeit, die ethischen Fragen in der Dichtung nicht als Debatte zwischen zwei Schulausrichtungen auszutragen, sondern zu zeigen, dass die Antworten beider Seiten in den wesentlichen Lebensfragen hilfreich sind und sich nicht widersprechen, ist für Horaz typisch ist, wie auch seine übrigen, hier besprochenen Texte zeigen. Da Horaz ein Verständnis sowohl auf einer Ebene allgemeiner moralischer Fragestellungen wie auf der moralphilosophischen Ebene ermöglicht, ist die intertextuelle Verbindung zu Epikurs Lehre in der Referentialität und Autoreflexivität bewusst zurückgenommen.181 Die Kommu‐ nikativität basiert auf dem gemeinsamen Wissen um moralphilosophische Auseinandersetzungen; auf dieser Ebene könnte man auch bestimmte Struktur‐ merkmal wie die aphoristischen Formulierungen, die auch Epikurs Sentenzen prägen, oder aber paränetische Stilmittel, wie sie in der Diatribe beliebt sind, möglicherweise als Intertextualitätshinweise ausmachen. Aber ein expliziter Verweis auf eine bestimmte Lehre bleibt aus und die Neukontextualisierung der voluptas in epist. 1, 2 stellt zwar keine dogmatische Imitation der Kepos-Lehre dar, steht aber auch nicht „in semantischer und ideologischer Spannung“182 zum epikureischen Prätext.
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Dies ist nicht verwunderlich, wenn man die Ankündigung der Sprecher-persona in Hor. epist. 1, 1, 14f. denkt: nullius addictus iurare in verba magistri, / quo me cumque rapit tempestas, deferor hospes. Broich/Pfister (1985) 29.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
3.3.2 Das Prinzip des nil admirari in Hor. epist. 1, 6 Dieser Eindruck bleibt auch für epist. 1, 6 bestehen, wo die Exemplifizierung des voluptas-Begriffs am Mythos von Odysseus und seinen Gefährten seine Fortsetzung findet. Dort stellt der Ich-Sprecher gegenüber einem Adressaten namens Numicius zunächst sein Lebensmotto nil admirari ins Zentrum seiner Argumentation für ein dauerhaft glückliches Leben (V. 1 f.).183 Wird jemandem nämlich zu großer Reichtum und Ruhm zuteil, verhindere die Angst vor deren Verlust ein unbeschwertes Leben und ebenso wirke sich die bange Ungewissheit eines Mannes aus, der fieberhaft nach derartigen Gütern strebt (V. 5–14). Schließlich entwirft der Ich-Sprecher nacheinander alternative Glücksformeln, deren Erfolg in der Lebenspraxis er anzuzweifeln scheint, wie es die aufge‐ zeigten Szenarien nahelegen, die die Wahl der jeweiligen Lebensausrichtung karikierend bloßstellen. Als erstes stellt der Ich-Sprecher eine virtus-zentrierte Lebensweise zur Diskussion,184 ohne allerdings ihre exemplarische Ausgestaltung noch weiter zu erläutern (V. 30 f.).185 Im Anschluss daran werden auch anhand von materiellem Vermögen (V. 47: res), Ansehen und Gunst (V. 49: species et gratia) sowie gutem Essen (V. 56: bene qui cenat) alternative Auffassungen von Lebensglück sukzessive präsentiert, wobei die letztlich eher negativen Folgen der jeweiligen Lebenswahl verdeutlicht werden. Die letzten drei genannten Lebensausrich‐ tungen können unter dem Oberbegriff der sinnlichen, durch äußere Güter hervorgerufenen voluptates oder auch als moralphilosophische vitia zusammen‐ gefasst werden und laufen dem nil-admirari-Gedanken deutlich zuwider. Dabei ist es wohl erneut der ‚horazischen Ironie‘ zuzurechnen, dass im Unterschied zum orthodox stoischen Konzept, in dem virtus und vitia diametrale Gegensätze sind, Verhaltensweisen, die – zumindest in übersteigerter Form – eigentlich zu den vitia zu zählen wären (z. B. Überbetonung von res: avaritia bzw. luxuria; Überbetonung von species et gratia: ambitus), offenbar auf dieselbe Ebene wie die virtus gebracht werden, d. h. auf die Ebene der zwar theoretisch denkbaren,
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Kiessling/Heinze (91970) 56 f. erkennen in dieser Aussage deutliche Parallelen zur stoischen ἀθαυμαστία als typisches Verhalten gegenüber den ἀδιάφορα. Vgl. Hor. epist. 1, 6, 30: Si virtus hoc una potest dare […]. Aufgrund dieser im Verhältnis zu den folgenden Alternativen sehr knapp gehaltenen Thematisierung des Lebens nach der virtus sind nicht zu Unrecht immer wieder Zweifel laut geworden, ob diese Lebensform tatsächlich vom Dichter zurückgewiesen wird; vgl. dazu Mayer (1994) 149.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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schließlich aber vom Ich-Sprecher aufgrund verschiedener Nachteile doch eher abgelehnten Lebensentwürfe.186 Rückt man nämlich Vermögen und Reichtum (res) in den Mittelpunkt seiner Lebensführung,187 wie es in den Versen 31–48 imaginiert wird, ist man dem horazischen Sprecher zufolge gezwungen, sich unablässig um die Vermehrung seines Vermögens zu kümmern. Diese Lebenswahl wird vor allem mittels einer Anekdote aus dem Leben des reichen Lucullus – gemeint ist wohl der für seinen Wohlstand berühmte Konsul des Jahres 74 v. Chr. – ad absurdum geführt (V. 40–44): Zwangsläufiges Ergebnis eines derartigen Reichtums ist nämlich eine Maßlosigkeit, die offenbar auch die Wahrnehmung des Betroffenen beeinflusst. Ebenso wird die Option von Ansehen und Gunst (species et gratia) als zentralen Lebensinhalten geprüft188 und auf ähnliche Weise negativ verzerrt wie die Option des angehäuften Reichtums (V. 49–55): Der Dienst eines Sklaven als nomenclator und der gezielte Einsatz der Rhetorik zum Zweck der captatio benevolentiae seien angeblich sichere Erfolgsgaranten. In der Reihe der ausführlicher geschilderten Lebensszenarien bildet der kulinarische Genuss den krönenden Abschluss. In diesem Kontext fällt nun auch der voluptas-Begriff in Verbindung mit den Gefährten des Odysseus, die wiederum als negatives Beispiel für eine falsche voluptas-Wahl fungieren:
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Anders dazu Kiessling/Heinze (91970) 56, die von einem „Missverständnis“ sprechen, wenn man die Identität von nil admirari und virtus übersähe. Neben dem sprachlich-sti‐ listischen Argument der analogen Konstruktion als Konditionalsatz in V. 30 kann als weiterer Aspekt gegen diese These eingebracht werden, dass im Gegensatz zum Prinzip des nil admirari, das in V. 1–14 erläutert wird, durchaus mögliche Kritik an einer virtus-zentrierten Lebensweise anklingt und das sogar an zwei Stellen: insani sapiens nomen ferat, aequus iniqui, / ultra quam satis est virtutem si petat ipsam (V. 15f.); […] virtutem verba putas et / lucum ligna […] (V. 31f.). Ferner legt die Struktur der sukzessiv abgehandelten Alternativen eines glücklichen Lebens (V. 28–65), wobei das Streben nach virtus (V. 15 f.), Reichtum (V. 17 f.) und Ruhm (V. 19–27) sogar einer Art kritischer Vorbesprechung unterzogen werden, zumindest für diese Epistel die Parallelisierung von virtus und den sog. äußeren Gütern nahe. Ob man in diesem Fall unbedingt von einer skeptischen Grundhaltung der Dichter-persona ausgehen muss, wie es Kiessling/Heinze (91970) 56 suggerieren, sei dahingestellt; für den Dichter oder gar den Autor eine stoische Sichtweise mit der virtus als Garanten für das Lebensglück anzunehmen, ist jedoch schon aufgrund der festgestellten Nähe zur epikureischen Philosophie mit Sicherheit verfehlt. Vgl. Hor. epist. 1, 6, 47: si res sola potest facere et servare beatum […]. Vgl. Hor. epist. 1, 6, 49: Si fortunatum species et gratia praestat […].
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Si bene qui cenat bene vivit, lucet, eamus quo ducit gula, piscemur, venemur, ut olim Gargilius, qui mane plagas, venabula, servos differtum transire Forum Campumque iubebat, unus ut e multis populo spectante referre emptum mulus aprum. crudi tumidique lavemur, quid deceat, quid non, obliti, Caerite cera digni, remigium vitiosum Ithacensis Ulixei, cui potior patria fuit interdicta voluptas. (Hor. epist. 1, 6, 56–64)
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Mit der nicht näher bekannten Figur des Gargilius,189 der offenbar täglich große Fleischeinkäufe machen ließ und diese Besorgungen wie eine Jagd vom gemein‐ samen Ausrücken bis zur Heimkehr mit der Beute öffentlich zelebrierte,190 wird ein zeitkritischer Vergleich zur damaligen römischen Gesellschaft gezogen, die über ihre Völlerei – eine weitere Form eines maßlosen Lebensstils – ihre moralischen und sozialen Pflichten vollkommen zu vergessen scheint. Im Zu‐ sammenhang mit einer solchen fehlgeleiteten und übersteigerten voluptas, der gedankenlosen Völlerei, wird die Schiffsmannschaft des Odysseus als remigium vitiosum 191 insofern als Vergleichsmaßstab herangezogen, als sie der Sehnsucht nach dem Vaterland, die im Gegensatz dazu ihrem Anführer durch den expliziten Hinweis auf seine Herkunft (Ithacensis) bescheinigt wird, eine andere, interdicta voluptas vorzögen und somit wiederum sowohl gegen die stoische Doktrin als auch gegen das epikureische Lustkalkül verstießen. Ob sich dieser Ausdruck auf die verzehrten Lotospflanzen192 oder auf die getöteten Helios-Rinder193 bezieht, steht weniger im Vordergrund als die Tat‐ 189 190 191
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Préaux (1968) 89 nennt Lucilius als mögliche Quelle und spricht zu Recht die auffälligen Parallelen zur petronischen Trimalchio-Figur an. An der Ironie des gleichnishaften Jagdszenarios besteht allein aufgrund des städtischen Schauplatzes keinerlei Zweifel. Entgegen dem Porphyrio-Kommentar, der die Geschehnisse bei Kirke und bei den Sirenen hinter den hier gemeinten vitia vermutet (vgl. Porph. Hor. comm. ad epist. 1, 6, 63: Quos vitiosos ideo ait, quia nec apud Circen poculis eius, nec apud Syrenas cantibus sibi temperare potuerunt.), vertritt der Verfasser dieser Arbeit die Meinung, dass grundsätzlich jegliches Fehlverhalten der Schiffsmannschaft (z. B. die unerlaubte Befreiung der äolischen Winde) zu ihrer Kennzeichnung als vitiosum beigetragen hat. Ferner ist es für diese Textstelle plausibel, dabei besonders die beiden Episoden hervorzuheben, in denen ein unüberlegtes Essverhalten von Odysseus’ Gefährten zu neuen Widrigkeiten für eine erfolgreiche Rückreise in die Heimat geführt hat (v. a. der Verzehr der Lotosblüten und das unrechtmäßige Schlachten der Helios-Rinder). Vgl. etwa Mayer (1994) 155; ähnlich Kiessling/Heinze (91970) 168.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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sache, dass der Odysseus-Mythos an dieser Stelle zum wiederholten Male in einen philosophischen Kontext gerückt wird und als ethische Allegorese dient. Es ist daher kein Zufall, dass die voluptas an dieser Stelle, d. h. im Kontext der kulinarischen Genüsse, explizit genannt wird, auch wenn der horazische Sprecher damit die (ausschließliche) Verknüpfung des epikureisch geprägten Leitbegriffs mit einer rein sinnlich-physischen Dimension, wie es ja Cicero energisch getan hat, zu fördern scheint. Nicht unberücksichtigt darf dabei allerdings die nicht allein negative Konno‐ tierung des voluptas-Begriffs im Zuge des Odyssee-Gleichnisses bleiben: Es ist nämlich nicht nur von einer interdicta voluptas die Rede, der die Gefährten des Odysseus beide Male (bei den Lotophagen und auf der Insel Thrinakia) verfallen, sondern auch von der Sehnsucht nach der Heimat Ithaka, der im Rahmen des Lustkalküls der Vorrang eingeräumt werden muss. Um aber diese Versepistel des Horaz nicht fälschlicherweise auf philosophi‐ sche Inhalte zu reduzieren, muss auch die zuletzt aufgeführte, wenn auch nur zwei Verse umfassende Lebensalternative erwähnt werden, die der horazische Ich-Sprecher auf den archaischen Elegiker Mimnermus von Kolophon zurück‐ führt:194 Si, Mimnermus uti censet, sine amore iocisque nil est iucundum, vivas in amore iocisque. (Hor. epist. 1, 6, 65f.)
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Die berühmten Verse des Mimnermos195 werden als Zitat markiert, um zum Abschluss auch noch amor und ioci als Glücksformeln in die Diskussion einzubringen. Sie werden wie die virtus zu Beginn der Reihe alternativer Lebenskonzepte nicht weiter kommentiert. Trotzdem darf der Leser nicht davon ausgehen, dass der Befürworter des nil admirari von diesen beiden Glücksformeln mehr überzeugt wäre; vielmehr werden sie ähnlich mittels drastischer Exemplifizierung infrage gestellt, wie die Fokussierung des Lebens
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Vgl. u. a. Fantham (2013) 418; Guglielmo (2001) 187–191. Préaux (1968) 90 spricht sich dagegen präzise für eine Evozierung beider Odyssee-Abenteuer innerhalb der homerischen Apologoi (Hom. Od. 9, 83–102: Lotophagen; 12, 295–398: Frevel gegen die Helios-Rinder) aus, die sich sowohl mit dem voluptas-Begriff als auch mit der Lebensformel si bene qui cenat verbinden lässt. Die sprachliche Gestaltung dieser letzten Perspektive, die die beiden Leitbegriffe amor und ioci in eine Repetitio mit antithetischem Bezug kleidet, scheint bereits die erneut ablehnende Haltung des nil-admirari-Verfechters anzudeuten, wie auch Mayer (1994) 155 vermutet. Vgl. Mimn. fr. 1 West, 1f.: τίς δὲ βίος, τί δὲ τερπνὸν ἀτὲρ χρυσέης Ἀφροδίτης; τεθναίην, ὅτε μοι μηκέτι ταῦτα μἐλοι.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
auf res, species et gratia oder bene cenat, die im Einzelnen vorgeführt wurde; auch für virtus und amor iocique könnte analog eine solche Präsentierung noch folgen. Es erweist sich als problematisch, eine bestimmte Sprecher-persona in den Briefen des Horaz erkennen zu wollen und diese jeweils nach philosophischen Inhalten zu charakterisieren und vielleicht sogar einer bestimmten Schule zuordnen zu wollen, was nicht nur unmöglich, sondern auch wenig zielführend für die Kernaussage dieser und anderer Versepistel ist.196 Dennoch gilt es zu konstatieren, dass in den beiden behandelten Horaz-Episteln jeweils die philo‐ sophische Ausdeutung von Dichtung forciert wird.197 Mit einer eingeschränkten Perspektive, die die Realisierung von Lebensglück in einem summum bonum sucht und dabei mögliche Konsequenzen dieser ‚radikalen‘ Lebensform außer Acht lässt, läuft man Gefahr, unüberlegt zu handeln und jedes Maß für rationale und ethisch vertretbare Entscheidungen zu verlieren, wie es außer den Odys‐ seus-Gefährten auch Gargilius und Lucullus getan haben. Überhaupt scheint sich Horaz bei der epikureischen ‚Färbung‘ seiner Odys‐ seus-Figur auf den Ansatz zurückzubesinnen, den auch Philodem seinem Werk De bono rege secundum Homerum zugrunde gelegt hat – diese Schrift ist übrigens mutmaßlich genau dem Piso gewidmet, den Cicero in seinen Invektiven so scharf als Möchtegern-Epikureer angegriffen hat: die Analyse des Verhaltens berühmter Akteure aus der Troja-Mythologie, die zu einem großen Teil aus Königen bestehen (z. B. Agamemnon, Odysseus, Priamos), mit dem Ziel einer philosophischen Interpretation oder genauer gesagt einer ethischen Allegorese, die auf neue Kontexte übertragen werden kann. Um den Blick abschließend nochmals auf die horazische Verwendung des voluptas-Begriffs im Allgemeinen zu richten, bleibt bereits anhand der beiden dargestellten Briefe aus dem ersten Epistel-Buch festzuhalten, dass sich die Auslegung des voluptas-Konzepts nicht in dem plakativen carpe-diem-Motiv erschöpft, das vor allem in den horazischen Oden äußerst prominent ist, sondern vielmehr auf eine von iucunditas, gaudium oder delectatio gekennzeichnete Lebensweise hindeutet. Diese voluptas ist abhängig von eigenem Wahrnehmen und Urteilen; da jeweils eine individuelle Bestimmung dazu notwendig ist, kann der Begriff der voluptas inhaltlich vorab nicht gefüllt werden.
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So kann der Gedanke des hier vom Dichter vertretenen nil admirari keiner der bekannten philosophischen Doktrinen eindeutig und trennscharf zugeordnet werden, da sich beispielsweise sowohl eine Kompatibilität mit der epikureischen ἀταραξία- als auch mit der stoischen ἀπάθεια-Lehre feststellen lässt; vgl. Mayer (1994) 157; Dilke (1981) 1848; Kiessling/Heinze (91970) 55. Siehe dazu die zusammenfassenden Erläuterungen von Mayer (1994) 156f.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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Bemerkenswert für Hor. epist. 1, 6 ist außerdem, dass dort im Unterschied zum stoischen Konzept, in dem virtus und vitia diametrale Gegensätze sind, Verhaltensweisen, die eigentlich zu den vitia zu zählen wären (avaritia, luxuria, ambitus), in einer Reihe und damit auf derselben Ebene stehen: Wenn sie das beate vivere in Einzelfällen garantieren, sind sie prinzipiell erlaubt, aber auch nur dann. Grundvoraussetzung ist die Wahrung der inneren Ausgeglichenheit als Schlüssel für ein glückliches Leben, anders bzw. in epikureischer Sprache ausgedrückt: die Ataraxie. In diesem Sinn vermeidet es der Dichter, Philosophenschulen gegeneinander auszuspielen. Die prominenten Vertreter und ihre Werke werden nicht explizit genannt, zentrale Aussagen sind jedoch für Leser an Schlüsselbegriffen und -inhalten erkennbar, so dass sich eine philosophische Verstehensebene auftut. Horaz als Dichter markiert dagegen die Aussagen anderer Dichter, um sich auf dieser Ebene mit den moralischen Fragen auseinanderzusetzen. Die Situation ist für den Leser also vergleichbar mit der Tragödienlektüre: Er kann philoso‐ phische Fragestellungen erkennen, ohne dass sie als solche markiert wären. Trotzdem ist bei Horaz das Bewusstsein für die Themen der Philosophenschulen auch bei fehlender Referenzialität vorauszusetzen, deren absichtliche Auslas‐ sung man entsprechend beobachten und deuten muss. 3.3.3 Die multo corrupta dolore voluptas in Hor. sat. 1, 2 Die Verwendungsweise des voluptas-Begriffs in den horazischen Satiren ist teils wesentlich deutlicher epikureisch kontextualisiert, teils aber aus dem moralphilosophischen Bereich in den ästhetischen und kunsttheoretischen Diskurs überführt.198 Zunächst sei hierzu die Aufmerksamkeit auf die zweite Satire des ersten Buches gerichtet.199 Nachdem dort zu Beginn geschildert wird, wie Vertreter aller sozialen Schichten Roms den Tod des als benignus (V. 4) charakterisierten Sängers Tigellius200 betrauern, folgt sogleich die kritische Bemerkung des satirischen Ichs, dass gerade auch das Gegenteil zur Freigebigkeit als soziales Phänomen 198 199 200
Auch Mayer (2005) 153–155 hebt in seiner Studie über die Kombination von Satire und Philosophie in der Antike die epikureische Tendenz der Horaz-Satiren 1, 2 und 2, 2 hervor. Zum Einfluss epikureischen Gedankenguts auf diese Satire siehe generell u. a. Kemp (2016) 130–146; Turpin (2009) 130–132; Armstrong (1989) 32–34; Rudd (1966) 22–26. Bei diesem Mann handelte es sich offenbar um einen bekannten Unterhaltungskünstler aus Sardinien, der ein Zeitgenosse Ciceros, mit dem er sich verfeindete, und Caesars war, zu dessen näheren Bekanntenkreis er wohl zählte; vgl. Gowers (2012) 92; Brown (2007) 101 f.; Kiessling/Heinze (101968) 25.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
überaus präsent sei, nämlich bedingungsloser Geiz und unterlassene Hilfeleis‐ tung (V. 1–6). Diesem ersten Paar von diametral entgegengesetzten Typen (der Freigebige vs. der Geizige) wird ein zweites Gegensatzpaar hinzugefügt: auf der einen Seite der Verschwender ererbten Vermögens bzw. Vielfraß (V. 7–11), auf der anderen der geldgierige Wucherer und rücksichtslose Geldeintreiber (V. 12–22). Wie schon bei der Darstellung des ersten Paares (Tigellius) wird auch hier nur ein Typus personalisiert und mit einem römischen Namen versehen: In diesem Falle ist es der äußerst wohlhabende Fufidius201 (V. 12). Gemein ist allen diesen Stereotypen (mit Ausnahme des Tigellius) die Furcht, durch ein anderes Verhalten in einen vollkommen gegenteiligen Ruf zu geraten: Der Geizige verhält sich so, um nicht als Verschwender zu erscheinen.202 Nachdem die Auswirkungen und Opfer der unerbittlichen Vorgehensweise des Fufidius anhand des Handlungsszenarios in der Terenz-Komödie Heauton‐ timoroumenos exemplarisch veranschaulicht wurden (V. 20–22), kommt der satirische Ich-Sprecher nun zu seiner konkreten Intention und formuliert die Quintessenz seiner bisherigen Ausführungen auf zwei Arten: dum vitant stulti vitia, in contraria currunt (V. 24) und das formelhaft gewordene und an die peripatetische Lehre erinnernde nil medium est (V. 28).203 Nahezu im gleichen Atemzug erfolgt die Überleitung zum Hauptthema, das den männlichen Sexualtrieb und die unterschiedlichen Wege bzw. die potentiellen weiblichen Zielgruppen zur Befriedigung dieses Triebes behandelt. Im weiteren Verlauf greift der satirische Ich-Sprecher, um die Erörterung des eigentlichen Diskussionsgegenstandes lebhaft zu veranschaulichen, auf eine Vielzahl mehr oder weniger bekannter Personen zurück, die er namentlich nennt: Während beispielsweise der horazische Cato im Zeichen der virtus die sexuelle Befriedigung im Bordell favorisiert und dies mit der effizienten Vermeidung eines sozial und ethisch verwerflichen Ehebruchs begründet (V. 31– 35a), bekennt sich Cupiennus zu seiner Vorliebe für den sexuellen Kontakt mit verheirateten Frauen (V. 35b–36). Im Anschluss daran wird der Problematik des Ehebruchs mit verheirateten Frauen mit drastischen Bildern Ausdruck verliehen:
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Zur unsicheren Identifizierung des Fufidius als historische Person siehe Gowers (2012) 93; Brown (2007) 102; Kiessling/Heinze (101968) 27. Vgl. Hor. sat. 1, 2, 4f.: […] ne prodigus esse / dicatur metuens […]; 1, 2, 10: sordidus atque animi quod parvi nolit haberi; 1, 2, 12: Fufidius vappae famam timet ac nebulonis […]. Zum auf Horaz übertragenen Grundsatz der aurea mediocritas vgl. u. a. Hor. epist. 1, 18, 9: virtus est medium vitiorum et utrimque reductum.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
audire est operae pretium, procedere recte qui moechis rem vultis, ut omni parte laborent, utque illis multo corrupta dolore voluptas atque haec rara cadat dura inter saepe pericla. hic se praecipitem tecto dedit; ille flagellis ad mortem caesus; fugiens hic decidit acrem praedonum in turbam; dedit hic pro corpore nummos; hunc perminxerunt calones; quin etiam illud accidit, ut cuidam testis caudamque salacem demeterent ferro. ‘iure’ omnes. Galba negabat. (Hor. sat. 1, 2, 37–46)
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40 45
Mit dem parodistischen Rückgriff auf einen bekannten Ennius-Vers204 werden der Figurentypus des moechus 205 und die ethische Beurteilung seines Handelns in den Fokus genommen: Der mit dem Ehebruch verbundene labor sei allgegen‐ wärtig, die zahlreichen Gefahren könne die Befriedigung der sexuellen Lust nicht adäquat aufwiegen. Die Formulierung, dass diese Situation unweigerlich zu einer multo corrupta dolore voluptas führe, verweist also auf das Scheitern des Lustkalküls nach epikureischer Vorstellung genauso, wie es in nahezu sinngleicher Verwendung in Hor. epist. 1, 2, 55 der Fall war.206 Erneut wird somit das Lustkalkül als zentraler Lehrsatz des Kepos auf die Praxis und auf aktuelle gesellschaftliche Phänomene angewandt.207 Die Folgen des fehlgeschlagenen Lustkalküls und damit die negativen Konse‐ quenzen für einen ertappten Ehebrecher werden in aller Deutlichkeit dargelegt (V. 41–46): Sie reichen vom lebensgefährlichen Absturz vom Hausdach, das der Ehebrecher wohl zur Flucht vor dem gehörnten Ehemann hinabsteigen muss, bis zu brutalen Prügelstrafen und räuberischer Erpressung, ja sogar bis zu erbarmungsloser körperlicher Misshandlung und Verstümmelung. Das
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Enn. ann. 494 f. Skutsch: Audire est operae pretium, procedere recte / qui rem Romanam Latiumque augescere voltis; vgl. dazu Fink (2000) 287. Der als Kolloquialismus griechischen Ursprungs anzusehende Ausdruck ist trotz seines seltenen Vorkommens beispielsweise bei Plautus und Cicero zu finden; vgl. dazu Gowers (2012) 100. Vgl. dazu auch die Bemerkung des antiken Horaz-Kommentators Porphyrio: Merito hoc dicitur, cum adulteris et raro contingat concubitus earum, quas sectantur, et ipso metu periculi non sinceram inde voluptatem percipiant (Porph. Hor. comm. ad sat. 1, 2, 39f.); zur epikureischen Ablehnung des adulterium vgl. Epik. fr. 538 Usener; siehe dazu auch Gowers (2012) 101. Vgl. Curran (1970) 228: „[…] we are invited to consider the plight of adulterers in terms which suggest an Epicurean calculus of pleasure and pain“.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
vielfältige Ausmaß dieser Risiken, die weit über den ursprünglichen labor hinausreichen und mit einem immensen dolor verbunden sind, verdeutlichen nochmals die unverhältnismäßige Relation zur erstrebten und hier wohl ge‐ merkt rein körperlichen voluptas. Vor dem Hintergrund der späteren Ehegesetze unter Kaiser Augustus, die im Jahre 18 v. Chr. als lex Iulia de adulteriis coercendis erlassen wurden, erscheint die von Horaz in sat. 1, 2 aufgerufene Thematik umso brisanter. Der ohnehin als prinzipatstreuer Dichter geltende Horaz entwirft schon in dieser Satire eine mit der octavianischen und später augusteischen Auffassung sicherlich kompatible Argumentation, wenn er die sprechende Ich-persona ein flammendes Plädoyer gegen den ethisch kaum vertretbaren Verkehr mit gesetzlich verheirateten Ehefrauen (matronae oder uxores) halten lässt. Statt einer reinen Verurteilung ehebrecherischen Verhaltens wird allerdings in Gestalt von libertinae, also freigelassenen Frauen, die der Ich-Sprecher auch als tutior merx in classe secunda (V. 47) bezeichnet, eine sozial und ethisch verträglichere Alternative zum sexuellen Umgang mit Ehefrauen und Prostitu‐ ierten aufgezeigt.208 Dieser Kompromiss könne sich als scheinideale Lösung der voluptas-dolor-Problematik entpuppen und wird sogleich relativiert, insofern daraus möglicherweise eine neue Gefahr hervorgeht: Gemeint ist die amouröse insania, aus der erneut ein fatales Ungleichgewicht zwischen voluptas und dolor erwachsen könnte, sodass die innere Ausgeglichenheit (epikureisch gesprochen die ἀταραξία) wieder einmal auf dem Spiel steht. Diese sexuelle Abhängigkeit ist unabhängig vom sozialen Stand der Geliebten ebenso zu vermeiden wie das ehebrecherische Verhältnis mit einer uxor: Exem‐ plifiziert wird dieses sinngemäß auch in V. 61–63 gezogene Zwischenfazit über die angesprochenen libertinae zum einen an der Figur des Sallustius209 mit dem 208 209
Eine noch größere Typenvielfalt römischer Frauen findet sich zu ähnlicher Thematik bei Lucilius in dessen Buch XXIX (Fornix); vgl. Gowers (2012) 86. Ob sich dieser Name auf den berühmten Historiographen des 1. Jahrhunderts v. Chr. bezieht, konnte in der Vergangenheit nicht abschließend geklärt werden; vgl. Gowers (2012) 102; Brown (2007) 106; Kiessling/Heinze (101968) 32. Dabei stört sich die For‐ schung am meisten an der in mehreren Quellen überlieferten Anekdote (z. B. Varro, Asconius), dass der historische Sallust eine Affäre mit der verheirateten Sulla-Tochter Fausta gehabt habe und diese Tatsache mit den Worten, die Horaz seinem Sallust in V. 54 in den Mund legt (matronam nullam ego tango) unvereinbar sei. Gerade dieser Ausspruch könnte jedoch auch als sarkastische und satirisch verzerrende Anspielung auf den tatsächlichen Familienstand und sozialen Status von Sallusts Geliebter ausge‐ legt werden, auch wenn sich dafür keine stichhaltigen Anhaltspunkte finden lassen. Als aufschlussreich könnte sich in diesem Zusammenhang jedoch die wenig später erfolgende Erwähnung des Villius, eines von Horaz ausgewiesenen Liebhabers von Sullas Tochter Fausta, erweisen (V. 64–72): Auf diese Weise würde Horaz nicht nur die
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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Resultat von damnum und dedecus (V. 48–54); zum anderen dient die Figur des Marsaeus210 als warnendes Beispiel für den Verkehr mit mimae und meretrices, da dieser eine schlechte fama nach sich ziehe (V. 55–59).211 Einen regelmäßigen außerehelichen Kontakt, der von den sexuellen Gelüsten eines Mannes gesteuert wird, gilt es also unabhängig von der sozialen Zugehörigkeit der Geliebten zu vermeiden, wenn man nicht seine Ataraxie und sogar noch mehr aufs Spiel setzen möchte.212 Daher muss die wahre Lösung für eine ungefährliche Befriedigung der hier rein sexuell gewordenen voluptas anders aussehen. Statt dieser Sache weiter auf den Grund zu gehen, kehrt das satirische Ich zum Ehebruch mit sozial höher gestellten matronae zurück und führt das Liebesverhältnis des unglücklich agierenden Villius und der Sulla-Tochter Fausta aus (V. 64–72): Dieser sieht sich aufgrund des promiskuitiven Gebarens von Fausta vielfach körperlichen Strafen durch seine Rivalen ausgesetzt, die er jedoch zu akzeptieren gewillt ist, um die Liaison zu der Tochter eines so bedeutenden Staatsmannes aufrechtzuerhalten. Nicht einmal der imaginäre Einwand seines männlichen Glieds, sich angesichts der übermäßigen labores nach einer anderen Frau umzusehen, kann Villius von seiner schmerzhaften Strategie abbringen. Das Verhältnis zwischen den labores und dem tatsächlichen Ertrag seines Strebens – noch dazu nach einer ‚falschen‘ bzw. abzulehnenden voluptas, nämlich dem Drang in den Bereich der politischen Macht – scheint somit allzu unausgewogen zu sein, sodass er letztlich sowohl gegen die stoische als auch gegen die epikureische Vorstellung (gescheitertes Lustkalkül) eines auch nur hinreichend glücklichen Lebens zu verstößt. Die labores bzw. dolores,213 die Villius auf sich nimmt, um sein übergeordnetes Ziel zu erreichen, sind nämlich nicht nur von kurzer Dauer, sondern beständig und machen damit eine katastematische voluptas unmöglich.214 Zu genau dieser Feststellung gelangt
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triebgesteuerte Männerwelt, sondern auch schamlose Frauen aus hohem Hause wie die notorisch treulose Matrone Fausta an den satirischen Pranger stellen; vgl. dazu Gowers (2012) 105. Der ansonsten nicht näher bekannte Name ähnelt dem des Satyrn Marsyas in auffälliger Weise, was durch den Zusammenhang der sexuellen Jagd nach Frauen durchaus plausibel erscheint; vgl. Gowers (2012) 89. Vgl. Lucr. 4, 1123f.: labitur interea res et Babylonica fiunt, / languent officia atque aegrotat fama vacillans; siehe dazu auch Gowers (2012) 104. Vgl. Gowers (2012) 97: „[…] the implication is that all liaisons that threaten a man’s self-control, finances and social position are inadvisable“. Zum synonymen Gebrauch der griechischen Äquivalente ἀλγηδών und πόνος bei Epikur vgl. u. a. Epik. fr. 442 und 447 Usener; siehe dazu auch Gowers (2012) 108. Vgl. dagegen Epik. Men. 128: […] καὶ πολλὰς ἀλγηδόνας ἡδονῶν κρείττους νομίζομεν, ἐπειδὰν μείζων ἡμῖν ἡδονὴ παρακολουθῇ πολὺν χρόνον ὑπομείνασι τὰς ἀλγηδόνας. Die zweckmäßig ertragenen Schmerzempfindungen müssen also, auch wenn sie lange
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
auch der unmittelbar folgende Kommentar des satirischen Sprechers,215 der schließlich zu einem generellen Verzicht auf eine sexuelle Beziehung mit matronae rät und erneut die Alternative eines hier als togata bezeichneten Straßenmädchens aufwirft (V. 73–82).216 Nachdem der Ich-Sprecher mit der unverhüllten Offenlegung von Schönheit und Mängel bei Straßenmädchen im Gegensatz zur verschleierten Erscheinung römischer Matronen, die oft nur den Blick auf ihr Gesicht preisgeben, ein weiteres Argument für sein Plädoyer dargelegt hat (V. 83–95), kommt er auf die zahlreichen Hindernisse zurück, die dem lustgesteuerten Römer bei seinem Streben nach einer interdicta voluptas im Wege stehen (V. 96–100):217 Diese setzen sich aus dem gesamten Dienstpersonal, den zahlreichen Nebenbuhlern einer Matrone sowie ihrer mehrschichtigen Kleidung zusammen. Diesem Er‐ scheinungsbild gegenüber steht der überschaubare Habitus des Straßenmäd‐ chens: nil obstat (V. 101). Mit Hilfe zweier suggestiver Gleichnisse sucht der satirische Ich-Sprecher seine Position noch stärker zu untermauern: Die ‚Ware‘ müsse doch in Augenschein genommen werden, bevor man dafür bezahle (V. 103–105) und der Jäger müsse doch die günstige Gelegenheit nützen, wenn seine Beute leicht ins Visier zu nehmen sei (V. 105–108).218 Daran schließt sich ein Katalog rhetorischer Fragen an, bei dem der Ich-Spre‐ cher zunächst seine ausführlich veranschaulichte Ansicht über das bestmögliche Sexualverhalten eines Ehebrechers auf einer philosophischen Ebene abstrahiert und erneut epikureisches Gedankengut anklingen lässt; schließlich kehrt er in drei exemplarischen Szenarien zusehends auf ein derbes Sprachniveau und zur konkreten Situation körperlicher Lust zurück (V. 109–118):
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Zeit andauern mögen, irgendwann vollständig überwunden werden, denn nur so kann sich wahre voluptas, die sich als vollkommene Abwesenheit von Schmerz definiert, nach epikureischer Ansicht in einem Menschen einstellen. Zur eingeschränkten Wirkung von Schmerz siehe auch Epik. sent. Vat. 4. Vgl. Hor. sat. 1, 2, 74–76: […] tu si modo recte / dispensare velis ac non fugienda petentis / immiscere! […]; sat. 1, 2, 78f.: desine matronas sectarier, unde laboris / plus haurire mali est quam ex re decerpere fructus. Zudem sei darauf verwiesen, dass der sexuelle Trieb des Menschen in der epikureischen Vorstellung zwar wohl zu den ‚notwendigen‘ Bedürfnissen des Menschen – definiert in Epik. sent. rat. 26 – zähle, seine Befriedigung jedoch nicht an bestimmte Personen gebunden sei. Gowers (2012) 108 sieht in der dort angelegten Kontrastierung von labor (V. 76; 78) und fructus (V. 79) die epikureische Abgrenzung von labor und voluptas umgesetzt. Das Adjektiv interdicta fällt in V. 96 und erinnert zwangsläufig an die interdicta voluptas in epist. 1, 6, 64, der die Gefährten des Odysseus ein ums andere Mal nachgegeben hatten, sodass der Erfolg der Heimreise dadurch mehrfach gefährdet war. Im zweiten Fall handelt es sich um eine Anspielung auf ein Kallimachos-Epigramm zu genau derselben Thematik (Anth. Pal. 12, 102 = epigr. 31 Pfeiffer); Näheres dazu bei Gowers (2012) 112 und Brown (2007) 111f.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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Auf der erstgenannten Ebene geht es um die Vertreibung von dolores, aestus und curae graves, was mit der epikureischen Lehre nicht nur inhalt‐ lich übereinstimmt, sondern diese aufgrund der ausgewählten Begriffe sogar ausdrücklich im Kontext eines philosophischen Wertekanons evoziert. Noch deutlicher kommt die zugrunde liegende epikureische Lehre zur Geltung, wenn in den V. 111–113 von der naturbestimmten Einteilung der Begierden die Rede ist:219 Zum einen wird damit auf die epikureische Differenzierung in ‚natürliche und notwendige‘, ‚natürliche und nicht notwendige‘ sowie ‚unnatürliche und nicht notwendige‘ ἐπιθυμίαι rekurriert,220 zum anderen schimmert bei der Abgrenzung von inane und soldum (V. 113) sogar das atomistische Weltbild der Epikureer durch, in dem zwischen den Atomen und dem ansonsten leeren Raum unterschieden wird.221 Ebenso naheliegend und aus der in V. 111–113 gestellten Frage entnehmbar ist die Auffassung, die hier thematisierte sexuelle Lust in die zweite Begierden-Kategorie (‚natürlich, aber nicht notwendig‘) einzuordnen, bei der es nicht darum geht, für ihre bloße Erfüllung zu sorgen, sondern darum, schädliche Auswirkungen des angestrebten Liebesvollzugs tunlichst zu vermeiden.222 Nach der Mahnung zu einem reflektierten Vorgehen mit einer wohl kalku‐ lierten Entscheidung begibt sich der Ich-Sprecher auf die zweite, anwendungs‐ bezogene Ebene und greift dabei auf zwei konkrete Beispiele (V. 114–116) aus dem Nahrungsbereich zurück, wie sie in der epikureischen Literatur immer wieder vorkommen.223 Das dritte Beispiel, das wiederum in eine rhetorische Frage eingebettet ist (V. 116–118), bringt dann die explizite Rückkehr zur eigentlichen Problematik in sat. 1, 2, indem die deutlich gewordene Intention des Ich-Sprechers auf seine situationsbezogene Argumentation übertragen wird: Dem körperlichen Begehren wird man – gerade im Sinn einer wieder‐ zuerlangenden ἀταραξία – weder durch die Auswahl einer erlesenen Speise noch durch den Verkehr mit einer vermeintlich attraktiven Frau der höheren sozialen Schicht gerecht, sondern in beiden Fällen durch eine möglichst unpro‐ blematische Bedürfnisbefriedigung. Die eigene Stellungnahme des satirischen Ich-Sprechers gipfelt schließlich in der Bemerkung, dass er jederzeit eine parabilis Venus facilisque (V. 119) vorziehe.
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Vgl. dazu u. a. Kemp (2016) 139f. Vgl. Epik. sent. rat. 29 = sent. Vat. 20. Vgl. Epik. Her. 39–42. Die lateinischen Begriffe inania und soldum finden sich in diesem Zusammenhang auch in Cic. Pis. 60. Vgl. Epik. sent. Vat. 51, wo das ἀφροδίσια-Phänomen in einem negativen Licht erscheint: […] ἀφροδίσια γὰρ οὐδέποτε ὤνησεν, ἀγαπητὸν δὲ εἰ μὴ ἔβλαψεν. Vgl. u. a. Epik. Men. 130 f.; Cic. fin. 2, 9.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Gegen Ende des Gedichts wird die epikureische Lehre als substantieller Rahmen mit der namentlichen Nennung des philosophischen Schriftstellers Philodem von Gadara in V. 121 intertextuell markiert. Auf diesen Mann beruft sich hier der Ich-Sprecher in seiner Liebeshaltung.224 Anders als Wolfgang Lebek, der darin lediglich „eine Huldigung an den Verfasser erotischer Epigramme, nicht an den epikureischen Philosophen“225 zu erkennen glaubt, scheint mir die Entscheidung von Horaz, ausgerechnet diesen berühmten und für die Etablierung des Epikureismus in Rom entscheidenden Autor als Referenz heranzuziehen, beiden Aspekten – dem oftmals erotischen Inhalt und der Weiterentwicklung der Kepos-Lehre – geschuldet zu sein, zumal in diesen Versen auch immer wieder Passagen aus dem vierten Lukrez-Buch evoziert werden; dort finden sich insbesondere in den Versen 1058–1072 inhaltliche Übereinstimmungen und sinnverwandte Formulierungen im Hinblick auf den aus epikureischer Sicht geeigneten Umgang mit dem eigenen natürlichen Liebesverlangen: Der aus der Veneris dulcedo entstehenden frigida cura, d. h. der Liebe, die auf eine Person fixiert ist, müsse man entgegentreten, um den certus dolor zu vermeiden; dies gelingt, wenn man sein Liebesverlangen auf andere menschliche Körper richtet, die einer Verschlimmerung von furor atque aerumna effektiv vorbeugen sollen. Dieser Lösungsansatz konzentriert sich bei Lukrez in dem Trikolon volgivagaque vagus Venere (V. 1071), das dem horazischen bzw. philodemischen Prinzip der parabilis 226 Venus facilisque zweifellos sehr nahekommt. Auch wenn wir innerhalb von Philodems erhaltenem Œuvre den Referenz‐ text, auf den sich Horaz bezieht, nicht ausmachen können,227 ist es also kaum zu bestreiten, dass Philodem in diesem Kontext von Horaz als philosophischer Bezugspunkt herangezogen wurde. Philodem beansprucht für sich laut Horaz eine Partnerin, die keinen allzu kostspieligen Lebensstandard pflegt, gefügig ist, eine ansehnliche Figur hat und sich nicht gegen die Natur auflehnt (V. 121–124). Damit fügt sich Philodems Anspruch nahtlos in die vorangehende Argumen‐
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Schon V. 92 erweist sich wohl als parodistische Anspielung auf ein Philodem-Epigramm (Philod. 12 Sider), sodass der epikureische Dichter in dieser Satire auf verschiedene Weise sehr präsent ist; vgl. auch Gowers (2012) 110. Lebek (1981) 2034. Wie der Kommentar von Gowers (2012) 114 richtig anmerkt, scheint dieses Adjektiv‐ attribut direkt Bezug auf den von Epikur mehrfach gebrauchten Terminus εὐπόριστος zu nehmen (z. B. in Epik. sent. rat. 15 und 21; in Kombination mit εὐσυμπλήρωτος in Epik. Men. 133) Vgl. Gowers (2012) 113; Brown (2007) 114. Der Hinweis von Gowers auf ‚Philodem‘ als sprechenden Namen („der das gemeine Volk liebt“) sollte bei einer Assoziierung mit den Frauen, die dieser angeblich favorisierte, indes nicht überbewertet werden.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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tation des horazischen Sprechers ein, der in den verbleibenden Versen nach einem kaum bemerkbaren Sprecherwechsel (ab V. 125) wieder in eigener persona Stellung bezieht und in einer Art fließender Übergang die rechte Haltung des Philodem gegenüber dem Verkehr mit Frauen weiterentwickelt. Dabei gelingt es dem horazischen Ich-Sprecher, mit dem in V. 127–134 entworfenen Ehebruchsszenario einen ringkompositorischen Anschluss an die befürchteten Gefahren eines solchen Liebesabenteuers in V. 41–46 herzu‐ stellen.228 Statt einer strengen Moralpredigt versetzt sich der Ich-Sprecher zum Abschluss selbst in die Lage eines Liebhabers, der sich mit einer gefügigen Partnerin, die keine matrona oder uxor ist, zufriedengibt. Ausgehend von dieser Idealsituation imaginiert er sich selbst in einem Ehebruchsszenario und zählt dabei nochmals dessen schädliche Konsequenzen auf, wobei er das Risiko für Vermögen, Leib und Ansehen besonders betont.229 Die Wiederholung dieses Ehebruchsszenarios dient zweifellos als besonders eindringliches exemplum e contrario.230 Die Erwähnung des Fabius im letzten Vers deutet eine imaginäre Auseinandersetzung mit der stoischen ἀπάθεια-Lehre an, die erfolgreich zu bestehen der Ich-Sprecher sich sicher ist, da er auf der Basis seiner offenbar selbst gemachten Erfahrungen seiner Argumentation entsprechend Gewicht verleihen kann.231 Insgesamt zeigen vor allem die mehrfachen Referenzen auf epikureische Werke und unmarkierte, aber im Wortlaut erkennbare Bezüge auf lukrezische232 Verse sowie die explizite Nennung von Philodem, dass die intertextuelle Ver‐ bindung zu epikureischen Prätexten in sat. 1, 2 wesentlich stärker ist als in den beiden behandelten Episteln. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie im Sinne einer Dialogizität wird durch den satirischen Kontext angeregt.
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Vgl. dazu auch Knorr (2004) 59 f., der die Möglichkeit eines Mimus als Vorlage für diese Schlussepisode in Betracht zieht; sieh dazu ferner Gowers (2012) 116; Brown (2007) 113; Freudenburg (1993) 45; McKeown (1979) 73. Browns (2007) 114 Schlussfolgerung, dass die Formulierung aut denique fama in V. 133 zum Ausdruck bringen soll, dass dem Dichter das eigene Ansehen gegenüber dem Vermögensverlust und körperlichen Strafen am wenigsten betroffen mache, ist nicht überzeugend, da zu Beginn des folgenden Verses die Unannehmlichkeiten öffentlicher Schande erneut unterstrichen werden (deprendi miserum est); vgl. dazu auch Gowers (2012) 117. Eine „Heuchelei“ des satirischen Ich-Sprechers, wie sie Kemp (2016) 141 f. für die Schlussepisode und für die gesamte Satire annimmt („the narrator’s hypocrisy“), geht nicht unmittelbar aus dem Text hervor und bleibt daher unberücksichtigt. Diese plausiblen Vermutungen stellen sowohl Brown (2007) 114 als auch später Gowers (2012) 117 f. übereinstimmend an; siehe ferner Turpin (2009) 132. Vgl. auch Gowers (2012) 91: „H[orace’]s intertextual engagement with Lucretius […] continues“.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Nach Berücksichtigung all dieser Beobachtungen kann man also von einer epikureischen Tendenz dieser Satire sprechen, muss zugleich aber festhalten, dass der voluptas-Begriff entgegen der ursprünglichen ἡδονή-Auslegung der griechischen Epikureer, die ein weitaus breiteres Wirkungsspektrum umfasst, in diesem Fall von Horaz auf den rein sexuellen Wirkungsbereich eingeengt wird. Ehebrecher (moechi), die sich dabei auf eine Liebesbeziehung zu verheirateten Matronen einlassen oder allzu fixiert auf eine einzige Frau gleich welchen Standes sind, werden ähnlich wie die Gefährten des Odysseus in epist. 1, 2 und epist. 1, 6 als unreflektiert und vorschnell handelnde Männer präsentiert und vor einem deutlich präsenten philosophischen Hintergrund als Antiepikureer gekennzeichnet. Diese textbasierten Erkenntnisse führen zu dem Schluss, dass Horaz hier keine Rollenmodellierung eines epikureischen Typus vornimmt; vielmehr wird die epikureisch ‚gefärbte‘ persona aufgrund ihrer individuell-komplexen Anlage sogar von Stereotypik befreit: Dieser Effekt wird durch die Kontrastierung von rollenhaftem bzw. stereotypischem Fehlverhalten erzielt. 3.3.4 Ofellus und die voluptas summa in Hor. sat. 2, 2 Wie bereits angekündigt, finden sich bei Horaz noch mindestens drei weitere Textstellen, in denen die voluptas als handlungsleitendes Prinzip explizit thema‐ tisiert wird und dabei in enger Verbindung mit einzelnen Protagonisten und ihren Lebenserfahrungen steht. In sat. 2, 2 eröffnet der Bauer und Landpächter Ofellus dem Leser sein Lebenscredo vom vivere parvo,233 das zwar dem epikureischen Lebensideal der αὐτάρκεια prinzipiell durchaus nahesteht;234 aufgrund seiner Umschreibung als virtus und der Charakterisierung des Ofellus als abnormis sapiens (V. 3), d. h. als eines Weisen, der keiner bestimmten Schule angehört, wäre aber eine Einstufung seiner folgenden praecepta als epikureisches Gedankengut nicht nur einseitig, sondern schlicht unzulässig und verfehlt: Quae virtus et quanta, boni, sit vivere parvo (nec meus hic sermo est, sed quae praecepit Ofellus rusticus, abnormis sapiens crassaque Minerva), discite, non inter lances mensasque nitentis, 233 234
Dieser Leitsatz spielt besonders in carm. 2, 16 und epist. 1, 10 eine ebenfalls zentrale Rolle; siehe dazu Kap. 4.2.2.2. bzw. 5.2.3. Vgl. etwa die Thematisierung der αὐτάρκεια als ἀγαθὸν μέγα in Epik. Men. 130. Darüber hinaus bemerkt Cicero bei seiner Darlegung der epikureischen Begierdenabstufung und Lustlehre in Tusc. 5, 97: […] extenuanturque magnificentia et sumptus epularum, quod parvo cultu natura contenta sit. […].
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
cum stupet in vanis acies fulgoribus et cum acclinis falsis animus meliora recusat, verum hic impransi mecum disquirite. […] (Hor. sat. 2, 2, 1–7a)
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Ungeachtet dessen fällt auch im Laufe des von philosophischen Gedanken ge‐ prägten, aber weitgehend undogmatischen sermo der markante voluptas-Begriff (V. 19) und bedarf daher grundsätzlich einer näheren Betrachtung. Zunächst erfolgt durch den satirischen Ich-Sprecher, der sich dabei auf die angeblichen Worte des Ofellus beruft, der mit Nachdruck geäußerte Hinweis, dass man sich die ‚Lehre‘ des vivere parvo unbedingt zu einer anderen Zeit als bei einer üppigen Mahlzeit mit prunkvollem Geschirr zu Gemüte führen solle, da der menschliche Sinn und Verstand (acies et animus) davon nur abgelenkt und getäuscht werde (V. 4–9a). Das bedeutet, dass ein nüchterner Verstand, den es für seriöse Philosophie braucht, nur dann gewährleistet ist, wenn auch das Mahl eher karg ist und nicht zu einer Übersättigung führt. Wahrer Genuss stellt sich dagegen durch die maßvolle Befriedigung eines zuvor entstandenen natürlichen Bedürfnisses ein, zum Beispiel infolge einer körperlichen Anstrengung.235 Ofellus stellt dabei dem horazischen Ich-Sprecher zufolge zunächst anhand einiger Beispiele die Dekadenz der römischen Jugend unter Beweis, die sich vom ‚echten‘ labor im Sinn des mos maiorum längst abgewandt und sich stattdessen einem studium fallens hingegeben habe (V. 9b–13);236 zudem verlange die verwöhnte Jugend nach einem labor nach einem möglichst opulenten Mahl und erkenne nicht, dass schon eine einfache Kost ausreichen würde, um den eigenen Hunger zu stillen.237 Der Zustand, gerade nach der Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Hunger und Durst zu streben, sei also dem ‚Bauernphilosophen‘ zufolge die Grundvoraussetzung für eine unvoreingenommene bzw. unbefangene und zielgerichtete Auseinandersetzung mit philosophischen Themen: Habe man kostspieligere Lebensmittel zur Verfügung, könne man natürlich auch davon Gebrauch machen; andernfalls sei es aber absolut ausreichend, mit der ein‐ fachsten Mahlzeit sein Bedürfnis nach Nahrung zu stillen (V. 15–18a).238 Dieser Gedankengang erinnert ganz stark an die Ausführungen der Sprecher-persona in Hor. sat. 1, 2, 109–118, wo die Bedeutung des sozialen Status einer Frau zur 235 236 237 238
Vgl. dazu Epik. Men. 127; 130; sent. rat. 29 f.; siehe dazu auch Muecke (21997) 117. Vgl. dazu etwa Knorr (2004) 186f. Zu dieser Beurteilung der römischen Jugend vgl. Hor. sat. 2, 2, 52: parebit pravi docilis Romana iuventus. Zur Übereinstimmung dieser Überlegungen mit epikureischen Anschauungen siehe zuletzt Yona (2017) 617f.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Befriedigung des männlichen Sexualtriebs ebenso zurückgestuft wird wie die Qualität der Nahrung in sat. 2, 2. Es entspricht dem inzwischen bekannten horazischen Muster, dem Leser mögliche Referenzen auf philosophisches Gedankengut aus mehreren Schulen unmarkiert anzubieten: Zu Beginn dieser Satire kann man auch stoisch und sokratisch-kynisch anmutende Überlegungen239 annehmen; Referenzen auf die epikureische Lehre, die sich auch schon in der Inszenierung eines Landmannes als indirekten Sprecher dieser Verse mit dem Credo des vivere parvo angedeutet haben (v. a. Gleichgültigkeit gegenüber den verfügbaren Speisen), lassen sich durch den anschließend fallenden voluptas-Begriff noch klarer identifizieren. Diese wenig überraschende Beobachtung stützt zugleich die Charakterisierung des Ofellus als abnormis sapiens, der kein Vertreter bestimmter Lehrmeinungen ist, sondern crassa Minerva ohne Verfeinerung durch Philosophie-Studien seine eigenen Lebensempfehlungen aus der Erfahrung heraus entwickelt. Da Ofellus der epikureischen Lehre aber sehr nahekommt, wird auch sie dadurch als evident richtige ars vitae bestätigt, wenn man Ofellus’ Weisheit am Ende akzeptiert. Vor diesem Hintergrund ist es also wiederum unproblematisch und für die Struktur der bisherigen Argumentation sogar lohnenswert, auch auf den Begriff der voluptas zu sprechen zu kommen und dabei ein entscheidendes Zwischen‐ fazit der vorangegangenen Überlegungen zu ziehen. Dies tut gleichsam der Sprecher Ofellus mit folgender Sentenz: […] non in caro nidore voluptas summa, sed in te ipso est. […] (Hor. sat. 2, 2, 19f.)
20
Für den horazischen Ofellus scheint die voluptas demnach ein ähnlich zen‐ traler Aspekt zu sein, wie sie es als summum bonum für die Epikureer ist. Tatsächlich fallen nämlich deutliche Parallelen zu den Thesen Epikurs ins Auge:240 erstens die grundsätzliche Begierdenklassifizierung Epikurs, die das Bedürfnis nach Essen und Trinken als ‚natürlich und notwendig‘ einstuft, zweitens der Gedanke, dass Brot und Wasser ebenso gut zur summa voluptas beitragen könnten wie vermeintlich erlesenere Lebensmittel,241 und drittens
239
240
Charakteristisch für die Stoa sind hier u. a. die Begriffe der virtus und der labores zu nennen, während die bis zu diesem Punkt proklamierte Form der Askese schon Sokrates und in dessen radikaler Nachfolge den Kynikern zugerechnet werden kann; siehe dazu auch Yona (2017) 615 f.; Muecke (21997) 116f. Vgl. dazu auch Armstrong (2014) 124f.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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klingt offenbar auch der Primat der inneren seelischen Verfassung vor dem körperlichen Wohlbefinden in den Horaz-Versen an.242 Angesichts dieser epikureisch ‚gefärbten‘ Überlegungen ist es wenig erstaun‐ lich, dass unmittelbar die Ermahnung folgt, durch eigene Anstrengung dafür zu sorgen, dass man sich so fühlt, als hätte man ein üppiges Mahl vor sich: […] tu pulmentaria quaere / sudando […] (V. 20f.). Erneut scheint sich hinter den damit verbundenen labores, die dem philosophischen voluptas-Gedanken eigentlich unvereinbar gegenüberstehen, das aus epikureischer Tradition bekannte Lust‐ kalkül zu verbergen: Wenn man sich mit einfacher Kost zufriedengibt, kann das schon den Ansprüchen der summa voluptas genügen. In diesem Sinn ergibt sich allerdings rückblickend die Notwendigkeit zu einer Korrektur, was die Deutung der These summa voluptas […] in te ipso est und damit den oben vorerst als dritten Punkt festgehaltenen Aspekt geistiger voluptas betrifft: Ohne jeden Zweifel ist an dieser Stelle mitnichten an eine Hervorhebung der psychischen Dimension zu denken, sondern allenfalls an einen Appell zur Steigerung der eigenen (körperlichen) Aktivität, um das nach individuellen Maßstäben bestimmte Ziel der summa voluptas auch wahrlich zu erlangen.243 Ohne eigenes Zutun bleibt die persönliche summa voluptas dagegen unrealisierbar. Trotz dieser philosophischen Botschaft des Ofellus verharren die zentralen Ausdrücke, die bisher das vivere parvo umschreiben, und gerade auch die voluptas zu diesem Zeitpunkt noch fast ausschließlich im Kontext der Nahrungs‐ aufnahme und somit im körperlich-sinnlichen Bereich des Lustbegriffs. Eine Änderung dieser anfänglichen Wahrnehmung vollzieht sich erst im weiteren Verlauf des Gedichts (ab V. 53), wenn der philosophische Leitspruch des Ofellus, der fortan als Plädoyer für einen victus tenuis bezeichnet wird, zunehmend konkretere Formen erhält und auf den gesamten Lebensbereich übertragen wird. Nachdem Ofellus ausführlich dargelegt hat (V. 23–52), wie sehr man sich durch die äußere Erscheinung einer Speise verlocken lässt (V. 35: ducit te species, video; […]) und wie groß das Verlangen verwöhnter Menschen nach einem außergewöhnlichen Mahl ist (V. 38: ieiunus raro stomachus vulgaria temnit),
241 242 243
Vgl. Epik. Men. 130f.: […] οἵ τε λιτοὶ χυλοὶ ἴσην πολυτελεῖ διαίτῃ τὴν ἡδονὴν ἐπιφέρουσιν, ὅταν ἅπαν τὸ ἀλγοῦν κατ’ ἔνδειαν ἐξαιρεθῇ, καὶ μᾶζα καὶ ὕδωρ τὴν ἀκροτάτην άποδίδωσιν ἡδονήν, ἐπειδὰν ἐνδέων τις αὐτὰ προσενέγκηται. Dies geht indirekt wohl auf Epik. Men. 132 zurück. Die zitierte Verspassage ist also folgendermaßen aufzufassen: „Die höchste Lust ist nicht in einem verlockenden Duft eines Festtagsbratens zu sehen, sondern es liegt an dir selbst, sie zu erlangen“.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
differenziert er auch zwischen einem sordidus victus (Geiz) und einem tenuis victus (Schlichtheit). Die Lebensweise eines Geizhalses präsentiert er am Beispiel des Avidienus (V. 55b–62) und macht ihn zum Gegenpol des Schlemmers, dessen Verhalten bereits in V. 39–52 angeprangert und karikiert wurde. Die in V. 63 f. gestellte Frage, für welche dieser beiden extremen victus sich der sapiens nun entscheiden wird, beantwortet Ofellus mit zwei exempla, die offensichtlich Philodems De oeconomia entnommen sind, wie Sergio Yona vor wenigen Jahren nachgewiesen hat:244 Dem Beispiel des Albucius, der seine Sklaven grob behandelt (V. 66b–68a) entspricht Philodems φιλοχρήματος, dem Beispiel des Naevius, der seinen Gästen nichts gönnt (V. 68b–69) kommt dagegen Philodems ἄφιλος gleich. Ab V. 70 werden die Vorteile eines tenuis victus genannt, die über den rein kulinarischen Aspekt weit hinausgehen: Zum einen führt leichte Kost zu einer langfristigen Schonung der eigenen Gesundheit (V. 71–81), zum anderen bietet eine sparsame Ernährung die Möglichkeit, sich ab und zu ohne Bedenken etwas leisten zu können, berufliche Auszeiten zu nehmen und sich eine ausreichende Altersvorsorge aufzubauen (V. 82–93). Auch die fama nimmt bei übermäßigem Reichtum Schaden, wenn dieser nicht auch anderen in Form von privaten und öffentlichen Spenden zugutekommt (V. 93–105). Schließlich ermöglicht ein vorausschauender und sparsamer Umgang mit dem eigenen Hab und Gut, wenn man ein contentus parvo (V. 110) ist, sogar die Überwindung der wankelmütigen fortuna (V. 106–111).245 Dass dieses Argument stichhaltig ist und der Wahrheit entspricht, zeigt sich am Beispiel des Ofellus selbst (V. 112–136): Ofellus als Opfer der Landvertreibung hatte früher die Möglichkeit zur voluptas mit Luxus, doch er lebte auch damals schon vernünftig. Diese Einstellung hat ihm den Verlust des Vermögens leichter gemacht.246 In den Schlussversen, die Ofellus als Appell an seine Nachfahren in den Mund gelegt werden, wird das vivere parvo sogar zum vivite fortis (V. 135) gesteigert. Wenn man abschließend auf die ‚Szene‘ zu Beginn der Satire zurückblickt, als Ofellus seine Vorstellung von der summa voluptas deutlicht gemacht und von jeglichen kulinarischen Genüssen scharf getrennt hat, zeigt gerade seine eigene Lebensgeschichte, dass sein Umgang mit voluptas nicht auf das leibliche
244 245 246
Vgl. Yona (2017) 621f. Vgl. dazu v. a. Epik. Men. 131: τὸ συνεθίζειν οὖν ἐν ταῖς ἁπλαῖς καὶ οὐ πολυτελέσι διαίταις […] πρὸς τὴν τύχην ἀφόβους παρασκευάζει. Zur epikureisch-philodemischen Prägung von Ofellus’ Lebenseinstellung, wie sie insbesondere in V. 112–136 zur Geltung kommt, siehe v. a. Yona (2017) 625–628; zum Vergleich der Ofellus-Satire mit dem ersten Buch der Satiren siehe ferner Knorr (2004) 182–188.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
197
Wohl beschränkt ist, sondern die Grundlage für seine Einstellung zum Leben insgesamt bildet. Auch wenn der ‚Bauernphilosoph‘ Ofellus zu Beginn als abnormis sapiens (V. 3) eingeführt wird und daher nicht ausschließlich epikureisches Gedan‐ kengut in sat. 2, 2 verarbeitet ist, dürfte dennoch deutlich geworden sein, dass Ofellus viele Philosopheme zugeschrieben werden, die mit Epikurs Lehre (v. a. Epik. Men. 130–132) bzw. mit Philodems De oeconomia in starker Verbindung stehen. Auch wenn der Grad an Referentialität niedrig bleibt, weil Markierungen von Zitaten fehlen, ist der Grad an Kommunikativität hoch, die auf der in‐ haltlichen Ebene angeboten wird, und erneut fordert der satirische Kontext zur Dialogizität auf, da die Aussagen des ‚Bauernphilosophen‘ mit denen der professionellen Philosophen verglichen werden sollen. Obwohl die Übertragung der epikureischen Lehre auf den kulinarischen Bereich in dieser Satire auch an Damox. fr. 2 erinnert, stellt Ofellus bzw. der horazische Ich-Sprecher – un‐ gewöhnlich für einen eigentlich satirischen Kontext – unvergleichlich seriösere Gedanken als der Koch in besagtem Fragment an. Während in der Komödie eine mutwillige Falschauslegung der Kepos-Lehre evident war, wird bei Horaz die philosophische Lehre mit den Normen, die der Bauer Ofellus aus seiner Lebenserfahrung ableitet, in Einklang gebracht. 3.3.5 Die gaudia vana und der demptus mentis gratissimus error im zweiten Epistel-Buch In den ersten beiden Episteln des zweiten Buches wird der voluptas-Begriff in einen bislang unbehandelten Kontext gerückt, nämlich in die Welt des Thea‐ ters als Bereich visueller voluptas: In der Augustus-Epistel wird die römische Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Dichtung in den Blick genommen. Die problematische Ignoranz des römischen Publikums wird an den Kriterien nach‐ gewiesen, die zu Erfolg oder Misserfolg der zeitgenössischen Theaterdichter führen: Die auditive voluptas, also die ästhetische Qualität, die der Dichter zur Theateraufführung beitragen kann, ist längst von der Schaulust, der visu‐ ellen voluptas, als unangemessenem Bewertungskriterium für Dichtung ersetzt worden (Hor. epist. 2, 1, 177–193). Im Florus-Brief geht es dagegen um den Dichter selbst und den Anreiz bzw. die Hemmnisse, überhaupt noch produktiv zu werden. Der selbstkritische Dichter ist mit unendlich mühsamer Arbeit gestraft – zwar steigert das die Qualität, aber glücklich scheinen ihm die selbstzufriedenen schlechten Dichter; deren Selbsttäuschung schafft zumindest ein Zufriedenheitsgefühl, das Horaz abgeht. In diesem Kontext führt er uns einen Mann aus Argos ein, der im leeren
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Theater Halluzinationen von Theateraufführungen genießt, trotzdem aber an‐ sonsten zu einer normalen Lebensführung fähig ist (Hor. epist. 2, 2, 128b–140). Als er schmerzhaft aus seiner Einbildung gerissen wird, bewertet er den Zustand nach seiner ungewollten Heilung als extorta voluptas / et demptus per vim mentis gratissimus error (V. 139f.). Die Vernetzung mit dem epikureischen Leitgedanken, der in den zuvor behandelten Texten aus dem Werk des Horaz meist noch sehr klar zur Geltung kommt, gestaltet sich in beiden Fällen allerdings sehr schwierig. Gleichwohl soll auch der Verwendung des voluptas-Begriffs in diesen beiden Versepisteln ein kleiner, aber angemessener Spielraum für eine philosophische Einordnung geöffnet werden. In Buch II nehmen die einzelnen Briefe schon wesentlich mehr Raum ein. Auch der erkennbar veränderte Tonfall und der politisch aufgeladene Kontext der ersten beiden Briefe in Buch II legen die Vermutung nahe, dass auch Themen und Terminologien, die unter Umständen schon im ersten Briefbuch zur Sprache gekommen sind, nun eine etwas andere Nuancierung erhalten, was auch zu einer differenzierten Deutung der voluptas in einem unterschiedlichen Kontext führen kann.247 So enthält der an den römischen Princeps Augustus gerichtete Brief 2, 1 eine Analyse der Ursachen und Konsequenzen fehlender gesellschaftlicher Anerkennung von zeitgenössischer Dichtung. Die Ursachen liegen in falschen Bewertungskriterien des Publikums. Während das römische Volk im politischen Bereich richtig urteilt und die Leistungen des Augustus voll anerkennt und verdient würdigt, hat es im Bereich der Kultur falsche Vorstellungen (V. 18–22). Die verbreitete Überzeugung, dass nur die alten Dichter gut sind, wird als falsch erwiesen (V. 63–65): Durch einen Sorites wird der Begriff „alt“ (vetus) als unbestimmbar ad absurdum geführt (V. 34–49). Die Anhänglichkeit an die alten Dichter wird psychologisch als sentimentale Erin‐ nerung an die Jugendzeit oder Prahlen mit Spezialkenntnissen im archaischen Sprachstand eines Salierlieds erklärt (V. 79–89). Die Konsequenzen dieser denkfaulen oder arroganten Bewertung sind jedoch von gesellschaftlicher
247
Siehe dazu auch die Einschätzung von Ferri (2007) 130: „[…] the world from which these letters emanate is no longer the moral landscape of Book I, and has nothing of the voyage of self-discovery and self-analysis in which Horace engaged himself and his correspondents then. The old epistolary atmosphere of intimacy and meditative loneliness has been left behind […]“. Diese Feststellung soll jedoch keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass gewisse literarische Motive aus dem ersten Buch auch im zweiten erkennbar werden, wie zum Beispiel der klassische Bescheidenheitstopos, der bei Horaz bisweilen zu einer beinahe schon ängstlichen Zurückhaltung des Dichters abgewandelt wird (vgl. den Beginn von epist. 1, 13 und von epist. 2, 1); dazu auch Günther (2013) 485.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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Relevanz: Sie wirken für den kulturellen Fortschritt Roms fatal, denn sie behindern die Weiterentwicklung der Kunst. Griechenland hätte unter diesen Bedingungen nie zu seiner führenden intellektuellen Rolle gelangen können, die Rom jetzt erreichen möchte (V. 90–102). Aus dieser Analyse ergibt sich, dass es Aufgabe des Princeps sein muss, dieser gesellschaftlichen Entwicklung entgegenzuwirken und durch seine kenntnisreiche und richtige Bewertung die Kulturförderung zu übernehmen und in die richtigen Bahnen zu lenken (V. 245–259). Die späte Entwicklung des Dramas, die Horaz in diesem Kontext nach‐ zeichnet, mündet in eine Schilderung des pervertierten Publikumsgeschmacks (V. 168–207).248 Im Rahmen des zuletzt genannten Aspekts fällt nun der vo‐ luptas-Begriff, ohne jedoch einen nachweisbaren philosophischen Anklang zu offenbaren: saepe etiam audacem fugat hoc terretque poetam, quod numero plures, virtute et honore minores, indocti stolidique et depugnare parati, si discordet eques, media inter carmina poscunt aut ursum aut pugiles; his nam plebecula gaudet. verum equitis quoque iam migravit ab aure voluptas omnis ad incertos oculos et gaudia vana. (Hor. epist. 2, 1, 182–188)
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Die hier dargestellte voluptas des Publikums, das zur richtigen Beurteilung nicht fähig ist, hat demzufolge eine gänzlich negative Entwicklung genommen, weil die Freude am Klang gesprochener Verse nun offenbar vollkommen der blanken Schaulust weichen musste und somit die auditive Komponente der voluptas an
248
Zur möglichen Intention von Horaz für die in epist. 2, 1 vorgebrachte Kritik am römischen Drama und die Wahl des Adressaten stellt Günther (2013) 492 folgende Überlegungen an: „[…] we find in this letter the blending of moral and literary qualities as two sides of what is essentially the same coin, and these two aspects are fittingly related to the persona of addressee being both a statesman who cares about the moral advancement of the Roman citizens and a discerning patron of arts who wants to promote poets of literary merit. The prominence drama holds in Horace’s poem pays respect to Augustus’s personal predilection; Horace is not a dramatic poet. Thus, speaking about dramatic poetry, Augustus’s beloved comedy, in particular, allows him to claim some attention for his non-dramatic poetry as well. […]“.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
der Poesie gegenüber der visuellen Dimension effektvoller Spektakel vollständig an Boden verloren hat.249 Wenn man hier eine epikureische Komponente erkennen wollte, dann wäre es die Forderung, die voluptas angemessen einzusetzen. Das ‚Lustkalkül‘ würde in einem intellektuellen Kalkulieren bestehen, nämlich darin, Kunst auch ange‐ messen zu rezipieren, sich nicht vom Glanz täuschen zu lassen. Die gaudia vana (V. 188) sind bei Theaterspektakel genauso unangemessen wie beim Gastmahl, das Ofellus in der Satire schildert: Der Dramendichter wird einen Kenner durch seinen Text, also vor allem die auditive Komponente, überzeugen, nicht durch die prunkvollen Effekte der Aufführung. Beim Genießen von Delikatessen war es auch weniger der Geschmack, der die voluptas des Schlemmers hervorgerufen hat, sondern das soziale Kriterium der Exklusivität oder das visuelle Kriterium der Schönheit des Pfaus, der geschmacklich nichts anderes als normales Geflü‐ gelfleisch zu bieten hat. Ein wenig anders verhält es sich – trotz des ähnlichen thematischen Kontextes – im literarischen Brief an Iulius Florus (epist. 2, 2).250 Dort greift Horaz ein schon aus epist. 1, 1 bekanntes recusatio-Motiv auf, indem er aufgrund der veränderten Lebenssituation – dazu wird unter anderem sein inzwischen gesichertes finanzi‐ elles Auskommen, sein fortgeschrittenes Alter, die immerwährende Kritik seiner Leserschaft, die fehlende Ruhe in der Stadt und der ständige Wettstreit unter den Dichtern gezählt – seinen Abschied von der Verskunst ankündigt (V. 26–140). Dabei ist auch die Möglichkeit, ein scriptor delirus inersque (V. 126) zu sein, der seine eigene Unfähigkeit bestenfalls gar nicht wahrnimmt, von wesentlicher Bedeutung und mündet in die Anekdote des halluzinierenden Argeiers im leeren Theater (V. 128b–140).251 Dessen Einbildung, herausragenden Tragödienvorstellungen in einem tat‐ sächlich menschenleeren Raum beizuwohnen, knüpft an die Kritik des Dichters 249
250
251
Trotz oder gerade wegen des harschen Tonfalls, der fast schon an Ciceros Invektiven gegen Piso und Gabinius erinnert, ist es durchaus zutreffend, wenn etwa Klingner (2009) 352 in diesem Abschnitt der Epistel „a fairly nasty satire on the vacuous pomp of the theatre, and on the dull, gaping people in the stands, and the noise that drowans out every word“; in diese Richtung gehen auch die Ausführungen von Feeney (2009) 379 f., der dazu vergleichbare Weltbilder in anderen Gedichten von Horaz heranzieht. Dessen Datierung ist – so die communis opinio in der Forschung – zwischen 20 und 18 v. Chr. und damit auf jeden Fall vor der Entstehung von epist. 2, 1 anzusetzen, die gemeinhin als letzter literarischer Brief – auch nach der Ars poetica (epist. 2, 3) – gilt; vgl. dazu Pasoli (2009) 404; Freudenburg (2009) 417. In Hor. ars (= epist. 2, 3) 285–308 wird dieses Thema mit der Kontrastierung von begabten, aber sozial distanzierten und rein vernunftorientierten, aber eher unterdurch‐ schnittlichen Dichtern erneut aufgeworfen.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
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an, die er in den Versen 106–125 an der blinden Selbstüberschätzung und dem ungenügenden Sprachstil schlechter Poeten festmacht.252 In nuce geht es also – wenn nicht schon ab V. 106, so doch spätestens ab V. 126 – hauptsächlich um die Frage, ob ein schlechter Dichter nicht glücklich sein kann, wenn er an dem schönen, aber realitätsfernen Gedanken, dass seine Dichtung Qualität habe, festhält und dieser Wahn aufrechterhalten wird. Da sich der Mann aus Argos außer dem beschriebenen Makel nichts zu‐ schulden kommen ließ und gar eine vorbildliche Lebensführung im Umgang mit seinen Mitmenschen an den Tag legte, stellt die von seinen Angehörigen erzwungene Heilung seiner Sinne einen abrupten wie dramatischen und folgen‐ schweren Lebenseinschnitt für ihn dar: hic ubi cognatorum opibus curisque refectus expulit elleboro morbum bilemque meraco et redit ad sese, ‘pol me occidistis, amici, non servastis’ ait, ‘cui sic extorta voluptas et demptus per vim mentis gratissimus error.’ (Hor. epist. 2, 2, 136–140)
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Im Kontrast zur naheliegenden Annahme – die auch die Verwandten des Mannes geteilt haben dürften – den anonym bleibenden Mann aus Argos von seiner Sinneskrankheit zu befreien und ihm damit einen Gefallen zu erweisen, bricht für diesen eine Welt zusammen, da er in seiner Halluzination keine Last, sondern vielmehr eine willkommene voluptas empfunden habe. Diese Erzählung thematisiert also den schmerzhaften Schritt aus einer Fantasiewelt, die nur der eigenen sinnlichen Wahrnehmung entspringt, in die (anfangs) als unerträglich verspürte Realität, wie er auch im berühmten platonischen Höhlengleichnis veranschaulicht wird.253 Das gewaltsame, aber für notwendig erachtete Herausreißen aus einer bislang vertrauten Lebenswelt spiegelt sich in
252 253
Den satirischen und zugleich höchst politischen Charakter dieser Passage beschreibt Freudenburg (2009) 437–441 in seiner Gegenüberstellung der adressatengleichen Horaz-Episteln 1, 3 und 2, 2. Vgl. Plat. rep. 7, 514 a–517 c.
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der Beurteilung des Betroffenen wider, wenn er von einer extorta voluptas und einem gratissimus error spricht, denen er leidenschaftlich nachgegangen sei.254 Die Versepistel 2, 2255 enthält viele Anekdoten; unter ihnen hat die Ar‐ geier-Episode eine besondere Aussagekraft als kontrastives Mittel der Veran‐ schaulichung: Während der Dichter, der in dieser Epistel spricht, bereits desil‐ lusioniert ist und an der Qualität seiner Dichtung unter widrigen Umständen arbeiten muss, steht der Argeier für den schlechten Dichter, der sich einer Selbsttäuschung hingibt. Der Prozess der Einsicht, die Poesie angesichts des Alters und der neu eingeordneten Lebenssituation besser aufzugeben, erfolgt gleichermaßen mit viel Wehmut und bedeutet einen schmerzvollen, aber not‐ wendigen Abschied von der Verskunst.256 Diesen Zusammenhang verdeutlicht der Dichter zum Abschluss des ersten Hauptteils von epist. 2, 2 selbst: Nimirum sapere est abiectis utile nugis et tempestivum pueris concedere ludum ac non verba sequi fidibus modulanda Latinis, sed verae numerosque modosque ediscere vitae. (Hor. epist. 2, 2, 141–144)
Der Dichter kommt zu diesem Schluss, nachdem er alle Motive durchgespielt hat, die sonst einen Dichter zum Arbeiten treiben: Die extrinsische Motivation wie die finanzielle Absicherung und den Ehrgeiz, die Anerkennung durch Auftraggeber, andere Dichter und das Publikum zu erreichen, hat er bereits überwunden. Es bliebe allein die Kunst um der Kunst willen. Um aber die eigenen hohen Qualitätskriterien noch zu erfüllen, scheint ihm das Alter allmählich 254
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256
Eine inhaltlich sehr ähnlich lautende Episode aus dem Leben eines vom Wahnsinn befallenen Griechen, der nach seiner Heilung gleichermaßen wehmütig auf die Zeit seiner Halluzination zurückblickt, berichtet Aelian in seiner Anekdotensammlung Varia historia: In Ail. var. 4, 25 wird erzählt, wie sich ein Mann namens Thrasyllus aus Aerone im attischen Piräus wohnhaft machte und im Glauben, dass sich alle in den Hafen einlaufenden Schiffe in seinem Besitz befänden, den Schiffsverkehr protokollierte und überwachte. Dabei bestand seine größte und danach nie mehr erreichte ἡδονή darin, die erfolgreiche Landung der Schiffe im Hafen zu beobachten. Neben zahlreichen anderen Exkursen bzw. Exemplifizierungen dieser Art (vgl. V. 26–40; 87–101) wird sogar innerhalb der Geschichte über den Mann aus Argos auf eine andere berühmte Anekdote angespielt: Der Hinweis in V. 135 stellt ohne Frage einen direkten Bezug zu einer Anekdote über Thales her, die in Plat. Tht. 174a erzählt wird (Verspottung des Naturphilosophen und Astronomen durch eine thrakische Magd, als er beim Betrachten der Sterne in einen Brunnen fällt); vgl. dazu auch Günther (2013) 475. Vgl. u. a. Holzberg (2009) 214. Auf der anderen Seite bezweifelt Holzberg (2009) 211 f., dass man die bis dahin dargelegten Argumente des Dichters für eine erforderliche Abkehr von den Musen ernst nehmen kann.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
203
die Kraft zu rauben. Stattdessen will er sich jetzt ganz einer ebenso wichtigen Aufgabe widmen. Nachdem er bisher vollkommene Dichtung zum Ziel hatte, will er jetzt das vollkommene Leben in Harmonie mit gleichem Eifer erreichen. Der Gedanke des utile mit Bezug auf die eigene Person taucht schließlich ab V. 190 (utar) wieder auf257 und entfaltet dort den gefassten Entschluss, ein bescheidenes Leben frei von Geiz und Verschwendungssucht führen zu wollen und es sich dabei gut gehen zu lassen. Keine Furcht vor postmortalen Geschehnissen – und sei es auch nur das eigene Ansehen bei den Erben –, sondern ein Leben als einfacher, aber fröhlicher (statt verschwenderischer) und dennoch sparsamer (aber nicht geiziger) Mann bilden unter dem Leitanspruch des carpe diem 258 die selbst gesetzten Ziele des Dichters im reifen Mannesalter (V. 190–198). Auch die durch Lukrez geprägte Schiffsmetapher (V. 199–202)259 fügt sich in dieses Lebensbild ein und übernimmt in diesem Fall in erster Linie die Funktion, dem schon in den Versen zuvor manifest gewordenen Streben nach einer aurea mediocritas auch im übertragenen Sinn Nachdruck zu verleihen. Dieses bei Horaz häufiger wiederzuentdeckende Sprachbild aus der Lukrez-Tradition260 wird in der hier vorliegenden Deutung schließlich von der Sentenz bestätigt, mit der in V. 203 f. das Mittelmaß als vernünftige Richtlinie für den persönlichen Ehrgeiz in allen Lebensbereichen bekräftigt wird. Zusammen mit den bereits zuvor angestellten Überlegungen über die wahre und lebenspraktische bzw. die der jetzigen Lebenssituation angemessenen voluptas des Dichters, aber auch über das Bestreben, die Sorgen und kraftrau‐ benden Strapazen des Literaturbetriebs in der Stadt abzuschütteln,261 münden letztlich in einen Fragenkatalog, der inhaltlich von Empfehlungen und Zielen des Epikureismus geprägt ist (V. 205–212); Freiheit von falschen Begierden und falschen Vorstellungen, die Furcht und Unruhe verursachen, führt zu einer richtigen Lebenseinstellung mit epikureischen Werten wie Genuss der Lebens‐ zeit und der Freundschaft: Nur wer sich von der avaritia lossagt, sämtlichen
257 258 259 260
261
Den identischen Gedanken, der ebenfalls durch den absoluten Gebrauch von uti ausgedrückt wird, findet man auch bei Pers. 6, 22–24. Dieser horaztypische Aspekt begegnet dem Leser in V. 198 wieder: exiguo gratoque fruaris tempore raptim. Vgl. Lucr. 2, 1–4. Vgl. Hills (2005) 127: „The sailing metaphor of the following lines picks up both the end of Odes 3.29, which stresses Horace’s integrity and adaptability to circumstances, and the cautious approach prescribed in nautical terms in Odes 2.10“. Narratologische Parallelen zu den Oden erwähnt indes Günther (2013) 473f. Vgl. Hor. epist. 2, 2, 65f.: Praeter cetera me Romaene poemata censes / scribere posse inter tot curas totque labores?.
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vitia entkommen ist, keiner inanis ambitio verfallen ist, frei von Todesfurcht und Zorn ist, der Providenz als einer Art menschlicher Hirngespinste und Trugvorstellungen keine Beachtung schenkt, dankbar für jedes neue Lebensjahr ist, sich den Freunden gegenüber nachgiebig zeigt und mit zunehmendem Alter wachsende Milde und Charakterstärke an den Tag legt, hat das recte vivere erfolgreich umgesetzt. Hier entsteht vom Ich-Sprecher in der vorliegenden Versepistel ein Bild, wie es schon aus den epikuraffinen Ausführungen im ersten Briefbuch vertraut ist. Die moralphilosophische Grundlage für den Charakter dieser persona muss sich also auch auf die Rolle als Dichter auswirken. In den Schlussversen der Epistel spitzt sich dieser Gedankengang des Dichters noch weiter zu, indem er nicht nur einen Abschied von der Dichtung, sondern gar vom Leben forciert, wenn dieses ausschließlich aus Maßlosigkeit und Ausgelassenheit bestünde: vivere si recte nescis, decede peritis. lusisti satis, edisti satis atque bibisti. tempus abire tibi est, ne potum largius aequo rideat et pulset lasciva decentius aetas. (Hor. epist. 2, 2, 213–216)
215
Obwohl ein Du angesprochen wird, hat man hier den Eindruck, einer selbst‐ kritischen Lebensreflexion in Form eines inneren Monologs beizuwohnen.262 Auch einem falschen voluptas-Bild wirkt der Dichter damit entgegen: Der zurückliegende Lebensabschnitt, in den auch die poetische Tätigkeit fällt, war offenbar mit ludi und potus verbunden und birgt daher die Gefahr, diesen Lebensstil in ausuferndem Maß auch im vorgerückten Alter fortzuführen, sodass die moralphilosophische Gesamtbilanz am Ende des Lebens nicht mehr positiv ausfallen könnte.263 Eine explizit „unepikureische“ ‚Färbung‘ dieser Verse, wie sie Hills konsta‐ tiert,264 ist daher wohl kaum anzunehmen, zumal nicht etwa die Furcht vor Alter und Tod angeprangert, sondern vielmehr die Bereitschaft zum Tod eingefordert wird. Hinzu kommt, dass der Inhalt der letzten vier Verse erneut ein lukrezisches Motiv aufgreift.265 Im Vergleich zur Rede der personifizierten Natura (mit 262 263 264
Vgl. Günther (2013) 484; Holzberg (2009) 213; Hills (2005) 127. Vgl. Hills (2005) 127 f. Vgl. ebd.: „If all this sounds a little bit smug, it is probably intended to, as the poet pricks his own complacency in the concluding lines by alluding to his moral weakness, particularly his preoccupation with morality and growing old (a dominant concern in Horace’s later works). This fear is most un-Epicurean, and the point is hammered home with no fewer than three references to this theme in the space of four lines (207, 210, 211), while the poem ends with death staring the poet in the face“.
3.3 Die Verwendung des (epikureischen) voluptas-Konzepts bei Horaz
205
anschließendem Autorkommentar) über die Sinnlosigkeit der Todesfurcht nach einem genussvoll geführten Leben in Lucr. 3, 931–977 verknüpft allerdings Horaz in seiner Epistel poetologische und philosophische Reflexionen in einem bisher ungekannten Maß.266 Mit Verweis auf den sympotischen Kontext, der schon bei Hor. sat. 1, 1 in Gestalt eines Zechers aufgerufen wird, zieht Lefèvre ein zutreffendes Fazit: „Horaz möchte nicht wie jener Zecher unerfüllt aus dem Leben scheiden, sondern in der ihm verbleibenden Zeit nach Erfüllung streben. Die Verwirklichung der vita beata ist von Anfang an sein Ziel geblieben.“267
Vor dem Hintergrund dieses Lebensziels darf man über den anfänglich un‐ scheinbar wirkenden voluptas-Begriff in epist. 2, 2, 139 nicht einfach hinweg‐ sehen, um die Kombination der poetologischen und moralphilosophischen Dimensionen zu erfassen und für die Gesamtaussage der Epistel nutzbar zu machen. Die frühere voluptas, die Horaz aus seiner Dichtung gezogen hat, muss aufgegeben werden, da sie zwar gratissima, moralphilosophisch auf lange Sicht hin jedoch ein error sei – und genau das ist der Punkt: Es geht dem altersmüde gewordenen Dichter also darum, nicht einer falschen oder vergänglichen voluptas aufsitzen, sondern darum, sich um die rechte Lebensweise zu bemühen und dabei trotzdem sein Leben in angemessener Weise auskosten und genießen zu können. Infolge dieser Ergebnisse kann man weder den Dichter bzw. die Sprecher-per‐ sona in epist. 2, 1 noch den Argeier in epist. 2, 2 als epikureische Figur bezeichnen. Gerade für die erste Epistel ist eine epikureische ‚Färbung‘ des Textes nicht ausreichend deutlich nachzuweisen. Anders verhält es sich in epist. 2, 2, wo besonders ab V. 190 inhaltliche Referenzen auf die epikureische Lehre und sprachlich-motivische Bezüge zum Lehrgedicht des Lukrez vorhanden sind. Diese zeichnen die Sprecher-persona – ähnlich wie in sat. 2, 2 – in ihrer Affinität zur epikureischen Ethik für den Leser mit entsprechenden Kenntnissen deutlich aus, sodass hier die Kommunikativität über Stichwörter und inhaltliche Übereinstimmungen erzeugt wird.
265 266 267
Vgl. die Rede der personifizierten Natura (mit anschließendem Autorkommentar) über die Sinnlosigkeit der Todesfurcht nach einem genussvoll geführten Leben in Lucr. 3, 931–977; dazu auch Günther (2013) 481. Vgl. Günther (2013) 484. Lefèvre (1993) 328.
206
3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
3.4 Der autorenspezifische Umgang mit der voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘ Nach der facettenreichen Bearbeitung des philosophischen voluptas-Konzepts bei Horaz, der den traditionellen Streitbegriff jeweils in konkreten Anwen‐ dungsbereichen des Lebensalltags in seiner eigenen Zeit kontextualisiert, gehen seine Nachfolger im ersten nachchristlichen Jahrhundert beim Umgang mit der philosophischen voluptas einen anderen Weg: Dies wird im Folgenden an ausgewählten Textpassagen von Silius Italicus und später auch (in Kapitel 5.3. dieser Arbeit) im Zusammenhang mit der Rezeption des epikureischen λάθε-βιώσας-Prinzips in den Silven des P. Papinius Statius exemplarisch gezeigt. 3.4.1 Zur Gestaltung und Funktion von voluptas und virtus als kontrastive Begriffskonzepte und Handlungsprinzipien bei Silius Italicus 3.4.1.1 Die Punica des Silius Italicus in der Tradition von Vergils Aeneis Von dem um 25 n. Chr. geborenen Tib. Catius Asconius Silius Italicus ist lediglich ein einziges Werk überliefert, das jedoch monumentale Ausmaße erreicht hat und sich in die römische Tradition des historischen Epos einreiht: die 17 Bücher umfassenden Punica, die thematisch und strukturell als eine Fortführung von Vergils Aeneis angelegt sind.268 Diese Kontinuität der Vergil-Tradition wird auf mehreren Ebenen deutlich: In ethischer Hinsicht ist beiden Epen eine stoische bzw. stoaaffine Grundprägung gemeinsam, die vor allem dadurch zur Geltung kommt, dass das labor-Motiv jeweils als Voraussetzung für die Erfüllung der fata von Menschenseite her fungiert.269 Ausgehend von dem Fluch, den Dido nach 268
Zu Struktur und Charakter der Punica und ihrem Verhältnis zu Aeneis und Pharsalia siehe grundlegend Bernstein, „Continuing the Aeneid in the first century. Ovid’s Little Aeneid, Lucan’s Bellum Civile, and Silius Italicus’ Punica“, in: Robert Simms (Hrsg.), Brill's companions to prequels, sequels, and retellings of classical epic, Leiden/Boston (Mass.) 2018, 248–266; Marks, „Silius and Lucan“; in: Antony Augustakis (Hrsg.), Brill’s companion to Silius Italicus, Leiden 2010, 127–154; Klaassen, „Imitation and the hero“, in: Antony Augustakis (Hrsg.), Brill’s companion to Silius Italicus, Leiden 2010, 99–126; Gärtner, „Überlegungen zur Makrostruktur der Punica“, in: Florian Schaffenrath (Hrsg.), Silius Italicus. Akten der Innsbrucker Tagung vom 19.–21. Juni 2008, Bern/Frankfurt a. M. 2010, 77–98; Ahl/Davis/Pomeroy: „Silius Italicus“, in: Hildegard Temporini/Wolf‐ gang Haase (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2.32.4, Literatur der julisch-claudischen und der flavischen Zeit, Berlin/New York 1986, 2492–2561; Albrecht, „Die Punica und Vergils Aeneis“, in: Michael von Albrecht (Hrsg.), Silius Italicus. Freiheit und Gebundenheit römischer Epik, Amsterdam 1964, 164–184.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
207
der Abfahrt des Aeneas vor ihrem Selbstmord über die Römer verhängt hat, übernehmen Juno als göttliche Kriegsanstifterin und Hannibal als menschlicher Vollstrecker von Didos Testament die Rollen der Antagonisten Roms. Hannibal wird dabei von Jupiter zur Strafe für die eigensinnigen Römer bzw. als deren Bewährungsprobe zugelassen und entpuppt sich zunächst als wahr gewordener Albtraum der Römer, der sie mit gewaltigen labores konfrontiert. Erst Scipio als Hauptheld des Epos wird die Römer zum Sieg über die Karthager führen und verkörpert dabei die virtus, die sich bewährt und das fatum der Römer zu einer glücklichen Erfüllung führt.270 Auf der Ebene der Moralphilosophie zeichnet sich indes in der römischen Epik seit Vergil immer deutlicher die Tendenz ab, Eigenschaften und Verhal‐ tensmuster epischer Heroen nach erkennbar moralphilosophischen Kategorien auszugestalten. Schon in den Horaz-Episteln 271 waren markante Spuren einer allegorischen Ausdeutung Homers nach moralphilosophischen Aussagen nicht zu übersehen und diese Art von Figurendeutung hat sich auch im silianischen Epos niedergeschlagen: So wird zum einen die Figur des Hercules als Schutzgott von Sagunt, dem in Gades ein berühmter Tempel geweiht ist, von Hannibal fälschlicherweise vereinnahmt (Weihe der Spolien aus Sagunt) und als ethisches Modell beansprucht, da sich dieser für einen legitimierten Imitator des Halb‐ gottes hält und die Bilder von den Taten des Hercules als Vorbild für sein eigenes Handeln nimmt. Wahrer Erbe des Hercules wird allerdings der römische Kriegsheld Scipio Africanus, der zugleich als eine Art römische Wiedergeburt Alexanders des Großen in Szene gesetzt wird, der das griechische Original sogar noch zu übertreffen scheint.272 Zum anderen betrifft die Kontinuität dieser 269
270
271 272
Zum Stoizismus im silianischen Werk siehe u. a. Lefèvre, „Deque tuis pendentia dardana fatis. Beobachtungen zu den fata und den Göttern in Silius Italicus’ Punica“, Aevum(ant) N. S. 6 (2006) 275–291; Auhagen, „Stoisches bei Silius. Decius und Hannibal (Punica 9, 155–258)“, Aevum(ant) N. S. 6 (2006) 85–97; Matier, „Stoic philosophy in Silius Italicus“, Akroterion 35 (1990) 68–72; Billerbeck, „Aspects of Stoicism in Flavian epic“, in: Francis Cairns (Hrsg.), Papers of the Liverpool Latin Seminar, Liverpool 1986, 341–356; Bassett (1966) 262–264. Vgl. dazu v. a. Schultheiß (2012) 255–274; Hulls, „How the West was won and where it got us: compressing history in Silius’ Punica“, Histos 5 (2011) 283–305; Pomeroy, „To Silius through Livy and his predecessors“, in: Antony Augustakis (Hrsg.), Brill’s companion to Silius Italicus, Leiden 2010, 27–45; Gibson, „Silius Italicus. A consular historian?“, in: Antony Augustakis (Hrsg.), Brill’s companion to Silius Italicus, Leiden 2010, 47–72; Manuwald, „History in pictures. Commemorative ecphrases in Silius Italicus’ Punica“, Phoenix 63. 1–2 (2009) 38–59; Nesselrath, „Zu den Quellen des Silius Italicus“, Hermes 14 (1986) 203–230; Kißel (1979) passim. Vgl. etwa die in dieser Arbeit näher behandelten Briefe Hor. epist. 1, 2; 1, 6. Vgl. dazu v. a. Tipping (2010) 138–192; siehe dazu auch Moretti, „Eracle varca le Alpi. Un mito geografico in Silio Italico fra allegoria ed epos“, in: Itinerari e itineranti attraverso
208
3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Allegorese auch die Figur der Venus als einer positiv konnotierten Göttin und Ahnherrin der Römer: Sie fungiert nämlich bei Silius Italicus zugleich als Mutter des Aeneas (und damit eines Sohns, der die Bewährung in labores-Situationen verkörpert) und als Göttin, die voluptas als Lebenswahl empfiehlt und damit auch Roms Feinde erfolgreich schwächt.273 Es wird hier also zu untersuchen sein, wie Silius Italicus diese Venus einerseits nach der epischen Tradition im Anschluss an Vergil und andererseits durch die Öffnung hin zur Philosophie modelliert. Schließlich kann auch auf der Ebene der Metaphysik bzw. der Theologie eine Parallele zwischen Vergil, Lucan und Silius Italicus gezogen werden: Wie bereits angesprochen, zeichnet sich eine klare Tendenz zur stoischen Konzeption des fatum ab, das bei Vergil als teleologisches Prinzip verankert wird und bei Lucan als εἱμαρμένη ohne personifizierte und aktiv handelnde Götter fortwirkt. Da es als zyklisches Naturgesetz von Aufstieg und Niedergang auch die römische Vorherrschaft durch ihren Fall beenden kann, zeichnet sich das silianische fatum insbesondere durch die von Juno und Jupiter veranlassten Bewährungsproben für das römische Volk aus. 3.4.1.2 Zur Bedeutung von virtus und voluptas in den Punica-Büchern vor der ‚Scheidewegsszene‘ Die Begriffskonzepte von virtus und voluptas wirken als zentrale Handlungs‐ motive in den Punica des Silius Italicus. Bereits vor der sogenannten ‚Schei‐ dewegsszene‘ in Buch XV, die im Hinblick auf dieses Thema sicherlich von entscheidender Bedeutung ist, kommt der voluptas als handlungsbestimmendem Phänomen in den vorausgehenden Büchern eine stetig wachsende Bedeutung zu, vor allem in Buch XI im Rahmen der Intervention der Göttin Venus bei den Karthagern in Capua. Die enge Verbindung von Venus und voluptas, die schon in Buch I des lukrezischen Lehrgedichts angelegt ist, nimmt in den Punica ihren Anfang in der Begegnung von Jupiter und Venus am Ende von Buch III, die in Anlehnung an die entsprechende vergilische Szene im ersten Buch der Aeneis gestaltet ist.274 In
273 274
le Alpi dall’antichità all’Alto Medioevo. Convegno di studio e assemblea nazionale. Trento, 15–16 ottobre 2005, Trient 2005, 149–181; Asso (2010) 179–192; Asso, „Human divinity. Hercules in the Punica“, Vichiana 4a ser., 5.2 (2003) 239–248; Kißel (1979) 128–160; Bassett (1966) 258–273. Dieselbe Funktion hat sie im berühmten Proöm des lukrezischen Lehrgedichts inne; vgl. Lucr. 1, 1f.: Aeneadum genetrix, hominum divomque voluptas, / alma Venus, […]. Vgl. Verg. Aen. 1, 227–296; siehe dazu v. a. Martínez Astorino, „El poeta y la represen‐ tación de la historia en Aen. I, 223–296 y Met. XV, 761–842“, AC 86 (2017) 129–147; Cairo, „Memoria troyana e identidad romana en Eneida. Una lectura de los diálogos
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
209
Sil. 3, 557–629 wendet sich Venus mit ihrem Anliegen, das gegen weitere labores und moles ihrer römischen Schützlinge gerichtet ist,275 an ihren Vater, der ihr zur Beschwichtigung sogleich einen prophetischen Ausblick auf die glorreiche Zukunft Roms gewährt. Für die Figurenmodellierung der Venus stellt sich daher zunächst die Frage, ob in ihrer Auffassung von einem idealen Leben für ihre Schützlinge und in ihren Gefühlen und Handlungsentscheidungen epikureische Merkmale zu erkennen sind. Da Venus in ihrer Bittrede (V. 559–569) zwar Krieg und Qual rigoros ablehnt und sich Frieden und Ruhe für ihr Volk, die Römer, wünscht, zugleich aber selbst von Furcht und Zweifel gequält wird,276 kann ein epikureischer Gesamteindruck nicht bestätigt werden. Vielmehr liegt der literarische Ursprung ihres Engagements für ein ungestörtes Weiterleben der Aeneaden offenbar im Bereich der Systemreferenz, nämlich mit Bezug auf Venusʼ Rede im Götterkonzil der Aeneis (Verg. Aen. 10, 16–62a) und nicht in philosophischen Referenztexten. Die stoisch anmutende Erklärung Jupiters, der lediglich die Kampftauglich‐ keit und Anstrengungsbereitschaft des römischen Volkes auf die Probe stellen und erneuern möchte, enthält allerdings schon zentrale Gegenbegriffe zur späteren Rede der Voluptas, so dass das von Venus vertretene Lebensideal schon hier zurückgewiesen wird: gens ferri patiens ac laeta domare labores paulatim antiquo patrum desuescit honori, atque ille haud umquam parcus pro laude cruoris et semper famae sitiens obscura sedendo tempora agit mutum volvens inglorius aevum sanguine de nostro populus, blandoque veneno desidiae virtus paulatim evicta senescit. (Sil. 3, 575–581)
575 580
Angeprangert vom Göttervater wird also ausgerechnet der Zustand, in dem sich die Römer angeblich vor Ausbruch des Krieges befunden hätten und für dessen Wiederherstellung Venus als Mutter des Aeneas und Schutzgöttin des römischen Volkes einzutreten versucht: Die Tatenlosigkeit und passive
275 276
entre Júpiter y Venus (I, 223–304) y entre Júpiter y Juno (XII, 791–842)“, Auster 21 (2016) 95–110; Harrison, „Sermones deorum. Divine discourse in Vergil’s Aeneid“, in: Eleanor Dickey/Anna Chahoud (Hrsg.), Colloquial and literary Latin, Cambridge/New York 2010, 266–278; Czypicka, „Funzionalità del dialogo tra Venere e Giove nel libro III delle Puniche di Silio Italico“, Eos 75 (1987) 87–93; Kißel (1979) 38–46. Diese Begriffe verwendet Jupiter in seiner anschließenden Rechtfertigungsrede mehr‐ fach, vor allem in den Versen 571–587. Vgl. Sil. 3, 557f.: At Venus, ancipiti mentem labefacta timore […].
210
3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Lebensweise der einst militärisch so erfolgreichen Römer ist dem silianischen Jupiter ein Dorn im Auge und nach seiner Ansicht völlig unvereinbar mit dem bislang zentralen Merkmal des letztlich ja von ihm abstammenden Volkes, nämlich mit seiner virtus. Die im Kontrast zu den von Jupiter beabsichtigten labores und moles stehenden obscura tempora (V. 578 f.), das mutum aevum (V. 579) sowie das blandum venenum desidiae (V. 580 f.) erinnern dabei unweigerlich an wesentliche Aspekte der von Epikur empfohlenen Lebensweise.277 Die Überwindung dieser unrühmlichen Lebensverhältnisse sei in den Augen des silianischen Jupiters nur durch eine militärische Bewährungsprobe im Ausmaß des Krieges gegen die Karthager möglich und führe auf lange Sicht hin zur dauerhaften Behauptung der römischen Herrschaft im Mittelmeerraum und zur Anerkennung in der Welt der Götter.278 Im Reigen der Garanten zur Wiederherstellung der römischen virtus,279 die ihren Höhepunkt in der Herrschaft des am Ende vergöttlichten Domitian erreichen wird, wird neben anderen Helden des Zweiten Punischen Krieges – wenn auch ohne Namen – Scipio als Bezwinger Hannibals erwähnt (V. 591b–593). Dieser wird also noch vor der eigentlichen Schilderung seiner Intervention als junger, aufstrebender Heerführer Roms im hispanischen Gebiet als wegweisender, ja pionierhafter Gegenpol römischer virtus zur karthagischen Feindesmacht präsentiert, der den von Venus gewünschten Zustand durch die Bewährung Roms im Kampf letztlich herbeiführen und als virtus caelestis festigen wird. Da diese Passage bei Silius Italicus mit Referenz auf das berühmte vergilische Vorbild (Verg. Aen. 1, 257–296) angelegt ist, sucht man hier für die Lösung des Konflikts zwischen den Interessen der epikuraffinen Venus und Jupiters stoisch fundierten Plänen vergeblich nach einer spezifisch philosophischen Argumen‐ tation – etwa nach einer kaum haltbaren, weil literarisch nicht nachweisbaren Anwendung des Lustkalküls durch Venus. Vielmehr handelt es sich bei Silius Italicus um einen göttlichen Kompromiss, der in erster Linie der vergilischen Aeneis entnommen ist. Dass der Beschreibung der römischen Lebensweise (mit
277 278 279
Schultheiß (2012) 261 geht an dieser Stelle aus gutem Grund von einer synonymen Verwendung von desidia und der hier nicht explizit genannten, aber implizit gemeinten voluptas aus. Vgl. Sil. 3, 584–590a; vgl. dazu Schultheiß (2012) 262: „Die voluptas ist somit bereits im Vorfeld als der Missstand gekennzeichnet, der nach Bestimmung der fata von den Römern durch labores überwunden werden muss“. Der in V. 586 genannte Paulus lehnt zu Beginn von Buch X im Rahmen seiner Aristie bei einem Gespräch mit Juno alias Metellus einen vorzeitigen Rückzug aus dem Kampfgeschehen bei Cannae ab (V. 45–76), was Schultheiß (2012) 262 nachvollziehbar als „eine in die Tat umgesetzte Ablehnung der voluptas und Zustimmung zur virtus“ deutet, die den Ausgang der ‚Scheidewegsszene‘ in Buch XV bereits vorwegnehme.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
211
entsprechend markanten Begriffen wie desidia und virtus) bei Silius Italicus eine ungleich größere Bedeutung zuteilwird als bei Vergil, deutet allerdings an, dass Silius Italicus eine moralphilosophische Dimension bei der Kontrastierung von virtus und voluptas in seinem weiteren Werk zumindest nicht ausgeschlossen oder sogar bewusst verankert hat. Nachdem die militärische virtus in Gestalt Scipios und zahlreicher weiterer Römer in Buch III im Kontrast zu dem von Venus favorisierten Zustand von Ruhe und Sicherheit steht, verschärft sich dieser Eindruck einer Spannung zwischen dem Charaktermerkmal der Stammherrin und ihrer Nachkommen noch mehr, als Venus das kriegerische Streben der Karthager in Buch XI zum Zweck einer römischen Regeneration lähmt.280 Die kampanische Stadt Capua macht sich der perfidia gegenüber Rom schuldig, indem sie angesichts der beeindruckenden Etappensiege Hannibals ins punische Lager überläuft. Nach dem Einzug von Hannibals Truppen in Capua und einem Gastmahl, das zu Ehren der siegreichen Karthager abgehalten wird, ergreift Venus die Initiative, wie sie es etwa auch in Verg. Aen. 1, 657–694 mit dem Austausch des Ascanius durch Cupido zugunsten der Aeneaden getan hatte: Nec Venerem interea fugit exoptabile tempus Poenorum mentes caeco per laeta premendi exitio et luxu corda importuna domandi. (Sil. 11, 385–387)
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Mit Hilfe ihrer Eroten richtet Venus unter den Karthagern durch die heimtü‐ ckische Paralysierung ihres Kampfgeistes großen Schaden an,281 da die unter Hannibals Führung stehenden Soldaten dadurch vom wohl alles entscheidenden Marsch von Cannae auf Rom abgehalten werden.282 Silius Italicus markiert die intertextuelle Referenz zu Vergil durch die Vergleichbarkeit der Figurenkons‐ tellation deutlich: Mit diesem geschickten Manöver tritt Venus nach eigener Auskunft in erster Linie ihrer größten Widersacherin Juno entgegen, die sie mit
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Siehe dazu auch Bassett (1966) 259f. Vgl. Sil. 11, 388–396, wo vor allem von tela fallentia, tacitae flammae und tacita tela die Rede ist. Eben dies macht Hannon in Karthago dem noch in Capua weilenden Hannibal zum Vorwurf, nachdem Mago die Botschaft von Hannibals bis dahin herausragenden Erfolgen überbracht und um Verstärkung aus der Heimat gebeten hat; vgl. Sil. 10, 554–600.
212
3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
ihren eigenen Waffen zu schlagen versucht, indem die Eroten durch gezielte Pfeilschüsse die Angriffslust der Karthager zum Erliegen bringen.283 Im Einzelnen werde die Soldaten (V. 397–399) laut Ankündigung der Venus eine wirkmächtige Mischung aus sexuellen Handlungen (amplexus), übermä‐ ßigem Weingenuss (multum merum) und Trägheit (somnus) erfassen. Auch Hannibal (V. 400–409) könne ihrer Macht nicht widerstehen und verfalle einem übermäßigen Lebensgenuss (luxus), der unter anderem von Schamlosigkeit (nec pudeat) und Völlerei (fultus) geprägt sein werde; zudem werde er mit seiner Bequemlichkeit, Trunksucht und nächtlichen Schlaffheit bzw. Triebhaftigkeit ganz ähnliche Symptome aufweisen wie seine Gefolgsleute. Tatsächlich ist Venus kurz darauf mit dem völligen Verlust von horrida virtus und patriae artes im karthagischen Lager (V. 418–423)284 und der Übertragung von luxus und libido auf Capua und Umgebung am Ziel ihres Vorhabens: Die rö‐ mischen Feinde sind durch vermeintlich angenehme Zustände bis auf Weiteres unschädlich gemacht. Die Peripetie der epischen Kriegshandlung zeichnet sich daher an dieser Stelle durch die Lähmung karthagischer virtus aus, die Venus durch den Einsatz der dargestellten Wirkphänomene bzw. durch den Gebrauch der voluptas in einem rein negativen Sinn bewirkt. Damit ist der Wandel Capuas zu einer altera Carthago (V. 425) in mehrfacher Hinsicht vollzogen: Capua hat sich als kampanischer Zufluchtsort und strategisch günstiger Militärstützpunkt der Karthager im Kampf gegen Rom erwiesen und aus römischer Sicht nicht nur ähnliche Lebensumstände, sondern auch dieselbe perfidia wie Karthago an den Tag gelegt.285 Gerade der zuletzt genannte Aspekt, die Bedeutung Capuas als Ort, an dem die voluptas bzw. luxus und libido an die Stelle der virtus treten, ist für die Gesamteinstufung der voluptas ganz wesentlich: Die Auswirkung der von Venus repräsentierten und verbreiteten Lebensweise wird genauso verdeutlicht wie ihre strategische Bedeutung bei der göttlichen Einflussnahme auf das Kriegsgeschehen. Für das römische Volk erhofft sich Venus ein sesshaftes Leben in völliger Sicherheit (Sil. 3, 567). Um dieses Ziel zu erreichen, ‚zwingt‘ sie 283 284
285
Natürlich schlägt Silius Italicus mit dieser Szene auch eine Brücke zur ovidtypischen Verbindung von amor und militia und veranschaulicht auf diese Weise die Kampfkraft der römischen Liebesgöttin; siehe dazu etwa Ov. am. 1, 9. Streng genommen bezieht sich der Satz […] miserisque bonis perit horrida virtus (V. 419) auf Hannibals Soldaten, während ihm selbst die Formulierung […] et patrias paulatim decolor artes / exuit […] (V. 422f.) zugewiesen wird. Für die Gesamtdeutung macht diese schon in der Prophezeiung der Venus (V. 397–409) präsente Trennung keinen wesent‐ lichen Unterschied, sie unterstreicht vielmehr Hannibals herausragende Stellung im karthagischen Lager und den zusätzlichen Verlust seiner Führungsqualitäten. Vgl. v. a. Sil. 1, 5 f.; 329 f.; 478–487; siehe dazu auch Cic. leg. agr. 1, 20; 2, 95.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
213
genau die Lebensweise, die Jupiter so verhasst ist und für die er die Römer kritisiert, den romfeindlichen Bewohnern Capuas auf. Dadurch bannt sie nicht nur vorläufig die Gefahr für ‚ihr‘ Volk, sondern rückt auch den Fokus von der umstrittenen neuen Lebensart in Rom auf das von ihr verursachte Fehlverhalten der Capuaner. Die offenkundige Parallele zu Vergils Karthago in Buch I der Aeneis rückt die von Ausschweifung und Trägheit geprägte Lebensweise in ein ausschließlich negatives Licht. Aus römischer Sicht ist sie mit Blick auf Jupiters Ansinnen somit strikt abzulehnen und zu vermeiden. Insgesamt betrachtet fügt sich die Verbindung von Venus und voluptas bei der Frage nach der anzustrebenden Lebenseinstellung also stimmig – nämlich als strategischer Gegenentwurf zum römischen Lebensideal – in das stoische Gesamtgefüge des silianischen Epos ein. Die Venus des Silius Italicus agiert zwar in den entsprechenden Götterszenen mit gleicher Zielsetzung wie die Venus Vergils; ihre ablehnende Einstellung zu den labores, die die Römer aushalten müssen, ist aber wesentlich deutlicher artikuliert als in der Aeneis. Die Referenzen auf die stoische Moralphilosophie ebnen nicht zuletzt den Weg für die zentrale ‚Scheidewegsszene‘ in Buch XV und ihre zweifellos philosophi‐ sche Prägung. Das kompetitive Zusammenspiel von epikureisch vorgeprägter voluptas und stoisch besetzter virtus bildet somit den wichtigsten Baustein für die philosophische Gesamtanlage des silianischen Epos.286 3.4.1.3 Die Voluptas als allegorische Gegenspielerin der Virtus im Wettstreit um Scipio Africanus in Buch XV der Punica (‚Scheidewegsszene‘) Nach diesen einführenden Überlegungen zur Systemreferenz der Punica als Epos in der Nachfolge Vergils und der auf philosophische Referenzen hinwei‐ senden Verwendung von virtus und voluptas als gegensätzlichen Handlungsmo‐ tiven im Großteil des silianischen Werkes sei das Augenmerk im Folgenden auf die ‚Scheidewegsszene‘ gerichtet, deren Referenztexte vor allem aus der moralphilosophischen Literatur stammen. Die Scheidewegsszene markiert die Weichenstellung in Scipios Leben und für das weitere Schicksal Roms: Von den anfangs sensationellen Siegen der Karthager bei ihrem Marsch auf Rom unter der Führung des jungen und aufstrebenden Hannibal spannt das siliani‐ sche Werk einen Bogen über eine Verschiebung des militärischen Wettstreits zugunsten Roms bis zum Aufstieg des am Ende siegreichen Helden Scipio, der 286
Vgl. dazu auch Bassett (1966) 260: „In the Punica historical fact not only is adapted to verse but also is fused with philosophical symbolism. The poem combines and chronicles two contests, one between Carthage and Rome, the other between Pleasure and Virtue“.
214
3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
aufgrund seines entscheidenden Erfolgs über die karthagischen Truppen bei Zama fortan den Beinamen Africanus erhalten sollte. Bildgewaltig veranschau‐ licht wird Scipios Aufstieg zum römischen Kriegs- und Volkshelden durch seine moralische Entscheidung, die er bei seiner Begegnung mit den gottgleichen287 Personifikationen von Virtus und Voluptas zu Beginn von Buch XV trifft, wobei dieses allegorische Aufeinandertreffen an das traditionelle Motiv der ‚Scheidewegsszene‘ bzw. der individuellen Lebenswahl anknüpft.288 Seit Homers Ilias und der Reaktion des Achilleus auf den Ehrverlust durch Agamemnon ist die Entscheidung des Helden für seine Lebensform episches Thema. Trotzdem ist auf der Ebene der Strukturalität die intertextuelle Beziehung zu den philoso‐ phischen Prätexten besonders deutlich markiert. Die Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten nur vereinzelt mit der silianischen ‚Scheidewegsszene‘ befasst. Erwähnenswert sind hierbei vor allem Eberhard Hecks ausführlicher Beitrag Scipio am Scheideweg (1970), der auch die Parallelen zur Darstellung bei Xenophon und Livius interpretiert und zudem die Szene bei Silius Italicus in ihrer Struktur untersucht, das Kapitel Scipio at the crossroads in Raymond Marks’ Monographie From republic to empire. Scipio Africanus in the Punica of Silius Italicus (2005) und zuletzt Jochen Schultheiß’ Aufsatz Philosophie des Willens und Erzählstruktur. Die Scheidewegszene in den Punica des Silius Italicus (2012). Eine direkte Verbindung zu den stoischen und epikureischen Lebenskonzepten, die in der kontrastierenden Gegenüberstellung
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Ihr göttlicher Status wird schon durch die Art und Weise ihrer Ankunft bei Scipio sprachlich veranschaulicht: […] cum subito adsistunt, dextra laevaque per auras / al‐ lapsae, haud paulum mortali maior imago […] (Sil. 15, 20f.). Auch wenn damit die beiden Personifikationen zu Beginn der Szene scheinbar gleichgestellt sind, darf die Voluptas nicht einfach so – durch den bloßen Verweis auf Buch III (Göttergespräch) und XI (Capua) – als altera Venus gesehen werden: Während Venus für das römische Volk eintritt und mit dem Lebensstil der voluptas die Roms Feinde zu schwächen versteht, versucht die personifizierte Voluptas ja gerade Scipio bzw. Rom für diese Lebensweise zu gewinnen. Die Stelle Sil. 15, 59 f. (Teil der Voluptas-Rede, in dem sie ihren Einfluss auf die Geschicke Roms sogar über die Macht der Venus stellt) liefert einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt für die silianische Differenzierung zwischen Venus und der personifizierten Voluptas. Eine umfassende Zusammenstellung und eingehende Analyse betreffender Szenen in der antiken Literatur hat zuletzt insbesondere Harbach in ihrer Dissertationsschrift Die Wahl des Lebens in der antiken Literatur (2010) geboten; vgl. zur Lebenswahl des Herakles in der antiken Literatur u. a. auch Davies (2013) 3–17 und Kuntz (1993–1994), während Publikationen wie beispielsweise Harbsmeier (2013) 85–106 zur Figur des Glaukon in Platons Politeia und Zgoll (2010) 159–173 zur Wahl des Dichters zwischen Elegia und Tragoedia in Ov. am. 3, 1 den Fokus auf ganz bestimmte Textpassagen legen und dennoch in die Motivtradition des ‚Herakles am Scheideweg‘ einzuordnen verstehen.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
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der Allegorien Virtus und Voluptas angelegt sind, wird dabei allerdings selten hergestellt, sodass ein wichtiger Bestandteil der philosophischen Komponente der Punica etwas verloren zu gehen scheint. Der historische Kontext dieser Szene, die sich dadurch, dass sie die fiktionale Begegnung eines real existierenden Nationalhelden mit allegorischen Figuren aus der göttlichen Sphäre schildert, als höchst charakteristisches Element eines Epos erweist,289 kann außerhalb des silianischen Werkes auch mit Hilfe der historiographischen Schilderung bei Liv. 26, 18, 1–19, 9 erschlossen werden: Nachdem die beiden römischen Feldherrn, Scipios gleichnamiger Vater und sein Onkel Cn. Cornelius Scipio Calvus, im Kampf um die iberische Halbinsel gegen den karthagischen Heerführer Hasdrubal Barcas, den Bruder Hannibals, im Jahre 211 v. Chr. mit ihren jeweiligen Truppen zunächst voneinander getrennt und dann in zwei Schlachten (Schlacht von Castulo und Schlacht von Ilorica) vernichtend geschlagen und getötet worden waren, galt der neu zu besetzende Posten des römischen Befehlshabers für die Rückeroberung der hispanischen Gebiete mangels ernsthafter Bewerber für eine gewisse Zeit als vakant.290 Ausgerechnet der nicht zuletzt wegen seines jugendlichen Alters und seines unheilvollen Familienschicksals umstrittene und anfangs argwöhnisch beäugte Sohn und Neffe der beiden gefallenen Feldherrn bot sich schließlich bei den entscheidenden Komitien vor dem römischen Volk als militärischer Nachfolger an, was am Ende bekanntlich auch von großem Erfolg gekrönt sein sollte.291 Scipios Bereitschaft diesen verantwortungsvollen Posten zu übernehmen ist also psychologisch gut begründet: Auf der einen Seite steht der Verlust sehr enger Verwandten im Krieg gegen Hannibal, auf der anderen Seite hat seine Familie Angst um ihn und rät ihm aufgrund seiner vermeintlich altersbedingt
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Vgl. dazu etwa die zahlreichen Traumszenen bzw. Visionen in Homers Ilias (z. B. Trugtraum des Agamemnon; geistige Erscheinung des Patroklos-Leichnams bei Achill), in den Annalen des Ennius (Traumerscheinung Homers und Reinkarnation im römi‐ schen Dichter), in Vergils Aeneis (z. B. Aeneas’ Traumbild vom toten Hektor) oder in Lucans Bellum civile (Konfrontation Caesars mit der personifizierten Patria bei der Überschreitung des Rubikon). Die im römischen Volk um sich greifende Niedergeschlagenheit konzentrierte sich laut Liv. 26, 18, 5 zum damaligen Zeitpunkt daher besonders auf zwei Aspekte: […] redintegratus luctus acceptae cladis desideriumque imperatorum amissorum. Bei Silius Italicus ist hingegen die Angst des römischen Senats dominantes Element in der Rahmenhandlung: In den Eröffnungsversen des fünfzehnten Buches (Sil. 15, 1–9) fallen beispielsweise Ausdrücke wie nova cura, trepidae gentes, metus und anxia turba patrum. Zu den Bedenken aus dem Volk vgl. Sil. 15, 10–16; Liv. 26, 18, 10 f. Im Gegensatz zum Livius-Bericht werden diese Zweifel bei Silius Italicus noch vor der offiziellen Bestimmung Scipios zum neuen Oberbefehlshaber in Spanien vorgebracht.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
fehlenden Eignung von einer Kriegsteilnahme in dieser Position ab. Neben diesem Dilemma gilt es allerdings auch, die psychische Entwicklung Scipios vor Buch XV zu berücksichtigen: In Buch XI legt er noch eine eher depressive Verfassung an den Tag und hat das Bedürfnis, sich auf der Suche nach Ruhe aus der Politik und der militärischen Auseinandersetzung zurückzuziehen. Im ‚Nekyia‘-Buch XIII hingegen sehnt er sich schon nach Rache und beweist damit ein ähnliches pietas-Bewusstsein, wie es Aeneas bei der Vergeltung für den Tod des Pallas an den Tag gelegt hat. Die Taktik oder vielmehr die innere Motivation Scipios, zunächst als cunctator aufzutreten, zeugt bereits von seiner ausgeprägten virtus, da diese Art von Aufschiebung der gemeinnützigen Vergeltung sicherlich weniger als menschliche Schwäche und als Beweis für Scipios Untauglichkeit anzusehen ist, sondern als Zeichen seiner Reife und seines reflektierten Handelns. Gerade in diesem Punkt scheint Silius jedoch die Problematik um Scipio zu verorten, die die Einfügung der ‚Scheidewegsszene‘ nicht nur rechtfertigt, sondern als moralphilosophische Bewährungsprobe sogar notwendig macht. Die Begegnung Scipios mit den weiblichen Personifikationen von Virtus und Voluptas ist bereits bei Liv. 27, 19, 1–9 mit entsprechenden Spielräumen für eine epische Ausgestaltung angelegt und maßgeblich durch deren Zusammen‐ führung mit der Herakles-Episode bei Xenophon charakterisiert. In der zitierten Livius-Passage gelingt es dem jungen Scipio, durch sein rhetorisches Geschick die Bedenken des Volkes auszuräumen und das Vertrauen seiner römischen Landsleute in seine menschlichen und vor allem militärischen Fähigkeiten zu gewinnen. Einen konkreten Ausgangspunkt für die ‚Scheidewegsszene‘ bietet wohl Scipios Charakterisierung, dass er selbst „nächtliche Visionen“ öffentlich für seine politischen Ziele einzusetzen verstand: Fuit enim Scipio non veris tantum virtutibus mirabilis, sed arte quoque quadam ab iuventa in ostentationem earum compositus, pleraque apud multitudinem aut per nocturnas visa species aut velut divinitus mente monita agens, sive et ipse capti quadam superstitione animi, sive ut imperia consiliaque velut sorte oraculi missa sine cunctatione exsequerentur. (Liv. 26, 19, 3f.)
Zum einen wird Scipio demnach als Garant für verae virtutes gesehen, die sich nicht nur in seinen frühen militärischen Erfolgen zeigen, sondern auch in seinem energischen und charismatischen Auftreten bei seiner öffentlichen Ansprache zum Ausdruck kommen, zum anderen ist bei Livius von nicht näher definierten oder motivierten Traumbildern und Visionen bzw. von einer Art göttlicher
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
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Eingebung die Rede, die Silius Italicus den entsprechenden Gestaltungsraum für seine ‚Scheidewegsszene‘ eröffnet hat. Dem silianischen Scipio in Buch XV geht es in erster Linie um die persönliche und religiös fundierte Vergeltung seiner ermordeten Angehörigen, wie es die Alliteration patrios patruique piare / optantem manes in V. 10f. emphatisch zur Geltung bringt. Spürbar beeindruckt von den Einwänden gegen seine Kandi‐ datur, die bei Silius Italicus zunächst ausschließlich von Scipios Verwandten (V. 10–17) vorgebracht und erst später (V. 135–137) auch von den anderen Wahlberechtigten aus dem römischen Volk geäußert werden, zieht sich Scipio wie einst Herakles bei Xenophon zur Reflexion in stiller Umgebung an einen locus amoenus zurück, der nicht nur in scharfem Kontrast zu seinen Sorgen vor seiner richtungsweisenden Entscheidung steht, sondern mit dem Element des schattenspendenden und blühenden Lorbeerbaums auch seine glorreiche Zukunft als triumphaler Sieger in der finalen Schlacht bei Zama andeutet.292 Mit Vers 18 beginnt die sogenannte ‚Scheidewegsszene‘, deren Rahmenbedin‐ gungen bei Silius Italicus im Vergleich zur Livius-Darstellung im unmittelbaren Vorfeld zwar relativ knappgehalten sind, aber bereits im früheren Verlauf der epischen Handlung vorbereitet wurden. Der gesamte Passus lässt sich inhaltlich folgendermaßen gliedern:293 Nach dem Erscheinen und der äußeren Beschreibung der beiden Göttinnen (V. 18–31) hält zunächst die Voluptas ihren Werbevortrag (V. 32–67), ehe die Virtus zu ihrem wesentlich wortreicheren Konter ansetzt (V. 68–120). Als sich Scipio für den Lebensweg der Virtus ent‐ schieden hat, lässt sich die Voluptas bei ihrem Abgang zu einer abschließenden Drohgebärde hinreißen, mit der das allegorische Duell der beiden Kontrahen‐ tinnen sein Ende nimmt (V. 121–128). Nach seiner endgültigen Entscheidung für die Virtus, die ihm ein enormes Maß an Selbstsicherheit, Tatkraft und Mut verleiht, betritt Scipio die rostra und hält eine flammende Rede an das Volk, dessen Bedenken jedoch noch nicht restlos beseitigt werden können (V. 292
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Zur symbolischen Bedeutung des Lorbeerbaums im antiken Epos siehe insbesondere Harbach (2010) 336–347, die Spaltensteins (1990) 340 naheliegende und einleuchtende, aber nicht weit genug gehende Deutung des Lorbeers als proleptisches Element für Scipios Entscheidung pro virtute und dem damit verbundenen späteren militärischen Triumph unter Berücksichtigung der ebenfalls zur Wahl stehenden Lebensalternative der voluptas erweitert: „Vor allem aber ist nicht einsichtig, warum anlässlich einer Wahl die Entscheidung bereits zuvor im Text figurieren sollte. Tatsächlich antizipiert sie Virtus als eine Alternative, ebenso wie die Formulierung sub umbra die von Voluptas offerierte vita umbratilis andeutet. In dem Moment, in dem der junge Scipio unter dem Baum sitzt, ist noch nichts entschieden; der Schauplatz ist bewusst ambig und lässt den Ausgang offen“ (S. 338). Vgl. dazu Heck (1970) 156f.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
129–137). Erst ein eindrucksvolles Schlangenprodigium, das zugunsten Scipios und seiner Bewerbung für die Führung des römischen Heeres ausgelegt wird, kann diese letzten Zweifel ausräumen und ihm somit die uneingeschränkte Gunst des Volkes dauerhaft garantieren (V. 138–148).294 Das philosophische Potential von Scipios historisch-politischer Entscheidung hat bereits Cicero in De finibus bonorum et malorum erkannt, als er in seiner Erwiderung auf die Torquatus-Rede Epikur und Scipio im Rahmen der certatio virtutis et voluptatis einander gegenüberstellte: ‘[…] idem erit Epicuro vestro faciendum, si suum finem bonorum sequi volet, quod Scipioni magna gloria proposita, si Hannibalem in Africam retraxisset. Itaque quantum adiit periculum! Ad honestatem enim illum omnem conatum suum referebat, non ad voluptatem. […]’ (Cic. fin. 2, 56)
Um ‚Scipio an Scheideweg‘ in seinem philosophischen Aussagegehalt zu inter‐ pretieren, sei die Aufmerksamkeit zunächst auf Inhalt und Struktur der beiden Voluptas-Wortmeldungen (V. 32–67; 123b–127) gerichtet:295 In ihrer Hauptrede steht an erster Stelle die ausdrückliche Warnung Scipios vor einem möglichen Kriegseinsatz und vor den verheerenden Folgen einer damit verknüpften Ent‐ scheidung für die todbringende Virtus (V. 33–45). Hintergrund dieser stark psychologisierenden Argumentation sind zweifellos Scipios Erfahrungen mit den kriegsbedingten Todesfällen in seiner unmittelbaren Verwandtschaft. Im Anschluss an diese klare Abgrenzung, die vom ersten Augenblick an jegliche Vereinbarkeit mit dem Lebensideal der Virtus unmöglich erscheinen lässt, prophezeit die Voluptas für den Fall, dass Scipio den von ihr repräsentierten Lebensweg wähle, eine sorgenfreie, friedvolle und glückliche Zukunft, die ihm ein langes, ruhiges und mühefreies Leben ermöglicht:296 ‘[…] at si me comitere, puer, non limite duro iam tibi decurrat concessi temporis aetas. haud umquam trepidos abrumpet bucina somnos, non glaciem Arctoam, non experiere furentis ardorem Cancri nec mensas saepe cruento gramine compositas. aberunt sitis aspera et haustus
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Vgl. auch Heck (1970) 158, der die enge Verbindung des Schlangenprodigiums mit der Legende um Scipios Geburt in Sil. 13, 637–645 betont. Vgl. dazu erneut Heck (1970) 156f.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
sub galea pulvis †partique minore† labores. sed current albusque dies horaeque serenae, et molli dabitur victu sperare senectam. quantas ipse deus laetos generavit in usus res homini plenaque dedit bona gaudia dextra! atque idem, exemplar lenis mortalibus aevi, imperturbata placidus tenet otia mente. […]’ (Sil. 15, 46–58)
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Damit gibt sich die silianische Voluptas klar als Verkörperung der epikureischen Eudaimonie-Vorstellung zu erkennen, die für Scipio einen mollis victus voller horae serenae und bona gaudia statt einem limes durus mit trepidi somni und unaufhör‐ lichen labores bereithält. Dazu gehört auch die Vorbildfunktion einer ansonsten nicht mit den Menschen in Kontakt stehenden Gottheit, die im Epikureismus das ungestörte und glückselige Leben der Götter für die Menschen übernehmen kann, weil es das Ideal der ἀταραξία, ausgedrückt durch die Wendung imperturbata mente, verwirklicht (V. 57 f.).297 Diese offen zur Schau gestellte Glückseligkeit der Götter bedeutet nicht zuletzt, dass Eudaimonie auch für Menschen erreichbar ist; genau darin, in dieser epikureischen Version der ὁμοίωσις θεῷ, liegt wohl die von der Voluptas beabsichtigte Motivation für Scipio.298 Die Erscheinung eines derartigen Götterbildes im Traum widerspricht nicht epikureischen Erklärungsmodellen: Die von den Göttern abströmenden ima‐ gines erreichen den Menschen genauso, wie es die typische epische Formel299 von 296 297
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Damit bietet sie Scipio eine ebenso verlockende Alternative, wie es schon Thetis gegenüber ihrem Sohn Achill getan hat; vgl. Hom. Il. 9, 410–416. Wie schon Spaltenstein (1990) 343 nachvollziehbar darlegt, stehen die göttliche Passivität und ihre räumliche sowie emotionale Trennung von den menschlichen Belangen nicht unbedingt im Widerspruch zu den res in usus laetae und bona gaudia (vgl. V. 55 f.), die den Menschen im Vorfeld von den Göttern verfügbar gemacht wurden. Unverkennbar in diesem Textabschnitt ist ferner das für die römische Elegie typische Vokabular, mit dem die Voluptas ihre Lebensweise beschreibt und sich somit selbst in eine literarische Gattungstradition einreiht, die mit ihrem Wirkungsfeld am meisten zu tun hat; vgl. dazu auch Harbach (2010) 329. Vgl. Epik. Men. 135: […] καὶ οὐδέποτε οὔθ’ ὕπαρ οὔτ’ ὄναρ διαταραχθήσῃ, ζήσῃ δὲ ὡς θεὸς ἐν ἀνθρώποις. οὐθὲν γὰρ ἔοικε θνητῷ ζῴῳ ζῶν ἄνθρωπος ἐν ἀθανάτοις ἀγαθοῖς; vgl. auch Epik. sent. rat. 1 = sent. Vat. 1; sent. rat. 13 = sent. Vat. 72; zur falschen Angleichung (ὁμοίωσις ἀνθρώπῳ) siehe auch Epik. Men. 124; zur stoischen Position siehe u. a. Sen. dial. 7 (= De vita beata), 16; Cic. leg. 1, 25. Vgl. Verg. Aen. 1, 353 f.; 2, 560; 5, 636 u.ö., besonders 2, 772f.: umbra Creusae / visa mihi ante oculos et nota maior imago. Zur epikureischen Theorie der Wahrnehmbarkeit der Götter durch εἴδωλα vgl. Cic. nat. deor. 1, 49.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
der maior imago der beiden Allegorien, die dem Scipio erscheinen (Sil. 15, 20 f.), in Worte fasst. Eine Werbe- und Streitrede der beiden Allegorien ist allerdings nicht mit dem passiven Götterbild des Epikureismus vereinbar, sodass hier auf intertextueller Ebene Kommunikativität und Dialogizität – im Abgleich von Übereinstimmungen mit epikureischen Merkmalen und Widersprüchen – für Leser ermöglicht wird. Dem Eindruck eines epikureisch geprägten Götterbildes, bei dem direkte Intervention in menschliche Belange geleugnet wird, widerspricht es noch nicht, wenn die Voluptas die Leistungen des deus hervorhebt, von denen der Mensch profitiert. Vielmehr geht es hierbei um die grundsätzlichen Möglichkeiten, die der Mensch zur Realisierung einer vita beata zur Verfügung hat, und weniger um eine ständig wiederkehrende Hilfestellung, die der deus den Menschen gewährt, um etwa einen Krieg zu gewinnen oder das eigene Vermögen zu erhalten oder gar zu vermehren. Hinzu kommt, dass der in diesem Zusammenhang ebenfalls geäußerte Gedanke an die schnell vorübergehende Lebenszeit (V. 53) an epiku‐ reisches300 und besonders von Horaz301 rezipiertes Gedankengut erinnert. Im Folgenden zählt die Voluptas einige konkrete Beispiele für ihr mächtiges Wirken auf, die der Mythologie entnommen sind (V. 59–62): Sie betont ihre unverzichtbare Rolle bei der für die Gründung Roms entscheidenden Verbin‐ dung zwischen Venus und Anchises, aus der der generis auctor Aeneas hervor‐ gegangen ist, sowie ihre entscheidende Beteiligung bei den außerehelichen Seitensprüngen Jupiters in Gestalt eines Schwans (mit Leda) bzw. eines Stiers (mit Europa). Anders als in ihrer Beschreibung durch den Autor, die auffällige Parallelen zur vergilischen Venus erkennen lässt, stellt sich die Voluptas bei der exemplarischen Angabe der von ihr erbrachten Leistungen in der göttlichen Machthierarchie sogar über die römische Liebesgöttin und inszeniert sich damit als göttliche Urkraft der römischen Staatsgründung (V. 59 f.). Ebenso sei sogar Ju‐ piter nur dank ihrer kreativen Mithilfe in seinen zahlreichen Liebesabenteuern erfolgreich gewesen (V. 61 f.). Schließlich rundet eine Mahnung bezüglich der menschlichen Kurzlebigkeit, die wiederum stark an das horazische carpe diem erinnert, die Werberede der Voluptas ab: ‘[…] huc adverte aures. currit mortalibus aevum, nec nasci bis posse datur. fugit hora, rapitque Tartareus torrens ac secum ferre sub umbras,
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Vgl. u. a. Epik. sent. Vat. 10; 14. Vgl. u. a. Hor. carm. 1, 11; 1, 24; 1, 28; 2, 16.
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3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
si qua animo placuere, negat. quis luce suprema dimisisse meas sero non ingemit horas?’ (Sil. 15, 63–67)
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Nach der unmittelbaren Verunglimpfung ihrer Kontrahentin bzw. der düsteren Darstellung des mit ihr angeblich einhergehenden Lebensszenarios führt die personifizierte Voluptas ihre strikte Abgrenzung zur Virtus, die sie für die Kriegsraserei (V. 33: furor; V. 38: peric(u)la; V. 39: armisona procella; V. 40f.: saeva acies), die römischen Niederlagen (V. 34 f.) und den Tod von Scipios Verwandten und Landsleuten (V. 42–45) verantwortlich macht, im zweiten Sinnesabschnitt ihrer Werbebotschaft also fort. Recht unvermittelt und abrupt fügt sich daran ein vorläufiges Schlussund Mahnwort an, das dem horazischen Konzept des carpe diem nahesteht und dementsprechend wiederum epikureisches Gedankengut in sich birgt: Gemeint ist der Hinweis auf die rasche Vergänglichkeit und Einmaligkeit des menschlichen Lebens.302 Auch wenn diese Aussage ein zum damaligen Zeitpunkt bereits weit verbreiteter und undogmatisch erscheinender Topos war, wie schon Spaltenstein zu bedenken gibt,303 ändert das nichts daran, dass dieser moralphilosophische Gedankengang, der gerade auch in Senecas De brevitate vitae thematisiert wird, letztlich in erster Linie Epikurs Lehre zugerechnet und von Horaz in der römischen Literatur etabliert wurde.304 Die Tendenz einer solchen philosophiegeschichtlichen Einordnung geht schließlich nicht nur mit den voranstehenden Beobachtungen konform, sondern steht auch mit der Bezeichnung der Sprecherin als Voluptas im Einklang. Die Kommunikativität, also die Erkennbarkeit eines intertextuellen Zusam‐ menhangs für Autor und Rezipient, ist aus den bisher genannten Gründen graduell hoch anzusetzen. Gleiches gilt auch für die Dialogizität, da eine traditionelle Streitfrage der hellenistischen Philosophie in Verbindung mit einem wirkmächtigen Motiv der antiken Literatur (‚Scheidewegsszene‘) auf ein militärhistorisches Thema in einem Epos und damit auf einen eigentlich philosophiefernen Kontext übertragen wird. Die Rede der silianischen Virtus setzt erwartungsgemäß die negative Kenn‐ zeichnung ihrer Gegnerin Voluptas zur prinzipiellen Abgrenzung ein. Abge‐ sehen von einem kurzen Tadel ihrer Vorrednerin zu Beginn ihrer Ausführungen mit dem Vorwurf der betrügerischen Irreführung Scipios (fraudes)305 zu einem
302 303 304
Vgl. Epik. sent. Vat. 10; 14: Γεγόναμεν ἅπαξ, δὶς δὲ οὐκ ἔστι γενέσθαι […]; zur epikureischen Tendenz dieser Passage siehe auch Heck (1970) 162f. Vgl. Spaltenstein (1990) 344. Vgl. dazu auch Harbach (2010) 330.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
völlig unangemessenen Leben im Verborgenen (vitae tenebrae), wendet sich die Virtus erst in den Versen 89b–97 explizit gegen ihre Widersacherin. Dazu erinnert sie Scipio an die schwierigen und dennoch glorreichen Anfänge der Stadt Rom, die schnell expandiert sei und an Einflussbereich gewonnen habe. Gefährdet werde die Größe Roms, wie die Stadtgeschichte belege, durch den um sich greifenden luxus, den die Virtus unmittelbar mit ihrer in V. 107 abfällig als blanda Voluptas bezeichneten Gegnerin in Verbindung bringt, der sie zudem ein Höchstmaß an schädlicher Wirkung auf labile Opfer der Voluptas bescheinigt (V. 94 f.).306 Als kontrastive Überleitung zur Charakterisierung des von ihr selbst re‐ präsentierten Lebensweges (V. 98–120) dient die natürlich höchst subjektive Nennung allegorischer Begleiter von Voluptas und Virtus, die Wesen und Eigen‐ schaften der jeweils umschwärmten Anführerin veranschaulichen sollen: Auf der Seite der Voluptas seien das die Allegorien von Ebrietas, Luxus und Infamia (V. 96 f.), wohingegen die Virtus zu ihrem Umfeld die stark positiv aufgeladenen Allegorien von Honor, Laudes, Gloria, Decus, Victoria und Triumphus zählt (V. 98–100), was neben einer offensichtlichen moralisch-qualitativen auch eine quantitative Überlegenheit zur Geltung bringt.307 Auch in diesem Abschnitt ist vor dem Hintergrund des kriegerischen Gesamtkontextes die militärische bzw. politische Prägung der als Begleiter vorgestellten Allegorien nicht zu übersehen.308 Das heißt aber auch, dass die Virtus bis hierhin weniger stoisch argumentiert, sondern sich vielmehr an römische Wertvorstellungen anlehnt, wie sie im 1. Jahrhundert n. Chr. in Verbindung mit den Begriffen virtus und voluptas weit verbreitet waren. Dennoch erfüllt sich die naheliegende Erwartung, dass nach den stark epiku‐ reisch geprägten Ausführungen der Voluptas nun eine stoische Gegenposition aufgebaut wird, im weiteren Verlauf der Virtus-Rede.309 In despektierlicher 305
306 307 308
In Xen. mem. 2, 1, 27 beschuldigt die Ἀρετή ihre Vorrednerin gleichermaßen der ἀπατή, doch die direkten und scharf formulierten Vorwürfe an die Adresse der Κακία folgen erst im Zuge ihrer zweiten Gegenrede als Reaktion der Empörung über den vorschnellen Einwurf ihrer Konkurrentin. Der schädliche Einfluss der Κακία wird in Xen. mem. 2, 1, 31 angesprochen, ehe die Ἀρετή kurz darauf ebenfalls den Fokus des Zuhörers auf ihre eigene Wirkmächtigkeit lenkt. Zur Tradition solcher Kataloge und der personifizierten Begriffe im Einzelnen siehe Spaltenstein (1990) 346f. Der Aspekt der Begleitung und Anhängerschaft wird indes auch bei Xenophon nicht ausgespart, obwohl eine vergleichbare Allegorisierung entsprechender Wertbegriffe nicht vorzufinden ist: Als konkrete Personen, die nach den Worten der Ἀρετή der Κακία abgeneigt, ihr selbst aber gewogen seien, werden dabei lediglich θεοί und ἄνθρωποι ἀγαθοί erwähnt; vgl. Xen. mem. 2, 1, 31f.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
223
Weise nennt diese noch zusätzlich ein personifiziertes Phänomen im Lager ihrer Kontrahentin, welches den philosophischen Gehalt der gesamten Auseinander‐ setzung akzentuiert: Gemeint ist die Fors infida in V. 105. Mit deren Erwähnung zielt die Virtus auf die Bedeutung des menschlichen Willens ab, den sie im Lebensszenario der Voluptas offensichtlich degradiert sieht, während er für die Beschreitung des von ihr vertretenen Lebenspfad unentbehrlich ist:310 Nach stoischem Verständnis kann eine Krisenbewältigung dadurch herbeigeführt werden, dass sich der Mensch mit festem Vertrauen in die eigene virtus unab‐ hängig von negativen Einwirkungen von fortuita bzw. fors machen kann.311 Nachdem sie wenige Verse später ihre Abgrenzung von den Versprechungen der Voluptas erneuert hat (V. 107 f.), führt die Virtus diese entschlossene Absage an ein Leben von Luxus und Tatenlosigkeit abschließend in Anspielung auf das äußere Erscheinungsbild ihrer Gegnerin vor (V. 116 f.) und stellt Scipio den Sieg über Hannibal und die Karthager in Aussicht, was mit der Bemerkung über die symbolische laurus superba in V. 119 einen Bogen zur anfänglichen Beschreibung des Schauplatzes in V. 18 schlägt und somit den Hauptteil des Rededuells ringkompositorisch abrundet. Silius Italicus lässt die am Ende unterlegene Voluptas als schlechte Verliererin (V. 123: indignata Voluptas) noch einen kurzen Nachtrag vor ihrem trotzigen Verschwinden sprechen, für den Xenophon keine entsprechende Vorlage mit einer ähnlichen Sprechweise liefert:312 non tenuit voces. ‘nil vos iam demoror ultra’ exclamat; ‘venient, venient mea tempora quondam, cum docilis nostris magno certamine Roma serviet imperiis et honos mihi habebitur uni.’ (Sil. 15, 124–127)
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310 311 312
125
Eine ähnliche Grundstruktur liegt in Ciceros philosophischen Dialogen De finibus bonorum et malorum (siehe dazu Kapitel 3.2.) und De natura deorum (siehe dazu Kapitel 4.1.) zugrunde, in denen jeweils zunächst die epikureische und anschließend die stoische Position verhandelt werden. Natürlich erfolgt die jeweils direkte Kritik in beiden Fällen aus anderen philosophischen Lagern (Cicero bzw. Cotta als Vertreter des Skeptizismus). Vgl. Sil. 15, 104: […] annitendum intrare volenti […]. Vgl. dazu v. a. Sen. dial. 7 (= De vita beata), 15. Ein vergleichbares Verhalten zeigen die Epikur-Vertreter Torquatus in De finibus bonorum et malorum (siehe dazu Kap. 3.2.2. und 3.2.3.) und noch deutlicher Velleius in De natura deorum (siehe dazu Kap. 4.1.2.), die bei der Streitdebatte mit Cicero bzw. Cotta ebenfalls nicht ohne Weiteres klein beigeben und sich auch bei (Torquatus) bzw. sogar noch nach (Velleius) der Widerlegung ihrer philosophischen Ansichten zu Wort melden.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Der – wenn auch in beleidigtem Tonfall – geäußerten Einsicht, dass sie in diesem Zweikampf um Scipios Gunst der Virtus unterlegen sei, folgt die wie eine Drohgebärde formulierte Ankündigung der Voluptas, dass ihre Chance, in Rom endlich Gehör zu finden und eine solitäre Ehrenstellung einzunehmen, noch kommen werde. Ihr großes Ziel wird also in diesem kurzen Schlusswort enthüllt: Der Voluptas geht es langfristig gesehen nicht um das Versammeln einzelner Anhänger in Rom hinter sich, sondern um die vollständige Anerkennung und die uneingeschränkte Dominanz der von ihr repräsentierten Lebensform im gesamten römischen Volk. Umso schwerer dürfte der Verlust einer so symbolträchtigen Figur wie Scipio für die Voluptas im Hinblick auf eine baldige Realisierung ihres Vorhabens wiegen. Dessen ungeachtet stößt die Annahme, dass Silius Italicus mit der Vo‐ luptas-Prophezeiung auf spätere Lebensumstände in der römischen Gesellschaft abzielt, auf breite Zustimmung in der Forschung, auch wenn eine Einordnung in eine bestimmte Epoche wohl nicht vollkommen zweifelsfrei geleistet werden kann.313 Eine solche Unterscheidung ist jedoch gar nicht notwendig, da die Erfüllung der Voluptas-Vision bewusst offen und eine allgegenwärtige Drohung bleibt. Unabhängig davon, ob sich die an dieser Stelle imaginierte Herrschaft der Voluptas also auf die ausgehende Republik oder auf die frühe Kaiserzeit, vielleicht sogar auf das Rom zu Lebzeiten des Dichters beziehen könnte, ist die ‚Gefahr‘ der realen Existenz eines solchen Phänomens mit der wegweisenden Wahl Scipios jedenfalls vorerst (allerdings nicht dauerhaft und endgültig) überwunden. Die Bedeutung von Scipios Entscheidung für die in römischer Literatur stets so hochgehaltene Virtus kann angesichts der realistischen und potentiell wählbaren Lebensentwürfe beider Rednerinnen und der folgenden militärischen Erfolgsgeschichte kaum überschätzt werden. Anknüpfend an die Frage nach der Rolle der Venus im Verhältnis zur voluptas ist auch die allegorische Ebene und damit die zentrale Aussage in diesem Epos in den Blick zu nehmen: Wenn man Venus und Voluptas in den Punica demselben ‚Lager‘ zuordnen würde, wäre es naheliegend, Scipios Entscheidung für die Virtus als Hauptcharakteristikum römischer Politk zugleich als Entscheidung gegen Venus aufzufassen. Ganz im Gegenteil macht aber die Rede der Voluptas deutlich, dass diese als eigenständige Gottheit und damit losgelöst von Venus zu betrachten ist.314 Sie beansprucht Venus und ihre Beziehung zu Anchises, um 313
Am plausibelsten scheinen dabei die Erläuterungen von Schultheiß (2012) 265 zu sein: „Dieses vaticinium ex eventu verweist auf die Zustände am Ende der Republik, wie sie den Lesern aus den Darstellungen der Vertreter der moralischen Geschichtsschreibung bekannt sind. Silius unterstreicht hiermit die Macht, die Voluptas gewinnen kann, und betont so den herausragenden Charakter der Entscheidung Scipios“.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
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argumentativ ihre Position in der römischen Geschichte zu stärken. Ihre pro‐ klamierte Macht über Jupiter kann man damit sogar als allegorische Umsetzung von Epikurs Telos deuten: Ur-Handlungsmotiv für die Existenz des römischen Volkes ist Voluptas, selbst für die göttliche Zeugung von Helden. Wenn gerade diese Helden in der römischen Geschichte – wie auch Scipio – aber später die Virtus verkörpern oder sich diese zum Leitziel ihres Handelns setzen, wird die Voluptas nicht ihres Telos-Status enthoben; vielmehr unterliegt sie lediglich in ihrer rein sinnlichen Ausrichtung. Neben seiner philosophischen Dimension hat das Rededuell zwischen Virtus und Voluptas also auch eine unübersehbare politische Bedeutung. Während die Virtus sich vor allem über ein unermüdliches Engagement im Krieg definiert, nimmt die Voluptas eine durchgehend anti-militärische Position ein, die durch ein Leben in Frieden und Sicherheit sowie durch politische Untätigkeit gekenn‐ zeichnet ist. Diese politische Ausrichtung tritt bei Silius Italicus wesentlich deutlicher zutage als in Ciceros philosophischen Dialogen. Eine abschließende Gegenüberstellung mit Ciceros voluptas-Darstellung in De finibus bonorum et malorum zeigt allerdings auch, dass beide Autoren – wenn auch in unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen literarischen Strategien – mit dem voluptas-Begriff eine komplexe Lebensform verbinden, die es in all ihren Facetten zu beleuchten gilt. In beiden Fällen sind gewisse Vorzüge und damit eine gewisse Grundberechtigung dieses Lebensideals nicht zu leugnen, doch das kritische Potential überwiegt in beiden Darstellungen, sodass die voluptas und die von ihr repräsentierte Lebensweise jeweils aus römischer Sicht letztlich entschieden abzulehnen sind. Die römische Perspektive wird sowohl in Ciceros philosophisch ausgerich‐ tetem Werk als auch im historisch-politischen Epos des Silius Italicus in einer Figur konzentriert. Während in De finibus bonorum et malorum die Hauptge‐ sprächsteilnehmer von Beginn an festen philosophischen Lagern zugeteilt sind und Ciceros skeptische Haltung das römische Lebensideal ergründet, wird für den römischen Blickwinkel in der silianischen ‚Scheidewegsszene‘ mit Scipio ein historischer Kriegsheld gewählt, der zwar ohne Probleme mit der politischen, aber zunächst wohl kaum mit der philosophischen Dimension des Virtus-Voluptas-Konflikts in Verbindung zu bringen ist. Diese Verknüpfung in einem Epos mit Hilfe des traditionsreichen Scheidewegsmotivs hergestellt und damit auch das Funktionsspektrum der ‚Scheidewegsszene‘ erweitert zu haben, ist als besonderes Verdienst des Silius Italicus anzusehen. Umgekehrt
314
Vgl. Sil. 15, 59f.: illa ego sum, Anchisae Venerem Simoentis ad undas / quae iunxi, generis vobis unde editus auctor; siehe dazu auch Anm. 287 in diesem Kapitel.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
wird es dem Epiker über die unterschiedlichen intertextuellen Systemreferenzen möglich, Venus, deren Haupteigenschaft mit dem römischen Charakter schwer vereinbar scheint, von der Allegorie der Voluptas deutlich zu unterscheiden. 3.4.2 Zur weiteren Motivtradition der ‚Scheidewegsszene‘ in der antiken Literatur 3.4.2.1 Das ‚Scheidewegsmotiv‘ bei Hesiod, Prodikos und Xenophon Die literaturgeschichtliche Bedeutung der silianischen ‚Scheidewegsszene‘ kann jedoch nur dann erfasst werden, wenn man einen Blick auf die weit zurückrei‐ chende Tradition dieses verbreiteten und berühmten Motivs wirft. Letztlich bis auf die homerische Achill-Thetis-Szene in der Ilias zurückgehend hat Hesiod das Motiv des ‚Scheidewegs‘ mit seinen Ἔργα καὶ ἡμέραι in der antiken Literatur endgültig etabliert. In Hesiods Lehrgedicht wird nämlich unter anderem die Arbeit für den Menschen als effektive Abhilfe gegen die zuvor entstandene Not thematisiert und in diesem Rahmen werden mit den Begriffen κακότης und ἀρετή zwei alternative Lebenswege einander gegenübergestellt: τὴν μέν τοι κακότητα καὶ ἰλαδὸν ἔστιν ἑλέσθαι ῥηιδίως· λείη μὲν ὁδός, μάλα δ’ ἐγγύθι ναίει· τῆς δ’ ἀρετῆς ἱδρῶτα θεοὶ προπάροιθεν ἔθηκαν ἀθάνατοι· μακρὸς δὲ καὶ ὄρθιος οἶμος ἐς αὐτὴν καὶ τρηχὺς τὸ πρῶτον· ἐπὴν δ’ εἰς ἄκρον ἵκηται, ῥηιδίη δἤπειτα πέλει, χαλεπή περ ἐοῦσα. (Hes. erg. 287–292)315
290
Die Schlechtigkeit sogar haufenweise für sich zu bekommen ist leicht: Glatt ist zwar der Weg, doch sehr nah wohnt sie; vor die Tugend haben die unsterblichen Götter dagegen den Schweiß gesetzt: Lang und steil ist aber der Pfad zu ihr und unwegsam zu Beginn; wenn man aber am Scheitelpunkt angelangt, dann wird der zuvor noch recht schwere Weg ganz leicht.
Das Wesen der beiden kontradiktorischen Lebensprinzipien wird bei Hesiod also durch die Beschreibung des jeweiligen „Weges“ dorthin veranschaulicht, wobei ὁδός bzw. οἶμος für den Lebensweg stehen, den man grundsätzlich einschlagen 315
Exakt diese Verse werden später auch in Xen. mem. 2, 1, 20 zitiert, nachdem der völlig unterschiedliche Wirkungsgrad von αἱ μὲν ῥᾳδιουργίαι καὶ ἐκ τοῦ παραχρῆμα ἡδοναί und αἱ δὲ διὰ καρτερίας ἐπιμέλειαι betont worden ist.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
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kann: Während man sich bei einer Entscheidung für die κακότης auf einen sehr unsicheren Pfad begibt, der jedoch schnell und ohne größere Anstrengung ans Ziel führt, erweist sich der sogar unter göttlichem Einfluss stehende Weg zur ἀρετή als vielschichtiger und birgt ein Entwicklungspotential in sich, das die notwendige Entwicklungs- und Anstrengungsbereitschaft seitens des Menschen, der sich zu diesem Weg entschließt, widerspiegelt. Nachdem man den anstrengenden Anstieg bis zum Scheitelpunkt überstanden hat, der wohl symbolisch für die Erhabenheit und Überlegenheit dieses Lebensentwurfs steht, ist auch dieses Lebensprinzip leicht zu erreichen. Das prominenteste Beispiel in dieser Motivtradition ist indes sicherlich in den Memorabilien des Xenophon zu finden, der sich mit seinem sogenannten ‚Herakles am Scheideweg‘ auf eine Erzählung in einer heute verlorenen Schrift des Sophisten Prodikos von Keos aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. beruft.316 Ähnlich wie zuvor bei Hesiod werden die beiden Wege bzw. Pole dort durch die Begriffe κακία und ἀρετή besetzt (bei Hesiod: κακότης und ἀρετή), doch die Adaptierung eines eigentlich philosophischen Gedankens in mythologischem Gewand geht hier durch die Konzentration auf die prominente Herakles-Figur und die ausführliche Darstellung des Rededuells der beiden Kontrahentinnen noch einen wesentlichen Schritt weiter: Die allegorischen Frauenfiguren buhlen regelrecht um die Gunst des Herakles und werben dabei jeweils aktiv mit den Vorzügen des damit jeweils verbundenen Lebensweges.317 In der Einleitung zu dieser Episode hebt Xenophon hervor, dass sich Herakles, da er noch völlig unentschlossen war, erst einmal zurückziehen musste, um in aller Ruhe über seine Entscheidung nachzudenken.318 Der ab 2, 1, 22 folgende Auftritt der beiden als γυναίκαι μεγάλαι beschriebenen Göttinnen Κακία und Ἀρετή ist demnach durch die unmittelbar anstehende und notwendigerweise zu treffende Entscheidung eines noch in Aporie verharrenden Heroen motiviert. Auch die Beschreibung der äußeren Erscheinung beider Frauenfiguren ist für spätere Vergleichszwecke mit den silianischen Antagonistinnen Voluptas und Virtus nicht unerheblich: Während die Ἀρετή eine innere und äußere Schönheit an den Tag legt, wobei die nach außen hin sichtbaren körperlichen Elemente ihre ethisch-charakterliche Haltung im Innern abbilden, fällt die 316
317 318
Vgl. Prodikos fr. 84 B 1–2 Diels/Kranz; Xen. mem. 2, 1, 21–34. Nach Athen. 12, 510 c schließt dieses Gleichnis thematisch unmittelbar an das verlorene Satyrspiel Κρίσις von Sophokles an, in dem auf das Parisurteil Bezug genommen wird: Aphrodite wird dort als Verkörperung der ἡδονή, Athene dagegen als göttliche Repräsentantin der ἀρετή betrachtet; vgl. Athen. 15, 687 c; siehe dazu auch Reinhardt (2018) 89–92. Werberede der κακία: Xen. mem. 2, 1, 23–26; Werberede der ἀρετή: Xen. mem. 2, 1, 27f. Vgl. Xen. mem. 2, 1, 21.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Κακία abgesehen von ihrer körperlichen Fülle und ihrer aufreizenden Kleidung vor allem durch ihr unnatürliches Aussehen auf, was dem missglückten Versuch einer leicht zu entlarvenden Verstellung bzw. Veränderung ihres natürlichen Körpers gleichkommt; dieser wenig schmeichelhafte Eindruck wird durch den Hinweis auf ihre Selbstverliebtheit und ihren Wunsch nach Aufmerksamkeit und Bewunderung durch andere noch verstärkt.319 Mit der Mentalität einer ehrgeizigen und rücksichtslosen Wettkämpferin drängt sich die Κακία sogleich vor ihre Konkurrentin (Xen. mem. 2, 1, 23–25): Sie beginnt unmittelbar mit den erstrebenswerten Konsequenzen, die eine Ent‐ scheidung zu ihren Gunsten und damit die Wahl des ἡδίστη τε καὶ ῥᾴστη ὁδός mit sich brächten. Zunächst verspricht sie ihm dabei den Zugang zu sämtlichen τερπνά und die Freiheit von allen χαλεπά;320 damit gehen der Ausschluss von πόλεμοι und πράγματα und das alleinige Streben nach der Erfüllung rein sinnlicher Freuden einher.321 Vor dem Hintergrund ihres selbst propagierten Leitziels, Herakles von allen Unannehmlichkeiten fernzuhalten, beschwichtigt sie den jungen Mann, dass kein Grund zur Furcht vor eventuell notwendigen anstrengenden und mühevollen Tätigkeiten bestehe, da er ganz einfach von den Früchten der Arbeit anderer profitieren könne. In dieser Aussage wird also ein utilitaristisches Lebensbild offenbar, das vom ständigen Streben nach Gewinn und Genuss geprägt ist. Ohne eine erkennbare Reaktion auf die Werberede der ersten Rednerin zu zeigen, erkundigt sich Herakles bei dieser lediglich nach ihrem Namen.322 319 320
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Vgl. Xen. mem. 2, 1, 22. Da die epikureische Schule zur Lebenszeit des Xenophon längst noch nicht gegründet war, ist es wenig verwunderlich, dass die erst viel später verfestigte und verbreitete Terminologie für diese Art von Lebensentwurf, der wohl trotz Anachronismus aufgrund des philosophischen Grundszenarios und des weitreichenden Einflusses auf die nach‐ folgende Literatur in die Nähe des epikureischen Gedankenguts gerückt werden kann, an dieser Stelle noch nicht zum Einsatz kommt: Statt der später weitaus gebräuch‐ licheren ἡδοναί verwendet Xenophon hier das im Neutrum Plural substantivierte Adjektiv τὰ τερπνὰ – in dieser Gestalt auch bei Isokr. or. 1, 21 verwendet; an die Stelle von τὸ ἀλγοῦν bzw. ἡ ἀλγηδών und τὸ πονοῦν bei Epikur (vgl. Epik. Men. 129; sent. rat. 4 = sent. Vat. 3; sent. Vat. 4) tritt in den Memorabilien die ebenfalls substantivierte Adjektivform τὰ χαλεπά – als Gegensatz zu τὰ τερπνὰ auch bei Pind. fr. 131 (τερπνῶν χαλεπῶν τε κρίσις) und Plot. 5, 9, 14 zu finden. Die als nahezu synonym zu erachtenden Ausdrücke aus dem Wortfeld ‚angenehm, be‐ quem, mühelos‘ in Xen. mem. 2, 1, 24 (κεχαρισμένον; τερφθείης; ἡσθείης; εὐφρανθείης; μαλακώτατα; ἀπονώτατα) zeugt von einem breiten Wortschatz der Κακία, auf den diese als sprachliches Mittel zur möglichst überzeugenden und wirkungsvollen Umgarnung des Herakles zurückgreift. Geistige Annehmlichkeiten werden dagegen mit keinem Wort erwähnt. Vgl. dazu und im Folgenden Xen. mem. 2, 1, 26.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
229
Die darauf folgende Antwort ist ebenso überraschend wie aufschlussreich: Tatsächlich scheinen für die allegorische Inkarnation des soeben dargestellten Lebensweges mit den griechischen Bezeichnungen Εὐδαιμονία und Κακία zwei Namensvarianten zu existieren, die sich aus der Zu- bzw. Abneigung der über sie urteilenden Menschen und Götter323 erklären lassen und die beide von der Sprecherin an dieser Stelle angegeben werden.324 Da Xenophon jedoch schon bei der Benennung der beiden Lebenswege in der Einleitung zu dieser Erzählung einzig von der Wahl zwischen κακία und ἀρετή spricht und auch im weiteren Verlauf der verbalen Konfrontation der beiden Kontrahentinnen ab Xen. mem. 2, 1, 29 ausschließlich diese Begriffe als ihre Namen gebracht, ist sowohl die Verteilung von Sympathie und Antipathie des Autors von Beginn an deutlich gemacht als auch die Entscheidung des Werbeadressaten im Text am Ende des Rededuells klar vorgezeichnet.325 Für die xenophontische Darstellung der Κακία und ihrer Bedeutung für die Voluptas bei Silius Italicus erweist sich zudem ein Blick in die Argumenta‐ tion der xenophontischen Ἀρετή als nützlich. Nur indirekt, aber dennoch mit einem kaum verborgenen Vorwurf an die Κακία für ihren zentralen Redeinhalt grenzt sie sich von ihrer Antagonistin ab: Sie werde Herakles nicht durch die Vorspiegelung irgendwelcher ἡδοναί täuschen, sondern ihm offen und ehrlich zu verstehen geben, dass die von den Göttern verfügbar gemachten guten und schönen Dinge, auf die es letztlich im menschlichen Leben ankomme, nur über Mühe und eigene Anstrengungsbereitschaft zu erlangen sind.326 In voreiliger Siegesgewissheit oder in der bloßen Absicht, Herakles nochmals in knappen Worten von dem zuerst dargelegten Lebensentwurf zu überzeugen, hebt die Κακία den aus ihrer Sicht ausschlaggebenden Unterschied in der Beschaffenheit des jeweiligen Lebensweges wie schon zu Beginn ihrer Ausfüh‐ rungen in Xen. mem. 2, 1, 23 hervor. Die daran anschließende Erwiderung der 323 324
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326
Vgl. Xen. mem. 2, 1, 31: ἀθάνατος δὲ οὖσα ἐκ θεῶν μὲν ἀπέρριψαι, ὑπὸ δὲ ἀνθρώπων ἀγαθῶν ἀτιμάζῃ […]. Entsprechend dazu stellt sich die fortan explizit nur noch als Κακία bezeichnete erste Rednerin bei ihrem Einwurf nach der Gegenrede der Ἀρετή in Xen. mem. 2, 1, 29 in ebenso scharfem Kontrast zu ihrer Konkurrentin (χαλεπὴν καὶ μακρὰν ὁδὸν ἐπὶ τὰς εὐφροσύνας – ἐγὼ δὲ ῥᾳδίαν καὶ βραχεῖαν ὁδὸν ἐπὶ τὴν εὐδαιμονίαν) als Wegbereiterin der εὐδαιμονία dar. Diese Tendenz wird nicht nur anhand inhaltlicher Aspekte, sondern auch anhand formaler und struktureller Gesichtspunkte sichtbar: z. B. Reihenfolge und Länge der einzelnen Redebeiträge, makrostrukturelle und intentionale Einbettung der Hera‐ kles-Episode. Vgl. Xen. mem. 2, 1, 27: […] οὐκ ἐξαπατήσω δέ σε προοιμίοις ἡδονῆς […]; Xen. mem. 2, 1, 28: τῶν γὰρ ὄντων ἀγαθῶν καὶ καλῶν οὐδὲν ἄνευ πόνου καὶ ἐπιμελείας θεοὶ διδόασιν ἀνθρώποις […].
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Ἀρετή (Xen. mem. 2, 1, 30–33) zielt dagegen im Kern ihrer Kritik vielmehr auf das richtige Verständnis vom übergeordneten Lebensziel (τὸ ἀγαθὸν καὶ τὸ καλόν) ab; zudem hält sie ihrer Widersacherin vor, eine engstirnige und unreflektierte Ausrichtung auf τὰ ἡδέα zu verfolgen.327 Tatsächlich stellt die Ἀρετή die Unzugänglichkeit ihrer Antagonistin für das wahre Lebensziel und verbunden damit deren Untätigkeit bezüglich eines ἔργον καλόν an den Pranger.328 Zum Abschluss ihrer direkten Erwiderung auf die Zwischenbemerkung der Κακία in Xen. mem. 2, 1, 29 konfrontiert die rhetorisch überlegene Ἀρετή ihre Gegnerin mit dem schwer wiegenden Vorwurf, den Menschen in Wahrheit Verderben zu bringen, da die von ihr repräsentierte Lebensweise nur dazu führe, die von der Κακία im Vorfeld noch rigoros ausgeschlossenen χαλεπά lediglich bis ins fortgerückten Alter aufzuschieben; dort dürften diese Beschwerden aufgrund des abrupten Wandels von τὰ ἡδέα zu τὰ χαλεπά und des späten Lebenszeitpunkts dem Menschen noch viel mehr zur Last werden, als sie es ohnehin bei der Umsetzung eines redlichen Lebensstils nach der Vorstellung der Ἀρετή schon tun würden. Damit wird die Charakterisierung der Κακία in Xenophons Memorabilien beendet, ehe sich die Ἀρετή im zweiten Teil ihrer zweiten Rede (Xen. mem. 2, 1, 32 f.) durch die Hervorhebung ihrer eigenen Bedeutung erneut scharf von ihrer Widersacherin abgrenzt und sich dafür zum wiederholten Male der nun ins Positive ‚umkonnotierten‘ ἡδέα- bzw. ἡδεῖα-Wortfamilie bedient.329 3.4.2.2 Vergleich der xenophontischen und der silianischen ‚Scheidewegsszene‘ Bei einer vergleichenden Lektüre der silianischen ‚Scheidewegsszene‘ und ihrem Prätext werden zunächst strukturelle und konzeptionelle Parallelen evident: In beiden Fällen handelt es sich um zentrale Heldenfiguren aus dem griechischen Mythos bzw. der römischen Geschichte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens vor eine Wahl gestellt werden, die auf den Fortlauf ihres menschlichen Daseins entscheidenden Einfluss nehmen wird und als alle‐ gorische Abbildung ihres bedeutsamen Lebenswandels fungiert. Ebenso sind es beide Male zwei allegorische Antagonistinnen, die mit ihren Lebenskonzepten zueinander diametral entgegengesetzt stehen und sich in einem erbitterten Re‐ deduell bekämpfen, um die uneingeschränkte Gunst ihres irdischen Zielobjekts 327 328 329
Man beachte in diesem Zusammenhang das gehäufte Vorkommen des Adverbs ἡδέως in Xen. mem. 2, 1, 30, das natürlich an die in Xen. mem. 2, 1, 27 negativ konnotierten ἡδοναί anknüpft. Vgl. Xen. mem. 2, 1, 31. Vgl. Xen. mem. 2, 1, 33.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
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zu erhaschen und dieses dauerhaft an sich zu binden. Schließlich ist auch die Entwicklung der beiden Hauptfiguren nahezu identisch: Von der anfänglichen Unsicherheit und dem Bedürfnis nach einer öffentlichkeitsfernen Reflexion über die zur Verfügung stehenden Lebensalternativen reift in Herakles und in Scipio die immer fester werdende Überzeugung heran, sich am Ende des Rededuells zur Seite der ἀρετή bzw. virtus zu bekennen.330 Auf der anderen Seite zeichnen sich auch folgende Unterschiede zwischen den beiden Texten ab: Die strukturelle Einbettung ins Werk unterscheidet sich deutlich. Während die Herakles-Episode bei Xenophon als Zitat oder inhaltliche Paraphrase einer verlorenen Stelle aus dem Werk des Prodikos in eine längere Rede des Sokrates eingebettet ist, der sich dort eine verbale Auseinandersetzung mit Aristipp über den rechten Lebensweg liefert, und einen Zwischenteil in den Memorabilien (Xen. mem. 2, 2, 1) zu Ende bringt, steht Scipios Begegnung mit den weiblichen Allegorien von Virtus und Voluptas als integraler Bestandteil des gesamten Handlungsverlaufs in den Punica am Anfang eines neuen Buches, der durch einen deutlichen Fokuswechsel markiert ist. Zudem erhalten die um die Heldenfigur streitenden Kontrahentinnen nicht nur wegen der veränderten Abfassungssprache, sondern auch aufgrund der werkspezifischen Neukontextualisierung des ‚Scheidewegsmotivs‘ leicht, aber doch entscheidend veränderte Bezeichnungen, wodurch sich zwangsläufig eine Verschiebung ihrer jeweiligen Bedeutungskomponenten ergibt: Während dieser konstatierte semantische Prozess beim Schritt von dem griechischen Substantiv Κακία zur lateinischen Voluptas schon auf den ersten Blick einleuchtend ist,331 zeichnet sich beim zweiten Wortpaar der semantische Unterschied vor allem dadurch aus, dass der römische virtus-Begriff mit der Akzentuierung der Etymo‐ logie – zumal vor dem Hintergrund des Epos als traditionell mit kriegerischen Handlungen verbundenen Genres – in erster Linie die militärisch-politische Komponente, die das Wirkungsfeld des Mannes in Rom betont, und weniger die moralphilosophische Komponente der griechischen ἀρετή hervorhebt. Ferner lässt die äußere Beschreibung der beiden Rivalinnen neben unter‐ schiedlichen Details auch eine differierende Konnotation des jeweiligen perso‐ nifizierten Wertbegriffs erkennen:332 Die mit maßvoller Schönheit als Abbild ihrer edlen Gesinnung ausgestattete Ἀρετή (εὐπρεπής; ἐλευθέριος; καθαρότης;
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Vgl. dazu u. a. Spaltenstein (1990) 340. Die bereits im Vorfeld des Rededuells durch den κακία-Begriff moralisch und rhetorisch disqualifizierte Widersacherin der Ἀρετή scheint von Anfang an keinerlei Chancen auf einen aus ethischen Gesichtspunkten vertretbaren Sieg im Werben um die Gunst des Herakles zu haben, sodass der Ausgang der Wahl bereits zu Beginn der Szene vorweggenommen zu sein scheint.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
αἰδώς; σωφροσύνη)333 wird bei Silius Italicus (V. 28–31) entsprechend der ety‐ mologischen Herleitung zu einer fast schon verwahrlost wirkenden, männlich anmutenden (vir-tus) und Strenge ausstrahlenden Jungfrau (frons hirta; stans vultus; viro propior; laetus pudor), sodass lediglich das weiße Gewand eine (rein äußerliche) Gemeinsamkeit der beiden Figurenpendants darstellt. Dagegen wandelt sich die sehr unnatürlich und trotz Leibesfülle äußerst freizügig auf‐ tretende Κακία des Xenophon bzw. Prodikos (τεθραμμένη εἰς πολυσαρκίαν τε καὶ ἁπαλότητα; κεκαλλωπισμένη; λευκοτέρα τε καὶ ἐρυθροτέρα τοῦ ὄντος; ὀρθοτέρα τῆς φύσεως)334 in den Punica (V. 23–27) zu einer stark parfümierten, aufwändig frisierten und gekleideten Frau, die offenbar einen ähnlich großen Wert auf ihre äußere Erscheinung legt, dabei jedoch das Maß – trotz ihrer wiederholt hervorgehobenen göttlichen Herkunft nach Art der vergilischen Venus335 – zu überschreiten scheint (Achaemenius odor; ambrosias diffusa comas; ostrum Tyrium; fulvum aurum, decor quaesitus acu);336 sogar die in beiden Texten herausgestellte Bedeutung der Augen und des Blicks ist unterschiedlich ausgestaltet.337
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Vgl. dazu erneut Heck (1970) 161 sowie Harbach (2010) 327, die zusätzlich die Charak‐ terisierung von virtus und voluptas als unvereinbare philosophische Gegensätze in Sen. dial. 7 (= De vita beata), 7, 3 zum Vergleich heranzieht. Vgl. Xen. mem. 2, 1, 22. Vgl. ebd. Obwohl die vergilische Venus unter anderem als karthagische Jägerin auftritt, knüpft die silianische Voluptas zumindest im Hinblick auf Haar und Geruch an deren Beschrei‐ bung an; vgl. Verg. Aen. 1, 403: ambrosiaeque comae divinum vertice odorem; dazu auch Spaltenstein (1990) 340 und Harbach (2010) 328, aufgrund deren Beobachtungen sich eine paradoxe Rollenverkehrung der Venus-Voluptas konstatieren lässt: Während in der Aeneis die durch Venus forcierte Begegnung von Aeneas und Dido letztlich in eine folgenschwere und jahrhundertelange Feindschaft zwischen Karthago und Rom und damit auch in die Punischen Kriege mündet, versucht die silianische Voluptas ja gerade Scipio vom Kriegseintritt unter allen Umständen abzuhalten. In ähnlich edlem Gewand und verführerischem Aussehen wird die personifizierte Voluptas nach epikureischer Vorstellung bei Cic. fin. 2, 69 beschrieben, wie sie Cicero als Diskussionspartner des Torquatus mit Referenz auf Kleanthes imaginiert: ‘[…] Iubebat eos qui audiebant secum ipsos cogitare pictam in tabula Voluptatem pulcherrimo vestitu et ornatu regali in solio sedentem […]’. Ein wesentlicher Unterschied zur silianischen Voluptas kristallisiert sich in diesem Gedankenexperiment Ciceros heraus, als er die Virtutes zu ancillulae der Voluptas macht, die nur ihr hörig und zu Diensten seien. Die Vorstellung von der übermäßig prunkvollen Erscheinung scheint hingegen eine verbreitete Darstellungstradition in der römischen Literatur zu sein. Im Gegensatz zur xenophontischen Κακία, die vor allem darauf bedacht ist, einerseits ihr eigenes Aussehen kritisch zu beäugen, andererseits die Aufmerksamkeit potenti‐ eller Verehrer bzw. neuer Gefolgsleute zu gewinnen und zu erspähen, steht bei der silianischen Voluptas die aphrodisierende Wirkung, die auf ihre Blicke zurückgeht, im
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
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Auch in struktureller Hinsicht ist in der silianischen ‚Scheidewegsszene‘ ähnlich wie bei der Anordnung der Figurenbeschreibungen (Xen. mem. 2, 1, 22: Ἀρετή – Κακία; Sil. 15, 20–31: Voluptas – Virtus) eine Abweichung von der Sprecherabfolge bei Prodikos bzw. Xenophon nicht zu übersehen: Das griechischsprachige Vorgängerwerk weist dabei die Struktur Κακία (Haupt‐ werberede) – Herakles und Κακία (Nachtrag) – Ἀρετή (erste Gegenrede) – Κακία (Einwand) – Ἀρετή (zweite Gegenrede) auf, wohingegen die weniger komplexe Sprecherverteilung bei Silius Italicus (Voluptas – Virtus – Voluptas) der unterlegenen Partei nicht nur einen deutlich größeren Redeanteil, sondern sogar das letzte Wort überlässt. Auch von einer ähnlichen Warnrede vor dem Wirken der Ἀρετή ist im ersten Wortbeitrag der Κακία nichts zu finden, diese ist stattdessen in die spätere Zwischenbemerkung der vorlauten und siegessicheren Κακία in Xen. mem. 2, 1, 29 ausgelagert.338 In der Argumentation für die Vorzüge der von ihnen selbst verkörperten Lebensweise evozieren sowohl die xenophontische Κακία als auch die silia‐ nische Voluptas das von Hesiod begründete Bild des leicht zu begehenden Lebenspfades.339 Auch in der jeweils folgenden Darlegung konkreter Bestand‐ teile dieses Lebensszenarios wird eine parallele Vorgehensweise erkennbar, indem die Vorzüge zunächst ex negativo geschildert werden (v. a. Xen. mem. 2, 1, 23; Sil. 15, 48–52), ehe die zentralen Lebensinhalte aufgezählt werden (v. a. Xen. mem. 2, 1, 24; Sil. 15, 53 f. bzw. 53–58). Die Polarität der dabei einander gegenübergestellten Lebensentwürfe schlägt sich zwar in beiden Werken in Gestalt antithetischer Formulierungen nieder, der kontrastive Bezug einzelner Antonyme ist jedoch bei Xenophon insgesamt stärker ausgeprägt.340 Dieses Phänomen hängt damit zusammen, dass in den Punica die Argumente der Voluptas angepasst an den militärischen Kontext formuliert sind und keine Luxusgüter oder Vergnügungen wie bei Xenophons Κακία beinhalten. Doch selbst wenn keine entsprechenden inhaltlichen oder sprachlich-stilistischen Vergleichspunkte von größerem Ausmaß mehr zu finden sind, kann der Behauptung Hecks, dass in den von Silius Italicus gestalteten Reden kaum Xenophontisches enthalten sei,341 allein mit Blick auf das Plädoyer der Voluptas
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Mittelpunkt: […] lascivaque crebras / ancipiti motu iaciebant lumina flammas (Sil. 15, 26f.). Wenn überhaupt, so kann man in Xen. mem. 2, 1, 24 eine indirekte Distanzierung zur Ἀρετή konstatieren: πρῶτον μὲν γὰρ οὐ πολέμων οὐδὲ πραγμάτων φροντιεῖς, ἀλλὰ σκοπούμενος †διέσῃ […]. Vgl. Xen. mem. 2, 1, 23: […] [ἐπὶ] τὴν ἡδίστην τε καὶ ῥᾴστην ὁδὸν ἄξω σε […]; Sil. 15, 46f.: at si me comitere, puer, non limite duro / iam tibi decurrat concessi temporis aetas. Vgl. τερπνῶν – χαλεπῶν (Xen. mem. 2, 1, 23); οὐ πολέμων οὐδὲ πραγμάτων – κεχαρισμένον (Xen. mem. 2, 1, 24).
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
nicht zugestimmt werden: Strukturelle und inhaltliche Übereinstimmungen mit dem griechischen Prätext sind intertextuelle Referenzen, die Kommunikativität ermöglichen. Abweichungen vom Prätext sind als Selektivität und Dialogizität zu werten: Silius Italicus stellt sich mit der Gestaltung seiner ‚Scheidewegs‐ szene‘ in die Tradition des berühmten Vorbilds, eine getreue Imitation der Xenophon-Version wäre aber weder dem Kunstanspruch noch dem Experiment des Genrewechsels unangemessen.342 Tatsächlich nehmen im Gegensatz zur restlichen Κακία-Rede, die von stark egozentrisch-utilitaristischem Gedankengut durchdrungen ist, in der siliani‐ schen Voluptas-Rede theologische Aspekte (V. 55–58), mythische exempla (V. 59–62) und philosophische Überlegungen (V. 63–67) einen hohen Stellenwert ein, die mit zentralen Merkmalen der epikureischen Lehre übereinstimmen. Insgesamt betrachtet scheint die silianische Voluptas all diesen Beobach‐ tungen zufolge also noch über die etymologisch-semantischen Unterschiede hinaus eine deutlich andere Rolle innerhalb der gesamten ‚Scheidewegsszene‘ einzunehmen als die xenophontische Κακία. Eine vorweggenommene Abwer‐ tung der Voluptas bzw. eine schon im Vorfeld des Duells ungleiche Bewertung der beiden Rivalinnen durch den Autor ist nämlich nicht markiert.343 Die Figurenmodellierung wird durch die Merkmale, die sich aus epikureischen Lebensmaximen ableiten, positiv beeinflusst. 3.4.2.3 Zur Fortwirkung des ‚Scheidewegsmotivs‘ bei Cicero und Seneca Das Erzählmotiv der Lebenswahl am Beispiel des ‚Herakles am Scheideweg‘ bei Xenophon bzw. Prodikos hat nicht nur in der griechischen Literatur in variantenreichen Rezeptionsformen fortgewirkt,344 sondern natürlich auch in
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Vgl. Heck (1970) 161. Der Vorbehalt gegen die vollkommene Gültigkeit von Hecks These erhärtet sich, zumal dieser kurz darauf selbst zu dem nachstehenden Resultat kommt: „Die Einführung der Szene enthält also Elemente aus Xenophon, und manches in den Reden ist analog“ (S. 162). Vgl. u. a. Xen. mem. 2, 1, 23 (ἐὰν οὖν ἐμὲ φίλην ποιησάμενος, [ἐπὶ] τὴν ἡδίστην τε καὶ ῥᾴστην ὁδὸν ἄξω σε […]) und Sil. 15, 46f. (at si me comitere, puer, non limite duro / iam tibi decurrat concessi temporis aetas.); Xen. mem. 2, 1, 24 (πρῶτον μὲν γὰρ οὐ πολέμων οὐδὲ πραγμάτων φροντιεῖς […]) und Sil. 15, 48 (haud umquam trepidos abrumpet bucina somnos); Xen. mem. 2, 1, 24 ([…] καὶ πῶς ἂν ἀπονώτατα τούτων πάντων τυγχάνοις.) und Sil. 15, 54 ([…] molli […] victu) bzw. 57 ([…] exemplar lenis mortalibus aevi). Vgl. Harbach (2010) 328. Man denke hierbei nur an den berühmten Agon zwischen δίκαιος λόγος und ἄδικος λόγος vor den Augen von Strepsiades und seinem Sohn Pheidippides in den Wolken des Aristophanes (V. 890–1114), an die Herakles-Parodie mit der Entscheidung zwischen der Königsherrschaft und einer verlockenden Mahlzeit in den vom selben Komödien‐ dichter stammenden Vögeln (V. 1565–1694), an die Wahl des Sprechers zwischen einer
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
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der römischen Welt seinen Einfluss geltend gemacht.345 Diachronisch gesehen blieb die Rezeption dieser Episode aus dem Herakles-Mythos nicht ohne Verän‐ derung, sodass man bei entsprechenden literarischen ‚Neuauflagen‘ im spätre‐ publikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom vor dem Hintergrund des dort in dieser Zeit längst etablierten und adaptierten Gedankenguts hellenistischer Philosophenschulen sogar von einer zunehmenden Vertiefung der philosophi‐ schen Dimension mit römischer Prägung sprechen kann. Veranschaulichen lässt sich diese Behauptung wohl am besten an einem Textabschnitt in Ciceros De officiis aus dem Jahre 44 v. Chr.: nam quod Herculem Prodicus dicit, ut est apud Xenophontem, cum primum pubesceret, quod tempus a natura ad deligendum, quam quisque viam vivendi sit ingressurus, datum est, exisse in solitudinem atque ibi sedentem diu secum multumque dubitasse, cum duas cerneret vias, unam Voluptatis, alteram Virtutis, utram ingredi melius esset, hoc Herculi, Iovis satu edito, potuit fortasse contingere, nobis non item, qui imitamur quos cuique visum est atque ad eorum studia institutaque impellimur […]. (Cic. off. 1, 118)
Eingebettet in Ciceros Überlegungen, die das problematische Verhältnis von der Urteilsfähigkeit (consilium bzw. iudicium) und die favorisierte Lebens‐ weise (genus vitae bzw. vivendi) im Jugendalter thematisieren und an seinen Sohn Marcus gerichtet sind, referiert der römische Autor zur Untermauerung der eigenen Intention über die bei Xenophon zu findende Herakles-Wahl nach der Version des Prodikos. Während Cicero die Lebensumstände und das Verhalten des Herakles zur Entscheidungsfindung genauso schildert, wie es Xenophon in den Memorabilien getan hat, ist Ciceros Wahl der lateinischen Begriffe für die allegorische Benennung der beiden Lebenswege richtungsweisend für die spätere Darstellung dieses Erzählmotivs bei Silius Italicus: Der noch relativ naheliegenden Wiedergabe der griechischen Ἀρετή durch die ciceronische Virtus steht der Namenstransfer von Κακία zu Voluptas gegenüber.346 Obwohl nicht restlos zu klären ist, ob die beiden Übersetzungen
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römischen Matrone und einer korinthischen Hetäre in einem Epigramm Philodems (Philod. fr. 38 Sider), an die Gegenüberstellung zweier weiblicher Allegorien in einer Parabel bei Philon von Alexandria, die stellvertretend für den tugendhaften und den lasterhaften Teil der menschlichen Seele stehen (Phil. sacr. 20–45), oder an die Version der herakleischen ‚Scheidewegsszene‘ bei Dion Chrysostomos, in der sich der Held mit Hermes als göttlichem Ratgeber zwischen der Königsherrschaft und der Tyrannis, verkörpert in zwei Berggipfeln (βασίλικος ἄκρα vs. τυραννικὴ ἄκρα), entscheiden muss (Dion Chrys. 1, 66–84); siehe dazu auch Harbach (2010) 36 f. und Eppinger (2015) 149. Zur Rezeption des Herakles bzw. Hercules als literarischer Figur in Rom siehe insbe‐ sondere Galinsky (1972) 126–298.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
tatsächlich auf Cicero selbst zurückgehen oder ihren Ursprung als lateinische Pendants zu den griechischen Allegoriefiguren aus dem Herakles-Mythos schon im Werk eines früheren römischen Autors haben,347 kann die Auswir‐ kung einer solchen Umdeutung, die wohl im Zeichen der im republikanischen Rom forcierten Diskrepanz zwischen stoischer und epikureischer Schule steht, kaum überschätzt werden. In fin. 2, 118 f. stellt Cicero jedenfalls ein weiteres Mal eine Verbindung zwischen der philosophischen Lebenswahl und dem Herakles-Mythos her, als er sein Plädoyer gegen die von Torquatus vertretene Epikureer-Auffassung von der voluptas als summum bonum und stattdessen zugunsten der virtus zu Ende führt: Bei der zusammenfassenden Gegenüberstellung der beiden alternativen Lebensweisen – für die voluptas-Option fallen Schlagworte wie tranquillitas und sine dolore bzw. sine doloris metu, während das virtus-Szenario mit Begriffen wie ops salusque, aerumnae und labores in Verbindung gebracht wird – dient das abenteuerreiche und mühevolle Leben des Hercules als göttlich überhöhte Exemplifizierung der labores non fugiendi aus Sicht der Vorfahren und somit als eindeutige Referenz auf die römische virtus. Mit deutlich sarkastischem Unterton nimmt Cicero abschließend einen mög‐ lichen, in seinen Augen allerdings völlig abwegigen Einwand seines Antago‐ nisten Torquatus vorweg: ‘Elicerem ex te cogeremque ut responderes nisi vererer ne Herculem ipsum ea, quae pro salute gentium summo labore gessisset, voluptatis causa gessisse diceres’. […] (Cic. fin. 2, 119)
Auf diese Weise verfolgt Cicero im Schlusswort seiner langen oratio perpetua in Buch II offenbar das Ziel, den potentiellen und naheliegenden Versuch seines philosophischen Widersachers, Hercules als etabliertes Vorbild stoi‐ scher348 Lebensweise zu dekonstruieren und dagegen mit den Leitsätzen der epikureischen Ethik in Einklang zu bringen, bereits vorab ins Lächerliche zu ziehen und eine entsprechende Argumentation, die den bereits zwei Bücher lang dauernden Streitdialog noch weiter in die Länge ziehen würde, dadurch im Keim zu ersticken. Jedenfalls rekurriert dieser Gedanke am
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Vgl. auch Harbach (2010) 35, die für die Translation der griechischen Κακία in die lateinische Voluptas Cicero, Silius Italicus und Quintilian als römische Referenzen nennt. Vgl. Asso (2010) 189. Vgl. u. a. Eppinger (2015) 148 f., die als Beleg dieser spezifischen Vorbildfunktion Sen. dial. 2 (= De constantia sapientis), 2, 2 ins Feld führt, „wobei sichtlich die Funktion des Hercules als Tugendheld diejenige als pagane Gottheit überstrahlte“ (S. 149).
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
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Ende von Ciceros Ausführungen ohne jeden Zweifel auf die traditionsreiche Lebenswahl des ‚Herakles am Scheideweg‘, zumal in diesem Zusammenhang bei Cicero erneut die philosophiegeschichtlich inzwischen stark markierten Begriffe voluptas und virtus als klassische Gegenpole in der antiken Literatur aufgerufen werden.349 Aufgrund dieser durchwegs intensiven Beschäftigung mit der Polarität zwi‐ schen voluptas und virtus ist es kaum verwunderlich, dass Cicero bereits in seiner ersten philosophischen Schaffenszeit auf diese Thematik eingegangen ist, als es ihm insbesondere um die jeweilige Bedeutung und Kompatibilität von Rhetorik und Philosophie innerhalb seines Konzepts vom orator perfectus bzw. dem idealen Staatsmann ging. So kommt er etwa im dritten Buch seiner Staatsschrift zu folgendem Ergebnis, das bereits das somnium Scipionis (Cic. rep. 6, 9–29) als Abschluss des Werkganzen vorbereitet: quare qui utrumque voluit et potuit, id est ut cum maiorum institutis tum doctrina se instrueret, ad laudem hunc omnia consecutum puto. sin altera sit utra via prudentiae deligenda, tamen, etiamsi cui videbitur illa in optimis studiis et artibus quieta vitae ratio beatior, haec civilis laudabilior est certe et inlustrior […]. (Cic. rep. 3, 6)
In diesem Beispiel versieht Cicero die beiden unterschiedlichen Lebensentwürfe nicht mit den stark philosophisch aufgeladenen Begriffen virtus und voluptas, da ihm an dieser Stelle weniger daran gelegen ist, philosophische Lehren abzuwägen, als daran, die Entscheidung zwischen der vita contemplativa und der vita activa in den Fokus zu rücken. Im Gegensatz zur epikureischen voluptas und zur stoischen virtus kann er beiden Lebensweisen, die er hier darstellt, etwas Positives und Glückverheißendes abgewinnen, sein Vorzug gilt aber letztlich doch dem öffentlichen und politischen Engagement. Auch wenn in dieser Passage, wie erwähnt, nicht die beiden üblichen Begriffe aus der hellenistischen Philosophie anzutreffen sind, wird dort der in Ciceros Spätwerk reichlich thematisierte Streit zwischen Stoa und Kepos bereits angedeutet, wenn auch noch in einer anders nuancierten thematischen Einbettung der behandelten Lebensentwürfe.
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Gigon/Straume-Zimmermann (1988) 481 erkennen im Vergleich zu der Szene bei Xenophon bzw. Prodikos zudem einen entscheidenden Fortschritt inhaltlicher Natur: „So wird schließlich an unserer Stelle die schmerzfreie Ruhe des Epikureers durch das an Mühe […] wie an Ruhm reiche Leben des Herakles überwunden, also nicht primitiv, wie bei Prodikos, Tugend gegen Lust gesetzt, sondern die Pflicht zu handeln gegen den Zweifel am Sinn des Handelns“.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Vor dem Hintergrund dieser drei ausgewählten Belegstellen im ciceronischen Werk mit direktem Bezug zum Hercules-Mythos, denen noch etliche weitere Beispiele für rhetorische Auseinandersetzungen mit der voluptas hinzugefügt werden könnten,350 ist auch die wertende Beschreibung der beiden explizit per‐ sonifizierten Kontrastbegriffe in Senecas De vita beata als wichtiger Zwischen‐ schritt auf dem Weg zur inhaltlich-stilistischen Ausgestaltung der Scipio-Szene bei Silius Italicus zu sehen: Quid dissimilia, immo diversa componitis? Altum quiddam est virtus, excelsum et regale, invictum infatigabile: voluptas humile servile, inbecillum caducum, cuius statio ac domicilium fornices et popinae sunt. Virtutem in templo convenies, in foro in curia, pro muris stantem, pulverulentam coloratam, callosas habentem manus: voluptatem latitantem saepius ac tenebras captantem circa balinea ac sudatoria ac loca aedilem metuentia, mollem enervem, mero atque unguento madentem, pallidam aut fucatam et medicamentis pollinctam. (Sen. dial. 7, 7, 3)
Zu der (philosophischen) Positionierung des Autors, die sich schon im Werk Ciceros zur Genüge nachweisen lässt, tritt bei Seneca nun auch noch der Aspekt der expliziten Personifizierung von virtus und voluptas hinzu. Diese Kontrastie‐ rung, die vor dem Hintergrund von Senecas stoischer Grundhaltung zu sehen ist, umfasst auf der einen Seite die Auflistung charakteristischer Wesensmerkmale, auf der anderen Seite den ‚Aufenthaltsort‘, d. h. das milieubedingte Vorkommen des jeweiligen Phänomens. Den qualifizierenden Merkmalen der Virtus, die in den griechischen Zeugnissen über die Lehre des Stoa-Gründers Zenon von Ki‐ tion nahezu eins zu eins wiederzufinden sind,351 stehen dabei die mit der Voluptas verbundenen Eigenschaften als jeweils negative Korrelate gegenüber.352 Während die Virtus stets an öffentlichen Orten anzutreffen sei, die allesamt einen sakralen, sozialen, politischen oder militärischen Bezug zum Staatsdienst aufwiesen, trete die Voluptas an Plätzen von deutlich niedrigerer Reputation in
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Zu nennen wären hier – neben den bekannten philosophischen Hauptschriften Ciceros – beispielsweise Cic. rep. 1, 1–7 und Cic. Cato 39–44; in beiden Textauszügen verkörpert der ältere Cato den unermüdlichen Kampf für die Erhaltung der virtus als des zentralen Wertes der (alten) römischen Republik gegen die voluptas. Vgl. Grimal (31984) 45, der dazu auf eine entsprechende Formulierung in Zen. fr. 216 SVF verweist: […] καὶ τὸν μὲν σπουδαῖον μέγαν εἶναι καὶ ἁδρὸν καὶ ὑψηλὸν καὶ ἰσχυρόν […]. Um die numerische Übereinstimmung der miteinander korrespondierenden Attribute zu gewährleisten, fasst Grimal (31984) 45 den Ausdruck excelsum et regale zu einem As‐ pekt zusammen. Kuen (1994) 122 f. unterstreicht außerdem die formale Unterstützung der inhaltlichen Gegenüberstellung durch die syntaktische Struktur.
3.4 Die voluptas im Kontext des antiken ‚Scheidewegsmotivs‘
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Erscheinung: Aufgrund ihrer Vorliebe für abgelegene, zwielichtige und dunkle Aufenthaltsorte, die sich in ihrem blassen Aussehen widerspiegeln, bringt sie auf diese Weise die „widernatürliche Gewohnheit der Vergnügungssüchtigen […], die Nacht zu ihrem Tag zu machen“353, zum Ausdruck. Auch in Bädern, die Seneca Zeit seines Lebens als Symbole von moralischer Dekadenz und übermäßigem Luxus betrachtet zu haben scheint, und damit an Orten, an denen körperliche Nacktheit ohne Scham zur Schau gestellt werden konnte, sei sie bevorzugt anzutreffen. Hauptanknüpfungspunkt für Silius Italicus und somit inhaltliches Bindeglied zwischen den Beschreibungen der xenophontischen Κακία und der silianischen Voluptas ist ganz offenbar ihr jeweils übertriebener Gebrauch von Schminke und Düften zur visuellen und olfaktorischen Betörung ihres Umfelds und zur Tarnung von Mängeln, die unter der sichtbaren Ober‐ fläche liegen. Ferner wird Ciceros Auffassung, dass öffentliches politisches Wirken mit dem Lebensprinzip der voluptas unvereinbar ist, damit ebenfalls bestätigt.354 3.4.3 Zwischenfazit über die literaturgeschichtliche Verwandlung von der Κακία zur Voluptas Zieht man an dieser Stelle also ein kurzes Zwischenfazit über den veränderten Stellenwert der voluptas im Epos des Silius Italicus, soweit ihn die intertextuelle Analyse des ‚Scipio am Scheideweg‘ zur Geltung bringt, lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Erstens scheint die silianische Voluptas noch über die etymologisch-seman‐ tischen Unterschiede hinaus innerhalb der gesamten ‚Scheidewegsszene‘ anders modelliert zu sein und damit auch eine andere Rolle zu spielen als die xeno‐ phontische Κακία. Eine vorweggenommene Abwertung der Voluptas durch den Autor ist nicht markiert.355 Die silianische Voluptas wirbt nicht in erster Linie für ein Leben mit sinnlichen Genüssen, sondern für ein möglichst sorgenfreies und zwangloses Leben. Sie vertritt damit einen wesentlich unverfänglicheren Standpunkt, der in der Konkurrenz der Lebenskonzepte weniger Angriffsfläche bietet. Außerdem gilt es zu bedenken, dass bei Silius der Voluptas der letzte Wortbeitrag im Rededuell zukommt, nicht der Virtus.
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Kuen (1994) 124. Insbesondere die fornices, die schon bei Horaz als Prostituiertenmilieu Erwähnung finden (vgl. sat. 1, 2, 30–33; epist. 1, 14, 21), tragen hier zur moralischen Abwertung der Voluptas bei. Vgl. v. a. Cic. p. red. in sen. 13–15; Cic. Sest. 22 f.; Cic. prov. 14; Cic. Pis. 42; 68–71. Vgl. Harbach (2010) 328.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
Zweitens hebt diese Stärkung der Voluptas-Rolle die Bedeutung von Scipios Entscheidung pro virtute für den Ausgang des bis dahin noch völlig offenen Krieges und die Geschichte der römischen Republik insgesamt umso mehr hervor. Durch ihren wortgewandten und argumentativ ansprechenden Auftritt hat sich die Voluptas nämlich durchaus zu einer ernst zu nehmenden Widersa‐ cherin mit einem alternativen Lebensmodell entwickelt, bei dessen Billigung und Übernahme das Schicksal Roms aber sicherlich völlig anders verlaufen wäre. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist die bereits konstatierte und auch in den vorliegenden Ausführungen angeklungene Vergleichbarkeit der si‐ lianischen Voluptas mit der vergilischen Venus. 356 Damit verschafft Silius Italicus der Voluptas selbst gegenüber ihrer übermächtigen und letztlich siegreichen Kontrahentin ein schärferes Profil, indem er sie in diesem Epos gewissermaßen in die Motivtradition der römischen Liebesgöttin stellt – ohne jedoch die Voluptas mit Venus gleichzusetzen.357 Drittens erhält das Rededuell zwischen Voluptas und Virtus bei Silius eine ver‐ stärkt philosophische Fundierung römischer Prägung, die an den traditionellen Konflikt zwischen Stoa und Epikureismus erinnert und in den Werken von Cicero und Seneca entscheidend vorangetrieben und so in Rom etabliert worden ist. Die moralphilosophische Bindung alternativer Lebenswege an konkrete Kategorien und Lehrpositionen von Philosophenschulen tritt in der Tradition von Xenophon an über Cicero und Seneca demzufolge immer deutlicher zutage. Bei Silius Italicus wird gerade der Standpunkt der Voluptas aufgrund ihrer intellektuellen Argumentation aufgewertet, sodass sie ihre klassisch abstoßende Rolle in einem gewissen Maß einzubüßen scheint und stattdessen mit ihrem zum Teil durchaus anziehenden Auftreten für ihre Lebensweise werben kann. Trotz dieser feststellbaren ‚Aufwertung‘ der Voluptas bleibt sie vor der mehrfach postulierten stoischen Gesamtausrichtung des silianischen Epos eine Lebensalternative, die am Ende mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen wird. Die voluptas kann dabei – muss aber nicht – zum vitium werden,358 wenn sie
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Vgl. zuletzt Walter (2014) 319: „Wie etwa Tipping aufzeigt, kann der Einfluss der Venus jedoch auch aus dieser Episode nicht herausgeschrieben werden: Wenn Voluptas daran erinnert, dass sie Jupiter in die verschiedensten Gestalten verwandelt habe (15,61–62), wird implizit auch auf die Geburt Scipios hingewiesen. Diese ist, wie in der Unterweltsepisode deutlich wird, auf das Eingreifen der Venus zurückzuführen, die dafür gesorgt hat, dass Jupiter Pomponia in Form einer Schlange erschienen ist und mit ihr Scipio gezeugt hat (13,616–620; 634–644). Wenn Virtus auch vor dem verderblichen Einfluss der Voluptas warnt (15,93–97), so wird in den Punica doch auch wiederholt deutlich, dass ohne das Eingreifen der Liebesgöttin der Sieg der Römer ebenso wenig möglich gewesen wäre wie ohne die militärischen Tugenden der Römer“. Siehe dazu Anm. 287 in diesem Kapitel.
3.5 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit dem voluptas-Begriff
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einseitig und unreflektiert eingesetzt wird. Überdies ist bei beiden Allegorien die militärische Komponente dominant (virtus im Sinn von fortitudo vs. voluptas im Sinn von otium), sodass Silius Italicus auf eindrucksvolle Weise eine Ver‐ knüpfung von hellenistischer Philosophie, römischer Geschichte und epischen Gattungsmerkmalen gelingt. Auch ohne das Motiv des ‚Scheidewegs‘, das später etwa von Persius im Bild der littera Pythagorea aufgegriffen wird,359 und damit ohne die explizite Kon‐ trastierung mit der Virtus bzw. mit dem von ihr repräsentierten Lebensentwurf tritt die Voluptas als allegorisches Lebensprinzip in Erscheinung: In den Silven bei Statius wird die personifzierte Voluptas neben der Venus zur Schutzgöttin erhoben, wobei sie sowohl in silv. 1, 3 als auch in silv. 2, 2 jeweils als göttliche Bau- und Schutzmacht einer römischen Villa auf dem kampanischen Land fungiert. Diese Neuinszenierung der Voluptas als personifiziertes Lebensprinzip wird in Kapitel 5.3. bei der Analyse der beiden genannten Statius-Gedichte näher beleuchtet werden, die unter dem Dachthema des in diesen Gedichten do‐ minierenden λάθε-βιώσας-Lebensprinzips vorgenommen wird: So erscheinen beispielsweise in silv. 1, 3 beide Göttinnen als Stifterinnen eines friedlichen und sorgenfreien Lebens in völliger Abgeschiedenheit, das dem Hausbesitzer Manilius Vopiscus nicht nur ein von voluptas geprägtes Dasein garantiert, sondern durch das reichlich zur Verfügung gestellte otium auch eine produktive Beschäftigung mit Philosophie und Literatur ermöglicht.360
3.5 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit dem voluptas-Begriff in den behandelten Werken Nachdem die voluptas bei Cicero im Konflikt mit seinen zu philosophischen Dilettanten und Opportunisten abgestempelten Intimfeinden (Beispiel des L. Calpurnius Piso) und auch im Dialog mit seriösen Vertretern der epikureischen Schule (Beispiel des L. Manlius Torquatus) in erster Linie zu dem Zweck thematisiert worden war, um die defizitäre Argumentationslogik seiner Gegner aufzuzeigen, erfährt der voluptas-Begriff bei Horaz und Silius Italicus (und –
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Vgl. etwa Asso (2010) 189. Vgl. Pers. 3, 56 f.; 5, 30–40. Ferner nimmt die voluptas im Proöm zum ersten Silven-Buch eine poetologische Funktion hinsichtlich der literarischen Schaffenskraft des Dichters selbst ein, wenn er sich um die Reaktion seines Adressaten Stella auf die Publikation seiner Gedichte Gedanken macht; vgl. dazu etwa Hardie (1983) 145, der dabei den Zusammenhang von emotionaler Reaktion und Improvisation (auch unter Einbeziehung des calor) erläutert.
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3 Die epikureische voluptas im Kontext römischer Figurenmodellierung
wie sich später zeigen wird – auch bei Statius) eine variantenreiche Rezeption und Neukontextualisierung, die den dogmatischen Grundcharakter des epiku‐ reischen voluptas-Konzepts – gegenüber den autorenspezifischen Intentionen – ein ums andere Mal in den Hintergrund treten lässt. Referenzen zum philosophi‐ schen Prätext werden über Stichwörter und gemeinsame Inhalte hergestellt, die Möglichkeit der Kommunikativität und Dialogizität wird dem Leser angeboten, denn die Einbettung in philosophisches Gedankengut bleibt nahezu immer gegeben. Das voluptas-Konzept wird dabei nicht auf wissenschaftstheoretische Fragen angewandt, sondern auf Alltagssituationen (Horaz), nationalhistorische Ereignisse (Silius Italicus) und zeitgenössische Lebensformen (Statius) über‐ tragen. Während Cicero den epikureischen voluptas-Begriff noch explizit an einer bestimmten Figur festgemacht hat, die zum mehr (Torquatus) oder weniger (Piso) orthodoxen Vertreter dieser Lehre bestimmt wird, setzt sich bei Horaz je‐ weils eine von ihm modellierte Sprecher-persona mit verschiedenen Konzepten von voluptas in wechselnden Kontexten auseinander: Im ersten Epistel-Buch ist dabei die homerische Figurenallegorese in Gestalt des Odysseus von großer Bedeutung, der seine voluptates in rechtem Maß abzuwägen versteht und damit als vorbildhafter Anführer seiner weniger reflektiert handelnden Gefährten inszeniert wird. Im zweiten Epistel-Buch rückt der voluptas-Begriff dagegen in eine stärker poetologische Dimension, wobei sie sich allerdings immer noch nicht vollständig von ihrer philosophischen Wurzel löst. In den Satiren wird die voluptas einerseits in einen frivol-sexuellen Kontext gerückt (Hor. sat. 1, 2), andererseits kommt in der ‚Bauernphilosophie‘ des Ofellus die Problematik ihres mehrdeutigen Begriffskonzepts erneut zur Geltung (Hor. sat. 2, 2). In den hier behandelten Werken gelingt es Horaz, die Kepos-Lehre vom Klischee des Hedonismus zu lösen, weil gerade das epikureische Lustkalkül eine individuelle Lebensgestaltung nicht nur ermöglicht, sondern sogar erfordert. Zum Charakteristikum des epikurnahen Lebensideals und damit zum neuen Merkmal einer sympathischen epikuraffinen persona wird bei Horaz die eigene (Entscheidungs-)Freiheit und Selbstbestimmtheit gemacht, die das Stereotyp der Prinzipientreue und Orthodoxie in epikureischer Figurenmodellierung ersetzt. Bei Silius Italicus (und bei Statius) wird das ethische Leitziel des Kepos sogar zu einem personifizierten Lebensprinzip erhoben, das einen konkreten Lebens‐ entwurf in Abgrenzung zu anderen philosophisch geprägten modi vivendi – insbesondere zur virtus – verkörpert. In den Punica reiht sich die rhetorische Konfrontation von Voluptas und Virtus in die Traditionslinie der moralphiloso‐ phischen ‚Scheidewegsszene‘ ein, sodass Scipio zu einem modernisierten Modell für römische Politiker wird, indem er sich als Nachfolger des Hercules bei der
3.5 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit dem voluptas-Begriff
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Verteidigung bzw. Wiederherstellung der römischen virtus erfolgreich erweist, weil er den Verlockungen eines bequemen Lebens, das ein normaler Bürger ohne Anspruch auf politische Prominenz führen darf, standhält. In den Silven wird die personifizierte Voluptas dagegen – wie in Kapitel 5.3. noch näher ausgeführt wird – zu einem gesellschaftsfähigen und zugleich privilegierten Lebensprinzip privater Abgeschiedenheit und literarischer Produktivität.
4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung Epikurs Lehre über die richtige Vorstellung von Göttern und Tod wird unter anderem in Epik. sent. rat. 1 f., Epik. Men. 123–126 oder in Diog. Laert. 10, 139 vermittelt: Ausgehend davon gilt das Interesse im Folgenden neben Cicero denjenigen römischen Dichtern und ihren Schriften, die solches Gedankengut in den Gesamtkontext des jeweiligen Werkes eingliedern.1 Eine exemplarische Zusammenschau von lateinischen Texten, die sich mehr oder minder explizit mit epikureischer Theologie auseinandersetzen – beginnend bei Ciceros De natura deorum (Velleius) über Horaz und Vergil bis zur Thebais des Statius –, lässt einen ähnlich vielfältigen Umgang mit epikureischem Gedankengut erkennen, wie er sich im vorausgehenden Kapitel für die Verarbeitung des ursprünglich epikureischen voluptas-Konzepts in der ausgehenden Republik und in der frühen Kaiserzeit gezeigt hat. Auch im Folgenden wird der Fokus auf die römische Dichtung in der besagten Zeitspanne gelegt, wobei der Schwerpunkt auf den horazischen Oden liegt, da diese zweifellos das reichhaltigste Textmaterial zum Thema Götter und Tod in der römischen Dichtung bieten. Allen Texten gemeinsam – und somit der ausschlaggebende Grund für diese Auswahl – ist wiederum die literarische Technik der Figurenmodellierung, in deren Form der innovative Umgang mit der epikureischen Götter- und Todesvorstellung fassbar wird. Während sich in diesem Zusammenhang bei Horaz die von ihm inszenierte Dichter- bzw. Sprecher-persona als Spezifikum seines philosophisch beeinflussten Werkes herauskristallisiert, manifestiert sich die Abbildung und Übertragung von Elementen der epikureischen Theologie bei Vergil und Statius vielmehr in Heterodiegese, d. h. an literarischen Figuren, die – zumindest erzähltechnisch – nicht als (auktoriale) Ich-Sprecher konstruiert sind (Vergil: Menalcas/Daphnis in ecl. 5; Statius: Capaneus). Es liegt auf der Hand, dass eine durchgehende und explizite Anknüpfung an eine spezifische philosophische Lehre – nicht nur an die epikureische – 1
Bei den bekanntesten epikureischen Schriftstellern des 1. Jahrhunderts. v. Chr., Phil‐ odem und Lukrez, wird man gleichermaßen fündig: Für Philodems Vermittlung der epikureischen Götterlehre sind in erster Linie seine beiden Werke De pietate und De dis zu nennen; Lukrez thematisiert die richtige Vorstellung von den Göttern und die Notwendigkeit des Götterkults in Lucr. 6, 50–79, bzw. in Lucr. 5, 1161–1225; vgl. dazu auch die geraffte Darstellung bei Dyck (2003) 1f.
246 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
in keinem Fall vorliegen kann, da von keinem der genannten Dichter ein eindeutiges Bekenntnis zu einer bestimmten Philosophenschule bezeugt ist, sondern nur Indizien für eine stärker oder schwächer ausgeprägte Orientie‐ rung an bestimmten Lehrmeinungen und Schultendenzen zusammengetragen werden können. Trotzdem lohnt eine Untersuchung der jeweiligen moralphi‐ losophischen Dimension im Zusammenspiel mit dem konkreten thematischen Kontext und mit den Charakteristika der betreffenden Gattungstradition, um den literarischen Wert der hier betrachteten Werke im Einzelnen zu erfassen. Nicht zuletzt geht es auch immer um die schriftstellerische Eigenständigkeit und damit das Innovationsvermögen der hier behandelten Autoren, die sich – wie am deutlichsten bei Horaz erkennbar – gleichermaßen auf die philosophische Komponente ihrer Werke auswirkt.2 Das Paradebeispiel für die literarische Auseinandersetzung mit epikureischer Theologie mittels Figurenmodellierung liegt zweifelsohne im ersten Buch von Ciceros De natura deorum vor. Ausgehend von der in De natura deorum dargelegten und diskutierten Göttervorstellung der Epikureer – komprimiert in dem Zwiegespräch zwischen dem Epikureer Velleius und dem Akademiker Cotta – sollen im Anschluss Werke aus der frühkaiserzeitlichen Dichtung mit einem ähnlichen thematischen Fokus auf ihren philosophischen Kern überprüft werden. Zuerst wird jeweils der konkrete Inhalt der ausgewählten Passagen kontextualisiert, wobei der Erzähl- bzw. Sprechsituation und damit auch der Per‐ sonenkonstellation besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Auf der Basis dieser inhaltlichen Texterschließung, bei der auch literarische Vorbilder, Motiv‐ traditionen, Gattungskonventionen und zeithistorische Rahmenbedingungen in den Blick genommen werden, werden anschließend Möglichkeiten und Grenzen einer philosophischen Auslegung erörtert und dabei vor allem potentielle Ver‐ bindungen zur Kepos-Lehre geprüft. Im Mittelpunkt dieser Textuntersuchungen steht stets die Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ Figuren und ihre jeweilige Charakterisierung und Funktionalisierung auf intra- und intertextueller Ebene.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum Für die Darstellung der epikureischen Götterlehre im ersten Buch von De natura deorum dürfte Cicero insbesondere auf Phaedrus (De dis), Philodem (v. a. De dis und De pietate) und etliche Passagen aus dem fünften Buch des lukrezischen
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Vgl. insbesondere Hor. epist. 1, 1, 13–19.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
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Lehrgedichts zurückgegriffen haben.3 Der schon aus De oratore bekannte C. Velleius4 verkörpert für die Behandlung der epikureischen Theologie in der soeben erwähnten Dialogschrift Ciceros das Pendant zu L. Manlius Torquatus, der in De finibus bonorum et malorum I und II die epikureische voluptas als legitimierbares summum bonum verteidigt und sich damit einen sowohl philosophischen als auch rhetorischen Schlagabtausch mit Cicero geliefert hat. Trotz unterschiedlicher Darstellungstechnik und Beurteilung der epikureischen Position ist paradoxerweise sowohl in Ciceros philosophischem Dialog als auch im lukrezischen Lehrgedicht gleichermaßen ein aufklärerischer Gestus feststellbar, der darin besteht, die Menschen von der Angst vor den Göttern zu befreien. Die methodische Vorgehensweise, der sich Cicero bei der Darstellung der verschiedenen Lehren bedient, liegt auf der Hand: Einer dogmatisch-orthodoxen Lehrmeinung, hier repräsentiert durch die epikureische (Buch I, erste Hälfte) und die stoische Schule (Buch II), stellt er jeweils die skeptische Position als kritischen Spiegel entgegen (Buch I, zweite Hälfte bzw. Buch III), der Cicero selbst anhängt, obwohl er im Dialog nur ein passiver (schweigender) Gesprächsteilnehmer ist und die Darstellung der skeptischen Haltung im Dialog C. Aurelius Cotta überlässt. Noch bevor nämlich Cicero das Gespräch, das im Haus des befreundeten Akademikers C. Cotta während des Latinischen Bundesfestes abgehalten wird,5 zu schildern beginnt, positioniert er sich – nicht nur im Hinblick auf die perobscura quaestio de natura deorum (Cic. nat. deor. 1, 1), sondern auch auf seine grundsätzliche philosophische Haltung – klar auf der Seite der Akademie, wie er in einzelnen Formulierungen immer wieder zu erkennen gibt.6 Die Methodik der skeptischen Akademie verteidigt Cicero auch dadurch, dass er sie mittels einer strengen dispositio einführt. Diese skeptische Methodik erschließt sich aus der reflektierten Annäherung an den thematischen Gegenstand, der die Frage nach der Beschaffenheit der menschlichen Seele (cognitio animi) und nach einer angemessenen religiösen Praxis (moderanda religio) einschließt, sowie aus den drei möglichen Göttervor‐ 3
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Vgl. u. a. Dyck (2003) 7–11; Obbink (2001) 203–225; Walsh (2001) XXVIII; McKirahan (1996) 865–878; siehe dazu bereits Mayor (1889) 357–360; Reinhardt (1888) passim; Schwenke (1879) 49–66; 129–142; anders dazu Gigon/Straume-Zimmermann (1996) 594f. Vgl. Cic. de orat. 3, 78. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 15. Dyck (2003) 7 schließt mit Hilfe von Indizien auf das Jahr 77/76 v. Chr. als dramatischen Zeitraum des Dialogs. So schreibt er in Cic. nat. deor. 1, 1f. beispielsweise von res incertae und erwähnt (zu Beginn von nat. deor. 1, 2) das skeptische Leitprinzip des maxime veri simile, prangert jedoch zugleich eine vorgefertigte Meinung sine ulla dubitatione an.
248 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
stellungen, die Cicero für die Menschen zugrunde legt: Neben der rigorosen Verneinung göttlicher Existenz (z. B. Diagoras von Melos, Theodoros von Mykene) und den verschiedenen Formen ihrer Bejahung hält sich als dritte Alternative der Zweifel an der Existenz göttlicher Macht.7 Ausgehend von dieser grundsätzlichen Kategorisierung wird die Position der Befürworter göttlicher Existenz hinsichtlich Gestalt, Aufenthaltsort und Wirken der Götter in wei‐ tere Untergruppen gegliedert. Dabei wird eine grundlegende Unterscheidung getroffen zwischen der Auffassung, dass Götter nicht in das Weltgeschehen eingreifen, und der Annahme, dass die Götter von Anfang an das Weltgeschehen bestimmen. Tatsächlich zeichnet sich für die erstgenannte Option (keine göttliche In‐ tervention in irdische Belange) schon zu Beginn Ciceros Ablehnung und schonungslose Abrechnung mit orthodoxen Lehrmeinungen ab, wenn er etwa die Pythagoreer angreift und bereits zuvor mehr oder weniger latent einen Seitenhieb auf die Epikureer wagt:8 Sunt enim philosophi et fuerunt qui omnino nullam habere censerent rerum humanarum procurationem deos. […] (Cic. nat. deor. 1, 3)
Dabei hebt Cicero auf die gesellschaftliche Funktion von Religion und all ihren Erscheinungsformen (pietas; sanctitas; religio; cultus; honores; preces) hervor, die bei einer Abschwächung oder gar Eliminierung der Götterrolle ihren moralischen Rückhalt verlieren und negative soziale Konsequenzen nach sich ziehen würden (perturbatio vitae; magna confusio; drohende Aufhebung von fides, societas und iustitia). Während er mit der stoischen Position in Cic. nat. deor. 1, 4 weitaus weniger hart ins Gericht geht, kritisiert Cicero die epikureische Göttervorstel‐ lung schärfer, obwohl beide Schulsysteme ein Beispiel orthodoxer Dogmatik darstellen. Auch wenn die epikureische Position insgesamt abgelehnt wird, bezieht sie Cicero in den Gesamtdialog ein, um die dialektische Diskussion zu gewährleisten. Nach eigenen Angaben lautet sein Credo dabei, es komme weniger auf die Autorität des jeweiligen Fürsprechers einer philosophischen Lehre an als vielmehr auf dessen Argumentationskunst.9 Infolge dieser metho‐
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Vgl. Cic. nat. deor. 1, 2. Die Kritik an der pythagoreischen Orthodoxie, die geradezu paradigmatisch für eine autoritäre Doktrin steht, die keinen Bedarf an argumentativer Auseinandersetzung sieht, kommt in Cic. nat. deor. 1, 10 zur Geltung. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 10: […] non enim tam auctoritatis in disputando quam rationis momenta quaerenda sunt. […].
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
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dischen Vorbemerkungen werden in Cic. nat. deor. 1, 15 neben Cotta und Cicero die weiteren Diskutanten und zugleich Repräsentanten verschiedener Schulmeinungen eingeführt: die unter ihren philosophischen Gleichgesinnten jeweils hochangesehenen C. Velleius (Epikureismus) und Q. Lucilius Balbus (Stoa).10 Auf der Basis dieser methodischen Vorbemerkungen baut Cicero unweiger‐ lich eine Erwartungshaltung des Lesers an den Vortrag des Velleius auf: Erfüllt dieser die Befürchtung, dass Epikureer in der Dialektik nicht das notwendige Niveau erreichen, um ihre Lehrmeinung nachhaltig vor Anfechtungen durch andere zu schützen? Trifft die von Anfang an erkennbare Orthodoxiekritik Ciceros also (in allen Punkten) zu? 4.1.1 Die übersteigerte fides des Velleius in Buch I Spätestens mit Beginn des Velleius-Vortrags in Cic. nat. deor. 1, 18 wird die im Vergleich zum Torquatus in De finibus bonorum et malorum stark differenzie‐ rende Präsentation des Antagonisten Ciceros bzw. Cottas im ersten Buch von De natura deorum deutlich, wenn sein rhetorischer Auftritt mit folgenden Worten eingeleitet wird: Tum Velleius fidenter sane, ut solent isti, nihil tam verens quam ne dubitare aliqua de re videretur, tamquam modo ex deorum concilio et ex Epicuri intermundiis descendisset […] inquit […]. (Cic. nat. deor. 1, 18)
Velleius strotzt hier geradezu vor Selbstbewusstsein, das über reinen Dogma‐ tismus hinaus sogar in eine überhebliche Haltung überzugehen scheint.11 Indes macht der Autor (Cicero) aus seiner Geringschätzung eines solchen Gebarens an 10
Diese beiden Gesprächsteilnehmer werden bereits an anderer Stelle in Cic. de orat. 3, 78 erwähnt, wo zunächst Velleius im Gegensatz zum Hauptredner Crassus in der Rhetorik als völlig unerfahren dargestellt wird und deswegen auch mit seinen philosophischen Überzeugungen auf verlorenem Posten stehe: Quid enim meus familiaris C. Velleius adferre potest, quam ob rem voluptas sit summum bonum, quod ego non copiosius possim vel tutari, si velim, vel refellere ex illis locis, quos exposuit Antonius, hac dicendi exercitatione, in qua Velleius est rudis, unus quisque nostrum versatus? […]. Auffällig an Cic. nat. deor. 1, 15 ist ferner, dass Cicero Velleius als Senatoren vorstellt, während er von der Nennung beruflicher oder politischer Tätigkeiten der anderen Gesprächsteilnehmer absieht. Ob dahinter eine implizite Anspielung auf die Inkon‐ sequenz zwischen epikureischer Lehre und praktiziertem Lebensstil (d. h. auf die Unvereinbarkeit der dogmatischen Vorgabe eines zurückgezogenen Lebens mit der politischen Betätigung eines Epikureers) an die Adresse des Velleius steckt, bleibt allerdings reine Spekulation.
250 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
dieser Stelle keinen Hehl und fällt über die Epikureer, die er hier verächtlich als isti bezeichnet und deren Anmaßung er in einer Art göttlicher Selbstüberhöhung zutage treten lässt, in dieser Hinsicht ein pauschales Urteil. Daher wird beim Leser der berechtigte Eindruck erweckt, es handele sich zumindest im Falle des Velleius – wohl aber auch im Falle der übrigen Gesprächsteilnehmer – weniger um individualisierte Charakterisierungen als vielmehr um personifizierte Ab‐ bilder von Merkmalen, die üblicherweise mit Vertretern der jeweiligen Schule assoziiert werden.12 Diese These muss allerdings insofern relativiert werden, als ein Vergleich mit der Persönlichkeit des Torquatus in De finibus bonorum et malorum I deutliche Differenzen in der Außenwahrnehmung und Beurteilung durch andere – in diesem Falle Cicero – zutage fördert: So erfährt Velleius bei der Darlegung der Kepos-Lehre deutlich mehr Gegenwind durch Cottas Erwiderung als Tor‐ quatus durch seinen Dialogpartner Cicero.13 Das betont wiederum auch den individuellen Charakter der beiden römischen Epikur-Vertreter und lässt so die beiden Kepos-Verfechter als nicht austauschbar erscheinen. Dies kann auch im weiteren Verlauf der Velleius-Rede beobachtet werden:14 §§ 18–41: §§ 18–24: §§ 25–41: §§ 42f.:
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Kritik an Göttervorstellungen in der Geschichte der Philosophie Kritik an Platons δημιουργός und an der stoischen πρόνοια Kritik an der griechischen Philosophie vor Epikur; Kritik an der ‚Dichtertheologie‘ und am Volksglauben;
Dyck (2003) 5 geht mit seiner Einschätzung in dieselbe Richtung, wenn er im arroganten Auftritt des Velleius „a portrait of self-confidence withaout any trace of doubt […], as one might expect of a dogmatist“ sieht; vgl. zur Einschätzung dieser Charakterisierung auch Classen (2010) 197: „This characterisation is clearly not free from the resentment, insult and passion that Cicero elsewhere stresses are unworthy of philosophy“. Genauso Dyck (2003) 5: „Nor are the participants in the dialogue strongly individu‐ alized; rather they are virtually personifications of the qualities of their respective philosophical schools“. Dies belegt insbesondere Leonhardts (1999) 33 f. aufschlussreiche Analyse der quanti‐ tativen Verhältnisse zwischen den einzelnen Redebeiträgen in Ciceros philosophischen Dialogen: Während eine Zählung der Zeilen in den Teubnerausgaben für das Rededuell Torquatus gegen Cicero in De finibus bonorum et malorum ergeben hat, dass das Verhältnis der Redeanteile 1 : 2,4 beträgt, errechnet sich für das Verhältnis zwischen der (eigentlichen) Exposition der epikureischen Götterlehre durch Velleius in 1, 43–56 und Cottas Erwiderung in De natura deorum ein Wert von 1 : 5,5. Für eine detaillierte Gliederung vgl. dazu etwa Dyck (2003) 74; Walsh (2001) 46; Spahlinger (2005) 68 geht grundsätzlich von einer Dreiteilung der Rede aus und zitiert dabei Philippson (1939) 16, der von einem „polemischen Vorspiel“, einem „kritischen Teil“ und einem „dogmatischen Teil“ spricht.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
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§§ 43–56: Darstellung der epikureischen Theologie §§ 43–45: anticipatio/πρόληψις als Götterbeweis §§ 46–50: Anthropomorphismus der Götter §§ 51–53: Glückseligkeit der Götter §§ 54–56: Epikur als Erlöser der Menschheit; [§§ 57–124: Cottas kritische Erwiderung].
In seiner kompromisslosen Kritik an den übrigen Philosophenschulen (1, 18–41), die zugleich einen doxographischen Überblick über sämtliche Göttermodelle in der Philosophiegeschichte bietet, beruft sich Velleius, der damit den unzu‐ länglichen Umgang all dieser Philosophen mit dem Thema der natura deorum anprangert, hauptsächlich auf zwei Kriterien, die für die Götterdefinition bei Epikur ganz wesentlich sind: Zum einen seien die Götter unsterblich und folglich auch niemals entstanden, zum anderen seien sie immerzu glücklich und daher auch nicht mit der Lenkung irdischer Angelegenheiten belastet.15 Dass der Epikureer Velleius mit seiner anfänglichen Kritik an anderen Schulen im ciceronischen Werk kein schuleigenes Alleinstellungsmerkmal zur Schau stellt, erkennt man im Vergleich mit anderen Dialogen: So hat etwa auch Varro seine Verteidigungsrede für die Stoa in Cic. ac. 1, 15–25 mit einer Kritik an früheren Philosophen eingeleitet, ehe er zur eigens repräsentierten Schulmeinung (Stoa) Stellung bezog. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass er sich (ausgerechnet) die skeptische Methodik, zunächst Doxographisches darzustellen, um anschließend daran Kritik zu üben, zu eigen machen möchte – mit dem entscheidenden Unterschied, dass Anhänger des Skeptizismus ihre Methode unverblümt und von Anfang an offenlegen, wobei auch die Beurteilungskriterien im Voraus klar zu benennen sind. Dass Velleius beispielsweise im Unterschied zur divisio Carneadea nicht konsequent systematisch vorgeht und in seinen Ausführungen eine konse‐ quente rhetorische Struktur wohl dem Drang zur polemischen Argumentation zum Opfer fällt, wird gleich zu Beginn seines Redeblocks in 1, 18 deutlich: Dort differenziert er zunächst zwar klar zwischen dem platonischen opifex aedificatorque und der stoischen providentia, hebt diese Unterscheidung aber in einer Art zusammengefassten Göttervorstellung auf und vermengt dabei Platonisches und Stoisches miteinander:16
15 16
Vgl. zum ersten Aspekt insbesondere Cic. nat. deor. 1, 43–45; zum zweiten Aspekt Cic. nat. deor. 1, 51–53. Vgl. Dyck (2003) 176: „[…] the two schools tend to be lumped together, Pronoea being treated essentially as another name for the δημιουργός […]“.
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‘[…] neque vero mundum ipsum animo et sensibus praeditum rutundum ardentem vo‐ lubilem deum, portenta et miracula non disserentium philosophorum sed somniantium’. (Cic. nat. deor. 1, 18)
Während nämlich die Vorstellung des deus ardens unstrittig mit der stoischen Lehre in Einklang zu bringen ist,17 weist Velleius das Ideal des deus rutundus, das auch dem stoischen Götterbild entspricht,18 kurz nach der oben zitierten Stelle offenbar nur noch der platonischen Schule zu, ohne explizit auf die daraus resultierende Deckungsgleichheit von Akademie und Stoa in diesem Punkt einzugehen bzw. im Sinn einer strukturierten Leserlenkung hinzuweisen.19 Noch wesentlich deutlicher wird die Vermischung platonischer und stoischer Göttervorstellung im Vortrag des Velleius, wenn er wenig später zuerst eine Gleichsetzung von stoischer pronoea mit platonischem opifex aedificatorque mundi zunächst lediglich in den Raum stellt (1, 20), um unmittelbar im Anschluss daran die Frage nach den aedificatores mundi tatsächlich an beide Schulvertreter – Balbus und Cotta – zu richten und somit die zuvor nur hypothetisch geäußerte Annahme ohne Angabe von näheren Beweggründen zur Tatsache zu erklären (1, 21).20 Die rigorose und nicht annähernd ausreichend fundierte Übertragung des platonischen δημιουργός auf das stoische Konzept der πρόνοια wird schließlich am besten ersichtlich, wenn Velleius im Rückbezug auf die besagten aedificatores mundi Balbus folgende provokante Frage stellt: ‘isto igitur tam inmenso spatio quaero Balbe cur Pronoea vestra cessaverit. laboremne fugiebat? […]’ (Cic. nat. deor. 1, 22)21
Im Anschluss an diese Anprangerung der platonischen und stoischen Lehrmei‐ nung rechnet Velleius in einem historischen Durchlauf – beginnend mit den
17 18 19 20
21
Vgl. dazu die Ausführungen des Balbus in Cic. nat. deor. 2, 40f. Vgl. Cic. nat. deor. 2, 46–49. Auch die entsprechende bei Dyck (2003) 77 weist darauf hin, dass an dieser Stelle (zunächst) noch keine Inkonsistenz auszumachen ist. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 24: ‘admirabor eorum tarditatem qui animantem inmortalem et eundum beatum rutundum esse velint, quod ea forma neget ullam esse pulchriorem Plato […]’; vgl. dazu Plat. Tim. 33 b. Eine im Detail etwas andere Erklärung für den unerwarteten Plural (aedificatores mundi) dagegen bei Pease (21968) 188: „The shift to the plural here expresses an ostentatious ignorance of the identity of the supposed divine source of creation, and the following phrase, repente exstiterint, seems to describe an almost indecently sudden appearance […]“. Vgl. Dyck (2003) 80. Zum Widerspruch zwischen der hier unterstellten pronoea laborem fugiens und dem stoischen deus laboriosissimus in Cic. nat. deor. 1, 52; 2, 33 siehe dazu Dyck (2003) 81; Pease (21968) 193.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
253
Naturphilosophen ab Thales von Milet – mit zentralen Denkern ab, die im Vorfeld der hellenistischen Schulen gewirkt hatten, und versucht dadurch, seinen Zuhörern das angebliche Scheitern philosophischer Bemühungen um die wahre Götterlehre vor Epikur vor Augen zu führen. Bei der sukzessiven Wider‐ legung andersdenkender Philosophen schimmert bereits in unterschiedlichem Ausmaß die epikureische Götterauffassung des Velleius durch, wenn er etwa dem Anaximander in Cic. nat. deor. 1, 25 vorhält, dass man Götter ausschließlich und unumstößlich als ewig auffassen muss, oder in Cic. nat. deor. 1, 29 auch Demokrit darüber hinaus sogar die Aufhebung alles Göttlichen zum Vorwurf macht. Ein konkretes und distinktives Götterbild, das Velleius hier und im weiteren Verlauf vertritt, zeichnet sich an dieser Stelle zwar noch nicht gänzlich ab, doch ist die Auswahl der entscheidenden Kriterien – Ewigkeit und Glücklichsein – klar und deutlich getroffen worden. Dennoch sind die Ausführungen des Velleius, der zu dem unrühmlichen Fazit gelangt, non philosophorum iudicia sed delirantium somnia dargelegt zu haben,22 natürlich in einem durchgehend polemischen und feindseligen Ton gehalten. Jenseits dieser Beobachtungen ist es generell bemerkenswert, wie spät Vel‐ leius (etwa im Gegensatz zu Torquatus in De finibus bonorum et malorum) generell erst auf die eigentliche epikureische Lehre zu sprechen kommt (ab 1, 43) und wie intensiv er sich zuvor mit der Zurückweisung der anderen Schulmeinungen – insbesondere der platonischen Akademie und der Stoa – beschäftigt, die er in Cic. nat. deor. 1, 18 sehr abfällig zu futtilis commenticiaeque sententiae herabstuft.23 Vor diesem Hintergrund scheint es wenig überraschend, dass Velleius zu Beginn von 1, 43 hervorhebt, dass Epikur eine angeblich plausible Erklärung für die Existenz von Göttern entwickelt hat: die πρόληψιςoder anticipatio-Lehre, in deren Zentrum die in omnium animis eorum notio inpressa ipsa natura steht.24 Wer nach der doxographischen Auseinandersetzung mit anderen Götter‐ vorstellungen der Philosophiegeschichte, die in erster Linie die recht simple Taktik des Velleius erkennbar macht, durch rhetorische und zudem selbst beantwortete Fragen die Lehrmeinungen anderer zu diskreditieren (statt diese
22 23 24
Vgl. Cic. nat. deor. 1, 42; kurz darauf fällt in diesem Zusammenhang auch die synonym zu verstehende Wendung ea […] quam inconsulte ac temere dicantur […] (Cic. nat. deor. 1, 43). Vgl. dazu Essler (2011a) 130 f.; Classen (2010) 205; Runia (1996) 568 f.; Schmidt (1990) 162–212; strukturell und inhaltlich lehnt sich Cicero bei der Gestaltung des Redeteils Cic. nat. deor. 1, 18–24 offenbar eng an Lucr. 5, 110–234 an. Cic. nat. deor. 1, 43.
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durch dialektische Argumentation zu Fall zu bringen), damit gerechnet hat, dass bei der dogmatischen Darlegung des eigenen epikureischen Gedanken‐ guts eine Zunahme an argumentativer Substanz festzustellen ist, sieht sich allerdings getäuscht: Nicht einmal Zitate bzw. historische exempla werden herangezogen, um die eigens dargestellte epikureische Theologie literaturund philosophiegeschichtlich zu untermauern, der wiederholte Hinweis auf Epikur als geradezu göttliche Instanz und Urheber der durch Velleius geäußerten Worte scheint dem epikureischen Sprecher als Referenz vollauf zu genügen.25 Damit scheint sich Ciceros Vorwurf der unreflektierten Orthodoxie, den er in seinen Vorbemerkungen explizit auf die Pythagoreer, implizit aber auch auf die Epikureer bezogen hat, zu bestätigen. Nun seien die Argumentation des römischen Epikureers und anschließend noch zwei weitere Textpassagen (nach der Velleius-Rede) genauer in den Blick genommen, die das bisher gewonnene Bild vom Verfechter der epikurei‐ schen Theologie noch aufschlussreich ergänzen sollen. Bei der Analyse der Velleius-Argumentation steht insbesondere seine Auffassung von der πρόληψις als epikureischem Götterbeweis im Blickpunkt.26 Diese πρόληψις wird laut Diog. Laert. 10, 31 von Epikur – so die communis opinio in der Forschung – neben der αἴσθησις („Sinneswahrnehmung“) und dem πάθος („Empfindung“) zu den drei Kriterien der Wahrheitsfindung (κριτήρια τῆς ἀληθείας) gezählt und im Deutschen meist mit „Allgemein-“ bzw. „Vorbegriff“ wiedergegeben.27 Eine genauere Definition des πρόληψις-Begriffs hat indes Erler in seinem Ueberweg-Artikel über die epikureische Kanonik gegeben: „eine mit der Wort‐ bedeutung wesentlich verbundene Vorstellung, die aus wiederholter Erfahrung gewonnen wird“.28 In seiner Dissertation aus dem Jahre 2011 hat sich Holger Essler mit der Plausibilität und Authentizität der von Velleius vorgetragenen epikureischen Theologie beschäftigt und einige Unzulänglichkeiten zwischen der ursprüngli‐ 25 26 27
28
Vgl. Spahlinger (2005) 70. Zur πρόληψις als epikureischem terminus technicus vgl. Epik. Her. 72; Epik. Men. 124; sent. rat. 37; Diog. Laert. 10, 33. Vgl. Epik. Her. 38, auch wenn dort statt dem erst in Epik. Her. 72 fallenden πρόληψις-Be‐ griff noch von τὸ πρῶτον ἐννόημα die Rede ist; siehe dazu vor allem Erler (1994) 131–136. In Cic. ac. 2, 142 ist eine solche dreigeteilte Kategorisierung zwar auch zu finden, aber mit anderen Begriffen besetzt: ‘[…] aliud [sc. iudicium] Epicuri, qui omne iudicium in sensibus et in rerum notitiis et in voluptate constituit […]’. Erler (1994) 135. Zur Diskussion, ob sich mit der epikureischen Auslegung der πρόληψις, wie sie Velleius vorträgt, eine Vorstellung von den Göttern als real existie‐ renden Wesen oder ein idealisierender Ansatz verknüpft ist, siehe zuletzt Sedley (2011) 29–52, der sich für die ‚Idealismus‘-Theorie ausspricht, und Konstan (2011) 53–71, der stattdessen den ‚realistischen‘ Ansatz verficht.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
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chen Epikur-Lehre und der Version des ciceronischen Velleius aufgedeckt:29 Eigene Zusätze Ciceros, die Epikurs Lehre in dieser Form nicht ohne Weiteres entnehmbar sind, würden des Öfteren sichtbar, etwa wenn Velleius als Beweis für die Existenz von Göttern die natura anführe, die den Menschen das wahre Götterbild einpräge,30 während Epikur die damit angesprochene πρόληψις, die einen zentralen Bestandteil der epikureischen Wahrnehmungslehre bildet, nicht als angeborenes Phänomen, sondern als das Resultat gesammelter Sinnesein‐ drücke versteht.31 Tatsächlich verwende der ciceronische Velleius nach Essler einen insgesamt recht unpräzisen πρόληψις-Begriff, da dieser – neben den ange‐ sprochenen Abweichungen von der Terminologie in Epikurs Schriftzeugnissen – durch seine Vorstellung von der πρόληψις als angeborenem, „eingepflanztem“ Phänomen (innatae vel potius insitae cognitiones)32 überdies eine deutliche Nähe zur stoischen Vorstellung aufweise, die diesen Terminus ja ebenfalls für sich beanspruche.33 Als erstaunlich erweist sich in den Abschnitten über den Anthropomor‐ phismus der Götter (1, 42 f.; 1, 46–49) auch die zweideutige Behauptung des Velleius, dass diese Erkenntnis teils durch die menschliche natura, teils auch durch die an dieser Stelle erstmals herangezogene ratio erreicht werden kann;34 dennoch kehrt Velleius kurz darauf doch wieder zur von Epikur gelehrten πρόληψις als Götterbeweis zurück und weicht durch den Gebrauch des Begriffs
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Essler (2011b) 56 gelangt anhand seiner detaillierten Beobachtungen unter anderem zu dem Schluss, in Cic. nat. 1, 43–56 „Ciceros verzerrende und rhetorisierende Behandlung der epikureischen Lehre in der Darstellung des Velleius“ erkennen zu können und damit dem römischen Redner und Autor ein erhebliches Maß an inhaltlichen Eingriffen und Beimischungen unterstellen zu müssen. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 43. Vgl. Epik. Her. 49 f.; siehe dazu Essler (2011b) 36, der dabei mit Verweis auf Epik. Men. 123 hervorhebt, dass der Götterbeweis bei Epikur ohnehin nicht in der πρόληψις, sondern in der Evidenz begründet sei. Zur Problematik der πρόληψις-Interpretation siehe auch Long/Sedley (1987) 148: „If the conception of god is already innate, how can it result empirically (as it were) from our apprehension in dreams of images coming from him […]?“. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 44. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 40–42; 49–53; siehe dazu auch Cic. ac. 2, 77 f.; Epikt. 1, 22, 1–3; Aet. 4, 11, 1–4; Plut. mor. 74 (= De communibus notitiis adversus Stoicos), 3, 1060 A; S.Emp. Adversus mathematicos 7, 247–252; indes verwendet auch die skeptische Akademie den πρόληψις-Begriff: vgl. Cic. ac. 2, 30 f.; Cic. ac. 2, 77 f.; S.Emp. Adversus mathematicos 8, 331a–332a; Plut. mor. 74 (= De communibus notitiis adversus Stoicos), 1, 1059 B–C. Lösungsansätze für einen derartigen Widerspruch, wie ihn Essler ausführt, versuchen dagegen Long/Sedley (1987) 148 und Erler (1994) 135 zu finden. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 46.
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animus die zuvor betonte Trennschärfe zwischen natura und ratio derart auf, dass von einer klaren Terminologie nicht die Rede sein kann.35 Dass die Gestaltung des gesamten πρόληψις-Arguments, wie es Cicero Velleius in den Mund legt, nicht allein auf Handbücher und Nachschlagewerke zum Epikureismus zurückgehen kann, wie sie dem Autor als Quellen wahr‐ scheinlich vorlagen, sondern in erster Linie so angelegt ist, um im Namen des Skeptikers Cotta eine entsprechend starke Gegenposition dadurch aufzubauen, dass Velleius diesem zuvor eine ausreichend große Angriffsfläche bietet, liegt auf der Hand, wenn man Cottas systematische Zurückweisung des Arguments in 1, 76–86 betrachtet:36 Dazu fasst Cotta zunächst die von Velleius in 1, 46–48 vorgetragene Position des Kepos zusammen, dass die πρόληψις den entscheidenden Nachweis für ihr anthropomorphes Götterbild mit sich bringe. Diese Vorstellung basiert nämlich auf einem Syllogismus, den Velleius in 1, 46–48 ausführt und Cotta nun rekapituliert (1, 76): Ausgehend von der nicht weiter diskutierten Grundannahme, dass die Götter als Verkörperungen des Idealen auch die schönste Gestalt aller Lebewesen haben müssten, habe Velleius behauptet, dass der Mensch doch wohl unbestritten die schönste Gestalt habe und dass man sich daher auch die Götter anthropomorph vorzustellen habe. Zudem sei die menschliche Gestalt das einzig denkbare domicilium mentis und somit auch als ‚Gefäß‘ für das göttliche Wesen prädestiniert. Dieser Auffassung tritt Cotta nun gleichermaßen in drei Schritten ent‐ gegen: Den Status der πρόληψις als Erkenntnisgrundlage für den Anthropo‐ morphismus der Götter sucht er durch den Hinweis zu entkräften, dass entweder die Philosophen damit eine bestimmte Intention verfolgen oder aber Aberglaube und der Wunsch nach einer konkreten Verehrungsmöglichkeit die Menschen dazu drängen, ihre eigene Gestalt auf die Götter zu projizieren (1, 77; 81–84). Den zweiten Punkt der Velleius-Argumentation, den Primat der menschlichen Gestalt, verwirft Cotta mit der Bemerkung, dass jedes Lebewesen, ob Mensch oder Tier, die eigene Gestalt für die schönste halte (1, 77–80). Dem Aspekt, dass die menschliche Gestalt allein als „Heimstätte“ oder „Sitz des Geistes“ fungiere – obgleich Velleius in 1, 48 tatsächlich vielmehr vom einzig möglichen Ort der virtus bzw. der ratio gesprochen hat –, widerspricht Cotta schließlich in 1, 87–89, da er in der logischen Kette der einzelnen Argumentationsschritte des Velleius eine klaffende Lücke vor der letzten und entscheidenden Schlussfolgerung zu erkennen glaubt, der notwendigen und unlösbaren Verbindung von menschli‐ cher Gestalt mit Tugend und Vernunft.
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Vgl. Cic. nat. deor. 1, 49. Vgl. dazu Dyck (2003) 156; Leonhardt (1999) 61–65.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
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Die Argumente, die Cicero Velleius in den Mund gelegt hat, dienen folglich nicht nur inhaltlich als idealer Nährboden für einen Gegenangriff, sondern weisen auch strukturell ein Schema auf, das der Antagonist Cotta im Anschluss in geschickter Manier zu übernehmen versteht, um seine Gegenargumentation in eine klare und überzeugende Vorgehensweise einzukleiden. Ohne diese rhetorische Raffinesse in den Schatten stellen zu wollen, muss dennoch ein Mangel in der Erwiderung Cottas erwähnt werden, der Ciceros oftmals nur unzureichenden und in Polemik ausartenden Antiepikureismus andeutet: Cotta gelingt es allenfalls die πρόληψις als Nachweis für den Anthropomorphismus der epikureischen Götter anzufechten, jedoch nicht im Hinblick auf die von Velleius in 1, 43–45 dargelegte Definition und Grundbedeutung der πρόληψις im epikureischen Lehrsystem. Zudem scheint es Cotta mitunter einzig darum zu gehen, Velleius zu einer offenen Leugnung der Götter zu provozieren, als sich vollständig und Schritt für Schritt mit allen Überzeugungen des Epikureers auseinandersetzen zu wollen. Von Cottas bzw. Ciceros kritischem Umgang mit epikureischer Orthodoxie zeugt schließlich auch der bloße Verweis des Velleius auf Epikur als nicht anzufechtenden Ideengeber, wenn der Gesprächsteilnehmer selbst die epikureische Lehrmeinung mal nicht adäquat wiederzugeben vermag bzw. die kognitive Kompetenz seiner Zuhörerschaft angeblich nicht ausreicht.37 Mit diesem letzten Punkt ist die Evidenzproblematik angesprochen, die von Cotta in Cic. nat. deor. 1, 87 f. thematisiert wird und die bereits Eingang in Ciceros Lucullus gefunden hatte: Dort, im zweiten Buch der Academica priora, setzt sich Lucullus als Vertreter der Alten Akademie – im Dialog mit Cicero als Anhänger des Skeptizismus – innerhalb seines umfangreichen Lehrvortrags (Cic. ac. 2, 10–62) mit den traditionellen Inhalten und Argumenten stoisch-aka‐ demischer Erkenntnislehre auseinander. Dabei geht Lucullus auch auf den umstrittenen Status der Evidenz bzw. der ἐνάργεια als Wahrheitskriterium ein (Cic. ac. 2, 17) und kann sich einen Seitenhieb auf Epikur und dessen Sensualismus, den er rigoros ablehnt, nicht verkneifen: ‘[…] non enim is sum qui quidquid videtur tale dicam esse quale videatur; Epicurus hoc viderit et alia multa. […]’ (Cic. ac. 2, 19)
Ebenso kritisiert Lucullus im weiteren Verlauf seiner Rede Epikurs fehlge‐ schlagenen Versuch, sich dem Evidenzbegriff (lat. perspicuitas bzw. evidentia) anzunähern und dabei auftretende Probleme zu umgehen:
37
Vgl. Cic. nat. deor. 1, 49.
258 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
‘[…] sed tamen ut maneamus in perspicuis firmius et constantius, maiore quadam opus est vel arte vel diligentia, ne ab is quae clara sint ipsa per sese quasi praestrigiis quibusdam et captionibus depellamur. nam qui voluit subvenire erroribus Epicurus iis qui videntur conturbare veri cognitionem dixitque sapientis esse opinionem a perspicuitate seiungere nihil profecit; ipsius enim opinionis errorem nullo modo sustulit’. (Cic. ac. 2, 45)
Über die Anprangerung von Epikurs Scheitern hinaus zeigt Lucullus im An‐ schluss die aus seiner Sicht doppelte Problematik auf, die sich aus dem Umgang mit der Evidenz ergeben und weiterhin zu errores führen: Zum einen sei dies die allzu geringe Aufmerksamkeit, die man den perspicua schenke, zum anderen gebe es zu viele naiv-labile Leute, die durch verfängliche Fragen und die daraus resultierende Aporie von der Wahrheit abfielen.38 Der einzige Lösungsweg, den Lucullus daher in der Folge einzuschlagen versucht, besteht in der konsequenten Zerschlagung der oben genannten captiones und praestrigia. In Cic. ac. 1, 87 f. gestaltet sich der Kontext für die Kritik an der Evidenz ein wenig anders: Unmittelbar nach Cottas Erwiderung auf das epikureische Kon‐ zept der πρόληψις knüpft dieser weiter an die Problematik der epikureischen Göttervorstellung an, genauer gesagt an die Evidenz als suggestive Methodik, um zur Erkenntnis vom Anthropomorphismus der Götter zu gelangen. Ausge‐ hend von der Behauptung Epikurs, die Existenz von Dingen durch eigenes Erblicken belegen zu können, führt Cotta einige Himmelskörper, die mit bloßem Auge nicht sichtbar seien und dennoch existierten, ins Feld und überträgt dieses Beispiel auf den scheinbaren Widerspruch, der sich für die Lehre des Kepos aus der Unsichtbarkeit der Götter trotz ihrer angenommenen Existenz ergebe. Es ist kaum zu übersehen, dass die Argumentation Cottas gerade an dieser Stelle darauf abzielt, die epikureische Leugnung göttlicher Existenz ans Ta‐ geslicht zu bringen, wie sie seiner Ansicht nach tatsächlich besteht.39 Dafür scheut sich der ciceronische Cotta seinerseits auch nicht, mit der epikureischen Methodik von πρόληψις und Evidenz recht nachlässig und inkonsistent um‐ zugehen:40 In 1, 49 hat Velleius mit Verweis auf das schier unerreichbare Vorbild Epikurs ja betont, dass allein die mens und nicht der sensus zur Erkenntnis des Göttlichen befähigt sei.41 Es ist also gerade das rational-kognitive Vorstellungsvermögen des Menschen, das zur Wahrnehmung göttlicher Exis‐ 38 39 40 41
Vgl. Cic. ac. 2, 46. Vgl. dazu auch Cic. nat. deor. 1, 123; 2, 76; 3, 3. Vgl. Dyck (2003) 169; dazu auch Pease (21968) 434. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 49: ‘[…] Epicurus autem, qui res occultas et penitus abditas non modo videat animo sed etiam sic tractet ut manu, docet eam esse vim et naturam deorum, ut primum non sensu sed mente cernatur […]’.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
259
tenz erforderlich ist, was gleichermaßen auf die ansonsten mit bloßem sensus nicht nachzuvollziehende Umlaufbahn der Himmelskörper angewendet werden kann. Um eine sachgerechte Behandlung der epikureischen Lehre, die auch die Berücksichtigung argumentativer Details einschließt, scheint es Cotta hier folglich nicht – zumindest nicht immer – zu gehen, zu groß ist die (allgemeine) Ablehnung der epikureischen Position, zumal sie sane fidenter, d. h. voller Über‐ zeugung und ohne Toleranz gegenüber anderen Lehrmeinungen, vorgetragen wurde. Vielmehr verfolgt Cotta in diesem Abschnitt das Ziel, den Epikureern nicht nur die offene Leugnung der Götter zu entlocken, sondern auch ihre ständige Berufung auf Lehrsätze und Aussprüche ihres längst verstorbenen Schulgründers anzuprangern, die eine eigenständige Argumentation, die an Zeitumstände und Gesprächssituation angepasst ist, von Anfang an unterbindet. Zentraler Bestandteil von Cottas Widerlegung ist hier also die Karikierung des Epikur-Bildes, wie es Velleius stellvertretend für alle anderen Epikureer darlegt, wenn er von der außerordentlichen, ja geradezu einzigartigen Erkenntnisfähig‐ keit des Kepos-Gründers spricht. Neben den offenbar durchaus vorhandenen inhaltlichen Unstimmigkeiten und Divergenzen, die sich sowohl in der Velleius- als auch in der Cotta-Rede fest‐ machen lassen, stellt sich jedoch auch die Frage nach Stil und rhetorischer Stra‐ tegie in der Argumentation des Velleius, um den es hier ja als Repräsentanten des Kepos vornehmlich gehen soll. Mit der sukzessiven Diskreditierung philo‐ sophischer Vorgänger und konkurrierender Gelehrtenschulen ist ein spürbar polemisch-aggressiver Tonfall verknüpft, wobei sich die offene Kritik unter anderem in einer Reihe von rhetorischen Fragen niederschlägt.42 Hinsichtlich der scharfen Attacken und dieser rhetorischen Strategie erinnert Velleius zwar durchaus an den Autor selbst und dessen einschlägige Gerichtsreden und Invektiven, aber von einem Cicero orator alter zu sprechen, wie es Classen tut, dürfte sicherlich viel zu weit gehen, zumal man damit dem rhetorischen Potential Ciceros, das sich nicht nur in seinen öffentlichen und in seinen Gerichtsreden zeigt, nicht gerecht würde.43
42
43
V.a. in den Cic. nat. deor. 1, 25–38, darüber hinaus auch immer wieder in 1, 43–56; z.B.: ‘[…] quae est enim gens aut quod genus hominum quod non habeat sine doctrina anticipationem quandam deorum […]?’ (Cic. nat. deor. 1, 43); ‘[…] quae enim forma alia occurrit umquam aut vigilanti cuiquam aut dormienti? […]’ (Cic. nat. deor. 1, 46); ‘[…] quae conpositio membrorum, quae conformatio liniamentorum, quae figura, quae species humana potest esse pulchrior? […]’ (Cic. nat. deor. 1, 47). Vgl. dazu Classen (2010) 198.
260 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Über die Anhäufung rhetorischer Fragen hinaus greift der ciceronische Velleius mehrfach auf apodiktische Formulierungen wie intellegi non potest 44 zurück, um die von ihm knapp referierten Meinungen seiner Gegner als unver‐ ständlich und letztlich inakzeptabel zu brandmarken; demgegenüber stellt er die Lehre des Kepos im Sinn des epikureischen Evidenz-Prinzips als selbsterklärend dar und suggeriert durch die wiederkehrende Verwendung der 1. Person Plural eine allumfassende Geschlossenheit der Epikur-Anhänger.45 Auf diese Weise, d. h. durch die Technik der rhetorischen Fragen sowie durch die Verabsolutierung epikureischer Standpunkte zu nicht verhandelbaren Axiome, schafft sich der ciceronische Velleius eine eigene Logik innerhalb der einzelnen Überlegungen bzw. der gedanklichen Zwischenschritte in seiner Argumentation. Dass indes alle Diskussionsteilnehmer in De natura deorum und ähnlichen Cicero-Dialogen wie in De finibus bonorum et malorum und im Lucullus eine bestimmte rhetorische Vorgehensweise erkennen lassen, hat u. a. Jürgen Leonhardt in einer Monographie gezeigt, in der der Hauptfokus auf dem jeweiligen Übergewicht der Gegenrede liegt.46 Gegen Ende von 1, 50 richtet sich Velleius jedenfalls – wie schon zu Beginn seiner Rede (1, 18–24) – gegen die Stoa, deren Repräsentant in Ciceros Dialog, Balbus, er hier auch namentlich anspricht. In 1, 51 f. grenzt Velleius dazu den epikureischen deus beatus vom stoischen deus laboriosissimus ab, wobei er der Widerlegung der gegnerischen Position wiederum mehr Beachtung schenkt als der Darlegung des eigenen Götterbildes,47 sodass man von einer Bekräftigung des epikureischen Standpunktes ex negativo sprechen kann. Ähnlich verhält es sich für die in diesem Zusammenhang thematisierte kosmologische Urkraft, die die Epikureer laut Velleius in der bloßen natura sehen, während er für die stoi‐ sche Auffassung die Metapher des aus der griechischen Tragödie stammenden deus ex machina verwendet (1, 53).
44 45
46 47
Vgl. Cic. nat. deor. 1, 30; 1, 34. Vgl. hierzu beispielsweise Cic. nat. deor. 1, 45: ‘[…] hanc [sc. praenotionem deorum] igitur habemus, ut deos beatos et inmortales putemus. quae enim nobis natura informationem ipsorum deorum dedit, eadem insculpsit in mentibus, ut eos aeternos et beatos haberemus […]’; vgl. dazu erneut Classen (2010) 200. Vgl. Leonhardt (1999) v. a. 31–75. Ohne den logischen Zusammenhang zwischen Glückszustand und Nichtstun hier bereits – die Definition des eigenmächtig hergestellten Kausalzusammenhangs folgt erst zu Beginn von 1, 53 – weiter auszuführen, gibt Velleius die epikureische Vorstellung vom göttlichen Wesen in geraffter und stark parataktischer Form wieder, wohingegen in 1, 52 das bewährte Instrumentarium aus rhetorischen Fragen und Stilfiguren der Wiederholung aufgefahren wird.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
261
Trotz der relativ knappen Darstellung der epikureischen Theologie gelingt es dem ciceronischen Velleius, die Teilbereiche der Ethik (z. B. mit Hilfe der erwähnten voluptates in 1, 51) und der Physik (z. B. unter Rückgriff auf die Atom-Raum-Leere in 1, 54) zwar nicht in gleichem Maß, aber dennoch an geeigneten Stellen einzubinden. Auf diese Weise sucht Velleius sicherlich ein möglichst ganzheitliches Bild des epikureischen Systems zu entwerfen und die Vernetzung aller Teilbereiche zu verdeutlichen, die das gesamte Lehrgebäude stabilisieren sollen. Mit Verweis auf die von der Lehre des Kepos strikt abge‐ lehnte fatalis necessitas und divinatio (1, 55) erhebt er zum Abschluss seiner Rede Epikur sogar zum allgemeinen Befreier von sämtlichen derartigen terrores 48 und rechtfertigt implizit den in dieser Schule praktizierten Götterkult, der manchem Kritiker angesichts der epikureischen Göttervorstellung zunächst paradox erscheinen mag (1, 56).49 Ebenso verwundern mag die im Schlussteil anklingende Selbstkritik des Velleius, die nur dem ersten Anschein nach seinem bislang unverhohlenen, von einem deutlichen Führungsanspruch zeugenden Selbstvertrauen entgegen‐ steht.50 Tatsächlich ist zunächst die unbescheidene Schlussbeurteilung der epikureischen Götterlehre als res tanta et praeclara nicht zu überhören;51 dennoch trägt Velleius am Ende seines Beitrags dem gebotenen Respekt vor den übrigen Gesprächsteilnehmern explizit Rechnung und erweist sich damit als dogmatischer, aber höflicher und rhetorische Konventionen beachtender Akteur. Die soeben angedeutete Selbstkritik des Velleius bezieht sich wohl kaum auf inhaltliche oder logische Fehler in der Darstellung der epikureischen Theo‐ logie, sondern lediglich auf die Länge und Komplexität seiner Ausführungen. Angesichts der sogleich beschwichtigenden Worte des Cotta, der überdies – wie Balbus in Buch II – im Anschluss einen weitaus längeren Vortrag halten wird, wirkt diese Bemerkung des Velleius mit Blick auf den Gesamtdialog verfehlt 48
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50 51
Vgl. dazu Sen. benef. 4, 19, 1, wo der Kausalzusammenhang zwischen der von Epikur veranlassten „Entwaffnung“ (deum inermem facis) und „Verbannung“ (proiecisti illum extra metum) der Götter aus der irdischen Welt und der menschlichen Furchtlosigkeit aufgezeigt wird. Vgl. v. a. Cic. nat. deor. 1, 71; 85 f.; 115–124; zum epikureischen Götterbild und ihrer Verehrung siehe Lucr. 1, 80–111; 2, 167–183; 646–659; 680; 1090–1104; 5, 1–90; 156– 194; 1161–1240; hierzu auch die fragmentarischen Ausführungen Philodems in seiner einflussreichen Schrift De dis III, zu finden in PHercul. 152/157, col. 9, 36–10, 6: Die wahren Wohnsitze der Götter seien verehrungswürdiger als die irdischen, von Menschen erbauten Tempel; vgl. dazu den Kommentar von Essler (2011b) 319–330. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 56: ‘[…] Sed elatus studio vereor, ne longior fuerim. […] quamquam non tam dicendi ratio mihi habenda fuit quam audiendi’. Vgl. erneut Cic. nat. deor. 1, 56.
262 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
und unzutreffend, zumal sich ja nur der kleinere zweite Teil der Velleius-Rede (1, 43–56) auf die epikureische Lehre selbst bezieht.52 Vielmehr erwecken die Schlussworte, die Cicero Velleius in den Mund legt,53 den Eindruck einer kaum kaschierten und dennoch indirekten Kritik des Autors an den epikureischen Vertreter, da er ihm anscheinend dazu rät, lieber die anderen philosophischen Lehren anzuhören und den eigenen, von allen Schulen am wenigsten haltbaren Standpunkt nochmals zu überdenken und grundlegend zu hinterfragen.54 Mit anderen Worten: Velleius habe wohl schon genug Unfug von sich gegeben und solle sich nun besser von den anderen Dialogpartnern belehren lassen. Die Charakterisierung des Velleius als typischen Repräsentanten der epi‐ kureischen Doktrin ist jedoch mit der Abrundung seines philosophischen Plädoyers noch nicht zu Ende: Unmittelbar daran anschließend bringt Cotta unter dem Schleier trügerischer Freundlichkeit seine vollkommene Ablehnung der epikureischen Haltung, wie sie Velleius soeben noch dargelegt hat, zum Ausdruck. Diese Zurückweisung bezieht sich allerdings, wie Cotta beteuert, lediglich auf den Inhalt seiner Ausführungen und nicht auf seine Persönlichkeit und seine durchaus erkennbare rhetorische Begabung: ‘Saepe enim de L. Crasso illo familiari tuo videor audisse, cum te togatis omnibus sine dubio anteferret, paucos tecum Epicureos e Graecia compararet, sed, quod ab eo te mirifice diligi intellegebam, arbitrabar illum propter benivolentiam uberius id dicere. ego autem, etsi vereor laudare praesentem, iudico tamen de re obscura atque difficili a te dictum esse dilucide, neque sententiis solum copiose sed verbis etiam ornatius quam solent vestri’. (Cic. nat. deor. 1, 58)
Mit L. Licinius Crassus, immerhin dem bedeutendsten Redner seiner Zeit und dem römischen Konsul des Jahres 95 v. Chr., den Cicero in De oratore zum Hauptredner und Sprachrohr seiner Vorstellung von einem (universal‐ gebildeten) orator perfectus gemacht hatte, wusste Velleius offenbar einen einflussreichen Fürsprecher auf seiner Seite, was die öffentliche Anerkennung
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Natürlich haben neben quantitativen Gesichtspunkten, die zum Beleg von Ciceros offensichtlicher Geringschätzung des Epikureismus an dieser Stelle immer wieder ins Feld geführt wurden, auch inhaltliche Aspekte, die bisweilen – wie kurz zuvor exemplifiziert – einer allgemein anerkannten Logik entbehren, eine entscheidende Bedeutung für die Gesamtbeurteilung der epikureischen Position in Ciceros Dialog. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 56: ‘[…] quamquam non tam dicendi ratio mihi habenda fuit quam audiendi’. Vgl. dazu Dyck (2003) 75, der die defensive Haltung des Velleius am Ende seines Vortrags als Ausdruck der Schwäche der epikureischen Position begreift. Classen (2010) 205 scheint überdies eine ähnliche (Selbst-)Ironie des Velleius erkannt zu haben: „[…] and indeed he has said far more than he need have done“.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
263
seiner eigenen rhetorischen Fertigkeiten noch plausibler macht. Dies überrascht insofern, als Velleius von Crassus noch im dritten Buch von De oratore zwar als familiaris bezeichnet, hinsichtlich Redepraxis und rhetorischem Geschick allerdings als völlig unerfahren und weit unterdurchschnittlich hingestellt wird.55 Dennoch scheint sich Velleius – jedenfalls in De natura deorum I – in der Tat zumindest von seinen philosophisch Gleichgesinnten abzuheben, wie es auch der ciceronische Cotta anhand seiner eigenen Erfahrungen bemerkt: Die gerade angesichts des komplexen und schwer fassbaren Gesprächsthemas56 hoch einzuschätzende stilistische Klarheit, Gewandtheit und Schönheit57 ist nach dieser Beurteilung alles andere als typisch epikureisch – ein weiterer Seitenhieb also auf die Anhänger des Kepos neben der im Anschluss von Cotta vorgebrachten inhaltlichen Kritik, die sich in der nachstehenden Generalschelte entlädt, welche der ausführlichen Gegenrede des Cotta (1, 60–124) vorausgeht: ‘[…] Sed quod in illo [sc. Zenone] mihi usu saepe venit, idem modo cum te audirem accidebat, ut moleste ferrem tantum ingenium (bona venia me audies) in tam leves ne dicam in tam ineptas sententias incidisse’. (Cic. nat. deor. 1, 59)
Dieser Vorwurf erinnert zum einen an die Kritik, die Cicero in seiner Invektive In Pisonem mit nahezu gleicher Schärfe an Philodem übt (Cic. Pis. 68–72); zum anderen prangert er die Unhaltbarkeit der epikureischen Theologie insgesamt unerbittlich als tam leves ne dicam tam ineptae sententiae an, die trotzdem zwei rhetorisch hochbegabte Männer zur Übernahme und Proklamation dieser Lehrmeinungen verführen konnte.
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Vgl. Cic. de orat. 3, 78: Quid enim meus familiaris C. Velleius adferre potest, […] quod ego non copiosius possim vel tutari, si velim, vel refellere […] hac dicendi exercitatione, in qua Velleius est rudis, unus quisque nostrum versatus? […]; siehe dazu Anm. 10 in diesem Kapitel. Die res obscura erstreckt sich wohl auf die Theologie als philosophischen Gegenstand im Allgemeinen, aber auch auf die epikureische Götterlehre im Besonderen; vgl. dazu Dyck (2003) 140. Im Vergleich mit dem Redestil des langjährigen Leiters der (spät-)epikureischen Schule, Zenon von Sidon (ca. 150–70 v. Chr.), wird die Vortragsart des Velleius in Cic. nat. deor. 1, 59 ergänzend dazu als distincte, graviter, ornate gekennzeichnet; vgl. Diog. Laert. 7, 35. Im Übrigen hat Cicero besagten Zenon während seiner Bildungsreise 79/78 v. Chr. in Athen zusammen mit seinem engen und epikureisch beeinflussten Freund Atticus selbst gehört und bei der Gestaltung, zumindest aber bei der Beurteilung des Velleius-Redestils mutmaßlich den Vortragsstil des Zenon nachzuahmen versucht.
264 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
4.1.2 Das Eingeständnis der rhetorischen Niederlage in Buch II und III Bei der deutlichen Niederlage des Epikureers im philosophischen Wettstreit um die plausibelste und am meisten anerkannte Göttervorstellung belässt es Cicero allerdings nicht, ohne den Epikureer Velleius nochmals an drei exponierten Stellen – zu Beginn von Buch II und von Buch III und am Ende von Buch III – zu Wort kommen zu lassen: So lässt er Velleius zunächst auf Cottas ausgefeilte Erwiderung mit großer Einsicht reagieren, indem dieser nicht nur Cottas rhetorische Überlegenheit zugibt, sondern sich sogar in puncto inhaltliche Überzeugungskraft dem akademischen Vertreter geschlagen gibt: Quae cum Cotta dixisset, tum Velleius ‘Ne ego’ inquit ‘incautus, qui cum Academico et eodem rhetore congredi conatus sim. nam neque indisertum Academicum pertimuissem nec sine ista philosophia rhetorem quamvis eloquentem; neque enim flumine conturbor inanium verborum nec subtilitate sententiarum si orationis est siccitas. tu autem Cotta utraque re valuisti; corona tibi et iudices defuerunt. Sed ad ista alias, nunc Lucilium, si ipsi commodum est, audiamus’. (Cic. nat. deor. 2, 1)
Auch wenn aus dieser Aussage nicht definitiv abgeleitet werden kann, dass sich Velleius der akademischen Lehre vollends unterwirft, ist die eingeräumte Unterlegenheit bzgl. rhetorischer Finesse und philosophischer Bildung ein nicht unwesentliches Indiz dafür, dass Cicero auf diese Weise die Überlegenheit der bekanntlich von ihm selbst favorisierten akademischen bzw. skeptischen Position zu demonstrieren versuchte. Durch diese überraschend demütige Reaktion weist Velleius zwar einerseits eine deutliche Parallele zum Verhalten des Torquatus in De finibus bonorum et malorum auf, als sich dieser seiner aussichtslosen Lage infolge seiner vor‐ schnellen Bereitschaft zu einem verbalen Zweikampf mit Cicero immer mehr bewusst wurde. Andererseits lässt Velleius bei seiner Reaktion jegliche Loyalität gegenüber der epikureischen Lehre vermissen und unterscheidet sich darin wesentlich von Torquatus.58 Ferner manifestiert sich im Fall von Velleius sofort eine rhetorische Unterlegenheit, die er selbst einräumt, ohne von seinem Gegen‐ redner überhaupt noch in einer dialektischen Gesprächsführung auf die Probe gestellt worden zu sein. Im Gegensatz zu Torquatus gesteht Velleius sich und seinem Widersacher zudem die doppelte Niederlage (utraque re) unumwunden ein und drängt auf eine zügige Fortsetzung des Philosophengesprächs, was wohl nicht allein seiner Neugier, sondern in diesem Moment der Verlegenheit auch 58
Zu den unterschiedlichen Reaktionen von Torquatus und Velleius vgl. v. a. Leonhardt (1999) 36–38.
4.1 Das rhetorische Scheitern des selbstbewussten C. Velleius in Ciceros De natura deorum
265
dem Wunsch nach einen Fokuswechsel auf Balbus als weiteren Dogmatiker geschuldet sein dürfte. Dieser Eindruck verfestigt sich, als Velleius nach dem Vortrag des Balbus auf eine ebenso scharfe Kritik und Ablehnung durch Cotta hofft, um wohl zumindest nicht als einziger Dogmatiker an die Grenzen seines rhetorischen Geschicks und vor allem an die Grenzen der methodischen und inhaltlich-logischen Plausibilität, was das epikureische Lehrsystem an sich betrifft, gebracht worden zu sein: Hic Velleius ‘Nescis’ inquit ‘quanta cum expectatione Cotta sim te auditurus. iucundus enim Balbo nostro sermo tuus contra Epicurum fuit; praebebo igitur ego me tibi vicissim attentum contra Stoicos auditorem. spero enim te ut soles bene paratum venire’. (Cic. nat. deor. 3, 2)
Velleius wähnt sich nun folglich in der angenehmen Position, völlig entspannt und mit kaum verborgener Genugtuung einem gnadenlosen Verriss der stoi‐ schen Lehre beiwohnen zu können. Dieser Erwartungshaltung erteilt Cotta je‐ doch gleich im Voraus eine Absage und reißt Velleius aus seinem Wunschtraum: Zum einen sei ihm, Cotta, gar nicht so sehr daran gelegen, die Ausführungen des Balbus zu widerlegen, sondern eher daran, einige Verständnisfragen zu stellen und auf diese Weise gegebenenfalls inhaltliche Unstimmigkeiten anzu‐ sprechen.59 Zum anderen – und das ist sicherlich ein sehr schmerzhafter Schlag für Velleius, der seine Hoffnung sogleich im Keim erstickt – macht Cotta keinen Hehl daraus, dass er die Ausführungen des Balbus wesentlich höher einstuft, was sowohl die logische Struktur seines Vortrags als auch die Plausibilität der stoischen Götterlehre an sich betrifft:60 Im Gegensatz zur stichhaltigen und in sich geschlossenen Argumentation der Stoiker ([…] quamque […] apta inter se et cohaerentia) hält Cotta die epikureische Beweisführung für unzureichend, inkonsequent und sogar verlogen, wenn es um die Anerkennung göttlicher Existenz und die Definition des göttlichen Wesens geht.61 Auch zum Schluss des gesamten Werks meldet sich Velleius nochmals zu Wort, als die Debatte zwischen Balbus und Cotta zu einem vorläufigen Ende gekommen ist und einige Gesprächsteilnehmer vor dem tageszeitbedingten Auseinandergehen noch ihre resümierende Einschätzung zu den vorgetragenen Lehrpositionen mitteilen. Während Cotta – wie schon zu Beginn von Buch III –
59 60 61
Vgl. dazu Cic. nat. deor. 3, 1; 3, 4. Vgl. dazu Cic. nat. deor. 3, 3f. Dieser Atheismus-Verdacht wird in Cic. nat. deor. 1, 123 und 2, 76 auf Poseidonios zurückgeführt und nun zum wiederholten Male thematisiert.
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eine gewisse Sympathie für die stoische Position bekundet sowie sein Interesse, die Diskussion mit Balbus fortzusetzen und auch dessen Gegenargumente anzu‐ hören, lässt Velleius als letzten Redebeitrag im gesamten Werk eine unverhohlen spöttische Bemerkung fallen, die sich sowohl gegen Cottas Zuspruch für die Stoiker als auch in noch stärkerem Maß gegen die stoische Götterlehre richtet und somit deutlich macht, wie eingeschnappt und empört Velleius über das lobende Schlussurteil für die Stoiker ist und er in seiner zu Beginn von Buch III geäußerten Erwartungshaltung enttäuscht wurde:62 […] ‘Quippe’ inquit Velleius ‘qui etiam somnia putet ad nos mitti ab Iove, quae ipsa tamen tam levia non sunt quam est Stoicorum de natura deorum oratio’. […] (Cic. nat. deor. 3, 95)
Trotz dieser Verärgerung, die sich durchaus als emotionaler Impuls für eine denkbare Fortsetzung des Gesprächs und für eine Neuverhandlung über strittig gebliebene Punkte verstehen lässt, erwähnt der abschließende Autorkommentar bekanntermaßen, dass Velleius die disputatio Cottas mehr billigt als die stoische, wohingegen Cicero als stummer Gesprächsteilnehmer überraschenderweise Partei für die Balbus-Ausführungen ergreift.63 Daher wird einerseits offensicht‐ lich, dass die epikureische Position gar keine Rolle mehr spielt, da sie nach Cottas entschiedener Ablehnung keiner weiteren Erwähnung oder gar einer erneuten Beurteilung bedarf;64 andererseits veranschaulicht die Tatsache, dass Velleius als einziger Gesprächsteilnehmer mit eigenem Lehrvortrag sein ‚Votum‘ abgibt und dabei noch dazu nicht einmal selbst für die von ihm repräsentierte epikureische Götterlehre stimmt, sein indirektes Verständnis für die epikurkritische Haltung anderer bzw. seine Verunsicherung, was eine plausible Darlegung des eigenen Göttermodells anbelangt, der er ganz offenbar aufgrund seiner rhetorischen Defizite nicht gewachsen ist.
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Die Empörung des Velleius über Cottas überraschend versöhnliche Worte ist inso‐ fern nachvollziehbar, da dieser selbst noch kurz zuvor den göttlichen Ursprung von Träumen, wie ihn die Stoiker annehmen, sehr infrage gestellt hat; vgl. Cic. nat. deor. 3, 93. Vgl. Cic. nat. deor. 3, 95: […] Haec cum essent dicta, ita discessimus, ut Velleio Cotta disputatio verior, mihi Balbi ad Veritatis similitudinem videretur esse propensior; zu Erklärungsversuchen für Ciceros unerwartetes Schlussbekenntnis zur stoischen statt zur akademischen Position siehe u. a. Blank-Sangmeister (2011) 409 f.; Bringmann (1971) 174; Pease (21968) 36; Levine (1957) 20. Vgl. dazu schon den freiwilligen Verzicht des Balbus in Cic. nat. deor. 2, 2 f., auch seinerseits noch gesondert auf die epikureische Position einzugehen. Trotz dieser Ankündigung kommt natürlich eine bewusste (und mitunter polemische) Abgrenzung zu Epikur mehrfach zur Geltung; siehe Cic. nat. deor. 2, 46–49; 59; 73–76; 93 f.; 162.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
267
Bis zu seiner letzten Äußerung bleibt Velleius also ein vielschichtiger Dialog‐ partner, dessen Auftreten von Extremen geprägt ist: vom Eindruck eines eitlen und überheblichen Dogmatikers, den er gerade zu Beginn seines Redebeitrags erweckt, bis zum (in gewissem Maß) selbstkritischen Eingeständnis seiner voll umfänglichen Unterlegenheit gegenüber seinem rhetorisch-philosophischen Antagonisten Cotta. Dennoch bleibt das Bild eines angriffslustigen und polemi‐ schen Dogmatikers im ganzen ersten Buch von De natura deorum omnipräsent und schon anhand dieses Auftretens disqualifiziert er die von ihm vorgebrachte Lehre, die leicht zu ermittelnde Schwächen in Inhalt und Logik aufweist. Wie bereits in der Forschung herausgestellt,65 manifestiert sich die rhetori‐ sche und philosophische Unterlegenheit des Velleius nicht zuletzt über die Kontrastierung mit seinen Kontrahenten Cotta66 und Balbus67. Diese Gegenüber‐ stellung degradiert den epikureischen Vertreter eines philosophischen Götter‐ bilds, das von Cicero entschieden abgelehnt wird. Im Vergleich mit Torquatus aus De finibus bonorum et malorum I scheint Velleius durch die energische und rigorose Art und Weise seines rhetorischen Auftritts als bekennender und bekannter Epikureer – zumindest in Buch I – noch enger mit der Lehre des Kepos verbunden zu sein und zur unreflektierten Orthodoxie zu neigen. Deshalb schneidet er in der Darstellung bei Cicero insgesamt deutlich schlechter ab.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz „Die weitgehende Übereinstimmung und gegenseitige Ergänzung von Cicero, Phil‐ odem und Lukrez ergibt ein geschlossenes Bild der epikureischen Theologie im 1. Jahrhundert v. Chr. Das rekonstruierte System kann damit als authentisch gelten.“68
Diese Beobachtung von Holger Essler hat zweifellos ihre Berechtigung, doch wenn man dagegen in der augusteischen Literatur die Rezeption des epikurei‐
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Vgl. etwa Classen (2010) 206 f.; Leonhardt (1999) passim. Vgl. Classen (2010) 206: „Cotta […] proceeds to disprove Velleius’ position with the help of general considerations, examples or other evidence that contradicts the Epicurean views, asking numerous questions, raising numerous objections to their assumptions, revealing inconsistencies and pointing to absurd consequences“. Vgl. ebd.: „Balbus presents the basic arguments of the Stoics for the existence of the gods and the divinity of the universe, endowed with reason, and of the stars with a great deal of systematic instruction and careful reasoning, in order not merely to state the Stoic views dogmatically, but to make them intelligible and acceptable for the reader“. Essler (2011b) 331.
268 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
schen Götterbildes verfolgt und nach einer entsprechenden persona sucht, die sich als Repräsentant dieses Teilgebiets der epikureischen Lehre eignet, ist es eher fraglich, ob man zu einem vergleichbaren Ergebnis kommen kann. Für die philosophische Dimension – und im Speziellen für die Bedeutung der epikureischen Lehre – im Werk des Horaz stößt man vielmehr auf eine äußerst disparate Forschungssituation, die schon erahnen lässt, dass eine gut profilierte und markierte Referenz auf bestimmte Lehrmeinungen bei Horaz kaum nachzuweisen ist.69 Trotz der in der Forschungsdiskussion zum Teil 69
Während sich Forscher wie Berno (2017) 53–71, die den Epikureer Horaz in Relation zu dem Stoiker Seneca bringt (v. a. S. 71), Auhagen (2002) 205–217, die den augustei‐ schen Dichter im Gegensatz zu dem in der Horaz-Tradition stehenden Jacobus Balde durchgehend als „Epikureer“ bezeichnet, Lefèvre (1993) 202 f. und 251–253, der von einer durchgehenden Verhaftung des Dichters im epikureischen Denken ausgeht, Grimal (1993) 155, der zumindest an eine „période épicurienne“ des Horaz glaubt, Castner (21991) 91–95, die Horaz in ihrer Kategorisierung zu den „Epicurei dubii“ zählt, Schmidt (1985), der zwar mit seiner Differenzierung zwischen einem ,politischen‘ und einem ,unpolitischen‘ Horaz von einer rein philosophischen Fokussierung distanziert, aber dennoch von Horaz als einem „Anwalt moralischer Erneuerung und Verkünder epikureischer Lebensfreude“ (S. 139) spricht, La Penna (1969) 84, der die Religiosität des Horaz als „la sua unità con la sagezza epicurea e con la poesia“ definiert, und Pohlenz (1943) 160 f., der Horaz unmissverständlich zu den Epikureern zählt, noch um eine möglichst dogmatische Einordnung von Horaz zur Anhängerschaft Epikurs bemühten, betont der Großteil der Horaz-Forschung in den letzten Jahrzehnten überwiegend die Unzulässigkeit einer solchen Kategorisierung; vgl. Moles (2007) 165–180, der zwar die Dominanz epikureischer Doktrin in der horazischen Dichtung betont, diese aber keinesfalls als exklusive philosophische Quelle des augusteischen Dichters betrachtet; Grimal (1993) 154–160, der zwar von einer epikureischen Lebensphase des Dichters ausgeht, gleichermaßen aber auch eine zunehmende Distanzierung von der Lehre des Kepos in gewissen Punkten wahrnimmt und die Verarbeitung von Gedankengut aus den anderen hellenistischen Schulen konstatiert; Schilling (1993) 37, der ausgehend vom horazischen Werk eine philosophische Konvertierung des Dichters zu erkennen glaubt; Grilli (1993) 47–57, der u. a. vom „spirito della libertà di Orazio“ (S. 48) spricht; Pöschl (21991), der sich trotz seiner Fokussierung auf epikureisch ‚gefärbte‘ Horaz-Oden einen epikureischen Dogmatismus des Dichters entschieden ablehnt; Müller (1985) 158–167, der die Charakterisierung von Horaz als ,orthodoxem‘ Epikureer zwar ablehnt, aber dessen „grundsätzliche Disposition für den Epikureismus“ (S. 167) mit Nachdruck unter‐ streicht; die allgemeinen Darstellungen von Dilke (1981) 1847–1850 für die Philosophie in den Briefen und Lebek (1981) 2041 für die Philosophie in den Oden; MacLeod (1979a) 21–29, der in der epikureischen Ethik zwar einen wesentlichen, aber doch nur einen Bestandteil von vielen in der horazischen Lyrik sieht; Gigon (1977) passim, der von einer dogmatischen Ausrichtung der horazischen Philosophie konsequent Abstand nimmt; Gantar (1972) 5–24, der entgegen einer völligen Vereinnahmung für den Epikureismus auch von einer Annäherung an akademisches Gedankengut spricht; Fraenkel (21967) 303, der Horaz die Vorstellung von einem fanatischen Dogmatiker zurückweist; Merlan (1949) 451, der in diesem Zusammenhang für Horaz von einem „whining Epicureanism“ spricht.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
269
unüberbrückbaren Differenzen sind in den Oden des Horaz viele relevante Textpassagen über Götter- und Todesvorstellungen zu finden, die inhaltlich mit epikureischem Lehrgut übereinstimmen oder zur Auseinandersetzung damit auffordern, weil sie durch Stichwörter oder bekannte Topoi Assoziationen we‐ cken, die im Gedichtkontext jedoch inhaltliche Spannungen erzeugen. Anders als bei Cicero sind die Träger der epikureischen Positionen nicht literarische Figuren, sondern sie werden einzig vom ‚lyrischen Ich‘, in der Regel von der Dichter-persona des Horaz, vertreten. 4.2.1 Epikureisch ‚gefärbte‘ Göttervorstellungen bei Horaz Allein die Tatsache, dass sich die Dichter-persona in vielen Oden an konkrete römische Götter wendet, weil sie von den Menschen und auch vom Dichter selbst wegen ihrer Hilfeleistung Verehrung und Dank verdienen bzw. auch um zukünftige Unterstützung angerufen werden, legt den Schluss nahe, dass Horaz in diesem Corpus nicht die aufklärerisch-kämpferischen Ansichten eines epikureischen Philosophen vertritt. Allerdings sollte der Venus-Hymnus, den Lukrez an den Beginn des ersten Buches von De rerum natura stellt, verdeutlicht haben, dass sich die Hinwendung an eine Gottheit und die epikureische Lehre nicht automatisch ausschließen, sondern gegebenenfalls als Allegorie leicht in Einklang gebracht werden können. Immerhin geht Horaz gerade in seinen Oden regelmäßig philosophisch-theo‐ logischen Fragestellungen nach. Hinsichtlich ihrer theologischen Ausrichtung und damit auch einer nachvollziehbaren philosophischen Auslegung sollen carm. 1, 3, carm. 1, 17, carm. 1, 34, carm. 3, 1 und carm. 3, 29 einer genauen Analyse unterzogen werden, die in diesem Zusammenhang – zumindest größ‐ tenteils – bereits erhöhte Aufmerksamkeit von der Forschung erfahren haben.70
70
Für carm. 1, 3 vgl. u. a. Clark (2004) 4–34; Syndikus (32001a) 59–70; Campbell (1987) 314–318; Cairns (1972) 231–235; Elder (1952) 140–158; für carm. 1, 17 vgl. u. a. Syndikus (32001a) 185–194; Toohey (1982) 110–124; Fraenkel (21967) 241–246; Pasquali (1964) 336–340; für carm. 1, 34 vgl. u. a. Syndikus (32001a) 293–304; Németh (1985) 101–105; Lebek (1981) 2050–2054; Fredericksmeyer (1976) 155–176; Zumwalt (1974) 435–467; Fraenkel (21967) 300–304; Reckford (1966) 499–532; Pasquali (1964) 596–602; für carm. 3, 1 vgl. u. a. Nisbet/Rudd (2004) 3–21; Syndikus (32001b) 7–23; West (1995) 14–23; Pöschl (21991) 144–163; Mader (1987) 11–30; Lebek (1981) 2065–2070; Silk (1973) 131–145; Fraenkel (21967) 311–313; Pasquali (1964) 649–667; für carm. 3, 29 vgl. u. a. Nisbet/Rudd (2004) 345–364; Syndikus (32001b) 235–255; West (1995) 248–259; Pöschl (21991) 198– 245; Vogt (1983) 36–60; Lebek (1981) 2072–2084; Fraenkel (21967) 264–271; Pasquali (1964) 635–641.
270 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Zunächst ist nicht abzustreiten, dass die horazische Sprecher-persona in den Oden (etwa im Unterschied zu Lukrez) eine ausgesprochene Neigung hat, ihre Affinität zu bestimmten ‚Schutzgöttern‘ zu betonen. Dabei ist die Affinität zum Gott Merkur besonders deutlich markiert. In carm. 2, 17, 29 f. bezeichnet sich die Dichter-persona gar selbst als vir Mercurialis und auch in carm. 2, 7, 13–16 wird Merkur als persönlicher Schutzgott des Ich-Sprechers in der Schlacht bei Philippi präsentiert; darüber hinaus wird Merkur beispielsweise in carm. 1, 10 unter anderem als Schöpfer der Sprache und der Leier verehrt71 und in carm. 1, 2, 41–52 mit dem vergöttlichten Octavian nahezu gleichgesetzt.72 Auch zu Bacchus wird wiederholt eine besonders enge Verbindung des lyrischen Ichs erkennbar, etwa wenn es ihn in carm. 2, 19 preist oder in carm. 3, 25 seinen Rauschzustand schildert und dabei seine völlige Ergebenheit für Bacchus bekundet. Apoll hingegen betet der lyrische Ich-Sprecher vor allem in carm. 1, 31 anlässlich der Weihung des neuen Apoll-Tempels auf dem Palatin im Oktober 28 v. Chr. an und besingt den Musengott zusammen mit seiner Schwester Diana73 und der gemeinsamen Mutter Latona in carm. 1, 21. Auch der Venus bringt das lyrische Ich in mehreren Hymnen – vor allem in carm. 1, 19 und 1, 30 – seine demütige Anerkennung zum Ausdruck74 und es könnten noch zahlreiche andere Widmungsgedichte an Götter genannt werden, ohne diese gleich für kultische Lieder mit einer zutiefst religiösen Fundierung zu halten.75 So kommt etwa Hans-Peter Syndikus mit Blick auf die horazischen Götterlieder einmal zu folgendem Schluss: „Aber kein Mensch hat damals solche Lieder für religiöse Bekenntnisse eines Glaubens an die alten mythischen Gottheiten gehalten. Man unterschied mit Varro zwischen der Staatsreligion, der Philosophenreligion und dem Götterhimmel der Dichter: Die mythischen Vorstellungen der Dichter aber galten schon lange wie jeder andere dichterische Stoff als Erfindungen griechischer Dichter.“76
Mit dieser These vereinbar scheint auch die Rolle, über die der Dichter in seinem Spätwerk (Oden-Buch IV; Episteln-Buch II) seinen Stolz zum Ausdruck bringt: 71 72 73 74 75 76
Ebenso in carm. 3, 11, wo er auch als Lehrmeister des Amphion angesprochen wird. Vgl. dazu auch Lefèvre (1993) 215f. Ihr wird mit carm. 3, 22 auch ein eigenes Gedicht gewidmet. Die Macht der Liebesgöttin wird unter anderem auch in dem wesentlich später publizierten carm. 4, 1 thematisiert, das allerdings vielmehr wie ein Gnadengesuch anmutet. Vgl. carm. 1, 12 und 3, 3 (an die römischen Götter); 1, 35 (an Fortuna); carm. 3, 4 (an die Musen); 3, 28 (an Neptun); carm. 4, 3 (an Melpomene); siehe dazu beispielsweise auch die Auflistung bei Krasser (1995) 12. Syndikus (32001a) 303.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
271
Er ist nämlich offiziell vom Senat beauftragt, das Kultlied für die Säkularfeiern des Jahres 17 v. Chr. zu verfassen, was nach der Einteilung von Syndikus in den Bereich der Staatsreligion fallen würde. Für das Selbstverständnis des Horaz ist es aber eine besondere Auszeichnung, weil es die höchste Aufgabe eines Dichters ist, als vates die Verbindung der Gesellschaft zu den Göttern herzustellen: castis cum pueris ignara puella mariti disceret unde preces, vatem ni Musa dedisset? poscit opem chorus et praesentia numina sentit, caelestis implorat aquas, docta prece blandus, avertit morbos, metuenda pericula pellit, impetrat et pacem et locupletem frugibus annum. carmine di superi placantur, carmine Manes. (Hor. epist. 2, 1, 132–138)
135
Gibt es also nach diesen Vorüberlegungen überhaupt Horaz-Gedichte, in denen der Ich-Sprecher oder eine andere literarische Figur epikureische Vorstellungen von den Göttern und dem Tod vertritt? Wenn ja, welche Funktion kommt dem epikureischen Gedankengut und seinem Repräsentanten in den Oden jeweils zu? Zur Beantwortung dieser zweigeteilten Frage sei der Fokus auf eine repräsentative Auswahl an Oden gelegt, in der Horaz dezidiert auf theo‐ logische Inhalte zu sprechen kommt und dabei die epikureische Götterlehre durch erkennbare Schlagworte oder durch entsprechend formulierte Gedanken unmissverständlich in Erinnerung ruft. 4.2.1.1 Die Götterwelt in Hor. carm. 1, 17 Bei dieser Vorgehensweise gilt es, größte Vorsicht walten zu lassen und nicht einem vorschnell gewonnenen Eindruck einer epikureischen Tendenz, die scheinbar eindeutig kenntlich gemacht wird, zu erliegen: So vermittelt beispiels‐ weise carm. 1, 17 – zumindest auf den ersten Blick – ein bukolisch-epikureisches Ambiente ländlicher Zurückgezogenheit in Ruhe und Sorglosigkeit (V. 1–12), ehe gewissermaßen eine Einladung an Tyndaris zum Leben auf dem Lande im Einklang mit den Göttern erfolgt (V. 13–28).77 Als genauer Schauplatz der Szenerie werden der in der Nähe des horazischen Sabinums gelegene amoenus Lucretilis und ein tutum nemus genannt, das Faunus zusammen mit seiner Ziegenherde durchstreift.78 Die als olentis uxores mariti (V. 7) eingeführten Ziegen repräsentieren dabei offenbar die sorglos im Verborgenen79 lebenden 77 78
Vgl. Kiessling/Heinze (141984) 84. Vgl. Hor. carm. 3, 18; zum Vergleich mit der Ode 1, 17 siehe u. a. Blänsdorf (2015) 237–240.
272 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Landbewohner, die im Schutz göttlicher Geborgenheit (durch Faunus) ein Leben nach epikureischem Ideal führen, wenn man diesen Lebensstil philosophisch klassifizieren würde. Erst ab V. 13 und damit in der Mittelstrophe des Gedichts werden in diese Szenerie auch Menschen einbezogen, namentlich die kurz zuvor genannte Adressatin Tyndaris sowie das lyrische Ich selbst. Neben den Göttern bietet das Schatten spendende Tal zugleich Schutz vor der sommerlichen Hitze sowie die Möglichkeit, lyrische Gesänge ertönen zu lassen und dem Genuss eines guten Weines zu frönen.80 All dies könne dem Ich-Sprecher zufolge frei von jeglicher Furcht erfolgen und zwar sowohl im Hinblick auf potentielles Unheil in der göttlichen Sphäre (metonymisch werden Bacchus und Mars in den V. 22b–24a genannt) als auch im irdischen Bereich (exemplifiziert an einem nicht näher bekannten Cyrus in V. 24b–28). Erhärtet sich also der Eindruck einer epikurei‐ schen Deutung des Gedichts, da ja ganz entsprechend der Göttervorstellung des Kepos deren Existenz nicht geleugnet wird, sondern lediglich die Befreiung von einer unbegründeten Götterfurcht propagiert wird? Die gesammelten Eindrücke dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass erhebliche Aspekte vorhanden sind, die gegen eine epikureische Deutung der Szenerie sprechen: Die Ode beginnt nämlich mit einer Aussage, die den Gott Faunus aktiv als Heilsbringer in Erscheinung treten lässt, indem er die Ziegen‐ herde des Ich-Sprechers vor Hitze und Sturm schützt (V. 1–4). Zwar könnte man die V. 1–12 auch allegorisch verstehen, den Dank an Faunus als zufriedene Geste des glückverwöhnten und dankbaren Menschen; doch göttliche Intervention und göttliches Interesse am rechten Verhalten der Menschen manifestieren sich schließlich in einer Äußerung des lyrischen Ichs, die die vermeintlich epikureische Tendenz des Gedichts als haltlos entlarvt: di me tuentur, dis pietas mea / et musa cordi est […] (V. 13f.). Allein diese Beobachtung einer göttlichen Instanz, die Menschen und Tiere aktiv schützt, weil ihr an der pietas der Menschen gelegen ist, läuft einer epi‐ kureischen Göttervorstellung grundsätzlich zuwider, sodass eine epikureische Gesamtdeutung des Gedichts, die die Göttervorstellung als unumgänglichen Parameter einschließt, verworfen werden muss. Am Ende lässt sich lediglich bestätigen, dass die bukolische Szenerie des Gedichts zwar unmissverständlich eine philosophische Dimension in Form eines idealisierten Lebensentwurfs enthält, aber keine problemlos erkennbare und zudem begründbare Zuordnung 79 80
Vgl. Hor. carm. 1, 17, 5f.: inpune tutum per nemus arbutos / quaerunt latentis et thyma deviae; zum λάθε βιώσας als Erkennungsmerkmal epikureisch beeinflusster Literatur siehe u. a. Roskam (2007). Vgl. Hor. carm. 1, 17, 17–22a.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
273
zu einer bestimmten Schultradition wie dem Kepos zulässt. Das zweifellos vor‐ handene Lob eines zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens auf dem Lande hat also nicht notwendigerweise ein epikureisches Götterbild als Konsequenz und ist folglich nicht als intendierte Referenz des Dichters auf epikureische Lehrmeinungen zu verstehen. Die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dieser Frage wird dem Leser im Sinne von Selektivität und Kommunikativität allerdings gegeben, wenn er die literarische Topik mit dem Ideal des Kepos in Beziehung setzen will. Eine epikureische Modellierung der Sprecher-persona ist in diesem Gedicht jedoch nicht festzustellen. 4.2.1.2 Der deus prudens in Hor. carm. 1, 3 Indes bietet auch carm. 1, 3 Anlass zur Diskussion, was eine moralphilosophi‐ sche Haltung des lyrischen Ichs und die darin entworfene Rolle der Götter betrifft: Ähnlich wie etwa auch in carm. 1, 14 steht hier ein Schiff im Mittelpunkt, das als Adressat des Ich-Sprechers fungiert,81 wobei der tatsächliche Fokus des beunruhigten und aufgewühlten Ich-Sprechers auf Vergil als befreundetem Passagier liegt. Für diesen erhofft sich der Sprecher unter Anrufung göttlicher Schutzmächte (die sogenannte invocatio deorum) für seinen Freund eine sichere Überfahrt nach Attika.82 Damit handelt es sich also um ein Propemptikon, sodass carm. 1, 3 strukturell in einer Reihe mit Gedichten von Theokrit (z. B. Theokr. 7), Kallimachos (z. B. fr. 114) und Tibull (z. B. Tib. 1, 3) steht, gefolgt von Werken von Ovid (z. B. am. 2, 11) und Statius (z. B. silv. 3, 2).83 Inhaltlich und formal wird für carm. 1, 3 in etwa folgende Struktur er‐ kennbar:84 V. 1–8: Apostrophé an das Schiff mit invocatio deorum; V. 9–20: Furchtlosigkeit des Erfinders der Seefahrt; V. 21–40: Tadel an der menschlichen Hybris mit Nennung mythologischer exempla.
81
82
83 84
Zu den frühen Beispielen der Schiffsanrede, die ein typischer Bestandteil des προπεμπτικὸν μέλος ist, gehören u. a. Eur. Hel. 1451–1464; Kall. fr. 400 Pfeiffer: Ἁ ναῦς, ἃ τὸ μόνον φέγγος ἐμὶν τὸ γλυκὺ τᾶς ζόας / ἅρπαξας, ποτί τε Ζανὸς ἱκνεῦμαι λιμενοσκόπω (Übersetzung von M. Asper: „Schiff, das du das einzige Licht mir, die Süße meines Lebens, / entführt hast, bei Zeus flehe ich dich an, der über die Häfen wacht […]“). Auf die problematische Datierung dieser Reise, sofern man diese überhaupt als reales historisches Ereignis auffasst, weisen u. a. Romano (1991) 481 und Kiessling/Heinze (141984) 19 hin: Die einzige literarisch überlieferte Schiffsreise nach Attika hat Vergil in seinem Todesjahr 19 v. Chr. und somit erst nach der Publizierung des ersten Oden-Buchs (23 v. Chr.) gemacht. Vgl. dazu erneut Romano (1991) 481 f. und Kiessling/Heinze (141984) 19f. Die folgende Gliederung orientiert sich größtenteils an Romano (1991) 482.
274 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Nach der Anrufung mehrerer Götter (Venus, Castor und Pollux sowie Aeolus), die nicht nur für das Propemptikon, sondern auch für andere Gattungen wie das Epos und das Lehrgedicht üblich war und daher weniger als Ausdruck einer moralphilosophischen Haltung denn vielmehr als die Einhaltung gattungstech‐ nischer Tradition verstanden werden sollte, wird der Fokus nur kurz auf das eigentliche Sorgenkind Vergil gelenkt, den der Ich-Sprecher mit größter emotionaler Verbundenheit hier als animae dimidium meae (V. 8) bezeichnet. Das damit verknüpfte Motiv der amicitia ist somit von wesentlicher Bedeutung für das lyrische Ich, wie auch aus dem weiteren Verlauf der Ode hervorgeht. Für den ersten Seefahrer (V. 10–12: […] qui fragilem truci / commisit pelago ratem / primus […]) bescheinigt der Ich-Sprecher – noch weitgehend wertneu‐ tral und ohne Kommentierung dieser Pionierleistung und ihrer Folgen –85 eine ungeheure Furchtlosigkeit im Kampf gegen sämtliche widrige Naturgewalten (V. 12: nec timuit; V. 17: quem mortis timuit gradum). Eine moralische Wertung der Seefahrt als unrechtmäßige Transgression des menschlichen Macht- und Lebensbereichs findet man erst in dem Ausdruck der impiae rates (V. 23 f.), an den sich jedoch ähnliche Begriffe der wertenden Stellungnahme wie audax gens humana (V. 25 f.) und vetitum nefas (V. 26) unmittelbar anschließen und am Ende der Ode Substantive wie die menschliche stultitia (V. 38) und nostrum scelus (V. 39) wiederum anknüpfen. Mit dem in V. 21 f. genannten deus prudens,86 der einst das Meer von den Ländern geschieden habe, liegt eindeutig ein Kontext vor, der mit der epiku‐ reischen Göttervorstellung nicht in Einklang zu bringen ist, zumal einerseits nicht nur wiederholt auf das große, mit der Seefahrt verbundene Wagnis für die Menschheit hingewiesen wird, hinter dem die drohende Bestrafung durch intervenierende Götter steht,87 sondern andererseits sogar berühmte Beispiele aus der Mythologie für die schädlichen Konsequenzen vermeintlicher technischer Errungenschaften (V. 27–33: Prometheus; V. 34f.: Daedalus; V. 36: Hercules) aufgelistet werden. Gerade das Attribut prudens legt eine bestimmte Intention des deus nahe, die er bei der Trennung von Meer und Land verfolgt hat, 85
86 87
Ähnlich äußert sich dazu Syndikus (32001a) 62, jedoch ohne seine Relativierung dieser Ansicht am Text zu belegen: „Zwar verwünscht er den Erfinder der Seefahrt, durch die sein Freund nun manchen Gefahren entgegengeht, nicht direkt, wie das sonst oft geschah, aber er schüttelt doch den Kopf über die Torheit, die den Mensch dazu verleitete, sich ohne Zwang solchen Gefahren auszusetzen.“ Romano (1991) 484 spricht dagegen bereits bei der Kommentierung dieser Passage von einer „invettiva contro il primo navigatore“. Vgl. Hor. carm. 3, 29, 29f. Neben den mit dem Feuerraub verbundenen mala in V. 28 und der macies et nova febrium cohors in V. 30 f. werden die Jupiters Blitze in V. 40 als Strafmaßnahmen explizit genannt.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
275
nämlich die Beschränkung des menschlichen Lebensraumes auf einen möglichst gefahrfreien Bereich, in dem sich der Mensch frei bewegen kann.88 In der Dar‐ stellung des deus prudens scheint also ebenso wenig wie in der invocatio deorum der Einfluss eines bestimmten philosophischen Gedankenguts anzuklingen, wenngleich in dieser Ode eine moralphilosophische Komponente zweifellos zur Geltung kommt. Die moralphilosophische Haltung des Ich-Sprechers zielt allerdings weniger auf den deus prudens ab, sondern richtet sich vielmehr gegen die Schifffahrt als „ein[em] Zeichen von Hybris und Habsucht“.89 Wie Syndikus nachvollziehbar darlegt, spiegelt sich im hellenistischen Zeit‐ geist, aber auch in der Tradition lyrischer Textgattungen eine Tendenz wider, die keine Spur von Freude über den technischen Fortschritt durch die Seefahrt enthält und sich stattdessen über die Sehnsucht nach einem schlichten und sorgenfreien Leben definiert, für das nicht selten das Goldene Zeitalter symbo‐ lisch als erstrebtes Lebensideal steht.90 Diese Tendenz stimme Syndikus zufolge mit der Ausrichtung von zu Lebzeiten des Horaz durchaus wirkmächtigen Philosophenschulen wie dem Kynismus, der Stoa und dem Kepos überein, da diese für das Ideal eines einfachen und anspruchslosen Leben stünden, das sich in Wechselwirkung mit der anzustrebenden inneren Ausgeglichenheit des Menschen befinde.91 Tatsächlich geht der Gedanke von negativen Konsequenzen technischen Fortschritts für das Erreichen eines ethisch vertretbaren, wenn nicht sogar idealen bzw. idealisierten Lebensstils, wie er gerade beschrieben wurde, insbesondere auf den Kulturpessimismus des Lukrez im fünften Buch von De rerum natura zurück:92 improba navigii ratio tum caeca iacebat (Lucr. 5, 1006).93 Ohne diesen Gedankengang als epikureisches Alleinstellungsmerkmal dar‐ stellen zu wollen, muss man sich mit der Parallele auseinandersetzen. Für eine adäquate Einschätzung der horazischen ‚Kritik‘ an der Seefahrt muss in erster Linie die entsprechende literarische Motivtradition in Erinnerung gerufen werden, wie es Syndikus mit einer umfassenden Übersicht über relevante Textstellen tut: Allen voran sind neben dem Archegeten Hesiod (Hes. erg. 236 f. und 617–693) Tibull (Tib. 1, 3, 35–40), Properz (Prop. 3, 7, 29–32) und Ovid (Ov. am. 3, 8, 43 f.) zu nennen.94 Auf der anderen Seite scheint gerade der 88 89 90 91 92 93
Ähnlich dazu Kiessling/Heinze (141984) 23 und Elder (1952) 151. Syndikus (32001a) 64. Vgl. Syndikus (32001a) 63. Vgl. dazu schon Elder (1952) 141–143. Vgl. Syndikus (32001a) 63, Anm. 21; Elder (1952) 142f. Dieser Vers wird in Deuferts neuer Lukrez-Edition (2019) zwar athetiert, doch es finden sich ohenhin noch genügend weitere Parallelstellen im fünften Buch: z. B. Lucr. 5, 1105–1135; 1154; 1361–1415.
276 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
eklatante Widerspruch, der sich aus der (auch) lukrezisch-epikureisch geprägten Passage über die ethische Beurteilung der Schifffahrt und dem in carm. 1, 3 zur Schau gestellten Götterbild ergibt, ein Indiz dafür zu sein, dass Horaz für Leser, die Lukrez und den epikureischen Kontext kennen, intertextuelle Kommunikativität und Dialogizität beabsichtigt hat, gerade wenn es um die Verarbeitung philosophischer Lehrmeinungen geht: Anstatt die Existenz oder den Nutzen göttlicher Intervention zu bestreiten, wie es orthodoxe Epikureer täten, prangert Horaz mit seiner Ode das menschliche ‚Eindringen‘ in die göttliche Schöpfung bzw. in den göttlichen Machtbereich an. Jenseits dieser philosophischen Überlegungen gilt es allerdings auch den lite‐ rarischen Prätexten Rechnung zu tragen, auf die sich Horaz für die Komposition von carm. 1, 3 bezogen haben mag. Auf der einen Seite ist dazu der Dichterkom‐ mentar in Hesiods Werke und Tage zu nennen, wenn er zum einen die Menschen, die gegen jedermann δίκη walten lassen und deren Selbstverständnis unter anderem darin besteht, gerade keine Seefahrt zu betreiben (Hes. erg. 224–236), den Menschen gegenüberstellt, die sich dagegen durch eine ὕβρις κακή und σχέτλια ἔργα ‚auszeichnen‘ und die unter anderem durch den göttlichen Raub ihrer Schiffe bestraft werden (Hes. erg. 237–246); zum anderen aber auch, wenn der Dichter angereichert durch persönliche Gefahren ausführlich von den großen Gefahren der Seefahrt berichtet (Hes. erg. 617–693).95 Auf der anderen Seite haben Forscher wie Hahn, Elder, Harder, Amundsen, Lockyer, Cairns, Kidd und Basto einen Bezug zwischen dieser Horaz-Ode und Vergils Eklogen (v. a. einen Bezug zur vierten und sechsten Ekloge) und bzw. oder der Aeneis nachzuweisen versucht, während Campbell stattdessen aus gutem Grunde vielmehr von Referenzen auf Vergils Georgica ausgeht, stehen doch gerade diese in der Tradition des von Hesiod in der griechisch-römischen Antike begründeten landwirtschaftlichen Lehrgedichts.96 Dass gerade in Vergils erster großer Dichtung, den Eklogen, die Inkompatibilität und damit der Ausschluss einer zeitlichen Koexistenz von (wieder eintretendem) Goldenem Zeitalter und Seefahrt erkennbar wird, was ja im Einklang mit der in Hor. carm. 1, 3 zu findenden Bewertung der Seefahrt steht, beweist ein Blick auf Vergils vierte Ekloge (ecl. 4, 31–33; 37–39).97
94 95 96 97
Vgl. Syndikus (32001a) 63, Anm. 22; 64, Anm. 23 und 24; dazu auch bereits Kiessling/ Heinze (141984) 19f. Horaz spielt in carm. 1, 3, 29–31 ferner auf den ebenso bei Hesiod (in theog. 535–616 und erg. 42–105) zu findenden Prometheus-Mythos an; vgl. u. a. Elder (1952) 152. Vgl. dazu im Detail Campbell (1987) 314 f., Anm. 3. Dort wird die Schifffahrt neben dem Mauer- und dem Ackerbau zu den priscae vestigia fraudis (V. 31) gezählt.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
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Um den Aussagegehalt der horazischen Ode jedoch hinreichend zu erfassen, muss diese in ihrer Gänze betrachtet werden; das betrifft insbesondere den letzten großen Sinnabschnitt mit der Erwähnung von Prometheus (V. 27–33), Daedalus (V. 34 f.) und Hercules (V. 36) als „tragischen Helden“:98 Während Prometheus mit dem Feuerraub der Menschheit letztlich auch große Übel (Krankheit und Tod) als Konsequenz seiner audacia einbrachte, wurde der erfindungsreiche Daedalus mit dem tödlichen Absturz seines Sohnes Icarus, der Kraftprotz Hercules hingegen im Rahmen des Dodekathlon bestraft, das zwölf Sühnetaten für die Ermordung seiner Familie in einem Anfall von Wahnsinn vorsah (u. a. die Entführung des Höllenhundes Cerberus aus der Unterwelt). In allen Fällen liegt also ein Akt ‚aggressiver Transgression‘ vor, der sich jeweils auf einen unbefugten Bereich erstreckt, welcher eigentlich ausschließ‐ lich Göttern vorbehalten ist (Prometheus: ignem aetheria domo subductum; Daedalus: expertus vacuum aera; Hercules: perrupit Acheronta). Ausgehend von diesem „tragic heroism“, den Elder als essentiellen Bestandteil und horazisches Charakteristikum in carm. 1, 3, einem Rezeptionsdokument des traditionsrei‐ chen Seefahrtmotivs, hervorzuheben sucht,99 nimmt Campbell den Faden der hesiodeischen Zeitalterfolge auf und knüpft diesen an den Sukzessionsmythos in Vergils Georgica mit dem labor improbus als zentralem Resultat.100 Gerade hier befindet sich die Kontaktstelle mit der horazischen Ode: Zum einen muss die gens humana die Konsequenzen heroischen Fehlhandelns tragen und verstrickt sich dabei unweigerlich in neue Schuld gegenüber den Göttern;101 zum anderen reiht sie sich durch die Entdeckung und die beharrliche Betreibung der Seefahrt in die Serie der genannten mythologischen „Helden“ ein, indem sie neben Feuer (Prometheus), Luft (Daedalus) und Erde/Unterwelt (Hercules) nun auch noch das Wasser als göttliches Hoheitsgebiet für sich beansprucht.102 Nach diesen Überlegungen, die zum großen Teil schon vor einigen Jahr‐ zehnten angestellt wurden und nur noch einer geordneten Zusammenführung bedürfen, gelte das Interesse abschließend noch Vergil als dem Sorgenkind des Ich-Sprechers, der sich der Seefahrt – sei es willentlich oder unfreiwillig – aussetzen muss: Auch vor dem Hintergrund der übrigen Vergil-Oden des Horaz scheint es völlig abwegig, die ersten acht Verse (Vergil als animae dimidium 98 99 100
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Vgl. Elder (1952) v. a. 144; 150–156. Vgl. ebd. Vgl. Campbell (1987) 316. Dort heißt es mit Bezug auf Elder (1952): „This tragic ‚heroism‘ represents a distortion of traditional Hesiodic ideology, where the end of the golden age and the birth of the iron age are essentially the consequences of moral failure, and not human inventiveness“. Vgl. Hor. carm. 1, 3, 25 f.; 38–40. Vgl. Elder (1952) 153.
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meae) mit der zweiten Gedichthälfte (das vetitum nefas der audax gens humana) derart zu verbinden, dass man Vergil als gegenwärtiges Beispiel menschlicher impietas deuten müsste. Da eine solche Deutung jedoch nicht mit dem Ton der Eingangsverse harmonieren und eine in sich stimmige Gesamtinterpretation von carm. 1, 3 nahezu unmöglich machen würde, ist Vergil wohl vielmehr unter dem gemeinsamen Aspekt des „tragic heroism“ in die Nähe der drei mythologischen exempla zu rücken: Vergil erscheint auf diese Weise als eine Art ‚Held‘, der Unmenschliches wagen und dafür ggf. mit dem Leben bezahlen muss, zugleich aber auch in jedem Falle durch seine bereits erbrachten Leistungen im nationalen Gedächtnis weiterleben und als Kulturbringer unsterblich bleiben wird. Wie somit deutlich geworden sein dürfte, hat das Seefahrtsmotiv in carm. 1, 3 nur schwache Referenzen zu konkreten Philosophemen, auch wenn durchaus Reminiszenzen hellenistischer Philosophie erkennbar sind, die sich aber für das gesamte Gedicht nicht auf eine spezifische Schule festlegen lassen (geringe Selektivität).103 Obgleich entsprechendes Gedankengut bei Lukrez vorhanden ist und noch dazu in einer besonderen Ausführlichkeit, ist von einer überwiegend philosophischen Deutung abzusehen. Die motivgeschichtliche Einordnung be‐ stätigt angesichts einer langen Liste der Autoren, die die Seefahrt in einem ähnlich negativen Licht erscheinen lassen, den geringen Grad an Selektivität, da die Verwendung des Motivs nicht auf einzelne Epochen und Textgattungen beschränkt ist. Eine epikureische Tendenz dieser Ode ist nur im Sinne eines Kommunikati‐ vitäts- und Dialogizitätsangebots für den Leser zu verstehen, da gerade die Vor‐ stellung eines deus prudens, aber auch die große Sorge um den in Lebensgefahr befindlichen Freund, die zwar ein unleugbarer Ausdruck aufrichtiger amicitia ist, doch zugleich auch im Widerspruch mit dem epikureischen Diktum „Der Tod geht uns nichts an“ steht. Wer die Ode auf eine bestimmte philosophische Doktrin einengt, würde Horaz gewiss unrecht tun. Der hesiodeisch-vergilische Einfluss in carm. 1, 3 ist damit sicherlich ungleich höher einzuschätzen als die Verarbeitung hellenistischer Lehrmaximen. 4.2.1.3 Der prudens deus in Hor. carm. 3, 29 Wie Ode 1, 1 ist auch die letzte Ode vor der Sphragis in carm. 3, 30 an Maecenas adressiert und erhält damit eine Rahmenfunktion innerhalb der ersten drei Oden-Bücher. Carm. 3, 29 verdient schon deshalb eine besondere Aufmerk‐ samkeit. Im Unterschied zu carm. 1, 20 führt hier als Ausgangspunkt eine
103
Vgl. auch Elder (1952) 150; 155.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
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Einladung an Maecenas zu einer intensiven Diskussion ethischer Belange. Nicht nur, dass die Lebensweise des horazischen Ich-Sprechers und des Maecenas in plakativer Weise kontrastiert werden, die Gedanken entwickeln sich vielmehr von dort aus weiter zum Ideal des autarken Menschen, der mit schwierigen, aber unbeeinflussbaren Lebensumständen und Unglücksfällen souverän umgehen kann. Befreiung von Furcht ist das Ziel, das erreicht werden soll, und der Weg dahin ist durchaus epikureisch: die Konzentration des Dichters auf die positive Gegenwart und die Erinnerung an vergangene Freuden, die dem Menschen nicht mehr genommen werden kann;104 die Gedanken an die Zukunft, die eigentlich eine beruhigende Wirkung haben, aber Furcht erzeugen durch Erwartungen, die vielleicht nicht erfüllt werden;105 die Unausweichlichkeit des Todes als leicht hinzunehmendes Faktum, wenn man sich sagen kann, dass man das Leben genossen hat.106 Warum gerade diese Ode zu berücksichtigen ist und ausgerechnet in der Reihe der verstärkt unter theologischen Aspekten untersuchten Horaz-Werke erscheint, beantwortet der Kommentar von Robin Nisbet und Niall Rudd zum dritten Oden-Buch: „What distinguishes the ode from most invitation-poems is its sustained ethical dimension.“107 Berechtigterweise haben Nisbet/Rudd den moralphilosophischen Gehalt dieser Ode hervorgehoben, indem sie in ihrem Kommentar die Verschiedenartigkeit der rezipierten philosophischen Vorstel‐ lungen abwägen und den dominierenden Charakter des epikureischen Gedan‐ kenguts betonen.108 Die Göttervorstellungen, die an jeweils markanten Stellen der Ode eingesetzt werden, wo es um das Verhalten der Menschen in bestimmten Lebensumständen geht, verdienen daher im Kontext der Lebensansichten, die Horaz mit Orientierung am Kepos formuliert, eine nähere Untersuchung. Die Einladung beginnt wie in carm. 1, 1 mit einer Adressierung, die Maecenas’ Herkunft aus etruskischem Königsgeschlecht in Erinnerung ruft. Dazu passend wird betont, dass sich der horazische Ich-Sprecher durchaus bemüht, in der Qualität des Weins, der Kränze und Parfümausstattung ein Niveau in der Bewirtung zu erreichen, das Maecenas einen standesgemäßen Aufenthalt garan‐ tiert.109 Dieser soll seinen stolzen Palast auf dem Esquilin an der Porta Tiburtina 104 105 106 107 108 109
Vgl. dazu Epik. Men. 122; 130; fr. 436 Usener; sent. Vat. 36; 44 f.; 55; 77; Cic. fin. 2, 106. Vgl. dazu Epik. Men. 127; sent. rat. 13 = sent. Vat. 72; sent. Vat. 55; 75. Vgl. dazu v. a. Epik. sent. Vat. 47; siehe auch u. a. Cic. Att. 12, 2; Hor. epist. 1, 11, 24f. Nisbet/Rudd (2004) 346. Vgl. ebd.: „But the tone is predominantly Epicurean […], even if some of the ideas were shared by other schools“; vgl. auch West (1995) 259: „The poem breathes the essence of Epicureanism“. Es besteht kein Widerspruch zwischen dem zur Schau gestellten Wohlstand, der allein für das Wohlbefinden des vornehmen Gastes sorgen soll, und der im Fortgang des
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verlassen, dessen Lage und Ausblick auf das Sabinergebirge mit Tibur und Tusculum eigentlich nichts zu wünschen übrig lässt.110 Der Ich-Sprecher muss schon überzeugend argumentieren, um Maecenas auf sein Landgut zu locken: Zum einen tut es ab und zu gut, etwas anderes zu sehen, zum anderen machen die Hügel des Vatermörders Telegonus – als Umschreibung für Tusculum – den Ausblick von der heimischen Villa doch etwas unheimlich. Der energische Ton der Aufforderung wird durch drei Imperative erzeugt: Nach der ersten Ermunterung eripe te morae (V. 5) wird der horazische Dichter in seinen Wertungen deutlicher, mit denen er den Kontrast zwischen dem Landaufenthalt und dem Stadtleben vertieft: fastidiosam desere copiam (V. 9 f.) und omitte mirari (V. 11).111 Der vermeintliche ‚Segen‘ eines Lebens in der beata Roma erhält eine ironische Note, da ihre opes eingerahmt werden von Lärm und verschmutzter Luft.112 Alle drei Merkmale sind aber gerade die Störfaktoren für eine vita beata nach epikureischen Maßstäben, zu der Maecenas wohl durch die Einladung aufs Land geführt werden soll. Im Folgenden wird das Motiv der Befreiung aus einer unglücklichen Situation vertieft. Dabei kann man durchaus an eine Mahnung Epikurs erinnert werden: Ἐκλυτέον ἑαυτοὺς ἐκ τοῦ περὶ τὰ ἐγκύκλια καὶ πολιτικὰ δεσμωτηρίου (Epik. sent. Vat. 58).113 Das dabei evozierte Bild eines in Ketten gelegten Häftlings
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Gedichts propagierten Bescheidenheit, die der Dichter als Lebensweise favorisiert, da dieser Luxus in erster Linie als Freundschaftsgestus und nicht als Mittel zur Selbstinszenierung zu sehen ist; vgl. u. a. West (1995) 249f. Die Intention des Dichters bleibt im Laufe der Ode durchgängig erhalten, obwohl sie zunehmend von einem zunächst noch personenbezogenen und privaten Niveau auf eine allgemeingültige Ebene wechselt; vgl. Syndikus (32001b) 235–255. Zu den Möglichkeiten, diese Ode nach inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten zu gliedern, siehe insbesondere Pöschl (21991) 238–244. Die Aufforderung des omitte mirari (V. 11) lässt unweigerlich an das horazische nil admirari in epist. 1, 6, 1 f. denken; vgl. u. a. Lefèvre (1993) 178; Pöschl (21991) 210. Auch wenn Lebek zu Recht anmerkt, dass der Gedanke des nil admirari keinen Ursprung in einer spezifischen Philosophie hat (vgl. Lebek 1981, 2074, v. a. Anm. 4), bewegt sich der horazische Ich-Sprecher insgesamt überwiegend in epikureischen Gefilden; überhaupt ist das horazische Landlob (gattungsübergreifend) im Kontext des Epikureismus zu sehen. Tatsächlich werden durch die in einem Trikolon zusammengefassten Störfaktoren in V. 12 nahezu alle Sinne erfasst: visuell (fumus; opes), auditiv (strepitus), olfaktorisch (fumus), haptisch (opes); zur Ironie dieser Begriffe siehe Pöschl (21991) 210f. Wenn Lebek also behauptet, dass aus neutraler Perspektive in den bisher betrachteten Versen die Evozierung epikureischer bzw. allgemeinphilosophischer Überlegungen keine Rolle als Hintergrundfolie für die vom Dichter neu formulierten und in einen neuen Zusammenhang gebrachten Gedanken spielt, so geht dies doch überwiegend an den Ansätzen von einem Großteil der Horaz-Forscher wie von Viktor Pöschl oder Hans-Peter Syndikus vorbei, zumal Lebek in seiner Analyse von carm. 3, 29 selbst
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
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wird auch auf eine Gefangenschaft des Blickes ausgeweitet, der immerzu auf dieselben Schauplätze fixiert ist (V. 6–8).114 Der Stadt-Land-Kontrast wird in einem zusätzlichen Argument weiter aus‐ geführt, das Maecenas die Flucht aufs Land als eine Art Sommerurlaub erlauben will: Die Sommerpause ist bereits an den Sternen zu erkennen und auf dem Land malt der horazische Ich-Sprecher die Hitze anhand einer bukolischen Szene eines Hirten und seiner Herde aus, die Schatten und Erfrischung an einem Bach suchen.115 Dieses Beispiel bezieht sich nur auf einen äußeren,
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wiederholt auf epikureische Spurenelemente hinweist; vgl. Lebek (1981) 2074 f. Um diese wahrzunehmen und für die Deutung der Ode fruchtbar zu machen, braucht es auch keine rein epikureische ‚Brille‘, sondern eine Sensibilisierung für die traditions‐ reiche Verankerung von Aspekten und Gedanken, die in einer philosophisch geprägten Literatur immer wieder neu rezipiert und kontextualisiert werden. Ohnehin gibt es wohl keinen erkennbaren Grund, die Komponente der philosophischen Tradition bei der Auslegung von Horaz-Oden auszuklammern, solange keine pauschalen und kaum haltbaren Aussagen über eine angeblich nachweisbare dogmatische Zugehörigkeit des Dichters gemacht werden. Gleichwohl hat Syndikus (32001b) nicht Unrecht, wenn er behauptet, Horaz kritisiere die Lebensgewohnheiten des Maecenas „nicht mit aggressivem Tadel […], sondern mit viel leiseren Worten: Er will ja nicht die Ebene eines urbanen Gesprächs verlassen und schon gar nicht in der Art eines philosophischen Wanderpredigers den hohen Mann zu seiner Sekte bekehren, sondern dem Freund etwa Ausspannen, eine gewiss nicht allzu lange währende Abwechslung […] verschaffen“ (S. 238). Ungeachtet dessen ist Maecenas damit natürlich ein Adressat, der eine solche ‚Predigt‘ benötigt, da seine Lebensweise aus moralphilosophisch-ethischer Perspektive bedenklich ist und einer Neu-Ausrichtung bedarf. In eben dieser bukolischen Szenerie sieht Pöschl (21991) 228 die epikureische γαλήνη durch das windstill daliegende Ufer verwirklicht im Gegensatz zu der ταραχή eines rastlos umherschweifenden und besorgten Mannes wie Maecenas bzw. des Hirten und seiner Herde. Natürlich kann sich diese Deutung weit weniger auf einen bestimmten Lehrsatz aus den Schriften Epikurs beziehen als manch anderer Gedanke, den Horaz in dieser Ode zumindest zu verarbeiten scheint. Doch wirkt sie innerhalb des Gesamtge‐ füges und im Rahmen der Kernaussage, die der Dichter mit carm. 3, 29 verfolgt, recht schlüssig und stimmig. Demnach wäre der Hirte – eventuell zu diesem Zeitpunkt noch mehr als der adressierte Maecenas – bereits auf der Suche nach dieser allumfassenden und sich auch in der Natur niederschlagenden Ruhe und somit von einem epikureischen Grundstreben erfüllt, das ihn zur sapientia treibt. Gegen diese anschauliche und gut kontextualisierbare Deutung lässt sich jedoch fol‐ gender Einwand vorbringen, wie es etwa Lebek – allerdings mit anderer Akzentuierung – getan hat (vgl. Lebek 1981, 2075 f.; dazu auch Maurach 2001, 213): Entspricht ein Flussufer, das von Winden verschont bleibt, die in der sommerlichen Glut ja Abfri‐ schung bringen könnten, tatsächlich einem erstrebenswerten Ideal als Aufenthaltsort zu Rast und Erholung? Diesem Einwand begegnet Syndikus effizient, indem er mit entsprechender Referenz auf antike Quellen – nicht zuletzt im horazischen Werk selbst – und auf Forschungsliteratur nachweist, dass das bukolische Bild eines Flussufers durchgehend mit der Vorstellung von Kühle, Erholung und Schutz verbunden ist; vgl.
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jahreszeitbedingten Impuls, sich in öffentlichkeitsferne Winkel zurückzuziehen, und steht anders als bisweilen in Vergils Eklogen mit der philosophischen Ar‐ gumentation des Dichters oder eines anderen Protagonisten nicht unmittelbar in Kontakt.116 Es handelt sich also hierbei auf den ersten Blick vornehmlich um einen rhetorischen Schachzug, um Maecenas von der angenehmen Kühle auf dem Landgut des Dichters zu überzeugen.117 Der Kontrast zur Beschäftigung des Maecenas wird mit der Nennung seiner Sorgen verstärkt: Der Staat und sein Zustand, wie er im ersten Vers der nächsten Strophe angesprochen wird, mag zunächst ein Ideal des unermüdlichen Staats‐ mannes erwarten lassen. Doch im zweiten Vers häufen sich unangenehme Begriffe, die die Unruhe (ταραχή) umschreiben: urbi sollicitus times (V. 26). Der Grund für diese „Furcht um die Stadt“ liegt allerdings bei Völkern, die besonders weit weg von Rom im fernsten Osten agieren, was die ἀταραξία auch räumlich beinahe schon ad absurdum führt. Deswegen kann der horazische Ich-Sprecher auch die zeitliche Dimension der Furcht einführen: Furcht ist eine Emotion, die sich auf die ungewisse Zukunft richtet. In Abgrenzung von dem stoisch geprägten Ideal eines aufopferungsvollen und um das Gemeinwohl besorgten Staatsmannes, das hier von Maecenas ent‐ worfen wird (V. 25–28),118 will der horazische Ich-Sprecher also die epikureische Konzentration auf die positive Gegenwart empfehlen, weil das vor unnötiger
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Syndikus (32001b) 242; siehe dazu Verg. ecl. 1, 1–5; 5, 1–7; georg. 3, 331–338; Hor. epist. 1, 16, 8–14; carm. 1, 17, 17–22; 3, 1, 21–24. Der Baumschatten, der für ein Ufer, das willkommene Abfrischung bringen soll, notwendig ist, muss demnach nicht mehr eigens erwähnt werden und der Kontrast zwischen Maecenas und dem Ich-Sprecher kann auch auf der metaphorischen Ebene aufrechterhalten werden. Vgl. Verg. ecl. 1, 1–5; 5, 3–7; aber auch bei Horaz ist das bukolische Motiv des Rückzugs vor der Hitze in schattige Gefilde zu finden, vgl. carm. 1, 17, 17–24; 3, 1, 21–24; epod. 2, 23–28; epist. 1, 16, 8–16. Wie Pöschl jedoch zu zeigen versucht, ist in dieser Strophe durchaus eine philosophi‐ sche Symbolik zu sehen, die mit der generellen Kontrastierung der Lebensumstände zwischen Maecenas und dem Dichter einhergeht; vgl. Pöschl (21991) 228. In carm. 3, 29 werden nämlich die realhistorischen sozialen Verhältnisse umgekehrt, wenn es aus der Perspektive des Dichters um das innere Wohlbefinden geht; vgl. u. a. Lefèvre (1993) 178. Maecenas wird als ein von Sorgen geplagter Staatsmann dargestellt, der sich angesichts der politischen Vorkehrungen, die er zu treffen hat, auch in der sommerlichen Hitze nicht zur Ruhe kommt. Dagegen kann der einladende Dichter sein Leben auf dem ruhigen Lande unter schattigen Bäumen oder am Ufer eines stillen Bächleins genießen. Dieser Gegensatz, der aus der Konstellation zwischen Dichter und Adressat erwächst, geht im weiteren Verlauf der Ode, wie Syndikus ausführlich darstellt, immer mehr auf eine allgemeinere Ebene über, die nicht (mehr) an konkrete Personen gebunden ist: So geht es schließlich in der letzten Strophe um den bescheidenen Weisen, der sich an die wesentlichen Dinge im Leben hält und in scharfem Kontrast zu dem notorischen Gierschlund und Geizhals steht.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
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Beunruhigung schützt. Gerade an dieser zentralen Stelle für seine ethische Empfehlung führt er eine Gottheit ein: Es ist – wie in carm. 1, 3 – ein prudens deus, der dem Menschen den Blick in die Zukunft verwehrt hat (V. 30: caliginosa nocte premit). Es wäre jedoch in diesem Falle sicher verfehlt, angesichts des klar erkenn‐ baren epikureischen Gedankenguts hier durch die Einführung des prudens deus eine inkonsequente Haltung des Ich-Sprechers zu unterstellen oder gar eine Konversion hin zu einem (stoischen) Glauben an die providentia zuzutrauen. Die kommunikative oder auch rhetorische Funktion, die an dieser Stelle zur Geltung kommt, ist vielmehr die einer beruhigenden Geste. Sie erlaubt es, die condicio humana vor Augen zu führen, ohne damit weitere Ängste aufzurühren: Vermittelt werden soll das beruhigende Gefühl, dass es eine gute Einrichtung ist, wenn man die Zukunft nicht kennt. Die Schlussfolgerung, die hier suggeriert werden soll, ist ein rhetorischer oder besser noch eine Art psychotherapeutischer Taschenspielertrick, der eine Scheinlogik vorspiegelt, um die Konzentration auf die Gegenwart als einzig sinnvolles Verhalten zu empfehlen: a. b. c. d.
Der glückliche Mensch hat keine Sorgen; Sorgen entstehen aus Angst um die Zukunft; der „kluge Gott“ (prudens deus) sorgt für das Glück der Menschen und nimmt ihnen daher das Wissen um die Zukunft; ohne Wissen um die Zukunft gibt es keine Sorgen.119
Natürlich wäre das Wissen von einer bevorstehenden Katastrophe, die unaus‐ weichlich ist, grausam für die Menschen. Doch die Angst um die Zukunft entsteht eben auch aus der Ungewissheit, welche aus der fehlenden Kenntnis der Zukunft resultiert. Hier kann der epikureische Ratgeber ansetzen und behaupten, dies liege in jedermanns eigener Verantwortung; wenn man nämlich zu sagen lernt, dass einen die Zukunft nicht tangiere, dann hat man die Angst um die Zukunft unter Kontrolle. 118
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Vgl. dazu Syndikus (32001b) 243: „Gewiss war Horaz nicht so sehr Epikureer, dass er politische Sorgen um Rom überhaupt abgelehnt hätte, im Gegenteil […]; aber Horaz war doch Epikureer genug, um in den leidenschaftlichen Erregungen, die vom politischen Bereich ausgehen, eine Gefahr für den inneren Seelenfrieden zu sehen“. Allein die räumliche Entfernung der in V. 26–28 genannten Orte führen die akuten Sorgen des Maecenas ad absurdum; vgl. ebd. und West (1995) 252. Vgl. dazu Epik. Men. 127; sent. Vat. 55; 75. Auch in Ciceros De finibus bonorum et malorum wird die unsichere Zukunft in genau diesem Zusammenhang mehrfach thematisiert, indem jeweils zwischen der Perspektive der stulti und der sapientes differenziert wird; vgl. v. a. Cic. fin. 1, 57; 60; 62.
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Der prudens deus ist als Instanz für diese epikureische Empfehlung gar nicht nötig, die condicio humana würde denselben Zweck erfüllen. Der horazische Sprecher braucht aber diesen Akteur im Folgenden, um den Gedanken ange‐ messen zu kommunizieren, denn er wendet nun einen weiteren Trick an: Beim prudens deus handelt es sich zum einen weniger um eine fürsorgliche als um eine Vorsorge treffende Gottheit, zum anderen aber auch um eine höhere Instanz, da dieser prudens deus ja den Menschen von höherer Warte beobachtet und sich über dessen irrationales Verhalten amüsiert: ridetque si mortalis ultra / fas trepidat […] (V. 31f.).120 Es handelt sich also nicht um einen fürsorglichen Gott, der einem zu Hilfe kommt, wenn man ihn in einer Not anruft. Vielmehr wird damit ein Blick von oben und von außen auf das Menschenleben inszeniert. Der Blickwechsel macht den Menschen darauf aufmerksam, dass er in seiner Angst egozentrisch und larmoyant agiert, und zeigt dabei, wie er selbst auf andere wirkt: Er droht, sich durch sein Verhalten lächerlich zu machen. Was aber wäre das Resultat, wenn Horaz oder genauer gesagt das von ihm eingesetzte Medium des lyrischen Ich-Sprechers Maecenas ermahnen würde, darauf Acht zu geben, dass er sich mit seiner pausenlosen Sorge um den Staat nicht lächerlich machen solle? Die göttliche Instanz macht folglich den entscheidenden Unterschied aus: Wenn eine übergeordnete, beobachtende Instanz eingeführt wird, stehen der horazische Ich-Sprecher und Maecenas auf derselben Ebene; der Dichter kann seinen Förderer davor warnen, dass sie beide unter Beobachtung stehen, und macht ihm vor, wie man sich in dieser Situation am besten verhält: […] quod adest momento / componere aequus […] (V. 32f.). Trotz dieser Interpretationsmöglichkeit, die eine epikureische Deutung der vorliegenden Ode stützt, stellt sich für die achte Strophe, die eine zentrale Bedeutung für die Suche nach der moralphilosophischen Intention von carm. 3, 29 hat, natürlich auch folgende Frage: Widerspricht ein lachender Gott, der die Menschen amüsiert dabei beobachtet, wie sie vergeblich Wissen über zukünftige Ereignisse zu erlangen versuchen, nicht der (epikureischen) Vorstellung von (mehreren) Göttern, die sich nicht um menschliche Belange kümmern?121
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Die Sinnlosigkeit menschlicher Unternehmungen, die auf die unsichere Zukunft aus‐ gerichtet sind, wird auch von Epikur hervorgehoben; vgl. Epik. sent. rat. 13 = sent. Vat. 72; siehe u. a. auch Lefèvre (1993) 213, der in V. 32 f. die epikureische Ataraxie zu erkennen glaubt. Gleichermaßen hebt Lebek (1981) 2078 „die betonte Nennung der Fürsorge des Gottes“ hervor, wobei er eine Orientierung an der epikureischen Theologie für die Ausgestal‐ tung der achten Strophe generell vehement bestreitet.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
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Tatsächlich ist das Motiv einer lachenden Gottheit in den Oden ausschließlich in zwei Beschreibungen der Venus angelegt, die jedes Mal aktiv in menschliche Angelegenheiten eingreift und sich ihrer Überlegenheit bzw. ihres Wissensvor‐ sprungs bewusst ist.122 Obwohl in carm. 3, 29, 29–31 gewiss nicht die römische Liebesgöttin gemeint sein dürfte, sondern ein allgemeiner und daher anonym bleibender deus, gleichen sich die Situationen im Hinblick auf das Motiv und den Gegenstand des Lachens doch sehr. Sicherlich hat Syndikus recht damit, wenn er mit entsprechenden Verweisen auf epikureisches Schriftgut die Aussage hinter diesem vordergründigen Gottesbild fokussiert, „die philosophische Reflexion, die von Epikur ausgesprochene Warnung, nur törichte Menschen hingen ihr Herz an die Zukunft, töricht deshalb, weil der Mensch über das Morgen keine Gewalt hat“.123 Auf der anderen Seite macht das Bild der lachenden Gottheit, die die Zukunft bewusst und mit Blick auf die menschlichen Verhaltensweisen verschleiert, erneut deutlich, dass mit einem dogmatischen Götterbild, wie es bei der konsequenten Anwendung der epikureischen Theologie zu erwarten wäre, auch hier nicht zu rechnen ist. Vielmehr will die Dichter-persona ihre eigene Lebensphilosophie zum Ausdruck bringen, bleibt also im System der Odendichtung und funktioniert sie nicht zum philosophischen Lehrgedicht um.124 Das nächste Bild verändert die Perspektive: Der Strom der Zeit oder des Lebens wird als ein toskanischer Fluss vorgestellt, der periodisch ruhig dahinf‐ ließt, aber bei Hochwasser alles mit sich reißt. Es wird deutlich, dass man jetzt wieder auf dem Strom selbst im Boot sitzt und mitzieht. Folglich ist es sinnvoll, die ruhige Periode zu genießen, denn das bedrohlich geschilderte Hochwasser wird man kaum überleben. Also kann der horazische Ich-Sprecher hier seine Hauptaussage anschließen, die er mit der epikureischen Formel vixi 125
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Vgl. Hor. carm. 1, 33, 12; 3, 27, 67; vgl. dazu auch Syndikus (32001b) 244, Anm. 60. Syndikus (32001b) 244. Anders lautet dazu die an manchen Stellen zu weit gehende epikureische Deutung von Pöschl (21991) 217, der nur die Mimik des Gottes, aber nicht sein aktives Handeln berücksichtigt: „Das Lächeln des Gottes über die Torheit der Menschen ist der Heiterkeit des epikureischen Weisen verwandt, der von den sapientium templa auf die umherir‐ renden Menschen herunterschaut, wie es Lucrez im Prooemium zum zweiten Buch ausgesprochen hat“. Von einer Gottheit auszugehen, die sich durch das Fehlverhalten eines Menschen, der ihr ohnehin in allen Dingen nachsteht und somit keinerlei Vorbild‐ funktion für sie haben kann, selbst im Recht sieht oder gar Rückschlüsse auf das eigene ethische Verhalten zieht, wie es der lukrezische Beobachter zu Beginn von Buch II tut, ist allerdings ein geradezu absurder Versuch, an dieser Stelle eine philosophische Analogie zwischen Horaz und Lukrez herzustellen. Auch Lebek erkennt den epikureischen Ursprung dieses Gedankengangs an: „Das βεβιώται ist geradezu ein epikureisches ‚Kennwort‘, wie zumal Cic. Att. 12,2,2 indiziert“; vgl. dazu Epic. sent. Vat. 47; fr. 436 Usener; Syndikus (32001b) 264; Pöschl (21991)
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verbindet: Der autarke Mensch (potens sui) lebt zufrieden (laetus 126 deget) und er stirbt auch so. Wieder wird eine höhere Instanz eingeführt, aber der Mensch ist jetzt unabhängig von dem Gott, der die Wolken aufziehen lässt. Erneut ist die göttliche Instanz am Himmel in der Metapher für Unglück und Glück zunächst unauffällig. Und erneut entsteht der Eindruck, dass dieser Gott feindlich gesinnt sein könnte, scheint er doch zu versuchen, dem Menschen das Glück streitig zu machen. Es muss deshalb betont werden, dass dieser Gott dem Menschen Glück, das er in der Vergangenheit genossen hat, nicht mehr nehmen kann. Die Autarkie des Menschen besteht also darin, dass er die Macht über (seine) Gegenwart und (seine) Vergangenheit hat, während der Gott keinen Einfluss auf Vergangenes nehmen kann.127 Von einem solchen Gott ist es kein weiter Schritt mehr bis zur Fortuna: Sie wird als eine weitere und furchterregende Gestalt in der dreizehnten Strophe (V. 49–52) eingeführt, die als mutwillige Gottheit den Menschen als Spielzeug be‐ handelt.128 Dieses Mal gründet die Furchtlosigkeit des horazischen Ich-Sprechers
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224 f. Diesen Ausspruch lässt im Übrigen auch Dido in Verg. Aen. 4, 653 erklingen, als sie die Abreise ihres geliebten Aeneas mitansehen muss und sich ihres dadurch besiegelten Freitods aufgrund eines unwiederbringlichen Liebesverlusts und Vertrau‐ ensbruchs bewusst wird; in Sen. epist. 12 kommt die philosophische Komponente dieser Äußerung allerdings ungleich deutlicher zum Vorschein; vgl. dazu Lefèvre (1993) 214. Zur epikureischen Tradition dieses Ausspruchs vgl. ferner Epik. sent. Vat. 47; dazu auch Syndikus (32001b) 250, Anm. 86. Zur laetitia als Garant für die Erfüllung des persönlichen Lebensglücks nach horazischer Vorstellung siehe Hor. carm. 2, 16, 25; sat. 1, 1, 117–119; epist. 1, 10, 44–50; vgl. dazu das unerfüllte Lebensglück bei Lucr. 3, 931–943. Vgl. u. a. Epik. Men. 130; sent. Vat. 36; 44 f.; 77; siehe dazu auch Syndikus (32001b) 249, der darüber hinaus eine Reihe von Referenzquellen aus der epikureischen Literatur auflistet. Zum unlösbaren Streit in der Forschung über die philosophische Deutung dieser Verse siehe auch Lebek (1981) 2080. Lebeks These von einer zunehmenden Entfernung des Dichters von der epikureischen Doktrin ist allerdings nicht haltbar, da eine solche Sichtweise voraussetzen würde, dass zuvor eine völlig liniengetreue bzw. dogmatische Rezeption epikureischer Lehrsätze erfolgt ist; zudem stellt Lebek selbst unmittelbar darauf eine zutiefst widersprüchliche Behauptung auf, wenn er vor allem mit Verweis auf Epikurs Menoikeus-Brief konstatiert, dass „der Dichter auch in der Fortuna-Strophe nicht von epikureischer Doktrin“ abrücke (S. 2081). Vgl. Hor. carm. 3, 29, 49 f., wo von ihrem saevum negotium und einem ludus insolens die Rede ist. Diese Kombination von Jupiter und Fortuna erinnert an ihren Auftritt in carm. 1, 34; vgl. Syndikus (32001b) 251, Anm. 91. Die Wandelbarkeit der Fortuna spiegelt sich indes auch in der von „schrillen Antithesen“ (Syndikus, 32001b, 251) durchzogenen Charakterisierung wider, da sie auf der einen Seite als saeva und insolens, auf der anderen Seite aber auch als laeta und benigna beschrieben wird; vgl. außerdem die stilistische Gestaltung von V. 51 als Anapher, Parallelismus und Antithese.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
287
allerdings nicht auf der Gewissheit, dass von einer höheren Macht nichts zu befürchten ist, sondern auf einem angemessenen Umgang mit den Wechselfällen des Lebens, zumal es nun um gegenwärtige und zukünftige Ereignisse geht, deren Ausgang für den Menschen völlig offen und unklar ist und die damit keine sichere Kenntnis wie über bereits Vergangenes und Unveränderliches bieten. Auch hier lehrt der Ich-Sprecher, wie man mit dieser Instanz umzugehen hat, um autark zu bleiben: das Glück zu genießen, wenn es da ist (V. 53: laudo manentem), aber nicht zu klagen, wenn es ausbleibt, sondern das Leihgut zurückzugeben (V. 54: resigno quae dedit).129 Den folgenden Satz könnte genauso ein Stoiker formuliert haben: Mea / virtute me involvo probamque / pauperiem sine dote quaero (V. 54–56).130 Beide Philosophenschulen – Stoa und Kepos – wollen ja Autarkie von Störfaktoren des Glücks auf ganz ähnliche Weise erreichen. Nur Epikur sieht in der virtus auch ein Mittel zum Zweck: Das Bewusstsein der eigenen virtus schafft Wohlbefinden für einen selbst, wie sie hier auch bildlich als schützender Mantel fungiert, in den man sich einhüllen kann.131 So sind alle drei genannten übermenschlichen Mächte – der prudens deus, Jupiter und Fortuna – in ihrer Beziehung zum Menschen ähnlich konzipiert: Wer Fortuna als Metapher für die Kontingenz und den Wandel akzeptiert, muss dies auch für den Jupiter als Wettergott anerkennen sowie für den amüsierten Gott, der die Zukunft nicht offenbart. Die Personifikation dieser Kräfte ermöglicht
129 130
131
Diese markante Verzichtsformulierung ist dem Leser auch in epist. 1, 7, 34 bekannt; vgl. Pöschl (21991) 231f. Eine Verbindung zwischen virtus und pauperies wird auch in der zweiten Römerode (carm. 3, 2) hergestellt; vgl. auch Lefèvre (1993) 214. Hinter dieser „Tugend“ verbirgt sich also die Anerkennung von Fortunas Macht über äußere Güter und zugleich die der eigenen Verfügungsgewalt über die rechte innere Gesinnung. Der identische virtus-Begriff mit Bezug auf die Macht der Fortuna wird vom Dichter bzw. dem Bauern Ofellus auch in Hor. sat. 2, 2, 1; 126 gebraucht; vgl. auch Syndikus (32001b) 252, Anm. 97; Maurach (2001) 211. Es wäre sicherlich nicht richtig, aufgrund des virtus-Begriffs davon auszugehen, dass der horazische Ich-Sprecher an dieser Stelle von einer eher epikureisch beeinflussten Denkweise abrückt und sich stattdessen stärker einer stoischen Perspektive zuwendet, zumal sich beide Schulen in ihrer ethischen Zielsetzung – der Autarkie und der Eudaimonie – sehr ähneln. Wie Lefèvre nämlich überzeugend darlegt, ist die hier ins Feld geführte virtus des lyrischen Sprechers wohl nicht als (stoisches) summum bonum zu verstehen, sondern vielmehr als besonders nützliches Hilfsmittel auf dem Weg zum eigenen Glück, das von göttlichen Mächten weitgehend unabhängig oder zumindest unbeeindruckt bleibt: ἀρετή und αὐτάρκεια sind also als optimale Voraussetzungen für eine vita beata zu sehen, wie es auch die epikureische Ethik für ihr ἡδονή-Ideal angenommen hat; vgl. Epik. Men. 132; siehe dazu auch Lefèvre (1993) 214 und Syndikus (32001b) 252, v. a. Anm. 99, der darin durchaus auch einen stoischen Unterton vermutet; Lebek (1981) 2081 dagegen deutet den Begriff uneingeschränkt stoisch und beurteilt die gesamte Formulierung als „eine schalkhaft-selbstironische Bemerkung“.
288 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
aber, den Perspektivenwechsel aus der Sicht der betroffenen, involvierten Menschen zu lösen und eine Außensicht zu gewähren. Ein wirkungsvolles Schlussbild kontrastiert erneut das Verhalten der Men‐ schen im Unglück und gegenüber höheren Mächten. Während der horazische Ich-Sprecher sich durchaus wieder selbst einbezieht, verzichtet er hier dezent darauf, den Politiker Maecenas erneut direkt anzusprechen, auch wenn die Seefahrtsmetapher sich dazu anbietet, gerade die Furcht der mächtigen Staats‐ männer zu versinnbildlichen; dies hat auch Viktor Pöschl zu Recht angemerkt, indem er dafür eine markante Lukrez-Passage zum Vergleich heranzieht:132 summa etiam cum vis violenti per mare venti induperatorem classis super aequora verrit cum validis pariter legionibus atque elephantis, non divom pacem votis adit ac prece quaesit ventorum pavidus paces animasque secundas, nequiquam, quoniam violento turbine saepe correptus nihilo fertur minus ad vada leti? usque adeo res humanas vis abdita quaedam opterit et pulchros fascis saevasque secures proculcare ac ludibrio sibi habere videtur. (Lucr. 5, 1226–1235)
1230 1235
Eine aufdringliche Parallele zu Maecenas, die sich mit deutlicherer Markierung der intertextuellen Referenz auf Lukrez leicht ziehen ließe, vermeidet der horazische Ich-Sprecher. Vielmehr verzichtet er auf diesen Grad der Selektivität und zeigt seine Botschaft stattdessen am Typus des Kaufmanns auf. Der Topos der Seefahrt in Verbindung mit dem Kaufmann ist verbreitet und oft zur Exemplifizierung von avaritia eingesetzt, weil der Kaufmann sich für den Profit vom Glück abhängig macht. Der Kaufmann hat große Ambitionen und will deshalb die Götter mit vota bestechen, damit seine Fracht zu See heil ankommt; er macht sich also von Göttern abhängig, die er sinnlos anruft. Auch am Ende dieser Ode überrascht der Lyriker noch einmal: Man würde diesen Gedanken nämlich fortführen und dem Dichter die Worte in den Mund legen, dass er dagegen als kluger Epikureer die Götter gerade nicht mit Gebeten beruhigen müsse. Doch stattdessen führt er auch diese Kontrastierung dezent durch und bleibt im Bild, indem er für sich eine biremis scapha wählt, also ein kleines Boot, das Aura, Castor und Pollux sicher über die tobende Ägäis 132
Vgl. Pöschl (21991) 233. Auch in anderen Horaz-Gedichten findet sich das See‐ sturm-Motiv wieder, vgl. Hor. sat. 1, 1, 6; carm. 1, 1, 15–18; carm. 1, 31, 9–15; carm. 2, 16, 1–4; dazu auch Syndikus (32001b) 254, v. a. Anm. 105.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
289
geleiten.133 Sicherlich ist diese Passage nicht so zu verstehen, dass Götter benötigt werden, um auch den armen Mann sicher über das Meer oder durch das Leben zu geleiten; vielmehr ist die kontrastive Anlage der Seefahrtsmeta‐ pher darauf ausgerichtet, den Vergleich folgendermaßen durchzuführen: Zum Vergleich herangezogen wird auf der einen Seite die unterschiedliche Größe der Hoffnungen und damit die Angriffsfläche für Unglücksfälle. Die Personifikation dieser Mächte ist nötig, weil sie die Empfindung des Menschen, angegriffen zu werden, ausdrückt: Der gewaltige Africus bringt den hohen Mastbaum zum Stöhnen; die gierige See ist auf die reiche Ladung aus. Auf derselben metaphorischen Ebene befinden sich Aura und geminus Pollux, die den Dichter tragen, ohne dass er etwas tun muss. Die andere Seite des Vergleichs bildet das Verhalten der Menschen als Reaktion auf die Schicksalsmacht: Die eigenen Ambitionen und die daraus resultierenden Vorstellungen ringen dem verzwei‐
133
Vgl. Hor. carm. 1, 3, 1–4; 1, 17, 13 f.; 2, 17, 21–32. Lebek (1981) 2082 f., der sich intensiv mit Pöschls epikureischer Interpretation dieser Stelle auseinandersetzt und nachvollziehbar zu folgendem Schluss kommt: „Nichts führt aber in dem Horazischen Bild von dem geminus Pollux, der Horaz durch das Toben der Elemente tragen wird, auf diese inaktive ‚Einwirkung‘ der epikureischen Götter. […] In den Schlusszeilen von carm. 3,29 spricht sich wohl einfach das ganz persönliche, durchaus unphilosophische Vertrauen des Dichters aus […], welches auch in mancher anderen Ode seinen Ausdruck findet […]“. Dagegen sieht West (1995) 255 ganz offenbar einen für ihn unerklärbaren Widerspruch im Verhalten des Dichters gegenüber den Göttern, wie es in den letzten beiden Strophen gezeigt wird: „Strange, and not at all Epicurean that one who expects no help from gods and is prepared for malice from Fortune, should end this ode with a statement of faith in divine assistance. Horace seems at times to believe that gods were looking after him“. Dieses Paradoxon kann nur dadurch gelöst werden, wenn man neben der philosophi‐ schen auch die mythologische und poetologische Dimension dieser Verse berücksich‐ tigt: So gilt es zum einen, den mythologischen Ursprung von der Vorstellung der Dioskuren als Schutzmächte losgelöst von einem bestimmten philosophischen Dogma anzuerkennen und als solchen grundsätzlich auch in Ode 3, 29 zu sehen; vgl. u. a. Catull. 68, 63–65; Hor. carm. 1, 3, 2; 1, 12, 25–32.; dazu auch Nisbet/Rudd (2004) 364; Syndikus (32001b) 255; Pöschl (21991) 234 f. Auf dieser Basis ist es mehr als einleuchtend, wenn Syndikus zu folgendem Schluss kommt: „Die Dioskuren gehören wie das mehrfache Nennen der Götter vorher in die Ebene poetischer Stilisierung“ (Syndikus, 32001b, 255, Anm. 107); vgl. dazu auch Pöschl (21991) 236, der in diesem Zusammenhang zutreffend „eine überraschende Vielfalt von Manifestationen des Göttlichen“ konstatiert. Zum anderen ist es doch nämlich so, wenn man diese textimmanente Perspektive von Syndikus weiterführt, dass dem horazischen Ich-Sprecher in der Abschlussstrophe von carm. 3, 29 daran gelegen ist, ein grundsätzliches Gottvertrauen zur Schau zu stellen bzw. zur Geltung zur bringen, bei dem höhere Mächte dem Menschen mit einer weisen Lebensführung zumindest nicht feindlich gegenübersteht, und eben kein opportunisti‐ sches Bittflehen, das nur in Notzeiten erfolgt und von einer Götterverehrung, wie sie auch die Epikureer propagieren, eklatant abweicht; vgl. Epik. sent. Vat. 32 (Götter als weise Wesen); 65; siehe auch Pöschl (21991) 236.
290 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
felten Kaufmann einen Götterglauben und ein sinnloses Verhalten ab: non est meum […] / […] ad miseras preces / decurrere et votis pacisci […] (V. 57–59).134 Die zumindest indirekten Übereinstimmungen mit epikureischen Lehrsätzen (vor allem im ersten Teil der Ode) und die ebenso mit der epikureischen Theologie kompatible Charakterisierung des prudens deus in V. 29–33a zeigen einen mittleren Intensitätsgrad an Kommunikativität: Der Leser darf diese Verbindung herstellen und entsprechend für die Gedichtsaussage bewertend heranziehen. Die Einschränkung der Selektivität, besonders wenn die Motivik und Topik aus anderen literarischen Kontexten ebenfalls bekannt ist, wirkt einer allzu einseitigen Deutung der Ode entgegen. Während Referentialität und Autoreflexivität in niedrigem Maß ausgeprägt sind, lässt sich für die Faktoren Strukturalität (epikureisch geprägte Ratschläge tragen entscheidend zur Kon‐ trastierung mit der Lebenssituation des Maecenas bei und dienen zusammen mit der theologischen Argumentation zu seiner Überredung) und Dialogizität (in der überraschenden Übertragung von philosophischen Idealvorstellungen bzw. eines theologischen Verhaltenskodexes auf die politische Welt, und die Einbettung philosophischer Reflexionen in ein Einladungsgedicht) ein mittlerer bis hoher Ausprägungsgrad konstatieren. Für die Sprecher-persona ist also durchaus zu bestätigen, dass sie sich auf Lehrsätze des Kepos bezieht. Das rechtfertigt die hier angestellten Überlegungen einer epikureischen Deutung. 4.2.1.4 Jupiter und Necessitas in Hor. carm. 3, 1 Auch in seinem berühmten poetologischen wie moralphilosophischen Selbstbe‐ kenntnis zu Beginn des dritten Oden-Buches rückt Horaz die Rezeption epiku‐ reischen Gedankenguts an eine prominente Stelle innerhalb seines lyrischen Werkzyklus. Wie in den anderen hier untersuchten Werken ist eine trennscharfe Zuordnung dieser Ode zu einem einzigen Oberthema (z. B. Todesbild, Lebensstil, Umgang mit Furcht) nicht möglich; die Hervorhebung eines zentralen Elements, das die Ode maßgeblich prägt – in diesem Fall erneut die theologische Kompo‐ nente –, kann sich unter Einbeziehung des weiteren Kontextes aber dennoch als sinnvoll herausstellen, um das Gesamtkonzept der Ode unter Berücksichtigung immer noch aktueller Forschungsfragen nach der Einheit von carm. 3, 1 erfassen bzw. neu zu beleuchten.135 Das Gedicht carm. 3, 1, in dem sich, wie in der Forschung anerkannt, zahlreiche epikurnahe Themen wie das Ideal eines maßvollen und schlichten 134 135
Vgl. v. a. Epik. sent. Vat. 65; Epik. Men. 134. Vgl. dazu zuletzt Schulze (2001) 377–385; siehe auch schon Pöschl (21991) 144–163. Konkret geht es dabei um die inhaltlich logische Einbettung der Jupiter- und Neces‐ sitas-Passage in die Gesamtode.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
291
Lebens, die Vorzüge des zurückgezogenen Daseins auf dem Land oder die Tilgung ungerechtfertigter Furcht zur Erlangung eines glücklichen Lebens finden, lässt sich folgendermaßen gliedern: V. 1–4: V. 5–8: V. 9–16: V. 17–24: V. 25–32: V. 33–40: V. 41–48:
Selbstcharakterisierung des Ich-Sprechers als sacerdos Musarum; Einblick in die wahre Machtstruktur der Weltenhierarchie; Macht der Necessitas über Menschen; Ideal des somnus lenis (Landlob); Selbstgenügsamkeit als Voraussetzung für Furchtlosigkeit; Naturwidrige Bautätigkeit im Meer; Nutzlosigkeit von Reichtum zur Linderung von Sorgen.136
Lebek vertritt die These, dass sich Pöschls „Annahme einer epikureischen Komponente in carm. 3, 1, 1–8 […] so nicht bewährt“137 habe und die epiku‐ reische Tendenz der Ode erst ab V. 37 deutlicher in Erscheinung trete.138 Dagegen muss bei der Lektüre des Gesamtgedichts vorab betont werden, dass es gar nicht darum geht, einen überall (gleichermaßen) erkennbaren Einfluss epikureischen Gedankenguts festzustellen, sondern die Funktion dezidiert phi‐ losophiehistorisch belegbarer Aspekte in der horazischen Lyrik zu untersuchen und in Einklang zu bringen mit weiteren thematischen Komponenten (z. B. Motivgeschichte der Seefahrt) und literarischen Facetten (z. B. poetologische Selbstaussage, Gattungsgeschichtliches) in der jeweiligen Ode. Bloßes Ziel darf also nicht sein, das Gedicht in seinen einzelnen Bestandteilen auf epikureische Philosopheme zurückzuführen, sondern den Grundcharakter der Ode zu ans Tageslicht zu führen und gegebenenfalls (wenn auch nur auf den ersten Blick) widersprüchliche Elemente zu erklären und bestenfalls in die Gesamtinterpre‐ tation zu integrieren. Zunächst sollen dazu mit einem analytischen Durchgang durch die Einzel‐ passagen der Ode die Hauptaussage formuliert und problematisiert werden, bevor die theologische Dimension in carm. 3, 1 genau unter die Lupe genommen wird. Den Auftakt zur ersten Ode, aber auch zu den sechs ‚Römeroden‘ und zum dritten Oden-Buch insgesamt bilden die ersten vier Verse, in denen sich der horazische Ich-Sprecher mit priesterlichem Gestus von der breiten Masse abwendet, um den Musen angemessen zu huldigen und sich ihres Beistands bei der Gestaltung des gesamten dritten Oden-Buchs (V. 2f.: carmina non prius / audita)139 zu versichern, und zugleich die junge Generation Roms zu 136 137 138
Vgl. etwa Kiessling/Heinze (141984) 249 f.; eine gröbere Strukturierung der Ode findet sich etwa bei West (2002) 14 und Schulze (2001) 378. Lebek (1981) 2068. Vgl. Lebek (1981) 2066.
292 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
seinem Zielpublikum bestimmt (V. 4: virginibus puerisque canto).140 Bei dieser Formulierung handelt es sich bekanntermaßen um die Imitation eines orphi‐ schen Initiationsverses, wie er etwa in Plat. symp. 218 b vorliegt, sodass hier von der literarischen Inszenierung eines religiösen Ritus unter dem Topos der invocatio wie auch des (konkreten) Adressatenbezugs auszugehen ist.141 Diese besonders markante Gestaltung der Eingangsstrophe gilt es in erster Linie zu konstatieren und als Exposition mit intertextuellen und intratextuellen Bezügen zu begreifen. Vor dem Hintergrund, dass im Folgenden die moralphilosophische Dimension von carm. 3, 1 unbestritten dominiert, erscheint es mehr als zulässig und plausibel, schon in diesen Eingangsversen nach entsprechenden Referenzen zu suchen: Wie etwa Pöschl und Romano in diesem Zusammenhang mit Blick auf den weiteren Inhalt der Ode bereits überzeugend dargelegt haben, ist die Selbst‐ charakterisierung des Ich-Sprechers als Feind des profanum vulgus aus gutem Grunde durchaus auch als eine starke Reminiszenz an eine fragmentarisch überlieferte Selbstaussage Epikurs (οὐδέποτε ὠρέχθην τοῖς πολλοῖς ἀρέσκειν)142 in Kombination mit Lucr. 1, 945 (volgus abhorret ab hac [sc. ratione]) oder auch mit Lucr. 2, 9–14 zu verstehen.143 Mit Hilfe dieser Beobachtung kann es ferner gelingen, die alte Einheitsprob‐ lematik der ersten Römerode zu überwinden, d. h. die angeblich bestehende Isoliertheit der ersten Strophe und die fehlende Verbindung zur zweiten Strophe aufzulösen:144 Dort schildert der Ich-Sprecher zunächst eine Atmosphäre der 139 140 141 142 143
144
Zum innovativen Charakter der Horaz-Oden siehe die zielführenden Ausführungen von Syndikus (32001b) 15. Zur unbestreitbaren Sonderstellung der einleitenden Strophe in carm. 3, 1 siehe auch Syndikus (32001b) 13. Vgl. Nisbet/Rudd (2004) 6 f.; Romano (1991) 724; Kiessling/Heinze (141984) 250 f.; Fra‐ enkel (21967) 313. Insofern ist das profanum aus V. 1 als kontradiktorischer Gegensatz zu dem hier vorbereiteten und vom Dichter geleisteten sacrum zu verstehen. Epik. fr. 187 Usener = Epik. fr. 131 Arrighetti. Vgl. Pöschl (21991) 148 f.; Romano (1991) 724; Syndikus (32001b) 7 und 14 (insbes. Anm. 46 und 49) bezieht die Verse aus dem zweiten Buch von Lukrez aber berechtigterweise auf die dritte und vierte Strophe in carm. 3, 1, wo das mühevolle und vergebliche Streben der Menschen konkretisiert und exemplifiziert wird. Indes betont Pöschl (21991) 149, dass der „Aufruf zur Abkehr von der Macht- und Prunkgier […], der den Kerngedanken der ersten Ode bildet“, bereits in der ersten Strophe eingeleitet werde. Zu dieser Vermutung siehe u. a. Kiessling/Heinze (141984) 251; Fraenkel (21967) 313; Barwick (1950) 259; Pöschl (21991) 150 f. bestreitet hingegen eine Unvereinbarkeit der ersten und zweiten Strophe, da beide durch einen erhabenen Stil gekennzeichnet seien und der Motivtradition der feierlichen Ehrerbietung gegenüber den Göttern in lyrischem Gewande Rechnung trügen. Ganz treffend stellt er darüber hinaus fest: „Jedes Horazgedicht stellt eine lebendige Einheit dar, die zunächst aus sich selber
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
293
all umfassenden Furcht, die sich in der jeweiligen hierarchischen Beziehung zwischen Königen und ihren Untertanen sowie auch zwischen Königen (als irdischen Herrschern) und Jupiter (als göttlichem Allherrscher) niederschlage.145 Natürlich liegt Lebek mit seiner Meinung, dass die hier dargestellte aktive Herrschaft Jupiters über die Menschen kaum mit epikureischen Grundsätzen zu vereinen sei, vermeintlich richtig.146 Doch gerade darin liegt ja die horazische Eigenleistung, eben keine dogmatische Wiedergabe der epikureischen Lehre zu vollziehen, sondern vielmehr die Allgemeingültigkeit seiner Überzeugung vor römischem Publikum zu demonstrieren und zugleich diese epikuraffine Lebenseinstellung als vertretbare und salonfähige Haltung im Rom des späten 1. Jahrhunderts v. Chr. zu präsentieren. Daher ist es zwar zutreffend, dass die Vorstellung von einer aktiv intervenie‐ renden Gottheit wie dem hier beschriebenen Iuppiter cuncta supercilio movens 147 nicht dem epikureischen Dogma entspricht, ein Widerspruch zur moralphilo‐ sophischen Gesamtaussage des Gedichts ergibt sich daraus aber keineswegs: Der Fokus liegt nämlich weniger auf Jupiters Allgewalt als Bestandteil eines philosophischen oder religiösen Credos, sondern auf der daraus resultierenden „Atmosphäre der Angst“148 unter den Menschen und zwar ganz besonders unter den Mächtigen und Ehrgeizigen.149 Gerade mit Blick auf die folgende Ne‐ cessitas-Passage und das Damokles-Motiv ist Pöschls Vorschlag, „die gnadenlose Unbedingtheit einer Macht, die Willkür nicht ausschließt und Angst um sich verbreitet“150, als zentrale Intention aus der Jupiter-Strophe festzuhalten, eine logische Schlussfolgerung, zumal sich das Motiv der Angst in der gesamten Ode immer wieder zeigt.151
145
146 147 148 149 150 151
heraus verstanden werden muss“ (S. 155); ähnlich dazu Syndikus (32001b) 16, der eine Strophe, die innerhalb einer Ode völlig losgelöst scheint, als unvereinbar mit den Gestaltungsprinzipien horazischer Lyrik sieht. Vgl. Pöschl (21991) 152 f.; Schulze (2001) 379 konstatiert dabei zutreffend: „Es ist deshalb erstaunlich, wie oft man keine Verbindung der Iupiterstrophe zum Rest des Gedichts gesehen hat: Trennt man sie aus diesem Sinnzusammenhang heraus, fehlt der explizite Hinweis darauf, dass auch der König machtlos ist“. Vgl. Lebek (1981) 2068. Zur damit vollzogenen Zusammenführung der homerischen, hesiodeischen, aristoteli‐ schen und römischen Vorstellung vom höchsten Gott siehe Pöschl (21991) 157. Pöschl (21991) 153. Vgl. dazu auch Syndikus (32001b) 17. Pöschl (21991) 154; ähnlich dazu Syndikus (32001b) 16. Neben der Unberechenbarkeit der Necessitas und dem sinnbildlichen Damo‐ kles-Schwert stehen die Naturgewalten und Wetterextreme (V. 26–32) und das per‐ sonifizierte Dreigestirn aus Timor, Minae und Cura (V. 37–40) symbolisch für die omnipräsente Angst der Menschen; vgl. dazu Pöschl (21991) 154.
294 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Für die Einheit der Ode erweist sich die Schwerpunktsetzung auf den Grenzen der menschlichen Macht und dem Furcht einflößenden Bewusstsein dieser Ohnmacht – vergleichbar mit dem Stellenwert dieser Motive in carm. 1, 34 und 1, 35 – als maßgeblicher Aspekt.152 Vor diesem Hintergrund erscheint Lebeks rigorose Ablehnung von Pöschls Verweisen auf epikureische Quellen, die mit der horazischen Gestaltung der Jupiter-Strophe konform zu gehen scheinen, voreilig und schlichtweg unangemessen.153 Sowohl Pöschls Hinweis auf Epik. sent. rat. 7, die eine wesentliche Ergänzung zum unmittelbar voranstehenden Leitsatz Epikurs bildet,154 als auch sein Verweis auf die vis abdita quaedam in der bei carm. 3, 29 bereits zitierten Lukrez-Passage, aus der Horaz wohl schon ab V. 1218 vertraute Motive für die Gestaltung von carm. 3, 1 übernommen hat,155 haben durchaus ihre Berechtigung, wenn es darum geht, die epikureische Grundprägung der Ode mit intertextuellen Referenzen zu bestätigen.156 Das Thema menschlicher Ohnmacht findet seine Fortsetzung in dem Stro‐ phenpaar V. 9–16:157 Jede Form von Ehrgeiz und Streben nach politischem, wirtschaftlichem und/oder sozialem Aufstieg unterliegt unabhängig von der sozialen Herkunft der aequa lex einer als Necessitas bezeichneten und vom Menschen nicht beeinflussbaren Macht, die erbarmungslos über Leben und Tod der Menschen entscheidet.158 Menschliche ambitio erweist sich gerade in 152 153 154
155 156
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So auch Pöschl (21991) 158; siehe dazu auch Syndikus (32001b) 16f. Vgl. dazu Lebek (1981) 2068. Vgl. Epik. sent. rat. 6: Ἕνεκα τοῦ θαρρεῖν ἐξ ἀνθρώπων ἦν κατὰ φύσιν ἀρχῆς καὶ βασιλείας ἀγαθόν, ἐξ ὧν ἄν ποτε τοῦτο οἷός τ’ᾖ παρασκευάζεσθαι; sent. Vat. 7: Ἔνδοξοι καὶ περίβλεπτοί τινες ἐβουλήθησαν γενέσθαι, τὴν ἀνθρώπων ἀσφάλειαν οὕτω νομίζοντες περιποιήσθαι […]. Gemeint ist insbesondere die Erwähnung von reges superbi percussi timore in Lucr. 5, 1222f. Vgl. dazu Pöschl (21991) 154, Anm. 18; 159 f. Nicht daran ändert auch Lebeks Einwand, dass dagegen das epikureische Credo Ὁ θάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς (Epik. sent. rat. 2 = sent. Vat. 2) von Horaz nicht eingehalten werde, da es Pöschl bei der Annäherung an die horazische Moralphilosophie in den Oden ja um mögliche Anknüpfungspunkte an die epikureische Lehre geht und nicht um eine rigorose Überprüfung der Horaz-Oden auf dogmatisches epikureisches Lehrgut, das ganz orthodox rezipiert wurde. Vgl. Syndikus (32001b) 17. Eine Diskussion um die mögliche Nachahmung von Pindars lyrischem Stil, der zu einem gewissen Grad den Eindruck von Diskontinuität vermittelt, erscheint reichlich spekulativ und wenig zielführend, um Struktur und inhaltlichen Zusammenhang von carm. 3, 1 zu durchleuchten; vgl. dazu West (2002) 16; Campbell (1924) 76 f. nach Pöschl (21991) 151; abgelehnt u. a. von Syndikus (32001b) 12 f.; schon Fraenkel (21967) 313 schränkte die Vertretbarkeit einer solchen Interpretation deutlich ein: „Die abrupte Art des Neubeginns kann, aber muss nicht als pindarischer Zug angesehen werden“. Zum Motiv der sog. necessitas leti vgl. Hor. carm. 1, 3, 32 f.; 1, 35, 16–20; 3, 24, 5–8; siehe dazu auch Syndikus (32001b) 17, insbes. Anm. 64; Romano (1991) 726.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
295
übersteigerter Maßlosigkeit als riskantes und sinnloses Streben, da die condicio humana alle betrifft. Der Fortschritt und die Variation dieser Verse besteht also nicht nur in der Einführung einer neuen göttlichen Instanz, der Necessitas, son‐ dern vielmehr in der Verlagerung vom Aspekt der unveränderlichen Hierarchie zur Fortuna-Thematik, die in carm. 1, 34, 12–16, carm. 1, 35 und carm. 3, 29, 49–52 prominent geworden ist.159 Mit dem folgenden Strophenpaar wird der Fokus stärker auf die menschlichen ‚Einflussmöglichkeiten‘ gelegt, genauer gesagt auf den unterschiedlichen Erfolg menschlicher Verhaltensweisen im Umgang mit den dargelegten Machtverhält‐ nissen: Während ein impius keinerlei Aussicht auf Besserung seiner Lage bzw. Linderung seiner Sorgen hat, verspricht die von Schlichtheit, Demut und Zurückgezogenheit geprägte Lebensweise eine ungleich größere Erfolgschance auf ein sorgenfreies Dasein, das wiederum durch den somnus lenis symbolisiert wird.160 Der Anknüpfungspunkt zu den vorausgehenden Strophen besteht ohne Zweifel nicht zuletzt darin, dass das unermüdliche und gedankenlose Streben der Mächtigen und Ehrgeizigen nicht selten zur moralischen Hybris ausartet, während der Landmann einen solchen Wettkampf um Ruhm und Reichtum nicht kennt.161 Nach all den vergeblichen Versuchen einer erfolgsversprech‐ enden Lebensausrichtung wird nun endlich das Ideal einer lebensbejahenden und angstfreien Lebensweise präsentiert und zugleich die Erkenntnis, „dass im scheinbar Alltäglichen und ohne Mühe Erreichbaren das Glück liegen kann“162.
159
160 161 162
In Anlehnung an Schulze (2001) 378 f. ist von einer funktionalen Differenzierung zwischen Jupiter und der Necessitas auszugehen, die die zusätzliche Einführung der Letzteren schlüssig erscheinen lässt: Während Jupiters Herrschaft in erster Linie die Grenzen königlicher Macht deutlich macht, richtet sich die aequa lex der Necessitas gegen alle aufstrebenden Menschen. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Mächten gewinnt durch die verschiedenen Attribute, die Horaz ihnen zuschreibt (Jupiter als Gigantenbezwinger und als cuncta supercilio movens vs. die jedes Menschenlos fassende Urne der Necessitas), zudem an Kontur; anders Kiessling/Heinze (141984) 252. Obwohl die Necessitas in ihrer Charakterisierung bei Horaz dem Wesen der horazischen Fortuna nahekommt, sind auch diese beiden Allegorien nicht völlig deckungsgleich; zum hierarchischen Verhältnis zwischen diesen beiden vgl. Hor. carm. 1, 35, 17–20. Syndikus (32001b) 18 verweist in diesem Zusammenhang auf Epik. sent. rat. 17 = sent. Vat. 12: Ὁ δίκαιος ἀταρακτότατος, ὁ δ’ ἄδικος πλείστης ταραχῆς γέμων. Ähnlich dazu Syndikus (32001b) 18f. Syndikus (32001b) 19. Dort belegt Syndikus auch den epikureischen Hintergrund dieser Aussage bzw. des in carm. 3, 1 aufgezeigten Kontrastes zwischen dem aussichtslosen Streben nach schwer erreichbaren und unnötigen Lebenszielen und einem von Genüg‐ samkeit und Bescheidenheit gekennzeichneten Lebensstil; vgl. auch Hor. carm. 2, 3, 5–8; 21–24; 2, 11, 5–8; 13–24; 3, 29, 13–16; 57–64; sat. 2, 6; epist. 1, 10; 1, 14; epod. 2. Auch
296 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Zur Bezeichnung dieses Kerngedankens in carm. 3, 1 eignet sich der philo‐ sophische Terminus der αὐτάρκεια, der auch in der epikureischen Ethik von zentraler Bedeutung ist und den der Ich-Sprecher in V. 25 zum Ideal des deside‐ rans quod satis est stilisiert.163 Bis zum Beginn der persönlichen Schlusspartie (V. 41–48) wird diese Idee noch weiter ausgeführt: Der Ich-Sprecher nennt eine Fülle von negativen Beispielen, die seine obige Empfehlung gerade nicht ein‐ halten:164 zuerst die realen Ängste des Seemanns (V. 26–28), dann die beständigen Sorgen des Gutsbesitzers (V. 29–32) und schließlich die Bautätigkeit im Meer als Fluchtreflex vor den Sorgen auf dem Festland (V. 33–40).165 Wie Syndikus bereits richtig erkannt und treffend formuliert hat, ergibt sich der funktionale Zweck der zuletzt genannten Partie nicht aus der bloßen Wiederholung bzw. der erneuten Veranschaulichung der bereits im ersten Teil der Ode angesprochenen Missstände, sondern aus der Tatsache, dass der moralphilosophische Ratschlag des Dichters inzwischen ausgesprochen worden ist, ohne dass sich bereits eine Besserung ihrer Situation aufgrund der anhaltenden Habsucht eingestellt hat.166 Dass sich die Schlussverse auf epikureische Lehrinhalte beziehen, hat indes auch Lebek nicht in Zweifel gezogen.167 Die Referenz auf die epikureische Lehre lässt sich bekanntermaßen durch den Vergleich mit einer Passage aus dem zweiten Buch von De rerum natura überzeugend nachweisen:168
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Lukrez veranschaulicht zu Beginn von De rerum natura II diesen Gegensatz ausführlich; vgl. Lucr. 2, 23–36; ebenso Vergil in georg. 2, 461–474; vgl. dazu Nisbet/Rudd (2004) 4f. Vgl. v. a. Epik. sent. Vat. 36; 44 f.; 77. Romano (1991) 727 verweist hingegen für diese Horaz-Formulierung auf Epik. sent. rat. 29, obgleich eine derartige Differenzierung von ἐπιθυμίαι in carm. 3, 1, 25 nicht explizit anklingt. Gleichermaßen spricht sich dahingehend – bei dem Versuch, eine kausale Verknüpfung zwischen Furcht und Begierde herzustellen – auch Lebek (1981) 2069 zu Recht für einen eingeschränkten Rückgriff auf epikureisches Gedankengut durch Horaz aus. Zur wiederholten Rezeption dieses Leitgedankens bei Horaz vgl. beispielsweise carm. 3, 16, 39–44; sat. 2, 6, 1–4; 13; epist. 1, 2, 46; 56; 1, 10, 44–46; siehe dazu auch Syndikus (32001b) 20. Auch zu Beginn von Buch II des lukrezischen Lehrgedichts, das für Horaz bei der Ausgestaltung dieser Ode sicherlich der maßgebliche Prätext gewesen ist, wird der Gedanke der Selbstbeschränkung thematisiert: ergo corpoream ad naturam pauca videmus / esse opus omnino […] (Lucr. 2, 20f.). Siehe zum letzten Fallbeispiel als Zeichen transgressiven Fehlverhaltens bzw. mensch‐ licher Hybris auch Schulze (2001) 380; Syndikus (32001b) 21 f.; Romano (1991) 727 f.; Kiessling/Heinze (141984) 254 f. Dieses Motiv ist nicht neu und findet sich sowohl in Lucr. 3, 1054–1070 als auch regelmäßig bei Horaz selbst; vgl. carm. 2, 18, 17–28; 3, 24, 1–4; epist. 1, 1, 83–85; zu weiteren Belegen in der römischen Literatur siehe Syndikus (32001b) 22, Anm. 85. Vgl. Syndikus (32001b) 22, der damit auch für die früher noch angezweifelte Echtheit dieser Passage plädiert. Vgl. Lebek (1981) 2066f. Vgl. Syndikus (32001b) 8 f.; Kiessling/Heinze (141984) 255; Lebek (1981) 2066f.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
quapropter quoniam nihil nostro in corpore gazae proficiunt neque nobilitas nec gloria regni, quod superest, animo quoque nihil prodesse putandum; […] quod si ridicula haec ludibriaque esse videmus, re veraque metus hominum curaeque sequaces nec metuunt sonitus armorum nec fera tela audacterque inter reges rerumque potentis versantur neque fulgorem reverentur ab auro nec clarum vestis splendorem purpureai, quid dubitas quin omnis sit haec rationis potestas, omnis cum in tenebris praesertim vita laboret? (Lucr. 2, 37–39; 47–54)
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In auffallend ähnlicher Art und Weise wird in der vorletzten Strophe (V. 41–44) die Nutzlosigkeit jeglicher Form von Wohlstand und Luxus als Heilmittel für einen dolens geschildert. Zum einen knüpft diese Überlegung damit wiederum an epikureisches Gedankengut an, zum anderen rekurriert Horaz auch an anderer Stelle auf den Reichtum als vergeblichen Lösungsweg, um timor und cura zu entkommen.169 Entscheidend und spezifisch in der horazischen Ode ist jedoch die persönliche Stellungnahme, die in der Schlussstrophe zum Ausdruck gebracht wird:170 Die eigene Vorliebe des Ich-Sprechers für das schlichte Landleben, d. h. die Bevor‐ zugung seines Landguts in den Sabiner Bergen gegenüber einem prunkvollen Hausbau, der nur Neid nach sich ziehen würde, ist natürlich kein neues Motiv in der horazischen Dichtung;171 das Besondere an dieser selbst praktizierten αὐτάρκεια ist allerdings die Verbindung zu den in V. 5–16 dargestellten göttlichen Mächten, gegen die man ja dem Dichter zufolge sowieso nichts unternehmen könne.172 Statt dem ansonsten weit verbreiteten Bemühen der pri‐ vilegierten Gesellschaftsschicht, sich möglichst großen Reichtum anzuhäufen, 169 170
171
Vgl. Epik. sent. Vat. 25; 81; Hor. carm. 2, 16, 21–24; epist. 1, 2, 47–56. Schulze (2001) 380–382 führt als vergleichbaren Text für eine persönliche Stellung‐ nahme in exponierter Stellung carm. 1, 38 an und betont dabei die rahmende Funktion beider Gedichte. Syndikus (32001b) 9 bringt in diesem Zusammenhang ferner das nachlassende Ausmaß der horazischen Anlehnung an Lukrez wie folgt auf den Punkt: „Sogar Lukrezens Fazitziehen mit einer Schlussfolgerung, die mit dem Wörtchen quodsi einsetzt, wird von Horaz in seiner Schlusspartie in Vers 41 aufgenommen. Aber statt wie Lukrez zusammenfassend zu wiederholen, bringt Horaz einige vorher ausgesparte Motive, so dass er inhaltlich wirkungsvoll variieren kann; auch die persönliche Wen‐ dung ist bei Lukrez nicht vorgebildet“. Vgl. etwa carm. 2, 18; siehe dazu auch Syndikus (32001b) 23.
298 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
der einem ein Gefühl vermeintlicher Sicherheit vermittelt, lautet die Devise des Dichters am Ende ganz einfach ‚somnus lenis statt divitiae operosiores‘. Dieses vom horazischen Ich-Sprecher empfohlene Ideal des somnus agrestium lenis virorum, steht in carm. 3, 1 untrennbar verbunden mit den (in diesem Fall) durch Jupiter und die Necessitas repräsentierten Schicksalsmächten. Aus der Kontrastierung der oft von übertriebenem Ehrgeiz und Gier geprägten Geschäftigkeit der Menschen mit dem unbeeindruckten und stets souveränen Walten der göttlichen Instanzen wird der vom Ich-Sprecher empfohlene und an die römische Jugend vermittelte Lebensweg erst begreifbar. Dieser bei Horaz immer wieder in Variation auftretende Götterapparat ist allerdings nicht als philosophisches Bekenntnis zu werten, sondern vielmehr als literarische Konvention im Sinne von Systemreferenz zu verstehen, die zumeist in einem größeren moralphilosophischen Kontext steht und so eine va‐ riierende Funktion und Symbolik für die Gesamtbedeutung der Ode einnimmt. Genau diese Variation bei gleichzeitiger Motivwiederholung stellt auch eine Kontinuität in den Horaz-Oden insgesamt, aber auch in den vermeintlich so unterschiedlich ausgestalteten Römeroden im Besonderen dar.173 Einen nicht unwesentlichen Anteil an dieser Wirkung auf den Leser hat die moralphiloso‐ phische Prägung der Oden, die in diesem Text besonders von Leitgedanken durchsetzt ist, deren Referenz auf epikureische Lehren im Sinne einer Kom‐ munikativität deutlich ist. Diese darf die Kenntnis entsprechender Inhalte in bekannten Prätexten beim Publikum voraussetzen. Dass Pöschl die horazische Rezeption epikureischen Gedankenguts relati‐ viert hat, wurde ihm immer wieder missverständlich als ‚Vorsichtsmaßnahme‘ ausgelegt, um seine überwiegend epikureische Deutung des Gedichts zu legiti‐ mieren.174 Tatsächlich enthält Pöschls Aussage den Kerngedanken schlechthin, wenn es um die Beurteilung moralphilosophischen Gedankenguts in antiker Dichtung geht: Ziel ist es nicht, den Dichter einer orthodox-dogmatischen Schulmeinung zu überführen, zumal er in allererster Linie als rezipierender und zugleich innovierender Dichter zu begreifen ist; das Anliegen besteht vielmehr darin, die inhaltliche und literaturgeschichtliche Systematik bestimmter Leitge‐ danken eines Dichters zu durchdringen und gegebenenfalls nach intertextuellen Kriterien in der Tendenz zu bestätigen – und zwar unabhängig davon, ob es sich
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173 174
Schulze (2001) 383 berücksichtigt gerade auch die ersten vier Verse für seine Deutung von carm. 3, 1 als Ringkomposition, indem er auf die wiederkehrende Ich-Form hinweist und sich vehement dafür ausspricht, „dass Strophe 1 ein organischer Bestandteil von Ode 3,1 ist und dass Ode 3,1 als ein abgeschlossenes Gebilde betrachtet werden soll“. Vgl. Syndikus (32001b) 10. Vgl. Schulze (2001) 382, Anm. 33; Pöschl (21991) 149; Lebek (1981) 2067.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
299
bei den möglichen Vorbildern ebenfalls um Lyriker oder aber um Dramatiker, Historiographen oder eben Philosophen handelt. Auch wenn das in dieser Ode vermittelte Götterbild aufgrund der zweiten Strophe (V. 5–8) nicht auf die Kepos-Lehre zurückzuführen ist, legen die Bezie‐ hungen zu epikureischen Prätexten (Epikur, Lukrez) eine epikureische Tendenz dieser Ode nahe: Dass zentrale Sentenzen von carm. 3, 1 mit der epikureischen Lehre vereinbar sind, ohne direkte Zitate zu enthalten, entspricht einem mitt‐ leren Intensitätsgrad an Kommunikativität und Selektivität. Die Einbettung einer epikurnahen moralphilosophischen Haltung in den poetologischen Eröff‐ nungsgesang des dritten Oden-Buchs und der ‚Römeroden‘, verbunden mit der Dichte an Motiven, die auch bei Lukrez zu finden sind, kann man als einen hohen Ausprägungsgrad von Dialogizität werten. 4.2.1.5 Die Abkehr von der insaniens sapientia in Hor. carm. 1, 34 Ebenso wie carm. 3, 29 und carm. 3, 1 zeigt die berühmte Konversionsode 1, 34 unmissverständlich eine philosophische Dimension: Im Mittelpunkt steht ein Ich-Sprecher, welcher sich zu Beginn dezidiert von einer früheren Götter‐ vorstellung distanziert und die seltene, unzureichende Götterverehrung von früher als insaniens sapientia erkannt hat. Dass der erste Vers parcus deorum cultor et infrequens die traditionell epikureische Haltung gegenüber den Göttern beschreibt, gilt im Allgemeinen als unbestritten.175 Ausgangspunkt des Gedichts ist also die offengelegte Selbstkritik eines ehemaligen Epikureers, der für sich selbst eine fundamentale Umorientierung für erforderlich erachtet.176 Trotz Lebeks berechtigtem Einwand, dass eine vernachlässigte Verehrung der Götter nicht im Einklang mit der epikureischen Lehre stehe (vgl. Epik. fr. 386 f. Usener), kommt dieser zu dem Schluss, dass der Ich-Sprecher ein Horaz sei, „der sich sozusagen die Maske eines ursprünglich sich rigoros gebärdenden Epikureers aufgesetzt hat, der dann doch bei einem einmaligen Anstoß von außen seinem Epikureismus abschwört“177. Die Begründung für den an dieser Stelle sicherlich verwunderten Leser folgt sogleich durch die Schilderung eines bemerkenswerten Ereignisses, das den Anlass für das Umdenken des reumütigen und einsichtigen Ich-Sprechers bildet: ein offenbar von Jupiter verursachter Donnerschlag bei klarem Himmel, der hier
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Vgl. dazu u. a. Breuer (2008) 34; Nisbet/Hubbard (1970) 376 f. Zur Forschungsdiskussion, ob es sich bei carm. 1, 34 um eine ernsthafte Bekehrung handelt, siehe Lebek (1981) 2051 f. Vgl. Hor. carm. 1, 34, 3–5a: […] nunc retrorsum / vela dare atque iterare cursus / cogor relectos. Lebek (1981) 2053.
300 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
wie auch in carm. 3, 2, 29 feierlich als Diespiter („Vater des Tages“) bezeichnet wird (V. 5–12).178 Durch den Anblick dieser seltsamen Himmelserscheinung wird das lyrische Ich zu einer Überprüfung und Verwerfung seiner bisherigen Haltung gegenüber den Göttern bewogen (V. 12–16), da eine rationale Erklärung dieses Phänomens nicht gefunden werden könne, ohne die Schlüssigkeit der epikureischen Theologie damit infrage zu stellen.179 Ein mit rationalen Argumenten nicht erklärbarer Blitzschlag hat nämlich nach lukrezischer Vorstellung eine menschliche Angst vor derartigen Erschei‐ nungen als Wirkungszeichen einer göttlichen Macht zur Folge:180 Zum ersten Mal wird dies in Lucr. 1, 62–79 zum Thema gemacht, wo geschildert wird, wie Epikur den Wetterphänomenen als vermeintlichen Götterzeichen trotzig entgegenblickt und daraus seine Motivation schöpft, die Menschen über ihre unnötige Götterfurcht aufzuklären.181 In dieser Szene ist gewiss auch ein Prätext für Hor. carm. 1, 34, 12–16 zu sehen, um auch intertextuell eine Dialogizität zu erreichen, gerade weil die Reaktionen, die die Betrachter der Himmelszeichen jeweils zeigen, diametral entgegengesetzt sind. Aufschluss über den folgenschweren Widerspruch zwischen epikureischer Theologie bzw. Meteorologie und dem Blitz aus heiterem Himmel gewährt daher ein Blick in das sechste Buch des lukrezischen Lehrgedichts, in dem die angebliche Unmöglichkeit eines Naturphänomens, wie es dem lyrischen Ich in carm. 1, 34 widerfahren ist, mehrmals hervorgehoben wird: Principio tonitru quatiuntur caerula caeli propterea quia concurrunt sublime volantes aetheriae nubes contra pugnantibus ventis.
178 179
180 181
Vgl. Mayer (2012) 205; West (1995) 166. Von einer notwendigen Distanzierung von der alten Lehrmeinung geht auch Breuer (2008) 36 aus, denn das rätselhafte Phänomen eines Gewitters bei heiterem Himmel „könnte ein Argument gegen eine Lehrmeinung der Epikureer darstellen, welche unter anderem gerade aus der Tatsache, dass es bei wolkenlosem Himmel normalerweise nicht gewittern kann, folgern, dass aus Erscheinungen in der Natur nicht auf eine Intervention der Götter geschlossen werden dürfe. Wenn also die Epikureer in diesem Punkt irren, hat eventuell – so vielleicht der Gedankengang des Gedichts – ihr gesamtes Lehrgebäude keinen Bestand, und so sieht sich der Sprecher gezwungen, sich der altrömischen Religion wieder zuzuwenden“. Zum übernommenen Motiv der vom Blitz zerrissenen Wolken in Hor. carm. 1, 34, 7 vgl. auch Lucr. 6, 203; 283; siehe dazu West (1995) 163. Vgl. v. a. Lucr. 1, 66–71; 146–148; vgl. ferner Epik. rat. sent. 11–13; Lucr. 5, 1183–1193; 1218–1240. Zu den Auswirkungen der fehlbegründeten menschlichen religio siehe auch Lucr. 1, 84–101 (Opferung der Iphigenie in Aulis). Neben den religiones prangert der Dichter auch die somnia (V. 105) und die minae vatum (V. 109) als Quellen der Angst vor den Göttern an.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
nec fit enim sonitus caeli de parte serena, verum ubi cumque magis denso sunt agmine nubes, tam magis hinc magno fremitus fit murmure saepe. (Lucr. 6, 96–101)
301
100
Fulmina gignier e crassis alteque putandumst nubibus extructis; nam caelo nulla sereno nec leviter densis mittuntur nubibus umquam. nam dubio procul hoc fieri manifesta docet res, […]. (Lucr. 6, 246–249) denique cur numquam caelo iacit undique puro Iuppiter in terras fulmen sonitusque profundit? an simul ac nubes successere, ipse in eas tum descendit, prope ut hinc teli determinet ictus? (Lucr. 6, 400–403)
400
Die Unerklärlichkeit des in carm. 1, 34 beobachteten Wetterphänomens, dessen Zustandekommen bei Lukrez noch kategorisch ausgeschlossen wurde, veran‐ lasst den Ich-Sprecher folglich, zu einer früher bereits praktizierten Götterver‐ ehrung zurückzukehren, die sich offenbar vom momentanen (der epikureischen Theologie nahestehenden) Verhalten gegenüber den Göttern deutlich unter‐ scheidet.182 Die Auswirkungen von Blitz und Donner Jupiters beeindrucken den horazischen Ich-Sprecher derart, dass er bereit ist, Jupiters Wirkmächtigkeit und Einfluss auf die menschlichen Geschicke in vollem Maß anzuerkennen: […] valet ima summis / mutare et insignem attenuat deus, / obscura promens. […] (V. 12–14). Spätestens an dieser Stelle wird jedoch die metaphorische Ebene von carm. 1, 34 deutlich, die über das Thema der Götterverehrung und der Meteorologie hinausreicht: Mit deus (V. 13) und Fortuna (V. 15) werden nämlich zwei weitere göttliche Mächte angeführt, die mit Jupiter-Diespiter – gerade aufgrund des un‐ klaren Bezugs des nicht näher bestimmbaren deus – nicht gleichgesetzt werden müssen, aber mit diesem doch in einem sehr engen Kooperationsverhältnis stehen. Allen dreien wird dabei eine ähnliche Wirkmacht zuteil: die bestehenden 182
Vgl. dazu erneut Hor. carm. 1, 34, 3–5a; die metaphorische Formulierung vela dare in V. 4 stammt aus dem nautischen Bereich und findet sich in seinem ursprünglichen Kontext in Hor. carm. 4, 15, 4; in ihrer Anwendung auf eine philosophische Neuausrichtung erinnert sie an Verg. catal. 5, 8f. (nos ad beatos vela mittimus portus / magni petentes docta dicta Sironis), wo der umgekehrte Weg eingeschlagen wird; vgl. Nisbet/Hubbard (1970) 379.
302 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Verhältnisse unter den Menschen grundlegend zu ändern und somit entweder einen sozialen Abstieg (V. 13: insignem attenuat deus; V. 14–16: […] hinc apicem rapax / Fortuna cum stridore acuto / sustulit […]) oder Aufstieg (V. 14: obscura promens; V. 16: hic posuisse gaudet) zu ermöglichen. Im Rückschluss bedeutet ein solches Verständnis dieser Verse aber auch, dass für eine Sinn ergebende Anbindung des Schlussteils an das zuvor ge‐ schilderte Konversionserlebnis der Gedankengang der Ode, wie er bislang dargelegt wurde, nochmals überdacht und ebenfalls auf eine metaphorische Ebene gehoben werden muss. Gerade im Zusammenhang mit der am Ende noch eingeführten Fortuna, die darüber hinaus die zentrale Figur in der nachfolgenden Ode (carm. 1, 35: Fortuna von Antium) sein wird,183 kann der Blitzschlag aus heiterem Himmel, der den Ich-Sprecher aufrüttelt und zum Umdenken zwingt, fast nur als unerwarteter Lebenseinschnitt bzw. als jäher Schicksalsschlag im Leben des lyrischen Ichs gedeutet werden, der die bisherigen Lebensverhältnisse und zugleich auch die früheren Überzeugungen des Ich-Sprechers auf den Kopf stellt.184 Nach Berücksichtigung all dieser Überlegungen kann festgehalten werden, dass carm. 1, 34 eine metaphorische Deutungsebene aufweist, die über einer (anti-)epikureischen Deutungsebene liegt. Erst auf diese Weise können die Schlussverse und damit auch die Gesamtintention der Ode adäquat erfasst werden. Dass ferner auch auf der philosophischen Deutungsebene die Erwähnung der zur Göttin personifizierten Fortuna in V. 15 durchaus keinen Widerspruch zur Abkehr von epikureischer Theologie darstellt, wurde mit Verweis auf das hier zugrunde liegende Fortuna-Bild bereits hinreichend erörtert, das im Übrigen nichts mit dem stoischen fatum zu tun hat:185 Die Wechselfälle des Schicksals lassen kein dauerhaftes Glück zu, sodass die Fortuna im Zusammenspiel mit der von den Menschen nicht immer durchschaubaren göttlichen ratio als Erklärungsprinzip dient. Tatsächlich ist die Hervorhebung der Fortuna als vom Menschen unbeeinflussbares Lebensprinzip, wie oben schon erwähnt, wohl vor dem Hintergrund des beinahe nahtlosen Übergangs zur Ode auf Fortuna von Antium (carm. 1, 35) zu sehen, deren erste vier Verse den gleichen Gedanken wie in carm. 1, 34, 12–16 aufgreifen.
183 184 185
Vgl. dazu u. a. Syndikus (32001a) 302, der carm. 1, 34 als Palinodie bezeichnet und sie infolgedessen als „eine nicht ganz unironische Einleitung zur folgenden Hymne“ betrachtet. Vgl. West (1995) 165: „The lightning in a clear sky is a symbol of the sudden inexplicable violence of the action of Fortune in human life“. Vgl. v. a. Syndikus (32001a) 297 f.; siehe dazu auch West (1995) 165; Kiessling/Heinze (141984) 144; Nisbet/Hubbard (1970) 377f.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
303
Das kohärente Bild der Schicksalsgöttin in der horazischen Darstellung setzt sich auch in carm. 3, 29, 49–52 fort: Fortuna saevo laeta negotio et ludum insolentem ludere pertinax transmutat incertos honores, nunc mihi, nunc alii benigna. (Hor. carm. 3, 29, 49–52)
50
Wenn man abschließend noch einmal auf carm. 1, 34 und den Stellenwert der epikureischen Philosophie darin zurückkommen möchte, gilt es, folgende These von Lebek als hilfreichen Erklärungsansatz zur Lösung der Figurenproblematik im Gedächtnis zu behalten:186 Horaz suche einen bewusst spielerischen Zugang zur epikureischen Lehre, um sein in carm. 1, 1 betontes Streben nach Unabhän‐ gigkeit von philosophischer Doktrin zu untermauern. Auch wenn das in carm. 1, 34 vermittelte Götterbild ab der zweiten Strophe in keinster Weise mit der epikureischen Theologie kompatibel ist, definiert sich die Ausgangslage der Sprecher-persona zu Beginn der Ode über eine epikurnahe Haltung. Die erste Strophe enthält allerdings keinen direkten Hinweis auf einen epikureischen Prätext – die bloße Übernahme der möglicherweise von Lukrez herangezogenen Schiffsmetapher kann nur als Angebot einer Dialogizität ge‐ deutet werden, da in carm. 1, 34 in eine andere Richtung argumentiert wird. Die mentale Entwicklung des in carm. 1, 34 vorgeführten Ich-Sprechers wird hier innerhalb eines carmen entfaltet, steht aber durchaus auch im Einklang mit der philosophisch nicht immer konsistenten bzw. einwandfrei kategorisier‐ baren (Selbst-)Darstellung des jeweiligen lyrischen Ichs im Gesamtwerk des Horaz. Zur Vermeidung kaum haltbarer und zudem wenig aufschlussreicher Spekulationen verbietet es sich jedoch, eine chronologische Entwicklungslinie hinsichtlich des philosophischen Gedankenguts und der Entstehungszeit der einzelnen Werke (z. B. eine zunehmende Tendenz weg vom Epikureismus hin zum Stoizismus oder umgekehrt) oder eine aussagekräftige Parallele zum biographischen Hintergrund des Autors (vom jugendlichen Epikur-Anhänger zum augusteischen Hofdichter) zu ziehen.187 186
187
Vgl. dazu Lebek (1981) 2054, der in diesem Zusammenhang für carm. 1, 34 „eine Mischung von subtiler Komik in der ersten Hälfte und immer stärker werdendem Ernst am Ende“ diagnostiziert. Dieser zum Teil humorvolle, zumindest jedoch ironische Umgang mit seiner Darstellung als epikurnaher Dichterphilosoph wird nicht zuletzt in seiner berühmten Äußerung in epist. 1, 4, 15 f. deutlich. Neben Bowditch (2001), Maurach (2001) und Lefèvre (1993) vertritt u. a. auch Syndikus (32001a) die Auffassung, dass „es sich bei diesen Gedichten mehr um literarische Aussagen als um persönliche Bekenntnisse handelt“ (S. 301).
304 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Ebenso erscheint die These von David West zwar plausibel, dass Horaz – im Gegensatz zur epikureischen Ethik – wohl die epikureische Theologie und Physik abgelehnt habe, was aus der Lektüre seines Gesamtwerkes hervorgehe.188 Aber sie ist kaum zweifelsfrei belegbar, sodass vielmehr ein anderer Aspekt seines Fazits in den Mittelpunkt gerückt werden sollte: „[…] as we read about the sudden unpredictable exercise of divine power as God and rapacious Fortune elevate the humble and humiliate the great, we are with a Horace who is not Epicurean or Stoic, but a human being observing the sudden, drastic, and inscrutable events which overtake human beings from an incomprehensible source.“189
Im Gegensatz zu Wests These von der Ablehnung epikureischer Theologie gelingt Hans-Peter Syndikus eine präzisere und weitaus besser nachzuvollzie‐ hende Schlussfolgerung: „Genau wie in den Satiren sind die Götter auch in den Episteln fast völlig ausgeklam‐ mert […]. Andererseits stehen die Götter aber nicht nur in der ersten Odensammlung, sondern auch in den frühesten Epoden und in dem nach dem ersten Epistelbuch geschriebenen 4. Odenbuch recht im Vordergrund. Die Rolle der Götter hängt also bei Horaz von der jeweiligen poetischen Gattung ab.“190
4.2.1.6 Zwischenfazit über die Inszenierung und Bedeutung von Göttern in den Oden des Horaz Die jeweilige Gattungstradition ist also, wie Syndikus richtig hervorhebt, entscheidend für die Konzeption des Götterbilds in den horazischen Oden. Das schließt allerdings nicht aus, dass trotz bzw. gerade aufgrund der theologischen Komponente auch (moral-)philosophisches Gedankengut rezipiert und neu kontextualisiert wird. Im vorangehenden Kapitel wurden dazu ausschließlich die Oden des Horaz in den Blick genommen, obwohl – wie es auch bei Syndikus anklingt – durchaus auch ganz vereinzelte Textpassagen aus dem übrigen Werk Horaz für seinen Umgang mit den Göttern lohnenswert wären: Allen voran ist hierbei das Ende der ‚autobiographischen‘ Satire 1, 5 zu nennen, in der die Sympathie des nach Brundisium reisenden Ich-Sprechers für die
188 189 190
Vgl. West (1995) 166. West (1995) 167. Syndikus (32001a) 299 f. Diesen zweifellos zutreffenden Gedanken führt er wenig später noch genauer aus: „Der Hinweis auf Veränderungen beim Übergang von einer Gattung zur anderen hat also nicht so sehr mit veränderten Haltungen des empirischen Ichs des Autors zu tun als mit seiner Selbststilisierung als Verfasser geprägter Gedichtformen mit ihren immanenten Gesetzen“ (S. 301).
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
305
epikureische Theologie (neben dem hohen Stellenwert von Freundschaft und Ruhe) mehr als deutlich wird und die diesbezüglich bereits eingehend analysiert und interpretiert worden ist:191 […] namque deos didici securum agere aevum, nec si quid miri faciat natura, deos id tristis ex alto caeli demittere tecto. (Hor. sat. 1, 5, 101–103)
Die explizite Anknüpfung an epikureisches Gedankengut, wie es insbesondere Lukrez vermittelt hat, liegt auf der Hand und kennzeichnet an dieser Stelle die Überzeugung des Ich-Sprechers im Kontrast zum Glauben des Juden Apella.192 Wie gerade die kurzen Einzeluntersuchungen von carm. 1, 17 und carm. 1, 3 verdeutlicht haben, wird dagegen in den Oden epikureisches Gedankengut, soweit es sich überhaupt identifizieren lässt, oft nur marginal erkennbar und eine eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Philosophenschule ist so gut wie nie möglich. Selbst wenn an gewissen Stellen der Eindruck entsteht, dass sich Horaz eines spezifischen Lehrguts bedient, was im Falle des Kepos beispielsweise in starkem Maß auf erkennbare Reminiszenzen an lukrezische Gedanken und Formulierungen zurückzuführen wäre, zeugen die regelmäßigen Sentenzen in den Oden von einem dichterspezifischen Sprachduktus und einer Gedankenführung, die in dieser Form als ‚horaztypisch‘ anzusehen ist. Dennoch finden sich in den Oden auch Texte, die sich nachweislich sehr eng an epikureischen Inhalten orientieren, darunter carm. 1, 34, carm. 3, 1 und carm. 3, 29: So werden in carm. 3, 1 anhand des von Jupiter und der Necessitas repräsentierten ‚Götterapparats‘ Überlegungen zur Bewältigung menschlicher Zukunftsängste und zu einem schlichten Lebensstil angestellt und in carm. 3, 29, einem an Maecenas gerichteten Plädoyer für die ländliche Ruhe und gegen den Überfluss an Lärm und Prunk in der Stadt, unter zusätzlicher Einbeziehung des prudens deus und der Fortuna fortgesetzt. Dagegen wird in carm. 1, 34 die innere Umkehr eines Ich-Sprechers geschildert, der aufgrund eines Blitzes, den er als göttliches Zeichen deutet, seine nachlässige Götterverehrung realisiert und seiner insaniens sapientia fortan abschwört. Horaz schließt also die Götter auch aus den Oden nicht aus, die – wie in carm. 3, 1 und carm. 3, 29 – epikureisch fundierte Lebensempfehlungen 191 192
Vgl. v. a. Welch (2008) 47–74 (v. a. 62 f.), die in diesem Zusammenhang treffend vom „satirischen Epikureismus des Horaz“ spricht (S. 49); siehe dazu auch Yona (2018) 15, Anm. 3; 143 f., Anm. 43; Armstrong (2014) 99; Classen (1973) 235–250 (v. a. 244–250). Vgl. hierzu Lucr. 5, 82 = 6, 58: nam bene qui didicere deos securum agere aevom […]; siehe dazu wiederum Armstrong (2014) 99; Welch (2008) 62 f.; Classen (1973) 244, Anm. 44.
306 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
zulassen. Er setzt sie in der Regel als Personifikationen ein, weil sich damit ein Perspektivenwechsel inszenieren lässt und die Veranschaulichung von Situationen metaphorisch leichter zu erreichen ist. Abgesehen davon, dass ein Dichter die Götterwelt einsetzen darf, da sie als figmentum bei den Dichtern ihre traditionelle Berechtigung hat, und abgesehen davon, dass die metaphori‐ sche Dichtungstradition etabliert ist, wird der jeweils von Horaz eingesetzte Ich-Sprecher seine Philosophie möglichst nicht als Lehre markieren, nicht einmal als Paränese oder Moralpredigt vortragen. Die Adressaten seiner Oden sind allesamt sozial höhergestellt als er selbst, was zur Folge hat, dass er, wenn er als Ratgeber auftreten und Wirkung hinterlassen möchte, dies besonders vor‐ sichtig und unauffällig tun muss. Seine Überzeugungsstrategien setzen darauf, sich in die Lebenswelt seiner Adressaten hineinzuversetzen, ihre Gedanken und Einstellungen aufzugreifen und behutsam mit seiner eigenen Lebensauffassung zu kontrastieren, um diese möglicherweise zu korrigieren. Für die Modellierung epikureischer personae bedeuten diese Überlegungen, dass sich in erster Linie die Sprecher-persona in carm. 3, 29 und 3, 1 selbst als epikuraffin denkende und handelnde Figur inszeniert. Im theologischen Bereich lässt sich dagegen allenfalls der prudens deus in carm. 3, 29 entsprechend klassifizieren: Dieser greift nicht aktiv in die menschlichen Belange ein und zeigt auch kein erkennbares Maß an Fürsorge, da er ihre Ängste aus der Ferne nur belächelt. Seine Bezeichnung als prudens deus unterstreicht zugleich seine Vorbildfunktion für die Menschen, die darin besteht, frei von Furcht zu leben und sich keine Gedanken über die ohnehin nicht beeinflussbare Zukunft zu machen. 4.2.2 Epikureisch ‚gefärbte‘ Todesszenarien bei Horaz „Der Gedanke an den Tod dient bei Horaz nicht der Vergegenwärtigung der Zukunft. […] Der Verweis auf den Tod dient bei Horaz vielmehr der Vergegenwärtigung der Gegenwart.“193
Lefèvres Feststellung, die sich beispielsweise ebenso gut auf den berühmten Schlussvers in Hor. epist. 1, 16 anwenden ließe,194 bezieht sich in diesem Fall auf carm. 2, 14, das zusammen mit der berühmten Grosphus-Ode (carm. 2, 16) repräsentativ für viele andere Oden steht, in denen insgesamt betrachtet eine in sich stimmige und weitgehend einheitliche Todesvorstellung vorgeführt wird. Mit Hilfe der beiden genannten Oden soll in diesem Kapitel zunächst 193 194
Lefèvre (1993) 208. Vgl. Hor. epist. 1, 16, 79: […] mors ultima linea rerum est.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
307
ein grundlegender Einblick in das für Horaz typische Todesbild und die mögli‐ cherweise dahinter stehenden philosophischen Einflüssen eröffnet werden;195 ausgehend davon werden vier weitere Oden, in denen die Todesthematik unter philosophischen Gesichtspunkten in unterschiedlichen Kontexten präsent ist, analysiert, um die philosophische Dimension der von Horaz entworfenen Todesvorstellung in aussagekräftiger Form erfassen zu können: Es handelt sich dabei um die Dellius-Ode 2, 3, die Quintilius-/Vergil-Ode 1, 24, die Amyntas-Ode 1, 28 sowie um die Torquatus-Ode 4, 7. 4.2.2.1 Die indomita mors in Hor. carm. 2, 14 Wie zahlreiche andere Gedichte handelt carm. 2, 14 von der schnellen Vergäng‐ lichkeit des menschlichen Lebens und der Unvermeidbarkeit des Todes.196 Ge‐ rade in dieser Ode wird erkennbar, dass ein Trostmotiv, wie man es sonst in der Konsolationsliteratur Senecas vermuten würde, bei Horaz nicht vorhanden ist; stattdessen wird vielmehr die Kürze des Lebens, die aufgrund dieses Merkmals umso mehr genutzt sein will, in den Blick genommen.197 Mit einer auffällig tragödienhaften Klage (eheu), die einen planctus erwarten lässt, beginnt diese Ode. Statt eines individuellen Schicksalsschlags wird jedoch die allgemeine condicio humana beklagt. Die alles überragende Macht der indomita mors (V. 4) kann nach Auffassung des Ich-Sprechers, der sich dabei an einen emphatisch angerufenen Mann namens Postumus wendet, durch nichts durchbrochen werden: Nicht einmal eine übertriebene pietas (V. 2) noch völlig übersteigerte Götteropfer helfen dabei, da die Götter offenbar keinen Einfluss auf das unabänderliche Schicksal des Menschen haben; selbst wenn man die im Text erwähnten Hekatomben, die an die Opfergaben der homerischen Fürsten erinnern, ins schier Unermessliche steigert und dreihundert Stiere opfert – Tityos und der dreigestaltige Geryon betonen assoziativ diese Übersteigerung –, wird kein Gott die menschliche Vergangenheit verändern oder überwinden können. Diese Hyperbel hat eine typisch horazische Wirkung, denn durch die abstruse Vorstellung, dass jemand auf diese Weise die Unsterblichkeit erreichen wollte, wird das an sich unangenehme Thema mit einem satirenhaften Schmunzeln erträglich gemacht. 195
196 197
Wie Olof Gigon (1977) 481, der in Horaz den „φιλοσοφώτατος aller antiken Dichter“ sah, bereits anmerkte, sei der Gedanke an den Tod bei Horaz so gegenwärtig wie unter seinen Zeitgenossen wohl nur Tibull; als Beleg verweist er dazu auf einen Vergleich von Hor. carm. 2, 6 und Tibull. 1, 1, 59–64. Vgl. dazu u. a. Hor. carm. 1, 4; 1, 11; 2, 3; 4, 7. Als markanten Unterschied zu diesen Oden hebt Syndikus (32001a) 424 in erster Linie den besonders emotionalen Tonfall des Ich-Sprechers in carm. 2, 14 hervor. Vgl. Syndikus (32001a) 423.
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Die anschließend genannten Methoden, die Sterblichkeit hinauszuzögern, wirken dagegen allgegenwärtig und sprechen den Leser wieder persönlich an: Alternative Fluchtversuche jeglicher Art erweisen sich von vornherein als vergeblich und sinnlos (V. 13–16) und der Gang in die Unterwelt, in der man auf zahllose Büßer trifft (V. 17–20), ist genauso sicher wie die Tatsache, dass man alles Irdische zurücklassen muss (V. 21–24) und sich irgendwann ein Erbe an den verlorenen Gütern erfreuen wird (V. 25–28). Die Unterwelt, die mit wenigen Angaben so unattraktiv wie möglich gezeichnet wird, darf insofern allegorisch verstanden werden, als sie für den Verlust aller Annehmlichkeiten auf Erden steht und als Gegenbild zum Leben des Postumus gestaltet wird, das eher der Art eines locus amoenus entspricht: Der träge Tränenstrom des Cocytos und die ewig sinnlos arbeitenden Danaiden und Sisyphus machen den Kontrast zum Glück des Postumus deutlich, denn dieser ist mit Land, Haus, einer liebenswerten Gemahlin und einem Garten ‚gesegnet‘ – auch wenn die Zypresse als ‚Friedhofsbaum‘ wieder an die menschliche Vergänglichkeit erinnert, genauso wie die naturgegebene Tatsache, dass jeder Baum den eigenen Herrn bzw. Pflanzer bei weitem überleben wird (V. 23 f.). Die pathetische Sterblichkeitsmahnung mündet am Ende in eine Aufforde‐ rung zum Lebensgenuss. Was nämlich nach dem Tod eines Menschen erfah‐ rungsgemäß auf Erden geschieht, ist ziemlich evident und wird am Beispiel des aufgesparten Caecubers demonstriert: Der prassende Erbe holt ihn sich ohne jeden Respekt vor dem Verstorbenen aus dem Weinkeller. Das suggestive Fazit muss danach gar nicht mehr ausgesprochen werden: Diesen qualitativ hochwertigen Wein sollte Postumus besser selbst und möglichst bald in seinem Garten (vielleicht sogar zusammen mit Horaz) genießen. Dieser Hintergedanke nimmt somit der Sterblichkeitsmahnung wieder viel von ihrem Schrecken.198 Selbst die Mahnung, dass all das, was Postumus an Reichtum besitzt, nach dem Tod für ihn verloren ist, wird ja nicht wie in einer philosophischen Paränese behandelt, sich auf den Verzicht in geeigneter Weise einzustellen; vielmehr fordert das lyrische Ich dazu auf, diesen Besitz mit allen Sinnen zu genießen, solange es eben geht.
198
Anders dazu Holzberg (2013) 67, der Hor. carm. 2, 14 und Prop. 3, 2 als inhaltlich verwandtes Gedichtpaar zueinander in Beziehung setzt: Ihn zufolge dürften die letzten beiden Strophen für Postumus eher schmerzhafte und mit Sarkasmus benetzte Na‐ delstiche darstellen, da sie die (sowohl in Stoa als auch Kepos strikt abgelehnte) Gewöhnung an Reichtum thematisch aufblenden; siehe dazu u. a. auch Syndikus (1998) 375–398; Miller (1983) 289–299; Sullivan (1979) 81–92; zum literarischen Verhältnis zwischen Horaz und Properz allgemein Flach (1967) passim.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
309
Im Widerspruch zum epikureischen Postulat, dass man sich nicht vom Gedanken an den Tod in Angst und Schrecken versetzen lassen soll,199 scheint die Taktik dieser Ode zu stehen, die gerade mit einem emotionalen Ton die Furcht vor dem Ende des genussvollen Lebens aufruft. Überdies ist die Erkenntnis der menschlichen Machtlosigkeit gegenüber dem Tod keine spezifisch epikureische Entdeckung, sondern steht vielmehr in einer langen Tradition griechisch-rö‐ mischer Dichtung.200 Letztlich wird die Erkenntnis von der Endlichkeit aber eben doch zu der epikurnahen Auffassung vom unmittelbaren und intensiven Lebensgenuss geführt, ohne dass eine bewusst angelegte Intertextualität zu (spezifisch) epikureischen Prätexten manifest wird.201 4.2.2.2 Die Bitte um otium und das Prinzip des vivere parvo in Hor. carm. 2, 16 In carm. 2, 16202 dreht sich hingegen alles um das Thema otium, das dem Leser in den ersten beiden Strophen gleich dreimal in emphatischer Stellung jeweils zu Beginn eines Verses ins Auge fällt (V. 1; 5 f.).203 Mit Hilfe eines Adressaten namens Grosphus204, der erstmals in V. 7 genannt wird, konstruiert Horaz wiederum einen Ich-Sprecher, der seinem Gegenüber seine philosophischen Ansichten über innere Ausgeglichenheit und Lebensglück mitteilt. Nahezu einstimmig wurde und wird das in carm. 2, 16 vermittelte Gedankengut im
199
200 201 202
203
204
Vgl. Epik. Men. 124 f.; 139; sent. rat. 2; ähnlich äußert sich Syndikus (32001a) 428: „Horaz war nicht so sehr Philosoph und Epikureer, dass ihn der Gedanke an den Tod kaltgelassen hätte, dass er sich Epikurs Grundsatz, der Tod gehe den Menschen nichts an, betreffe ihn überhaupt nicht, wirklich innerlich zu eigen gemacht hätte“. Siehe dazu insbesondere Syndikus (32001a) 425, Anm. 17, mit den entsprechend aufge‐ führten Belegstellen. Darüber kann auch Harrisons (2017) 168 f. Anmerkung, dass in Hor. carm. 2, 14, 21–24 mutmaßlich die sarkastische Passage Lucr. 3, 894–901 „widerhallt“, nicht hinwegtäuschen. Harrison (2017) 183 schlägt für dessen Gliederung eine dreiteilige Strukturierung vor: V. 1–16 (menschliche Suche nach otium und Ideal des vivere parvo); V. 17–28 (Sinnlosigkeit und zugleich Unvermeidbarkeit von vitiosa cura; Zufriedenheit mit Verfügbarem und Gegenwärtigem statt vergeblichem Streben nach Perfektion); V. 29–40 (Kontrastierung von lyrischem Ich und Adressat hinsichtlich Alter und Lebensstil). Trotz der mutmaßlichen Anlehnung an einen ähnlichen Passus aus Catull. 51, 13–16 ist eine intertextuelle Annäherung kaum zielführend, da unüberbrückbare inhaltliche und semantische Unterschiede zwischen beiden Gedichten – besonders in der Verwendung des otium-Begriffs – bestehen; vgl. Harrison (2017) 186; Syndikus (32001a) 440; Connor (1987) 163; anders dagegen Maurach (2001) 265. Zu weiteren intertextuellen Parallelen bei Horaz und Catull allgemein siehe Lida-Tarán (2014) 41. Dabei handelt es sich wohl um einen sizilischen Großgrundbesitzer aus der Familie der Grosphi, der später auch in epist. 1, 12, 22 f. Erwähnung findet; vgl. Harrison (2017) 183; Lefèvre (1993) 203–206; Nisbet/Hubbard (1978) 252 f.
310 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Lichte epikureischer ἡσυχία205 und demzufolge als wesentliche Komponente des ἀταραξία-Ideals gedeutet, das die Menschen erflehen, da sie von äußerer Unruhe umgeben sind und infolgedessen auch zu innerer Unruhe neigen.206 Auch wenn die epikureische Deutung des otium-Begriffs zwar naheliegt, aber nicht zwangsläufig vorgenommen werden muss,207 unterstützt diese Deutung gerade das erste Beispiel eines Betenden, dem in der stürmischen Meeresbran‐ dung der todbringende Schiffbruch droht. Intertextuell ist das Motiv nämlich durchaus als Reminiszenz an das von Lukrez zu Beginn von De rerum natura II entworfene Bild des Seesturms zu verstehen,208 zumal auch die daran anschlie‐ ßenden, exemplarisch aufgeführten bello furiosa Thrace (V. 5) und Medi pharetra decori (V. 6) als Referenzen auf Lucr. 2, 5 f. angesehen werden können:209 Suave, mari magno turbantibus aequora ventis, e terra magnum alterius spectare laborem, non quia vexari quemquamst iucunda voluptas, sed quibus ipse malis careas quia cernere suave est; (Lucr. 2, 1–4)
Die intertextuelle Verbindung zwischen Horaz und Lukrez an dieser Stelle ist allerdings nicht nur über das herangezogene Motiv der Seenot hergestellt, sondern sie erschließt sich strukturell in der jeweils gleich zu Beginn ihrer Werke bzw. Bücher transportierten philosophischen Kritik, sich durch eigenes Verschulden bzw. falsche Lebenswahl ins Unglück gestürzt zu haben.210 Es 205 206
207 208
209
Vgl. Epik. fr. 426 Usener; zur γαλήνη-Metapher siehe Epik. fr. 425; 429 Usener; siehe dazu auch Kiessling/Heinze (141984) 224. Vgl. Harrison (2017) 182–186; Syndikus (32001a) 435–450; Lefèvre (1993) 203–207; Lebek (1981) 2061–2070; Nisbet/Hubbard (1978) 252–271. Die metaphorische Dimension des otium-Begriffs als Ausdruck epikureischer ἀταραξία manifestiert sich ex negativo in der dritten Strophe, wo von miseri tumultus mentis gesprochen wird (V. 10 f.). Vgl. Lebek (1981) 2061 f.; anders dagegen zur Deutung von otium als epikureischem Terminus siehe u. a. Harrison (2017) 186 f. mit Verweis auf Sen. dial. 8 (= De otio), 3, 3; epist. 7, 68, 10; Plin. nat. 19, 51; siehe dazu ferner auch Erler (2016) 61–73. In Lucr. 5, 1226–1232 werden dagegen die Gebete mächtiger induperatores, die sich in Seenot befinden und nach otium sehnen, zur Sprache gebracht; vgl. Pöschl (21991) 233 f. Im Übrigen ist eben dieses Motiv in das programmatische Eröffnungsgedicht des ersten Oden-Buchs eingebettet, wird dort jedoch um den Aspekt der fehlenden nachhaltigen Einsicht und Ungenügsamkeit erweitert: luctantem Icariis fluctibus Africum / mercator metuens otium et oppidi / laudat rura sui, mox reficit rates / quassas, indocilis pauperiem pati (Hor. carm. 1, 1, 15–18); vgl. dazu beispielsweise Eickhoff (2016) 75, Anm. 1. Vgl. dazu u. a. Syndikus (32001a) 436. Noch weiter fassen diese Lukrez-Reminiszenz Lebek (1981) 2062 (bis Lucr. 2, 19), Pöschl (21991) 131–133 (bis Lucr. 2, 52) und Harrison (2017) 184 f. (bis Lucr. 2, 61; allerdings auf Hor. carm. 2, 16, 1–16 bezogen), auch wenn die soeben angesprochenen konkreten Anspielungen bereits in den ersten sechs Versen genannt sind.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
311
handelt sich in der Horaz-Ode also um bewusst antiepikureisch gezeichnete Charaktere, die sich kategorisch als avarus- bzw. ambitiosus-Typus erfassen lassen, dessen Verhalten auch im weiteren Verlauf der Ode thematisiert wird.211 Trotz dieser auf den ersten Blick erkennbaren Parallelen, die ein ähnliches Ansinnen des horazischen Ich-Sprechers und der lukrezischen Dichter-persona vermuten lassen, ist eine deutliche Fokusverschiebung zu erkennen, wie es schon Wolfgang Dieter Lebek gezeigt hat:212 Statt einer bloßen Kontrastierung „von epikurfernem Elend und epikureischer Seligkeit“213 findet sich in carm. 2, 16, 1–8 das omnipräsente menschliche Verlangen nach otium wieder. Während also Lukrez die psychologische Erklärung für die Betrachtung fremden Leids aus sicherer Entfernung gibt – der Vergleich beider Situationen steigert nämlich das eigene Glücksgefühl –, betont Horaz in seiner Ode die Sehnsucht in Not geratener Menschen nach otium, das weder durch Reichtum (V. 9–12: metaphorische Spiegelung des Kaufmannes in den gazae und den laqueata tecta) noch durch Macht (V. 5–12: Weiterentwicklung des Thraker- bzw. Meder-Motivs zum Bild des römischen Konsuls mit Liktoren) erkauft werden kann. Stattdessen werden beide Gruppen – Reiche und Mächtige – von timor und cupido gequält, was in den miseri tumultus mentis et curae zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Zusammenhang kommt übrigens auch dem gewählten Adressaten Grosphus eine gewisse Bedeutung zu, da sein ‚sprechender‘ Name auf eine kriegerische Tätigkeit schließen lässt und er daher nicht zufällig in einer Reihe mit Thrakien und den Medern erscheint:214 Grosphus weist offenbar aufgrund seiner Lebensweise ebenfalls einen Mangel an otium auf und scheint daher als zu bekehrender Adressat dieser Versepistel bestens geeignet zu sein, sodass ein persuasiver, ja protreptischer Charakter dieser Ode zunehmend evident wird. Die anschließenden Verse (V. 9–12) führen den in den ersten beiden Strophen entwickelten Gedanken, dass avaritia (V. 9: gazae) und ambitio (V. 9f.: consularis 210 211
212 213 214
Vgl. Epik. sent. Vat. 65: Μάταιόν ἐστι παρὰ θεῶν αἰτεῖσθαι ἅ τις ἑαυτῷ χορηγῆσαι ἱκανός ἐστι. Vgl. Lefèvre (1993) 205 f. Das Flehen von verzweifelten See- und Kaufleuten in Not findet sich auch in Lucr. 5, 1226–1232; zum horaztypischen Bild dieser personae siehe Syndikus (32001a) 439; zur Verflechtung mehrerer Lukrez-Motive an dieser Stelle siehe Pöschl (21991) 133f. Vgl. Lebek (1981) 2063; in dieselbe Richtung argumentieren auch Harrison (2017) 185 und Syndikus (32001a) 439. Lebek (1981) 2063. Vgl. Nisbet/Hubbard (1978) 252f.: ὁ γρόσφος = „der Speer“; „der Wurfspieß“. Dazu passt auch die politische Umtriebigkeit des vielfach als historisch fassbare Bezugsperson aus der Familie der Grosphi angenommenen Adressaten von carm. 2,16; zum mahnenden Charakter dieser Ode siehe auch Harrison (2017) 188; Syndikus (32001a) 449; anders dagegen Kiessling/Heinze (141984) 224.
312 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
lictor) der menschlichen Seelenruhe zwangsläufig entgegenstehen, in völligem Einklang mit der epikureischen Lehre weiter.215 Als Ausweg aus diesen beiden in die Irre führenden Lebenshaltungen und damit als Lösung für das Problem der seelisch-geistigen Unruhe legt das lyrische Ich seine Vorstellung von einer vita bona im Sinn eines wahrhaften vir beatus wie folgt dar: vivitur parvo bene, cui paternum splendet in mensa tenui salinum nec levis somnos timor aut cupido sordidus aufert. (Hor. carm. 2, 16, 13–16)
15
Otium kann folglich am besten derjenige erlangen, der wenig besitzt und darum auch keine Sorgen hat, das bereits Erreichte zu erhalten oder gar zu vermehren. Wiederum fällt die epikurnahe Argumentation dem Leser ins Auge, der hier zum wiederholten Male mit der bei Horaz stark gemachten Lebensmaxime des vivere parvo konfrontiert wird.216 Eine schlichte Lebensführung garantiert nämlich (bestmöglich, aber nicht ausschließlich)217 die für Epikur so entschei‐ dende αὐτάρκεια, die insbesondere eine Freiheit von timor aut cupido sordidus bedeutet. Die damit erlangte Seelenruhe wird in den oben zitierten Versen metaphorisch als leves somni zum Ausdruck gebracht. Ausgehend von diesem Lebensideal werden eine Reihe rhetorischer Fragen in durchaus provokantem Tonfall gestellt (V. 17–20), die über avaritia und ambitio hinaus auch den damit eng verknüpften unaufhörlichen Expansionsdrang an sich anprangern, da auch eine räumliche Entfernung kein Entkommen vor den eigenen Problemen, d. h. vor innerer Unzufriedenheit und Unruhe, mit sich bringe:218 Ein Ortswechsel – und sei es nur als Ablenkung vor Problemen, die in der Heimat bestehen – könne keine Ruhe bringen, da man nur vor sich selbst fliehe, ohne gleichzeitig den eigenen Sorgen entrinnen zu können. Veranschaulicht wird diese bittere und nicht zu leugnende Tatsache durch eine ebenso eindringliche wie amüsante Allegorie: Die Cura reist in personifizierter 215 216 217 218
Vgl. Epik. sent. Vat. 81: οὐ λύει τὴν τῆς ψυχῆς ταραχὴν οὐδὲ τὴν ἀξιόλογον ἀπογεννᾷ χαρὰν οὔτε πλοῦτος ὑπάρχων ὁ μέγιστος οὔθ’ ἡ παρὰ τοῖς πολλοῖς τιμὴ καὶ περίβλεψις οὔτ’ ἄλλο τι τῶν παρὰ τὰς ἀδιορίστους αἰτίας; dazu auch Lebek (1981) 2063. Vgl. u. a. Epik. Men. 130 f.; sent. rat. 14; 15; 26; 29; 30; sent. Vat. 25; 43; 67; fr. 485; siehe dazu auch Hor. sat. 2, 2, 1; 3, 1, 22; epist. 1, 6, 1f. Vgl. dazu Lebek (1981) 2063f. Zum Motiv der Flucht aus dem Heimatland bei Horaz, das beispielsweise in carm. 1, 7, 25–32 und in epist. 1, 11, 25–30 thematisiert wird, siehe Davis (1991) 209 f. Schon in der Davus-Satire ist der Grundgedanke dieses Motivs angelegt; vgl. carm. 2, 7, 111–115; dazu auch u. a. Syndikus (32001a) 445.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
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Form im Schiff oder in der Reiterei mit, da sie schneller als Pferde, Hirsche und Wind sei (V. 21–24). Zugleich wird nicht allein die Kürze des menschlichen Lebens betont (breve aevum), sondern vielmehr die Absurdität, die aus dem dazu in scharfem Kontrast stehenden Verlangen nach multa herrührt (V. 17 f.): Der raschen Vergänglichkeit des Menschen kann man dementsprechend am besten mit einem sparsamen Lebensstil entgegentreten, um sich nicht auch noch während der kurzen Le‐ bensdauer angreifbar für selbst verschuldete Sorgen und Ängste zu machen. Nachdem die Allgegenwärtigkeit der vitiosa cura, vor der es also auch für die Tapfersten und Schnellsten bei einer falschen Lebenseinstellung kein Entrinnen gibt, verdeutlicht worden ist (V. 21–24),219 rückt die Maxime der eigenen Zufrie‐ denheit selbst bei unvollkommenem Glück (V. 25: laetus in praesens animus) in den Vordergrund und damit auch das Bewusstsein für die Endlichkeit des Lebens und die Gewissheit des Todes.220 Neben der Forderung nach laetitia und risus, die auch in anderen Horaz-Gedichten anklingt,221 macht das lyrische Ich allerdings keinen Hehl aus der Existenz von amara und wirbt sogar für eine Frustrationstoleranz gegenüber der stets unvollkommenen beatitudo, die es einfach zu akzeptieren gilt (V. 25–28).222 Diese (einzige) wirkungsvolle Taktik, die Cura zu therapieren bzw. zu ver‐ meiden, ist stark epikureisch geprägt: Erstens wird die bewusste Konzentration auf die Gegenwart empfohlen, da ein Weiterdenken in die Zukunft nur das curare auslöse; zweitens gibt es, wenn die Gegenwart nicht ganz im Sinn des laetus sei, weil sie auch amara bereithalte, eine weitere (epikureische) Taktik, das Entgegenwirken mit beharrlicher Heiterkeit (amara lento risu temperare). Die Erinnerung an Angenehmes tröstet nach Epikur nämlich bei gegenwärtigem Leid – ein Gedanke, den Horaz mehrfach aufgreift und an dieser Stelle mit seinem eigenen Humor zu würzen versteht.223 Drittens erreicht man diese 219
220 221
222
Vgl. auch Hor. carm. 3, 1, 36 f.; Lucr. 2, 40 f.; unter der als cura bezeichneten Ruhelosig‐ keit, die die Seemänner und Krieger in carm. 2, 16 belastet, gehört sicherlich nicht nur eine allgemein quälende innere Beunruhigung, sondern auch eine (unbewusste) Todesfurcht, die sie auf ihren gefährlichen Missionen stets begleitet. Vergleichbare Textstellen, die das formelhaft gewordene Lebensprinzip des carpe diem! thematisieren, finden sich in den Oden des Horaz zuhauf; vgl. carm. 1, 9, 13–20; 1, 11, 8; 1, 31, 17; 3, 1, 25; 3, 8, 27; 3, 29, 32; siehe dazu auch Epik. sent. Vat. 10; Lucr. 3, 957. Vgl. epist. 1, 10, 44–50; 3, 8, 27. Die epikureische Verankerung einer solchen Aufforde‐ rung zum Lachen ist am besten in Epik. sent. Vat. 41 nachzuvollziehen: γελᾶν ἅμα δεῖ καὶ φιλοσοφεῖν καὶ οἰκονομεῖν καὶ τοῖς λοιποῖς οἰκειώμασι χρῆσθαι καὶ μηδαμῇ λήγειν τὰς ἐκ τῆς ὀρθῆς φιλοσοφίας φωνὰς ἀφιέντας. Vgl. Syndikus (32001a) 447: „Nichts in dem Gedicht spricht schöner die gelassene Ruhe des epikureischen Weisen aus als diese Strophe“; siehe dazu auch Epik. fr. 138 Usener; Cic. fin. 1, 62.
314 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Haltung aus dem Bewusstsein heraus, dass perfektes Glück nicht möglich sei; diese Reflexion tröstet und verhindert ein larmoyantes Selbstmitleid. Als Belege dafür, dass nichts perfekt sei, wählt Horaz bzw. der Ich-Sprecher die beiden mythischen Ikonen für die unterschiedliche Lebenswahl und leitet damit zur Thematik des Todes über: Die Berühmtheit des Achill ist – wie schon in der Ilias zum Thema gemacht – durch einen frühen Tod erkauft. Daraus macht Horaz einen schnellen Tod (V. 29: cita mors)224, der im Vergleich mit dem zweiten Beispiel sogar noch vorteilhaft wirkt: Das dagegen lange Leben des Tithonus in den Armen der schönen Aurora ist nämlich ebenso unvollkommen, da es durch eine quälend lange Vergreisung (V. 30: longa […] senectus)225 nicht nur relativiert wird, sondern auch geradezu abstoßend wirkt. Nach diesen Ausführungen könnte man annehmen, dass das lyrische Ich nun explizit von (übermäßigem) Besitz abrät und den Adressaten tadelt. Doch bei der Gegenüberstellung der Lebensumstände von Adressat (V. 33–37a) und lyrischem Ich (V. 37b–40) verzichtet der Ich-Sprecher demonstrativ auf wertende Bemerkungen: Es wird lediglich zum Ausdruck gebracht, dass der Adressat einen reichen Besitz an Rinderherden, edlen Pferden und Purpurgewändern hat, während der Ich-Sprecher selbst ein kleines Landgut, dichterische Begabung und die Verachtung der Menge sein eigen nennt. Trotzdem greift natürlich der Ausdruck parva rura (V. 37), den der Ich-Spre‐ cher auf sich selbst anwendet, das in V. 13 proklamierte vivitur parvo bene wieder auf und inszeniert so das lyrische Ich selbst als Paradebeispiel einer epikurnahen Lebensweise. Trotz ungleicher Güterverteilung, die sich auch sprachlich in einer dreifachen Anapher für den wohlhabenden Grosphus (V. 33–35: te – tibi – te) und einem einfachen mihi (V. 37b) für den einfach lebenden Ich-Sprecher niederschlägt, sind lyrisches Ich und Adressat vor dem Tode hinsichtlich ihrer Unwissenheit und Machtlosigkeit gleichgestellt.226 Dass die thematische und inhaltliche Übereinstimmung seiner Paränese mit moralphilosophischen Grundaussagen epikureischer Philosophie vom Großteil seiner Leser erkannt wird, dürfen wir für den Dichter Horaz annehmen und folglich von einer hochgradigen Kommunikativität ausgehen; gerade durch Schlüsselbegriffe wie otium wird darauf hingewiesen, auch wenn man erneut nicht von Referentialität und Autoreflexivität sprechen kann.
223 224 225 226
Vgl. Epik. sent. rat. 39; sent. Vat. 14; 55; 75; Men. 127. Vgl. Hom. Il. 9, 410–416. Vgl. Hom. h. Aphr. 218–238; Mimn. fr. 4 West; Plut. mor. 783 e. Vgl. Harrison (2017) 194; Syndikus (32001a) 448; Kiessling/Heinze (141984) 228.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
315
Bei aller Übereinstimmung mit der epikureischen Lehre, die sich selten so deutlich nachweisen lässt wie in dieser Ode, schlägt das Ende des Gedichts auch andere, durchaus epikurferne Töne an, wie schon Lebek konstatiert hat: „Schließt sich dermaßen das Bild, welches Horaz von sich und seiner Welt entwirft, zu einem stimmigen Ganzen zusammen, so ist diese Harmonie doch von Horaz selbst geschaffen und nicht einfach aus epikureischer Philosophie abzuleiten. Die Betonung des eigenen Dichtertums ist ein durchaus unepikureischer Klang. Und es ist nicht die erlösende Kraft der epikureischen Philosophie, die hinter allem steht, sondern eine göttliche Macht, die Parca.“227
Erneut lässt den Leser also eine plötzliche Wendung in einem – auch phi‐ losophisch gesehen – weitgehend harmonischen Gesamtgefüge innehalten und an der Eindeutigkeit und Sinnhaftigkeit einer eindeutigen Klassifizierung als epikureisches Gedankengut zweifeln: Zum einen bringt der Ich-Sprecher nämlich eine Parca non mendax als göttliche Instanz ins Spiel, die in dieser ungewohnten Singularform an die Schicksalsgottheit Μοίρα erinnert, d. h. nicht an ein trügerisches Zufallsprinzip, sondern an die Vorstellung von einem unabänderlichen Schicksal;228 über diese auffallend unepikureische Haltung229 kann auch die erworbene Gabe des malignum spernere vulgus (V. 39 f.), die durchaus eine Grundeinstellung Epikurs evoziert,230 nicht hinwegtäuschen. Zum anderen bewegt sich der horazische Ich-Sprecher genauso wie im später entstandenen carm. 3, 1231 in einem poetologischen bzw. kallimacheischen Kontext, wenn beispielsweise in V. 38 von einem tenuis spiritus im Sinn der kallimacheischen λεπτότης die Rede ist.232 Dass die Einfügung dieser Elemente in die Schlussverse eine Abkehr von der epikureischen Grundprägung der Ode oder vielmehr eine Fokussierung auf neue Aspekte mit sich bringt, kann auch im Sinne von intertextueller Kommunikativität als bewusster Überraschungseffekt für den Leser verstanden werden, der seine Aufmerksamkeit bis zum Ende aufrechterhalten muss. Darüber hinaus zeichnet sich die otium-Ode durch eine kontrastive Ringkom‐ position zwischen den verzweifelt um otium ringenden Seefahrer und Krieger und dem Ich-Sprecher aus, der sich aufgrund seiner einfachen Lebensweise im
227 228 229 230 231 232
Lebek (1981) 2065. Vgl. u. a. Harrison (2017) 196; dazu auch Kall. fr. 1, 37 f. Pfeiffer. Als zentrales Ordnungsprinzip der Welt gilt im Epikureismus die τύχη; vgl. Epik. Men. 133 f.; sent. Vat. 47. Vgl. Epik. fr. 187 Usener: οὐδέποτε ὠρέχθην τοῖς πολλοῖς ἀρέσκειν; sent. rat. 14. Dort bezeichnet sich das lyrische Ich selbst als Musarum sacerdos (carm. 3, 1, 3). Vgl. u. a. Kiessling/Heinze (141984) 228 f.; Nisbet/Hubbard (1978) 270f.
316 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
dauerhaften Besitz von otium weiß und gewissermaßen den sapiens Epicureus darstellt.233 Aufgrund dieser philosophischen Kernbotschaft und mehrerer Ver‐ weise auf Epikur und Lukrez, die in carm. 2, 16 enthalten sind, kann man trotz der wenig epikureisch klingenden Schlussverse insgesamt für die otium-Thematik, die durch den von Horaz eingesetzten Ich-Sprecher in carm. 2, 16 vertreten wird und auch in anderen Gedichten widerhallt, eine überdurchschnittlich klare Überschneidung mit epikureischem Gedankengut konstatieren. 4.2.2.3 Der nil miserans Orcus und die gemeinsame sors exitura in Hor. carm. 2, 3 Unübersehbare Übereinstimmungen inhaltlich-thematischer Natur werden deutlich, wenn man ergänzend zu den philosophischen Gedankengängen der Ich-Sprecher in carm. 2, 14 und 2, 16 mit der Ode 2, 3 eine weitere Anwendung dieser Lebensweisheit vom richtigen Umgang mit dem Tod heranzieht: An einen im Text nicht näher charakterisierten Dellius234 richtet sich das lyrische Ich zunächst mit der Empfehlung zu einer aequa mens im Angesicht des unaus‐ weichlichen Todes (V. 1–8); dem schließt sich eine weitere Empfehlung an, die sich – ebenfalls in Anbetracht der begrenzten Lebensdauer – auf die leiblichen Genüsse an einem locus amoenus bezieht (V. 9–16). Dem wiederholten Hinweis auf das gebotene Lebensende und auf das damit verbundene Zurücklassen von Hab und Gut (V. 17–20) folgen die Lokalisierung und Personifizierung des Todes im nil miserans Orcus, der keinen Unterschied bei seinen Opfern macht (V. 21–24), sowie die Definition des allen Menschen gemeinsamen Schicksals als sors exitura et nos in aeternum / exsilium impositura cumbae (V. 27f.).235 Wenn Lebek in seiner Untersuchung der horazischen Oden auf philosophi‐ sche Merkmale hin behauptet, dass sich „von der Doktrin einer bestimmten Philosophenschule […] mit hinlänglicher Sicherheit keine Partie des Gedichts 233
234
235
Vgl. Pöschl (21991) 142: „Auf diese Weise bilden die Schlußstrophen einen Kontrapost zum Anfang: Während hier der Dichter im Besitze dieses otium mit ruhiger Gelassenheit auf den Reichtum schaut, der den Seelenfrieden nicht gewähren kann, fleht der vom Sturm Bedrohte um Frieden, nach dem er sich sehnt und den er mit all seinem Reichtum nicht kaufen kann. Der Spannung des Anfangs steht der Frieden des Schlusses gegenüber […]“. Vor allem Romano (1991) 644, Kiessling/Heinze (141984) 173 und Nisbet/Hubbard (1978) 51 f. vermuten hinter diesem Namen Q. Dellius, der im Bürgerkrieg nach Caesars Tod mehrfach die Seiten wechselte, da kein anderer Träger dieses Gentilnamens bekannt sei und er sich als Zeitgenosse des Horaz in ganz ähnlichen Lebensumständen befunden habe. Eine Gliederung in zwei, zwei und drei Strophen, wie schon von Syndikus (32001a) 362, Anm. 17, Romano (1991) 644 f. und Kiessling/Heinze (141984) 173 vorgeschlagen, erscheint daher nach wie vor am sinnvollsten.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
317
ableiten“236 lässt, hat er zweifellos recht. Gleichermaßen lässt sich allerdings nicht bestreiten, dass eine philosophische Prägung der Ode unverkennbar ist und aufgrund der motivischen und inhaltlichen Übereinstimmung mit weiteren carmina – insbesondere mit carm. 2, 14 und 2, 16 – eine gewisse Kohärenz auch im Sinne von intratextueller Referenz naheliegt. Eine Suche nach epikureischen ‚Spuren‘ und nach deren Aussagewert für carm. 2, 3 scheint also gerechtfertigt, zumal sie so oft eine wichtige Hintergrundfolie zum Verständnis der horazischen Werke darstellen. Ferner trifft Lebeks Aussage zu, dass die erste Strophe zwar epikureisches Gedankengut evoziert, sich allerdings ebenso gut aus intertextuellen Befunden erklären lässt, die nicht auf ein philosophisch klassifizierbares und schon gar nicht auf epikureisches Lehrgut hindeuten, sondern auf Motivtraditionen einer bestimmten literarischen Gattung – in diesem Fall der frühgriechischen bzw. römischen Lyrik – zurückzuführen sind.237 Doch ist es schlichtweg haltlos, wenn Lebek im gleichen Atemzug bestreitet, dass zumindest die Anfangspartie des Gedichts mit epikureischen Grundsätzen in Einklang zu bringen sei:238 Die horazische Empfehlung einer aequa mens lässt sich nämlich problemlos an die epikureische Idealvorstellung von der Ataraxie der Seele anknüpfen, wie vor allem aus Epik. Men. 128 und Epik. sent. rat. 17 = sent. Vat. 12 hervorgeht.239 In der zweiten Strophe, die schon aufgrund ihrer syntaktischen Zugehörigkeit nicht losgelöst von den ersten vier Versen betrachtet werden darf, scheint sich dieser Eindruck entgegen Lebeks Vorbehalten zunächst zu erhärten: Von den beiden kontrastierten Lebensentwürfen tendiert das lyrische Ich zwar nicht explizit, aber allein schon aus textformalen Gesichtspunkten ableitbar – die
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239
Lebek (1981) 2058. Vgl. Lebek (1981) 2057; siehe auch Romano (1991) 645, die ebenfalls Archil. fr. 128 West und auf Epik. fr. 488 Usener = fr. 201 Arrighetti als denkbare Quellen für den horazischen Eröffnungsgedanken in dieser Ode nennt. Natürlich kann nur mit Blick auf die einleitenden Verse auch eine Nähe zur stoischen Lehre nicht abgestritten werden, wie etwa Romano (1991) 645 zu bedenken gibt; doch der weitere Verlauf dieser Ode kann eine solche Deutung in keiner Weise untermauern, weshalb sie in dieser Untersuchung wohl kaum von Belang ist. Auch Syndikus (32001a) 360 vermag diesen Zusammenhang ohne Weiteres zu sehen, wobei er sich besonders auf Epik. fr. 488 Usener beruft und auf das – etwa aus carm. 2, 10, 13–15 bekannte – horazische Prinzip einer maßvollen Mitte zwischen zwei Extremhaltungen verweist: „Wenn wir an Epikurs Ausspruch denken, dass sich (nur) die niedere Seele durch das Glück aufbläht und durch das unglück niedergedrückt wird, sehen wir gut die philosophische Grundlage der Stimmung unseres Dichters. Die zwischen Traurigkeit und überschäumender Lust in der Mitte schwebende Stimmung ist bei Horaz wie bei Epikur eine heitere Gestimmtheit des Inneren, das sich durch nichts, was von außen her kommt, aus seinem Gleichgewicht bringen lässt“.
318 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
unterschiedliche Ausführlichkeit und Wortwahl in der Beschreibung der beiden Lebensmodelle sowie der inhaltlich-motivische Anschluss in der dritten Strophe – zur zweiten Option, die in ein deutlich bukolisch-epikureisches Ambiente eingebettet ist.240 Mit Blick auf den in V. 13 erneut angepriesenen Weingenuss sieht Lebek jedoch das epikureische Vorbild eines einfachen Lebens in ländlicher Abgeschie‐ denheit als nicht erfüllt an;241 gleichwohl steht das gelegentliche Abhalten weinseliger Feste nur dann im Widerspruch zur epikureischen Lebensweise, wenn ein Abgleiten ins Übermaß und ein regelmäßiger Verstoß gegen die Autarkie als notwendige Voraussetzung wahrer voluptas feststellbar wird: […] οἵ τε λιτοὶ χυλοὶ ἴσην πολυτελεῖ διαίτῃ τὴν ἡδονὴν ἐπιφέρουσιν, ὅταν ἅπαν τὸ ἀλγοῦν κατ’ ἔνδειαν ἐξαιρεθῇ, καὶ μᾶζα καὶ ὕδωρ τὴν ἀκροτάτην ἀποδίδωσιν ἡδονήν, ἐπειδὰν ἐνδέων τις αὐτὰ προσενέγκηται. τὸ συνεθίζειν οὖν ἐν ταῖς ἁπλαῖς καὶ οὐ πολυτελέσι διαίταις καὶ ὑγιείας ἐστὶ συμπληρωτικὸν καὶ πρὸς τὰς ἀναγκαίας τοῦ βίου χρήσεις ἄοκνον ποιεῖ τὸν ἄνθρωπον καὶ τοῖς πολυτελέσιν ἐκ διαλειμμάτων προσερχομένοις κρεῖττον ἡμᾶς διατίθησι καὶ πρὸς τὴν τύχην ἀφόβους παρασκευάζει. […] (Epik. Men. 130f.) […] und einfache Suppen verschaffen das gleiche Wohlbehagen wie ein aufwändiges Gericht, wenn der ganze Schmerz bezüglich des Mangels beseitigt wird; auch Gers‐ tenbrot und Wasser verschaffen einem das höchste Wohlbehagen, wenn man diese aus Mangel zu sich nimmt. Also trägt die Gewöhnung an einfache und nicht aufwändige Speisen wesentlich zur eigenen Gesundheit bei, macht den Menschen unempfindlich gegen die notwendigen Anforderungen des Lebens, stärkt unsere Gesinnung, wenn in zeitlichen Abständen auch mal aufwändige Gerichte dazukommen, und befreit uns von der Angst vor dem Zufall.
Auch nach epikureischen Maßstäben steht also außer Frage, dass eine schlichte Lebensweise, die sich in einer ebenso schlichten Ernährung widerspiegelt, zu favorisieren ist, da sie im Zeichen angewandter Autarkie einen großen Erfolg auf dem Weg zum persönlichen Glück verspricht. Auf der anderen Seite wird ein etwas kostspieligerer und größer angelegter Lebensmittelgenuss nicht pauschal abgelehnt, sondern von Epikur sogar in seinem idealen Lebensentwurf 240
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Für die Tendenz des Dichters zur letztgenannten Alternative spricht nicht zuletzt der Gebrauch des Verbs beari, das auf das angestrebte Konzept der vita beata hindeutet. Zur realistischen Darstellung des zweiten Lebensszenarios vgl. Kiessling/Heinze (141984) 174, die zudem einschlägige Parallelstellen aus dem horazischen Werk nennen, z. B. Hor. sat. 2, 1, 71; sat. 2, 6, 16; carm. 2, 19, 1; siehe außerdem Lucr. 2, 29 f.; Verg. ecl. 1, 1 f. Vgl. Lebek (1981) 2057.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
319
berücksichtigt, solange er nicht zur Gewohnheit wird und den Blick für die wahre ἡδονή trübt. Die in carm. 2, 3 ausdrückliche zeitliche Einschränkung (per dies festos) stellt in diesem Zusammenhang die Kompatibilität mit epikureischen Lebensgrundsätzen her, wie sie in Epik. Men. 130 f. zu finden sind.242 Die anschließende Schilderung eines konkreten locus amoenus 243 führt die Empfehlung zu diesem bukolisch-epikureischen Lebensmodell in der dritten Strophe fort, indem die persuasive Note durch zwei aufeinander folgende rhetorische Fragen zum Ausdruck gebracht wird. Wie schon Kiessling/Heinze richtig herausgestellt haben, ergibt sich zwischen der umbra hospitalis der Geborgenheit vermittelnden Bäume (consociare) und der lympha fugax 244 ein atmosphärischer Kontrast von entscheidender Bedeutung:245 Zu der Freude über ein glückliches und sorgenfreies Auskommen mischt sich wieder der unnachgiebige Gedanke an die Endlichkeit des irdischen Daseins. Eine ganz ähnliche Struktur und Symbolik liegt in der vierten Strophe vor:246 Erneut ist zunächst von den schönen Dingen die Rede, die das Leben versüßen können (vina; unguenta; amoenae rosae), ehe abrupt auf die Vergänglichkeit der Rosenblüten (nimium brevis flores) und damit auf die Kürze des Lebens hingewiesen wird.247 Die enge Begrenzung der menschlichen Lebensspanne wird Dellius auch mit dem anschließenden Temporalsatz (V. 15 f.) nochmals vor Augen geführt, wobei die am Ende des Trikolon emphatisch stehenden fila atra der Parzen in V. 16 unmissverständlich den näher kommenden und sicheren Tod andeuten.248 An dieser Stelle sollte allerdings aufgrund der angesprochenen markanten Struktur eine andere Deutung dieser beiden Strophen nicht außer Acht ge‐ lassen werden: Die jeweils voranstehende Betonung der Vorzüge und Freuden eines Lebens in bukolischen Gefilden, die dann durch den scharfen Hinweis auf das unvorhersehbare und schnelle Ende des menschlichen Daseins jäh unterbrochen und abgelöst wird, impliziert auch eine mögliche Blindheit des 242 243 244 245 246 247 248
Vgl. Romano (1991) 646. Siehe dazu auch Syndikus (32001a) 362; Romano (1991) 646f. Zum reißenden Strom als Symbol des dahinfließenden Lebens vgl. Hor. carm. 2, 14, 1–4; 3, 29, 33–40. Vgl. Kiessling/Heinze (141984) 174f. Vgl. Kiessling/Heinze (141984) 175. Vgl. dazu carm. 1, 36, 15 f. Zur Rose als traditionellem Symbol von Schönheit und Vergänglichkeit in der antiken Literatur siehe Romano (1991) 647. Auch in Hor. carm. 2, 16, 39 haben die Parzen in generalisierter Singularform eine ge‐ wisse Rolle gespielt, wobei sie wohl mehr als mythologische Instanz bzw. traditionelles Motiv der Oden-Dichtung denn als Ausdruck einer bestimmten Philosophie zu sehen sind. Ansonsten ließen sich natürlich dieselben Argumente gegen die epikureische Auslegung von carm. 2, 3 vorbringen wie bei carm. 2, 14 und 2, 16.
320 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Menschen für sein eigenes unausweichliches Los, wenn er sich nur frivolen Lebensgenüssen hingibt. Daher sind das rechte Maß und die zeitliche Einschrän‐ kung solcher Selbstverwöhnungen gerade so entscheidend, wie es auch die Lehre Epikurs aufzuzeigen versucht: Gelegentliches Vergnügen und Genuss von (eigentlich nicht notwendigen) Luxusgütern ist dann in Ordnung, wenn der Blick unverändert auf das wesentliche Lebensziel und die dazu erforderliche Einstellung gerichtet bleibt. Der weitere Verlauf der Ode, die bis dahin ohnehin schon weitreichende Übereinstimmungen mit der vor allem in Epik. sent. Vat. 10 und 14 präsentierten Todesanschauung des Kepos aufweist, zeichnet die Nähe zum epikureischen Gedankengut noch schärfer: Neben dem notwendigen Dahinscheiden aus irdi‐ schen Sphären – stilistisch veranschaulicht durch die Wiederholung des jeweils emphatisch am Versanfang stehenden cedes (V. 17; 19) – kristallisiert sich in V. 17–20 indirekt auch die Nutzlosigkeit und Vergänglichkeit des eigenen Besitzes heraus.249 Dieser mit zahlreichen Lehrsätzen Epikurs deckungsgleiche Leitgedanke wird bis zum Ende des Gedichts fortgeführt:250 Es gibt keine soziale Differenzierung, die Orcus als Vollstreckungsmacht und personifizierter Todesort gegenüber den Menschen anwendet (V. 21–24).251 Die letzte Strophe bringt letztlich noch einen weiteren Aspekt horazischer Todesvorstellung zur Sprache, der sich auch in Epik. sent. Vat. 10 und 14 wiederfindet, nämlich den unabhängig vom genauen Zeitpunkt des Loses252 festen Gedanken an eine ewige Verbannung aus dem Leben, die irreversibel ist und eine Wiedergeburt unmöglich macht: sors exitura et nos in aeternum / ex‐ silium impositura cumbae (V. 27f.).253 Die Vorstellung vom Tod als ewiger Verbannung aus dem Leben steht nicht im Widerspruch zum epikureischen Atomismus, solange der ‚Kahn‘ die Seele nicht zur ewigen Verdammnis mit Folterqualen in die Unterwelt fährt, sondern nur für das endgültige Scheiden aus dem Leben steht. Horaz schafft sogar mit diesen Bildern, mit denen man normalerweise die Fahrt des Verstorbenen in die Unterwelt assoziiert, eine Art von Dialogizität, weil die Spannung zur epikureischen Todesauffassung 249 250 251 252 253
Es erscheint absolut plausibel, die relativ konkrete Ortsangabe in V. 17 f. als Wohnstätte des offenbar recht wohlhabenden Dellius aufzufassen; vgl. Kiessling/Heinze (141984) 175; vgl. dazu auch Hor. carm. 2, 14, 21–28. Vgl. u. a. Epik. sent. Vat. 25; 43; 67; 68; 81. Zur Bezeichnung des Menschen als victima übergeordneter Mächte vgl. Hor. carm. 3, 23, 9. Die Urne findet auch in Hor. carm. 3, 1, 16 Erwähnung. Die Schiffsmetapher und überhaupt die Kernaussage der letzten beiden Strophen werden in verknappter Form in Hor. carm. 2, 14, 10–12 wieder aufgegriffen; vgl. auch Prop. 3, 18, 24.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
321
dazu zwingt, die Nuancen des Bildes deutlicher wahrzunehmen, um es mit epikureischen Tendenzen wieder in Übereinstimmung zu bringen. Die Ode 2, 3 transportiert also philosophische Inhalte und Argumentations‐ muster des Kepos ähnlich deutlich wie zuvor untersuchte Ode 2, 16.254 Eine epikureische Tendenzvon carm. 2, 3 und damit auch der durchgehend präsenten Sprecher-persona ist daher für seine Leser im Sinne der intertextuellen Kommu‐ nikativität zu erkennen – ebenso wie die Kompatibilität der hier geschilderten Todesvorstellung mit der epikureischen Lehre. 4.2.2.4 Der Tod als perpetuus sopor und una nox in Hor. carm. 1, 24 und 1, 28 Nach diesen Überlegungen zu einigen inhaltlich variantenreichen, doch moti‐ visch sehr ähnlichen Horaz-Oden im zweiten Buch, in denen der Götter- und Todesthematik eine große Bedeutung zukommt, sei der Blick nun auf zwei konkrete Trauerfälle gerichtet, die die Reaktion des jeweiligen Ich-Sprechers an‐ lässlich des Ablebens eines ihm nahestehenden Menschen zum Ausdruck bringt: Es handelt sich um die in diesem Zusammenhang bereits mehrfach untersuchten carm. 1, 24 (Tod des Quintilius) und carm. 1, 28 (Tod des Archytas).255 Lassen sich in diesen Totenklagen aus der Lebenspraxis des jeweiligen Ich-Sprechers Merkmale oder Indizien epikureischen Gedankenguts finden oder beschreitet Horaz wieder einmal eigene Wege? Das Epikedeion in carm. 1, 24 – in V. 2 f. ist sogar explizit von einem lugubris cantus die Rede – illustriert in Form einer rhetorischen Frage gleich zu Beginn das Ausmaß der Trauer bzw. des desiderium nach dem als carum caput geehrten Verstorbenen. Nach dem Musenanruf an Melpomene folgt die nun wesentlich nüchterner formulierte und euphemistisch anmutende Feststellung, dass sich der tote Quintilius fortan im Zustand eines perpetuus sopor (V. 5) befinde.256 Hinter diesem Ausdruck eine klare philosophische Konnotierung
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Syndikus (32001a) insbes. 363 f. zieht in seiner Gedichtanalyse vor allem das thematisch ebenfalls nahestehende carm. 1, 4 zum Vergleich mit carm. 2, 3 heran. Deshalb und aufgrund der Tatsache, dass Ode 1, 4 sich thematisch und inhaltlich auch und sogar noch besser zu Ode 4, 7 in Bezug setzen lässt, wurde diese dennoch sehr ergiebige intertextuelle Referenz an dieser Stelle ausgespart. Zu carm. 1, 24 siehe u. a. Lida-Tarán (2014) 37–47; Mayer (2012) 171–174; Thibodeau (2002–2003) 243–256; Syndikus (32001a) 232–238; West (1995) 110–115; Romano (1991) 575–579; Kiessling/Heinze (141984) 105–109; Nisbet/Hubbard (1970) 279–289; Pasquali (1964) 249–257; zu carm. 1, 28 siehe u. a. Mayer (2012) 184–189; Syndikus (32001a) 257– 263; West (1995) 130–135; Romano (1991) 591–598; Turpin (1986) 79–86; Gantar (1984) 121–139; Kiessling/Heinze (141984) 119–126; Vessey (1976) 73–87; Nisbet/Hubbard (1970) 317–337.
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erkennen zu wollen dürfte ebenso wenig haltbar sein wie eine ‚Überinterpreta‐ tion‘ des einleitenden desiderium als eines unepikureischen dolor. Stattdessen greift Horaz hier im Sinne der Systemreferenz auf einen bekannten Topos des Epikedeions zurück, man kann aber sogar noch weiter gehen und das Motiv allgemein der antiken Dichtung zuschreiben, das etwa bei Catull in Erscheinung tritt und für sich allein genommen keine erkennbare Nähe zur epikureischen oder irgendeiner anderen philosophischen Schule im Sinne von Selektivität aufweist.257 Wesentlich mehr Aufschluss über einen explizit philosophischen Grundcha‐ rakter dieses Trauergesangs könnte die Identität der beiden Adressaten geben, deren namentliche Erwähnung die Struktur der Ode maßgeblich prägt: im ersten Teil (V. 1–8) der in V. 5 genannte Quintilius, der in der Regel wie der Adressat Varus in carm. 1, 18 mit dem epikurnahen Horaz-Freund Quintilius Varus258 gleichgesetzt wird und dessen Vorzüge in seinem zurückliegenden Leben gemäß den klassischen Anforderungskriterien eines Epikedeions, aber auch einer consolatio mit Hilfe von Allegorien aufgelistet werden (Pudor; Iustitita; Fides; Veritas);259 im folgenden zweiten Teil (V. 9–20) der in V. 10 ausdrücklich angesprochene Vergil, mit dem – wegen der Orpheus-Parallelisierung in V. 13 – zweifellos der berühmte römische Dichter und Zeitgenosse des Horaz gemeint ist. Beiden Adressaten wird bekanntermaßen eine biographisch recht gut beleg‐ bare Nähe zum Epikureismus nachgesagt, genauer gesagt zum kampanischen Siron-Kreis, mit dem außer Philodem von Gadara einige Jahre später auch Plotius Tucca, Varius Rufus und Horaz selbst in enger Verbindung gestanden haben sollen.260 Dass diese philosophisch besonders markierte Figurenkonstel‐
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Vgl. Syndikus (32001a) 233: „Das Wort ergo stellt das Endgültige der Tatsache des Todes fest, als ob sie der Dichter bis zu diesem Augenblick noch nicht wirklich hat fassen können und sie ihm erst jetzt in ihrer ganzen Schwere bewusst wird“. Thibodeau (2002– 2003) 245 plädiert in diesem Zusammenhang gar für eine Art Sprecherwechsel, da die Inspirationskraft der zuvor angerufenen Melpomene mittels eines deutlich veränderten Tonfalls sogleich ihre ganze Wirkung entfalte und diese nun durch den Mund des Dichters spreche. Entsprechende Parallelstellen in epikureisch geprägten Werken führt Thibodeau (2002–2003) 252–254 an: die personifizierte Natura in Lucr. 3, 914–951 und Xantharion in dem Philodem-Epigramm Anth. Pal. 9, 570 (= Philod. 3 Sider). Vgl. Catull. 5, 6: nox est perpetua una dormienda; siehe dazu auch Lida-Tarán (2014) 43f.; Syndikus (32001a) 261, Anm. 29, listet noch zahlreiche weitere Belegstellen auf, die das Motiv des Todes als ewige Nacht aufgreifen: u.a. Pind. I. 7, 42–48; Anth. Pal. 7, 270, 2 (Simonides); Prop. 2, 15, 24. In Hor. epist. 2, 3, 438–444 wird Quintilius Varus als Literaturkenner gerühmt; im Übrigen er ist nicht zu verwechseln mit seinem jüngeren Namensvetter, dem ebenfalls aus Cremona stammenden Verlierer der Varus-Schlacht 9 n. Chr. Vgl. dazu auch Syndikus (32001a) 233f.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
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lation eine epikureische Verortung der gesamten Ode andeutet, scheint zwar recht plausibel, aber lässt sich dies auch am Text und damit fern von solchen biographistischen Rückschlüssen zeigen? Zur Klärung dieser Frage gilt es allerdings, der Textgattung von Ode 1, 24 Rechnung zu tragen und sich dazu den rhetorischen Aufbau eines typischen Epikedeions vor Augen zu führen, um gerade die horazischen Abweichungen feststellen zu können. Als Musterbeispiele eines Epikedeions sollen für diese Zwecke Ovids Tibull-Epikedeion (Ov. am. 3, 9) und das von der verstorbenen Cornelia auf sich selbst gehaltene Trauergedicht (Prop. 4, 11) zugrunde gelegt werden. Bei der Untersuchung ihrer rhetorischen Struktur kristallisiert sich ein Schema mit folgenden Bestandteilen bzw. Gattungstopoi heraus, die nicht zwangsläufig in dieser Abfolge erscheinen müssen: Rechtfertigung der Trauer (Ov. am. 3, 9, 5–14; Prop. 4, 11, 101 f.); Aufforderung zur commiseratio/complo‐ ratio (Ov. am. 3, 9, 1–4: Aufforderung an Elegia zur Trauer um Tibull; Prop. 4, 11, 99 f.); laudatio auf den Verstorbenen (Ov. am. 3, 9, 5 f.; 31–40; Prop. 4, 11, 27–56: Selbstlob der verstorbenen Cornelia); consolatio (Ov. am. 3, 9, 15–32: Tod als condicio humana & Fortleben von Werk und Dichterruhm; 47–54: Möglichkeit des gemeinsamen Abschieds; Prop. 4, 11, 95–98: überlebende Angehörige); Rollenverteilung im Threnos (Ov. am. 3, 9, 49–68; Prop. 4, 11, 57–70). Blickt man nun zurück in die Horaz-Ode 1, 24, so erkennt man, dass dort die soeben aufgeführten Topoi eines Epikedeions in komprimierter Form zu finden sind und teilweise – insbesondere die Klage-Aufforderung und die consolatio betreffend – sogar nur in Ansätzen oder kaum berücksichtigt werden (V. 1–4: Rechtfertigung der Trauer und Aufforderung zur commiseratio an Melpomene; V. 5–8: Lob des verstorbenen Quintilius; V. 9–14: Vergil als Hauptakteur im Threnos der Trauernden). Dies mag zum einen natürlich an dem – verglichen mit den Ovid- und Properz-Epikedeia – knapp gehaltenen Umfang der Ode liegen, zum anderen aber auch an der hier deutlich durchscheinenden philo‐ sophischen Ausrichtung der Ode: Auf eine ausführliche Aufforderung zur Totenklage wird ebenso verzichtet wie auf eine explizite consolatio; stattdessen erfolgt am Ende eine abrupte Mahnung zur patientia und damit auch zur Erfüllung der Freundschaftspflicht über den Tod hinaus.
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Vgl. u. a. Kirbihler (2018) 90–94; Kirbihler (2016) 1262 f.; Castner (21991) 45 f. Einen knappen, aber sehr informativen Überblick über die literarischen Belegstellen zur engen Verbindung zwischen Horaz, Vergil, Varius Rufus und Plotius Tucca bietet außerdem Thibodeau (2002–2003) 248; man beachte außerdem Hor. sat. 1, 5, 40–42: […] Plotius et Varius Sinuessae Vergiliusque / occurrunt, animae qualis neque candidiores / terra tulit neque quis me sit devinctior alter; siehe dazu zuletzt Yona (2018) 196–200.
324 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Innerhalb einer Reihe von boni, die den verstorbenen Quintilius beweinen, wird nämlich – wie oben bereits kurz erwähnt – Vergil im Hinblick auf das Ausmaß seiner Trauer gesondert hervorgehoben (V. 9 f.). Exemplarischer Aus‐ druck seiner Totenklage ist der vergebliche Wunsch des als pius bezeichneten Vergil an die Götter, den Toten wieder lebendig werden zu lassen (V. 11 f.), wobei er sogar mit Orpheus verglichen wird (V. 13 f.). Diese Art von Trauergebärde erregt jedoch vor dem Hintergrund des mutmaßlich epikureisch geprägten Personenkreises die Aufmerksamkeit des Lesers: Zwar darf laut Epikur selbst der Weise beim Verlust eines Freundes seine Trauer bekunden,261 aber eine so emotionale Entgleisung gepaart mit der ohnehin sinnlosen Beschwörung der Götter ist sicherlich auf den ersten Blick alles andere als orthodoxes epikureisches Verhalten.262 Mit Nachdruck zeigt der horazische Ich-Sprecher, der im Vergleich zum Beginn der Ode über den Tod des treuen Freundes tatsächlich wesentlich gefasster und rationaler wirkt, mit einer durchaus kritischen Distanz zu Vergils Reaktion die Endgültigkeit des Todes und die Nutzlosigkeit menschlicher Vermeidungsversuche auf. Der Gedanke des unausweichlichen und unabänder‐ lichen Todes ist in den Horaz-Oden häufig zu finden und erhält wohl – wie bereits in Kapitel 4.2.2.3. dargestellt – in carm. 2, 3 den größten Raum zur Entfaltung.263 Während dort die Parzen (V. 15f.: sororum fila trium atra) bzw. Orcus (V. 24: victima miserantis Orci) als personalisierte Todesmächte explizit genannt werden, übernimmt Merkur seine klassische Rolle des ψυχοπομπός in carm. 1,24. Eine bedeutungsvolle Variante ist das nicht, zumal wiederum eine göttliche Instanz als Todbringer fungiert und der Aspekt der trostlosen Finsternis im Tod ebenfalls vorhanden ist (V. 16: virga horrida; V. 18: niger grex). Entscheidend ist vielmehr, dass die Betonung des göttlichen Elements in seiner aktiven Einflussnahme auf das menschliche Ableben bis zum letzten Wort (V.
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263
Vgl. Epik. fr. 120 Usener. Vgl. Epik. sent. Vat. 55: Θεραπευτέον τὰς συμφορὰς τῇ τῶν ἀπολλυμένων χάριτι καὶ τῷ γινώσκειν ὅτι οὐκ ἔστιν ἄπρακτον ποιῆσαι τὸ γεγονός; ähnlich auch in sent. Vat. 66: Συμπαθῶμεν τοῖς φίλοις οὐ θρηνοῦντες ἀλλὰ φροντίζοντες. Thibodeau (2002–2003) 246 erkennt ebenfalls einen eklatanten Widerspruch: „Significantly, this statement contradicts a philosophical commonplace which Lucretius expresses thus: vitaque mancipio nulli datur, omnibus usu (3.971 […]). The sentiment, in other words, is pointedly unwise“. Eine Analyse dieses Gedichts nach philosophischen Gesichtspunkten nimmt u. a. Lebek (1981) 2057 f. vor.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
325
20: nefas) konstant bleibt und eine Vereinbarung mit epikureischem Verhalten scheinbar unmöglich macht.264 Ein vielversprechender Vorschlag zur Lösung dieses vermeintlichen Wi‐ derspruchs ist Philip Thibodeau gelungen. Nach seiner Ansicht kann diese Problematik durch die notwendige Berücksichtigung einer Schrift des bereits mehrfach genannten Epikureers Philodem geklärt werden, dessen Werk Horaz bestens vertraut gewesen sein dürfte: Es handelt sich um den Traktat Περὶ παρρησίας und das darin ausführlich dargelegte gleichnamige ethische Prinzip, das sich im Einklang mit der traditionellen epikureischen Auffassung von Freundschaft befindet.265 Demzufolge bildet die wechselseitige aufrichtige Kritik unter den Anhängern Epikurs einen zentralen Bestandteil des epikureischen Freundschaftsbegriffs, um die Selbstreflexion aller Kepos-Schüler zu schärfen und einen toleranten Umgang mit (konstruktiver) Kritik in einem vertrauten Umfeld zu fördern. Vor diesem Hintergrund ist die Distanzierung des horazischen Ich-Sprechers von seinem ‚Schulkollegen‘ Vergil in carm. 1, 24 als Praxis wahrer Freundschaft im epikureischen Sinn zu verstehen. Daher ist der belehrende Charakter des Gedichts keineswegs als Verurteilung oder Diffamierung Vergils anzusehen, sondern als Erinnerung an die epikureische Todesvorstellung (die Irreversi‐ bilität und Gewissheit des Todes) und als eine Art Empfehlung, durch die nüchterne Akzeptanz einer unverrückbaren Wahrheit schmerzfreier mit einem solchen Schicksalsschlag umgehen zu können. Damit lässt sich allerdings noch ein wichtiger zweiter Aspekt in Verbindung bringen, nämlich die literarische Tradition, der Horaz in dieser Ode folgt. Bei etlichen intertextuellen Untersuchungen hat sich gerade für dieses Gedicht gezeigt, wie stark sich Horaz an der griechischen und römischen Elegie orien‐ tiert: Schon in der ersten Strophe stößt man auf inhaltliche Entlehnungen aus einer fragmentarisch erhaltenen Archilochos-Elegie, die in Teilen durch ein Stobaios-Zitat bekannt ist (Archil. fr. 13 West) und wohl das älteste bekannte
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265
Thibodeau (2002–2003) dagegen sieht keinerlei Probleme, auch diese Stelle epikureisch zu deuten: „Epicurean theology comes through in line 17, where the description of the god Mercury as non lenis precibus fata recludere recalls the Epicurean notion that gods are radically disconnected from human concerns; the reading of lines 11–12 that links frustra with poscis also points out the inflexibility of the divine“. An besagter Stelle wird jedoch gerade die göttliche Macht über die Menschen betont, denen am Ende eines Menschenlebens offenbar eine aktive, intervenierende Rolle zugesprochen wird, was sich von der epikureischen Vorstellung einer eher passiven und von Gleichgültigkeit geprägten Koexistenz von Menschen und Göttern doch deutlich unterscheidet. Vgl. Thibodeau (2002–2003) insbes. 249–252; grundlegend dazu David Konstan, Friend‐ ship in the classical world, Cambridge (u. a.) 1997, insbes. 108–113.
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Beispiel einer consolatio darstellt:266 So spiegelt sich etwa der Gedanke, dass man sich über das Ausmaß der Trauer nicht schämen muss, zu Beginn beider Gedichte wider (Archil. fr. 13 West, 1 f.; Hor. carm. 1, 24, 1–4) und auch die spätere Wendung mit der Botschaft, dass man ein unabänderliches Schicksal einfach hinnehmen müsse, ist in beiden Werken enthalten (Archil. fr. 13 West, 5–7; Hor. carm. 1, 24, 19 f.).267 Auch Catull stimmt mit Horaz inhaltlich und sprachlich überein, beispiels‐ weise im Hinblick auf die Parallele zwischen Catull. 5, 6 und Hor. carm. 1, 24, 5 (der Tod als ewiger Schlaf) und dem ähnlich emphatisch gebrauchten quo desiderio (Catull. 96, 3) bzw. quis desiderio (Hor. carm. 1, 24, 1).268 Darüber hinaus, so konstatiert Hans-Peter Syndikus, ist „der Gedanke der Unwiderruflichkeit des Todes […] ein altes Motiv der griechischen Lyrik; aber auch im Trauergedicht spielt er eine Rolle – Properzens Cornelia-Elegie beginnt mit ihm“.269 Tatsächlich klingen Thema und Intention von Prop. 4, 11, 1–4 nur allzu vertraut – obgleich keine wörtlichen Übereinstimmungen wie bei Catull festzustellen sind – und untermauern die Idee eines elegischen Topos: Desine, Paulle, meum lacrimis urgere sepulcrum: panditur ad nullas ianua nigra preces; cum semel infernas intrarunt funera leges, non exorando stant adamante viae. (Prop. 4, 11, 1–4)
Der in carm. 1, 24 kurz darauf folgende Vergleich von Vergils Verhalten mit dem Orpheus-Mythos in V. 11 f. ruft schließlich sogar eine Passage aus den Georgica in Erinnerung, die anders als Horaz nicht die Unmöglichkeit von Orpheus’ Un‐ terfangen betont, als er seine geliebte Eurydike von den Mächten der Unterwelt zurück ins Leben führen möchte, sondern sein Scheitern durch die Verletzung des Rückschau-Verbots.270 Doch auch bei Horaz kommt der Parallelisierung Vergils mit der Orpheus-Figur eine psychologische Bedeutung zu: Dass Vergil
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269 270
Vgl. Lida-Tarán (2014) 42f. Vgl. Archil. fr. 13 West, 1f.: κήδεα μὲν στονόεντα Περίκλεες οὔτέ τις ἀστῶν / μεμφόμενος θαλίηις τέρψεται οὐδὲ πόλις·; 5–7: […] ἀλλὰ θεοὶ γὰρ ἀνηκέστοισι κακοῖσιν / ὦ φίλ’ ἐπὶ κρατερὴν τλημοσύνην ἔθεσαν / φάρμακον. ἄλλοτε ἄλλος ἔχει τόδε· […]; siehe dazu auch Syndikus (32001a) 232, Anm. 5; 237. Weitere überzeugende Anhaltspunkte inhaltlicher Übereinstimmungen und (nahezu) wortgetreuer Überschneidungen zwischen Catull. 96 (consolatio an Calvus anlässlich des Todes seiner Gattin oder Geliebten Quintilia) und Hor. carm. 1, 24 siehe Lida-Tarán (2014) 43–47. Syndikus (32001a) 235f. Vgl. Verg. georg. 4, 467–484; vgl. dazu u. a. Syndikus (32001a) 236.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
327
überhaupt nur daran denken könnte, den Freund (wie der Sänger Orpheus Eurydike) aus der Unterwelt zurückholen zu können, ist ein Kompliment an den Dichter. Dieser Gedanke ist nämlich nicht als verneinter Aussagesatz formuliert („Nicht einmal Orpheus kann Quintilius zurückholen“), sondern als Frage mit der suggestiven Partikel num, die Vergil selbst beantworten muss: Erstens wird der bescheidene Vergil nicht zu bestätigen wagen, übernatürliche Kräfte wie Orpheus zu haben; zweitens wird er einsehen, dass der Schatten des Quintilius nicht wiederbelebt werden kann, weil Merkurs Wirkung als ψυχοπομπός in jedem Falle stärker ist. Er wird also allmählich selbst – d. h. mit seiner eigenen dichterischen Vorstellung von den Wirkkräften und mit seinem dichterischen Selbstverständnis – zur Einsicht geführt, dass der Widerstand gegen das Schicksal sinnlos, ja geradezu ein nefas ist. Diese kleine Auswahl einschlägiger Paralleltexte zu carm. 1, 24 ist somit ein aussagekräftiger Beleg dafür, dass sich Horaz mitnichten in einem ausschließ‐ lich philosophischen Kontext bewegt und er vielmehr auch auf elegische Topoi bei der Entwicklung seiner Kernüberlegungen in carm. 1, 24 zurückgreift. Insofern muss man auch in diesem Fall literarischen und rhetorischen Konven‐ tionen, auf die sich Horaz bei der Ausgestaltung seiner Ode bezieht, Beachtung schenken, nicht nur dem epikureischen Potential, das in diesem Gedicht schon aufgrund der konkreten Personenkonstellation zumindest grundlegend vorhanden ist. Aufgrund der genannten Namen und der prinzipiellen Vereinbarkeit der von der Sprecher-persona vorgebrachten Todesvorstellung mit der epikureischen Thanatologie darf man also von intendierter intertextueller Kommunikativität ausgehen; der Intensitätsgrad an Selektivität ist allerdings niedrig, weil er durch die Übereinstimmung mit Gattungskonventionen abgeschwächt wird. Ähnliche Beobachtungen kann man bei der Analyse von carm. 1, 28 machen, die aber aufgrund ihres besonderen Charakters nicht ausgespart werden soll.271 Im Hinblick auf seine zwei verschiedenen Adressaten ist auch dieses Gedicht zweigeteilt: Die Verse 1–20 richten sich an den verstorbenen Archytas, die Verse 21–36 dagegen an einen namenlosen nauta, dessen Anonymität auf einen möglichen Generalisierungsanspruch des Horaz hinweist.272 Was das lyrische 271 272
Vgl. Syndikus (32001a) 257: „Wie ein erratischer Block steht dieses grelle und düstere Gedicht in den so ganz anders gestimmten Odenbüchern“. Auch Meier (1999) 196 spricht von „eine[r] epodennahe[n] Ode“; ähnlich Gantar (1984) 122. Vgl. Syndikus (32001a) insbes. 258 f.; Kiessling/Heinze (141984) insbes. 121; Nisbet/ Hubbard (1970) insbes. 319; Meier (1999) insbes. 200–207 spricht sich dagegen in Anlehnung an Callahan/Musurillo (1964) 262 f. aus durchaus plausiblen Gründen für eine symmetrische Dreiteilung des Gedichts aus (A: V. 1–16; B: V. 17–20; C: V. 21–35),
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Ich betrifft, geht man auf der Basis des derzeitigen Forschungsstandes von einer einheitlichen Sprecher-persona aus, die sich als unbestatteter Toter zunächst an Archytas wendet und anschließend ihr eigenes Anliegen als ossa et caput inhumatum (V. 24) äußert.273 Das Gedicht beginnt wie eine Meditation über das Thema Sterblichkeit, die einsetzt, wenn man vor dem Grab des Archytas steht. Dieses Rahmenszenario und die metrische Ausgestaltung des ersten Teils stehen in enger Verbindung mit der Tradition des antiken Epigramms, in der oftmals ein (toter) Ich-Sprecher durch eine Grabinschrift inszeniert wird, die von einem davorstehenden Mann gelesen wird. Insofern ist es eine durchaus überraschende Wendung, wenn erst ab V. 21 klar wird, dass der Sprecher eben kein viator ist, der vor dem Grab steht, sondern ein unbestatteter Ertrunkener, der offenbar neben das Grab des Archytas angespült wurde. Das Überraschungsmoment wird durch die Topik, die den ersten Teil der Ode bestimmt, verstärkt. Zunächst wird Archytas als umtriebiger Universalforscher, als maris et terrae numeroque carentis harenae mensor (V. 1 f.) angesprochen, wobei das Ausmaß seiner Reisen und Entdeckungen in einem diametral entgegengesetzten Verhältnis zu der Größe und Ausstattung seines Grabes am (mutmaßlich apuli‐ schen) Strand steht.274 Die Nutzlosigkeit seiner irdischen Leistungen wird dabei
273
in der der Mittelteil jedoch als adressatenlose, rein gnomische Scharnierstrophe fungiert. Insgesamt haben sich in der Forschungsgeschichte drei verschiedene Theorien über die Personenkonstellation bzw. über die Identität des Ich-Sprechers in carm. 1, 28 herausgebildet, die in knapper Form bei Gantar (1984) 124, der von einem „Labyrinth der verschiedensten möglichen Deutungen“ spricht, bzw. aktualisiert und noch um‐ fassender bei Meier (1999) 194 f. zusammengestellt sind: Grundsätzlich ist von der Ansicht, in der Ode liege eine dialogische Grundstruktur vor (vgl. u. a. Frischer, „Horace and the monuments. A new interpretation of the Archytas ode (C. 1.28)“, HSPh 88 (1984) 71–102; Kilpatrick, „Archytas at the Styx“, (Horace Carm. 1.28), CPh 63 (1968) 201–206; Wili, Horaz und die augusteische Kultur, Basel 1948, 231; Nauck/Hoppe, Des Q. Horatius Flaccus sämtliche Werke. Erster Teil. Oden und Epoden, Leipzig/Berlin 1910, 44), die Monolog-Theorie zu unterscheiden. Für die zweite Variante hat es zahlreiche Versuche gegeben, die Sprecherfigur konkret zu identifizieren, vor allem als den Dichter selbst (vgl. u. a. Keller, Epilegomena zu Horaz, I, Leipzig 1879, 96), als Archytas (vgl. u. a. die antiken Horaz-Kommentatoren Pomponius Porphyrio und Pseudacron; siehe dazu Meier 1999 194, Anm. 9; Vessey 1976, 75–85) oder – wie die meisten Forscher der letzten Jahrzehnte – als einen anonymen nauta (vgl. u. a. Syndikus 3 2001a, 263; Kiessling/Heinze 141984, 119; Nisbet/Hubbard 1970, 317; Callahan/Musurillo 1964, 264 f.; Wilamowitz-Moellendorff, „De tribus carminibus Latinis commentatio“, in: Pfeiffer/Keydell/Fuchs (Hrsg.), U. v. Wilamowitz-Moellendorff. Kleine Schriften, Band II, Berlin 1941, 249–274, darin v. a. 250). Einige Argumente, die gegen die Theorie einer Dialog-Ode sprechen, legt Meier (1999) 196–199 genauso dar wie eine feingliedrige Strukturierung der ganzen Ode.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
329
als traditionelles elegisches Klagemotiv275 anhand der Unvermeidbarkeit des Todes manifestiert und – wie schon bei Lukrez – mit Hilfe von mythologischen Beispielen veranschaulicht (V. 7: Tantalus; V. 8: Tithonus; V. 9: Minos; V. 10–15a: Pythagoras).276 Diese exemplarische Reihe dient anders als in der traditionellen Konsolationsliteratur allerdings nicht der Trostfindung bei einem schweren Schicksalsschlag, sondern dazu, „die Macht des Todes noch unausweichlicher erscheinen zu lassen“277. Konkret dient diese erlesene Reihe einflussreicher und berühmter Männer also dazu, ihre Machtlosigkeit gegenüber dem Tod aufgrund ihrer vergänglichen menschlichen Natur aufzuzeigen. In dieser Passage kennzeichnen nicht nur die Anzahl der Verse, sondern auch die Bemerkung iudice te non sordidus auctor / naturae verique […] (V. 14f.) Archytas eindeutig als einen Gefolgsmann des Pythagoras, der in seiner Lehre bekanntlich von der Unsterblichkeit der Seele und der Wiedergeburt eines verstorbenen Menschen ausgeht.278 Doch auch Archytas wird, so lautet das sentenzartige Fazit in V. 15b–16, wie sein philosophisches Vorbild einmal der Weg in den Tod führen, der endgültig ist und aus dem es keine Wiederkehr gibt: sed omnis una manet nox / et calcanda semel via leti.279 Bei dieser Figurenkons‐ tellation, die sich aus der ausführlichen Erwähnung des Pythagoras und der Auswahl eines Adressaten aus ebendieser Schultradition ergibt, ist allerdings ein deutlich sarkastischer Unterton zu hören: Dem unbestatteten nauta zufolge ist gerade Archytas und seinem philosophischen Vorbild, die beide an die Seelenwanderung und an die Wiedergeburt und damit an eine Fortsetzung der irdischen Existenz glauben, auf bittere und sehr reale Weise das Gegenteil ihrer Todesvorstellung klar geworden. Die folgenden vier Verse führen den Gedanken des unausweichlichen und endgültigen Todes mit den bereits aus carm. 2, 16, 1–8 bekannten Symbolfiguren des Kriegers (V. 17) und des Seemanns (V. 18) fort: Die Unberechenbarkeit
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Zur historischen Person des Archytas, der dem Adressaten von carm. 1, 28, 1–16 bzw. 20 wohl zugrunde liegt, siehe Mayer (2012) 184; Meier (1999) 201–203; West (1995) 132; 134; Gantar (1984) 126–130; Nisbet/Hubbard (1970) 320; Callahan/Musurillo (1964) 263. Vgl. u. a. Ov. am. 3, 9, 21 f.; Prop. 3, 18, 11; siehe dazu auch Mayer (2012) 185; Syndikus (32001a) 260, v. a. Anm. 20. Vgl. Lucr. 3, 1025–1044. Im Übrigen steht die Figur des Tithonus auch in Hor. carm. 2, 16, 30 exemplarisch für die Gewissheit des Todes. Syndikus (32001a) 261. Dieser fährt fort: „Auch die Wahl der Beispiele ist nach diesem Gesichtspunkt getroffen: Menschen werden aufgezählt, von denen man am ehesten hätte glauben können, dass sie der Unsterblichkeit teilhaftig werden […]“. Vgl. auch Mayer (2012) 186. Vgl. u. a. Catull. 5, 6; siehe Syndikus (32001a) 261, Anm. 29; Gantar (1984) 125; siehe dazu auch Anm. 257 in diesem Kapitel.
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des Todes und zugleich sein ausnahmsloses Eintreten vereinigen sich in einer erneuten Sentenz, die Proserpina als göttliche Todesmacht präsentiert (V. 19 f.). Man erkennt bereits nach diesem ersten Teil des Gedichts mit wenig Überra‐ schung, dass Horaz in dieser Ode auf bereits aus anderen Gedichten bekannte Motive zurückgreift, ohne die geradezu pedantisch wiederholte Hauptaussage über die Gewissheit und Unausweichlichkeit des Todes zu verändern. Gerade weil die pythagoreische Todesvorstellung, die die Sprecher-persona in den ersten zwanzig Versen vermittelt, widerlegt wird und weil bei Horaz das Motiv vom unausweichlichen Tod intratextuell immer wiederkehrt, ist eine epikureische Aussagetendenz dieses ersten Odenteils zu erwarten:280 Man denke nur an Epikurs Überlegungen zur Auflösung der Seele nach dem Tod, zum Tod als dauerhaftem Zustand völliger Wahrnehmungslosigkeit und zur menschlichen Ohnmacht, den Tod bezwingen zu können.281 In diesem Zusammenhang weist Giesecke zudem auf einen mutmaßlichen Prätext für den in V. 5 f. geschilderten Forschungsdrang des einst vor Vitalität strotzenden Archytas hin. Diese Darstellung lässt den Verstorbenen in einer Art Grabepigramm als Parallelfigur zu dem lukrezischen Epikur erscheinen oder erinnert zumindest an dessen philosophischen Eifer; gleichzeitig stellt er aber eben auch die Vergeblichkeit irdischer Leistungen in den Mittelpunkt:282 ergo vivida vis animi pervicit, et extra processit longe flammantia moenia mundi atque omne immensum peragravit mente animoque; (Lucr. 1, 72–74)
Trotzdem ist eine Parallelisierung des horazischen Archytas, eines be‐ rühmten, aber bereits verstorbenen Gewährsmannes der pythagoreischen Lehre, mit dem lukrezischen Epikur unbefriedigend: Eine solche Parallelisie‐ rung würde über die unterschiedliche Struktur und Zielsetzung der beiden Werke hinwegtäuschen – sub specie aeternitatis erreicht Archytas als For‐ scher nichts, weil er seine Sterblichkeit nicht verhindern kann, wohingegen sich Epikur in der lukrezischen Darstellung unsterblichen Ruhm als Retter der Menschheit erworben hat.
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281 282
Natürlich hat Gantar (1984) 133 recht, wenn er (gerade im Hinblick auf diese Ode) be‐ hauptet: „‚Epikureisch‘ in Anführungszeichen, da es sich dabei um eine Lebensweisheit handelt, die älter ist als Epikur; ähnliche Gedanken kommen ja schon in der archaischen griechischen Lyrik vor. Also ein Epikureismus vor Epikur“. Vgl. Epik. Her. 65; Men. 124; sent. Vat. 31; Lucr. 3, 859–869; siehe dazu auch Meier (1999) 203 f., Anm. 38. Vgl. Giesecke (2000) 149f.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
331
Stattdessen gilt es vielmehr, die Bedeutung gattungsspezifischer Motive des Grabepigramms zu unterstreichen, die sich in carm. 1, 28 insbesondere zu Beginn – als respektvolle und zugleich Ernüchterung bringende Abschiedsverse (V. 1–6) – und nach dem Adressatenwechsel ab V. 21 – als Mahnung des Verstorbenen an einen vorbeikommenden nauta mit der Bitte um ordnungsge‐ mäße Bestattung (V. 23–36) – herauskristallisieren.283 Dass diese letztgenannten Verse im Sinne einer Grabinschrift zu verstehen sind, obwohl ja noch keine ordnungsgemäße Bestattung des Verstorbenen vollzogen wurde und somit auch noch kein ,echtes‘ Grab besteht, ist sicherlich Teil der ‚horazischen Ironie‘ in dieser Ode. Diese ‚horazische Ironie‘, wenn man sie so bezeichnen möchte, erstreckt sich darüber hinaus nicht nur auf die von der Finalität des Todes überraschten Pythagoreer, sondern auch auf die vermeintlich streng religiöse und belehrende Haltung einer Sprecher-persona, die sich zu Beginn des zweiten Hauptteils als sprechendes Schattenbild aus dem Totenreich inszeniert, während ihre Identität zunächst nur über den Ort – am Grab des Archytas bei Tarent – bestimmbar war.284 Deren mahnende Worte richten sich an einen nauta mit der eindringlichen Bitte, das eigene Grab durch eine entsprechende Geste der würdevollen Bestattung zu ehren. Ausgehend von diesem seit der Odyssee bekannten Motiv285 entwickelt die tote Sprecher-persona in Abhängigkeit von der noch ungewissen Reaktion des nauta zwei verschiedene Szenarien: Für den Fall, dass die Forderungen des Verstorbenen Gehör finden, wünscht das lyrische Ich dem Seemann nur das Allerbeste und vor allem den Schutz der Götter (V. 25b–29); sollte er den Bitten allerdings nicht nachkommen, wird er mit folgenschweren Flüchen durch den Toten bedacht (V. 30–34). Am Ende wird die Bitte um ehrenvolle Bestattung versöhnlich mit dem Hinweis auf eine mora non longa erneuert (V. 35), was aber über den generell recht ernst und wenig hoffnungsvoll wirkenden Charakter der Ode nicht hinwegtäuschen kann.
283 284
285
Vgl. auch Kiessling/Heinze (141984) 120f. Vgl. Giesecke (2000) 150: „The particular phenomenon of a fully animate ghost is singularly un-Epicurean […]“; Syndikus (32001a) 259 spricht sich allerdings gegen eine Überbewertung dieser Beobachtung und gegen eine übermäßige Suche nach philoso‐ phischer Kohärenz und Konsequenz aus, auch wenn er dafür den Pythagoreismus zugrunde legt: „Man sollte auch wohl nicht allzu pedantisch fragen, wieso in einem Gedicht, das das Vergehen alles Lebens verkündet und das gegen Pythagoras’ Lehre von der Fortdauer der Seele nach dem Tode Stellung nimmt, der Dichter durch einen Toten sprechen lässt, also eine Art Weiterexistenz demonstriert. Solche Einwände verkennen das Fiktive der ganzen Situation. […]“. Vgl. Hom. Od. 11, 72–78 (Elpenor); siehe dazu auch Syndikus (32001a) 262.
332 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
In carm. 1, 28 ist der Gedanke an den Tod besonders in zweierlei Hinsicht variiert worden ist: Strukturell sticht der unerwartete Adressatenwechsel in V. 21 hervor und die Tatsache, dass Horaz hier einen Sprecher aus dem Jenseits auf‐ treten lässt, der zuvor das Schicksal des Archytas beklagt. Auf der inhaltlichen Seite erweist sich die Abänderung des carpe-diem-Motivs in eine pessimistische und trostlose Aussicht als frappierende Neuerung innerhalb der horazischen Thematisierung des Todes.286 Darüber hinaus wird auch die Annahme einer eventuell epikureischen Todesvorstellung jegliche Berechtigung entzogen,287 zumal nicht nur vom Schutz der Götter die Rede ist, die für das menschliche Wohl und Wehe die größte Auswirkung hat, sondern auch wiederholt auf das unglückselige Weiterleben tragischer Persönlichkeiten in der Unterwelt und damit auf einen mythologischen statt auf einen philosophischen Kontext verwiesen wird. Alle anderen Aspekte, die auf eine epikureische Tendenz hinweisen könnten, sind in erster Linie den Gattungstraditionen von Elegie und Grabepigramm und nicht den Lehren einer bestimmten philosophischen Schule geschuldet.288 Dementsprechend resümiert auch Meier mittels einer Auflistung relevanter Belegstellen über die Gewichtung epikureischer Einflüsse in carm. 1, 28: „Indes sollten die epikureischen Elemente in der Argumentation c. I 28,1–16 nicht überbewertet werden. Die Vorstellung von der Unausweichlichkeit des Todes ist ein Topos, der seit der frühgriechischen Dichtung in verschiedensten Variationen begegnet […].“289
Wenn man also eine Aussage über die philosophische Dimension dieser Ode in ihrer Gesamtbedeutung treffen möchte, sollte man die durch Pythagoras und Ar‐ chytas repräsentierte Lehre im Blick behalten, da sie ja wesentlicher Bestandteil dieser Ode ist: Die Lehre des Pythagoras scheint zunächst zur Verdeutlichung des unausweichlichen und trostlosen Todesschicksals in einer Mischung aus Tragik und Sarkasmus widerlegt worden zu sein. Statt des epikureischen ὁ θάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς vermittelt die inhaltliche Ausrichtung dieser Ode im ersten Eindruck vielmehr folgende Haltung: Der Tod ist das Nichts.
286 287 288 289
Vgl. Syndikus (32001a) 263: „Die gefühlsmäßige Trauer über die Vergänglichkeit von allem, was im Leben wert ist, konnte durch logische Schlüsse und philosophische Imperative nicht gänzlich verdrängt werden“. Eine knappe Übersicht über die entsprechende Forschungsliteratur findet sich bei Meier (1999) 203, Anm. 38. Vgl. v. a. Syndikus (32001a) 258–261 (Elegie); 262 f. (Grabepigramm); siehe dazu auch Meier (1999) 196. Meier (1999) 204, Anm. 38.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
333
Allerdings stellt sich die Frage, ob die von Pythagoras und Archytas vertre‐ tene Auffassung über die Überwindung des Todes durch die Unsterblichkeit der Seele und durch die Metempsychose tatsächlich widerlegt worden ist. Gerade die markante und im Detail so schwer zu durchdringende binäre Struktur der Ode, die in erster Linie dem unerwarteten Adressatenwechsel ab V. 21 ge‐ schuldet ist, legt ein anderes, bislang weitgehend vernachlässigtes Verständnis der Archytas-Ode nahe: Die Sprecher-persona, ein neben der Liegestätte des Archytas befindlicher nauta, der noch auf seine Bestattung wartet, richtet sich zunächst an den tot daneben liegenden Archytas, um sich dann doch dem Kreis der Lebenden zuzuwenden und einen anderen Seemann, der gerade vorüberzieht, eindringlich um eine ordentliche Bestattung zu ersuchen. Dieser Adressatenwechsel von dem Bereich des Nicht-mehr-Lebendigen (Archytas) zum Bereich des (Noch-)Lebendigen (nauta) scheint den Übergang vom Tod zurück ins Leben – wie ihn auch die pythagoreische Metempsychose vorsieht – geradezu bildlich zu suggerieren. Zumindest aber bleibt trotz der düsteren Grundstimmung in der Archytas-Ode das weitere Schicksal der Sprecher-per‐ sona offen und die Frage nach einer möglichen Wiedergeburt bzw. einem möglichen Fortleben der Seele in anderer Gestalt ungeklärt.290 Von einer Verspottung des Pythagoreismus auszugehen, wäre also sicherlich verfehlt, da eine solche Deutung dem an sich ernsten Grundton der Ode nicht gerecht würde.291 Eine ironische oder in diesem Fall gar sarkastische Note, die den horazischen Werken häufig innewohnt und in den meisten Fällen recht gut begründet werden kann, ist dennoch auch für carm. 1, 28 anzunehmen, wie die oberen Ausführungen gezeigt haben dürften, zumal auch die Leserlenkung mit dem unerwarteten Adressatenwechsel in diesem Sinn verstanden werden kann. Wieder einmal treibt Horaz also sein ganz eigenes Spiel mit einem philosophischen Thema und den Lehren etablierter Schulen. Eine spezifisch 290
291
Daran ändert auch die gnomische Aussage in V. 15 f. über die Einmaligkeit der Todesnacht bzw. des Wegs in den Tod (una; semel) nichts, da nicht spezifisch dargelegt wird, ob davon nur der Körper, also die ehemalige Gestalt und Identität eines Menschen betroffen ist oder ob auch die Seele der destruktiven Macht des Todes unterliegt. Ähnlich dazu Gantar (1984) 133f.: „Es wäre jedoch übertrieben, Horazens Stellung gegenüber dem Pythagoreismus in diesem Gedicht als Verspottung oder Ironisierung zu bezeichnen, wie es oft in Kommentaren geschieht. Das, was man aus Horazens Versen herauslesen kann, ist wohl nicht als Verspottung des Pythagoras oder seines Schülers und Bewunderers Archytas zu bezeichnen, sondern als tiefes Mitleid, als bitteres Bewusstsein vom gemeinsamen, unentrinnbaren menschlichen Schicksal. Wenn […] Horaz seinen Spott mit dem Schicksal dieser zwei legendären Gelehrten getrieben hätte, […] so stünde das in scharfem Gegensatz zu seiner sonstigen humanen Ethik. Im Gegenteil, das Gedicht entwickelt sich in seiner äußeren Gestalt und in seinem inneren Gehalt als eine Art Dialog mit den Pythagoreern […]“.
334 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
epikureisch ausgerichtete Sprecher-persona (wie etwa in carm. 2, 16) ist daher nicht vorzufinden. 4.2.2.5 Die Irreversibilität des Todes in Hor. carm. 4, 7 Die wohl markanteste Variation der Todesthematik bei Horaz ist hingegen in seinem Spätwerk zu finden und soll daher am Ende dieses Kapitels auf philosophische Inhalte untersucht werden: In carm. 4, 7 besingt die horazische Sprecher-persona den Zyklus der Jahreszeiten und spannt auf diese Weise einen thematischen Bogen zur weit zurückliegenden Ode 1, 4:292 Das Frühlingserwa‐ chen zu Beginn der beiden Oden, das sich durch Frühlingsboten in der Natur andeutet (Hor. carm. 4, 7, 1–4; carm. 1, 4, 1–4), ist ebenso wesentlicher Bestand‐ teil wie die Reaktion unter den Göttern (carm. 4, 7, 5–8; carm. 1, 4, 5 f.), die auf verschiedenen Wegen in den bekannten, aber unterschiedlich nuancierten Topos des unausweichlichen und irreversiblen Todes mündet (carm. 4, 7, 7 f.; 13–28; carm. 1, 4, 13–20).293 Hor. carm. 4, 7
Hor. carm. 1, 4
Frühlingserwachen (V. 1–6):
Frühlingserwachen (V. 1–12):
• natürliche Frühlingsboten (V. 1–4) • Tanz der Grazien (V. 5 f.)
• Frühlingsboten in der Natur (1–4) • geschäftiges Treiben der Götter (Venus, Grazien, Vulkan) (V. 5–8)
Mahnung zur Vergänglichkeit (V. 7 f.)
Mahnung zum unverzüglichen, angemes‐ senen Handeln (V. 9–12)
Jahreskreislauf als ständiger Wechsel (V. 9–12)
Kontrastierung Mondphasen (ständige Erneuerung) und menschliches Todeslos (mythologische Beispiele) (V. 13–16)
292
293
Über diese längst festgestellte und oft genug betonte Parallele – siehe zuletzt Thomas (2011) 174 – äußerten sich u. a. auch Kiessling/Heinze (141984) 424 bei der Kommentierung und Interpretation von carm. 4, 7: „ein Frühlingslied, mit dem gleichfalls epodisch gebauten frühen Gedicht I 4 so nahe verwandt, wie kein anderes Paar horazischer Oden“. Indes gilt es, schon aufgrund des wohl identischen Adressaten (Torquatus) den Bezug zu epist. 1, 5 im Auge zu behalten, wie es vor allem Putnam (2006) 387–413 getan hat. Zur Gliederung beider Gedichte siehe v. a. Kiessling/Heinze (141984) 25 bzw. 424f.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
Hor. carm. 4, 7
335
Hor. carm. 1, 4
Unwissenheit/Ohnmacht ggü. der Zu‐ kunft vs. Macht über eigene Vergangen‐ heit (V. 17–20)
Unumkehrbarkeit des Todes anhand my‐ thologischer Beispiele (V. 21–28)
baldige Ankunft des unausweichlichen Todes (V. 13–20): gleiches Menschenlos und Todesvorstellung
Trotz dieser unübersehbaren Parallelen, die auf eine intertextuelle Referenz hinweisen, besteht abgesehen von der offenkundig komplexeren Struktur von carm. 4, 7 der wesentliche Unterschied in der metaphorischen Verdeutlichung der menschlichen Vergänglichkeit, genauer gesagt in der Funktionalisierung des Jahreszyklus als einer Kontrastfolie zur menschlichen Endlichkeit: „Der Wechsel der Jahreszeiten ist nicht mehr Anlass für die Aufforderung zum Lebens‐ genuss wie in carm. I 4, sondern der Wandel selbst wird in den Blick genommen.“294
Im Zentrum von Ode 4, 7 – in struktureller und thematischer Hinsicht – steht also der natürliche Kreislauf der vier Jahreszeiten, der zum einen die rasche Ab‐ folge von Zeitabschnitten im Leben eines Menschen repräsentiert, zum anderen aber auch dessen Vergänglichkeit kontrastiert, indem die zeitüberdauernde Abfolge der Jahreszeiten veranschaulicht wird, die einander stets erneuern, ohne dabei kontinuierlich bzw. ‚gleitend‘ ineinander überzugehen: frigora mitescunt Zephyris, ver proterit aestas interitura, simul pomifer autumnus fruges effuderit; et mox bruma recurrit iners. (Hor. carm. 4, 7, 9–12)
10
Als literarische Vorlage für diese Passage wurde seit dem Kommentar von Kiess‐ ling/Heinze immer wieder die entsprechende Textstelle aus dem lukrezischen
294
Erler (1980) 333. Eine ähnliche Schlussfolgerung zog Syndikus (32001b) 357: „Einst hatte in der Ode I 4, 9–12 die Schilderung der schönen Jahreszeit sofort zur Aufforderung, sie zu genießen, geführt. Nun leitet der Blick auf den Wechsel in der Natur zu derselben Erkenntnis im Menschenleben über. Nicht mehr das Erblühen in der Natur wird bedacht, sondern das fortwährende Vergehen, das alles wieder hinwegnimmt“.
336 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Lehrgedicht über die Natur der Dinge herangezogen, die eine wichtige Basis für die Verknüpfung von carm. 4, 7 mit epikureischem Gedankengut legt:295 it Ver et Venus, et Veneris praenuntius ante pennatus graditur, Zephyri vestigia propter Flora quibus mater praespargens ante viai cuncta coloribus egregiis et odoribus opplet. inde loci sequitur Calor aridus et comes una pulverulenta Ceres etesia flabra Aquilonum. inde Autumnus adit, graditur simul Euhius Euan. inde aliae tempestates ventique secuntur, altitonans Volturnus et Auster fulmine pollens. tandem Bruma nives adfert pigrumque rigorem reddit; Hiemps sequitur crepitans hanc dentibus algu. (Lucr. 5, 737–747)
740 745
Die gegenseitige Ablösung der einzelnen Jahreszeiten kann durchaus als Natur-Spiegelbild der auch – aber natürlich nicht ausschließlich – bei den Epikureern verbreiteten Auffassung vom Werden und Vergehen der Dinge gesehen werden.296 Während die lukrezische Version der epikureischen Natu‐ rauffassung, mit der carm. 4, 7, 1–12 zwar motivische Gemeinsamkeiten hat, aber keine identischen Formulierungen teilt, jedoch eine nahtlose und geradezu harmonische Ablösung der jeweils vorangehenden Jahreszeit schildert, erfolgt der Wechsel bei Horaz abrupt und durch ein gewaltsames Einschreiten der jeweils nachfolgenden Periode.297 Der Grund für diese Abweichung von der Lukrez-Passage liegt auf der Hand, er ist in der horazischen Kernaussage über die Gewissheit des erbar‐ mungslosen Todes zu suchen, wie sie in V. 7f. formuliert wird: immortalia ne speres, monet annus et almum / quae rapit hora diem.298 Die Kurzfristigkeit allen Daseins und die plötzliche, unvermeidbare und gewaltsame Tilgung der eigenen Existenz, die das Verb rapere hier zum Ausdruck bringt, deutet 295
296
297 298
Vgl. Syndikus (32001b) 359, Anm. 12; Romano (1991) 885; Kiessling/Heinze (141984) 425 f.; Erler (1980) 334. In diesem Sinn konstatierte Lebek (1981) 2032 in seiner Gesamtbeur‐ teilung des philosophischen Einflusses auf die horazischen Oden: „[…] [D]ass über das Intervallum Lyricum hinaus Epikureisches im geistigen Haushalt Horazens von Bedeutung war, könnte carm. 4,7 […] indizieren“. Vgl. beispielsweise Epik. Her. 42: […] Πρός τε τούτοις τὰ ἄτομα τῶν σωμάτων καὶ μεστά, ἐξ ὧν καὶ αἱ συγκρίσεις γίνονται καὶ εἰς ἃ διαλύονται, ἀπερίλεπτά ἐστι ταῖς διαφοραῖς τῶν σχημάτων […]; zur genaueren Atomvorstellung im Kepos siehe außerdem Epik. Her. 54–59. Vgl. u. a. Kiessling/Heinze (141984) 425 f.; Erler (1980) 334. Vgl. Hor. carm. 1, 4, 15.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
337
sich bereits in der Beschreibung des Frühlingsanbruchs in den ersten vier Versen mit den emphatisch positionierten Verben diffugere und praetereunt an. Die schnelllebige und unnachgiebige Auslöschung des Augenblicks findet ihre Fortsetzung in der Darstellung des Jahreszyklus in V. 9–12, wobei ihr wiederum Verben wie proterit (V. 9), interitura (V. 10) und recurrit (V. 12) Ausdruck verleihen.299 Im Unterschied zu carm. 1, 4 liegt der Fokus in Ode 4, 7 jedoch nicht auf der Parallelisierung von Natur und Mensch, sondern gerade auf der Instrumen‐ talisierung des Jahreszyklus als Kontrastfolie zur condicio humana. Schon die Antithese der ersten beiden Verben (diffugere – redeunt) nimmt den kontrastiven Charakter der Ode voraus.300 Die von Syndikus als „schneidende Antithese“301 bezeichnete Kontrastierung von Natur und Mensch wird sogar noch mit Hilfe einer anderen Metapher aus dem Bereich der Astrophysik in V. 13 fortgeführt: Die Mondphasen symbolisieren – wie zuvor die Jahreszeiten – einerseits die rasche Vergänglichkeit bestehender Zustände und greifen damit den Gedanken aus Hor. carm. 2, 11, 9–12 auf, andererseits – und das ist der entscheidende Zugewinn, der durch die Ode 4, 7 erlangt wird – bilden sie erneut einen Gegensatz zur Unmöglichkeit menschlicher Wiedergeburt.302 Für die Einflechtung der Mondphasen in die horazische Todesthematik lässt sich wiederum ein intertextueller Bezug zu Lukrez ausmachen, zumal sich dieser Prätext in unmittelbarer Nähe zur oben zitierten Passage befindet:303 Denique cur nequeat semper nova luna creari ordine formarum certo certisque figuris inque dies privos aborisci quaeque creata atque alia illius reparari in parte locoque, […]
299
300 301 302 303
Damit im Einklang steht das folgerichtige Ergebnis von Syndikus (32001b) 358f.: „Wieder sind die Bewegungsverben die entscheidenden Sinnträger; sie zeigen noch intensiver als vorher die rascheste Bewegung an; es soll der Eindruck eines ewigen Verdrängens, eines nimmermüden Kampfes des Neuen mit dem Alten, eines geradezu atemlosen Wirbels aller Dinge entstehen“. Vgl. Thomas (2011) 176f. Syndikus (32001b) 359. Vgl. Syndikus (32001b) 359f. Vgl. Romano (1991) 885; Kiessling/Heinze (141984) 426. Die gesamte Textstelle über den Mond und seine veränderliche Form setzt indes schon in Lucr. 5, 705 ein.
338 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
quo minus est mirum si certo tempore luna gignitur et certo deletur tempore rursus, cum fieri possint tam certo tempore multa. (Lucr. 5, 731–734; 748–750)
750
Die Thematisierung des Mondes und seiner verschiedenen Erscheinungsformen bildet bei Lukrez den strukturellen wie inhaltlichen Rahmen für die Darstellung des Jahreszyklus und steht im gleichen übergeordneten Zusammenhang: der epikureischen Erklärung kosmologischer Phänomene. Bedenkt man die lukrezische Traditionslinie, in die Horaz allem Anschein nach auch diese Ode stellt,304 und den philosophischen Hintergrund seiner anderen Gedichte, die den Tod bzw. die condicio humana zum Thema machen, liegt es nahe, auch in carm. 4, 7 eine überwiegend epikureische Prägung zu vermuten. Unabhängig davon, ob eine stringente Rezeption epikureischen Gedankenguts festgestellt werden kann, was schon aufgrund der bislang unter‐ suchten Horaz-Texte als unwahrscheinlich gelten dürfte,305 ist eine beträchtliche Überschneidung zwischen der horazischen Todesvorstellung bzw. dem ange‐ messenen Umgang des lyrischen Ichs mit dem unvermeidlichen Lebensende und der epikureischen Todesauffassung nicht von der Hand zu weisen.306 Natürlich passen aber Formulierungen über die göttliche Interventionsmög‐ lichkeit und Urteilsmacht wie in V. 17 f. und V. 21 f. nicht zum Götterbild, das der Kepos empfohlen hat;307 doch zum einen stützt das zum wiederholten Male die These, dass Horaz nicht einer einzigen Schule gefolgt ist und sich seine Maxime, undogmatisch zu bleiben, zu einem gewissen Maß bewahrt hat, zum anderen liegt der Fokus in dieser Ode wie auch in den anderen carmina, die in diesem Kapitel behandelt worden sind, nicht auf der Frage, wie man sich die Götter
304
305
306 307
Außer den oben zitierten zentralen Passagen nennen etwa Syndikus (32001b) 360, Anm. 17, Romano (1991) 886, Kiessling/Heinze (141984) 426 und Lebek (1981) 2085 zusätzlich noch Lucr. 3, 1025 f. als intertextuellen Bezugspunkt für die Erwähnung des Ancus als mythologisches Beispiel in carm. 4, 7, 15, der schon in epist. 1, 6, 27 zu finden war. So geht etwa Erler (1980) 335 f. von einer eher stoischen Zeitauffassung in carm. 4, 7 aus, während er für carm. 1, 4 eine in dieser Hinsicht stärkere Anlehnung an den Kepos bescheinigt. Dagegen spricht Lebek (1981) 2085 „dem späteren der zwei thematisch eng verwandten Gedichte eine größere Affinität zu epikureischem Denken“ zu. Lebek (1981) 2085 verweist in diesem Zusammenhang zu Recht erneut auf Epik. sent. Vat. 14 als dogmatischen Ausgangspunkt für die inhaltliche Neuschöpfung des Horaz in lyrischer Form. Vgl. Lebek (1981) 2085 f. Darüber hinaus ist es nicht nur berechtigt, sondern auch gewinnbringend und notwendig, weniger philosophische Texte als denkbare Quellen für diese Ode heranzuziehen, wie erneut Catull. 5, 4–6 oder auch Sim. fr. 19 f.; siehe dazu besonders Thomas (2011) 175 f.; 180.
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
339
vorzustellen hat, sondern wie man sich ein plausibles Bild vom Tod und seinen Merkmalen zu eigen macht. Unter eben diesen Gesichtspunkten kommen die Motive, die bereits aus anderen horazischen Oden über den Tod bekannt sind, zu ihrer Geltung: die Kritik an der Habgier der nachfolgenden (Erb-)Generation und das Bewusstsein, das man zwar keine Macht über die eigene Zukunft, wohl aber über die eigene Vergangenheit hat (V. 19 f.);308 die Zwecklosigkeit einer privilegierten sozialen Herkunft oder sonstiger Talente, wenn es um das allen Menschen gemeinsame Todeslos geht (V. 23 f.);309 schließlich – und das nähert auch die theologische Komponente in dieser Ode wieder an epikureische Überlegungen an, obwohl es sich lediglich um mythologische exempla zur Veranschaulichung des zuvor Gesagten handelt – werden die Grenzen göttlicher bzw. übermenschlicher Figuren aus dem Mythos demonstriert, ja sogar die Machtlosigkeit der Götter gegenüber dem Todesschicksal der Menschen (V. 25–28).310 Hinzu kommt außerdem die enge intratextuelle Verbindung mit epist. 1, 5, die sich durch den mutmaßlich identischen Adressaten (Torquatus)311 sowie durch bemerkenswert zahlreiche motivische Querverweise ergibt:312 In der Einladung an den Freund zum gemeinsamen Gelage am Feiertag leistet der Ich-Sprecher unter anderem dadurch Überzeugungsarbeit, dass er – ähnlich wie in carm. 4, 7, 23 f. – das nichtige Streben nach Macht und Reichtum anprangert (V. 8) und – vergleichbar mit carm. 4, 7, 19 f. – auf das Glück des Augenblicks hinweist sowie die Sorge um die Zukunft und die Erben zu verbannen sucht (V. 13–15). Gerade die Schlussbotschaft in V. 30f. ([…] et rebus omissis / atria servantem postico falle clientem), die an die Aufforderung zum Nichtstun in V. 8–11 anknüpft, rückt auch Epistel 1, 5 eindeutig in den Bereich epikureischer Lebensphilosophie (λάθε βιώσας)313 und fördert auf diese Weise trotz des sehr unterschiedlichen situativen Kontextes, in den carm. 4, 7 und epist. 1, 5 jeweils eingebettet sind, Gemeinsamkeiten in der philosophischen Grundprägung zutage. 4.2.2.6 Zwischenfazit über die Vorstellung und Bedeutung des Todes in den Oden des Horaz Die Analyse einiger Oden aus dem ersten, zweiten und vierten Buch, die für die Thematisierung des Todes in Verbindung mit moralphilosophischen Über‐
308 309 310 311 312 313
Vgl. Hor. carm. 2, 3, 19 f.; 2, 14, 25–28; 3, 24, 61f. Vgl. Hor. carm. 1, 28, 4–6; 2, 3, 17–28; 2, 14, 2–12. Vgl. Hor. carm. 1, 28, 7–12. Vgl. v. a. Thomas (2011) 182f. Vgl. insbes. Putnam (2006) 405–411. Vgl. auch Hor. epist. 1, 17, 10; 1, 18, 103; siehe dazu Putnam (2006) 409f.
340 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
legungen einschlägig sind, hat zu mehreren Erkenntnissen geführt: Zum einen sind die Elemente, die zur bloßen Beschreibung und Veranschaulichung des Todes gehören, keiner spezifischen Philosophie zuzuordnen, sondern vielmehr sowohl einer mythologischen Konvention als auch einer poetischen Gattungs‐ tradition geschuldet. Zum anderen ist das in den ausgewählten Oden jeweils ge‐ schilderte Todesszenario stets mit moralphilosophischen Gedanken verbunden, die weitgehend identisch mit epikureischen Philosophemen sind: Dazu zählen vor allem die Erinnerung an die eingeschränkte Macht des Menschen (carm. 1, 24; 2, 3; 2, 14), die Aufforderung zum unmittelbaren Lebensgenuss (carm. 2, 3; 2, 14; 2, 16), die Betonung der eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit (carm. 1, 24; 1, 28; 2, 3; 2, 14; 2, 16; 4, 7), der Fokus auf der Gegenwart statt auf der Zukunft (carm. 2, 14; 2, 16), die Sehnsucht nach otium als Ausdruck innerer Ruhe und Ausgewogenheit (carm. 2, 3; 2, 16), die Warnung vor einer Überbewertung von materiellem Reichtum und politischer Macht (carm. 2, 3; 2, 14; 2, 16; 4, 7), die Ausrichtung auf das Ideal eines schlichten und sorgenfreien Lebens (carm. 2, 16), die Bedeutung von Freundschaft und Verbundenheit (carm. 1, 24; 1, 28) sowie der Hinweis auf das gemeinsame und unausweichliche Lebensende aller Menschen (carm. 1, 24; 1, 28; 2, 3; 2, 14; 4, 7). Im Übrigen sind bei den behandelten Oden gerade die Lukrez-Reminiszenzen ein wichtiger (aber bei weitem nicht der einzige) Indikator für den Nachweis epikureischer ‚Spuren‘, ohne dass ein dogmatisch-orthodoxes Lehrgut wie im lukrezischen Lehrgedicht transportiert wird. Doch auch intratextuell treten im Gesamtwerk des Horaz immer wieder dieselben Motive und Überlegungen in veränderbaren Kontexten auf und zeichnen ein relativ einheitliches Bild seiner moralphilosophischen Gesamtausrichtung. Weder die Inszenierung der Götter noch die Darstellung des Todes lässt für sich allein genommen ein philosophi‐ sches Konzept erkennen, das sich in einer abgrenzbaren Schultradition klassifi‐ zieren ließe. Das Zusammenspiel aller moralphilosophischen Überlegungen des Ich-Sprechers ist für die Gesamtaussage in der einzelnen Ode relevant, wobei der ‚theologischen‘ und der ‚thanatologischen‘ Dimension nicht nur in den ausgewählten Horaz-Gedichten eine wichtige Funktion zukommt. 4.2.3 Ergebnisse über die Gestaltung und Funktion theologischer und thanatologischer Aspekte im Werk des Horaz Nach diesen exemplarischen und keinesfalls vollständigen Textbetrachtungen, in denen Götter- und Todesvorstellungen einen entscheidenden Bestandteil der jeweiligen Ode bilden und epikureisches Gedankengut zumindest auf den ersten Blick besonders einschlägig zu sein scheint, können zusammengefasst also fol‐
4.2 (Epikureische) Theologie und Thanatologie im Werk des Horaz
341
gende Ergebnisse festgehalten werden: Zunächst einmal gilt es, die ebenso banal anmutende wie für diese Forschungsarbeit bedeutsame Beobachtung Griffins zu bestätigen, dass die Götter ähnlich wie bei den horazischen Vorbildern der griechischen Lyrik insgesamt gesehen einen ganz wesentlichen Part einnehmen und in den Oden sehr häufig genannt oder sogar angerufen werden.314 Diese unbestreitbare und für alle Leser offen liegende Tatsache darf jedoch nicht als Indiz oder Beleg für eine bestimmte philosophische Überzeugung des Dich‐ ters verstanden werden, sondern als konventionelles Momentum römischer Dichtung innerhalb einer gemeinsamen mythologischen Tradition und einer römischen Staatsreligion. Natürlich kann diese Erkenntnis nicht über den stark philosophischen Inhalt der horazischen Oden hinwegtäuschen, der trotz Gattungskonventionen, Mo‐ tivtraditionen und intertextueller Anleihen als wesentliches Charakteristikum dieser Texte anzusehen ist. Auch wenn eine deckungsgleiche Übernahme eines philosophiespezifischen Götter- oder Todesmodells – von welcher philosophi‐ schen Herkunft auch immer – in der Praxis horazischer Lyrik niemals vor‐ kommt, lassen sich in einigen der hier betrachteten Oden Übereinstimmungen mit der epikureischen Theologie bzw. Thanatologie beobachten. Eine ausgeprägte Nähe zur epikureischen Theologie, die nicht nur als er‐ lerntes und akzeptiertes Göttermodell vorgeführt (sat. 1, 5), sondern auch in seiner Legitimität auch problematisiert wird (carm. 1, 34), kann für das horazische Werk nicht bestritten werden. Gerade in carm. 3, 1 und 3, 29 vollzieht das von Horaz jeweils inszenierte lyrische Ich stets aufs Neue bemerkenswerte Variationen bei der Formulierung seiner Gedanken, ohne von den Kernaussagen seines philosophischen Weltbilds wie dem horaztypischen carpe diem auch nur im Ansatz abzurücken.315 Die besondere Leistung, die Horaz bei der Inszenierung des Ich-Sprechers in den einzelnen Oden vollbringt, ist dabei die Vereinigung von Motivtraditionen aus Mythologie und griechischer Dichtung mit philoso‐ phischen Inhalten, die zu einem beträchtlichen Teil – aber nicht ausschließlich – von epikureischem Gedankengut beeinflusst sind. Abgesehen von der jeweiligen Sprecher-persona, die in allen Oden die zen‐ trale Figur darstellt, kommt in theologischer Hinsicht der prudens deus aus carm. 3, 29 dem epikureischen Götterideal am nächsten: Ohne ein großes fürsorgliches Interesse an den Ängsten und Sorgen der Menschen zu zeigen, scheint er sich in 314 315
Vgl. Griffin (2007) 189; 193. Vgl. Griffin (2007) 193f.: „Again, Horace feels no obligation, and little inclination, to consistency; […]. His religion is, in a way, a thin subject; he was hardly what we think of as a religious man. But he could combine it most skillfully with the other colours on his palette, and he could achieve with it the most marvellous effects“.
342 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
der Rolle des fernen Betrachters über seinen Erkenntnisvorsprung gegenüber den Menschen zu amüsieren. Seine Bezeichnung als prudens unterstreicht trotzdem seine Vorbildfunktion für die allzu sorgengeplagten Menschen. Darüber hinaus gelingt es Horaz, das allgemein verbreitete und in der römischen Religion etablierte mythologische Götterpersonal durchgehend zu integrieren, ohne daraus ein pauschales Urteil über eine bestimmte philosophi‐ sche Zugehörigkeit seiner sprechenden Ich-personae zuzulassen. Das bedeutet vor allem, dass die konventionelle Erwähnung der olympischen Götter eine mögliche epikureische Tendenz einer Ode nicht von vornherein ausschließt, zumal die Existenz von Göttern zwar durchaus einen sehr unterschiedlichen Stellenwert in der hellenistischen Philosophie hat, aber von keiner Schule kategorisch abgelehnt wird. Auch über die horazische Thematisierung des Todes lassen sich einige grund‐ legende Aussagen treffen: Ebenso wie die Theologie tritt der durchgängige Topos der Unvermeidlichkeit des Todes stets in Kombination mit anderen Philosophemen auf, die der Kepos-Lehre besonders nahekommen (z. B. carm. 2, 16: Streben nach otium, Ideal des bescheidenen Lebensstils). Zwar kann der mehrfach konstatierte Eindruck, dass das Ausmaß der horazischen Aus‐ einandersetzung mit der Todesthematik316 nicht wirklich kompatibel mit dem epikureischen Diktum ὁ θάνατος οὐδὲν πρὸς ἡμᾶς zu sein scheint,317 nicht völlig von der Hand gewiesen werden; tatsächlich aber handeln die von Horaz eingesetzten Sprecher-personae im Umgang mit dem Tod gar nicht so im Wi‐ derspruch zur epikureischen Tradition, wie man es durch den bloßen Vergleich von epikureischer Strenge und horazischer Emotionalität auf den ersten Blick vermuten könnte. Von den vor allem unter thanatologischen Gesichtspunkten betrachteten Oden weisen carm. 2, 3, carm. 2, 16 und carm. 4, 7 das größte (intertextuelle) Verbindung zu epikureischem Gedankengut auf, wie es in Epikurs Lehrsätzen und im lukrezischen Lehrgedicht vermittelt wird. In allen drei Oden inszeniert sich die horazische Sprecher-persona selbst in Abgrenzung zu ihren Adressaten (carm. 2, 3: Dellius; carm. 2, 16: Grosphus; carm. 4, 7: Torquatus), die sie zu be‐ lehren bzw. zur Reflexion über die eigene Lebenshaltung zu bewegen versucht,
316
317
Allein in den Oden wird der Tod sogar mehrfach personifiziert: zur pallida Mors (Hor. carm. 1, 4, 13); zum miserans Orcus (Hor. carm. 2, 3, 24); zum rapax Orcus (Hor. carm. 2, 18, 30); zum schonungslosen Jäger flüchtiger Kriegsteilnehmer (Hor. carm. 3, 2, 14); siehe darüber hinaus auch Hor. sat. 2, 1, 58. Vgl. v. a. Lebek (1981) 2033: „Ein wichtiger in diesen Kontext gehörender Punkt ist, dass Horaz sich nicht zu einem der entscheidenden Grundsätze der tetrapharmakos bekennt, nämlich dass der Tod für den Menschen gleichgültig ist“.
4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge
343
als lebenserfahrener sapiens, der dabei vor allem auf epikuraffines Gedankengut zurückgreift. Obwohl die darin entworfenen Vorstellungen vom Tod und dem angemessenen Umgang damit keinesfalls spezifisch epikureisch, sondern auf mythologische Konventionen zurückzuführen sind, beeinträchtigen sie die epi‐ kureische Tendenz der moralphilosophischen Haltung, die die Sprecher-persona jeweils erkennen lässt, nicht. Für die Beurteilung der Götter- und Todesthematik bei Horaz darf überdies die Berücksichtigung von Gattungskonventionen nicht zu kurz kommen. Ge‐ rade am Beispiel von Ode 1, 28 war zu erkennen, dass einige Äußerungen des Ich-Sprechers, die vermeintlich rein philosophische Überlegungen darstellen, traditionellen Topoi und Motiven der Elegie und des Grabepigramms – in jedem Falle also spezifischen Textgattungen – geschuldet sind, die immer wieder Eingang ins Werk des Horaz gefunden haben. Auch ein bukolisches Ambiente kann, wie insbesondere in carm. 3, 29 zu sehen war, ein möglicher Indikator für die Rezeption epikureischen Gedankenguts sein, muss es aber nicht (carm. 1, 17). Horaz eröffnet seinem Publikum ein Verständnisangebot auf mehreren Ebenen. Die Oden sind in ihrem ethischen Gehalt schlüssig im Sinne der Systemreferenz nach den Gattungskonventionen zu rezipieren. Der Bezug zu philosophischen Prätexten wird selten explizit vom Autor hergestellt; Schlüs‐ selbegriffe oder motivische Parallelen weisen immerhin auf thematische und inhaltliche Übereinstimmungen mit philosophischen Prätexten hin. Dabei kann eine Spannung zu Gattungskonventionen auftreten (gerade bei Gottes- und Todesvorstellungen), die als Kommunikativität inszeniert sein kann (carm. 1, 34), aber wesentlich öfter unmarkiert bleibt. Auch hier zeigt sich, dass die Dichter-persona die epikureische Grundtendenz ihrer ethischen Überzeugung beibehält, aber nicht markieren will, sondern vielmehr in ihrer Allgemeingül‐ tigkeit vermittelt.
4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge Eine derart trennscharfe Betrachtung der Götter- und Todesthematik, die jeweils zu einem beträchtlichen Teil mit epikureischen Elementen versehen ist, erfolgt hier nur aus Gründen einer übersichtlichen Strukturierung und soll lediglich die thematische Nähe einzelner Horaz-Oden durch eine ähnliche Fokussierung aufzeigen, ohne eine festgelegte oder alternativlose Anordnung der Horaz-Oden zu suggerieren. Dass philosophisch beeinflusste Götter- und Todesmotive sehr wohl und sogar in den meisten Fällen kombiniert in Erscheinung treten und
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geradezu untrennbar miteinander verwoben sind, lässt sich allerdings nicht nur bei der Lektüre der in diesem Kapitel bisher ausgewählten Horaz-Oden nachprüfen, sondern in einer sehr anschaulichen Weise auch in den Eklogen Vergils, die zu diesem Themenkomplex als letztes Beispiel herangezogen werden sollen. Im Speziellen soll hierzu die fünfte Ekloge Vergils untersucht werden, in der es um einen freundschaftlichen Dichter- bzw. Gesangswettstreit zwischen den beiden Hirten Mopsus und Menalcas geht.318 Die Vermutung einer – zumin‐ dest zum Teil auch – epikureischen Tendenz dieser Ekloge (insbesondere des Menalcas-Liedes) ergibt sich vor allem aus dem Gedanken an die Überwindung des Todes und an die alacris voluptas (V. 58), die otia (V. 61) und die laetitia (V. 62), die als von der Daphnis-Apotheose ausgehende Effekte in der bukolischen Lebenswelt zurückbleiben und dort als neue, allgewaltige Prinzipien wirken.319 Bevor die einzelnen Beiträge der beiden Hirten näher analysiert werden können, in denen die deutlich epikureisch aufgeladene Götter- und Todes‐ vorstellung einen Höhepunkt der römischen Bukolik bildet, muss man sich zumindest die grobe Struktur des Gedichts deutlich machen:320 V. 1–19: Vorbereitung zum Wechselgesang; Gespräch zwischen Menalcas und Mopsus; V. 20–44: Lied des Mopsus: Totenklage (Threnos) für Daphnis; V. 45–55: Zwischengespräch: Lob des Menalcas für Vortrag des Mopsus und Ankün‐ digung eines weiterführenden Liedes; V. 56–80: Lied des Menalcas: Vergöttlichung (Apotheose) des Daphnis; V. 81–90: Abschlussgespräch und Austausch von Geschenken.
Beide Viehhüter besingen Daphnis, den Archegeten321 des Hirtengesangs und die bukolische Verkörperung von Schönheit, der auch in einigen anderen Eklogen erwähnt wird und bei Theokrit sogar auch schon als bukolischer Sänger bzw. Dialogpartner aufgetreten ist.322 Dies tun sie aber auf ganz verschiedene Weise: Während Mopsus, der von Menalcas ob seiner Musikalität in höchsten
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Während Mopsus nur noch in der achten Ekloge erwähnt wird, tritt Menalcas zusätzlich noch in der zweiten, dritten, neunten und zehnten Ekloge auf. Vgl. u. a. Kronenberg (2016) 35; Gale (2013) 282, Anm. 12; Davis (2012a) insbes. 89–97; Mizera (1982) 369, Anm. 11; Castelli (1967) 35; Alfonsi (1959) 172 f.; zu den Wirkungen des Daphnis, die in beiden Gesängen geschildert werden, siehe auch Alpers (1986) 47f. Vgl. dazu u. a. Albrecht (22007) 26; eine detailliertere Aufgliederung findet sich bei Albrecht (22015) 141–143. Vgl. u. a. Schierl (2020) 268; 273. Vgl. Theokr. 6; 9; 27; Verg. ecl. 2, 26; 7, 1; 9, 46.
4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge
345
Tönen gelobt wird, einen Trauergesang (θρῆνος) vorträgt, singt Menalcas im Anschluss daran von der Apotheose des Daphnis. Mit Daphnis steht in den beiden Hirtengesängen eine Figur im Mittelpunkt, die bereits aus der Bukolik Theokrits bekannt ist und in mehrfacher Hinsicht ein zentrales Verbindungsglied zu den Eklogen Vergils bildet: Bei beiden Autoren wird unter diesem Namen ein überragender und höchst angesehener Sänger inszeniert, der sich gerne an poetisch-musikalischen Wettkämpfen beteiligt;323 bei Vergil tritt Daphnis allerdings auch einmal als Hirte und Zuhörer bzw. Richter auf, als er Meliboeus zum Wettgesang zwischen Corydon und Thyrsis herbeiruft.324 Auch als Liebender bzw. Geliebter tritt er bei beiden Dichtern in Erscheinung und fungiert schließlich, wie auch in der fünften Ekloge Vergils, als Themenfigur eines pastoralen Gesangs(wettstreits).325 Für Vergils fünfte Ekloge stellen sich insbesondere die Theokrit-Idylle 1 und 7 als relevante Motivvorlagen heraus, wie etwa das detailliert und in tabellarischer Form angelegte Stellenverzeichnis von Sebastian Posch und der Studienkom‐ mentar Michael von Albrechts erkennen lassen.326 Analog zur Figurenentwick‐ lung des Daphnis von Theokrit zu Vergil lässt sich nämlich konstatieren, dass die bei Theokrit mehrfach thematisierten „Leiden des Daphnis“ (τὰ Δάφνιδος ἄλγεα)327 in Vergils fünfter Ekloge zur Totenklage weiterentwickelt (Lied des Mopsus) und – in Erwiderung darauf – zur Apotheose (Lied des Menalcas) sublimiert werden.328 In diesem Zusammenhang kann man Vergils fünfte Ekloge durchaus als eine Art ‚Fortsetzung‘ speziell zu Theokrits Eröffnungsidyll verstehen: Statt der Liebesleiden, die bei Theokrit noch sehr dominant sind, bei Vergil aber gänzlich fehlen, nehmen die römischen Eklogen ‚nur‘ die Auswirkungen des Todes auf die Umwelt in den Blick. Theokrit führt im Thyrsis-Gesang (Theokr. 1, 64–145) den Liebestod des Daphnis als Thema der Hirtendichtung ein. In Theokrits Eröffnungsidyll wird Daphnis einerseits besucht und beklagt, andererseits von 323 324 325
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Vgl. Theokr. 6; 8; 9; Verg. ecl. 2, 26 f. (Corydon scheut voller Selbstbewusstsein nicht den Vergleich mit Daphnis); ecl. 3, 12–15 (Neid des Menalcas auf Erfolge des Daphnis); aktuell dazu siehe v. a. Kronenberg (2016) 31–33. Vgl. Verg. ecl. 7, 1–20; aktuell dazu siehe v. a. Kronenberg (2016) 42f. Zur Rolle als Liebender bzw. Geliebter siehe u. a. Theokr. 27 und Verg. ecl. 8, 64–109; siehe dazu v. a. Kronenberg (2016) 43–47; zu Daphnis als Liedthema siehe Theokr. 1, 19; 5, 20; 7, 73–77; Verg. ecl. 5, 20–80; 9, 44–50; zur letzten Textstelle siehe aktuell v. a. Kronenberg (2016) 47–50. Vgl. Albrecht (22015) 141–152; Posch (1969) 20 f.; siehe u. a. auch Schierl (2020) 273; Albrecht (22007) 40; Coleman (1998) 171 f.; Clausen (1994) 152–154. Theokr. 1, 19; 5, 20; die tragische Geschichte von Daphnis ist auch ein führendes Thema im Gesang des Tityros in Theokr. 7, 73–77. Ähnlich dazu Coleman (1998) 28; Davis (2012a) 88.
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den Göttern aber auch teilweise recht spöttisch behandelt (V. 85–91: Priapos; V. 95–98: Aphrodite); danach erst singt er selbst, wobei er zunächst auf Aphrodites Spott schlagfertig reagiert (V. 100–114) und dann seinen Liebeskummer und seinen nahenden Liebestod beklagt (V. 115–137). Vergils Hirten greifen dieses Thema zwar auf, stellen jedoch nicht Eros bzw. Amor, sondern die Todesthematik in den Vordergrund.329 Der Tod ist bei Vergil nicht das Ende allen Daseins, sondern Ausgangspunkt und Quelle für eine neue Lebenskultur.330 Die göttliche Dimension, die bei Theokrit noch allein durch den erweiterten olympischen Götterkreis mit direkten Nachkommen bestimmt war (Hermes, Priapos, Aphrodite, Pan, Musen), erstreckt sich in Vergils fünfter Ekloge dagegen ausschließlich auf Daphnis als neu aufgenommenen Gott der bukolischen Welt. Doch natürlich reichen der intertextuelle ‚Dialog‘ und damit auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Theokrit und Vergil noch we‐ sentlich weiter: In formaler Hinsicht gleicht der Wechselgesang mit nahezu gleichlangen Sprechanteilen in Vergils fünfter Ekloge der Anordnung der Hirtenlieder in Theokr. 6, 7 und 9; zudem ist mit den Vergil-Versen 45–52 ebenso eine Zwischenrede im Gesangswettstreit eingebaut wie in Theokrits Thalusia-Idyll (Theokr. 7, 90–95). Was verwandte Motive angeht, ist vor allem der jeweilige Umgang der Hirten bzw. Sänger untereinander interessant: Wäh‐ rend ihr Verhalten etwa in Theokrits fünftem Idyll von Spott, Provokation und Streitsucht geprägt ist, zeigen sich die Hirten in Vergils fünfter Ekloge vielmehr höflich und rücksichtsvoll und tauschen sogar Komplimente (V. 1–7; 16–19; 45–49; 53–55) – wie auch in Theokr. 1, 2–11; 7, 27–29; – sowie Geschenke (V. 81–90) – wie auch in Theokr. 3, 34–36; 7, 43 f.; 128 f.; 9, 22–27 – als Zeichen des gegenseitigen Respekts aus.331 Besonders erwähnenswert ist auch die geschickte Balance zwischen bescheidenem und selbstbewusstem Auftreten, die Menalcas (Verg. ecl. 5, 45–52) bzw. Simichidas (Theokr. 7, 37–41; 92 f.) an den Tag legen. Was das Ausmaß der Trauer betrifft, geht Vergil allerdings über Theokrit hinaus:332 So fehlen bei der Trauergemeinde im Eröffnungsidyll beispielsweise die Nymphen (Theokr. 1, 66–69), die bei Vergil im Mopsus-Gesang neben der weinenden Mutter ausdrücklich genannt werden (Verg. ecl. 5, 20–23). 329 330 331 332
Vgl. Albrecht (22015) 147: „Vergil hat die erotische Motivation des Todes hier ausge‐ schieden (anders in der zehnten Ekloge)“. Vgl. hierzu Albrecht (22015) 151f. Vgl. u. a. Karakasis (2011) 179 f.; Posch (1969) 104–107. In diesem Rahmen wird der Gesang des befreundeten ‚Gegners‘ bei beiden Dichtern mitunter mit Naturklängen verglichen; vgl. Theokr. 1, 1 f.; 7 f.; 146–148; 7, 39–41; Verg. ecl. 5, 45–47; 81–84. Zum Vergleich von Verg. ecl. 5, 20–28 mit Theokr. 1, 64–75 siehe auch Alpers (1986) 54–56.
4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge
347
Auch wenn bei Theokrit eine Vielzahl an Wald- und Wiesentieren aufgezählt wird, die um Daphnis trauern (Theokr. 1, 71 f.; 74 f.), wirkt die Totenklage im Mopsus-Gesang gesteigert, da nicht einfach eine vergleichbare Menge an Tieren als Trauergemeinde erwähnt wird (Verg. ecl. 5, 24–27), sondern zum einen sogar die Natur als Resonanzraum dieser Klagen zur Geltung kommt (Verg. ecl. 5, 28) und zum anderen die Verdienste des Daphnis deutlich machen, wie viele Bewohner der bukolischen Welt tatsächlich um ihn trauern werden, da sie ihm so viel zu verdanken haben (Verg. ecl. 5, 29–35).333 Der entscheidende Unterschied liegt aber natürlich in dem weitgehend „un‐ theokritischen Menalcas-Lied[es]“334: Eine Daphnis-Apotheose ist in Theokrits Eröffnungsidyll und auch sonst nicht vorhanden, sodass der stimmungsauf‐ hellende Wechsel von Totenklage zu Verklärung und Freude durchaus als innovativer Kunstgriff Vergils angesehen werden kann.335 Schließlich bietet Vergils Menalcas-Gesang eine versöhnliche Antwort auf die letzten Bitten des sterbenden Daphnis in Theokr. 1, 115–136: Die Veränderung der Natur wird im von Vergil hinzugefügten Apotheosen-Lied real und die düstere Todesstimmung auf diese Weise überwunden.336 Neben Theokrits Eröffnungsidyll stellt allerdings auch Vergils erste Ekloge einen wichtigen intertextuellen Anknüpfungspunkt dar, denn schon vor den beiden Liedern, die den Hauptteil der fünften Ekloge bilden, gibt es zwei interessante Details zu beobachten: Mopsus spricht von incertae umbrae, die einen deutlichen Gegensatz zur Konnotation der umbra in Ekloge 1 bildet, und er zieht es vor, in das sichere, weil vom Wind geschützte antrum zu gehen. Noch bevor sie sich auf den Weg dorthin machen, garantiert Menalcas seinem offenbar besorgten Kollegen, dass ein gewisser Tityrus, mit dem er oder sogar beide befreundet sind und der offensichtlich ebenfalls anwesend ist, in der Zwischenzeit auf die Herde des Mopsus aufpassen werde. Mit den umgedeuteten umbrae und der Erwähnung des Tityrus ist also bereits ein intertextueller Bezug zur Eröffnungsekloge gegeben.
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Die deutlichen Unterschiede zu Theokr. 1, 72 betont neben Casanova-Robin (2014) 133 und Lipka (2001) 44 vor allem Lee (1989) 91 f. („something of a reversal of Theocritus“); siehe dazu auch Albrecht (22007) 40. Albrecht (22015) 146; ähnlich schon in Albrecht (22007) 40: „Mopsus ist in seiner Theokrit-Nachfolge strenger als Menalcas“. Mit der Daphnis-Apotheose ist allenfalls die Teiresias-Prophezeiung in Theokr. 24, 73–102 vergleichbar (Motiv und Stimmungsentwicklung), wie Albrecht (22015) 147 richtig bemerkt hat. Vgl. v. a. Kronenberg (2016) 34; Albrecht (22015) 152, der Vergils Ekloge vor diesem Hin‐ tergrund als „Todes- und Himmelfahrtgedicht“ bezeichnet, ähnlich schon in Albrecht (22007) 40; Davis (2012a) 93–97.
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Nun gilt es, die beiden Lieder in Vergils fünfter Ekloge gesondert zu betrachten, um den Kontrast zwischen ihnen hinsichtlich Grundcharakter, Aufbau, Gat‐ tungstradition und Gesamtwirkung in der Ekloge nachvollziehen zu können und neben der Funktion des Menalcas-Liedes als innovatives Vergil-Addendum schließlich auch seinem eventuell philosophischen Unterton auf die Spur zu kommen. Nachdem die beiden Hirtensänger in der Grotte angekommen sind, beginnt sogleich Mopsus mit seinem Lied, das eine Mischung aus Totenklage und Grabepigramm darstellt (V. 20–44). Wie schon im voranstehenden Vergleich mit Theokrits Eröffnungsidyll besprochen, veranschaulicht der vergilische Mopsus das Ausmaß der Weh‐ klage an der Vielzahl und Vielartigkeit der Trauernden (Nymphen, Mutter, Hirten, zahme und wilde Tiere). Bei der Aufzählung seiner Lebensleistungen (die sog. ἀρεταί des Toten) sticht insbesondere sein Verdienst um die innova‐ tive Ausgestaltung des Bacchus-Kults hervor. Als Folgeerscheinungen seines Todes werden der Rückzug von Göttern (u. a. Apoll) und der Rückgang bzw. das Ausbleiben verwendbarer Feldfrüchte genannt. Mopsus schließt seinen Gesang mit der Bitte um eine angemessene Bestattung des Daphnis samt rühmender Grabinschrift.337 Das Lied des Mopsus folgt somit ganz der Tradition antiker Totenklage und hebt die über das irdische Leben hinausgehende Verbindung des Verstorbenen zu den Göttern hervor. Mit diesen Versen entlockt er auch dem Menalcas unein‐ geschränktes Lob, das dieser mit epikureisch ‚gefärbten‘ Worten zum Ausdruck bringt (V. 45–47: sopor in gramine; dulcis aquae saliente sitim restinguere rivo).338 Obwohl die an Mopsus gerichtete Anrede fortunate puer (V. 49) auffallend an die Bewunderung des Tityrus durch Meliboeus in der ersten Ekloge erinnert und Mopsus vor diesem Hintergrund in die verdiente Nachfolge seines verstorbenen Lehrmeisters stellt, scheint ihn Menalcas voller Selbstvertrauen sogar noch über‐ treffen und Daphnis gar in göttliche Sphären heben zu wollen (V. 51 f.).339 Menalcas erhebt damit auch selbst Anspruch auf die Nachfolge des Daphnis, wenn er nicht zuletzt betont: […] amavit nos quoque Daphnis (V. 52). Im Gegensatz zu Mopsus, der in seinem Gesang zwar mit dem lobenden Hinweis auf die bleibende Lebensleis‐ tung des Daphnis (V. 29–34a) und auf seinen unvergänglichen Ruhm als begabter Sänger von schöner Gestalt (V. 43 f.) auch gewisse Trostmotive berücksichtigt zu
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Zu ecl. 5, 43 f. vgl. Theokr. 1, 120f. Vgl. Verg. ecl. 1,1f.; 55; Cic. fin. 2, 9; zum bukolischen Lagerungsmotiv in epikureischem Kontext siehe Lucr. 5, 1392f.: saepe itaque inter se prostati in gramine molli / propter aquae rivum sub ramis arboris altae; ferner erinnert die Wortwahl Vergils auch an die Honig-Metapher in Lucr. 4, 11–17; siehe dazu auch Buchheit (1986) 134. Vgl. u. a. Schierl (2020) 274.
4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge
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haben scheint, aber dennoch vom irreversiblen Tod des Daphnis ausgeht, besteht das strategische Ansinnen des Menalcas mit seinem hymnenartigen Vortrag allerdings darin, den Tod des Daphnis zu entwerten, ja sogar aufzuheben.340 Infolge dieser verheißungsvollen Ankündigung erklingt sogleich das Lied des Menalcas, das die Apotheose des Daphnis zum Thema hat, zahlreiche Lukrez-Anspielungen aufweist und gerade durch diese sprachlichen, inhaltli‐ chen und motivischen Bezüge geprägt ist, wie schon zahlreiche Forscherinnen und Forscher gezeigt haben.341 Der Beginn lautet folgendermaßen: Me. Candidus insuetum miratur limen Olympi sub pedibusque videt nubes et sidera Daphnis. ergo alacris silvas et cetera rura voluptas Panaque pastoresque tenet Dryadasque puellas. nec lupus insidias pecori, nec retia cervis ulla dolum meditantur: amat bonus otia Daphnis. (Verg. ecl. 5, 56–61)
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Durch sein Betreten göttlicher Sphären wird Daphnis auch zum Betrachter des Alls bzw. der unter ihm liegenden Himmelsphänomene. Wie etwa Lipka festge‐ stellt hat, ist es naheliegend, diesen Perspektivenwechsel als motivische Über‐ nahme aus Lucr. 3, 18–27 zu begreifen, wo der Lehrdichter schildert, wie sich die wahre Vorstellung von den Göttern nach der Verbreitung und Aneignung von Epikurs Lehre auch für die übrigen Menschen erhellt:342 Der ungehinderte Blick nach unten (sub pedibus) ist aus dieser Position genauso möglich wie für den zum Gott erhobenen Daphnis zu Beginn des Menalcas-Liedes.343 Ebenso wie sich bei Lukrez das Gefühl der divina voluptas infolge der geistigen Erleuchtung durch Epikurs Lehre einstellt (Lucr. 3, 28–30), löst auch die Vergöttlichung des Daphnis in den Wäldern und auf dem Land bei den Bewohnern allenthalben voluptas aus (Verg. ecl. 5, 58 f.).344 Diese Verbindung aus erhöhtem Blickwinkel 340 341 342 343 344
Vgl. Davis (2012) 88. Vgl. u. a. Kronenberg (2016) 33–42; Scholl (2014) 455 f.; Davis (2012a) 91 f.; Saunders (2008) 23–26; Rundin (2003) 171 f.; Lipka (2001) 67 f.; 73; Giesecke (2000) 48–53; Mizera (1982) 367–371; Buchheit (1977) 211–219; Castelli (1967) 31–39. Vgl. Kronenberg (2016) 35; Gale (2013) 280; Lipka (2001) 73; Giesecke (2000) 51–53; Clausen (1994) 167; Mizera (1982) 368; Castelli (1967) 37f. Vgl. Lucr. 3, 27; Verg. ecl. 5, 57. Das berühmteste Beispiel für das Motiv der Erhöhung bzw. des Herabblickens auf die Erde ist allerdings im platonischen Kontext angelegt: im Somnium Scipionis (Cic. rep. 6, 9–29) bzw. im Er-Mythos (Plat. rep. 614 b–621 b). Vgl. dazu auch Mizera (1982) 368. Außerdem bemerkt Lipka (2001) 73 zu ecl. 5, 56f.: „These two lines are somehow a fusion of Lucr. 3, 18–27 where the view from Mt. Olympus is described. […] The general idea (view from Mt. Olympus), the perspective
350 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
in göttlichen Sphären und der sicht- bzw. spürbaren Wirkmächtigkeit des Daphnis einerseits (Vergil) und dem philosophischen Erbe Epikurs mit ähnli‐ chen Effekten andererseits (Lukrez) legt die Vermutung nahe, dass mit der deutlichen Lukrez-Reminiszenz auch eine philosophische Dimension in Vergils Ekloge integriert wird und so (geeignete) Begriffskonzepte der epikureischen Lehre an gattungsspezifische Merkmale der bukolischen Lebenswelt angenähert bzw. angepasst werden.345 Gleichermaßen verhält es sich mit den von Daphnis so geliebten otia (V. 61), die ebenso wie die voluptas sämtliche Wald- und Landbewohner erfassen.346 Zu Recht ist man davon ausgegangen, dass die von Vergil verwendete Pluralform otia eine weitere Anspielung auf eine Lukrez-Stelle darstellen könnte:347 In Lucr. 5, 1379–1387 wird geradezu die bukolische Idealvorstellung einer Hirtenwelt entworfen, die von otia dia geprägt ist. Zudem ist Lukrez ohne Zweifel als Pionier anzusehen, was die Übertragung des pastoralen otium-Begriffs auf das epikureische Lebensideal angeht.348 Mit der Entlehnung zahlreicher lukrezischer Begriffe und Motive importiert Vergil unweigerlich auch die philosophische Dimension des lukrezischen Lehrgedichts, sodass eine epikureische ‚Färbung‘ der Daphnis-Apotheose aufgrund der Dichte an Lukrez-Reminiszenzen gewis‐ sermaßen automatisch erfolgt und gerade Vergils fünfte Ekloge in die Tradition des lukrezisch-epikureischen Lebensideals gestellt wird.349 Die unüberhörbaren Anklänge lukrezischer Lehrdichtung setzen sich auch in den folgenden Versen der Daphnis-Apotheose fort:
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(standing above and looking down) and the vocabulary (sub pedibus at the same position in the line) prove that Vergil is here indebted to Lucretius“. Vgl. Kronenberg (2016) 35: „Since voluptas is the prime force motivating humans and animals in the Lucretian universe, this choice of word gives an added Epicurean flavor to the pleasure now seizing the pastoral world“; siehe dazu u. a. auch Gale (2013) 282, Anm. 12; Davis (2012a) 89 f.; bereits Alfonsi (1959) 172f. Vgl. Verg. ecl. 1, 6: […] deus nobis haec otia fecit; siehe dazu auch Casanova-Robin (2014) 131. Vgl. u. a. Kronenberg (2016) 35; Gale (2013) 282, Anm. 12; Mizera (1982) 369, Anm. 11; Castelli (1967) 35. Vgl. Lucr. 2, 20–36; 4, 580–594; siehe dazu auch Kronenberg (2016) 26. Vgl. Kronenberg (2016) 27: „Vergil’s Lucretian Daphnis, then, makes clear that Vergilian pastoral is indebted not just to Theocritus but to Lucretius’ Epicurean-tinged version of pastoral life“; ähnlich dazu Hubbard (1995) 19, Anm. 17: „The concept of voluptas (cf. Lucr. 3.28, same metrical position as in Vergil) and otium (cf. Lucr. 3.18–24), which Vergil foregrounds as the benefactions of Daphnis, are of course the cardinal Epicurean virtues“.
4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge
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ipsi laetitia voces ad sidera iactant intonsi montes; ipsae iam carmina rupes, ipsa sonant arbusta: ‘deus, deus ille, Menalca!’ (Verg. ecl. 5, 62–64)
An dieser Stelle wird der emphatische Höhepunkt der Daphnis-Rühmung erreicht: Die bisher unbelebten Berge (montes), Felsen (rupes) und Sträucher (arbusta) erwachen als Personifizierungen zum Leben und bejubeln, erfüllt von laetitia, Daphnis als Gott (V. 62–64). Bereits in der Totenklage um Daphnis (Mopsus-Lied) wurden die Berge und Wälder als Resonanzräume für die Trauer der lautstarken Poeni leones, stellvertretend für die gesamte bukolische Welt, in Szene gesetzt (V. 27 f.). Die vergilische Formulierung montesque feri silvaeque erinnert dabei an die lukrezische Wendung montes silvaeque ferarum (Lucr. 5, 201), auch wenn der Kontext im epikureischen Lehrgedicht wiederum von philosophischer Natur ist:350 Zum Nachweis der göttlichen Distanz von der menschlichen Welt argumentiert der Dichter zunächst mit dem Atomismus, anschließend ex ipsis caeli rationibus und damit erneut aus der Himmelsper‐ spektive. Berge und Wälder sind dabei zentrale Bestandteile des menschlichen Besitzes und stehen charakteristisch für die irdische Welt, wie sie aus überhöhter Position in himmlischen bzw. göttlichen Sphären sichtbar ist. In Vergils fünfter Ekloge behalten Berge und Wälder offensichtlich diese repräsentative Funktion bei und wirken darüber hinaus nicht nur als visuelles, sondern vor allem als akustisches Medium zwischen Menschen- und Götterwelt. In dieser Funktion werden sie auch an anderer Stelle bei Lukrez eingesetzt, die ein militärisches Szenario – allerdings wiederum unter dem Dachthema des epikureischen Atomismus – enthält: Anhand eines Truppenaufmarschs mit anschließender Feldschlacht wird die epikureische Vorstellung von der Bewe‐ gung der Atome und der menschlichen Sinneswahrnehmung exemplifiziert (Lucr. 2, 323–332). Der Kriegslärm wird dabei durch sein Echo in den Bergen vom Gebirge zum Himmel getragen: […] clamoreque montes / icti reiectant voces ad sidera mundi […] (Lucr. 2, 327f.). Dieses Bild gilt gemeinhin als motivische und sprachliche Vorlage für die oben zitierten Vergil-Verse, in denen die Berge und Gefilde zum Sprachrohr der Daphnis-Preisung werden.351 Indes könnte man dafür zusätzlich auch eine andere Lukrez-Stelle in Betracht ziehen, die zwar keine wörtlichen Übereinstimmungen aufweist, aber in einem verwandten
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Vgl. dazu Lipka (2001) 73. Bei der Ausgestaltung dieses Motivs ist auch an einen möglichen Einfluss Theokrits zu denken, wie Karakasis (2011) 163 f. vorschlägt. Vgl. v. a. Coleman (1998) 167; Clausen (1994) 168; Mizera (1982) 367; 370.
352 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Kontext zu finden ist (Rühmung des vergöttlichten Epikur): cuius et extincti propter divina reperta / divolgata vetus iam ad caelum gloria fertur (Lucr. 6, 7f.). Diese intertextuelle Verknüpfung von Vergils fünfter Ekloge mit lukrezischen Parallelstellen, wie sie gerade im Menalcas-Gesang zur Geltung kommt, ist zweifellos als Fortsetzung einer römischen Tradition zu sehen, die gerade mit Lukrez begonnen hat: die erkennbar römische (Eigen-)Prägung griechischer Textgattungen durch eine entsprechende Figurenmodellierung, die sich von griechischen Vorbildern zumindest teilweise merklich unterscheidet, sowie durch das Einfügen zusätzlicher Textbestandteile.352 In diesem Rahmen erscheint Daphnis tatsächlich als Hirtenfigur, die die hellenistische Bukolik durch ihre wirkungsvolle Apotheose ‚revolutioniert‘.353 Dieser Eindruck bestätigt sich auch bei Betrachtung des folgenden emphati‐ schen Ausrufs: Der communis opinio zufolge ist der Halbvers deus, deus ille, Menalca! nämlich als motivische Entlehnung von Lucr. 5, 8 ([…] deus ille fuit, deus, inclute Memmi) zu sehen und so zu verstehen, dass Daphnis bei Vergil an die Stelle des lukrezischen Epikur zu treten scheint und nun selbst wie eine Art epikureische Gottheit inszeniert wird.354 Petra Schierl hat dazu in einem Gastvortrag an der Universität München auf eine interessante Entdeckung hingewiesen, die Vergils innovativen Geist zutage fördert:355 Im Gegensatz zu Lukrez, der bei Epikurs Apotheose dessen Tod und Vergänglichkeit betont (fuit) und ihn so gewissermaßen als sterblichen Gott erscheinen lässt, scheint Vergil eine Korrektur des lukrezischen Epikur-Modells vorzunehmen, indem er den Aspekt der menschlichen Vergänglichkeit durch einen elliptischen Ausruf unterwandert. In den letzten Jahren hat vor allem Leah Kronenberg in einem wertvollen Beitrag wesentliche Argumente gesammelt, die trotz des markanten und nicht zu vernachlässigenden Unterschieds, den Petra Schierl beobachtet hat, für eine weitgehende Gleichsetzung von Daphnis und Epikur sprechen – zumindest in
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Vgl. dazu u. a. Lipka (2001) 80; Mizera (1982) 370; Kollmann (1975) 97–112. Vgl. dazu erneut Mizera (1982) 370f.: „[…] Daphnis seems to revolutionize pastoral. He not only marks off Vergil’s art as Roman as well as Hellenistic but also lends a far greater significance to ‘Eclogue’ 5, itself the ‘centerpiece’ of the collection, than previously understood“. Vgl. v. a. Kronenberg (2016) 30; 35–38; Gale (2013) 282; Davis (2012a) 91 f.; Saunders (2008) 24; Rundin (2003) 172, Anm. 42; Lipka (2001) 67 f.; Giesecke (2000) 49–51; Buchheit (1986) 134; Mizera (1982) 367; 370; Berg (1974) 128; Castelli (1967) 38; Farrington (1958) 47. Dieser Gastvortrag wurde am 05.02.2019 im Rahmen des von Therese Fuhrer regelmäßig veranstalteten Forschungsseminars Latinistik gehalten und ist in großen Teilen auch in einem 2020 publizierten Aufsatz enthalten; siehe dazu v. a. Schierl (2020) 275.
4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge
353
ihrer Wirkung auf Menschen und ihrer Verehrung als Gottheit:356 Genauso wie Epikur nach seinem Tod von den Anhängern seiner philosophischen Lehre eine kultische, gottgleiche Verehrung zuteilwurde, erfährt nämlich auch Daphnis göttlichen Ruhm und erhält dazu mehrere Kultstätten. Der Kult um Daphnis bildet zugleich den Haupt- und Schlussteil im Lied des Menalcas: sis bonus o felixque tuis! en quattuor aras: ecce duas tibi, Daphni, duas altaria Phoebo. pocula bina novo spumantia lacte quotannis craterasque duo statuam tibi pinguis olivi, et multo in primis hilarans convivia Baccho, (ante focum, si frigus erit; si messis, in umbra) vina novum fundam calathis Ariusia nectar. cantabunt mihi Damoetas et Lyctius Aegon; saltantis Satyros imitabitur Alphesiboeus. haec tibi semper erunt, et cum sollemnia vota reddemus Nymphis, et cum lustrabimus agros. dum iuga montis aper, fluvios dum piscis amabit, dumque thymo pascentur apes, dum rore cicadae, semper honos nomenque tuum laudesque manebunt. ut Baccho Cererique, tibi sic vota quotannis agricolae facient: damnabis tu quoque votis. (Verg. ecl. 5, 65–80)
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Hier werden Daphnis in einem beinahe sympotisch-bacchantischem Rahmen, den der Menalcas-Gesang im obigen Textauszug spannt, regelrechte Opfergaben dargebracht, sodass seine Unsterblichkeit durch fortdauernde commemoratio gesichert ist. Dabei wird er sogar auf eine Stufe mit den namentlich genannten Apoll, Bacchus und Ceres gestellt.357 Auch Lukrez hat Epikurs Erbe mit den kulturstiftenden Leistungen von Ceres (Schutzgöttin des Ackerbaus bzw. der ‚festen‘ Nahrung) und Bacchus (Schutzgott des Weinbaus bzw. der ‚flüssigen‘ Nahrung) in Verbindung gebracht, wobei die Philosophie Epikurs für den Lehrdichter jedoch einen ungleich höheren Stellenwert hat als unverzichtbare vitae ratio.358 In dem bereits angesprochenen ‚Loblied‘ auf Epikur zu Beginn 356 357 358
Vgl. Kronenberg (2016) 36–38. Vgl. dazu u. a. Karakasis (2011) 159 f.; 171 f.; Buchheit (1986) 134; eine vergleichbare Verbindung von Daphnis mit anderen Göttern findet sich im Übrigen auch schon bei Theokrit (Theokr. 26, 5 f.); siehe dazu Coleman (1998) 167; Clausen (1994) 168. Vgl. Lucr. 5, 14–21. Diese Parallelstelle listet u. a. auch Mizera (1982) 369 auf, ohne näher darauf einzugehen, und verweist stattdessen auf Putnam (1970) 185 f. als Urheber dieser intertextuellen Verbindung; vgl. insbesondere auch Buchheit (1977) 216, der zu Recht
354 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
von Buch 6 sublimiert Lukrez Epikur zum größten Sohn Athens und zum Kulturstifter durch solacia dulcia und divina reperta (Lucr. 6, 4–8),359 nachdem er ihn bzw. seine Lehre von den Göttern zuvor bereits als Ursache der divina voluptas (Lucr. 3, 28) dargestellt hat, die auch den Dichter selbst erfasst hat.360 Das in diesem Zusammenhang bei Lukrez und Vergil feststellbare Phänomen, eine eigentlich sterbliche Figur mit zentraler Bedeutung für seine Um- und Nachwelt zu göttlichen Ehren kommen zu lassen, deutet Thomas K. Hubbard folgendermaßen: „On the one hand this is a species of euhemerism, explaining the evolution from human figures to divine, but on the other hand it also stands as a rationalizing demys‐ tification of the gods, showing their divinity little more than a state of mass confusion and historical oblivion concerning the human origins of human institutions.“361
In ihrem bereits erwähnten Aufsatz führt Kronenberg als zusätzliche Anhalts‐ punkte für eine bewusst analoge Darstellung des vergilischen Daphnis nach dem Vorbild des lukrezischen Epikur noch weitere motivische Übereinstimmungen an, zum Beispiel bei der Beschreibung ihres göttlichen Ruhmes als decus (Verg. ecl. 5, 34; Lucr. 3, 3), das in beiden Fällen „bis zu den Sternen“ reiche (Verg. ecl. 5, 43: ad sidera; 51f.: ad astra; Lucr. 6, 8: ad caelum); auf die naheliegende Metaphorik dieser impliziten Verstirnung von Daphnis und Epikur deute auch die jeweilige Verwendung des Attributs extinctus (Verg. ecl. 5, 20; Lucr. 6, 7).362 Als weitere Gemeinsamkeit komme schließlich hinzu, dass beide Männer in der antiken Literatur nicht nur mit Ceres und Bacchus, sondern auch mit Apoll oder zumindest mit dem (delphischen) Orakel in Verbindung gebracht werden.363 Die verschiedenen Parallelen zwischen Vergil und Lukrez dürfen jedoch nicht über die unübersehbaren Grenzen eines Interpretationsansatzes hinweg‐ täuschen, der die epikureische ‚Färbung‘ des Daphnis in der Darbietung des vergilischen Menalcas ins Zentrum stellt. Von einer absoluten Gleichsetzung
359 360 361 362 363
den Kontrast zur Lukrez-Stelle hervorhebt; siehe dazu auch Davis (2012a) 92; Hubbard (1995) 20. Schon in Lucr. 5, 21 werden dem philosophischen Wirken Epikurs dulcia solacia vitae zugesprochen; vgl. auch Davis (2012a) 92. Vgl. dazu auch Kronenberg (2016) 36; Gale (1994) 195–200. Hubbard (1995) 20. Vgl. erneut Kronenberg (2016) 36 f.; siehe dazu auch Gale (2013) 281f. Zu Epikur und Apoll siehe Gale (1994) 202–206; vgl. auch Diog. Laert. 10, 12; lediglich ein loser Vergleich mit Orakelsprüchen im Allgemeinen findet sich etwa in Cic. fin. 2, 20: ‘[…] In alio vero libro, in quo breviter comprehensis gravissimis sententiis quasi oracula edidisse sapientiae dicitur […]’; zudem in fin. 2, 102: ‘[…] Idque testamento cavebit is qui nobis quasi oraculum ediderit nihil post mortem ad nos pertinere?’. Zu Daphnis und Apoll siehe Kronenberg (2016) 37; vgl. dazu Verg. ecl. 5, 35; 66.
4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge
355
des vergilischen Daphnis und des lukrezischen Epikur ist jedenfalls Abstand zu nehmen, stattdessen müssen auch alternative Deutungsoptionen in Betracht gezogen werden.364 Zum einen ist die Diskussion um eine allegorische Deutung der Daphnis-Figur in Vergils fünfter Ekloge in einem zeithistorischen Bezugs‐ rahmen von teilweise sehr gegensätzlichen Forschungspositionen bestimmt: Während sich einige Philologinnen und Philologen für eine weitgehend ver‐ tretbare Gleichsetzung von Daphnis und dem zur Entstehungszeit der fünften Ekloge bereits zum Gott erklärten Julius Caesar aussprechen,365 schränken andere eine derart explizite Referenz auf eine bestimmte Herrscherperson ein oder lehnen sie ganz ab und stellen stattdessen Figuren aus der Philosophieund Literaturgeschichte als denkbare Referenzsubjekte zur Diskussion.366 So bietet Kronenberg sogar selbst neben ihrer Analyse der vergleichbaren philosophischen Dimension bei Vergil und Lukrez auch einen Deutungsansatz, der verstärkt den poetologischen Aspekt und damit die programmatische Lehrdichtung des Lukrez fokussiert:367 Ebenso wie Daphnis in den Menschen eine alacris voluptas auslöst, ist das lukrezische Werk, das ja als poetisches Me‐ dium epikureischer Philosophie in Rom fungiert, auch selbst in der römischen Literatur als Quelle und Garant der voluptas liquida puraque (3, 40) zu sehen, die einst von Epikur begründet worden ist. Sowohl Daphnis als auch die lukrezische Dichter-persona haben also durch ihr innovatives Wirken und Lehren ihre jeweilige – bukolische bzw. literarische – Welt nachhaltig verändert und gerade die Dichter-persona bei Lukrez hat diesen Weisungsauftrag auch mehrfach als poetologischen Selbstanspruch explizit geltend gemacht.368 Zum anderen wird eine allegorische Deutung des vergilischen Daphnis als epikureisch ‚gefärbter‘ Heilsbringer auch innerhalb der fünften Ekloge problematisiert: Wie in V. 79 f. angedeutet, werde die künftige Anbetung als 364
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Vgl. v. a. Buchheit (1977) 216–218, für den die Kontrastbezüge zwischen Vergils fünfter Ekloge und dem philosophischen Gehalt des lukrezischen Lehrgedichts schwerer zu wiegen scheinen als inhaltliche und motivische Übereinstimmungen; siehe dazu ferner Schierls Einschränkung auf S. 581. Vgl. u. a. Karakasis (2011) 168–172; 176; Otis (1963) 135. Vgl. Schierl (2020) 274, Anm. 33; Kronenberg (2016) 37 f.; 50; Scholl (2014) 481–489; Coleman (1998) 173 f.; Hubbard (1995) 21 f.; Clausen (1994) 152, Anm. 4; Du Quesnay (1976–1977) 31–34; Leach (1974) 188 f.; Putnam (1970) 188 f.; Robertson (1966–1967) 40 f. Einen recht aktuellen Überblick über diese Diskussion in der Forschungsliteratur mit entsprechenden Belegstellen und weiteren hypothetischen Referenten einer allegori‐ schen Deutung (z. B. Octavian, Catull) ist bei Kronenberg (2016) 30, Anm. 18, zu finden. Vgl. Kronenberg (2016) 38–42. Vgl. Verg. ecl. 5, 29–34a; 43 f.; Lucr. 1, 25–27; 50–57; 3, 31–40; 4, 1–44; 5, 110–113; 6, 42–95.
356 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Gott Daphnis den verdienten Ruhm auf Dauer sichern. Diese Vorstellung von einem Gott, der die menschlichen Bitten erhört und damit in das menschliche Leben eingreifen soll, widerspricht dem Grundverständnis der epikureischen Theologie. Geht man jedoch von einer engen Modellierung des Daphnis nach dem Beispiel des vergöttlichten Epikur aus, wäre ein derart ausgiebiger Kult um eine Person, die erst nach ihrem Tod – zumindest für eine bestimmte Menschengruppe – zu göttlichen Ehren gelangt, insofern legitim, als auch Epikur ein regelmäßiges ehrendes Andenken für sich selbst anordnete.369 Trotz dieser Einschränkungen erscheint die Annahme einer epikureischen ‚Färbung‘ der Daphnis-Figur, die vor allem auf der Übernahme von Motiven und (indirekten) Zitaten aus dem lukrezischen Lehrgedicht gründet, durchaus plausibel und vor dem Hintergrund des Eklogeninhalts verständlich zu sein. Die philosophische Dimension der beiden Daphnis-Gesängen erwächst nicht einfach aus der Kombination von Totenklage und ‚Wiederauferstehung‘ durch Vergöttlichung, sondern aus den in der bukolischen Lebenswelt spürbaren Effekten der Daphnis-Apotheose, die zugleich eine Art therapeutische Wirkung freisetzen:370 Dieser therapeutische Aspekt anlässlich des irdischen Todes von Daphnis kommt im Hymnus des Menalcas wesentlich deutlicher zur Geltung als in der Totenklage des Mopsus und steht über das inhaltlich transportierte Gedankengut lukrezisch-epikureischer Weltanschauung hinaus mit den Zielen epikureischer Philosophie im Einklang. Im Hinblick auf den richtigen Umgang mit dem Tod ist dessen bereits angesprochene Entwertung zur Vermeidung von seelischem Schmerz ein zentrales Anliegen epikureischer Philosophie, wie in römischer Zeit insbesondere aus Philodems fragmentarischer Schrift De morte hervorgeht.371 Somit ist die Darstellung des Daphnis als eines epikureisch ‚gefärbten‘ Gottes, der gleichsam symbolisch für das Ideal eines Hirten und bukolischen Dichters steht,372 vor dem Hintergrund konsolatorischer Absichten des Sängers Menalcas zu sehen im Rahmen einer poetisch-musikalischen aemu‐
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Vgl. Diog. Laert. 10, 16–22. Vgl. v. a. Davis (2012a) 94–96; Dönt (1981) 136; Bardon (1972) 3 f. („psychothérapie poétique“); Putnam (1970) 186: „As Epicurus refurbished man’s soul, so Daphnis’ apotheosis does away with evil and, in re-creating nature, sanctifies the new force which during his life he bestowed on the pastoral-georgic world“; zur Wirkung des vergöttlichten Daphnis siehe auch Putnam (1970) 188. Rundin (2003) 174 geht sogar noch einen Schritt weiter: „[…] we might justifiabily suspect that the Bucolics are meant to exercise an Epicurean psychotherapy on their audience and to bring peace to the strife-torn Roman world“; ähnlich schon Pöschl (1964) 26; einschränkend dazu Schmidt (1972) 146f. Vgl. dazu Davis (2012a) 95 f. Vgl. u. a. Casanova-Robin (2014) 128–132.
4.3 Tod und Apotheose des Daphnis in Vergils fünfter Ekloge
357
latio, um aus dem Schatten des Daphnis, vor allem aber aus dem Schatten, den sein Tod auf die Hinterbliebenen geworfen hat, herauszutreten und sich seines Andenkens würdig zu erweisen.373 Die Auswirkungen, die der Übertritt des vergilischen Daphnis von irdischen in göttliche Sphären nach sich zieht, scheinen sich im Übrigen auch in der Rahmenszenerie nach dem Ende des Menalcas-Gesangs niederzuschlagen, wenn Mopsus seine Freude über das Lied des Menalcas bekundet (V. 81–84) und die beiden Hirten schließlich als Zeichen ihrer gegenseitigen Ehrerbie‐ tung und Friedfertigkeit gattungstypische Geschenke (Flöte und Hirtenstab) austauschen (V. 85–90).374 Auch wenn das Lob für die Darbietung des Menalcas aus dem Mund des Mopsus in erster Linie als gattungstypischer Gestus zu verstehen ist wie zuvor schon die umgekehrte Huldigung in V. 45–49, hält es Vinzenz Buchheit für „denkbar, da[ss] mit Bezug auf den im Lied beschriebenen Glückszustand in der Natur mit venientis sibilus austri auf Lukrez 5, 1382 und die […] glückliche Urzeit der pastores angespielt“ werde.375 Das Lob des Menalcas für das Lied seines ‚Kontrahenten‘ in V. 45–49 enthielt ja bereits gewisse epikureische Anklänge (Formen bzw. Variation der voluptas)376 und nun greift Mopsus in V. 82–84 auf ähnliche Naturbilder (Wind und Wasser) zurück, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen (iuvant). Damit scheint Mopsus geradezu sinnbildlich und exemplarisch für die voluptas, die otia und die laetitia, die die Apotheose des Daphnis nach dem Lied des Menalcas in der bukolischen Welt ausgelöst habe. Die Verbindung von bukolischer Lebenswelt mit Motiven der lukrezischen Lehrdichtung und philosophischer Terminologie untermauert also den thera‐ peutischen Charakter des Menalcas-Liedes als hoffnungsvolle und versöhnliche Abrundung des Daphnis-Mythos: Die besungene Apotheose befreit die Hirten‐ welt von übermäßiger Trauer und führt sie nicht nur in ihre alten Bahnen zurück, sondern darüber hinaus in einen Zustand freudiger Ekstase und dauer‐
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Natürlich hat Alpers (1986) 60 f. dennoch ganz recht mit seiner Meinung, dass gerade aufgrund des von Menalcas gesprochenen Zwischenstücks in V. 45–52 in erster Linie der Gesangswettstreit mit Mopsus in den Vordergrund gerückt werden müsse, wenn es um das vorrangige Ziel der beiden Sänger geht. Diese Geste und die Rahmenszenerie der Ekloge überhaupt sind wiederum deutlich an das Vorbild Theokrits angelehnt, insbesondere an sein sechstes Idyll; vgl. u. a. Coleman (1998) 170 f.; Clausen (1994) 154 f.; 172f. Buchheit (1977) 213. Dieser hebt für das Verständnis von Vergils fünfter Ekloge – gerade in diesem Zusammenhang – vor allem die Bedeutung des traditionsreichen Motivs der aufeinander folgenden Weltalter hervor; vgl. dazu Buchheit (1977) 210– 214. Siehe dazu S. 348.
358 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
hafter Ehrfurcht. Daphnis fungiert dabei als epikureisch ‚gefärbter‘ Schutzgott der bukolischen Lebenswelt in Abgrenzung zu dem göttlichen iuvenis in der ersten Ekloge und auch zum (Stern-)Bild des vergöttlichten Julius Caesar in der neunten Ekloge, wie Kronenberg in ihrem Fazit klar macht.377 Für die gattungshistorische Ebene sei abschließend resümiert, dass es Vergil augenscheinlich gelingt, die in der Bukolik Theokrits verwurzelte Daphnis-Figur weiterzuentwickeln, indem er mithilfe motivischer Anleihen insbesondere von Lukrez aus dem Fokus seiner Liebesleiden in göttliches Licht gerückt wird.378 Das Zusammenfügen von vor allem theokritischen und lukre‐ zischen Gestaltungselementen prägt die vergilische Innovation der bukolischen Ekloge, wobei Vergil durch die motivischen und zum Teil fast wörtlichen Übernahmen aus dem lukrezischen Lehrgedicht unweigerlich auch dessen philosophisches Weltbild in die bukolische Lebenswelt hineinprojiziert.379
4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius Mit der Thebais des P. Papinius Statius (ca. 40–96 n. Chr.) wird zum Abschluss dieses Kapitels die flavische Epik in den Blick genommen, für die Vergils Aeneis und Lucans Bellum civile als literarische Vorbilder gelten. Als besonders problematischer Kriegsakteur im Epos von der Bruderschlacht um Theben kristallisiert sich der auf den Seiten der Argiver kämpfende Capaneus heraus. Ungleich mehr als der (ohnehin reumütige) parcus deorum cultor et infrequens in Hor. carm. 1, 34 und eher vergleichbar mit dem vergilischen Mezentius, der in der Aeneis wiederholt als contemptor divum charakterisiert wird, reiht sich Capaneus nämlich nicht nur in die Riege der Götterverächter, sondern sogar in die der regelrechten Götterbekämpfer in der antiken Dichtung ein.380
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Vgl. Kronenberg (2016) 50; siehe dazu Verg. ecl. 1, 42; 9, 47. Zum innovativen Aspekt von Vergils fünfter Ekloge siehe auch Karakasis (2011) 179; 183; zur bereits anfangs angesprochenen Tilgung der erotischen Dimension in der vergilischen Neumodellierung der Daphnis-Figur siehe u. a. Coleman (1998) 159; 172; auch Clausen (1994) 152 hält den Unterschied zwischen der Darstellung des Daphnis bei Theokrit und der bei Vergil für erheblich. Vgl. Lipka (2001) 80: „Clearly, the reason for the systematic allusions was to establish the Eclogues within the Latin non-heroic hexameter tradition and possibly also to stress out the closeness of the early Vergil to (Latinzed) Epicurean ideas, as imposed by Lucretius’ work“; auch Rundin (2003) 172 f. spricht ausdrücklich von Lukrez als Vorbild für Vergils epikureisch ‚gefärbte‘ protreptische Dichtung. Zur Rezeption des Theomachie-Motivs in der römischen Dichtung siehe zuletzt v. a. Chaudhuri (2014) passim, insbes. 260–264; Ripoll (2006) 236–258; zum Gigantoma‐
4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius
359
Neben fünf anderen Heerführern gehört Capaneus zu der Kriegspartei, die Polynices, der durch seinen Bruder Eteocles um die alternierende Königs‐ herrschaft betrogen und in die Verbannung getrieben worden war, bei der versuchten (Rück-)Eroberung Thebens aktiv unterstützt. Wie alle anderen Heer‐ führer hat auch die Figur des Capaneus bzw. Kapaneus eine weit zurückgehende literarische Tradition, deren Ursprung in der aischyleischen Tragödie Sieben gegen Theben (Ἑπτὰ ἐπὶ Θήβας) für die Forschung fassbar ist, die aus dem Jahre 467 v. Chr. stammt. Darin wird Kapaneus von einem Boten des Eteokles folgendermaßen beschrieben:381 Ἄγγ. τούτωι μὲν οὕτως εὐτυχεῖν δοῖεν θεοί Καπανεὺς δ᾽ ἐπ᾽ Ἠλέκτραισιν εἴληχεν πύλαις, γίγας ὅδ᾽ ἄλλος, τοῦ πάρος λελεγμένου μείζων, ὁ κόμπος δ᾽ οὐ κατ᾽ ἄνθρωπον φρονεῖ, πύργοις δ᾽ ἀπειλεῖ δείν᾽, ἃ μὴ κραίνοι τύχη θεοῦ τε γὰρ θέλοντος ἐκπέρσειν πόλιν καὶ μὴ θέλοντός φησιν, οὐδὲ τὴν Διὸς Ἔριν πέδοι σκήψασαν ἐμποδὼν σχεθεῖν. τὰς δ᾽ ἀστραπάς τε καὶ κεραυνίους βολὰς μεσημβρινοῖσι θάλπεσιν προσήικασεν. ἔχει δὲ σῆμα γυμνὸν ἄνδρα πυρφόρον, φλέγει δὲ λαμπὰς διὰ χερῶν ὡπλισμένη, χρυσοῖς δὲ φωνεῖ γράμμασιν ‘πρήσω πόλιν.’ τοιῶιδε φωτὶ πέμπε· τίς ξυστήσεται; τίς ἄνδρα κομπάζοντα μὴ τρέσας μενεῖ; (Aeschyl. Sept. 422–436)
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Bote: Diesem mögen die Götter so das Glück gewähren; Kapaneus aber hat das Los erhalten, am Tor der Elektra zu sein, er ist ein weiterer Hüne, im Vergleich zu dem zuvor Genannten noch größer, sein prahlendes Auftreten entspricht nicht dem menschlichen Verstand, den Türmen droht er Schreckliches, was ihm das Geschick nicht erfüllen möge. Denn ob die Gottheit wolle oder nicht, so sagt er, die Stadt werde er zerstören, und nicht einmal die zänkische Gegenwehr des Zeus,
381
chie-Motiv in der Thebais siehe auch Taisne (1994) 121–124. Zur Reminiszenz bei Statius an vergilische Figuren in der Aeneis siehe u. a. Vessey (1973) 71. Zur metaphorischen Bedeutung dieser Botschaft und der anschließenden Erwiderung des Eteokles siehe zuletzt insbesondere Chaston (2010) 89–92.
360 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
die auf die Erde stürzt, werde ihn aufhalten. Das Gewitter und die Blitzschläge sind für ihn ähnlich wie die Mittagshitze. Als Erkennungszeichen aber hat er einen nackten Mann, der Feuer trägt, die Fackel, die er als Waffe in den Händen hält, flammt auf, in goldenen Buchstaben lautet es: „Ich brenne die Stadt nieder.“ Einem solchen Manne schicke – doch wer wird sich ihm entgegenstellen? Wer wird ihm standhalten, ohne aus Angst vor dem prahlenden Mann zu fliehen?
Kapaneus zeichnet sich also durch seine Kampfgier und Hybris gegenüber Zeus aus, dessen Existenz er zwar nicht leugnet, dessen Macht er aber dennoch so sehr anzweifelt, dass er sich ihm sogar an Kampfkraft überlegen sieht.382 Da er das Blitzen und Donnern für bloße Wetterphänomene – wie aus dem Vergleich mit der Mittagshitze hervorgeht – und nicht für sichtbare Zeichen der Allmacht des Göttervaters hält, ist das riskante Vorhaben des Kapaneus von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Das bedeutet auch, dass jegliche Initiative und Parteinahme anderer Kriegsteilnehmer für Kapaneus von Beginn an vergeblich wäre und der Gedanke an eine göttliche Intervention zugunsten des Kapaneus und gegen Zeus sogar völlig ausgeschlossen ist. Auch Eteokles spottet, als er auf die Ankündigung und die Bedenken des Boten antwortet, über die μάταια φρονήματα (V. 438) bzw. die γεγωνὰ κυμαίνοντα ἔπη (V. 443) des Kapaneus und bezeichnet ihn als θεοὺς ἀτίζων (V. 441), wie es Vergil Jahrhunderte später auch mit Mezentius tut (contemptor divum bzw. deum).383 Infolge dieser Hybris, die sich im Verlaufe des Krieges noch ins schier Unermessliche steigern wird, erfüllt sich bekanntlich die Pro‐ 382
383
Chaston (2010) 90 f. erfasst die metaphorische Dimension dieser Hybris, die über die despektierliche Degradierung der göttlichen Waffen zu bloßen Wetterphänomenen hinausgeht, mit treffenden Worten: „But it is the image of the torch and of the thunderbolt that can act as a cue for the spectators to the defeat of both Kapaneus’ actions and his words. The torch combines two concrete visual signs of his threat […]. To make these correspond with the fire of Zeus’ thunderbolt is to consume the physical and the verbal hubris of Kapaneus. The correspondence of a literal, visual sign with a concrete reference (the torch-bearer who will burn the city) with a non-literal verbal sign with an abstract reference (the fire-bearing thunderbolt of Zeus which he trusts […] will come to Kapaneus) makes for a fully comprehensible metaphor for the spectators“. Vgl. Verg. Aen. 7, 647f.: Primus init bellum Tyrrhenis asper ab oris / contemptor divum Mezentius agminaque armat; 8, 7: contemptorque deum Mezentius […]; vgl. dazu u. a. Chaudhuri (2014) 260; Leigh (2006) 226 mit Anm. 36 f.; siehe dazu auch S. 591. Der Vergleich mit Kentauren und Kyklopen (Stat. Theb. 3, 604 f.) ist ebenfalls etwas, was Statius’ Capaneus mit Mezentius verbindet, bei dem intertextuelle Referenzen auf den Polyphem der Odyssee bemerkt worden sind; siehe dazu u. a. Justin Glenn, Mezentius
4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius
361
phezeiung, die auch Eteokles in V. 444–446 macht:384 Kapaneus wird beim spektakulären Sturm auf die thebanischen Mauern von einem gewaltigen Blitz des Zeus getroffen und tödlich verletzt. Seinen ersten größeren Auftritt in der Thebais des Statius hat Capaneus, der dort zusammen mit Tydeus, Amphiaraus, Hippomedon und Parthenopaeus in V. 45 von Buch I mit den Worten alio Capaneus horrore canendus erstmals namentlich genannt wird, hingegen in Buch III, als er in einen heftigen Streit mit dem Seher Amphiaraus gerät, vor dessen Zelt er in seiner unnachgiebigen Kampflüsternheit für den sofortigen Kriegsbeginn plädiert und die Bedenken des Sehers mit verbalen Drohgebärden zurückweist:385 atque hic ingenti Capaneus Mavortis amore excitus et longam pridem indignantia pacem corda tumens – huic ampla quidem de sanguine prisco nobilitas; sed enim ipse manu praegressus avorum facta, diu tuto superum contemptor et aequi inpatiens largusque animae, modo suaserit ira –, unus ut e silvis Pholoes habitator opacae inter et Aetnaeos aequus consurgere fratres, ante fores, ubi turba ducum vulgique frementis, Amphiarae, tuas ‘quae tanta ignavia’ clamat, ‘Inachidae vosque o socio de sanguine Achivi? unius – heu pudeat! – plebeia ad limina civis tot ferro accinctae gentes animisque paratae pendemus? non si ipse cavo sub vertice Cirrhae, quisquis is est, timidis famaeque ita visus, Apollo mugiat insano penitus seclusus in antro,
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600 605 610
and Polyphemus, AJP 92 (1971) 129–155 und Justin Glenn, Odyssean Echoes in Aen. 10.880–82, AJP 102 (1981) 43–49. Diese Verse sind eng mit der kurzen Schildbeschreibung in Aischyl. Sept. 432–434 verknüpft; zur Schildbeschreibung im vierten Buch der Thebais (V. 165–172) siehe u. a. Fernandelli (2000) 89–98; Harrison (1992a) 247–252; Klinnert (1970) 22–25. Für die verbale Provokation des Capaneus in Stat. Theb. 3, 607–618 ist wohl die Laocoon-Rede in Verg. Aen. 2, 42–49 eine wichtige literarische Vorlage gewesen, wie v. a. Frisby (2017) 115–133 nachzuweisen versucht. Dagegen betrachtet Stover (2009) 439–445 für die Konfrontation zwischen Capaneus und Amphiaraus bei Statius in erster Linie die Auseinandersetzung zwischen Idas und Idmon in Apoll. Rhod. 1, 440–494 als zentralen Prätext; zum einen sieht er aufgrund der zahlreichen „allusive gestures“ die ganze Episode in einen argonautischen Rahmen gestellt (S. 443), zum anderen werde „Capaneus’ utterly criminal nature“ bei Statius durch die enge Anlehnung an die Figur des Idas verstärkt (S. 440); siehe dazu auch Chaudhuri (2014) 263.
362 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
expectare queam, dum pallida virgo tremendas nuntiet ambages. virtus mihi numen et ensis quem teneo! iamque hic timida cum fraude sacerdos exeat, aut hodie, volucrum quae tanta potestas, experiar’. […] (Stat. Theb. 3, 598–618)
615
Neben seinem Mavortis amor (V. 598) und seiner gewaltigen ira (V. 603) wird Capaneus insbesondere als superum contemptor (V. 602) charakterisiert, der nicht nur die Macht Jupiters, sondern auch die der anderen Götter – hier namentlich Apolls – nicht anzuerkennen bereit ist. In dieser Kenn‐ zeichnung steht der statianische Capaneus in einer langen Tradition Götter verachtender Krieger in Epos und Tragödie und erinnert dabei explizit an den vergilischen Mezentius, der in der Aeneis als ambivalenter Antagonist des Aeneas auftritt: Einerseits wird vom König des etruskischen Caere das Bild eines blutrünstigen Tyrannen entworfen, andererseits zeigt er aber gerade seine pietas in der Liebe zu seinem Sohn Lausus386 und in seiner Hilfsbereitschaft gegenüber Turnus387 und erweist sich darüber hinaus als äußerst tapferer Krieger gegen die Trojaner und Latiner.388 Mit diesem bewusst gesetzten Rückverweis auf Mezentius deutet Statius also schon früh ein ähnlich ambivalentes Wesen des Capaneus an, das auf den gesamten Kriegsverlauf wesentlichen Einfluss nimmt und damit elementarer Bestand‐ teil der Kriegsdarstellung im statianischen Epos ist. In besagter Eigenschaft als superum contemptor leugnet Capaneus jedenfalls zugleich die Macht göttlicher Orakel (V. 617 f.) und bekundet somit seine Verachtung für die Möglichkeit der auf göttliche Initiative zurückgehenden providentia. Gerade beim Streitpunkt der Providenz und damit einer für das antike Epos sehr typischen Thematik wird deutlich, dass hier offenbar zwei unterschiedliche Grundeinstellungen zu den Göttern miteinander kon‐ kurrieren, die auch als konträre philosophische Konzepte verstanden werden können:389 auf der einen Seite der geradezu blasphemisch-atheistische Stand‐ punkt des Capaneus und auf der anderen Seite die stoisch geprägte Haltung des Amphiaraus.390 Als sein einziges numen begreift Capaneus entgegen der 386 387 388 389 390
Vgl. Verg. Aen. 10, 700 f.; 898b–906. Vgl. Verg. Aen. 8, 1–8. Vgl. Verg. Aen. 10, 689–718; 907f. Vgl. hierzu v. a. Chaudhuri (2014) 264–271. Neri (1986) 2016 f. geht sogar von einem epikureisch-stoischen Konflikt im Rededuell zwischen Capaneus und Amphiaraus aus; vorsichtiger dazu äußert sich Chaudhuri (2014) 268, Anm. 27; 271.
4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius
363
Götterfurcht des Amphiaraus seine eigene virtus und sein Schwert, was das Ausmaß seiner Anmaßung gegenüber den Göttern auf die Spitze treibt.391 Das Verständnis des aus einem rein militärischen Kontext herrührenden, aber in eine philosophische Aussage eingebetteten virtus-Begriffs dürfte auch ohne weitere Stellungnahmen dazu sicherlich grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Kontrahenten und Kampfgefährten Amphiaraus und Capaneus zutage fördern.392 Ferner kann die Tatsache, dass in diesem Bekenntnis des Capaneus ausge‐ rechnet der gleichlautende Begriff für das stoische summum bonum fällt und kein Gegenbegriff zum Götterbild des Amphiaraus wie etwa die epikureische voluptas oder ein ähnlicher Terminus, als Indiz für eine fast schon verzerrende Charakterisierung des Capaneus verstanden werden. Diese These stützt sich besonders auf die Charakterisierung des Kapaneus durch Eteokles in der aischyleischen Tragödie:393 Dort wurde Kapaneus, der bei Aischylos nicht selbst zu Wort, sondern nur ‚passiv‘ in den Reden anderer dramatis personae zur Geltung kommt, neben μάταια φρονήματα (V. 438) und γεγωνὰ κυμαίνοντα ἔπη (V. 443) auch eine χαρὰ μάταια (V. 442) vorgeworfen, sodass man in der lateinischen Epos-Version des Statius an eine Wiedergabe dieses Charakterzugs mit Substantiven wie voluptas oder gaudium hätte denken können. Stattdessen fällt bei der Selbstpräsentation des statianischen Capaneus der virtus-Begriff, der vor diesem Hintergrund als Zeichen der unterschiedlichen, weil natürlich jeweils sehr subjektiven Selbst- und Fremdwahrnehmung zu sehen ist. Trotz seiner zur Schau gestellten Furchtlosigkeit vor Göttern und einem möglichen Tod auf dem Schlachtfeld sowie seiner Verachtung für die Vogel‐ schau als Form von Providenz scheint der statianische Capaneus keine ‚echte‘ epikureische Gesinnung zu haben, zumal er ja nicht wie ein Pollius Felix oder Manilius Vopiscus einem von voluptas und otium geprägten Lebensideal nach dem Prinzip des unpolitischen λάθε βιώσας frönt. 394 Demzufolge liegt es
391 392
393 394
Diese Aussage des Capaneus ist wiederum eine unverkennbare Reminiszenz an den vergilischen Mezentius: ‘dextra mihi deus et telum, quod missile libro, / nunc adsint! […]’ (Verg. Aen. 10, 773f.); siehe dazu Chaudhuri (2014) 262; Klinnert (1970) 18. Vgl. Chaudhuri (2014) 264–271; zur Bedeutung der virtus in der Thebais als teilweise personifiziertes Leitprinzip neben der pietas siehe u. a. Walter (2014) 202–207 über die Verwandlung der personifizierten Virtus in die Seherin Manto (ab Stat. Theb. 10, 639), um Menoeceus die Notwendigkeit seiner Selbstopferung klarzumachen und dabei als eine glaubwürdige Autorität zu wirken; Ganiban (2007) 136–148, der anhand eines Vergleichs zwischen Menoeceus und Capaneus die Pervertierung der virtus und die sukzessive Reduzierung der pietas aufzeigt; Klinnert (1970) 48; Schetter (1960) 26–28; 37–41. Vgl. Aischyl. Sept. 438–443. Vgl. Stat. silv. 1, 3; 2, 2; siehe dazu Kapitel 5.3.
364 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
nahe, dass die philosophische Charakterisierung des Capaneus, sollte man sie überhaupt anerkennen, auffallend inkonsequent wirkt, d. h. unvereinbar mit einem bestimmten philosophischen Gedankengut, da er ja überdies von der virtus als Gottheit spricht, auch wenn dieser Terminus an dieser Stelle natürlich auch mit seiner militärischen Dimension eng verbunden ist. Dennoch ist es auffällig und bemerkenswert, dass Capaneus nach der Erwi‐ derung des Amphiaraus, in der er die Verblendung und Götterlästerung des Capaneus anprangert und ihm ein schlimmes Ende prophezeit, nicht nur seine Verachtung für Apoll und die Sinnhaftigkeit irgendwelcher Orakel erneuert (V. 652; 666 f.), sondern letztlich doch einen zutiefst epikureisch besetzten Gedanken vorbringt, als er Amphiaraus ein unrühmliches und nutzloses Dasein beschei‐ nigt: primus in orbe deos fecit timor! […] (V. 661).395 Vor dem Hintergrund seines Strebens nach Autonomie, die analog zur epikureischen Autarkie verstanden werden kann, lehnt Capaneus also jegliche Furcht vor den Göttern ab, die er offenbar als Hirngespinst und Produkt menschlicher Angst betrachtet, und zeigt in seiner maßlosen Selbstüberschätzung keinerlei Angst vor dem Tod. Ob Capaneus allerdings die Existenz der Götter an sich verneint oder lediglich ihre Macht anzweifelt, lässt sich wohl nicht eindeutig klären. In jedem Fall verstößt die innere Haltung des Capaneus in mehrfacher Hinsicht gegen das epikureische Götterbild: Zum einen hat auch für Anhänger des Kepos die menschliche pietas gegenüber den Göttern keinen niedrigen Stellenwert, wie insbesondere aus Philodems Schrift De pietate ausführlich hervorgeht; zum anderen gründet die epikureische Freiheit vor Götterfurcht nicht auf deren Verachtung, sondern auf die Annahme ihrer Existenz in den Intermundien, zumal sie ja anders als für Capaneus eine absolute Vorbildfunk‐ tion für die Menschen innehaben. Darüber hinaus spricht Capaneus ja selbst von der (militärischen) virtus als persönlichem Leitprinzip, das, überträgt man diesen Terminus auf den philosophischen Bereich, der Maxime epikureischer Ethik diametral entgegensteht und allenfalls dem stoischen Menschenbild zugerechnet werden könnte.396 Doch wieso gibt es angesichts dieser zahlreichen Einwände, die sich ent‐ schieden gegen die epikureische ‚Färbung‘ des Capaneus oder überhaupt gegen eine philosophische Deutung des Capaneus richten, trotzdem in Scholien und
395 396
Vgl. u. a. Chaudhuri (2014) 267 f.; Klinnert (1970) 19f. Vgl. dazu auch Chaudhuri (2015) 535: „With his bellicosity and seeming desire to provoke the gods, Capaneus seems anything but Epicurean […]“.
4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius
365
antiken Kommentaren397 sowie in modernen Monographien398 und Aufsätzen399 hartnäckige Überlegungen über den epikureischen Charakter des Capaneus? Die Antwort findet sich wohl vor allem im Bereich der lukrezisch geprägten Terminologie und Gedanken, die Statius seinem Capaneus in den Mund legt bzw. für dessen Charakterisierung verwendet.400 Dementsprechend kann beispiels‐ weise, wie Christiane Reitz in ihrem Aufsatz von 2017 richtig bemerkt, für den Ausspruch des Capaneus in V. 661 folgende Parallelstelle bei Lukrez als mögliche literarische Vorlage ins Spiel gebracht werden:401 quod si Iuppiter atque alii fulgentia divi terrifico quatiunt sonitu caelestia templa et iaciunt ignem quo cuiquest cumque voluntas, cur quibus incautum scelus aversabile cumquest non faciunt icti flammas ut fulguris halent pectore perfixo, documen mortalibus acre, […]? (Lucr. 6, 387–392)
390
Ein weiterer Grund, der zur Annahme einer epikureischen Zeichnung des Capaneus führen könnte, geht auf seinen respektvollen und beinahe freundschaftlichen Um‐ gang mit seinen sterbenden bzw. bereits gefallenen Kriegskameraden Tydeus und Hippomedon zurück. Während er für Tydeus, der ihn im Sterben selbst zu seinem Nachfolger als bestem argivischem Krieger bestimmt,402 aus dem Schlachtfeld den 397
398 399 400
401 402
Verwiesen sei hier ausdrücklich auf den spätantiken Thebais-Kommentar des Lactantius Placidus (4./5. Jahrhundert n. Chr.), der die Distanzierung des Capaneus von den Göttern mit Verweis auf Lucr. 2, 646–651 direkt mit dem Epikureismus in Verbindung bringt: totum hoc secundum Epicurum dicit poeta (Lact. Plac. ad Theb. 3, 659f.); siehe dazu auch Chaudhuri (2015) 535 f.; Chaudhuri (2014) 268 f.; 282 f.; Delarue (2000) v. a. 83–85; Taisne (1999) 170; Sweeney (1997) 231f. Als bekannteste Publikation ist hier sicherlich immer noch Thomas Klinnerts Pionier‐ arbeit über die epischen Figuren Capaneus und Hippomedon von 1970 zu nennen, in der dieser auf Capaneus vor allem die stoische Affektenlehre anzuwenden versucht. Die neueste und in genau diesem thematischen Kontext erstellte Arbeit ist Christiane Reitz’ Beitrag von 2017 über die Zulässigkeit einer epikureischen Deutung des Capaneus. Vgl. v. a. Taisne (1999) 165–175; Chaudhuri (2014) 268–271 hebt beim Vergleich zwischen den ‚philosophischen‘ Ansichten des Capaneus und den entsprechenden Überlegungen bei Lukrez entscheidende Unterschiede hervor, zum Beispiel folgenden: „But whereas Lucretius asserts that his philosophy is not only more reasoned than oracular methods but also more holy […], Capaneus has neither interest nor use for piety of any kind […]. The extremity of Capaneus’ attitude emerges clearly from the contrast between his and Lucretius’ claims about the role of fear in religion“ (S. 269). Vgl. Reitz (2017) 327. Vgl. Stat. Theb. 8, 744: ‘[…] et Argolicae Capaneu iam maxime turmae’.
366 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
tödlich verletzten Melanippus herbeischafft, damit Tydeus seinen kannibalistischen Frevel vollziehen kann,403 rächt er sich an Hypseus, der gewissermaßen das theba‐ nische alter ego des Capaneus verkörpert, für den Waffenraub an Hippomedon und bringt seinem gefallen Kameraden noch vor der Feuerbestattung seine Waffen als ehrenvolle Grabbeigaben zurück.404 Auch wenn Capaneus dabei sogar als magna‐ nimus (Theb. 9, 547) gerühmt wird, kann zwar von einer Art Freundschaftsgestus, jedoch kaum von einer Umsetzung der amicitia im epikureischen Sinn die Rede sein. Zu stark wiegt die ansonsten negative Darstellung seiner fehlenden pietas gegenüber Göttern wie Jupiter und Apoll, als dass die im Kampfgeschehen zumindest einseitig geleistete pietas gegenüber seinen Mitkämpfern für eine Deutung als ethisches Vorbild aufrechterhalten werden könnte. Diese und weitere Kriegstaten des Capaneus in der Thebais (u. a. Tötung des Bacchus-Priesters Eunaeus in Theb. 7, 649–687; Rachemord an Hypseus in Theb. 9, 540–569) machen unmissverständlich deutlich, dass er seiner Beurteilung als contemptor divum vollkommen gerecht wird. Seinen Höhepunkt findet der furor des selbst ernannten contemptor divum in der Todesszene am Ende von Buch X, das in den folgenden Versen seinen Ausgang nimmt:405 iam sordent terrena viro taedetque profundae caedis, et exhaustis olim Graiumque suisque missilibus lassa respexit in aethera dextra. ardua mox torvo metitur culmina visu, innumerosque gradus, gemina latus arbore clusos, aerium sibi portat iter, longeque timendus multifidam quercum flagranti lumine vibrat; arma rubent una clipeoque incenditur ignis. ‘hac’ ait ‘in Thebas, hac me iubet ardua virtus ire, Menoeceo qua lubrica sanguine turris. experiar, quid sacra iuvent, an falsus Apollo.’ dicit, et alterno captiva in moenia gressu surgit ovans: qualis mediis in nubibus aether vidit Aloidas, cum cresceret inpia tellus despectura deos nec adhuc inmane veniret Pelion et trepidum iam tangeret Ossa Tonantem. (Stat. Theb. 10, 837–852)
403 404 405
Vgl. Stat. Theb. 8, 736–750. Vgl. Stat. Theb. 9, 540–569. Vgl. etwa Klinnert (1970) 47–59.
840 845 850
4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius
367
Eine gewisse Lebensmüdigkeit, die für Capaneus aus den zahllosen irdischen Kämpfen resultiert, da sie keine Herausforderung mehr für ihn darstellen, treibt den argivischen Krieger in höhere Gefilde. Mit Blick auf die thebanische Stadtmauer, die geradezu symbolisch für die olympische Himmelsburg steht, macht er sich angestachelt von seiner ardua virtus an die Erstürmung des traditionsreichen Bauwerks, um die Macht der Götter in letzter Instanz auf die Probe zu stellen.406 Im übertragenen Sinn stellt er sich dabei in die Reihe der Aloiden, die einst die Berge bis zum Himmel aufgetürmt hatten, um die olympischen Götter zu stürzen.407 Trotz massiver Gegenwehr seitens der Thebaner gelingt es Capaneus ohne größere Probleme, die Mauer zu erklimmen, und er beginnt sogar die Stadt zu zerstören, indem er sie mit Teilen aus ihrer eigenen Mauer bewirft. Dieser Frevel und seine arroganten Worte empören die immer zorniger werdenden und laut klagenden Götter zutiefst – mit Ausnahme von Jupiter, der zunächst keinen Grund sieht, in das Geschehen einzugreifen, und völlig ruhig und gelassen bleibt. Auch der höchst beleidigende Tonfall und die immense Asebie in den Versen 899–906 veranlassen Jupiter noch zu keinem Vergeltungsschlag. Als Capaneus auf dem Gipfel seiner Hybris Jupiter sogar höchstpersönlich zum Zweikampf herausfordert, kann der Göttervater nur lachen und angesichts des Schicksals der damals unterlegenen Giganten das gottlose und dreiste Verhalten des argivischen Kriegers nicht fassen. In der Folge gelingt es Capa‐ neus sogar, dem sich bedrohlich zusammenbrauenden Gewitter standhaft und furchtlos zu trotzen und dadurch die Götterschar in ehrfürchtiges Staunen zu versetzen, sodass diese ernsthaft an der Macht Jupiters zweifeln.408 Erst als sich Capaneus anmaßt, Jupiters Blitze zur erneuten Entzündung seiner Kriegs‐ fackel zu verwenden, wird er durch einen gewaltigen Wurf des Göttervaters von der Mauer geschmettert. Allerdings bäumt er sich trotz seiner tödlichen Verletzungen nochmals auf und bricht erst nach einer Weile, ehe Jupiter noch zu einem zweiten Blitz hätte greifen müssen, am Fuße der thebanischen Stadtmauer zusammen.409
406 407 408
Vgl. dazu v. a. Stat. Theb. 10, 847; siehe dazu etwa Walter (2014) 139f. Vgl. erneut u. a. Chaudhuri (2014) 256–297; Walter (2014) 139 f.; Ganiban (2007) 145–148; Ripoll (2006) 237 f.; 253 f.; Taisne (1994) 121–124. Walter (2014) 139 f. hebt zudem zu Recht die spürbare Anerkennung des statianischen Erzählers für die Leistungen des Capaneus hervor, der nach seinem Tod sogar als magnanimus Capaneus (Stat. Theb. 11, 1 f.) gerühmt wird; vgl. dazu auch Leigh (2006) 217–241, der unter anderem den zum Himmel gerichteten Blick als „expression of sublime ambition“ (S. 231) mit dem Triumph Epikurs in Lucr. 1, 62–79 assoziiert; siehe dazu auch Chaudhuri (2014) 58–63; 292; Klinnert (1970) 65–78.
368 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Diese berühmteste Episode aus dem Capaneus- bzw. Kapaneus-Mythos nimmt nicht nur in der späteren Rezeption, sondern auch in der griechischen Tragödie den größten Raum ein – und genau dort, genauer gesagt in den Hiketiden des Euripides, findet sich auch die Lösung für die pseudo-epikureische Darstellung des Capaneus bei Statius: Während Euripides nämlich in den Phönissen (V. 1172–1186)410 ein ähnliches Bild von Kapaneus zeichnet wie Sophokles in der Antigone (V. 827–837) und Aischylos in der gezeigten Passage aus den Sieben gegen Theben, ergibt sich in den Hiketiden ein ganz anderes Bild des Kapaneus: In der lange vor Epikur erschienenen Tragödie bitten die Mütter der vor Theben gefallenen und unbestatteten sieben Anführer die Theseus-Mutter Aithra am Demeter-Altar in Eleusis flehentlich um Hilfe. Nach dem in einem Botenbericht vermeldeten Erfolg des Theseus in Theben erkundigt sich dieser bei Adrast, dem einzigen Überlebenden auf Seiten der Argiver, über die Identität der gefallenen Kriegshelden. In einer Mischung aus Enkomion und Grabepigramm bezieht Adrast im fünften Epeisodion auch zu Leben und Tod des Kapaneus Stellung: ὁρᾶις τὸ λάβρον οὗ βέλος διέπτατο; Καπανεὺς ὅδ’ ἐστίν· ὧι βίος μὲν ἦν πολύς, ἥκιστα δ’ ὄλβωι γαῦρος ἦν· φρόνημα δὲ οὐδέν τι μεῖζον εἶχεν ἢ πένης ἀνήρ, φεύγων τραπέζαις ὅστις ἐξογκοῖτ’ ἄγαν τἀρκοῦντ’ ἀτίζων· οὐ γὰρ ἐν γαστρὸς βορᾶι τὸ χρηστὸν εἶναι, μέτρια δ’ ἐξαρκεῖν ἔφη. φίλοις τ’ ἀληθὴς ἦν φίλος παροῦσί τε καὶ μὴ παροῦσιν· ὧν ἀριθμὸς οὐ πολύς. ἀψευδὲς ἦθος, εὐπροσήγορον στόμα, ἄκρατον οὐδὲν οὔτ’ ἐς οἰκέτας ἔχων οὔτ’ ἐς πολίτας. […] (Eur. Suppl. 860–871a)
860 865 870
Siehst du, durch wen das wilde Geschoss hindurchflog? Es ist Kapaneus; er hatte zwar einen guten Lebensunterhalt, am wenigsten aber jubelte er vor Glück; er hatte in keiner Weise eine höhere Gesinnung als ein armer Mann, er meidet denjenigen, der Tischen allzu viel auflädt und
409 410
Schon Schetter (1960) 39 betont im Zusammenhang mit der virtus-Konzeption in der Thebais die mentale Unbesiegtheit des Capaneus trotz seiner physischen Vernichtung. Die Darstellung des Kapaneus in den Phönissen behandelte zuletzt vor allem Encinas Reguero (2010) 25–37.
4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius
369
dabei das Ausreichende verachtet; er sagt nämlich, dass in der Gefräßigkeit des Bauchs nichts Nützliches sei, das Maßvolle aber ausreiche. Und den Freunden war er ein wahrer Freund, sowohl den anwesenden als auch den abwesenden; von denen ist die Zahl nicht groß. Einen aufrichtigen Charakter und eine höfliche Ausdrucksweise hatte er, er verhielt sich in keiner Weise zügellos, weder gegenüber seinen Haussklaven noch gegenüber seinen Mitbürgern.
Der Leser glaubt seinen Augen nicht zu trauen, wenn er diese sicherlich sehr subjektiven und dem Redeanlass geschuldeten Verse des Adrast betrachtet: Darin formt sich der Eindruck eines äußerst maß- und rücksichtsvoll lebenden Mannes, der sich selbst nicht über andere Menschen stellt und all seinen Freunden überaus treu war: So entsteht, kurz gesagt, der Eindruck eines Bilder‐ buchepikureers. Eine solche Deutung würde jedoch auf einem unhaltbaren Ana‐ chronismus basieren und die philosophische Dimension der Kapaneus-Figur ins Maßlose übersteigern. Ungeachtet dessen lässt sich folgende Schlussfolgerung als Hypothese für die statianische Figurengestaltung des Capaneus machen: Ohne einen direkten philosophischen Diskurs in der Thebais heraufzubeschwören, wie schon Chris‐ tiane Reitz annimmt,411 vereinigt Statius bei der Darstellung seines Capaneus sämtliche Facetten aus der literarischen Tradition der griechischen Tragödie, mögen sie auf den ersten Blick auch noch so widersprüchlich erscheinen. Eine philosophische Tendenz des Capaneus oder zumindest eine verstärkte Ausgestaltung epikureisch anmutender Charakterzüge ist grundsätzlich nicht abwegig und tatsächlich scheint Statius das philosophische Potential, das in den griechischsprachigen Kapaneus-Charakterisierungen schon angelegt war, erkannt und Referenzen zu Epikureismus und Stoa über bestimmte Begriffe hergestellt zu haben; eine Form von Dialogizität ergibt sich für den Leser, der hier aufgefordert wird, die nur partielle Übereinstimmung mit epikureischen Eigenschaften zu überdenken und die Gegenposition des Capaneus zu dem mit stoischen Eigenschaften charakterisierten Amphiaraus zu erkennen. Von einer unmittelbar philosophischen Intention des Dichters auszugehen, ist jedoch weder zielführend noch nachweisbar.412 Genauso wenig sollte man wohl, wie es etwa Christiane Reitz getan hat,413 von einem missverstandenen Epikureismus des Capaneus sprechen, da eine solche
411 412
Vgl. v. a. Reitz (2017) 330f. Vgl. dazu auch Chaudhuri (2015) 535f.: „[…] whether he [sc. Capaneus] should be seen as parodying the philosophy or simply exaggerating aspects of it is an impossible question to resolve“.
370 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
Beobachtung eine bewusste und zielgerichtete Beschäftigung mit einer epiku‐ reischen Geisteshaltung voraussetzt. Zwar können motivische und sprachliche Referenzen auf Lukrez und Vergil nicht geleugnet werden, diese betreffen jedoch nicht inhaltliche Kernpunkte der epikureischen Lehre. Vielmehr hat Statius insbesondere im Falle des Capaneus, aber auch in der Darstellung anderer Hauptakteure (z. B. Tydeus, Amphiaraus) die Extreme motivgeschichtlich be‐ legter Charakterzüge und Verhaltensweisen für die Gestaltung seiner Figuren ausgetestet und dabei partiell und verstärkend auch Referenzen auf Verhaltens‐ typik und Charakterzüge, die von philosophischen Rollenbildern bekannt sind, zur schärferen Konturierung von Personenkonstellationen eingesetzt.414 Zum Abschluss der Analyse und Deutung der Capaneus-Figur bei Statius erweist sich ein kurzer Vergleich mit einer relativ unproblematischen Epiku‐ reergestalt wie dem schon erwähnten Pollius Felix in den Silven als lohnend, ohne bereits allzu viele Ergebnisse von Kapitel 5.3.2. vorwegnehmen zu wollen: In ganz unterschiedlicher Weise lassen sich beide mit dem Gedankengut epikureischer Ethik assoziieren, sei es mit einem unbesorgten Lebensstil in ländlicher Zurückgezogenheit (Pollius Felix) oder mit einer furchtbefreiten Göttervorstellung (Capaneus). Während für den ersten Fall eine weitgehend eindeutige und vollständige Zuordnung zur Anhängerschaft des Epikur möglich ist, ohne die zeithistorischen Elemente und weitere Deutungsebenen wie die literarische Produktivität übergehen zu wollen, hat sich der Eindruck einer ge‐ zielt epikureischen Modellierung des Capaneus durch den Dichter im Vergleich mit den griechischen Quellen nicht bestätigt. Diese Beobachtungen erklären sich nicht zuletzt aus dem Kontext, in den beide Figuren funktional eingebettet sind: Das Villengedicht silv. 2, 2 ist eines von zahlreichen und thematisch vielfältigen Gelegenheitsgedichten, in dem Statius wohl auch ein soziales Phänomen seiner Zeit darzustellen versucht, nämlich den Rückzug vornehmer bzw. sozial höher gestellter Römer in Gebiete außerhalb von Rom, der wohl sowohl auf die politische Bedeutungslosigkeit des Einzelnen unter Kaiser Domitian als auch auf die in dieser Epoche relativ ungefährdete Prosperität des römischen Staates zurückgeführt werden kann. Es ist nur allzu naheliegend, eine derartige Lebensweise individuell an einem 413 414
Vgl. Reitz (2017) 329. In diesem Zusammenhang kommt insbesondere die Konfrontation zwischen Capaneus und Amphiaraus zum Tragen, bei der pseudo-epikureische Polemik auf stoische Fatumsauffassung trifft. In dieser kontrastierenden Figurenkonstellation kann man tat‐ sächlich von einer innovativen Gestaltungstechnik des Statius sprechen, der damit die Stereotypik des kämpferischen Einsatzes gegen vermeintlichen Aberglauben aufgreift, wie sie auch sein Zeitgenosse Plutarch an der historischen Figur des Kolotes darstellt.
4.4 Der Götterleugner Capaneus in der Thebais des Statius
371
Römer zu veranschaulichen, der den epikureischen Grundsätzen nacheifert und sie in einem von voluptas, otium, mira quies und λάθε βιώσας bestimmten Lebensstil zu verwirklichen sucht. Dagegen greift eine epikureische Deutung bei Capaneus, der sich in starkem Maß durch seine rücksichtslose und auf Ruhm ausgerichtete Kampfgier sowie seine Verachtung gegenüber den Göttern auszeichnet, deutlich zu kurz. Auch wenn einzelne Aspekte seiner Charakterisierung, seines Verhaltens und seiner Aussprüche Beziehungen zu epikureischen Verhaltensmerkmalen und Lehr‐ sätzen herstellen können, ist eine darauf konzentrierte Interpretation schon deswegen nicht zielführend, weil Capaneus wie der vergilische Mezentius ambivalente Charakterzüge aufweist. Noch entscheidender ist die Tatsache, dass die Thebais als Bürger- bzw. Bruderkriegsepos anders als etwa die Pharsalia des Lukan eine vielfach nachweisbare und für das Epos typische Intervention der Götter aufzeigt – wenn nicht durch direktes Handeln, so aber durch gezielte Einflussnahme – und keinen merklichen philosophischen Diskurs herbeiführt wie noch Ennius oder Pacuvius, sondern einen bisher fast ausschließlich aus der griechischen Tragödie bekannten Mythos in das System der epischen Narrativik überführt. Die Figur des Capaneus ist dabei wohl eher in ihrer möglichst lücken‐ losen Referenz auf die Charakterzüge der Figur in den griechischen Prätexten zu verstehen und damit als ehrgeiziger und überaus gelungener Versuch, scheinbar widersprüchliche Charakterisierungen miteinander in Einklang zu bringen und im Gesamtepos plausibel und kohärent wirken zu lassen. Dieser Eindruck deckt sich im Grunde genommen auch mit Anke Walters narratologischer Deutung des Capaneus, nach dessen Tod sich die Götter, da nun in Buch XI der Bruderzweikampf bevorsteht und dieser mit eigenen Augen kaum anzuschauen ist, aus dem Epos-Geschehen zurückziehen: „Der Auftritt des Götterverächters Capaneus wird damit zum Wendepunkt der Thebais; seine Tat wird als die äußerste Grenze dessen benannt, was für die Götter noch erträglich und was erzählbar ist. Als großer einzelner Held vereint Capaneus den Erzähler, den Vater der himmlischen Götter sowie den Herrscher der Unterwelt im Lob seiner frevelhaften, aber bewunderns- und erinnernswerten Tat und bringt den erzählerischen Kosmos der Thebais damit zum Einsturz. […] Capaneus gelingt es, alle epischen Erzähltraditionen endgültig ad absurdum zu führen – und dabei den Erzähler selbst zum Mittäter zu machen.“415
415
Walter (2014) 142f.
372 4 Die epikureische Theologie und Thanatologie im Kontext römischer Figurenmodellierung
4.5 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit epikureisch ‚gefärbten‘ Götter- und Todesvorstellungen im Kontext römischer Figurenmodellierung Der chronologische Überblick mit einer repräsentativen Auswahl von vier zentralen römischen Autoren – angefangen bei Cicero als geradezu ‚archetypi‐ schem‘ Vertreter in Rom bei der literarischen Inszenierung von philosophischen Figuren über die augusteischen Dichter Horaz und Vergil bis zum flavischen Epiker Statius – hat für die Suche nach Spuren des epikureischen Götter- und Todesbilds im Kontext römischer Figurenmodellierung ergeben, dass eine derart direkte und explizit gemachte Verbindung (von größerem Umfang) zwischen einer Figur und der epikureischen Theologie nur im Falle des Velleius in Ciceros De natura deorum eindeutig nachweisbar ist. Die epikureische Lehre wird darin offensichtlich als die schwächste, d. h. als die am leichtesten zu widerlegende Position, präsentiert und vor diesem Hintergrund wird auch der Vortrag des Velleius mit einigen rhetorischen Mängeln und methodischen Unzulänglichkeiten versehen. Darüber hinaus erscheint Velleius als übermäßig selbstbewusst auftretender und zur Überheblichkeit neigender Dogmatiker, der sich schließlich mit seiner rhetorischen Unterlegenheit, nicht aber mit der Widerlegung seiner epikureischen Standpunkte abfinden kann. Innerhalb des horazischen Werkes, das unbestritten von hellenistischer Philosophie stark beeinflusst ist, wurde der Fokus auf die Oden und die The‐ matisierung und Funktionalisierung von Göttern und Tod durch die jeweilige Sprecher-persona in einzelnen Gedichten gelegt. Zwar ist in den Oden des Horaz nur selten eine so explizite Referenz auf die epikureische Theologie wie in Hor. sat. 1, 5, 101–103 zu finden, doch gerade die Analyse von carm. 1, 34, carm. 3, 1 und carm. 3, 29 hat nicht nur eine Vielzahl an epikureisch geprägten Gedanken zutage gefördert, sondern auch die Rolle der Götter, die in den Oden überhaupt sehr dominant ist, näher beleuchtet: Es handelt sich in den ausgewählten Gedichten meist um personifizierte Lebensprinzipien (z. B. deus prudens; Necessitas; Fortuna), anhand derer die jeweilige Sprecher-persona ihre moralphilosophischen Überlegungen zu veranschaulichen versucht. Noch deutlicher als bei der Inszenierung göttlicher Mächte wird bei der Instrumentalisierung der Todesvorstellung für entsprechende moralphiloso‐ phische Aussagen die Bedeutung von Mythos- und Gattungskonvention zur Geltung gebracht, was zahlreiche Motive und Topoi betrifft, die auch von der philosophischen Literatur beansprucht werden. Eine gewisse Überschneidung mit epikureischen Lehrprinzipien bzw. lukrezischen Formulierungen ist in all den hier näher betrachteten ‚Todesoden‘ (carm. 1, 24; 1, 28; 2, 14; 2, 16;
4.5 Gesamtfazit über die autorenspezifische Götter- und Todesdarstellung
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4, 7) zu konstatieren, ohne daraus jedoch auf die orthodoxe Wiedergabe des epikureischen Dogmas schließen zu können. Stattdessen bilden epikureische ‚Philosopheme‘ wie das Ideal eines einfachen und zurückgezogenen Lebensstils bzw. die herabgestufte Bedeutung von Macht und Reichtum zwar einen ganz wesentlichen Bestandteil der ‚horazischen Philosophie‘, aber nicht den einzigen. In Vergils Eklogen, von denen in diesem Kapitel lediglich die fünfte herange‐ zogen wurde, kombiniert der Dichter in seiner von Theokrit adaptierten und weiterentwickelten Version des Daphnis-Mythos bukolisches Ambiente mit lukrezischen Motiven und philosophischer Sprache. In fast noch stärkerem Maß als bei Horaz werden anhand eines personifizierten Gottes voluptas und otia als zurückgekehrte Lebensprinzipien präsentiert und eng an die Apotheose des Daphnis gebunden. Der Menalcas-Gesang, der dieses Thema mit lukrezisch-epi‐ kureischen Referenzen musikalisch erklingen lässt, ist wohl in dieser Form ein innovatives Vergil-Addendum, das als tröstlicher und versöhnlicher, ja sogar als therapeutischer Gegenpol zum vorangehenden Mopsus-Lied über den Tod des ruhmvollen Daphnis zu verstehen ist: Der Tod eines gefeierten und bewun‐ derten Idealhirten wird durch dessen Apotheose und seine dauerhaft gesicherte Wirkung auf die Nachwelt, die damit zugleich einhergeht, überwunden. Im flavischen Epos des Statius begegnet man hingegen mit Capaneus der traditionsreichen Figur eines energisch kämpfenden contemptor divum, die zwar in ihren Äußerungen offenbar ebenfalls mit einigen epikureischen Ansichten übereinzustimmen scheint, in ihrem Gesamtbild jedoch keine klare philosophi‐ sche Ausrichtung bzw. überhaupt ein dezidiertes Interesse an philosophischen Fragestellungen erkennen lässt. Capaneus verfolgt vielmehr in fast blinder Raserei das Ziel, sich dadurch unsterblichen Ruhm zu erwerben, dass er es sogar mit den Göttern aufnimmt. Der Eindruck eines zum Teil epikureisch ‚gefärbten‘ Kriegers rührt vor allem daher, dass Statius offensichtlich seinen Capaneus aus mehreren literarischen Vorlagen ‚komponiert‘ und dabei auch dem ‚epikureischen‘ Potential der Figur in Eur. Suppl. 860–871 gerecht werden möchte. Die positive Charakterisierung bei Euripides wird in eine weitgehend negative Darstellung umgewandelt und die ‚epikureischen‘ Charakterzüge werden dementsprechend angepasst bzw. abgeschwächt und auf ein paar wenige Äußerungen des Capaneus reduziert, die selbst in der direkten Ausein‐ andersetzung mit dem Seher Amphiaraus kaum mehr einen philosophischen Diskurs in Form eines epikureisch-stoischen Streitgesprächs erkennen lassen, wie es stattdessen im Rededuell zwischen Virtus und Voluptas in Buch XV der Punica des Silius Italicus noch recht deutlich fassbar ist.
5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία im Kontext römischer Figurenmodellierung In den beiden vorangehenden Kapiteln ist bereits wiederholt deutlich geworden, dass eine trennscharfe Behandlung der ‚philosophischen Kategorien‘ in der literarischen Praxis eigentlich nie gegeben ist; eine Unterteilung in verschiedene Themen bzw. Schlagwörter wird in dieser Arbeit zur Fokussierung auf be‐ stimmte Aspekte in den antiken Texten vorgenommen. In besonderem Maß zeigt sich diese Problematik bei den beiden termini technici aus der epikureischen Philosophie, die nun im Zusammenhang mit der römischer Figurenmodellie‐ rung in den Blick genommen werden:1 der berühmt gewordene Lehrsatz λάθε βιώσας, der aus dem Epikur-Fragment 551 (Usener) stammt, und das damit eng verknüpfte Gesamtziel der epikureischen Lebensauffassung, die ἀταραξία.2 Der formelhafte Lehrsatz λάθε βιώσας scheint in dieser Formulierung ein einmaliger und isolierter Aphorismus zu sein, der in der Regel in ein ethisches3 bzw. in ein politisches4 Licht gerückt wird. Seine Wirkmächtigkeit lässt sich jedoch schon daran erkennen, dass er sinngemäß auch in Epikurs Κύριαι δόξαι enthalten ist und später unter anderem Eingang in Plutarchs Traktat De latenter vivendo (griech.: Εἰ καλῶς εἴρηται τὸ λάθε βιώσας = mor. 77) gefunden hat.5 In den Werken von Philodem und Lukrez, die für den römischen Epikureismus von größter Bedeutung sind, scheint dem Leitspruch des λάθε βιώσας insgesamt nur eine untergeordnete Bedeutung zuzukommen:6 Philodem 1 2 3 4
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Siehe dazu Kapitel 3.4.3., in dem diese Problematik exemplarisch für Stat. silv. 1, 3 und silv. 2, 2 zur Sprache gebracht wird. Vgl. dazu v. a. Epik. Men. 128, wo die ψυχῆς ἀταραξία zusammen mit der σώματος ὑγίεια als τοῦ μακαρίως ζῆν τέλος definiert wird; siehe etwa auch Epik. sent. Vat. 79; 81. Gemeint ist das λάθε βιώσας als zentraler Bestandteil eines Lebensideals, mit dem die ἀταραξία als unverzichtbare Voraussetzung für die letztlich erstrebte εὐδαιμονία verknüpft ist. Damit ist vor allem die direkte Verknüpfung mit dem ebenso prägnanten Lehrsatz μὴ πολιτεύεσθαι (Epik. fr. 8 Usener = Diog. Laert. 10, 119; ähnlich Epik. sent. Vat. 58) und der empfohlenen Meidung größerer Menschenmengen (Epik. fr. 187 Usener) gemeint; siehe dazu Roskam (2007) 36. Vgl. v. a. Epik. sent. rat. 14: […] εἰλικρινεστάτη γίνεται ἡ ἐκ τῆς ἡσυχίας καὶ ἐκχωρήσεως τῶν πολλῶν ἀσφάλεια („[…] so entspringt doch die reinste Sicherheit aus der Ruhe und dem Rückzug vor der Masse“).
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plädiert immerhin des Öfteren dafür, dass sich ein Philosoph von politischen Angelegenheiten distanzieren solle.7 Dementsprechend sieht Philodem das von Epikur begründete Lebensideal des λάθε βιώσας – offenbar in enger Anlehnung an diesen – auch immer mit dem Lehrsatz μὴ πολιτεύεσθαι (Epik. fr. 8 Usener = Diog. Laert. 10, 119) verknüpft. So demonstriert Philodem beispielsweise in einer Anekdote über Epikur selbst die Möglichkeit, durch ein weitgehend unbeachtetes Leben und Wirken einer politisch motivierten Verfolgung vor‐ zubeugen, die aus unerwünschten Innovationsansätzen im philosophischen Denken resultieren könnten:8 Καί φασι τὸν Ἐπίκουρον ἐκπεφευγ[έν]αι τὸν Ἀττ[ι]κ[ὸν] ὄ[χλ]ον οὐχ ὅτι ε[…]τηγογεσοντο[… ἧττον ἀσεβεῖς εἶχ[εν ὑπολήψεις, ἀλ[λὰ τῶι διαλεληθένα[ι πολλοὺς ἀνθ[ρ]ώπου[ς τ]ὴν φιλοσοφί[α]ν α[ὐτ]οῦ (Philod. De pietate, col. 49, 9–19) Sie behaupten auch, dass Epikur vor der Menschenmenge Athens geflohen ist, nicht weil [2–4 Wörter fehlen] er gottlose Ansichten weniger vertrat, sondern weil seine Philosophie von vielen Menschen völlig unbemerkt geblieben ist […].
In ähnlichem Zusammenhang stellt Philodem auch in anderen Werken mehr‐ fach die folgenschweren Nachteile einer politischen Karriere in drastischer Art und Weise dar, gewissermaßen als einen zum Scheitern verurteilten Gegenent‐ wurf zum epikureischen λάθε βιώσας.9 Dabei veranschaulicht Philodem seine philosophische Position in der Regel dadurch, dass er auf konkrete exempla aus der politischen und philosophischen Geschichte wie Alkibiades und Sokrates zurückgreift.10 Auch im Lehrgedicht des Lukrez ist die ethische Maxime des λάθε βιώσας zu erwarten, obwohl Lukrez ja hauptsächlich die epikureische Physik thematisiert. Die verschiedenen Bereiche eines philosophischen Lehrsystems werden in der 6
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Roskam (2007) 85 konstatiert entsprechend für das lukrezische Lehrgedicht in seiner Relation zum Leitkonzept des λάθε βιώσας: „As such, it is not the most obvious source for reflections that concern the maxim λάθε βιώσας. Yet, the work contains several passages (esp. the proems, but also some digressions) where Lucretius raises ethical matters“. Vgl. Philod. De rhetorica 8, 2, 35, col. 38, 8–12S; De Epicuro [= PHerc. 1232], col. 28, 12–15; siehe dazu auch Roskam (2007) 108f. Siehe dazu auch Roskam (2007) 110. Vgl. Philod. De rhetorica 1, 234, col. 4, 8–15 S.; 2, 147, fr. 4, 4–17 S.; 2, 151, fr. 8, 16–23 S.; De morte, col. 35, 1–5. Vgl. Philod. De pietate, col. 59, 2–18. Für die weitere Erschließung von Philodems Umgang mit dem epikureischen λάθε βιώσας siehe Philod. De oeconomia, col. 23, 7–36; De morte, col. 29, 2–15.
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literarischen Praxis aber nie völlig isoliert voneinander behandelt: So ist auch für die epikureische Lehre zu bedenken, dass ein ganz wesentlicher Zusammenhang zwischen der Naturerkenntnis und der entsprechenden Lebensgestaltung des Einzelnen als Voraussetzung für das Erreichen der Ataraxie besteht. Daher tritt der Grundsatz des λάθε βιώσας auch bei Lukrez immer in Verbindung mit anderen Elementen der epikureischen Philosophie auf: Das prominenteste Beispiel ist gewiss im Proöm zu Buch II von De rerum natura zu finden, in dem der Dichter die Annehmlichkeit eines Lebens ohne mala, pericula und labores preist und Menschen, die sich irgendeine Art von Wettstreit leisten und auf den Irrwegen von Reichtum und politischer Macht wandeln, scharf kritisiert.11 Im Rahmen der Argumentation gegen politisches Engagement kann zwischen Epikur und Lukrez Übereinstimmung festgestellt werden: Politisches Leben wird auch außerhalb von Buch II des lukrezischen Lehrgedichts eher als Quelle von labor denn von voluptas und politische ambitio als letztlich überflüssige und notwendigerweise unerfüllbare Begierde gesehen und der schädliche Effekt von Machtstreben und Neid betont; dieser Gedanke findet sich insbesondere im Rahmen des Epikur-Lobs zu Beginn von Buch III, in dem die Kenntnis bzw. das Verständnis seiner Naturlehre als geistige Erleuchtung und eine divina voluptas (V. 28) dargestellt wird.12 Lukrez scheint aber noch rigoroser und damit auch pauschaler in der Darstellung der epikureischen Lehrsätze als der Schulgründer selbst zu sein. Die Ursache dafür ist wohl vor allem im zeitgeschichtlichen Kontext zu suchen, aber auch im Versuch, die epikureische Lehre in Rom durch eine trennscharfe Konturierung der epikureischen Lebensmaximen zu etablieren. Eine isolierte Betrachtung des λάθε-βιώσας-Grundsatzes, wie es seine frag‐ mentarische Überlieferung suggerieren könnte, ist also zumindest von den Pionieren des römischen Epikureismus nicht intendiert oder praktiziert worden. Eine solche Absonderung würde nämlich einerseits der Gesamtausrichtung der Kepos-Philosophie nicht gerecht werden und andererseits in einer Gesellschaft wie der römischen, die sich auf die Wertevorstellungen der sozialen Elite stützt, sicherlich noch mehr an Überzeugungskraft eingebüßt hätte. Vielmehr ist es unerlässlich, den weiter gefassten philosophischen Kontext und damit die Verknüpfung mit anderen zentralen Philosophemen des Kepos in den Blick
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Vgl. Lucr. 2, 1–19; siehe dazu auch Lucr. 5, 1120–1135 (insbesondere V. 1127f.: ut satius multo iam sit parere quietum / quam regere imperio res velle et regna tenere). Vgl. Lucr. 3, 45; 47: […] magis omnia laudis / iactari causa […]; 50: omnibus aerumnis adfecti […]; 59: denique avarities et honorum caeca cupido; 62f.: […] praestante labore / ad summas emergere opes […]; 70f.: […] divitiasque / conduplicant avidi […]; invidia in V. 75.
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zu nehmen, um den wahren Wert des λάθε βιώσας vor dem Hintergrund des übergeordneten Lebensziels der ἡδονή bzw. der εὐδαιμονία zu ermitteln. Vor dem Hintergrund der voraugusteischen Rezeption des epikureischen λάθε-βιώσας-Konzepts soll nun dessen Einbettung in den Kontext römischer Figurenmodellierung (außerhalb der explizit epikureischen Dichtung) im Fokus stehen. Dazu werden zunächst zwei Texte analysiert: Vergils erste Ekloge, in der die Gestalt des Tityrus das Lebensideal zu verkörpern scheint, und der Garten des Corycius senex im vierten Buch der Georgica; anschließend erfolgt eine Annäherung an den Umgang mit dem epikureischen Leitsatz in den Episteln und Satiren des Horaz, ehe die Villengedichte des Statius das epikureische Lebensideal an zwei konkreten Personen zur Schau stellen (Manilius Vopiscus in silv. 1, 3; Pollius Felix in silv. 2, 2). Bei Vergil, Horaz und Statius sind Beziehungen zur epikureischen Philosophie von der Forschung angenommen und nachgewiesen worden. Die Idealisierung des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens in der römischen Liebeselegie ist bei Tibull und Properz Teil der Figur des poeta amans. Diese Idealisierung scheint jedoch nicht mit der epikureischen Lehre in Verbindung zu stehen. In den Elegien von Properz und Tibull wird der Leser mit einer elegischen Sprecher-persona bzw. mit einem amator konfrontiert, der beispielsweise in Auseinandersetzung mit einem Freund (Properz: Tullus13, z. B. Prop. 1, 1; 1, 6, 1, 14) oder Förderer (Tibull: Messalla, z. B. Tib. 1, 1; 1, 3) das eigene Lebensideal zu verteidigen sucht und dabei einen recht unterschiedlichen Zugang zur vita amatoria aufweist: Während sich der amator coactus bei Properz14 erst wider‐ willig mit seinem Lebens- und Liebesschicksal abfinden muss, daraus jedoch ein elegisches Ideal entwickelt, das ab Buch II insbesondere das Selbstverständnis als kallimacheischer Dichter einbezieht,15 aber auch (ab Buch III) ein Ende bzw.
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Zur Problematik um die Identität des Adressaten Tullus siehe Döpp (1999) 8 f.; eine problemfreie Identifizierbarkeit sieht dagegen Syndikus (2010) 53, v. a. Anm. 105. Diese Charakterisierung lässt sich vor allem auf Prop. 1, 1, 1–8 zurückführen, wo sich das elegische Ich als ‚Opfer‘ von Cynthia bzw. Amor inszeniert; siehe dazu auch Steidle (1987) 150: „Auszugehen ist von Properzens Unterwerfung unter die Liebe, die in den ersten vier zusammengehörigen Distichen unter offenkundigem Anschluss an ein Epigramm des Meleager von Gadara gestaltet ist (Anth. Pal. XII 101). Jedes Distichon hat seine besondere Funktion: das erste schildert den Beginn der Leidenschaft […], das zweite Properzens Unterwerfung und den Triumph Amors, das dritte die Konsequenz des Triumphes […]. Schließlich bringt das vierte Distichon insofern eine Steigerung, als der Wahnsinn dieser Leidenschaft (furor) bereits ein Jahr dauert, obwohl die Liebe unglücklich und unerfüllt ist“. Vgl. Mutschler (1985a) 175: „In dieser Gestaltung äußert sich ein tiefgehender Wandel: An die Stelle des leidenden oder doch wenigstens der Liebe unterworfenen Liebhabers
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ein mögliches Scheitern der vita amatoria berücksichtigt,16 steht bei Tibull ganz stark der Wunsch nach einem friedlichen und bedeutungslosen Leben auf dem Land im Mittelpunkt, den es mit der vita amatoria zu vereinigen gilt.17 Bei beiden Dichtern werden für die jeweilige Beschreibung des elegischen Lebensideals unter anderem lukrezische und vergilische Gedanken und Motive verarbeitet, die – gattungstechnisch betrachtet – eine gewisse Nähe zur Bu‐ kolik bzw. – philosophisch gesehen – zu epikureischen Lebensvorstellungen erkennen lassen.18 Gerade bei Properz scheint dabei ein ums andere Mal epiku‐
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tritt jetzt in den programmatischen Äußerungen der seines Wertes bewusste und innerlich überlegene Dichter“. Zu den mit Prop. 2, 1 neu hinzukommenden Aspekten des favorisierten Lebens siehe auch Steidle (1987) 160–177. Erst in Prop. 4, 1, 64 erfolgt die berühmte Selbstbezeichnung des Dichters als Callimachus Romanus. Vgl. v. a. Prop. 3, 5, 23–46; 3, 21, 25–30. Die dort thematisierten philosophischen Studien, die der amator coactus für sich selbst notwendigerweise in Aussicht stellt, sind zwar ebenfalls Teil und Konsequenz der gewählten bzw. akzeptierten vita amatoria, doch mitnichten ist die Beschäftigung mit philosophischen Fragestellungen als alternativ‐ loses Ziel zu verstehen, das um seiner selbst willen gesetzt ist, sondern stattdessen einmal – im Seniorendasein – auf die gravis aetas (Prop. 3, 5, 23) und ein andermal – als Ablenkung und Neuanfang – auf den gravis amor (Prop. 3, 21, 2) zurückzuführen; zum Topos der Abwendung von der Dichtung zugunsten der Philosophie in Prop. 3, 5, 19–25 siehe auch Kayachev (2013) 413–417. Dagegen kennzeichnet Holzberg (62015) 60 den Abschnitt Prop. 3, 5, 23–46 nicht seinem Inhalt nach als philosophische Naturstudien, sondern stellt diese Passage in den thematischen Rahmen der Gattungswahl und fasst sie somit als Erklärung des poeta auf, „sich ganz der Lehrdichtung, also vermutlich dem didaktischen Epos und somit einer in der Antike als ,friedlich‘ angesehenen Gattung [zu] widmen“. Syndikus (2010) 232 f. betont dabei vor allem die Parallele zum Ende des zweiten Georgica-Buches. Wifstrand-Schiebe (1981) 55 spricht vom „persönlichen Kleinbauernideal“, das vor allem in Tib. 1, 1, Tib. 1, 5 und Tib. 1, 10 entworfen, aber im zweiten Buch des Corpus Tibullianum nicht mehr aufgegriffen wird. Die bekannte Rahmenfunktion von Eröffnungsund Schlusselegie im ersten Buch ergibt sich nicht zuletzt aus ihrer engen thematischen Verknüpfung, genauer gesagt aus der Kontrastierung von Aspekten wie Bescheidenheit und Habgier, Zurückgezogenheit und politische Karriere, Frieden und Krieg sowie Leben und Tod; siehe dazu v. a. Itgenshorst (2013) 385–391; Maltby (2002) 340; Boyd (1984) 278–280; Gaisser (1983) 58–72; Pillinger (1971) 204; Littlewood (1970) 667–669. Die Kontrastierung einer von Reichtum geprägten Lebensart und der eigenen, eher schlichten Lebensweise in Prop. 1, 14, die auch in Tibulls Eröffnungselegie und in zahlreichen Oden des Horaz (z. B. carm. 1, 20; 1, 38; 2, 2; 2, 10; 2, 16; 3, 16) zur Geltung kommt, ruft beispielsweise über die elegischen Motive hinaus auch eine philosophische Kompo‐ nente auf den Plan: Mutschler (1985a) 164 f. legt zwar zunächst relativ nachvollziehbar dar, dass der am Flussufer ausgestreckt daliegende Tullus durchaus an das berühmte und für die epikureische Philosophie sinnbildlich stehende Motiv des bescheidenen und naturverbundenen Betrachters aus der Ferne erinnere (Lucr. 2, 1–30). Doch so problemfrei, wie es Mutschler zunächst für diese Stelle suggeriert, ist ein solcher Vergleich keines‐ wegs: Es besteht nämlich ein entscheidender Unterschied zwischen dem properzischen bzw. dem tullischen Beobachten von Wasserfahrzeugen, die sich mit unterschiedlicher
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reisch ‚gefärbtes‘ Vokabular verwendet und auf die elegische Lebenssituation übertragen, also insgesamt neu kontextualisiert worden zu sein. Dies wird ge‐ rade an Begriffen wie optata quies und facilis amor in Prop. 1, 14, 9 f. deutlich, mit denen aus Sicht des amator coactus ein unbeschwertes und behagliches Dasein definiert wird, das nur durch das Zusammensein mit der Geliebten möglich ist und den wichtigsten Bestandteil eines glücklichen Lebens bildet. Auch in Prop. 1, 3 bestaunt er den Anblick der im Weinrausch schlafenden Cynthia, die in diesem Zustand (und damit nur für eine kurze Dauer) eine mollis quies (V. 7) ausstrahlt; in Prop. 1, 10 hingegen tritt er als verzückter Beobachter oder Zuhörer eines Liebesspiels zwischen Gallus und seiner puella in Erscheinung, wobei er dieses Erlebnis eines konfliktfreien und leidenschaftlichen Liebesvollzugs als iucunda quies (V. 1) bzw. als iucunda voluptas (V. 3) und als laetitia (V. 12) preist. Bei all diesen Ausdrücken kann jedoch allenfalls ein terminologisches, aber kein inhaltliches Interesse an der epikureischen Philosophie im strengen Sinn konstatiert werden.19 Für das Lebensideal von Tibulls amator – die Realisierung der vita iners (Tib. 1, 1, 5) und damit die harmonische Verschmelzung von Bauern- und Liebesleben – sind dagegen das Motiv des idealisierten Goldenen Zeitalters (v. a. Tib. 1, 10, 7–10)20 sowie der göttliche Einfluss von Spes (Tib. 1, 1, 9 f.)21 und Pax (Tib. 1, 10, 45–50; 67 f.)22 von entscheidender Bedeutung.23
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Geschwindigkeit fortbewegen, und der lukrezischen Betrachtung eines Seesturms aus sicherer Entfernung, die aufgrund des Bewusstseins um diese Distanz ein Wohlbehagen (suave) beim Betrachter auslöst. In emotionaler Hinsicht ist das sicherlich ein völlig anderes Niveau als das bequeme Herumliegen und Dösen, wie es Tullus zu Beginn von Prop. 1, 14 verkörpert. Eine unübersehbare Lukrez-Reminiszenz (Lucr. 2, 34–36) lässt sich ferner in Prop. 1, 14, 15–24 erkennen; vgl. dazu Mutschler (2011) 147 f. bzw. Mutschler (1985a) 169 f.; La Penna (1977b) 141; Camps (1961) 77. Bei Tibull werden insbesondere in Tib. 1, 1, 25–28 Referenzen auf Lukrez (Lucr. 2, 23–33) und Vergil (Verg. georg. 2, 458–542) deutlich; vgl. v. a. Putnam (2005) 133–135, der zudem die Einflüsse von Vergils Eklogen auf Tibulls Eröffnungselegie fokussiert; Perrelli (1996) 13 f.; Boyd (1984) 274 f., die aber die Unterschiede zu Vergils Corycius senex hervorhebt. Eine motivische Parallele ist außerdem bei Tib. 1, 1, 45–50 und den Eröffnungsversen von De rerum natura II festzustellen; siehe dazu auch Wimmel (1976) 38f. Cairns (2006) 300 sieht dagegen überhaupt keine Verbindung zum Epikureismus: „In his Monobiblos Propertius showed no interest in Epicureanism“. Vgl. hierzu auch Tib. 1, 3, 35–50. Zu Motiv und Symbolik des sorgenfreien Schlafes vgl. auch Tib. 1, 1, 48; 1, 2, 1–4; 76–80; siehe dazu Mutschler (1985b) 146 f. Zur Goldzeit-Konzeption in Tib. 1, 10 siehe v. a. Wifstrand-Schiebe (1981) 61 f.; 76f. Diese tritt nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende des tibullischen Gesamtwerkes (Tib. 2, 6, 19–28) als Schutzmacht des Landmannes und Kulturbringerin auf. Zur Pax-Figur in Tibulls Schlusselegie siehe Wifstrand-Schiebe (1981) 92 f.; zur Schluss-invocatio der Pax siehe ferner Loupiac (1996) 401; Boyd (1984) 280. Vor allem die leidenschaftliche Liebeserklärung an Delia in Tib. 1, 1, 57–74, aber auch die Liebesfreuden und -leiden des elegischen Ichs in den hier nicht näher beleuchteten
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens bei Vergil
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Auch wenn in beiden Textcorpora also immer wieder philosophische Über‐ legungen zur Geltung kommen, die gerade bei Tibull inhaltliche Übereinstim‐ mungen mit der epikureischen Lehre erkennen lassen,24 kann man kaum von einer schulspezifischen Philosophie sprechen. Daher ist es auch unzulässig, von einer (konsequent) epikureisch ‚gefärbten‘ Sprecher-persona in den Properzoder Tibull-Elegien zu sprechen, obgleich einzelne Gedichte entsprechende Rückschlüsse zumindest teilweise zulassen. Vielmehr wird im Rahmen des Lebenswahlmotivs, das sich bei beiden Au‐ toren über das Gesamtwerk erstreckt, allgemeines Gedankengut hellenistischer Dichtung (z. B. bukolische Merkmale; kallimacheische Poetologie; Motivtradi‐ tion des Goldenen Zeitalters) zutage gefördert, das sich wohl am ehesten – wenn auch in weitaus geringerem Ausmaß – mit der Populärphilosophie eines Horaz vergleichen lässt, die vor allem in dessen Oden und Episteln transportiert wird. Dieses Gedankengut verbinden Properz und noch mehr Tibull jeweils mit elegischen Topoi wie der militia amoris und der Hoffnung auf ein foedus aeternum. Auf jeden Fall ist die philosophische Dimension, die der durchge‐ henden Diskussion verschiedener Lebensmodelle bei beiden Elegikern zugrunde liegt, zwar ein Bestandteil properzischer und tibullischer Elegiendichtung; doch die entsprechenden Überlegungen sind niemals Ausdruck einer spezifischen Schulphilosophie, sondern inhaltliche Bausteine bei der Konstruktion einer facettenreichen vita amatoria.
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens in Vergils Bucolica und Georgica Vergil hingegen gibt der Bukolik in römischer Zeit – wie bereits in Kapitel 4.3. an der fünften Ekloge exemplarisch vorgeführt – an mehreren Stellen einen epikureischen Anstrich. Entsprechende Indizien und vor allem intertextuelle Referenzen auf Lukrez-Passagen haben bereits einige Vergil-Forscher wie An‐ nette Lucia Giesecke und Sabine Schäfer hervorgehoben.25 Davon ausgehend soll
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Tibull-Gedichten rücken typisch elegische Inhalte in den Vordergrund und drängen zugleich die ‚philosophischen‘ Aspekte wiederholt in den Hintergrund. Zu diesem Ergebnis kommt insbesondere Loupiac (1996) 399–404, der vor allem zwei Aspekte in Tibulls Dichtung als Merkmale epikureischer Philosophie hervorhebt: „Les Elegies font en effet une large place à deux thèmes épicuriens, la condamnation morale de la militia et l’éloge de l’otium rusticum“ (S. 400). Zu Vergils Eklogen bzw. zur Aeneis und den Parallelstellen im lukrezischen Lehrgedicht siehe Giesecke (2000) 31–58 bzw. 59–94; zu Vergils Georgica und ihrem Verhältnis zum lukrezischen Lehrgedicht siehe Schäfer (1996) passim.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
auch in diesem Fall das Verfahren der (poetischen) Figurenmodellierung als li‐ terarische Gestaltungstechnik für die Darstellung epikureischen Gedankenguts untersucht werden. In der Appendix Vergiliana, einer Sammlung von mehreren Gedichten, die in der Überlieferung Vergil zugeschrieben wurden, finden sich mit dem fünften und dem achten Catalepton-Gedicht bereits zwei Texte, die mit Namenangaben auf Vergils Beziehung zum Epikureismus verweisen, wie er im 1. Jahrhundert v. Chr. von Kampanien aus in die römische Welt hinaus gelehrt und verbreitet wurde:26 nos ad beatos vela mittimus portus magni petentes docta dicta Sironis, vitamque ab omni vindicabimus cura. (Verg. catal. 5, 8–10)
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Villula, quae Sironis eras, et pauper agelle – verum illi domino tu quoque divitiae – […]. (Verg. catal. 8, 1f.)
In diesen beiden Texten, die Peirano den pseudo-autobiographischen Gedichten im Corpus Vergilianum zuordnet,27 stellt sich der Ich-Sprecher in die Anhänger‐ schaft des römischen Epikureers Siro, der im 1. Jahrhundert v. Chr. wohl einen Kepos-Kreis in Kampanien geleitet hat, und unterstreicht seine Bewunderung für das von Siro gelehrte Lebensideal: Dieses zeichnet sich dem Ich-Sprecher zufolge in erster Linie durch ein sorgloses Dasein und ein bescheidenes, aber ausreichendes Lebensauskommen mit geringem Besitz und Vermögen aus und erfüllt somit das epikureische Lebensideal des λάθε βιώσας im Sinn der übergeordneten ἀταραξία. In Catalepton 5 kündigt der Ich-Sprecher in diesem Zusammenhang den Abschied von der Rhetorik (V. 1–7) und – zumindest vorläufig – auch von der Dichtung (V. 11–14) an. Unabhängig davon, ob der Autor dieses Textes tatsächlich Vergil ist, wie etwa Chambert meint,28 oder ob diese Verse auf einen
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Zur Frage der Autorschaft bezüglich dieser beiden Gedichte und der Catalepton-Sammlung insgesamt siehe Peirano (2012), 74–116; Heuzé, „Virgile et l’amour des Camènes. À propos de Catalepton 5“, REL 89 (2011) 109–117; Chambert (2004) 43–60; Clay (2004) 25–36; Holzberg, „Impersonating young Virgil. The author of the Catalepton and his libellus“, MD 52 (2004) 29–40; Gigante, „Virgilio e i suoi amici tra Napoli e Ercolano“, AVM 59 (1991) 87–125; Naumann, „Ist Vergil der Verfasser von Catalepton V und VIII?“, RhM 121 (1978) 78–93; Ferguson, „Catullus and Vergil“, PVS 11 (1971/1972) 25–47. Vgl. dazu Peirano (2012) 105–116. Vgl. Chambert (2004) 43.
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens bei Vergil
383
Nachahmer des vergilischen Stils zurückzuführen sind, wofür beispielsweise Peirano plädiert,29 sind intertextuelle Verbindungen zu anderen Werken Vergils nicht zu übersehen: Zum einen evozieren die dulces Camenae in Verg. catal. 5, 12 die dulces Musae in Verg. georg. 2, 475 und damit auch das berühmte Ende von Georgica II mit der epikureisch ‚gefärbten‘ laus ruris (Verg. georg. 2, 458–540);30 zum anderen lässt sich die selbst erklärte Zugehörigkeit des Ich-Sprechers zum Siro-Kreis gut mit der Sphragis in Georgica IV verknüpfen: illo Vergilium me tempore dulcis alebat Parthenope studiis florentem ignobilis oti, carmina qui lusi pastorum audaxque iuventa, Tityre, te patulae cecini sub tegmina fagi. (Verg. georg. 4, 563–566)
565
Der Rückblick des Dichters auf die Blütezeit seiner Jugend lässt sich nach Griffin und Peirano31 einerseits als Kontrast zu den militärischen Unternehmungen des jungen Octavian verstehen, andererseits aber auch – gerade durch die Verwendung des otium-Begriffs in V. 564 – als Hommage an seine ‚epikureische‘ Schaffensphase, in die auch die Eklogen fallen, aus denen er in V. 566 unver‐ kennbar den allerersten Vers zitiert:32 Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi (Verg. ecl. 1, 1).33 5.1.1 Die Kontrastierung von Tityrus und Meliboeus in der ersten Ekloge Die Eröffnungsekloge schildert die freundschaftliche Begegnung zwischen den beiden Hirten Tityrus und Meliboeus. Die Ausgangslage der beiden Viehhüter in Vergils erster Ekloge könnte gegensätzlicher kaum sein (V. 1–18):34 Während sich Meliboeus als Vertriebener in einer prekären Situation voller Sorge um 29 30 31 32
33 34
Vgl. Peirano (2012) 105–116. Vgl. v. a. Peirano (2012) 112. Eine noch deutlichere Reminszenz an die Georgica-Passage findet sich im ebenfalls pseudo-vergilischen Culex; siehe dazu Chambert (2004) 47–49. Vgl. Peirano (2012) 113 f.; Griffin (2008) 242f. Vgl. dazu insbesondere Kayachev (2013) 417 f.; Rundin (2003) 163, Anm. 12; Erren (2003) 1002 f.; Gale (2000) 55 f.; 183; 244 f.; 270; Sider (1995) 43 f.; anders dazu Gigante (2004) 95 f. Zur Verbindung des otium-Begriffs mit der epikureischen Philosophie vgl. u. a. Cic. nat. deor. 1, 67; Sen. dial. 8 (= De otio), 1, 4–3, 3; Plin. nat. 19, 51; siehe ferner auch Erler (2016) 61 f.; 69–71. Zum ebenfalls in der ersten Ekloge fallenden otium-Begriff vgl. Verg. ecl. 1, 6: O Meliboee, deus nobis haec otia fecit. Eine nützliche Strukturanalyse der Eröffnungsekloge bietet u. a. Albrecht (22015) 96– 102.
384
5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
seine weitere Zukunft befindet (V. 3 f.; 11–17), führt Tityrus ein beschauliches und behagliches Leben voller Ruhe und Muße (V. 1 f.; 4 f.; 6–10). Diesen Eindruck bekundet auch Meliboeus bei seinem Zusammentreffen mit Tityrus zu Beginn der Ekloge: M. Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi silvestrem tenui Musam meditaris avena; nos patriae fines et dulcia linquimus arva. nos patriam fugimus; tu, Tityre, lentus in umbra formosam resonare doces Amaryllida silvas. (Verg. ecl. 1, 1–5)
5
Im Mittelpunkt der Ekloge stehen also die einander entgegengesetzten Lebens‐ verläufe der beiden Hirten. Tityrus berichtet dabei vom Wendepunkt seines Lebens, der vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen ist, welche ihm aus dem servitium zur libertas verhalfen (V. 9 f.; 19–25; 27–35; 40–45): Zum einen verdanke er seinen positiven Lebenswandel seiner neuen Geliebten Amaryllis, nachdem ihn Galatea verlassen habe; seither habe er ausreichend Ersparnisse ansammeln können, sodass er sich nun berechtigte Hoffnungen machen konnte, sich endlich freizukaufen. Anschließend habe er sich auf eine Reise nach Rom begeben, wo er zum anderen einem iuvenis begegnet sei, der ihm ermöglicht habe, weiterhin als Hirte tätig zu sein und so seinen Lebensunterhalt zu ver‐ dienen. Somit konnte er wieder aufs Land zurückkehren und dort ein glückliches Leben führen. Seinem Gesprächspartner Meliboeus, der dagegen aus seinem Land vertrieben worden ist, über sein Schicksal klagt (V. 11–17) und eine düstere Zukunft vor Augen hat (V. 64–78), gewährt Tityrus am Ende der Ekloge Zuflucht für eine Nacht. Von zentraler Bedeutung für die Interpretation von Vergils Eröffnungsekloge ist es, wie man deus in V. 6 bzw. iuvenis in V. 42 deutet. Tityrus gibt nämlich gleich zu Beginn an, dass ihm ein „Gott“ diese Ruhe und Muße beschert habe: […] deus nobis haec otia fecit (V. 6). Nachdem Meliboeus erneut sein Leid geklagt hat, erkundigt er sich bei Tityrus, wen genau er mit deus meine. Dass eine konkrete Antwort von Tityrus ausbleibt, hat eine bis heute geführte Forschungsdiskussion ausgelöst an.35 Da sich Tityrus auf die Stadt Rom und damit auf die politischen Verhältnisse in den 30er und 20er Jahren des letzten vorchristlichen Jahrhunderts beziehe, vermutet man einerseits (mehrheitlich) den später unter dem Namen Augustus bekannten Octavian,36 andererseits auf‐ 35 36
Siehe dazu insbesondere Bing (2016) 172–179; Rundin (2003) 162–167. Vgl. dazu u. a. Breed (2014) 398; Casanova-Robin (2014) 9; Cucchiarelli (2012) 133; 143; 154 f.; Coleman (21998) 20; Tarrant (1997) 174; Clausen (1994) 31; 47 f.; Ferguson
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens bei Vergil
385
grund nachgewiesener Lukrez-Zitate den Begründer der epikureischen Schule, also Epikur selbst.37 Ausgehend von diesen beiden unterschiedlichen Positionen sollen im Fol‐ genden beide Deutungsmöglichkeiten auf der Ebene der Allegorese nachver‐ folgt und evaluiert werden. Die Gleichsetzung von deus und Epikur, die zunächst im Fokus steht, kann dabei als ethische Allegorie gedeutet werden. Eine in‐ tendierte Referenz auf den Epikureismus leitet man hauptsächlich aus der intertextuellen Verknüpfung von V. 6 mit dem fünften Buch des lukrezischen Lehrgedichts De rerum natura (V. 7–12: […] deus ille fuit, […] qui princeps vitae rationem invenit […] quique per artem […] vitam […] in tam tranquillo et tam clara luce locavit; V. 1384–1394: otia dia; securitas durch Ablehnung städtischer negotia) ab.38 Wenn man nun aus diesem Verweis eine Gleichsetzung des deus bei Vergil mit dem lukrezischen Epikur folgern würde, wäre das Ergebnis einer stringenten Allegorese, dass Tityrus mit Epikurs Hilfe sein Leben ändern konnte.39 Die Frage, wie die Reise des Tityrus nach Rom und die (zusätzliche) Rettung durch einen iuvenis allegorisch zu verstehen wäre, ist problematisch: Die Be‐ kehrung zum epikureischen Lebensideal, deren Umstände nicht weiter erwähnt werden, wäre der ausschlaggebende Impuls für Tityrus, sein Leben zu ändern und von sich aus tätig zu werden, um sich seine Unabhängigkeit dauerhaft zu sichern. Der Aufbruch nach Rom, der auf den ersten Blick im Widerspruch zum epikureischen λάθε βιώσας stünde, wäre insofern gerechtfertigt, da er als notwendiges Mittel zum Zweck eines später gesicherten Lebensglücks im Rahmen des epikureischen voluptas-Kalküls aufgefasst werden könnte: Tityrus muss sein Leben zunächst durch eigenes Engagement in die Hand nehmen, um anschließend nach epikureischen Maximen in Ruhe und Frieden und in ländlicher Abgeschiedenheit leben zu können; dieses λάθε-βιώσας-Ideal, das
37 38 39
(1990) 2265; Wright (1983) 118–123; Büchner (1955) 1184 f.; anders dagegen Mayer (1983) 17–30. Vgl. dazu v. a. Bing (2016) 174–179; Scholl (2014) 493 f.; Davis (2012a) 37–39; Karakasis (2011) 76 f.; Saunders (2008) 26; Rundin (2003) 162 f.; Giesecke (2000) 48; Alfonsi (1959) 173f. Vgl. dazu u. a. Casanova-Robin (2014) 11; Davis (2004) 71 f.; Clausen (1994) 39. Mit der Erklärung, hinter deus stecke zumindest eine Hommage an Epikur, dem von seinen Anhängern ebenfalls regelmäßig gedacht wurde, wäre dem potentiellen Einwand, dass die Intervention eines Gottes einer epikureischen Deutung der Ekloge völlig entgegenstünde, zudem Einhalt geboten. Bing (2016) 176–179 führt dafür sogar etymologische Gründe und die Tradition des Wortspiels mit dem Namen ‚Epikur‘ an. Davis (2012a) 28 verweist dabei auf die Kompatibilität der von Tityrus in V. 6–8 und in V. 42 f. entgegengebrachten Gottergebenheit mit der epikureischen pietas gegenüber Göttern und der gottgleichen Verehrung des Epikur; vgl. dazu auch Diog. Laert. 10, 16–22.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
er der Beschreibung des Meliboeus zufolge zum Zeitpunkt ihres Aufeinander‐ treffen bereits verwirklicht hat, spiegelt sich im dann ebenfalls allegorisch zu verstehenden tegmen (V. 1) wider, unter dem sich Tityrus von Anfang an befindet (Geborgenheit und Schutz durch das Landleben).40 Die Begegnung mit dem iuvenis, der ihm letztlich seine Rinderherde erhält und ihm weiterhin das Weiderecht gewährt, wäre dann auch nicht einfach ein glücklicher Zufall, sondern das Ergebnis seiner Eigeninitiative, die wiederum indirekt durch den deus hervorgerufen worden wäre. Im weiteren Verlauf der Ekloge finden sich jedoch noch andere Indizien für die epikureische Prägung des Hirten Tityrus: In V. 20 und V. 27 bekennt dieser, dass er sich vor seiner Reise nach Rom in einem Zustand der stultitia und inertia befunden und erst durch den Wechsel seiner Partnerin und die Selbsterkenntnis des fortgeschrittenen Alters seine libertas entdeckt habe. Unter seiner ehemaligen Lebensgefährtin Galatea war offenbar kein sorgenfreies und auf die Rücklage von Ersparnissen bedachtes Leben möglich, erst mit Amaryllis als neuer Frau an seiner Seite hat sich sein Lebensglück eingestellt. Tityrus hat also eine längere Entwicklung durchgemacht, die nicht nur seine (äußeren) Vermögensverhältnisse, sondern vor allem auch seine (innere) Lebenseinstellung betrifft.41 Die von einem iuvenis verhinderte Konfiszierung seines Weidelandes macht Tityrus in den Augen des Meliboeus, dessen Schicksal in scharfem Kontrast zum Glück des Tityrus steht, vollends zu einem fortunatus senex (V. 46; 51). Bevor Meliboeus sich seine eigene düstere Zukunft ausmalt, skizziert er nämlich seine Vorstellung von der glücklichen Zukunft des Tityrus: M. Fortunate senex, ergo tua rura manebunt et tibi magna satis, quamvis lapis omnia nudus limosoque palus obducat pascua iunco: non insueta gravis temptabunt pabula fetas nec mala vicini pecoris contagia laedent. fortunate senex, hic inter flumina nota et fontis sacros frigus captabis opacum; hinc tibi, quae semper, vicino ab limite saepes Hyblaeis apibus florem depasta salicti saepe levi somnum suadebit inire susurro; hinc alta sub rupe canet frondator ad auras,
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50 55
Auch hier ist die Nähe zur lukrezischen Formulierung sub tegmine caeli (Lucr. 1, 988; 2, 663; 5, 1016); siehe dazu auch Casanova-Robin (2014) 13; Clausen (1994) 34. Vgl. dazu Albrecht (22015) 98: „Tityrus zeigt einmal mehr, dass er ein Stadium des Nichtwissens und falscher Abhängigkeit überwunden hat. Er gibt ehrlich zu, seinen sozialen Aufstieg dem Charakter der Amaryllis zu verdanken“.
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens bei Vergil
nec tamen interea raucae, tua cura, palumbes nec gemere aeria cessabit turtur ab ulmo. (Verg. ecl. 1, 46–58)
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Ein ausreichend großer Landbesitz sei ihm auf Dauer gesichert und jede Lebensgefahr für sein Vieh gebannt. Tityrus selbst genieße eine vollkommene Geborgenheit (v. a. V. 52: frigus opacum) inmitten seiner natürlichen Umgebung, die ihm ein sorgenfreies und geruhsames Leben ermöglichen (symbolisch dafür steht somnus). Die Beschreibung dieses locus amoenus ruft also eine Naturidylle hervor, die dem Hirten alle notwendigen Voraussetzungen für ein ideales Leben nach epikureischen Maßstäben bereitstellt.42 Nachdem sich Tityrus höchst dankbar für diese Lebensbedingungen zeigt, wobei unklar bleibt, ob er sich mit illius an den zuvor erwähnten deus oder an den ebenfalls geschätzten iuvenis 43 richtet und ob sich diese beiden Ausdrücke tatsächlich – wie allgemein vermutet – auf ein und dieselbe Person beziehen,44 schildert Meliboeus seine von Unruhe und Not geprägte Zukunft. Gegen den bisher vielleicht gewonnenen Eindruck, dass sich Tityrus trotz seiner weitaus besseren Lebenslage so gut wie gar nicht in das Leiden seines Gegenübers hineinzuversetzen wisse, bietet er Meliboeus am Ende der ersten Ekloge seine Gastfreundschaft in Form von freier Kost und Logis für eine Nacht an (sog. vocatio ad cenam) und damit zumindest die Aussicht auf eine vorübergehende securitas:45 T. Hic tamen hanc mecum poteras requiescere noctem fronde super viridi: sunt nobis mitia poma, castaneae molles et pressi copia lactis, et iam summa procul villarum culmina fumant maioresque cadunt altis de montibus umbrae. (Verg. ecl. 1, 79–83)
80
Zudem erinnern gerade die Details der von Tityrus in Aussicht gestellten Mahlzeit, wie zuletzt Gregson Davis hervorgehoben hat, an die Ausführungen Epikurs in seinem Brief an Menoikeus und an Philodems Traktat De pietate, der auch die ethische Bedeutung kulinarischer Bescheidenheit behandelt.46 42 43 44 45 46
Ein ähnliches Ortsideal wird auch in Theokr. 5, 45–49 und Theokr. 7, 133–145 entworfen. Vgl. Verg. georg. 1, 500; Hor. carm. 1, 2, 41; bei Cic. Phil. 5, 43 als divinus adulescens beschrieben. Siehe dazu Anm. 36 und 37 in diesem Kapitel. Vgl. dazu auch Davis (2004) 63–70, der die konsolatorische Funktion des Tityrus konstatiert und aufgrund des hohen Stellenwerts, den die Freundschaft im Kepos hat, die epikureische Tendenz der Ekloge hervorhebt. Vgl. v. a. Epik. Men. 130f.
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Eine derart betonte ethische Dimension kann zwar für Vergils Ekloge nicht ohne Weiteres postuliert werden, aber die hergestellte Verbindung zu den Grundsätzen epikureischer und damit schlichter Lebens- bzw. Ernährungsweise wird relativ deutlich. Ob Meliboeus auf diese Einladung eingeht, nur eine Nacht bei Tityrus bleiben kann und ob tatsächlich eine beständige Freundschaft zwischen beiden Hirten entsteht, bleibt durch das mit Einbruch der Dunkelheit abrupt erfolgende Ende der Ekloge offen.47 Unabhängig davon bleibt die explizite Freundschaftsgeste des Tityrus gültig bestehen, die nicht nur das vermeintliche Bild eines vom Glück verwöhnten Menschen, der erst mit dem Leid anderer Menschen persönlich konfrontiert werden muss, um es zu erkennen, grundlegend verändert; auch die Funktion der amicitia, die in ihrer gesellschaftlichen Schutzfunktion vom Epikureismus hoch geschätzt ist, wird hier sympathisch bestätigt. Zum Abschluss dieser Deutungsmöglichkeit muss natürlich auch noch die Charakterisierung des Meliboeus als Kontrastfigur zu Tityrus berücksichtigt werden: Tatsächlich scheint dieser – was natürlich vorrangig seiner Fluchtsitua‐ tion und damit äußeren Umständen geschuldet ist – noch auf ähnlich unsicheren Pfaden zu wandeln wie Tityrus in seiner Vergangenheit, d. h. zur Zeit seiner Liebschaft mit Galatea bzw. während seines mehrdeutigen servitium. Meliboeus ist von ständiger Unruhe getrieben und widerspricht mit seiner in V. 11 zum Ausdruck gebrachten admiratio für die beneidenswerten Lebensumstände des Tityrus einem epikureisch besetzten Gebot, das besonders unter Horaz mit der Formel nil admirari stark gemacht worden ist.48 Wie auch Gregson Davis zeigt, kann die ἀθαυμαστία nämlich als wichtiger Bestandteil der epikureischen ἀταραξία betrachtet werden.49 Da Meliboeus jedoch die gleiche Lebensweise wie Tityrus anstrebt und diesen dafür glücklich preist, ist er sicherlich keine negativ konnotierte Figur; der 47 48
49
Dies betont insbesondere auch Albrecht (22015) 101f. Vgl. Hor. epist. 1, 6, 1. Tatsächlich könnte man sogar von einem mehrfachen ‚Verstoß‘ des Meliboeus gegen das Gebot des nil admirari sprechen, der sich in drei unterschiedlichen Zeitstufen und auch in unterschiedlichen Kontexten in den Versen 11 f. (miror); 36 f. (mirabar); 67–69 (mirabor) zeigt; siehe dazu auch Davis (2012a) 22 f., 26 f., 32 f., 38; insbesondere Davis (2012a) 22 zu V. 11f.: „At the same time, the denial of invidia links up with a standard topos of Greco-Roman encomiastic rhetoric, in which the laudator, ever conscious of his credibility, routinely disavows envy […]. […] In the same vein, his associated expression of amazement (miror magis), conforms with another standard eulogistic topos – the ‚thauma motif‘, which is such a conspicuous feature of Pindaric encomium“. Allerdings ist das Verb mirari in V. 36 und 69 kontextbedingt mit „sich wundern/erstaunt sein (über)“ wiederzugeben, sodass sich genau genommen nur die Formulierung in V. 11 zur horazischen Glücksformel in Bezug setzen lässt. Vgl. Davis (2012a) 38.
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens bei Vergil
389
Kontrast zu Tityrus liegt wohl auch nicht in einem eklatanten Fehlverhalten, sondern einzig in der gegenwärtigen Situation der Verzweiflung. Obwohl nicht bekannt ist, ob sich Meliboeus durch eigenes Verschulden in seine missliche Lage gebracht hat, zeigt er sich beim Treffen mit Tityrus zumindest einsichtig über seine kürzliche Fehleinschätzung eines göttlichen Vorzeichens (V. 16: mens laeva) und zudem sehr interessiert an dem deus (V. 18), den Tityrus kurz zuvor erwähnt hat.50 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die weiterhin bestehende Notlage des Meliboeus wohl schlicht aus der Tatsache, dass er im Gegensatz zu Tityrus noch keinem deus begegnet sei bzw. entsprechende Zeichen noch nicht richtig gedeutet habe; daher konnte er sein Leben bislang auch noch nicht so entscheidend verändern, wie dies Tityrus gelungen ist. Wenn man also Vergils Eröffnungsekloge epikureisch verstehen möchte, wofür es sicherlich einige Anhaltspunkte gibt, kann man diese philosophische Dimension nicht an einer Figur allein festmachen, sondern nur im Gesamtkon‐ text des bukolischen Gedichts herausarbeiten:51 Dass Tityrus durch den deus zu otia gekommen ist und dieser Zustand als Lebensideal präsentiert werden, geht vor allem aus der Wahrnehmung des Meliboeus hervor. Die unterschiedlichen Schicksale der beiden Hirten lassen sich weniger auf eine Diskrepanz in ihrer moralischen Grundeinstellung zurückführen als vielmehr auf die Tatsache, dass Tityrus einem deus begegnet sei, den er auch als solchen erkannt habe, und die richtigen Schlüsse aus dieser Begegnung gezogen habe. Neben diesem Versuch einer ethischen Allegorese gibt es auch die Mög‐ lichkeit, die Ekloge politisch zu deuten und damit den deus mit Octavian gleichzusetzen. Das Risiko einer solchen Interpretation besteht jedoch von Vornherein darin, dass sie schon in den antiken Kommentaren mit biographis‐ tischer Deutung vorgeschlagen wurden (z. B. Servius), die von der Forschung doch einheitlich in Frage gestellt wird.52 Trotzdem hat auch die politische Allegorese natürlich ihre Vorzüge, da ihr zeitgeschichtlicher Ansatz die Angst vor einem Verlust des Weidelandes, die Vertreibung des Meliboeus sowie die Gefährdung der λάθε-βιώσας-Lebensweise in einen plausiblen Zusammenhang bringt: Tityrus würde in dieser Deutung mit Octavian einem mächtigen Patron die Rettung seiner beruflichen Existenz und die Wahrung seines Lebensideals verdanken, während Meliboeus wie so viele andere ein 50 51 52
Vgl. dazu Albrecht (22015) 96: „Die Größe des Meliboeus liegt im Fragen, im Entdecken der Probleme“. Ähnlich dazu Schmidt (1972) 147, der trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber einer epikureischen Interpretation einräumt, dass „das Bild des Dichters in ihr [sc. in der ersten Ekloge] vom Epikureismus mitbestimmt“ ist. Vgl. dazu etwa Farrell (2014) 67 f.; Clausen (1994) 32, Anm. 14.
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Opfer der Zeitumstände (d. h. der Bürgerkriegswirren und der massenhaften Landkonfiszierungen) wäre.53 Von entscheidender Bedeutung für diese politische Allegorese ist, wie Tityrus seine Beweggründe für seine unerwartete Abreise nach Rom darlegt, obwohl er ja soeben erst seine neue Liebe gefunden hat: T. Quid facerem? neque servitio me exire licebat nec tam praesentis alibi cognoscere divos. hic illum vidi iuvenem, Meliboee, quotannis bis senos cui nostra dies altaria fumant. hic mihi responsum primus dedit ille petenti: ‘pascite ut ante boves, pueri; summitte tauros.’ (Verg. ecl. 1, 40–45)
40 45
Demzufolge war sein Entschluss nach Rom zu gehen, um dort ‚sein Glück zu versuchen‘, der letztlich entscheidende Schritt für die (Lebens-)Wende zum Guten. Erst dort kann er seine libertas, die in V. 27 noch im Zusammenhang mit dem Wechsel der Geliebten steht, auch im Hinblick auf seine soziale Rehabilitierung realisieren. Damit wird Rom zum Ort, an dem Tityrus seine soziale und berufliche Freiheit wiedererlangt (die er dann wieder in bukolischer Zurückgezogenheit ausleben kann), und Octavian zum iuvenis divus, der dafür letztlich verantwortlich ist und dem es daher fortwährend in regelmäßigen Abständen zu danken gilt.54 Ein Lebensideal wie das von beiden Hirten angestrebte, aber nur von Tityrus bisher erreichte Dasein in ländlicher Abgeschiedenheit, frei von politischen und finanziellen Sorgen, kann nämlich nur dann verwirklicht werden, wenn andere die Politik verantwortungsvoll durchführen. Dieser Interpretationsansatz ließe sich sogar mit einer epikureischen Deutung kombinieren: Die Dankbarkeit für die, die die Unruhe politischer Aktivität für das Gemeinwohl auf sich nehmen, kann ausschlaggebend für das Glück des Tityrus sein, der durch ihn in der Lage ist, im Verborgenen weiterzuleben. Auch einer poetologischen Deutung, wie sie insbesondere Ernst August Schmidt vorgelegt hat,55 muss man für Vergils Bukolik und gerade für die programmti‐ sche Eröffnungsekloge Rechnung tragen. Ein solcher Ansatz sieht in den beiden
53 54 55
Vgl. dazu auch Kronenberg (2016) 38. Im Übrigen war die libertas wesentlicher Bestandteil von Octavians späterem politi‐ schem Leitspruch; siehe dazu Clausen (1994) 31; 43; Syme (1939) 154 f; zur Polysemie des libertas-Begriffs siehe v. a. Casanova-Robin (2014) 24. Vgl. dazu allgemein Schmidt (1972) v. a. 107–119.
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens bei Vergil
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Hirten in erster Linie zwei bukolische Sänger verkörpert und fokussiert deren musisch-poetische Leistung, die Rückschlüsse auf den Dichter selbst zulässt. Tityrus wäre dann analog zu Vergil als erfolgreicher (bukolischer) Dichter aufzufassen, dem die Aufnahme in ein lebensnotwendiges ‚Förderprogramm‘ geglückt ist,56 während Meliboeus noch keinen Zugang zu dieser Dichterge‐ meinschaft gefunden hat und weiterhin als Getriebener umherirren muss, bis auch er einem gefälligen Dichterpatron begegnet. Auch bei dieser Interpretation würden deus und iuvenis gleichgesetzt und könnten als Chiffren für den jungen Octavian aufgefasst werden, der Vergil das zuvor beschlagnahmte Landgut am Ende zurückerstattet und somit das väterliche Erbe sichert. Vor diesem Hintergrund würde das Dichterideal einerseits durch die Auf‐ nahme in das besagte ‚Schutzprogramm‘ des iuvenis erfüllt, andererseits durch die Möglichkeit, sein idyllisches Hirten- und Sängerdasein in bukolischem Ambiente, d. h. in ländlicher Abgeschiedenheit, fortzusetzen. Auch bei dieser Art von Textverständnis stünde also wiederum die Lebensmaxime des λάθε βιώσας im Mittelpunkt, wenn auch in diesem Fall als wesentlicher Bestandteil des Dichterideals und nicht als Aspekt eines philosophischen Weltbilds. Dass ein poetologischer Ansatz für Vergils Eröffnungsekloge ursprünglich philosophisch konnotierte Elemente nicht völlig außer Acht lässt, sondern ihnen lediglich eine untergeordnete Rolle bzw. eine ‚dienende Funktion‘ zuweist, betont auch Schmidt selbst: „[S]olche Elemente bilden als epikureisierende poetische Sym‐ bole dichterischer Existenz einen bestimmten Aspekt der Dichtungsreflexion der Bukolik.“57 Alle drei Deutungsansätze haben gezeigt, dass eine widerspruchs- bzw. zwei‐ felsfreie Allegorese auf keiner der genannten Interpretationsebenen in letzter Konsequenz möglich ist. Die drei Sichtweisen haben durchaus ihre Berechtigung und so kann nur ein Kompromiss aus den gemachten Beobachtungen als halt‐ barer Lösungsansatz vorgebracht werden, der auch die Frage nach einer mög‐ licherweise epikureischen Figurenmodellierung einschließt: Der erkennbare Einfluss lukrezischer Formulierungen darf weder geleugnet noch überbewertet und als hinreichender Beweis für eine epikureische Tendenz dieser Ekloge herangezogen werden. Das lukrezische Epikur-Lob dient sicherlich als Vorlage für Vergils Gestaltung seiner Eröffnungsekloge, doch das reicht natürlich längst
56 57
Vgl. dazu auch Schierl (2020) 276. Schmidt (1972) 147. Auch die Deutung der Eröffnungsekloge bei Dion (1996) 391 f., die diese auf Vergils Umgang mit dem philosophischen Konzept der tranquillitas animi untersucht, tendiert dazu, Philosophisches und Poetologisches zu verschmelzen.
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nicht aus, um ihm daher eine bewusst epikureische Tendenz der Ekloge zu unterstellen. Trotzdem bieten auch die alternativen Deutungsansätze (politisch und poeto‐ logisch) durchaus einen gewissen Spielraum für die Verarbeitung epikureischer Lebensmaximen, insbesondere für die politische bzw. poetologische Neukon‐ textualisierung des λάθε-βιώσας-Motivs ergibt. Überhaupt erweist sich gerade die bukolische Gattung bei Vergil, wie auch die Analyse der fünften Ekloge gezeigt hat, als geeignet dafür, philosophische und vor allem epikureische Lebensgrundsätze in einem neuen (Gattungs-)Kontext zu rezipieren.58 Die einheitliche und alternativlose Anwendung einer epikureischen Deutung kann jedoch für keine von Vergils Eklogen bestätigt werden. 5.1.2 Der fortunatus (agricola) im zweiten und der Corycius senex im vierten Buch der Georgica Nach diesen unterschiedlichen und facettenreichen Betrachtungsmöglichkeiten für Vergils programmatische Eröffnungsekloge geht die folgende Untersuchung ausgewählter Textpartien aus Vergils zweitem großem Werk, den Georgica, auf die Beobachtung zurück, dass es nicht weniger Parallelen zu Catalepton 5 aufweist als die erste Ekloge und immer wieder zur epikureisch geprägten Dichtung Vergils gezählt worden ist.59 In Vergils Lehrgedicht über den Landbau finden sich nachweislich die meisten Lukrez-Anspielungen und damit auch die stärksten Hinweise auf die Verarbeitung epikureischen Gedankenguts. Insbesondere das umfangreiche Lob des Landlebens am Ende von Buch II (V. 458–542) und die daran anknüpfende Beschreibung des Corycius senex als Ideal eines bäuerlichen Landbewohners und Gärtners zu Beginn von Buch IV (V. 116– 148) haben sich für eine entsprechende Deutung von Vergils Werk als äußerst relevant erwiesen.60 Da es in dieser Arbeit in erster Linie um die exemplarische 58
59 60
Siehe dazu Kapitel 4.3. Neben der ersten und der fünften Ekloge ist insbesondere auch der Silen-Gesang in der sechsten Ekloge immer wieder Gegenstand einer epikureischen Auslegung (durch intertextuelle Verweise auf Lukrez) gewesen; siehe dazu Farrell (2014) 63–67; Davis, „A, virgo infelix, quae te dementia cepit? The Epicurean critique of amor insanus in Vergil’s sixth eclogue“, Vergilius 57 (2011) 35–54; Spoerri, „Zur Kosmogonie in Vergils 6. Ekloge“, MH 27 (1970) 144–163 bzw. Spoerri, „Antike Vergilerklärer und die Silenkosmogonie“, MH 27 (1970) 265–272; Stewart, „The song of Silenus“, HSPh 64 (1959) 179–205; Alfonsi (1959) 170. Vgl. u. a. Farrell (2014) 72–79; Seng (2008) 212–215; Albrecht (22007) 8; 96 f.; Erren (2003) passim; Gale (2000) passim; Klingner (1963) 130; 132; Klingner (1931) 159–189; anders dazu etwa Koskenniemi (1986) 100f. Zum lukrezisch-epikureischen Einfluss auf das Ende von Buch II siehe u. a. Farrell (2014) 75–77; Albrecht (22007) 70 f.; Erren (2003) 507–537; Gale (2000) 167–173; Fenik (1962)
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens bei Vergil
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Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ Figuren geht, steht die Darstellung des corycischen Greises auch im Fokus dieses Kapitels. Der Betrachtung der vielfach analysierten und gedeuteten Episode des Cory‐ cius senex in Buch IV sollen ein paar Bemerkungen zum stark lukrezisch-epiku‐ reisch ‚gefärbten‘ Ideal eines fortunatus agricola in Georgica II voranstehen:61 O fortunatos nimium, sua si bona norint, agricolas! quibus ipsa procul discordibus armis fundit humo facilem victum iustissima tellus. si non ingentem foribus domus alta superbis mane salutantum totis vomit aedibus undam, nec varios inhiant pulchra testudine postis inlusasque auro vestis Ephyreiaque aera, alba neque Assyrio fucatur lana veneno, nec casia liquidi corrumpitur usus olivi; at secura quies et nescia fallere vita, dives opum variarum, at latis otia fundis, speluncae vivique lacus, at frigida tempe mugitusque boum mollesque sub arbore somni non absunt; illic saltus ac lustra ferarum et patiens operum exiguoque adsueta iuventus, sacra deum sanctique patres; extrema per illos Iustitia excedens terris vestigia fecit. (Verg. georg. 2, 458–474)
460 465 470
Der fortunatus agricola zeichnet sich nicht durch übermäßigen Reichtum oder soziale Kontakte aus, sondern durch die Selbstversorgung mit den aus einer iustissima tellus bereitgestellten Feldfrüchten (facilis victus) einerseits (V. 459 f.) sowie durch ein sorgenfreies, kriegsfernes, ruhiges Leben in der freien Natur andererseits (V. 467–474). Speziell der facilis victus fällt in diesem Abschnitt zuerst auf, weil er im Unterschied zum labor-Motiv steht, das Vergil ja gerade im ersten Buch mit einer aitiologischen Erzählung, den geschilderten Schwierigkeiten des Ackerbaus und dem Zwang zu technischem Fortschritt eingeführt hat.62 An dieser Stelle ist offenbar durch den Kontrast
61
75–96; Klingner (1931) 159–189; zur epikureischen Deutung der Corycius-senex-Episode in Buch IV siehe u. a. Johnson (2004) 75–83; Erren (2003) 824–839; Gale (2000) 180–183; Perkell (1981) 167 f.; La Penna (1977a) 57. Vgl. v. a. Lucr. 2, 20–33. Beispielsweise Gale (2000) 171 konstatierte treffend: „The whole finale evokes a complex network of Lucretian intertexts […]“; siehe dazu auch Baier (2012) 183–185.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
zum Reichtum der epikureische Gedanke der leicht zu befriedigenden natür‐ lichen Bedürfnisse gemeint.63 Neben weiteren epikureisch aufgeladenen, weil in der lateinischen Dichtung vor allem durch Lukrez geprägten Begriffen wie secura quies 64, otia 65 und mollesque sub arbore somni 66 tritt im Vergil-Text speziell die in V. 474 gar personifizierte iustitia in den Mittelpunkt und vervollkommnet das Bild eines goldenen Zeitalters.67 Die vom Dichter angestrebte und idealisierte Form bäu‐ erlichen Lebens zeichnet sich also in erster Linie durch Gerechtigkeit aus, die sich, liest man noch ein bisschen weiter, nicht zuletzt aus einer ausreichenden Bestellung des verfügbaren Ackerlandes erschöpft. Diese Ansicht nach dem Prinzip „Jeder erntet, was er sät“ ist zwar keineswegs neu in der antiken Literatur und spätestens seit Xenophon und Aristoteles etabliert, doch die Betonung des Gerechtigkeitsempfindens innerhalb dieses ethischen Kontextes ist in jedem Falle bemerkenswert. Die philosophische Dimension der gesamten Schlusspassage wird mit dem indirekten Musenanruf ab V. 475 noch deutlicher, wenn der Dichter erstaunli‐ cherweise um eine umfassende kosmologische Belehrung bittet und die inhalt‐ lichen und sprachlichen Parallelen zu Lukrez weiterhin ersichtlich bleiben.68 Der 62 63
64 65 66 67
Vgl. dazu etwa Baier (2012) 184–190; zum lukrezisch-epikureischen Götterbild in Vergils Georgica siehe ferner Baier (2012) 195–199. Ähnlich zum wirkungsvollen Kontrast zwischen materiellem Reichtum und dem „einfachen“ (facilis) Glück des Landlebens äußert sich Mynors (1990) 162, der jedoch, ohne einen Zusammenhang zum Epikureismus herzustellen, die Beschreibung des Landlebens in diesem Abschnitt auf eine externe (Besucher-)Perspektive zurückführt. Erren (2003) 509 f. erkennt zwar ebenfalls die Problematik bzw. das Paradoxon dieser Wende vom labor zum facilis victus, argumentiert aber anders: Das Glück der Landwirte resultiere aus ihrer gesicherten Existenz, die nach den Kriegswirren alles andere als selbstverständlich sei. Vgl. Lucr. 3, 211; 939. Vgl. Lucr. 5, 1387. Vgl. Lucr. 5, 1392f. Vgl. hierzu u. a. Farrell (2014) 75–78; Hardie (2008) 164: „The vanity of the fear of the gods and of death is included in the argument of the proem to book two of the De Rerum Natura which, as we have seen, is the central model for lines 458–74 of the second Georgic“; Erren (2003) 507–519; Gale (2000) 38–40; 171–173; Mynors (1990) 162–165; Wifstrand-Schiebe (1981) 36–40; Fenik (1962) 75–77. Eine vehemente Ablehnung von philosophischen bzw. epikureischen Gedanken, wie sie in besonderem Maß von Koskenniemi (1986) 100 f. postuliert wird, geht ebenso zu weit wie die These von einer widerspruchsfreien Verknüpfbarkeit der vergilischen Überlegungen mit dem Gedankengut des Kepos; siehe dazu auch Mynors (1990) 169. Die philosophische Dimension des letzten Teils in Buch II kommt spätestens ab V. 477 zur Geltung. Zur Personifizierung der iustitia vgl. außerdem Arat. 100–136; Ov. met. 1, 150; fast. 1, 249f.
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens bei Vergil
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Höhepunkt lukrezisch-epikureischer Reminiszenz wird mit dem μακαρισμός in V. 490–502 erreicht, der nicht nur formal, sondern auch thematisch an die Verse 458–474 anknüpft:69 felix qui potuit rerum cognoscere causas atque metus omnis et inexorabile fatum subiecit pedibus strepitumque Acherontis avari: fortunatus et ille deos qui novit agrestis Panaque Silvanumque senem Nymphasque sorores. illum non populi fasces, non purpura regum flexit et infidos agitans discordia fratres, aut coniurato descendens Dacus ab Histro, non res Romanae perituraque regna; neque ille aut doluit miserans inopem aut invidit habenti. quos rami fructus, quos ipsa volentia rura sponte tulere sua, carpsit, nec ferrea iura insanumque forum aut populi tabularia vidit. (Verg. georg. 2. 490–502)
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Als felix gilt also derjenige, der völlig frei von Ängsten ist, sich vom Schicksal soweit wie möglich unabhängig macht und auch dem sicheren Tod keine Be‐ achtung schenkt. Diesen Zustand, der dem des epikureischen Weisen entspricht, erreicht man durch die Beschäftigung mit naturphilosophischen Zusammen‐ hängen, wie sie auch bei Lukrez wiederholt angepriesen wird.70 Daneben wird erneut – in analoger Struktur zu den Versen über den felix – der fortunatus (agricola) genannt, dessen Glück sich aus der Gewissheit um die dei agrestes als göttliche Schutzmächte der Landwirtschaft ableitet. Damit verbunden ist seine ‚Immunität‘ gegen jegliche störende Einflüsse von außen, die sich auch durch die Abwesenheit von dolor und invidia bemerkbar macht. Der für derartige Wechselfälle des Lebens desensibilisierte fortunatus (agricola) ist daher als logische Parallelentwicklung des zuvor beschriebenen ‚Naturphi‐
68 69
70
Vgl. Erren (2003) 517–526; Mynors (1990) 166 f.; Fenik (1962) 77f. Vgl. u. a. Gale (2008) 94–99; Erren (2003) 526–535; Ferguson (1990) 2265 f. Farrell (2014) 75–77 betont zwar neben den intertextuellen Bezügen zu Lukrez auch die Anklänge an die Philosophie des Empedokles, zugleich aber auch die ‚philosophische‘ Selbstständigkeit Vergils bzw. seiner Georgica; siehe dazu auch Mynors (1990) 169. Vgl. Lucr. 1, 72–79; 3, 1071–1074; 5, 1183–1193.
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losophen‘ zu sehen und lässt sich somit durchaus als auf die Landwirtschaft übertragenes Ideal des epikureischen Weisen verstehen.71 In den danach folgenden Versen wird der als Leitmotiv im gesamten Werk fungierende labor anni (V. 514) zwar noch wiederholt thematisiert, jedoch in einer mit dem epikureischen Lustkalkül durchaus kompatiblen Weise: Die landwirtschaftliche Arbeit ist das ganze Jahr über mit großen Anstrengungen verbunden, doch der daher stets gesicherte Ertrag entschädigt für alle Entbeh‐ rungen an Bequemlichkeit und ermöglicht ein sorgenfreies Leben. Nach dem Einfahren der Ernte münden alle Arbeiten in einem fröhlichen Erntedankfest, einem Symposion mit allen Helfern und auch mit anderen befreundeten Land‐ arbeitern (V. 513–531). Vor diesem Hintergrund ist Vergils Beschreibung des fortunatus agricola sicher nicht als kontradiktorischer Gegensatz zum weisen Naturphilosophen (felix) zu deuten,72 der eine unverkennbar lukrezisch-epiku‐ reische Prägung aufweist, sondern als Alternative dieses Typus, die durch das Leben in Einheit mit der Natur im landwirtschaftlichen Bereich möglich ist. In Buch IV von Vergils Lehrgedicht über die Landwirtschaft geht es vorrangig um das Thema Bienenzucht, nachdem in den vorangehenden Büchern vor allem Ackerbau (Buch I), Baum- (Buch II) und Viehzucht (Buch III) im Mittelpunkt standen. Neben allgemeinen Empfehlungen über den besten Standort und die ideale Beschaffenheit des Bienenhauses klingt gleich am Anfang der bewusste Vergleich mit einem Kriegsheer im Sinn eines funktionsfähigen Volkes bzw. Staates an, das bzw. der später überwiegend als stoisches Gemeinwesen gedeutet wird (V. 219–227).73 Die Überleitung zur Episode des Corycius senex, die in erster Linie einen intratextuellen Bezug zur Mühseligkeit der Landarbeit in Verg. georg. 1, 118–159
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72 73
Vgl. La Penna (1977a) 48: „La felicità dell’agricola realizza l’ideale epicureo dell’ata‐ rassia, accentuando in esso il senso dell’autárkeia, e nello stesso tempo è come una continuazione della felicità dell’età dell’oro“; anders dazu Farrell (2014) 75, der von einer Kontrastierung zwischen dem felix und dem fortunatus spricht, obwohl auch die sprachliche Überleitung fortunatus et ille (V. 493) eine Parallelisierung der beiden Ideale nahelegt; ein ähnliches Konfliktpotential zwischen dem Ideal von securitas, quies und otium einerseits und der bäuerlichen Realität des labor anni andererseits sieht auch Gale (2000) 38–43. Vgl. v. a. Gale (2000) 172f. Vgl. u. a. Schönberger (2010) 178 f., der allerdings auch die Übereinstimmung mit pla‐ tonischem und aristotelischem Gedankengut einräumt; Erren (2003) 840–844 hebt die aristotelisch-peripatetische Prägung der Verse 149–227 hervor; Koskenniemi (1986) 102 weist auf die gleichberechtigte Option hin, die Passage stoisch, platonisch oder sogar pythagoreisch zu verstehen; Strauss Clay (1981) 63 konstatiert einen platonisch-stoi‐ schen Hintergrund.
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herstellt,74 erfolgt mit dem Hinweis des Dichters, dass der Landwirt unter großer Anstrengung (V. 114: labor durus) seine Gärten für die Bienen vorbereiten soll, um sie effektiv anzulocken. Daraufhin kommt der Dichter ins Schwärmen über die vorzeigbaren Ergebnisse sorgfältiger Gartenarbeit (V. 118–124). Da er jedoch das Thema ‚Garten(-arbeit)‘ nicht ausführlicher behandelt,75 greift er in wenigen Versen auf ein konkretes exemplum in der Gegend des heutigen Tarent in Unteritalien zurück: Dort besitzt ein alter Mann, der von der kilikischen Küste stammt, ein kleines, karges und nur schwer zu bestellendes Stück Land (V. 125–129). Dennoch gelingt es ihm innerlich wie äußerlich, aus diesen spärlichen Lebensvoraussetzungen das Optimum zu erreichen und einen locus amoenus zu schaffen:76 Er wähnt sich daher genauso reich wie Könige und erwirtschaftet zu jeder Jahreszeit einen beachtlichen Ertrag (V. 130–138). Seine enormen Anstrengungen für ein fruchtbares und ertragreiches Lebensumfeld führen auch zu einem Überfluss an Bienenschwärmen und damit insgesamt zu einer dauerhaften Sicherung seiner Lebensgrundlage (V. 139–146): namque sub Oebaliae memini me turribus arcis, qua niger umectat flaventia culta Galaesus, Corycium vidisse senem, cui pauca relicti iugera ruris erant, nec fertilis illa iuvencis nec pecori opportuna seges nec commoda Baccho. hic rarum tamen in dumis olus albaque circum lilia verbenasque premens vescumque papaver regum aequabat opes animis seraque revertens nocte domum dapibus mensas onerabat inemptis. primus vere rosam atque autumno carpere poma, et cum tristis hiems etiamnum frigore saxa rumperet et glacie cursus frenaret aquarum, ille comam mollis iam tondebat hyacinthi aestatem increpitans seram Zephyrosque morantes. ergo apibus fetis idem atque examine multo primus abundare et spumantia cogere pressis 74 75
76
125 130 135 140
Vgl. u. a. Schönberger (2010) 177; Mynors (1990) 274; Baier (2012) 189 f. meint daher zu Recht, dass die Lebensweise des alten Mannes „als Kontrastentwurf zur umtriebigen Welt zu verstehen“ ist. Dies wird erst Columella im zehnten Buch seines Lehrwerks De re rustica tun. Statt‐ dessen wird bei Vergil ein ‚Kepos‘ vorgeführt, der sich auch philosophisch deuten lässt. Johnson (2004) 82 unterstellt Vergil aufgrund dieser überraschenden Episode ein „sort of splendid failure of nerve“, was jedoch sehr spekulativ ist. Ähnlich dazu Gale (2000) 180 f., die ferner klare Parallelen zur Situation des Tityrus in Vergils erster Ekloge sieht.
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mella favis; illi tiliae atque uberrima pinus, quotque in flore novo pomis se fertilis arbos induerat, totidem autumno matura tenebat. ille etiam seras in versum distulit ulmos eduramque pirum et spinos iam pruna ferentis iamque ministrantem platanum potantibus umbras. (Verg. georg. 4, 125–146)
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Sind hier wiederum bestimmte philosophische Motive und Inhalte zu erkennen und wie lassen sich diese, falls sie überhaupt bestehen, vor dem Hintergrund des überwiegend stoisch ‚gefärbten‘ Abschnitts über den Bienenstaat erklären? Tatsächlich drängt sich eine gewisse intertextuelle Reminiszenz an den fortu‐ natus agricola am Ende von Buch II auf, von dem nun ein idealtypisches Pendant im Bereich der Gartenarbeit entworfen wird:77 Zum einen lebt der alte Mann nämlich zurückgezogen fernab von Trubel, Macht und Politik in einem Garten und zum anderen schafft er es ganz ohne fremde und damit auch ohne göttliche Hilfe, mit wenig Besitz auszukommen, und legt somit ein beträchtliches Maß an Autarkie an den Tag.78 Außerdem ist ihm offenbar lediglich an der Befriedigung seiner natürlichen und (lebens-)notwendigen Bedürfnisse gelegen und nicht an der Anhäufung materieller Reichtümer, was zusätzlich im Einklang mit epikureischem Gedankengut steht.79 Sein fruchtbarer, pflanzenreicher Garten bildet dabei nicht nur das Ergebnis seiner harten Arbeit, sondern repräsentiert offenbar auf seinen inneren Gemütszustand und steht in scharfem Kontrast zu dem unwirtlichen Umland seines Anwesens, das beinahe einem locus terribilis bzw. horridus gleichkommt. Der Mangel an otium und das Aufbringen von immensem labor, um diesen kleinen Wohlstand zu erreichen und zu sichern, scheint dagegen einer epikurei‐ schen Deutung zuwiderzulaufen, zumal das in den Georgica insgesamt betonte 77 78
79
Vgl. auch Erren (2003) 825; Perkell (1981) 167 f., die damit Klingners Auffassung wiedergibt. Vgl. dazu u. a. Hor. carm. 2, 16, 13: vivitur parvo bene […]. La Penna (1977a) 60 weist zu Recht darauf hin, dass diese Art von Freiheit und Autarkie dennoch kein Alleinstellungsmerkmal einer spezifischen philosophischen Denkrichtung darstellt, sondern als hellenistisches Allgemeingut zu verstehen ist; siehe dazu auch Gale (2000) 182. Vgl. v. a. Erren (2003) 831. Diese Schlussfolgerung steht im Übrigen nicht im Wider‐ spruch zu Perkell (1981) 171 f., die weniger von einer philosophischen Dimension in dieser Passage auszugehen scheint, sondern – wie beispielsweise auch Strauss Clay (1981) 57–65 – eher auf den traditionsreichen Topos der Zeitalterabfolge zurückgreift und daher mit den Begriffen „Golden Age“ und „Iron Age“ operiert. Dennoch sieht sie im Corycius senex ebenfalls eine poetisch idealisierte Figur.
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Leitprinzip des labor (durus) auch zu Beginn von Buch IV programmatisch genannt wird.80 Jedoch kann dieser vermeintliche Widerspruch, da der labor keinen offensichtlichen dolor im Sinn einer nachhaltigen (äußeren oder inneren) Schädigung für den Greis mit sich bringt, sondern ihm vielmehr eine erfreu‐ liche Versorgungsgrundlage schafft, mit Hilfe des epikureischen Lustkalküls aufgelöst werden: Die ausführlich vermittelte bunte Schönheit seines Gartens dürfte dem betagten Eigentümer und Schöpfer eine laetitia aeterna sein und in ihrem Wert für den Gärtner der gesicherten Nahrungsgrundlage mindestens gleichkommen.81 Ebenso könnte die Abwesenheit von Freunden als Kritik an einer epiku‐ reischen ‚Färbung‘ des Corycius senex angeführt werden, da die amicitia ja durchaus einen zentralen Bestandteil des epikureischen Lebensideals darstellt.82 Vielmehr stellt sich jedoch die Frage, inwiefern das Thema Freundschaft in den Kontext dieses Textauszugs passen würde, da es dort ja vornehmlich um Gartenpflege geht.83 Von einer orthodoxen Übernahme der epikureischen Lehre mit all ihren Aspekten kann natürlich auch bei diesem poetischen (und nicht in erster Linie philosophischen) exemplum erfolgreicher Hortikultur nicht die Rede sein, sondern lediglich von der Veranschaulichung eines philosophischen Lebensideals, das auf eine gattungsbestimmte Lebenswelt übertragen wird. Trotz möglicher Einwände ist daher eine prinzipielle Unvereinbarkeit gerade mit dem epikureischem Lebensideal nicht festzustellen.84 Im Übrigen ist mit der Figur des Corycius senex, wenn man ihm unter anderem diese epikureischen Grundzüge zugesteht, ein sozialhistorisches Phänomen gerade des 1. Jahrhunderts v. Chr. erfasst und literarisch abgebildet: Wie etwa der prominente und für den römischen Epikureismus wirkmächtige Philosoph Philodem von Gadara scheint der alte Mann ein Migrant aus dem griechisch‐ sprachigen Raum zu sein – laut Servius sogar ein ehemaliger Seeräuber, der aus Kleinasien (Kilikien) stammt und sich auf Veranlassung des Pompeius in Unteritalien (Tarent) niederlässt, also ungefähr in der Gegend, von der der Epi‐ kureismus über die italische Halbinsel seinen Ausgangspunkt genommen hat.85 Beider Hang zu einer mehr oder weniger stark angehauchten epikureischen
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Vgl. Verg. georg. 4, 6: in tenui labor […]. Vgl. Perkell (1981) 168, die in dieser Haltung „an esthetic and spiritual ideal“ sieht; ähnlich dazu Erren (2003) 825; Strauss Clay (1981) 60f. Diese Problematik spricht v. a. Johnson (2004) 81 an. Darüber hinaus konstatiert Gale (2000) 181: „He apparently has no family (unlike the farmer in the finale to book 2), though the plural potantibus (‘drinkers’) in 146 suggests the company of friends“. Vgl. dazu auch Gale (2000) 181f.
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Lebens- und Denkweise hat durch diesen Umzug nicht gelitten, sondern sich vielmehr an dem neuen Ort ihrer Existenz etabliert. Mag auch diese Parallelisierung zwischen einer historisch überlieferten und einer nur poetisch fassbaren Person sicherlich etwas zu weit gehen, so ist die philosophische Dimension des Corycius senex kaum zu übersehen. Eine so deutliche lukrezisch-epikureische Markierung dieser Episode wie im Finale von Buch II (fortunatus agricola) lässt sich zwar nicht nachweisen, zumal klare und aussagekräftige intertextuelle Anspielungen fehlen und lediglich verwandte Motive und Topoi wie der ‚innere‘ Reichtum bzw. das glückliche Auskommen mit einem bescheidenen Hab und Gut vorhanden sind;86 das idealisierte exemplum des Corycius senex im Bereich der Hortikultur lässt sich dennoch weitgehend mit dem Ideal des fortunatus agricola in Einklang bringen. Auch bei der oft gestellten Frage nach der Funktion dieser Passage im vierten Buch der Georgica dürfte sich die Hervorhebung der philosophischen Dimension der Corycius-senex-Episode, genauer gesagt ihrer epikureischen Tendenz, als nützlich erweisen: Analog zum Kontrast zwischen der epikureischen und der stoischen Lebensführung stellt die individualistische Lebensform des alten Mannes einen scharfen Gegensatz zum kollektiven Lebensstil der Bienen dar und trotzdem werden bei Vergil beide Lebensentwürfe idealisiert und erscheinen dort durchaus als gleichberechtigt.87 Man kann daher die Allegorese der Cory‐ cius-senex-Episode durchaus so weit auslegen, dass der alte Mann durch seine Lebensweise und seinen Arbeitsort tatsächlich – auch im wörtlichen Sinn – zu einem ‚Kepos‘-Vertreter wird und dass eine Symbiose zwischen Bienen (als Vertretern des ‚guten‘ platonisch-stoischen Staats) und Gärtner (als ‚gutem‘ Epikureer, der weder schmarotzt noch faulenzt, sondern auch labor auf sich nimmt) natürlich gegeben ist: Der Gärtner hegt im Garten die Blumen, die den Bienen Nahrung geben, umgekehrt befruchten die Bienen die Blumen und Früchte. Mit dem landwirtschaftlichen Leben ist somit die Frage nach der inneren Einstellung und der eigenen Abwägung, welche Form von labor ‚erträglicher‘ oder vielmehr ‚ertragreicher‘ scheint, eng verbunden:
85 86 87
Vgl. u. a. Erren (2003) 830–832; Gale (2000) 182; Mynors (1990) 276; La Penna (1977a) 64; zur Problematisierung und Neubeurteilung von Serv. ad Verg. georg. 4, 127 siehe insbesondere Leigh (1994) 181–195. Baier (2012) 189 betont in diesem Zusammenhang zu Recht die Parallele zum horazi‐ schen parvo beatus. Vgl. Gale (2000) 183: „The old man and the bees thus exemplify two conflicting ideals, which we might call the philosophical and the Roman“.
5.1 Das Ideal des zurückgezogenen und sorgenfreien Lebens bei Vergil
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„By juxtaposing the anonymous old man in the garden against the marvelous society of the bees, Vergil indicates the irreconcilable tension between the demands of the political life and the requirements of the human heart.“88
Selbstverständlich dürfen bei einer noch umfassenderen interpretatorischen Einordnung des corycischen Greises – wie auch bei der adäquaten Auslegung der Eröffnungsekloge – neben der philosophischen89 auch andere Deutungs‐ ebenen wie etwa die zeitgeschichtliche (der Greis als bäuerliches und römisches Ideal),90 die literarhistorische91 und die poetologische Dimension (der Greis als selbstloser Repräsentant eines ästhetischen Ideals, der vollkommen im Einklang mit der Natur lebt)92 nicht außer Acht gelassen werden. Doch statt auf diese in der Forschung bereits gut erfassten Deutungsebenen noch genauer einzugehen und damit unnötige Redundanz zu bewirken, gilt es, die vergilischen Figuren, die eine mehr oder weniger stark ausgeprägte epikureische Tendenz zeigen und im Rahmen dieser Arbeit analysiert werden, in einer kurzen Gesamtschau hinsichtlich ihrer literarischen Funktion zu beurteilen. 5.1.3 Fazit zu den epikureisch ‚gefärbten‘ Figuren in Vergils Bucolica und Georgica Anhand der exemplarisch ausgewählten Vergil-Texte ließ sich zusammenfas‐ send feststellen, dass auch in diesen Fällen eine trennscharfe Zuordnung des darin transportierten Gedankenguts zu einer philosophischen Schule kaum zielführend ist, da vom Dichter so wohl auch nicht beabsichtigt; vielmehr offen‐ baren sich gewissermaßen eklektische Lebenserfahrungen und Überzeugungen des Dichters, die epikureisches Gedankengut aber durchaus einschließen. Bei Vergil sind die Themen ‚Lebensführung‘ und ‚Verhältnis von Einzelnem und Staat‘ teilweise durch deutlich erkennbare Philosopheme aufgeladen, die eine entsprechende Zuordnung ermöglichen. Für die Verarbeitung epikureischen Gedankenguts bei der Charakterisierung poetischer Figuren lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Erstens weisen
88 89 90 91
92
Strauss Clay (1981) 63. Vgl. dazu auch La Penna (1977a) 57. Vgl. dazu etwa die Zusammenfassung von Will Richters Charakterisierung des Corycius senex bei Perkell (1981) 167. Vgl. Thomas (1992) 35–70, der Vergils Corycius senex in dieselbe Tradition wie den ver‐ gilischen Tityrus in der ersten Ekloge stellt (insbesondere S. 51–58; 66–70); Thibodeau (2001) 175–195, der den Fokus stattdessen auf „the old man’s struggle against something of profound concern to him – the evanescence of time“ (S. 175f.) setzt. Vgl. u. a. Perkell (1981) 167–177; Burck (1956) 156–172.
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alle drei bzw. vier Figuren, die besprochen wurden (Ekloge 1: Tityrus; Ekloge 5: Menalcas/Daphnis; Georgica II: fortunatus agricola; Georgica IV: Corycius senex), zumindest in Teilen epikureische Merkmale auf. Auch wenn diese in Vergils Hirtenwelt zum Teil weniger zur Geltung kommen als in den Georgica, ist das Thema der Lebensführung in diesem Rahmen zumindest eines der möglichen Deutungsangebote, die die Bukolik zulässt. Das bedeutet, dass be‐ stimmte Figuren wie der Corycius senex eine größere Signalwirkung haben, was die Kennzeichnung eines epikureisch ‚gefärbten‘ Lebensstils betrifft, während andere Figuren wie Tityrus eine philosophische Deutung zwar zulassen, aber nicht unbedingt benötigen. Zweitens hat sich die Charakterisierung von poetischen Figuren mit Hilfe er‐ kennbarer Philosopheme, die passgenau auf die bukolische bzw. die georgische Lebenswelt angewandt und entsprechend transformiert werden, als vergilische Gestaltungstechnik herauskristallisiert. Es ist somit als wesentliche Leistung Vergils zu sehen, gerade epikureisches Gedankengut neu kontextualisiert und im Rahmen der jeweiligen Textgattung neu interpretiert zu haben. Trotz der hier erfolgten Schwerpunktsetzung auf epikureisches Gedankengut bei Vergils Figurenmodellierung ist drittens deutlich geworden, dass der au‐ gusteische Dichter in seinen Werken verschiedene – und zum Teil auch wi‐ dersprüchliche – Elemente hellenistischer Philosophie vereint. Daher könnte man bei einer entsprechenden Hervorhebung der philosophischen Dimension von einer Art ‚Eklektizismus‘ in Vergils Dichtung sprechen. Viertens und letz‐ tens zeigen diese ‚philosophischen‘ Figuren eine breite Funktionsvielfalt (z. B. rhetorisch: Tityrus, Menalcas; konsolatorisch: Tityrus, Menalcas/Daphnis; the‐ rapeutisch: Menalcas/Daphnis; kontrastierend: Tityrus vs. Meliboeus, Menalcas vs. Mopsus, Corycius senex vs. Bienenstaat; idealisierend: Daphnis, fortunatus agricola, Corycius senex), die durch den jeweiligen Kontext sowie durch die jeweilige Textgattung, in der die Figuren auftreten, bedingt ist.
5.2 Die Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des Horaz Immer noch gilt Horaz als der römische Autor, der das formelhafte Motto λάθε βιώσας als Lebensideal am deutlichsten in seinem Werk aufgegriffen hat. Der vielfältige Umgang des augusteischen Dichters mit diesem epikureischen Leit‐ prinzip kommt nur bei der Betrachtung des horazischen Gesamtwerkes zu seiner vollen Geltung. Neben den Passagen, die die λάθε-βιώσας-Thematik explizit aufgreifen und daher in der Forschung auch häufig bei der Untersuchung dieses
5.2 Die Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des Horaz
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Motivs im horazischen Werk herangezogen wurden,93 gilt es also, ein möglichst breites Spektrum an Texten aus dem horazischen Corpus exemplarisch zu berücksichtigen, wobei sich hierfür insbesondere die Episteln anbieten.94 Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang, der oft vernachlässigt zu werden scheint, sei dabei noch vorweggenommen: Auch wenn das horazische „Lebe im Verborgenen!“ nahezu immer mit dem Kontrast von Stadt- und Landleben einhergeht, besteht das zentrale Anliegen des Dichters – besser gesagt der jeweiligen Sprecher-persona – mitnichten aus einem einseitigen Lob des Landlebens, wie man noch sehen wird. Stattdessen offenbart sich eine zunehmende Relativierung dieses scheinbar einseitigen Plädoyers bei Horaz, die mit der Eröffnung alternativer Lebensweisen verknüpft wird, welche individuell wählbar und situationsbedingt sind. 5.2.1 Lateinische Übertragungen des λάθε βιώσας in Hor. epist. 1, 17 und 1, 18 Große Einigkeit herrscht in der neueren Forschungsliteratur darüber, dass die beiden Episteln 1, 17 und 1, 18 die deutlichsten und unstrittigsten Textzeugnisse für die horazische Rezeption des epikureischen λάθε βιώσας darstellen.95 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Horaz in den betreffenden Passagen der beiden Versbriefe offenbar eine Übertragung der griechischen Formel ins Lateinische versucht, wenn er zum einen gegenüber seinem Adressaten Scaeva von einem erstrebenswerten Lebensideal einer persona erzählt, die er als qui natus mori‐ ensque fefellit (Hor. epist. 1, 17, 10) beschreibt, und zum anderen vor einem gewissen Lollius mehrere Lebensweisen abwägt, zu denen auch ein secretum iter et fallentis semita vitae (Hor. epist. 1, 18, 103) zählt. Beiden Formulierungen ist der Gebrauch des lateinischen Verbs fallere ge‐ meinsam, das augenscheinlich das griechische λαθεῖν aufgreift, während dem zweiten Bestandteil im Griechischen, der Partizipialform zu dem Infinitiv Aorist Aktiv βιῶσαι, offenbar kein eindeutiges Pendant im Lateinischen zugeordnet wird.96 Die Umschreibungen natus moriensque und semita vitae sind sich ihrem 93 94
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Dies trifft insbesondere auf Hor. epist. 1, 17, 10 und epist. 1, 18, 103 zu. So hat beispielsweise Roskam (2007) für die Diskussion über die Rezeption des epikurei‐ schen λάθε-βιώσας-Konzepts die Stellen epist. 1, 11, 7–10 und 29 f., epist. 1, 16, 15, epist. 1, 17, 6–10 sowie epist. 1, 18, 103 eingehend untersucht und damit auf Textpassagen zurückgegriffen, in denen diese Thematik recht explizit formuliert wird, aber jeweils nur über wenige Verse hinweg präsent ist; siehe dazu ferner Harrison (2007) 240. Vgl. u. a. McCarter (2015) 190–225; Roskam (2007) 173–179; Armstrong (2004) 285–287; Moles (2002) 155 f.; Oliensis (1998) 168–172; Degl’Innocenti Pierini (1992) 151–155; Kilpatrick (1986) 43–55; MacLeod (1979b) 18 f.; Fraenkel (21967) 373–380.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
Sinn nach natürlich sehr ähnlich, wenn auch der Fokus im ersten Fall auf die beiden Randpunkte des Lebens, Geburt und Tod, im zweiten eher auf den „Weg“, d. h. auf den Verlauf und die Art und Weise des Lebens, gelegt wird. Neben diesen sprachlichen Auffälligkeiten, die das von Roskam hervorgehobene Bewusstsein des Dichters für die Rezeption dieses epikureisch ‚gefärbten‘ Gedankengangs noch plausibler machen, kommt zu Beginn von epist. 1, 17 auch die Verbindung dieses Konzepts mit einem Leben auf dem Lande zur Geltung: Der horazische Ich-Sprecher bietet Scaeva Ratschläge im Umgang mit sozial Höhergestellten an, um den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu können (patronus-cliens-Verhältnis), obwohl er in diesen Dingen nach eigenen Angaben noch wenig Lebenserfahrung besitzt.97 Die erste Möglichkeit, die er Scaeva vorschlägt, erinnert stark an das epikureische Ideal des λάθε βιώσας:98 Si te grata quies et primam somnus in horam delectat, si te pulvis strepitusque rotarum, si laedit caupona, Ferentinum ire iubebo. nam neque divitibus contingunt gaudia solis nec vixit male qui natus moriensque fefellit. (Hor. epist. 1, 17, 6–10)
10
Das im ländlichen Raum Latiums gelegene Städtchen Ferentinum ist dem Ich-Sprecher zufolge also ein Symbol für Ruhe (quies) und Freude (gaudia) zugleich, da es ihm die Möglichkeit bietet, ein anonymes Leben fernab von allem Großstadttrubel zu führen.99 Diese Lebensform, die einen engeren Kontakt mit einem patronus und damit eigene Anstrengungen zu vermeiden sucht, ist allerdings zugleich mit einem Verzicht auf einen luxuriösen Lebensstil verbunden. Die zweite Option, deren kürzere Darstellung bereits die persönliche Neigung des Ich-Sprechers verrät,100 zeichnet sich dagegen durch eigene Aktivität bei der Suche nach einem geeigneten patronus und bei der anschließenden Kon‐ 96 97
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Vgl. dazu Hardie (1986) 34, Anm. 3, der für Vergils Formulierung nescia fallere vita in Verg. georg. 2, 467 ganz ähnlich argumentiert; ähnlich auch Mayer (1994) 233. Vgl. Hor. epist. 1, 17, 3f.: disce docendus adhuc quae censet amiculus, ut si / caecus iter monstrare velit; […]. Roskam (2007) 174 bezeichnet diese Art der Selbstcharakterisie‐ rung, durch die der Ich-Sprecher für Scaeva nahbar wird und nicht überheblich wirkt, als „an efficient pedagogical technique“. Vgl. dazu etwa McCarter (2015) 193 f.; Fantham (2013) 427; Roskam (2007) 174; Kilpatrick (1986) 44; siehe auch schon Kiessling/Heinze (91970) 149 f. und Fraenkel (21967) 378. Vgl. dazu auch Roskam (2007) 174, Anm. 82. Vgl. Hor. epist. 1, 17, 18: […] cur sit Aristippi potior sententia; […]; siehe dazu auch Roskam (2007) 176.
5.2 Die Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des Horaz
405
taktpflege aus (V. 11 f.). Die damit einhergehenden Mühen führen nicht nur zu einer Steigerung des eigenen Lebensstils, sondern bescheren auch der eigenen Familie entsprechende Vorteile.101 Diese gegensätzlichen Lebenskonzepte werden mit zwei Aussagen im Irrealis verknüpft, die den bereits in der ersten Epistel als Vorbild erwähnten Aristipp102 dem in V. 18 als mordax Cynicus bezeichnten Diogenes gegenüberstellen (V. 13– 15):103 Während Aristipps patientia überwiegend zu einer Lebensweise führen würde, wie sie in V. 6–10 beschrieben wurde, verhindert die Unfähigkeit des Diogenes, „mit Königen Umgang zu pflegen“ (V. 14: si sciret regibus uti), dass dieser dauerhaft auf karge Kost verzichten kann. Ohne große Umschweife macht der Ich-Sprecher deutlich, dass er Aristipps Einstellung eindeutig vorzieht, und lässt diesen selbst die ausschlaggebenden Argumente vortragen (V. 19–22):104 Zwar verhielten sich sowohl Aristipp als auch Diogenes wie Narren, doch durch seine impetinente Bettelei und seine Heuchelei mache sich Diogenes nicht nur vor sich selbst, sondern vor dem ganzen Volk zum Gespött.105 Wie in V. 23–32 noch näher ausgeführt wird, versteht es Aristipp nämlich, sich der wechselnden Lebenssituation immer wieder neu anzupassen und mit dem, was er gerade hat, auszukommen (V. 24: fere praesentibus aequum). Dies bedeutet allerdings keinesfalls, dass Aristipp überhaupt keinen Kontakt mit Höhergestellten pflegt bzw. pflegen muss, vielmehr setzt er entsprechende Gefälligkeiten, die er anderen erbringt, gezielt ein, um sich das Nötigste für den Augenblick zu sichern: ‘[…] equuus ut me portet, alat rex, / officium facio […]’ (Hor. epist. 1, 17, 20f.). Es geht also dem horazischen Ich-Sprecher, der dabei seiner besonderen Beziehung zu seinem sozial höhergestellten Förderer Maecenas Rechnung trägt,106 nicht darum, sich einem patronus und der damit verbundenen Förderung, die für den eigenen Lebensunterhalt unverzichtbar sind, vollständig zu entziehen,107 sondern darum, sich eine größtmögliche Unabhängigkeit und Flexibilität zu bewahren, die ein eigenständiges und nach 101
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Vgl. dazu Cic. off. 1, 12, 1: eademque natura vi rationis hominem conciliat homini […] impellitque, ut […] studeat parare ea, quae suppeditent ad cultum et ad victum, nec sibi soli, sed coniugi, liberis, ceterisque quos caros habeat tuerique debeat, […]; siehe dazu auch Kilpatrick (1986) 45. Vgl. Hor. epist. 1, 1, 18: nunc in Aristippi furtim praecepta relabor […]. Vgl. zu dieser Anekdote, die sich auch bei Diog. Laert. 2, 8, 68 findet, u. a. Kilpatrick (1986) 45 und Kiessling/Heinze (91970) 150. Zur generellen Präferenz des Aristippus in der horazischen Dichtung siehe v. a. McCarter (2015) 195–199. Vgl. Hor. epist. 1, 17, 21f.: ‘[…] tu poscis vilia rerum, / dante minor, quamvis fers te nullius egentem’. Thematisiert wird das Verhältnis des Ich-Sprechers zu Maecenas im ersten Epistel-Buch nicht nur an dieser Stelle, sondern insbesondere in epist. 1, 1; 1, 7; 1, 19.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
Möglichkeit auch zurückgezogenes Leben ermöglichen.108 Außerdem zeugt ein derartiger Gunsterwerb sogar von virtus, da man keinerlei Furcht vor einem möglichen Scheitern der Kontaktaufnahme zeigt und bereit ist, ein gewisses onus (V. 39) für das eigene Wohl auf sich zu nehmen.109 Zum angemessenen Umgang mit sozial höhergestellten Personen kommt noch ein maß- und takt‐ volles Vorbringen seines Anliegens und ein erkennbarer pudor bei der Annahme von Fördermittel hinzu (V. 43–51). Mag dieser Ansatz auch – schon allein aufgrund des betonten virtus-Begriffs – auf den ersten Blick nicht mehr viel mit dem in V. 6–10 dargelegten, epikurnahen Lebenskonzept gemein haben, so gilt es dennoch zwei wesentliche Aspekte zu bedenken: Zum einen ist die in dieser Epistel favorisierte Lebensweise des Aristipp zwar keine orthodoxe Umsetzung der epikureischen Lehre, was ohnehin einen unzulässigen Anachronismus nach sich ziehen würde, doch sein ‚Mittelweg‘ ist durchaus mit den Lebenszielen kompatibel, die auch in der Hierarchie der Kepos-Lehre ganz oben stehen.110 Zum anderen wird die virtus in dieser Epistel zwar als zentrale Eigenschaft mit Vorbildfunktion präsentiert, aber nicht – wie in der stoischen Idealvorstellung – als übergeordnetes Lebensziel, das um seiner selbst willen erreicht werden muss. Vielmehr fungiert hier die virtus – vergleichbar mit dem epikureischen Lustkalkül – als Mittel zum Zweck, sich ein sorgloses Auskommen mit den notwendigen ‚Lebensmitteln‘ zu verschaffen und sich dadurch auch die Möglichkeit eines unabhängigen Daseins in Ruhe und Abgeschiedenheit zu ermöglichen.111 Durchgehend wird die Nähe der Sprecher-persona, die als Lebensratgeber für Scaeva fungiert, zur epikureischen Lehre durch Referenzen für den Leser erkennbar signalisiert (im Sinne eines mittleren Ausprägungsgrads der Intertex‐
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Vgl. Hor. epist. 1, 17, 35: principibus placuisse viris non ultima laus est; ähnlich in Hor. epist. 1, 20, 23: me primis urbis belli placuisse domique; sat. 1, 6, 62f.: […] Magnum hoc ego duco / quod placui tibi, […]; siehe dazu auch Kiessling/Heinze (91970) 153; ferner Kilpatrick (1986) 47. Daher vertreten sowohl McCarter (2015) 194 als auch Roskam (2007) 175 die überzeu‐ gende Auffassung, dass die Sprecher-persona in der 17. Epistel insgesamt nicht zwei, sondern sogar drei Lebensoptionen vorstellt: ein radikal zurückgezogenes Leben gemäß der epikureischen Orthodoxie (V. 6–10), ein engagiertes Leben mit dem Streben nach Wohlstand (V. 11 f.) bzw. die Lebenshaltung des Diogenes (V. 14 f.; 21 f.; 30–32) und die von Aristipp praktizierte Lebensweise, die die Balance zwischen der epikureischen quies und dem lebensnotwendigen Kontakt zu einem patronus hält und sich hinsichtlich wechselnder Lebenssituationen als anpassungsfähig erweist (V. 19–29). Vgl. Hor. epist. 1, 17 41f.: […] aut virtus nomen inane est / aut decus et pretium recte petit experiens vir. Vgl. dazu v. a. McCarter (2015) 194 und Roskam (2007) 176f. Diesen entscheidenden Aspekt haben vor allem Kiessling/Heinze (91970) 155 erkannt.
5.2 Die Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des Horaz
407
tualitätskriterien Kommunikativität und Selektivität: indirekte Verbindungen und sprachlich-inhaltliche Anspielungen auf das epikureische λάθε βιώσας). Der epikureischen Position kommt auch in struktureller Hinsicht eine gewisse Bedeutung in Abgrenzung zur Lebensweise des Diogenes und zur kompromiss‐ bereiten Lebenspraxis des Aristipp zu, die dem Kepos-Ideal sehr nahesteht. Im Sinne der Dialogizität provoziert Horaz eine Konfrontation zwischen dem epikureischen Lebensideal und der römischen Realität des patronus-cliens-Ver‐ hältnisses. Die für den horazischen Ich-Sprecher große Bedeutung eines ruhigen und sorglosen Lebens mit ausreichender Rückzugsmöglichkeit kommt mindestens ebenso stark in epist. 1, 18 zum Ausdruck. Dort sind mehrere inhaltliche Parallelen zum Vorgängerbrief erkennbar:112 Ebenso wie bei Scaeva in epist. 1, 17 erlaubt sich der Ich-Sprecher hier, dem jungen Lollius, der bereits in epist. 1, 2 als Adressat in Erscheinung trat,113 Ratschläge über ein angemessenes Verhältnis zur sozialen Elite zu erteilen. Zudem werden auch in dieser Epistel zwei unterschiedliche Haltungen – die des scurra (V. 2; 4) und die der kyni‐ schen114 asperitas agrestis et inconcinna gravisque (V. 5–7) – einander als Extreme gegenübergestellt:115 Während der scurra nur darauf bedacht ist, dem Gönner zu gefallen und dabei seine Würde und Eigenständigkeit zu verlieren (V. 10– 14),116 führt eine übersteigerte Einforderung der eigenen libertas unvermeidbar zu schädlichen Konfliktsituationen (V. 15–17). Darüber hinaus offenbart der Ich-Sprecher auch in dieser Epistel sein eigenes Ideal, das er wiederum als
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Vgl. u. a. McCarter (2015) 205. Mit dem in carm. 4, 9, 32 und epist. 1, 20, 28 genannten Lollius, der wohl unter Augustus Konsul war, ist der in epist. 1, 2 und 1, 18 adressierte Lollius nicht identisch; siehe dazu etwa Bowditch (1994) 410, Anm. 3. Kilpatrick (1986) 55 kommt in seiner Studie, die die Unterschiede zwischen epist. 1, 18 und epist. 1, 17 deutlich macht und stattdessen die thematische Nähe von epist. 1, 18 und epist. 1, 2 in den Fokus rückt, unter anderem zu folgendem Resultat: „This epistle […] is actually a sequel to Epistle 1.2, and a restatement of his exhortation to Lollius to study philosophy“; zur Ringkomposition des ersten Epistel-Buchs mit den Adressaten Maecenas (epist. 1,1; 1, 19) und Lollius (epist. 1, 2; 1, 18) und zur daraus erkennbaren Entwicklung der Sprecher-persona siehe auch McCarter (2015) 224f. Vgl. dazu Rohdich (1972) 266–268; Kiessling/Heinze (91970) 160f. McCarter (2015) 225 verwendet zur Kontrastierung der beiden Extreme die Begriffe libertas mera (V. 8) und obsequium plus aequo (V. 10). Kilpatrick (1986) 51 fasst diese gegensätzlichen Haltungen hingegen unter dem Begriff scurra zusammen (unterschied‐ lich ausgeprägte ‚Typen‘ von scurrae). Eine ausführlichere Analyse dieser Passage sowie einen knappen Vergleich mit Ciceros De amicitia bietet McCarter (2015) 211f.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
virtus und als goldenen ‚Mittelweg‘ kennzeichnet: virtus est medium vitiorum et utrimque reductum (V. 9).117 Dennoch sind wesentliche Unterschiede in der thematischen Gestaltung der beiden Briefe nicht zu übersehen:118 Anders als in epist. 1, 17 ist Lollius offenbar nicht an einem patronus-cliens-Verhältnis interessiert, sondern an einer ‚echten‘ amicitia mit sozial höhergestellten Personen, die ihn schließlich sozial gleichgestellt machen würde.119 Außerdem führt der horazische Ich-Sprecher zu Beginn dieses Briefs die zwei genannten Positionen vor, die er beide als vitia 120 bezeichnet, ohne einer davon den Vorzug zu geben. Einen weiteren Unterschied in der Charakterisierung der Adressaten haben bereits Kiessling/Heinze hervor‐ gehoben: „Während bei einem Scaeva die Gefahr nahe lag, dass er das Klientenverhältnis zu bettelhafter Ausbeutung des Gönners missbrauchen und so seine Stellung herabwür‐ digen könnte, neigt der idealgesinnte Lollius eher dazu, das Bewusstsein der eigenen Würde zu überspannen und die Meinungen, Neigungen, Stimmungen seines Gönners nicht mit derjenigen Rücksicht zu behandeln, die nun einmal der Höherstehende als Preis für seine Gunst verlangt; […].“121
Nach einer Reihe an Verhaltensvorschriften, die den Hauptteil der 18. Epistel bestimmen (V. 1–95) und nicht nur den Umgang mit dem sozial Höhergestellten (V. 1–66; 86–95), sondern auch allgemein das angebrachte Benehmen im neuen sozialen Umfeld betreffen (V. 67–85), endet der Brief mit mahnenden Worten zum philosophischen Studium, das Lollius als Grundlage für die eigene Lebens‐ führung dienen soll:122 Inter cuncta leges et percontabere doctos qua ratione queas traducere leniter aevum, ne te semper inops agitet vexetque cupido,
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Vgl. u. a. Hor. sat. 1, 2, 23–30; siehe dazu auch McCarter (2015) 206. Dementsprechend fasst Bowditch (1994) 410 die 18. Epistel in nuce als „a general lesson to the specific case of his young friend’s wishing to maintain a balance between servile compliance and willful independence“ auf. Vgl. darüber hinaus auch Roskam (2007) 177f. Vgl. Hor. epist. 1, 18, 1f.: Si bene te novi, metues, liberrime Lolli, / scurrantis speciem praebere, professus amicum; siehe dazu auch Rohdich (1972) 264–266. Vgl. v. a. Hor. epist. 1, 18, 5: est huic diversum vitio vitium prope maius, […]; siehe dazu auch Kilpatrick (1986) 50f. Kiessling/Heinze (91970) 158; ähnlich dazu Kilpatrick (1986) 54 f.; vgl. dazu v. a. Hor. epist. 1, 18, 37–48. Eine ähnliche Strukturierung (Dreiteilung) des Briefs nimmt auch McCarter (2015) 205 vor.
5.2 Die Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des Horaz
neu pavor et rerum mediocriter utilium spes; virtutem doctrina paret naturane donet; quid minuat curas, quid te tibi reddat amicum; quid pure tranquillet, honos an dulce lucellum an secretum iter 123 et fallentis semita vitae. (Hor. epist. 1, 18, 96–103)
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Diese Verse thematisieren noch nicht die philosophische Umsetzung der Le‐ benswahl, sondern zunächst einmal die Lektüre philosophischer Literatur, die sich vor allem mit entscheidenden Faktoren für ein unbeschwertes Leben befasst, wobei die entsprechenden Fragestellungen hier in Form von aneinan‐ dergereihten indirekten Fragesätzen wiedergegeben werden. Bei genauerer Be‐ trachtung der gedanklichen und formalen Struktur des obigen Textausschnitts scheint folgende Einteilung plausibel zu sein: Während die V. 96 f. noch eine allgemeingültige Fragestellung beinhalten, die alle nachfolgend erwähnten Lebensalternativen betreffen, werden in V. 98 f. mit den Begriffen cupido, pavor und spes konkrete vitia genannt, auf die Lollius seine eigene Lebenshaltung kritisch prüfen soll.124 Im Anschluss an die in V. 101 f. formulierte Kernfrage, die auf die Verminderung von curae, die Herstellung innerer Harmonie und echter tranquillitas abzielt, kennzeichnen die Begriffe honos und dulce lucellum (V.102) erneut Lebensausrichtungen, die vom Ich-Sprecher eher negativ konnotiert werden.125 Dagegen scheinen die V. 100–102a das in V. 103 in eine lateinische Formulierung übertragene λάθε βιώσας zu beschreiben, was nicht zuletzt die Abfolge der einzelnen Aspekte und die Ausführlichkeit ihrer Darstellung durch den Dichter nahelegen.126 Neben den beiden anderen Lebensalternativen, honos an dulce lucellum, die aufgrund von Position und Kürze nicht zur ersten Wahl des horazischen Ich-Sprechers gehören dürften, wird das in einem emphatischen Hendiadyoin ausgedrückte Lebensprinzip des λάθε βιώσας also mit zentralen Aufgaben und Inhalten verbunden, die auch mit der epikureischen Philosophie vereinbar sind:127 virtus als zusätzliches (aber nicht wichtigstes) Erzeugnis der Lehre, die Führungsrolle der natura, die Verminderung von curae und die Bedeutung von 123 124 125 126
Auch in der voranstehenden Horaz-Epistel ist von einem expliziten iter als Lebensweg die Rede: disce docendus adhuc quae censet amiculus, ut si / caecus iter monstrare velit […] (Hor. epist. 1, 17, 3 f.). Vgl. etwa Rohdich (1972) 280: „Philosophische Reflexion wird als Heilmittel für die Leiden verschrieben, die der Druck der Gesellschaft in der Seele derer verursacht, die in ihr leben“; siehe dazu auch Kiessling/Heinze (91970) 175. Vgl. Kiessling/Heinze (91970) 176. Vgl. u. a. Roskam (2007) 177; Mayer (1994) 255; Kiessling/Heinze (91970) 176.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
amicitia und tranquillitas. 128 Im Vergleich mit der 17. Epistel wird ein ruhiges Leben in Abgeschiedenheit also noch mehr innerhalb anderer Teilaspekte des epikureischen ἀταραξία-Ideals verankert, dafür aber von einer expliziten Be‐ fürwortung des Landlebens – zumindest bis zu dieser Textstelle – gelöst.129 Das epikureische Ideal des λάθε βιώσας wird zudem – wie bereits im Vorgängerbrief – expressis verbis über die kynische Lebenshaltung gestellt.130 Die Herausstellung dieser Relationen ist von größter Bedeutung für das Verständnis der Dichterintention, zeigt aber bei näherem Hinsehen auch, dass eine völlig eindeutige und unproblematische Deutung der Lebensethik, die in einer Horaz-Epistel präsentiert wird, in Form einer unzweifelhaften Assozi‐ ierung mit einer bestimmten Philosophenschule kaum möglich ist.131 Neben epikurnahen Philosophemen sind in dieser Epistel auch Begriffe und Aussagen vorhanden, die sich mit der peripatetischen (z. B. medium) oder stoischen (z. B. virtus) Lehre in Einklang bringen lassen. Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass sich die Sprecher-persona in der 18. Epistel offensichtlich einer epikureischen Lebenführung verschrieben hat und Lollius deren Vorzüge abschließend näherbringen möchte (V. 104–112).132 Den zentralen Wert, den zu schaffen er selbst und damit unabhängig von göttlichem Einfluss imstande ist, sieht der Ich-Sprecher in einem aequus animus (V. 112). Auch dieser Begriff lässt eine philosophische Zuordnung der horazischen Sprecher-persona bewusst offen.133
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Vgl. dazu schon Fraenkel (21967) 376–378. McCarter (2015) 224 fasst die philosophi‐ sche Dimension von epist. 1, 18 so zusammen: „At the moment Lollius is asserting his independence through the wrong kind of uncompromising withdrawal and an outspokenness that borders on Cynicism, and Horace urges him to replace this with an adaptable approach that allows him to enjoy simultaneously participation with powerful friends and the private, almost Epicurean, sphere of philosophical reflection“. Insbesondere die beiden römischen Wertbegriffe virtus und amicitia nehmen in epist. 1, 18 eine herausragende Stellung ein, wie schon die Anfangsverse zeigen (emphatische Versschlussposition von amicus in V. 2 und V. 4; ebenso betonte Stellung von virtus am Ende von V. 8 bzw. zu Beginn von V. 9), und lassen sich tatsächlich keiner philosophi‐ schen Doktrin eindeutig zuordnen, wie wohl die in erster Linie stoisch-peripatetisch ‚gefärbte‘ Aussage in V. 9 am besten und deutlichsten zu verstehen gibt: virtus est medium vitiorum et utrimque reductum; siehe dazu auch Kiessling/Heinze (91970) 161. Vgl. dazu v. a. McCarter (2015) 222 f.; Moles (2007) 177 f.; Roskam (2007) 177. Vgl. u. a. McCarter (2015) 205; Moles (2007) 177f. Neben dem Begriff der virtus in Hor. epist. 1, 18, 100 lassen sich auch die res mediocriter utiles in V. 99 stoisch – nämlich als Adiaphora – deuten; siehe dazu auch Mayer (1994) 255 und Kilpatrick (1986) 53. Vgl. dazu u. a. Hor. carm. 1, 31, 15–20; 2, 16, 37–40; sat. 2, 6, 1–5; siehe dazu auch Kilpatrick (1986) 53f.
5.2 Die Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des Horaz
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Der Eindruck, den man schon von der Sprecher-persona in epist. 1, 17 ge‐ wonnen hat, bestätigt sich auch hier, wenn man die Intertextualität beschreiben will: Auf das favorisierte Lebensideal des λάθε βιώσας, für das sogar den Versuch einer lateinischen Übersetzung unternommen wird, wird im Sinne der Kommunikativität verwiesen. Das epikurnahe Lebensideal wird im Sinne der Strukturalität als integraler Bestandteil des Verhaltenskodex für Lollius bzw. als legitime Lebensoption im philosophischen Schlussteil ab V. 96 empfohlen. Die Einbettung der epikureischen Lebensausrichtung in einen sozialen Verhaltens‐ kodex zum erfolgreichen Auftreten in der römischen Elite kann als mittlerer Grad von Dialogizität gewertet werden, indem etwa die Beschränkung der eigenen Interessen und die Bescheidenheit in Kontrast zur gesellschaftlichen Vernetzung gesetzt werden. Die dadurch epikureisch ‚gefärbte‘ Sprecher-per‐ sona tritt hier wiederum als Ratgeber auf, der dem Adressaten für die eigene Lebenswahl verschiedene Optionen aufzeigt, ohne ihm die Entscheidung abzu‐ nehmen. 5.2.2 Die Kontrastierung von Stadt- und Landleben in Hor. sat. 2, 6 Nach diesen expliziten und bereits häufig analysierten Horaz-Versionen des epikureischen λάθε-βιώσας-Lebensprinzips stellt sich natürlich die Frage, wie es sich mit der Rezeption bzw. Adaption dieses ethischen Konzepts in anderen Horaz-Werken verhält, insbesondere in anderen Kontexten des Stadt-Land-Kon‐ trastes. Ist dort trotz der teilweise weniger klaren Anspielungen auf das λάθε-βιώσας-Prinzip eine eindeutige philosophische Verortung möglich und sinnvoll? Welche Funktion hat die jeweilige Umsetzung dieses philosophischen Ideals für die inhaltliche Gesamtaussage und die sprachlich-motivische Gestal‐ tung der einzelnen Horaz-Texte? Welche generelle Entwicklung kann schließ‐ lich für die Rezeption des ursprünglich rein epikureischen λάθε-βιώσας-Kon‐ zepts in den Gedichten des Horaz skizziert werden und welche Faktoren spielen dabei eine entscheidende Rolle? Im ersten Textbeispiel, das der Beantwortung all dieser Fragen dienen soll, der berühmten Satire 2, 6, schließt der Beginn thematisch mit dem Wunsch des Dichters nach einem modus agri non ita magnus nahezu nahtlos an das vivere-parvo-Credo des Bauern Ofellus in Satire 2, 2 an:134
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Vgl. dazu u. a. Kilpatrick (1986) 54; Kiessling/Heinze (91970) 177 fassen dagegen den Schlussgedanken explizit epikureisch auf; ähnlich dazu Moles (2007) 177f. Siehe dazu Kapitel 3.3.4. Vgl dazu u. a. auch Yona (2018) 233; 245 f.; Rudd (1966) 160 f.; zur Kompatibilität des Gutsbesitzes mit epikureischen Grundsätzen siehe Yona (2018)
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Hoc erat in votis: modus agri non ita magnus, hortus ubi et tecto vicinus iugis aquae fons et paulum silvae super his foret. auctius atque di melius fecere. bene est. nil amplius oro, Maia nate, nisi ut propria haec mihi munera faxis. (Hor. sat. 2, 6, 1–5)
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Das epikureische „Lebe im Verborgenen!“ wird mit dem Bekenntnis des satiri‐ schen Ich-Sprechers zum Rückzug in ländliche Gefilde in V. 16 klar aufgegriffen: ergo ubi me in montes et in arcem ex urbe removi.135 Fern ist für den literarisch tätigen Ich-Sprecher jegliche mala ambitio (V. 18), ein plumbeus Auster (V. 18) oder ein autumnus gravis (V. 19), was aber die Bereitschaft zu labores für die Erschaffung eines carmen keineswegs ausschließt. Es geht hier nämlich gerade um die produktionsfördernde und erholsame Distanz zum lästigen Stadtleben, das symbolisch für die pausenlose Erfüllung unangenehmer Verpflichtungen und den fast nie störungsfreien Umgang mit der Menschenmasse in der Stadt steht.136 In ein sympotisches Rahmenszenario, das Horaz im Schlussteil der Satire entwirft, ist die Erzählung der berühmten Fabel von der Stadt- und der Land‐ maus mit zwei zentralen Themen der epikureischen Lehre eingebettet:137 die allgemeine Bedeutung von Freundschaft und richtiger Lebenswahl. Als die verwöhnte und eitle Stadtmaus bei ihrem Besuch auf dem Lande der – wie Ofellus in sat. 2, 2 – freigebigen und gastfreundlichen Feldmaus das Leben in der Stadt schmackhaft machen möchte, indem sie auf die Kürze des Lebens und die allgemeine Sterblichkeit aller Lebewesen verweist (V. 96: in rebus iucundis vive beatus), lässt sich die Feldmaus überreden und gewinnt zunächst großes Gefallen an dem luxuriösen Lebensstil und dem opulenten Mahl im Hause der Stadtmaus. Aufgeschreckt von plötzlichem Türschlagen und lautem Hundegebell revidiert die Feldmaus jedoch schlagartig ihre positive Meinung vom Stadtleben und entscheidet sich letztlich für die Sicherheit, die ihr ein Leben auf dem Lande
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236–248 und Armstrong (2016) 182–208, jeweils unter intensiver Einbeziehung der Werke Philodems; siehe dazu auch Bowditch (2001) 142–154. Die Spannung zwischen bürgerlichen Verpflichtungen und dem Wunsch nach Freizeit und Ruhe deutet u. a. Muecke (21997) 194 als Spiegelbild des stoisch-epikureischen Konflikts. Eine ähnliche Konstellation ist durch die Kontrastierung zwischen der Dichter-persona als ruris amator und Aristius Fuscus als urbis amator in epist. 1,10 gegeben; siehe dazu Kapitel 5.2.3. Die Fabel ist außerdem bei Babr. 108 und im Corpus Fabularum Aesopicarum 297 Hausrath überliefert.
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garantiert. Während die Stadtmaus also einen trivialen Hedonismus vertritt, wie ihn nur ‚Scheinepikureer‘ (z. B. der ciceronische Piso) für sich beanspruchen (Kürze des Lebens und Sterblichkeit der Seele als Rechtfertigung eines Lebens im Genuss), erkennt die Feldmaus die Möglichkeit zu einer weit größeren voluptas, die sich durch einen genügsamen Lebensstil und ein Gefühl der Sicherheit auszeichnet.138 Mit der Fabel von Stadt- und Landmaus kehrt man am Schluss der Satire zur Intention des horazischen Ich-Sprechers selbst zurück: Zutiefst epikureische Haltungen werden mit der Lebenssituation des Ich-Sprechers vereint und der Konflikt zwischen Stadt und Land in einem Wettkampf um den idealen Lebensort ausgetragen. Der Besitz des Landguts allein reicht aus Sicht des Ich-Sprechers für ein gutes Leben vollkommen aus, doch er wird auf der Basis des Strebens nach persönlichem Glück und dauerhafter Sicherheit auch eingefordert. An dieser Stelle muss man allerdings bedenken, dass Horaz sich selbst, wenn man den Ich-Sprecher in dieser Satire als eine Art poetisches Spiegelbild des Dichters verstehen möchte, zwar unzweifelhaft zum Verfechter des Landlebens erklärt, selbst jedoch nie ganz aufs Land gezogen und daher in Wahrheit eine ‚Stadt-Maus‘ geblieben ist.139 In sat. 2, 6 wird insofern sogar eine gewisse Relativierung des Landlobes erkennbar, als die Gesprächsthemen auf dem Land angeblich zwar viel tiefgründiger als die in der Stadt seien – Grund hierfür ist die städtische Umgebung und nicht etwa Maecenas –, aber die zu hochintel‐ lektuellen Diskussionsgegenständen deklarierten Landthemen werden mit dem abschätzigen Begriff aniles fabellae (V. 77 f.) zusammengefasst und an der von Cervius erzählten Fabel exemplifiziert. Dass dies trotzdem keine Herabsetzung solcher Fabeln und Gleichnisse von Seiten des Dichters bedeutet, beweist Horaz mit vielfachen Tiervergleichen in den drei Episteln, die im Folgenden noch näher in Augenschein genommen werden. 5.2.3 Die Relativierung des Stadt-Land-Kontrastes in Hor. epist. 1, 10 und 1, 14 Die Problematik bzw. die Relativierung des Stadt-Land-Kontrastes wird auch in den Episteln des Horaz regelmäßig thematisiert, dort sogar noch intensiver als in den Satiren.140 So tritt in epist. 1, 10 die Sprecher-persona erneut als 138 139
Vgl. dazu erneut Epik. sent. rat. 14; zur moralphilosophischen bzw. ethischen Deutung der Fabel siehe ferner Harrison (2007) 236f. Harrison (2007) 237 kommt stattdessen zu folgendem Schluss: „Horace, perhaps, is both the town mouse and the country mouse“.
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ruris amator(es) auf und stellt sich mit diesem Bekenntnis dem bereits aus der ‚Schwätzersatire‘ (sat. 1, 9) bekannten Aristius Fuscus entgegen, der als urbis amator fungiert, ansonsten aber zum horazischen Ich-Sprecher hier ein „Bruder im Geiste“ ist:141 Urbis amatorem Fuscum salvere iubemus ruris amatores. hac in re scilicet una multum dissimiles, ad cetera paene gemelli fraternis animis, quidquid negat alter, et alter, annuimus pariter. vetuli notique columbi tu nidum servas, ego laudo ruris amoeni rivos et musco circumlita saxa nemusque. (Hor. epist. 1, 10, 1–7)
5
Im Anschluss an diese Verse gibt der Ich-Sprecher an, dass er nach dem Verlassen der Stadt richtig aufleben konnte und eine gewisse Art von Macht (über sich und sein eigenes Leben) erlangte.142 Eine deutliche Parallele zu Epikurs Lebensmaxime zieht er in V. 11: pane egeo iam mellitis potiore placentis. 143 Um seine Position stark zu machen, greift der Ich-Sprecher in V. 12 ausgerechnet auf die stoische Maxime des convenienter naturae vivere zurück, die er auf seine eigene Weise deutet, indem er ihr ein Plädoyer für das (epikureische) Landleben entnimmt.144 Es folgen die altbekannten Argumente, die die Favorisierung des Landlebens überzeugend untermauern sollen: klimatische Annehmlichkeiten, die Abwesenheit einer invida cura und die allgemeinen Vorzüge der unaufhalt‐ samen Natur. Außerdem wird die aus der epist. 1, 6 vertraute Maxime des nil admirari nochmals aufgegriffen und um die Mahnung fuge magna (V. 32) ergänzt. Auch das für Horaz typische parvo uti leuchtet in diesen Versen erneut auf.145
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142 143 144
145
Vgl. dazu insbesondere McCarter (2015) 161–189; siehe dazu auch Harrison (2007) 240f. Zur Analyse und Deutung dieser Versepistel siehe u. a. McCarter (2015) 162–173; Schmidt (2011) 129 f. bzw. Schmidt (1997) 146–154; Oliensis (1998) 166–168; Kilpatrick (1986) 71–76; MacLeod (1979b) 24–27; zur Darstellung des Aristius Fuscus bei Horaz siehe Johnson (1993) 75–83; Harrison (1992b) 543–547. Vgl. Hor. epist. 1, 10, 8: […] vivo et regno simul ista reliqui / […]. Vgl. dazu Epik. Men. 130f. Vgl. dazu Fantham (2013) 420; Harrison (2007) 240; Kilpatrick (1986) 73; Lebek (1981) 2035; MacLeod (1979b) 25 f. Ohnehin steht dieser stoische Leitsatz mit der epikureischen Lehre, die eine Befriedigung natürlicher Bedürfnisse erlaubt (z. B. Epik. Men. 127; sent. rat. 19) und das Streben nach voluptas als naturgemäß einstuft (z. B. Epik. Men. 128 f.), nicht im Widerspruch. Vgl. dazu v. a. Hor. carm. 2, 16, 13–16.
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Diese Vielzahl an indirekten Verweisen auf Epikurs Lehrsätze lassen auch in diesem Horaz-Text die epikureische Tendenz der Sprecher-persona erkennen: Neben einem niedrigen Grad an Referentialität und Autoreflexivität wirken die Verweise auf die Kepos-Lehre im Sinne von intertextueller Kommunikativität und Selektivität. Während die Dialogizität wegen des geringen Spannungsver‐ hältnisses zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Kontext in einem niedrigen Bereich liegt, ist aus denselben Gründen wie in sat. 2, 6 ein mittlerer Grad an Strukturalität festzustellen. Überraschend und gleichzeitig kompromissbereit drückt sich die Spre‐ cher-persona am Ende dieser Versepistel aus: Obwohl der Ich-Sprecher zum wiederholten Male eindeutig dem Landleben den Vorzug gibt, wenn es darum geht, den optimalen Lebensort zu bestimmen, räumt er ein, dass die natureigene laetitia letztlich ausschlaggebend für die richtige Lebenswahl ist – laetus steht ringkompositorisch am Anfang und am Ende des letzten Abschnitts (V. 44–50) – und dabei auch der wahren Freundschaft bzw. der gegenseitigen Mahnung eine entscheidende Bedeutung zukommt:146 laetus sorte tua vives sapienter, Aristi, nec me dimittes incastigatum, ubi plura cogere quam satis est ac non cessare videbor. imperat aut servit collecta pecunia cuique, tortum digna sequi potius quam ducere funem. Haec tibi dictabam post fanum putre Vacunae, excepto quod non simul esses, cetera laetus. (Hor. epist. 1, 10, 44–50)
45 50
Unabhängig von der Entscheidung für Stadt oder Land sind also laetitia und amicitia die unabdingbaren Garanten für die wahre sapientia. Auch wenn der horazische Ich-Sprecher somit nach wie vor zum Leben auf dem Land neigt (ruris amator), besteht sein Anliegen nicht darin, seinen Adressaten, d. h. in diesem Fall Aristius Fuscus (urbis amator), zu dieser Lebensform zu zwingen; vielmehr lässt er einen gewissen Raum für Alternativen auf dem Weg zur persönlichen vita beata.147 Die Überhöhung des Lebens in ländlicher Abgeschiedenheit zum einzigen Lebensideal, das in epist. 1, 10 schon zum Teil eine erkennbare Relativierung erfährt, wird in epist. 1, 14 weiter eingeschränkt.148 Die Personenkonstellation ist der in epist. 1, 10 sehr ähnlich: Die horazische Sprecher-persona hält sich 146 147
Vgl. dazu insbesondere McCarter (2015) 173. Ähnlich dazu auch McCarter (2015) 171–173.
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momentan aus Gründen von pietas et cura (V. 6) gezwungenermaßen in der Stadt auf, da dort ein Freund namens Lamia einen familiären Todesfall zu betrauern hat, sehnt sich jedoch nach dem eigenen Landgut.149 In diesem Zusammenhang vergleicht der Ich-Sprecher seine Lage mit der seines vilicus (Verwalter des Landguts), der seinerseits in die Stadt zurückstrebt. Der Topos des traditionellen Stadt-Land-Kontrastes ist damit abermals aufgerufen und zeigt sich in den unterschiedlichen Neigungen der beiden: rure ego viventem, tu dicis in urbe beatum: cui placet alterius, sua nimirum est odio sors. stultus uterque locum immeritum causatur inique: in culpa est animus, qui se non effugit umquam. (Hor. epist. 1, 14, 10–13)
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Einen neuen Aspekt, der die Bedeutung des locus für das eigene Lebensglück wie schon in epist. 1, 10 infrage stellt, liefert die These des horazischen Ich-Sprechers in den oben zitierten Versen 11–13: Glück und Zufriedenheit sind primär keine Frage des locus, sondern des animus, d. h. der richtigen und situationsangemessenen Einstellung. Umgekehrt entsteht nur dann Neid auf andere, wenn man an deren Lebensform Gefallen findet (und einem diese infolgedessen sogar besser gefällt als die eigene). Letztlich ist also alles eine Frage des aktuellen Standpunkts bezüglich der eigenen Lebenssituation oder – konkreter formuliert – einer konsequenten Umsetzung des nil admirari (individueller Wunsch nach Veränderung): Nur wer ein (ungezügeltes) Streben nach der Lebensform anderer (Soll-Zustand) rechtzeitig unterbinden kann, vermag es, mit sich und seiner eigenen Lebenssituation (Ist-Zustand) dauerhaft im Reinen zu sein. Dementsprechend schließt diese Horaz-Epistel später auch wie folgt: Quam sit uterque, libens, censebo, exerceat artem (V. 44). Frei übersetzt heißt das: Jeder bleibe am besten, wo er gerade ist, und nehme seine gegenwärtig gegebene Lebenssituation ohne großes Murren an, um das Beste daraus zu machen. Der entscheidende Unterschied zur Epistel 1, 10 besteht allerdings darin, dass der horazische Ich-Sprecher zunächst noch – genauer gesagt bis zur oben zitierten Verspartie 10–13 – die Schlusssentenz offenbar sowohl auf den vilicus als auch auf sich selbst anwendet; in der Folge exemplifiziert er das Abweichen 148 149
Zur Analyse und Deutung dieser Epistel siehe zuletzt v. a. McCarter (2015) 180–189; Bowditch (2001) 221–239; ferner bereits u. a. Schmidt (1997) 155–163; Kilpatrick (1986) 89–93; Fraenkel (21967) 365–370. Zur epikureischen Deutung dieser Haltung des Ich-Sprechers in epist. 1, 14 und der Versepistel insgesamt siehe insbesondere Bowditch (2001) 221; 230–233; 236–239.
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von dieser weisen Erkenntnis und die daraus resultierende Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage nahezu ausschließlich an seinem Gutsverwalter (V. 14–30).150 Nur noch in Ansätzen klingt der eigene moralische Verstoß des Ich-Sprechers an, der jedoch auf die weit zurückliegende Jugendsünde der längst vergangenen Verschwendungs- und Trunksucht reduziert wird (V. 32–36) und der konsequenten Umsetzung der eigenen Haltung in der Selbstwahrnehmung keinen Abbruch tut.151 Der eigentliche Verstoß gegen die in V. 12 f. und in V. 44 vorgebrachte Überzeugung erfolgt allerdings in anderer Hinsicht: Zwar ist das Streben des Ich-Sprechers zu den Trieben des vilicus diametral entgegengesetzt, doch auch er verfällt der admiratio, die in Epistel 1, 6 noch verpönt worden ist: non eadem miramur (V. 18).152 Anstelle der Stadt als Ort des ausschweifenden Vergnügens „bewundert“ der horazische Ich-Sprecher die Zurückgezogenheit und Stille des Lebens auf dem Landgut und macht aus der Ablehnung einer entgegengesetzten Haltung, wie sie der vilicus vertritt, kaum einen Hehl. Dabei scheint der horazische Ich-Sprecher die Mühsal des Gutsverwalters, die ihm die Landarbeit einbringt und die Stadt zu seinem Sehnsuchtsort werden lässt, zwar zur Kenntnis zu nehmen (V. 26b–30), aber nicht als gleichwertiges Pendant zu den eigenen invisa negotia zu akzeptieren.153 Neben diesen invisa negotia, dem hohen Stellenwert der amicitia, dem bescheidenen Auskommen mit dem ländlichen Gutsbesitz sind auch die Absage an den luxuriösen Lebensstil von früher (V. 32–34) und die Freude über eine schlichte Lebensweise (V. 35: cena brevis iuvat et prope rivum somnus in herba) sowie fehlender Neid und Hass auf dem Land (V. 37 f.) für den Wandel des Ich-Sprechers zu einer epikuraffinen persona. Anders als noch in Epistel 1, 6 oder Epistel 1, 10 festigt sich der Eindruck, dass der Ich-Sprecher in Epistel 1, 14 in Wahrheit energisch an seiner eigenen Lebensanschauung festhält und entgegen der Schlusssentenz in V. 44 in diesem Fall selbst keinen Raum für alternative Betrachtungsweisen lässt.154 Gerade aber weil er sich selbst offenbar von einem moralphilosophischen Defizit freispricht, indem er das Fehlverhalten seines vilicus bzw. dessen ortsabhän‐ 150 151 152 153
154
Vgl. Kilpatrick (1986) 91 f.; anders dazu noch Fraenkel (21967) 368f. Vgl. Hor. epist. 1, 14, 16f.: me constare mihis cis et discedere tristem, / quandocumque trahunt invisa negotia Romam. Vgl. hierzu McCarter (2015) 183f. Ähnlich dazu McCarter (2015) 185. Die vom Ich-Sprecher verspürten Unannehmlich‐ keiten im städtischen Miteinander spiegeln sich auch im Lob des Landlebens in V. 37f. noch wider: non istic obliquo oculo mea commoda quisquam / limat, non odio obscuro morsuque venenat. Siehe dazu auch McCarter (2015) 186–188.
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giges Lebensglück bemängelt, legt der Ich-Sprecher hier eine überraschend inkonsequente Haltung an den Tag.155 Dieses paradoxe Verhalten ist wohl als didaktisch-motivationspsychologischer Trick eines ‚Lehrers‘ zu verstehen, der nicht überheblich und eitel erscheinen möchte. Diese Unvollkommenheit des Ich-Sprechers in Epistel 1, 14 ordnet McCarter folgendermaßen ein:156 „By withdrawing from the contest in this way Horace tacitly acknowledges that he has not won it. The mask that Horace tries to force onto himself in 1.14 simply does not fit him and goes against too many of the lessons Horace has tried to impart to others throughout the poems that precede it. […] [W]hat ultimately comes through the surface of the poem is that Horace’s own attachment to the countryside leaves him less than free himself. He and the vilicus are equally ‘enslaved’ by their own admiratio, which leaves them incapable of adapting to a variety of circumstances.“157
Mit der Inszenierung einer solchen Sprecher-persona, die der Dichter hier sogar explizit mit seinem eigenen Namen in Verbindung bringt,158 scheut sich Horaz also nicht einmal davor, sich selbst einer möglichen Kritik an seiner Inkonsequenz auszusetzen.159 Gleichzeitig bedeutet dies allerdings nicht, dass der von Horaz hier inszenierte ruris amator von der in epist. 1, 14 präsentierten Sentenz prinzipiell abrückt; nur deren Anwendung auf sich selbst scheint zu misslingen, im Gegenzug aber seine moralphilosophische Idealvorstellung vom Leben auf dem Land zu untermauern, die eines der wesentlichen Kennzeichen horazischer Briefdichtung ist. 5.2.4 Die fabella des Volteius Mena in Hor. epist. 1, 7 In der vielfach gedeuteten epist. 1, 7, die als herausragendes poetisches Spiegel‐ bild des nicht immer ganz unproblematischen Verhältnisses zwischen Horaz und Maecenas aufgefasst werden kann, liegt ein außergewöhnlicher Fall horazischer
155
156 157 158 159
Vgl. dazu etwa Mayer (1994) 212: „H. [sc. Horace] has stressed his love of the country, his need for it, but remains convinced in principle that place should be a matter of indifference to the well-regulated spirit […] There is a fundamental inconsistency in his attitude, which he tries here to justify up to a point“; siehe dazu auch McCarter (2015) 188f. Insbesondere in Hor. epist. 1, 17, 3 betont der Ich-Sprecher ebenfalls seinen eigenen Lernprozess und bezeichnet sich selbst als docendus amiculus. McCarter (2015) 189. Vgl. Hor. epist. 1, 14, 5. Wie er zu Beginn der Epistel einräumt, ist er selbst noch mit dem geistigen ‚Unkraut‐ jäten‘ beschäftigt, d. h. er arbeitet ständig an der eigenen Verbesserung: certemus, spinas animone ego fortius an tu / evellas agro […] (Hor. epist. 1, 14, 4f.).
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Figurenmodellierung vor:160 Mit Volteius Mena begegnet der Leser einem Mann, der sich am Ende der Epistel sein altes Leben zurückwünscht, wie es der vilicus in epist. 1, 14 ebenfalls getan hat. Seine Entwicklung von einem sorgenlosen Städter zu einem hoffnungslos überforderten und vom Schicksal geplagten Landwirt wird über fast 50 Verse hinweg detailliert geschildert (V. 46–95) und fungiert als ausdrucksstärkstes exemplum für die moralphilosophische Quintessenz am Ende der Epistel (V. 96–98). Wie Cervius in der Satire 2, 6 wird der horazische Ich-Sprecher hier selbst zum Erzähler einer Reihe von fabellae,161 die die Gesamtstruktur des Versbriefs bestimmen und im folgenden Gliederungsschema hervorgehoben sind:162 V. 1–13: Gründe für den längeren Landaufenthalt des Horaz mit Bitte an Maecenas um Nachsicht; V. 14–19: Fabel vom Calaber hospes; V. 20–28: Deutung und Selbstanwendung; V. 29–33: Fabel von der cornicula tenuis; V. 34–39: Deutung und Selbstanwendung; V. 40–43: Mythos von Telemach und Menelaus; V. 44f.: Deutung und Selbstanwendung; V. 46–95: Fabel von Volteius Mena und Philippus; V. 96–98: Deutung und allgemeine Schlusssentenz.
Zu Beginn dieses Briefes entschuldigt sich der horazische Ich-Sprecher bei seinem Gönner für sein langes Fernbleiben auf dem Land, allerdings „nicht ohne scherzende Dreistigkeit, nicht ohne eine sehr selbstgewisse Eigenwillig‐ keit“163. Wie bereits für Satire 2, 6 und Epistel 1, 14 näher ausgeführt, zieht der horazische Ich-Sprecher nämlich ein beschauliches und ruhiges Landleben den gesellschaftlichen Verpflichtungen und strapaziösen Terminen in der Stadt unverhohlen vor. Dennoch ist er um die Billigung seines Vorhabens durch Maecenas bemüht und erzählt nacheinander vier Gleichnisse164, mit deren Hilfe er jeweils seine Situation und Rolle als Beschenkten und die seines
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Zur Analyse und Interpretation dieser Epistel siehe McCarter (2015) 124–146; Hills (2005) 97–99; Bowditch (2001) 181–210; Oliensis (1998) 157–165; Schmidt (1997) 142– 145; Kißel (1994) 79–102; Horsfall (1994) 315–328 bzw. Horsfall (1993) passim; Lefèvre (1993) 240–247; Kilpatrick (1986) 7–14 bzw. Kilpatrick (1973) 47–53; Lebek (1981) 2020–2023; MacLeod (1979b) 19 f.; Wimmel (1969) 60–74; Fraenkel (21967) 385–399; Hiltbrunner (1960) 289–300. Vgl. dazu auch Harrison (2007) 241. Vgl. dazu bereits Fraenkel (21967) 395. Maurach (2001) 325. Fraenkel (21967) 395 spricht hierbei von αἶνοι; siehe auch Bowditch (2001) 181.
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Förderers als Schenkenden in ganz unterschiedlichen Kontexten ausleuchtet.165 Wie etwa Kißel oder McCarter dargelegt haben, wäre es verkehrt, von einem Bruch zwischen Horaz und Maecenas oder einer dreisten Kritik des Dichters bzw. des Ich-Sprechers auszugehen, denn der Zweck der folgenden fabellae besteht in erster Linie darin, das Verhältnis zwischen Horaz und Maecenas positiv von anderen Konstellationen abzusetzen, aber auch potentielle Gefahren aufzuzeigen.166 Zuerst wird die Anekdote vom Calaber hospes erzählt, der seine Gäste mit allem, was er selbst sonst wegwerfen müsste, übermäßig beschenkt und der damit aus der Sicht des horazischen Ich-Sprechers in scharfem Gegensatz zu Maecenas steht, welcher seinerseits auf eine angemessene und respektvolle För‐ derung seiner Schützlinge bedacht ist (V. 14–19; Ausdeutung in V. 19–24).167 Der Schenkende ist zwar großzügig, handelt aber falsch, weil er den Beschenkten dadurch entehrt, dass er ihn mit den Schweinen, die die Reste fressen, gleich‐ setzt.168 Anschließend (V. 29–33; Ausdeutung in V. 34–39) gibt die horazische Spre‐ cher-persona das ebenso auf die Horaz-Rolle projizierte Gleichnis von der tenuis cornicula als exemplum ex negativo wieder, die sich durch einen schmalen Spalt in eine Kornkiste zwängt, um sich darin vollzufressen und schließlich nicht mehr herausschlüpfen zu können.169 Das dünne Krählein, das sich in der Getreidekiste
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Berres (1992) 234 liegt sicher nicht falsch, wenn er trotz erkennbarer Unterschiede und alternativer Deutungsmöglichkeiten allen vier fabellae eine gemeinsame Funktion zuweist: „Die Paradigmen sind […] ausnahmslos, wenn auch in unterschiedlichem Maße, Zerr- bzw. Gegenbilder der wirklichen (bzw. fiktiven) Situation, die dem Brief zugrundeliegt“. Vgl. Novikova (2017) 88; McCarter (2015) 125 f.; Kißel (1994) 99 f.; ähnlich dazu auch Mayer (1994) 174; Lefèvre (1993) 242 hingegen formuliert es etwas schärfer: „Was Horaz wünscht, ist Unabhängigkeit in Freiheit (liberrima otia, 36), nicht Abhängigkeit in Unfreiheit, womit einerseits die officiosa sedulitas und die opella forensis (8) gemeint sind, andererseits die Verpflichtungen Maecenas gegenüber“. Vgl. v. a. Hor. epist. 1, 7, 14f.: non quo more piris vesci Calaber iubet hospes / tu me fecisti locupletem […]; siehe dazu auch Fantham (2013) 418 f.; Oliensis (1998) 158 f.; Kißel (1994) 83–87; Fraenkel (21967) 387–391. McCarter (2015) 130–132 betont hingegen die Möglichkeit einer ambivalenten Deutung dieses Gleichnisses. Vgl. dazu auch Kißel (1994) 83 f.; Berres (1992) 231; Kilpatrick (1986) 10; Fraenkel (21967) 388–391. Zur Diskussion über die Lesart dieser Verse siehe zuletzt insbesondere Novikova (2017) 79–85, die anders als etwa Bentley, Giangrande und Shackleton-Bailey, dessen Ausgabe in dieser Arbeit herangezogen wird, an der Lesart volpecula festhält; dazu auch Berres (1992) 221 f., Anm. 33.
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einen Bauch anfrisst, ist der Beschenkte, dem die Gaben letztlich schaden, weil sie es träg und unfrei machen.170 Als einzig ‚positives‘ exemplum in dieser Reihe fungiert daraufhin der Mythos über Telemachs reflektierte Ablehnung des Pferdegeschenks von Menelaus (V. 40–43; Ausdeutung in V. 44 f.).171 Die Ehrlichkeit des ehrenvoll Beschenkten rettet die Situation für beide und kommt der Situation des Horaz gegenüber Maecenas am nächsten: Horaz will ehrlich sagen, was er wann benötigt (und auch, wann er auf dem Land bleibt), und selbst wenn er ehrenvoll von Maecenas beschenkt wird, muss er manchmal die nicht ganz angenehme Wahrheit aus‐ sprechen. Im Zentrum der siebten Horaz-Epistel steht jedoch das Gleichnis vom Trödel‐ händler (praeco) Volteius Mena und dem reichen Philippus, „eine der am meisten bewunderten und am meisten fehlgedeuteten horazischen Erzählungen“172. Die Episode handelt von der Begegnung eines angesehenen und schon etwas älteren Staatsmannes, der wohl mit dem Konsul L. Marcius Philippus aus dem Jahre 91 v. Chr. gleichgesetzt werden kann, und eines historisch nicht zweifelsfrei identifizierbaren Auktionators,173 der in Rom ein Leben voller Gelassenheit führt und somit als eine Art städtischer Epikureer eingestuft werden kann:174 arrasum quendam vacua tonsoris in umbra cultello proprios resecantem leniter unguis. […] it, redit et narrat, Vulteium nomine Menam,
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Vgl. zuletzt v. a. McCarter (2015) 132–134; Fantham (2013) 419. Zur programmatischen und viel gedeuteten Äußerung cuncta resigno (V. 34) vgl. Hor. carm. 3, 29, 54; zur unterschiedlichen Deutung dieser Formulierung siehe u. a. Novikova (2017) 85–87; Bowditch (2001) 185; 188–190; Oliensis (1998) 160; Mayer (1994) 163; Kißel (1994) 88–93; Lefèvre (1993) 242; Berres (1992) 222–232; Kilpatrick (1986) 11 f.; Fraenkel (21967) 393f. Vgl. u. a. Novikova (2017) 87 f.; McCarter (2015) 135–137; 145; Fantham (2013) 419; Kißel (1994) 93 f.; Kilpatrick (1986) 12 f.; Fraenkel (21967) 394 f.; anders dazu Berres (1992) 229, der mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Telemach und Horaz erkennt. Lefèvre (1993) 242. Vgl. dazu u. a. Mayer (1994) 167; Dilke (1981) 1854; Fraenkel (21967) 397 f.; Hiltbrunner (1960) 295; eine hypothetische etymologische Interpretation des Namens findet sich bei Kofler (1997) 345 f., Anm. 12 und Anm. 16. Vgl. dazu Kißel (1994) 98; Hiltbrunner (1960) 296. Die soziale Situation bzw. Beziehung zwischen Philippus und Volteius Mena entspricht also prinzipiell – darüber ist man sich einig – der zwischen Maecenas und Horaz, was allerdings nicht automatisch eine absolute Gleichsetzung der beiden Personenkonstellationen bedeutet, da es Horaz ja gerade darum gehen dürfte, sich von den negativen Entwicklungsmöglichkeiten präventiv absetzen zu können; siehe dazu insbesondere McCarter (2015) 138 sowie Anm. 180 in diesem Kapitel.
422
5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
praeconem, tenui censu, sine crimine, notum et properare loco et cessare, et quaerere et uti, gaudentem parvisque sodalibus et Lare certo et ludis et post decisa negotia Campo. (Hor. epist. 1, 7, 50f. und 55–59)
Nach anfänglichen Ausweichversuchen lässt sich Volteius Mena schließlich auf ein Treffen mit dem hartnäckigen Philippus ein und gibt in letzter Konsequenz seine bisherige Lebensform dadurch preis, dass er Philippus’ ständiger Begleiter bei all dessen täglichen Erledigungen wird. Wie Horaz, dessen Beziehung zu Maecenas sich ebenso über mehrere Phasen aufbaut, bekommt Volteius Mena von seinem Gönner ein sabinisches Landgut geschenkt; im Falle des Letztgenannten führt dieses jedoch zu seinem inneren wie äußeren Verderben: […] ex nitido fit rusticus atque sulcos et vineta crepat mera, praeparat ulmos, immoritur studiis et amore senescit habendi. verum ubi oves furto, morbo periere capellae, spem mentita seges, bos est enectus arando, offensus damnis media de nocte caballum arripit iratusque Philippi tendit ad aedis. quem simul aspexit scabrum intonsumque Philippus, ‘durus’ ait, ‘Vultei, nimis attentusque videris esse mihi.’ ‘pol, me miserum, patrone, vocares, si velles’ inquit ‘verum mihi ponere nomen. quod te per Genium dextramque deosque Penatis obsecro et obtestor, vitae me redde priori.’ (Hor. epist. 1, 7, 83–95)
85 90 95
In seinem Bestreben, immer mehr haben zu wollen, arbeitet er sich in einem bislang unvertrauten Lebensbereich völlig auf und sieht sich einer Reihe unvor‐ hersehbarer damna ausgesetzt, infolge derer er sich vollkommen erregt und jegliche seelische Ausgeglichenheit von einst entbehrend auf den Weg zu dem regelrecht spöttischen Philippus macht und diesen verzweifelt um die Rückkehr in sein früheres Leben anfleht. Auf der Basis der Charakterisierung von Volteius Mena in V. 50–59 und seiner weiteren Entwicklung stellt sich auch die Frage, ob man in seinem Fall von einer Art ‚Stadtepikureer‘ sprechen kann. Einer epikureischen ‚Färbung‘ des Volteius Mena, für die man neben seinem ausgeglichenen Charakter beispielsweise sein tenuis census und den offenbar hohen Stellenwert von amicitia anführen könnte, steht dabei vor allem seine Geschäftstüchtigkeit (negotia), aber auch
5.2 Die Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des Horaz
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das Fehlen weiterer, noch mehr Aufschluss gebender Angaben über seine moralphilosophische Einstellung entgegen. Obwohl Volteius Mena damit in diesem „kleine[n] Drama […] in fünf Szenen“175 in doppeltem Sinn ein exemplum e contrario darstellt – er wünscht sich nicht aufs Land, sondern in die Stadt zurück und im Gegenteil zu Horaz gelingt es Volteius nicht, mit den Geschenken seines Patrons sinnvoll und erfolgreich umzugehen –,176 wird insgesamt betrachtet ein entscheidendes ge‐ meinsames Vergleichsmerkmal deutlich, das das Leitthema der gesamten Epistel bildet: die Abhängigkeit von einem Patron bzw. Mäzen. Die Frage nach dem angemessenen und sinnvollen Umgang mit den Geschenken eines Patrons steht also im Mittelpunkt der Epistel 1, 7 und verbindet alle erwähnten Gleichnisse thematisch miteinander. Ein pikantes Detail mit geradezu tragikomischem Ausmaß, das an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollte, ist die Tatsache, dass das ganze Unglück des Volteius seinen Lauf nimmt, während Philippus dadurch belustigt wird (ridet) und zur Ruhe kommt (requies), die Lebensverhältnisse der beiden Haupt‐ protagonisten oder vielmehr -antagonisten sich also an diesem Punkt der Geschichte umkehren (V 77–85).177 Dazu passt auch der unüberhörbar spöttische Tonfall des Philippus in V. 91 f., als er das verwahrloste Antlitz des verzweifelten Volteius Mena erblickt. Für eine darin implizit anklingende Kritik an Maecenas als lebenswirklichem Pendant zu Philippus war die Freundschaft zwischen Horaz und Maecenas of‐ fensichtlich stabil genug; von offenen Vorwürfen wird Maecenas alias Philippus ohnehin verschont.178 Vielmehr zeigt die Epistel, dass Horaz es für wichtig hält, dass er die Wahrheit auch seinem großzügigen Patronus Maecenas sagen darf und muss, damit das Verhältnis als Freundschaft bestehen bleibt und keine Phi‐ lippus-Volteius-clientela daraus wird.179 Der Niedergang des Volteius Mena zeigt also lediglich die Gefahren auf, die aus einem patronus-cliens-Verhältnis wie dem von Horaz und Maecenas erwachsen könnten, forciert allerdings keineswegs
175 176 177 178
179
Fraenkel (21967) 396; siehe dazu auch Mayer (1994) 172. Anders dazu Oliensis (1998) 163–165. Vgl. dazu McCarter (2015) 143 f.; Mayer (1994) 170; anders dazu Fraenkel (21967) 397. Vgl. dazu schon Berres (1992) 235; Fraenkel (21967) 398 f. Den Kern der indirekten ‚Kritik‘ an Maecenas fasst etwa Lefèvre (1993) 245 mit dem intertextuellen Verweis auf Hor. epist. 1, 1, 94–103 dagegen mit schärferen Worten zusammen: „Beider [sc. Menas und Horaz’] Patrone sind – das ist der entscheidende Vergleichspunkt – nur offen für die äußere Lage der Geförderten, für ihre seelischen Nöte aber blind“; Oliensis (1998) 157 bezeichnet die Epistel dementsprechend als „an exercise in polite rudeness or amicable hostility“. Vgl. dazu v. a. McCarter (2015) 138.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
eine Eins-zu-Eins-Gleichsetzung der beteiligten Protagonisten: Horaz verhält sich anders als Mena auf dem Land und Maecenas ist auch kein schadenfroher Philippus.180 Bevor abschließend ein Resümee über den facettenreichen Umgang des Horaz mit dem epikureischen λάθε-βιώσας-Konzept gezogen werden soll, sei der Blick zuletzt noch auf die aufschlussreiche Schlusssentenz in epist. 1, 7 gerichtet: Qui semel aspexit quantum dimissa petitis praestent, mature redeat repetatque relicta. metiri se quemque suo modulo ac pede verum est. (Hor. epist. 1, 7, 96–98)
Diese sowohl stoisch als auch epikureisch ‚gefärbte‘ Lebensregel, die für die Beurteilung von Horaz als philosophierendem Dichter ganz entscheidend ist, ist als generalisierte Formel des in V. 44 lautenden parvum parva decent zu verstehen.181 Damit wird demonstriert, dass es für jedermann (auch für die horazische Sprecher-persona selbst) wichtig sei, die Grenzen der eigenen Natur richtig einzuschätzen und dementsprechend zu handeln bzw. zu leben.182
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Vgl. dazu Harrison (2007) 241, der in diesem Zusammenhang von einer „negative parable for the relationship of Horace and Maecenas“ spricht und weiter ausführt: „Thus the theme of town and country is used to illustrate the moral dignity of the potentially money-oriented relationship between Horace and Maecenas, and to illustrate the true meaning of freedom and friendship“; siehe dazu auch Anderson (2010) 46 f., der angesichts der frappierenden Unterschiede zwischen der Beziehung Volteius Mena-Philippus auf der einen Seite und dem Verhältnis Horaz-Maecenas auf der anderen Seite von einer „major false analogy“ spricht; siehe auch Mayer (1994) 170 f.; Kilpatrick (1986) 13; anders dazu Kofler (1997) 344; Kißel (1994) 95–99, der stattdessen die unbestreitbar zahlreich vorhandenen Parallelen zwischen den beiden patronus-cliens-Konstellationen hervorhebt; eng daran anknüpfend Schmidt (1997) 143–145. Vgl. dazu schon Fraenkel (21967) 398. Zur stoischen und zugleich epikureischen Auslegung dieser Schlusssentenz siehe u. a. Mayer (1994) 173; Dilke (1981) 1848 f. verortet dagegen die philosophische Basis für die in epist. 1, 7 präsentierte Einstellung zum rechten Umgang mit Geschenken und Dankbarkeit bei Aristoteles und Panaitios; ähnlich bereits Fraenkel (21967) 389f. Dieser Gedanke findet sich auch bei der schon im Rahmen des ‚Scheidewegsmotivs‘ zitierten Textstelle in Ciceros De officiis, wenn verschiedene Einflussfaktoren einer guten Lebensführung diskutiert und dabei insgesamt drei Gruppen unterschieden werden, von denen die letzte so beschrieben wird: […] nonnulli tamen sive felicitate quadam sive bonitate naturae sine parentium disciplina rectam vitae secuti sunt viam (Cic. off. 1, 118).
5.2 Die Umsetzung des epikureischen Lebensprinzips λάθε βιώσας im Werk des Horaz
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5.2.5 Fazit über die differenzierende Ausdeutung des epikureischen λάθε βιώσας bei Horaz Die Kontrastierung von Stadt und Land stellt zweifelsohne ein zentrales Merkmal horazischer Dichtung dar, wobei die jeweilige Sprecher-persona das Leben auf dem Land in der Regel nicht nur bevorzugt und anderen schmack‐ haft machen möchte, sondern zudem auch mit philosophischen Überlegungen anreichert, die vor allem dem epikureischen Lebensideal entnommen worden zu sein scheinen.183 Dass die polare Darstellung von Stadt- und Landleben natürlich problematisch ist und immer wieder neu reflektiert und erörtert werden muss, zeigen die in diesem Kapitel exemplarisch ausgewählten Texte, die mit Ausnahme von Satire 2, 6 aus dem ersten Epistel-Buch stammen. Die mit dieser Problematik einhergehende und in verschiedenen Kontexten vorgeführte Relativierung der horazischen laus ruris in Verbindung mit einem Lebensideal, das sich vor allem – aber nicht ausschließlich – durch das epiku‐ reisch geprägte Prinzip des λάθε βιώσας charakterisieren lässt, umfasst einige Aspekte, die für die Konstituierung einer eigenen und eben nicht völlig einsei‐ tigen oder gar streng dogmatischen Land-Philosophie des Horaz hervorgehoben werden müssen:184 a. b. c. d.
laetitia und amicitia (Hor. epist. 1, 10); animus statt locus (Hor. epist. 1, 14); Ausübung der (natur-)eigenen ars (Hor. epist. 1, 14); suus modulus ac pes (Hor. epist. 1, 7).
Horaz verknüpft, wie anhand dieser kleinen Auswahl an Satiren und Episteln zu sehen war, das epikureische Prinzip des λάθε βιώσας zwar nahezu immer mit einem Lob des Landlebens im Gegensatz zu den Strapazen des Stadtlebens. Dass er diese Ansicht aber nicht pauschalisieren möchte, wird in diesen und anderen Textpassagen deutlich, in denen er auch alternativen Lebensformen, die sich mehr an den Vorzügen des Stadtlebens orientieren, für die Realisierung individuellen Lebensglücks Legitimität zugesteht. Nur für sich selbst hat die in
183
184
Vgl. dazu Harrison (2007) 246 f., der der horazischen Darstellung des Landlebens hauptsächlich drei Charakteristika bzw. Funktionen zuschreibt: „[…] the Epicurean character of the country; […] the role of the country as the locus of real relaxation; and the role of the country as an inspiration for poetry and of the Sabine estate as a symbol for poetic and material moderation“. Vgl. dazu Armstrong (2016) 293, der Horaz mit Blick auf das Gedankengut im ersten Epistel-Buch als „eclectic“ bezeichnet, zugleich aber betont: „Nothing in the poems contradicts any fundamental doctrine of Epicureanism; many of these are explicitly or implicitly affirmed“.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
diesem Punkt konsequent gestaltete horazische Sprecher-persona ganz offenbar das Leben auf dem Land favorisiert, zumal die Gefahr des Scheiterns bzw. der inneren Unruhe insgesamt betrachtet in der Stadt größer zu sein scheint. Ferner lässt sich konstatieren, dass Horaz in seinen Gedichten der Tendenz, bereits knapp formulierte Philosopheme nochmals zu verkürzen, wie sie in Phi‐ lodems τετραφάρμακος-Fassung erkennbar wird, entgegenzuwirken versucht. Auch wenn Horaz keineswegs als dogmatischer Verteidiger des Epikureismus bezeichnet werden darf, ist es naheliegend, den Grund für dieses Phänomen darin zu sehen, dass die epikureische Lehre, die im Rom des 1. Jahrhunderts v. Chr. ohnehin einen schweren Stand hat, andernfalls Gefahr läuft, in der römischen Öffentlichkeit auf Schlagwörter und Kurzformeln wie das besagte λάθε βιώσας reduziert zu werden. Die Komplexität der einzelnen epikureischen Lehrsätze versucht Horaz dadurch wiederherzustellen und dem römischen Leser verständlich zu machen, dass letztendlich jeder Epikurs allgemeingültige Lebensanleitungen auf die eigenen Lebensumstände anwenden und dazu indi‐ viduell ausdeuten muss. Man könnte also folgendes Vorgehen von Horaz als neue Art konstatieren, epikureische und auch andere Philosophie für jedermann zu vermitteln: nicht in Form von Schlagwörtern, sondern unterhaltsam durch eine Reihe von fabellae, die es letztlich jedem selbst überlassen, eine individuelle Deutung vorzunehmen.185
5.3 Das epikureische Lebensideal in den Silven des Statius Die in epikureischen Kontexten enge Verbindung zwischen ἡδονή bzw. voluptas und ἀταραξία bzw. tranquillitas animi, kommt auch in den Silven des Statius zur Geltung. Während Horaz in den Episteln allerdings die moralphilosophische Bedeutung des epikureischen voluptas-Begriffs hauptsächlich in Auseinander‐ setzung mit der Stoa entwickelt, ist die Ausgangssituation für die Gelegenheits‐ gedichte des Statius, die wohl über einen längeren Zeitraum gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts entstanden sind,186 eine andere: Gerade in seinen Silven gewährt der Dichter nämlich wertvolle Einblicke in das soziale 185
186
Mit Blick auf Epikurs Brief an Pythokles hat Timpe (2000) 45 Epikurs Vermittlungsstra‐ tegie bzw. sein „psychologisch-didaktische[s] Rezept“ folgendermaßen beschrieben: „Epikurs Lösung […] lautet also: Reduktion des Wissens auf Hauptlinien um seiner leichteren Verbreitung willen, Konzentration auf leitende Gesichtspunkte, um Einzelne von da aus beurteilen zu können, und schließlich das Wachhalten der Kernwahrheiten durch Repetieren und Memorieren“. Zur Datierung der Silvae siehe u. a. Newlands (2011) 3, Rühl (2006) 128–141 und Hardie (1983) 58–66, die die Entstehung und Veröffentlichung der gesamten Gedichtsammlung
5.3 Das epikureische Lebensideal in den Silven des Statius
427
Gefüge im kaiserzeitlichen Rom unter Domitian, wobei dem Wohlstand als soziokulturellem Phänomen in zumeist ländlicher Abgeschiedenheit von Rom eine besondere Bedeutung zukommt.187 Dieses Wohlstandsphänomen wird speziell in den beiden Landgut-Beschrei‐ bungen silv. 1, 3 (Manilius Vopiscus) und silv. 2, 2 (Pollius Felix) thematisiert, die Statius mit Referenzen auf epikureische Lehraspekte und Autoren für den Leser erkennbar anfüllt, obwohl sie dem Szenario des häuslichen Luxus auf den ersten Blick entgegenstehen.188 Wie geht Statius nun als Dichter von Enkomien damit um, dass er ein Loblied auf luxuriöse Villen singt, die aber von bekennenden Epikureern eingerichtet wurden? Er kommt durchaus auf das Spannungsverhältnis von Luxus und voluptas zu sprechen und scheint das Problem mit Rückgriff auf die literarische Tradition römischer Epikureer und deren voluptas-Begriff zu lösen. Als anschauliches Beispiel für diese literarische Strategie des Statius sei hierzu zunächst das Gedicht über die Tibur-Villa des Manilius Vopiscus herangezogen.189 5.3.1 Die villa Tiburtina des Manilius Vopiscus in silv. 1, 3 Schon im Proöm zum ersten Silven-Buch werden, wie bei Statius in diesem Werk üblich, die einzelnen Gedichte mit ein paar kurzen Erläuterungen zu den darin genannten Personen vorgestellt. Im Silven-Gedicht 1, 3 steht Manilius Vopiscus mit seiner villa Tiburtina im Mittelpunkt und wird von Statius in besagtem Proöm mit ähnlich anerkennenden Worten eingeführt, wie es bei dem ciceronischen Torquatus ersichtlich wurde:190
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in die Zeit von 89/90 bis 95/96 n. Chr. einordnen, wobei die ersten drei Silven-Bücher wohl kurz nach Erscheinen der Thebais und Buch V erst posthum publiziert wurden. Gerade in der Präsentation dieses Wohlstands liegt aber auch der provokante Aspekt der statianischen Silven, wie etwa Newlands (2002) 125 feststellt: „Running counter to the strong strain in Roman, and specifically Augustan, moral discourse, Statius’ villa poems are provocative in their bold endorsement of luxury“. Zu stoischen und epikureischen Elementen in der Dichtung des Statius siehe insbe‐ sondere Laguna-Mariscal (1996) 247–259; zum Epikureismus bei Statius siehe auch Newlands (2002) 170–173. Ein explizites Lob des Wohlstandes lässt sich u. a. in silv. 1, 2, 121 bei Violentilla, in silv. 2, 1, 162–165 und silv. 2, 3, 70 f. (Atedius Melior), in silv. 2, 2, 151–154 und in silv. 2, 7, 86 (Polla) sowie in silv. 4, 8, 59 (Iulius Menecrates) nachweisen, ist aber auch in indirekter Form mittels der Beschreibung kostspieliger Anwesen oder Bestattungen gegeben. Zur literarischen Tradition der Villen-Ekphrasis in der Antike siehe u. a. Marzano/ Métraux (2018) 27–29; Rothe (2018) 42–44; Zeiner (2005) 77–82. Zur Analyse und Deutung von silv. 1, 3 siehe u. a. Coffee (2015) 120; Rühl (2006) 257–262; Newlands (2002) 119–153; Hardie (1983) 176–179; Vollmer (1971) 262–281. Vgl. dazu v. a. Cic. fin. 1, 13; Näheres dazu siehe Kapitel 3.2.
428
5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
[…] Manilius certe Vopiscus, vir eruditissmus et qui praecipue vindicat a situ litteras iam paene fugientes, solet ultro quoque nomine meo gloriari villam Tiburtinam suam descriptam a nobis uno die. […] (Stat. silv. 1 praef. 23–26)
Da der Nachwelt dieser Vopiscus nur durch Statius näher bekannt ist und seine historische Identität genauso im Unklaren bleibt wie sein konkretes Verhältnis zu Statius,191 kann man mit letzter Sicherheit lediglich konstatieren, dass er hier als wortgewandter Dichter und Dichterpatron adressiert wird sowie als Besitzer einer architektonisch bemerkenswerten Villa, die spektakulär vom Fluss Anio geteilt und durchflossen wird:192 Cernere facundi Tibur glaciale Vopisci siquis et inserto geminos Aniene penates aut potuit sociae commercia noscere ripae certantesque sibi dominum defendere villas, illum nec calido latravit Sirius astro nec gravis aspexit Nemeae frondentis alumnus: (Stat. silv. 1, 3, 1–6)
5
Seinem Bewohner gewährt das wohl als villa rustica konzipierte Landhaus in silv. 1, 3 durch seine Lage in einer kühlen Umgebung Schutz vor der sommerli‐ chen Hitze Latiums.193 Allein mit einer Landvilla als thematischem Gegenstand und ihrer geographischen Verortung knüpft Statius deutlich an die horazische Dichtung an, geht jedoch in der detaillierten Ekphrasis der Villa und der daraus mitunter ableitbaren Charakterisierung des Besitzers noch wesentlich weiter.194 Außerdem findet sich in den 110 Versen dieses Statius-Gedichts nur noch eine einseitige und durchwegs enkomiastische Darstellung des Landszenarios, ohne einen Kontrast zur Stadt herauszustellen, wie es noch Horaz tut. Unmittelbar vor der nicht rekonstruierbaren Lücke im Text nach Vers 9 tritt die personifizierte Voluptas als Subjekt in Erscheinung – und damit eine voluptas, die bereits von Anfang an vorhanden ist und nicht mehr als philosophische Idealeinstellung erreicht werden muss.195 Zudem wird gleich nach der besagten 191 192 193 194
Vgl. dazu u. a. Ducos (2005) 254 f.; Newlands (2002) 127 f.; Vollmer (1971) 265. Eine nützliche Gliederung des Gedichts findet sich schon bei Cancik (1965) 29f. Zur Definition und literarischen Tradition der villa rustica in Abgrenzung zur villa maritima bzw. villa suburbana sowie zur villa urbana siehe Rothe (2018) 42–44; Zeiner (2005) 77–82; siehe ferner Newlands (2002) 119–127. Vgl. v. a. Hor. carm. 4, 2, 27–32; 4, 3, 10–12; ferner die Beschreibungen des Landguts in sat. 2, 6; epist. 1, 10; 1, 14; 1, 16; 1, 17; siehe dazu auch Newlands (2002) 129–131; 139–141; Hardie (1983) 170.
5.3 Das epikureische Lebensideal in den Silven des Statius
429
Textlücke die Göttin Venus als Schutzherrin der Villa erwähnt, die ihr einen blandus honor (V. 11) verleiht. Offenbar sind (zumindest) diese beiden Göttinnen am beeindruckenden Bau und an der dauerhaften Erhaltung des Landhauses beteiligt. Die Voluptas als göttliche Instanz zusammen mit Venus gleich zu Beginn des Gedichts einzuführen ist eine Geste, die als intertextuelle Referenz den Leser auf den Venus-Hymnus des Lukrez verweist.196 Für den Dichter eines Enkomions, wie es zweifellos auch in silv. 1, 3 angelegt ist, besteht bekanntlich die Hauptaufgabe darin, den Gepriesenen anhand bestimmter virtutes, die er ideal erfüllt, zu charakterisieren.197 Statius wählt hier mit voluptas einen Wertbegriff, der gerade nicht zu den üblichen Kardinaltugenden gehört, aber dadurch sofort signalisiert, dass der Gepriesene ein Epikureer ist.198 Der Dichter eines Enkomions muss also nicht den Weg beschreiben, wie Manilius Vopiscus die wahre voluptas durch Lustkalkül errungen hat, sondern kann sich auf das verwirklichte Ideal konzentrieren. Die Auswirkungen dieser göttlichen Schirmherrschaft zeigen sich sofort: Der betrachtende Dichter wird von gaudia (V. 14) erfüllt, die die Betrachtung der miracula in ihm hervorgerufen hat, auch wenn er dabei eine gewisse Anstrengung beim Betrachten in Kauf genommen hat (lassos visus).199 Die poetologische Dimension kommt bei der weiteren Beschreibung des idyllischen locus amoenus deutlich zur Geltung, wenn die voneinander differenzierten Substantive ingenium, ars und natura kurz hintereinander als termini technici genannt werden (V. 15–17). Diese bewusst eingeflochtene Terminologie deutet nicht nur eine Ideallandschaft an, die zu literarischer Produktivität inspiriert, sondern auch das dichterische otium des kurz darauf als placidus Vopiscus (V. 22) bezeichneten Villenbesitzers.200 Vor der aeterna quies (V. 29) des Ortes macht 195 196 197 198 199
200
Zur poetologischen Funktion der Voluptas siehe insbesondere Newlands (2002) 141f. Vgl. Lucr. 1, 1f.: Aeneadum genetrix, hominum divomque voluptas, / alma Venus, […]; siehe dazu auch Newlands (2002) 137. Vgl. dazu auch Newlands (2012) 29. Zum hellenistischen Hintergrund der enkomiasti‐ schen Ekphrasis siehe beispielsweise Hardie (1983) 128–131. Vgl. u. a. auch Coffee (2015) 120; Laguna-Mariscal (1996) 257f. An dieser Stelle scheint vor dem allgemeinen epikureischen Hintergrund eine Art Lustkalkül umgesetzt worden zu sein: Um zu diesen gaudia zu gelangen, muss der Dichter zuvor eine gewisse Anstrengung erbringen, die ihm allerdings eine sichere voluptas in Aussicht stellt. Zur Villa als Ort von otium ab der spätrepublikanischen Zeit siehe u. a. Marzano/ Métraux (2018) 25–27. Diese betonen die verschiedenen Komponenten von otium im römischen Verständnis, insbesondere seinen sozialen Status: „[…] and it was an important social value as a mark of status, wealth, personal disposition, and even the pretense of seeming not to engage in negotium when, in fact, business in some form was
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offenbar auch der tosende Anio Halt und fließt an diesem Orte bedächtig dahin.201 Die bereits in der Wortwahl durchschimmernde epikureische Lebensweise des Vopiscus scheint durch den in der Ekphrasis der Villa (V. 34–89) zur Schau gestellten Wohlstand nur kurz infrage gestellt, denn spätestens ab V. 90 wird die philosophische Fundierung explizit gemacht und die kunstreiche Ausstattung der Villa damit legitimiert:202 scilicet hic illi meditantur pondera mores, hic premitur fecunda quies virtusque serena fronte gravis sanusque nitor luxuque carentes deliciae, quas ipse suis digressus Athenis mallet deserto senior Gargettius horto. haec per et Aegaeas hiemes Hyadumque nivosum sidus et Oleniis dignum petiisse sub astris, si Maleae credenda ratis Siculosque per aestus sit via; cur oculis sordet vicina voluptas? (Stat. silv. 1, 3, 90–98)
90 95
Moralische Gewichtung steht an diesem Ort genauso im Mittelpunkt wie die schon angesprochene fecunda quies (V. 91) und eine virtus serena fronte gravis (V. 91 f.), die an das horazische mediocritas-Gebot und die dort angestrebte Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Heiterkeit erinnert. In diesem Zusammenhang wird nun auch konkret zwischen einem erbaulichen Wohlstand (sanus nitor; deliciae) und dem aus stoischer und epikureischer Sicht zu meidenden luxus unterschieden.203
201
202
203
being done“ (S. 26); siehe dazu auch Newlands (2002) 122–125; Newlands (2002) 144 f. zieht sogar Parallelen zum bukolischen otium in Vergils Eklogen; zum otium-Begriff in der Bukolik siehe auch Rosenmeyer (1969) 65–97; zum antiken otium-Begriff im Allgemeinen siehe ferner vor allem André (1966) passim; zuletzt ausführlich Dosi (2006) passim. Zur epikureischen Tendenz von otium und quies bei Statius siehe etwa Newlands (2012) 16–20; Laguna-Mariscal (1996) 248; 253; zur poetologischen Funktion des Anio in silv. 1, 3 siehe Newlands (2012) 57f.: „Since the Anio becomes calm to encourage the writing of poetry on Vopiscus’ estate […], it is not only a source of poetic inspiration; it also wittily provides a model of ideal, productive literary patronage“. Vgl. dazu Gibson (2015) 129 f.; Rühl (2006) 260; Zeiner (2005) 132; Newlands (2002) 131 f.; 136–138; auch Hardie (1983) 174: „Possession of wealth is variously indicated. Statius refers to it, and praises it, directly, although never in isolation from other, usually moral, endowments“; neben Pollius Felix wird bei Hardie (1983) 174–176 besonders Manilius Vopiscus als Beispiel für eine entsprechende Figurenmodellierung des Statius gennant. Zur Bedeutung von luxus und luxuria bei Statius siehe auch Zeiner (2005) 131–134; Newlands (2002) 124–138; Krüger (1998) 207–211.
5.3 Das epikureische Lebensideal in den Silven des Statius
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Die unüberhörbaren philosophischen Anspielungen gipfeln in der Behaup‐ tung, dass der Kepos-Gründer Epikur die villa Tiburtina des Vopiscus seiner grie‐ chischen Wirkungsstätte vorziehen würde (V. 93 f.). Gemäß dem epikureischen Lustkalkül würde das Erreichen dieses nur scheinbar fernen Ziels aufgrund der dort ausgeprägten voluptas sogar die gefährliche und mit labores verbundene Überfahrt rechtfertigen.204 Gegen mögliche Einwände und Zweifel wird die vicina voluptas, die zum zweiten Mal in diesem Gedicht explizit genannt wird, in einer rhetorischen Frage (V. 98) als erstrebenswertes Gut verteidigt. Auch die Thematisierung des seit Beginn als Leitmotiv fungierenden visu‐ ellen Sinns setzt sich ungebrochen fort und ist in diesem konkreten epikurei‐ schen Kontext im Zeichen der sensualistischen Erkenntnistheorie zu sehen.205 Ohne einen ausdrücklichen Adressaten zu nennen, weist der Dichter mutmaß‐ lich den Villenbesitzer auf die Möglichkeit zur freien dichterischen Entfaltung in diesem Gefilde hin – und zwar unabhängig davon, ob er Lyrik, Epik, Verssatire oder Versepistel im Sinn habe. Neben materiellem Reichtum wünscht er dem hier ansässigen Literaten vor allem geistige Güter und knüpft damit an die entscheidende Dimension der epikureischen voluptas-Idee an. Mit diesem Lebensideal können aus Sicht des Sprechers sowohl docta otia (V. 108 f.) als auch innere Freiheit von allem Übel (V. 109: omni detertus pectora nube) erreicht werden – und somit die ethische Perfektion im epikureischen Sinn gepaart mit qualitativ hochwertiger literarischer Schaffenskraft.206 Auch wenn also in silv. 1, 3 ebenfalls keine direkten Zitate aus Epikurs Lehrsätzen oder dem lukrezischen Lehrgedicht eingesetzt sind, erlauben die motivische Übernahme aus Lukrez zu Beginn des Enkomions, die explizite Nennung Epikurs und die Erhöhung der voluptas, die hier in einem rein philosophischen Kontext betrachtet wird, zu einer Göttin einen hohen Grad an Kommunikativität; zudem unterstützt der Venus-Anruf als Systemreferenz die strukturelle Nähe zum Hymnus, die im Enkomion zu Beginn evoziert werden soll. Mit der Übertragung epikureischen Gedankenguts auf einen römischen Villenbesitzer, der in einer Mischung aus Enkomion und Ekphrasis seines Landhauses für seine – auch architektonisch – zum Ausdruck gebrachte Lebens‐ haltung gewürdigt wird, wird zudem ein hohes Maß an Dialogizität erreicht. Statius sichert also mit der Venus- und Voluptas-Reminiszenz an den lukre‐ zischen Eingangshymnus zum einen die enkomiastische Gestik, ein schon erreichtes Ideal einfach bestaunen und beschreiben zu können, das nicht mehr durch moralphilosophische Diskussionen in Zweifel gezogen oder verteidigt 204 205 206
Vgl. dazu auch Hardie (1983) 178. Vgl. dazu etwa Hardie (1983) 177; ferner Newlands (2002) 129f. Vgl. dazu auch Newlands (2012) 18.
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werden muss. Zum anderen stellt er kommunikative Bezüge zu Horaz her, um die epikureische Lebensweise untrennbar mit der musischen Betätigung zu verbinden: Man denke hier nur an den Dankeshymnus zu Ehren der Melpomene, der Muse der Dichtung, in carm. 4, 3, bei dem der horazische Dichter seine Verbundenheit mit Tibur bezeugt. Diese Dichter-Existenz in Tibur ist ein we‐ sentlicher Bestandteil des Lobgesangs auf Vopiscus mit dem Mittel der Synkrisis: Die gepriesene Person muss dabei Heroen, sogar Götter in einem Merkmal übertreffen; und da Vopiscus schon Epikur selbst mit dem Garten übertrifft, ist es nur folgerichtig, dass er als epikureischer Dichter auch Horaz übertrifft. Sichergestellt wird aber auch die Kompatibilität des Villenbesitzers Vopiscus mit dem an seinem Landhaus sichtbar werdenden Wohlstand, der wohl (als wichtiger Repräsentationsfaktor) der üblichen Selbstdarstellung des Besitzers dient und somit die Villa zu einer Folie macht, die den Charakter des Hausherrn widerspiegelt.207 Die angesprochene Luxus-Problematik muss hier gar nicht mehr gelöst werden, da die Voluptas in ihrer Funktion als Bau- und Schutzgöttin schon von Beginn an präsent ist. Mindestens genauso deutlich wie bei Horaz lässt sie in ihrer Verbindung zu einem Gebäude, das mit ihrer göttlichen Hilfe die wilde Natur der ländlichen Umgebung bändigen kann, die geschmackvolle Abgeschiedenheit von der Stadt als Symbol eines zurückgezogenen Lebensstils und großer literarischer Produktivität wirken. Ein ähnliches Vorgehen des Dichters zeigt sich in der noch ausführlicheren Villen-Ekphrasis in silv. 2, 2, das mit einem noch umfangreicheren Enkomion auf den bzw. die Villenbesitzer kombiniert ist. 5.3.2 Die villa Surrentina des Pollius Felix in silv. 2, 2 Den zurückgezogenen und Glück verheißenden Lebensstil in einer villa ma‐ ritima, welcher im Übrigen von Seneca in epist. 55, 3–5 am Beispiel der kampanischen Villa des Servilius Vatia scharf kritisiert wird,208 macht Statius in Form der villa Surrentina des Pollius Felix in silv. 2, 2 zum Thema.209 Dieses Mal beginnt der poetische Ich-Sprecher nach einer kurzen Ortsbeschreibung der
207 208 209
Vgl. dazu auch André (1996) 922f. Vgl. v. a. Neumeister (2005) 86–92; beispielsweise Gauly (2006) 457 und Zeiner (2005) 81 nennen dagegen Sen. epist. 86 als Beispiel. Zur Analyse und Deutung von silv. 2, 2 siehe u. a. Coffee (2015) 117–120; Newlands (2012) 153–155 bzw. Newlands (2002) 154–198; Gauly (2006) 455–470; Neumeister (2005) 248–267; Zeiner (2005) 178–190; Vollmer (1971) 337–355; Cancik (1968) 62–75; zur Datierung des Gedichts auf das Jahr 90 n. Chr. siehe u. a. Newlands (2011) 121; Neumeister (2005) 248; Cancik (1968) 62.
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celsa Dicarchei speculatrix villa profundi (V. 3) mit einer konkreten Begebenheit aus seinem Leben:210 huc me post patrii laetum quinquennia lustri, cum stadio iam pigra quies canusque sederet pulvis, ad Ambracias conversa gymnade frondes, trans gentile fretum placidi facundia Polli detulit et nitidae iuvenilis gratia Pollae, flectere iam cupidum gressus qua limite noto Appia longarum teritur regina viarum. (Stat. silv. 2, 2, 6–12)
10
Nach Abschluss der im Vierjahresrhythmus stattfindenden Augustalien in Neapel, die der Dichter besucht und am Ende mit einem guten Gefühl (V. 6: laetus) verlassen hat, wird er auf seinem Heimweg aufgehalten, als er sich angelockt von der placidi facundia Polli […] et nitidae iuvenilis gratia Pollae (V. 9f.) zu einer Unterbrechung seiner Reise bereit erklärt, die ihm sogar sehr angenehm ist (V. 13: sed iuvere morae […]). Wie Carole Newlands in ihrem Kommentar von 2011 mit Verweis auf ähnliche Silven-Gedichte anmerkt,211 ist die Bezeichnung des Villenbesitzers mit placidus als ein epikureischer Marker bei der Beschreibung befreundeter Gastgeber zu verstehen.212 Somit wird Pollius, dem Statius überdies das dritte Buch seiner Silven widmet, gleich in seiner ersten Erwähnung anhand seiner beiden Hauptmerkmale charakterisiert:213 sein großes Talent im sprachlichen Ausdruck, das auf die dichterische Tätigkeit bzw. auf seine literarische Produktivität hinweist, und seine innere Ausgeglichenheit im Sinn der epikureischen Ataraxie.214 Eine nahezu identische Charakterisierung ist im Übrigen auch in der Wid‐ mungspraefatio zum dritten Buch der Silven enthalten:215
210 211 212 213
214 215
Eine hilfreiche Gliederung des Gedichts findet sich schon bei Cancik (1965) 27 f. bzw. Cancik (1968) 64 f.; beispielsweise aber auch Gauly (2006) 456f. Vgl. silv. 1, 3, 22; 2, 1, 167; 3, 1, 179. Vgl. Newlands (2011) 105; 124. Wie schon Manilius Vopiscus ist auch Pollius Felix nur als literarische Person fassbar, deren historische Existenz unsicher ist; siehe dazu Benferhat (2012b) 1215; Gauly (2006) 456; Newlands (2002) 154 f.; Castner (21991) 47–49; Hardie (1983) 67 f.; Vollmer (1971) 339 f. Den mehrdeutigen Beinamen Felix, der in silv. 2, 2 mehrfach erwähnt wird (V. 23; 107; 122; 151), interpretiert Gauly (2006) 467–469 überzeugend; siehe dazu auch Zeiner (2005) 184; Nisbet (1978) 1–11. Vgl. u. a. Gauly (2006) 466. Vgl. Newlands (2011) 105; 124. Zur poetologischen Funktion und zur epikureischen Tendenz dieser Widmung siehe Newlands (2002) 195f.
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Tibi certe, Polli dulcissime et hac cui tam fideliter inhaeres quiete dignissime, non habeo diu probandam libellorum istorum temeritatem, cum scias multos ex illis in sinu tuo subito natos et hanc audaciam stili nostri frequenter expaveris, quotiens in illius facundiae tuae penetrale seductus altius litteras intro et in omnis a te studiorum sinus ducor. securus itaque tertius hic Silvarum nostrarum liber ad te mittitur. […] (Stat. silv. 3 praef. 1–7)
Neben seinen beiden Gastgebern ist diese Reaktion in erster Linie auf die lokale Beschaffenheit und das besondere ‚Zusammenspiel‘ zwischen der natürlichen Umgebung und der architektonischen Einbettung der Villa zurückzuführen:216 sed iuvere morae. placido lunata recessu hinc atque hinc curvas perrumpunt aequora rupes. dat natura locum montique intervenit unum litus et in terras scopulis pendentibus exit. gratia prima loci, gemina testudine fumant balnea et e terris occurrit dulcis amaro nympha mari. levis hic Phorci chorus udaque crines Cymodoce viridisque cupit Galatea lavari. ante domum tumidae moderator caerulus undae excubat, innocui custos laris; huius amico spumant templa salo. felicia rura tuetur Alcides; gaudet gemino sub numine portus: hic servat terras, hic saevis fluctibus obstat. mira quies pelagi: ponunt hic lassa furorem aequora et insani spirant clementius austri; hic praeceps minus audet hiems, nulloque tumultu stagna modesta iacent dominique imitantia mores. inde per obliquas erepit porticus arces, urbis opus, longoque domat saxa aspera dorso. qua prius obscuro permixti pulvere soles et feritas inamoena viae, nunc ire voluptas; qualis, si subeas Ephyres Baccheidos altum culmen, ab Inoo fert semita tecta Lyaeo. (Stat. silv. 2, 2, 13–35)
15 20 25 30 35
Das in dieser Passage entworfene Bild einer kampanischen Landschaft stellt einen scharfen Kontrast zu der gut besuchten und viel bereisten Via Appia 216
Zur archäologischen Topographie und einer modellhaften Rekonstruktion der Villa siehe u. a. Gauly (2006) 457; 459; Neumeister (2005) 248–259; Bergmann (1991) 49–70; Taisne (1978) 45–48; Vollmer (1971) 338 f.; Cancik (1968) 62f.
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dar, die der Ich-Sprecher eigentlich als Rückweg genommen hätte.217 Außerdem lässt sich aus diesen Versen eine Reminiszenz an die in der Aeneis beschriebene karthagische Bucht mit Nymphen ableiten.218 In der statianischen Beschreibung eines locus amoenus fällt dem Leser zu‐ nächst die Personifizierung der Natur zu einer autonomen Macht ins Auge – eine Vorstellung, wie sie auch bei Lukrez wiederzufinden ist.219 Die friedliche, sor‐ genfreie und frohe Stimmung in dieser Küstenlandschaft, in der sich zahlreiche Nymphen aufhalten und die unter dem Schutz des Neptun und des Herkules steht, ist durch Wendungen wie placido recessu (V. 13), innocui laris (V. 22), amico salo (V. 22 f.), felicia rura (V. 23) und gaudet portus (V. 24) geprägt. Es handelt sich dabei um zutiefst epikureisch ‚gefärbtes‘ Vokabular, das in seiner lateinischen Version insbesondere aus den Anfangsversen von De rerum natura II bestens bekannt ist und in der mira quies pelagi mit all seinen Facetten (V. 26–29) seinen Höhepunkt findet.220 Die Verbindung dieser Landschaftsbeschreibung mit dem Besitzer der villa Sorrentina wird schließlich in V. 29 explizit hergestellt (stagna modesta iacent dominique imitantia mores) und in V. 44f. wiederholt ([…] locine / ingenium an domini mirer prius? […]). Erneut werden die Ekphrasis eines Ortes bzw. eines Gebäudes und das Enkomion auf den vorbildlichen Lebensstil eines Mannes wirkungsvoll zusammengeführt.221 Der Schlüsselbegriff epikureischer Ethik schlechthin fällt genau dann, als der Aufstieg vom Meeresufer zur Villa im Wandel der Zeit geschildert wird: et feritas inamoena viae, nunc ire voluptas (V. 33).222 Als zentrale Beobachtungen für diesen ersten Teil des Gedichts können also die Personifizierung bzw. Vermenschlichung der Natur und – analog zu silv. 1, 3 – ihre Verschmelzung mit der Lebenseinstellung des Pollius Felix
217 218 219
220 221 222
Vgl. Newlands (2011) 125. Vgl. Verg. Aen. 1, 159–168; siehe dazu etwa Neumeister (2005) 249 und noch ausführ‐ licher Newlands (2002) 165 f.; zu Anspielungen auf die Landschaftsbeschreibung bei Horaz – insbesondere in carm. 2, 6 – siehe außerdem Newlands (2002) 160–163. Vgl. Lucr. 3, 931–977; zum Landgut des Pollius Felix als locus amoenus in silv. 2, 2 siehe auch Newlands (2002) 156–159, die zu Recht die ‚Bändigung‘ der wilden Natur durch das Anwesen als besonderes Merkmal dieses Gedichts (und ebenso von silv. 3, 1) im Unterschied zur Natur-Darstellung in silv. 1, 3 hervorhebt; siehe noch ausführlicher dazu Newlands (2002) 164–174; ferner Gauly (2006) 459–461; Neumeister (2005) 258 f.; Taisne (1994) 346 f.; 357; siehe auch bereits Cancik (1968) 68–70. Zur epikureischen Tendenz des quies-Begriffs in diesem Kontext siehe auch Zeiner (2005) 189. Vgl. dazu etwa Zeiner (2005) 178 f., die die Villa des Pollius zwar auch als Repräsentation von dessen wirtschaftlichen Wohlstand sieht, in erster Linie aber als Symbol seiner philosophischen und intellektuellen Haltung. Vgl. dazu Newlands (2011) 130.
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festgehalten werden, wobei die Art ihrer Darbietung unmissverständlich von den Maximen epikureischer Lebensweise durchdrungen ist. Bei der ekphrastischen Besichtigung der gesamten Villenanlage, die in meh‐ reren Abschnitten erfolgt (Lage und Landschaft: V. 44–62; Kunstschätze: V. 63–72; Zimmer und Ausblick: V. 73–97; Gärten und Weinberge: V. 98–106), wird deutlich, dass auch das Gebäudeinnere, im Wortlaut sogar jedes einzelne Zimmer den epikureischen Idealzustand aufweist, der in der Meeresmetapher und im voluptas-Begriff zum Ausdruck kommt: […] sua cuique voluptas / atque omni proprium thalamo mare, […] (V. 73f.).223 Doch auch ohne einen genaueren Blick in die Ekphrasis dieses luxuriösen und idyllisch gelegenen Landhauses zu werfen, muss der dort deutlich werdende Luxus als scheinbar unvereinbar mit der Lehre Epikurs problematisiert werden.224 Die Kompatibilität des Villenbesitzers mit dem an seinem Landhaus sichtbar werdenden Wohlstand, der gewiss auch (als wichtiger Repräsentationsfaktor) der üblichen Selbstdarstellung des Besitzers dient, wird dennoch auf ähnliche Weise wie im Falle des Vopiscus in silv. 1, 3 sichergestellt: Die angesprochene Luxus-Problematik muss hier nämlich ebenfalls gar nicht mehr gelöst werden, da die voluptas und die mira quies schon von Beginn an als durchwaltende Lebensprinzipien präsent sind. Außerdem weiß Pollius Felix, wie in dem Lobpreis auf ihn ab V. 121 deutlich wird, diesen Reichtum weitaus besser zu gebrauchen als verschwendungssüchtige Könige, weshalb ihn der Wohlstand in seiner ausgeglichenen Lebensweise nicht beeinträchtigt. Im Übrigen ist seit dem für den römischen Epikureismus maßgeblichen Werk des Philodem von Gadara die rigorose Verschlossenheit des Kepos gegenüber jeglichem Wohlstand wesentlich abgeschwächt, wenn nicht sogar durchbrochen worden.225 Erst im letzten Drittel des Gedichts kommt das poetische Ich genauer auf Pollius selbst zu sprechen, der in V. 71f. bereits als expers curarum atque animum virtute quieta / compositus semperque tuus charakterisiert worden ist:226
223 224
225 226
Vgl. dazu Zeiner (2005) 183 f.; Newlands (2002) 173; André (1996) 914–916. Für Neumeister (2005) 266 scheint dieses Paradoxon sogar bis zum Schluss nicht gelöst worden zu sein, denn er vertritt die Auffassung, „dass Statius’ Gedicht doch nicht mehr ist als eine poetische Verklärung einer damals modischen Selbststilisierung reicher Villenbesitzer“. Gauly (2006) 466 f. betont den präsentierten Wohlstand als notwendige Voraussetzung dafür, sich ein derartiges Anwesen in ländlicher Zurückgezogenheit leisten zu können. Vgl. Asmis (2004) 133–176; Balch (2004) 177–196. Diese Formulierung ist sicherlich als lateinische Umschreibung der epikureischen Ataraxie zu verstehen; vgl. dazu Newlands (2011) 139.
5.3 Das epikureische Lebensideal in den Silven des Statius
sis felix, tellus, dominis ambobus in annos Mygdonii Pyliique senis nec nobile mutes servitium, nec te cultu Tirynthia vincat aula Dicarcheique sinus, nec saepius istis blanda Therapnaei placent vineta Galaesi. hic ubi Pierias exercet Pollius artes (seu volvit monitus quos dat Gargettius auctor, seu nostram quatit ille chelyn, seu dissona nectit carmina, sive minax ultorem stringit iambon), […]. (Stat. silv. 2, 2, 107–115)
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110 115
Neben seinen philosophischen Studien, die der epikureischen Schule nun auch eindeutig und explizit zugeordnet werden, geht Pollius auch einer vielseitigen literarischen Tätigkeit nach, die sich von der Epik bzw. Lyrik über die Elegie bis zur Satire erstreckt (V. 113–115).227 Diese Verschmelzung einer in beiden Fällen erfolgreichen philosophischen Beschäftigung mit einer poetischen Pro‐ duktivität wird durch die Reaktion der göttlichen und natürlichen Umgebung veranschaulicht: Während die Meeresgötter herbeieilen, um die meliora carmina des Pollius zu hören, verstummt die maritime Natur abermals und symbolisiert so auch das Ideal der mira quies als Ausdruck philosophischer ἀταραξία.228 Wie schon in silv. 1, 3 scheint die ja bereits zuvor in Wortwahl und Metaphorik durchschimmernde epikureische Lebensweise des Pollius Felix durch den in der der Villa zur Schau gestellten Wohlstand also nur kurz infrage gestellt worden zu sein, denn spätestens an dieser Stelle wird die philosophische Fundierung explizit gemacht und die kunstreiche Ausstattung der Villa damit legitimiert.229 In der Folge versucht Statius, indem er beim Leser passende Verse des Horaz in Erinnerung ruft, Pollius Felix als philosophieaffinen Charakter zu präsentieren,
227 228 229
Vgl. dazu auch Stat. silv. 3, 1, 66f. Siehe Anm. 220 in diesem Kapitel. Vgl. dazu auch Zeiner (2005) 188: „Statius successfully proves that material wealth is not Pollius’ primary concern. He possesses it, but it is not a requirement for his self-fulfillment and happiness, which derive instead from an Epicurean way of life. In this way, Statius provides the ‚correct‘ reading of Pollius’ villa“; Cancik (1968) 74 f. versucht hingegen die Kompatibilität der Villenausstattung mit der epikureischen Haltung des Pollius in erster Linie dadurch herzustellen, dass er den materiellen Wert des Anwesens und der Einrichtung stark relativiert.
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der in seiner Entwicklung inzwischen die epikureische sapientia erreicht hat und dauerhaft verkörpert:230 vive, Midae gazis et Lydo ditior auro, Troica et Euphratae supra diademata felix, quem non ambigui fasces, non mobile vulgus, non leges, non castra terent, qui pectore magno spemque metumque domas voto sublimior omni, exemptus fatis indignantemque refellens Fortunam, dubio quem non in turbine rerum deprendet suprema dies, sed abire paratum ac plenum vita. (Stat. silv. 2, 2, 121–129a)
125
Auch in seiner furchtlosen Haltung gegenüber fata und fortuna sowie der su‐ prema dies wird er den ethischen Ansprüchen Epikurs völlig gerecht. Die lukre‐ zische Figur eines auf die Irrwege und Ausschweifungen der anderen Menschen herabblickenden Mannes in V. 131f. ([…] celsa tu mentis ab arce / despicis errantes humanaque gaudia rides.)231 vervollständigt das Bild des sapiens Epicureus, der dem großen Lehrmeister und Schulgründer in der Erkenntnis der wahren Dinge regelrecht gleichkommt. Die darin zur Geltung kommende philosophische Überlegenheit spiegelt sich nicht zufällig im Standort der villa Surrentina wider, die ja hoch über der Meeresbucht gelegen ist.232 In Abgrenzung zur vilis turba, aber auch im Gegensatz zu seiner jugendlichen ‚Sturm-und-Drang-Phase‘, die von error und superbia bestimmt war, hat das Schiff des Pollius Felix, um ebenso wie Statius in der lukrezischen Metaphorik zu bleiben, einen sicheren Hafen und damit einen ruhigen Zufluchtsort erreicht.233 Die zahlreichen und sehr deutlichen Verweise auf Lukrez, aber auch auf Epikur selbst und die zentralen Inhalte aus seinen Lehrsätzen werden mindes‐
230
231 232 233
Vgl. u. a. Hor. carm. 3, 29, 41–43; sat. 2, 7, 83–88; siehe dazu Neumeister (2005) 263; Newlands (2002) 170; Vollmer (1971) 351 f.; ferner auch Gauly (2006) 466 f.; Taisne (1994) 327. Daneben wird in V. 121–142 auch der lukrezische (v. a. Lucr. 2, 1–39) und der vergilische Einfluss (Verg. georg. 2, 495–540) erneut deutlich; vgl. Newlands (2011) 150. Vgl. Lucr. 2, 9 f.; siehe dazu auch Neumeister (2005) 263 f.; Zeiner (2005) 181; Newlands (2002) 170 f.; Cancik (1968) 73. Vgl. dazu Cancik (1968) 71f. Vgl. Stat. silv. 2, 2, 141f.: sed tua securos portus placidamque quietem / intravit non quassa ratis. […]; siehe dazu auch Neumeister (2005) 264 f., der mit Verweis auf Epik. fr. 544 Usener und auf Verg. catal. 5, 8 gerade den ‚philosophischen Hafen‘ als „genuin epikureische Metapher“ hervorhebt; ähnlich dazu Zeiner (2005) 181; siehe dazu auch Newlands (2002) 171f.
5.3 Das epikureische Lebensideal in den Silven des Statius
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tens genauso sichtbar wie in silv. 1, 3. Die bewusste Modellierung des Pollius Felix als römischer Vorzeigeepikureer steht daher außer Frage. Wie zu Beginn und zuletzt in V. 107 angeklungen (dominis ambobus), wird in den Schlussversen, die aufgrund verderbter Passagen hinsichtlich ihrer Abfolge in der philologischen Textkritik nicht unumstritten sind,234 auch Polla, die Gattin des Pollius, als Vorbild an epikureischem Lebensideal in das Enkomion des poetischen Ich-Sprechers einbezogen:235 tuque, nurus inter longae * * * * * * * praecordia curae, non frontem vertere minae, sed candida semper gaudia et in vultu curarum ignara voluptas; non tibi sepositas infelix strangulat arca divitias avidique animum dispendia torquent fenoris: expositi census et docta fruendi temperies. non ulla deo meliore cohaerent pectora, non alias docuit Concordia mentes * * * * * discite securi, quorum de pectore mixtae in longum coiere faces sanctusque pudicae servat amicitiae leges amor. ite per annos saeculaque et priscae titulos praecedite famae. (Stat. silv. 2, 2, 143–155)
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Sie zeichnet sich insbesondere durch candida semper gaudia et in vultu curarum ignara voluptas (V. 149 f.) aus und genügt damit den epikureischen Maßstäben voll und ganz. Auch der Aspekt des Wohlstands wird bei ihrer rundum positiven Beurteilung angesprochen, wobei ihr ein höchst maßvoller Umgang mit ihren wohl geordneten Vermögensverhältnissen bescheinigt wird (V. 153 f.). In der idealen Umsetzung epikureischer Lehrsätze, zu deren Aneignung bekanntlich ab dem Zeitpunkt der Schulgründung durch Epikur auch Frauen zugelassen waren, übernimmt Polla komplementär den weiblichen Part in der Inszenierung des epikureischen Lebensideals.236 Die Darstellung epikureischer Lebenspraxis an einer Frau ist eine literarische Rarität, die Statius als besonderes Verdienst anzurechnen ist.
234 235 236
Zur lückenhaften Überlieferung der Schlussverse siehe u. a. Newlands (2011) 155; Liberman (2010) 198 f.; Vollmer (1971) 354. Vgl. dazu Stat. silv. 2, 2, 10; zu Pollas Bedeutung für dieses Gedicht siehe Newlands (2002) 186–191. Vgl. dazu Zeiner (2005) 185; Newlands (2002) 188.
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Mit Pollius Felix und seiner Gattin als Besitzern einer villa maritima in der Nähe des heutigen Sorrent hat man durch den enkomiastischen und zugleich ekphrastischen Bericht eines Besuchers ein Ehepaar kennengelernt, das völlig im Einklang mit dem Umland seines Anwesens lebt und dem dabei eine per‐ fekte Praktizierung epikureischer Lebensprinzipien gelingt.237 Darüber hinaus greift Statius in dem für ihn typischen Villengedicht die in ethischer Hinsicht vermeintliche Problematik eines offen zur Schau gestellten Wohlstandes auf, welcher bei näherem Hinsehen überhaupt keine Problematik mit sich bringt. Die ausführliche Beschreibung des Landhauses, die hier zum Zwecke der Übersichtlichkeit sehr knapp behandelt wurde, kann zum einen gerade als Evidenz für einen epikureisch vertretbaren und damit einen angemessenen und maßvollen Umgang mit dem eigenen Reichtum gesehen werden; zum anderen aber dient sie auch in einer sozialhistorischen Dimension der Selbstdarstellung in einer Zeit von gesellschaftlichem Wohlstand und politischer Ohnmacht des Einzelnen. Vor diesem Hintergrund ist das Motiv des Rückzugs aus der politischen Öffentlichkeit als sozialhistorisches Phänomen aufzufassen, das mit epikureischen Grundsätzen zweifellos harmoniert und diese sogar als ethisches Fundament inkludiert. 5.3.3 Fazit über die Rezeption des epikureischen Lebensideals in den Silven des Statius Die Analyse der beiden prominentesten Villen-Gedichte hat gezeigt, dass Statius die Ekphrasis eines hinsichtlich seiner Lage und seiner Ausstattung beeindru‐ ckenden Gebäudes mit dem Lobpreis auf den Villenbesitzer so verbindet, dass der Leser die philosophisch und kulturell fundierte Lebenshaltung der Besitzer darin wiedererkennt. Der flavische Dichter führt mit dieser innovativen Text‐ gattung inhaltlich die beiden wesentlichen Aspekte des Gedichts zusammen: auf der einen Seite (Ekphrasis) das römische Landhaus als soziokulturelles Phänomen in der frühen Kaiserzeit, das zum einen den Besitzern als Rückzugsort im Sinn des vielschichtigen otium dient und zum anderen Ausdruck ihres Wohl‐ standes und ihres Präsentationsstrebens ist; auf der anderen Seite (Enkomion)
237
Vgl. dazu Newlands (2002) 187: „[…] Statius describes the union of Pollius and Polla in terms of the social ethic of amicitia, of reciprocity and exchange here represented in its most enduring and affectionate form in a non-Catullan, chaste marriage. Despite the hierarchial topography of the villa and the language of dominations that informs it, harmony is the principle on which all types of relations are here ultimately founded“; siehe dazu auch Coffee (2015) 117–120 und bereits Cancik (1968) 74.
5.3 Das epikureische Lebensideal in den Silven des Statius
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die innere Haltung des Villenbesitzers, die sich durch eine epikureische Grund‐ ausrichtung sowie durch eine vielfältige literarische Produktivität auszeichnet. Zentrale Aspekte der Wechselwirkung zwischen der Villa und ihrer natürli‐ chen Umgebung sowie zwischen dem Anwesen bzw. der Landschaft und dem Gutsherrn sind neben otium und quies auch Begriffe wie voluptas, gaudia, securitas, amicitia, felicitas und gratia, die allesamt Ausdruck des facettenreichen epikureischen Lebensideal sind. Das dahinterstehende Lebenskonzept des λάθε βιώσας ebnet auch bei Statius aufgrund all der Vorzüge, die es mit sich bringt und die sich anhand der Villen- und Naturbeschreibung als Folie für den Charakter des Besitzers bezeichnen lassen, den Weg zur dauerhaften ἀταραξία. Trotz der weitreichenden Übereinstimmungen zwischen silv. 1, 3 und silv. 2, 2 sind abgesehen von den variierenden Villenarten und -standorten gewisse Un‐ terschiede erkennbar, die zum einen mit einer Fokusverschiebung einhergehen, zum anderen mit der jeweiligen Darstellung der voluptas zu tun haben: Während die natürliche Umgebung in silv. 1, 3 weit mehr im Einklang mit der Villenanlage zu stehen scheint, wird in silv. 2, 2 die villa maritima bzw. die Bautätigkeit des Pollius Felix meist als Symbol für die Bezwingung der Natur und als Zeichen zivilisatorischer Kraft und imperialer Macht gedeutet.238 Die Einbettung der villa rustica des Manilius Vopiscus in die Landschaft um Tibur erscheint dagegen vielmehr unter dem Schutz göttlicher ‚Schirmherrschaft‘. Als göttliche Schutz‐ mächte treten in silv. 1, 3 Venus und die personifizierte bzw. divinisierte Voluptas auf, die das gesamte Gedicht als Leitprinzipien durchziehen. Ungeachtet dieser fehlenden Allegorie als Göttin ist die voluptas auch in silv. 2, 2 als Lebenskonzept omnipräsent: beim Aufstieg des Besuchers zur Villa des Pollius Felix (V. 33), beim Genuss der Villenbesichtigung und des Ausblicks auf das Meer (V. 73) sowie als anmutiger Wesenszug der Besitzergattin Polla (V. 150). Der voluptas bzw. Begriffen wie gaudium und amicitia, die in diesem Kontext eng verwandt mit ihr sind, kommt ein breites Funktionsspektrum zu:239 Die of‐ fensichtlichste Bedeutung als erstrebter Effekt des epikureischen Lebensweges wird um eine architektonische und landschaftsästhetische Dimension erweitert, denn schon der Anblick des Anwesens bzw. die Anreise des Besuchers zur jeweiligen Villa erfüllen ihn mit voluptas oder gaudia. Durch die gemeinsame Besichtigung der Villa und den damit verbundenen Empfang eines Freundes manifestiert sich auch eine soziale Dimension der voluptas, die bei silv. 2, 2 durch die im Schlussteil eingefügte Huldigung der Besitzergattin bzw. der vorbildlichen und inspirierenden Lebensführung des Ehepaares Pollius und
238 239
Vgl. dazu auch Stat. silv. 3, 1, 166–168. Vgl. dazu v. a. Coffee (2015) 120.
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
Polla noch wesentlich stärker zur Geltung kommt. Schließlich ermöglicht das angenehme Leben in ländlicher Abgeschiedenheit dem Villenbesitzer ein vielfältiges otium, das dieser für erbauliche Studien und für die Produktion literarischer Werke nutzen kann, die ihrerseits für die befreundeten Leser einen poetischen Genuss bedeuten. Natürlich ließen sich noch einige weitere Statius-Gedichte in die Untersu‐ chung einbeziehen, die Ähnlichkeiten in Thematik und Form aufweisen:240 Zu denken ist insbesondere an das (bereits mehrfach erwähnte) zweite Pollius-Ge‐ dicht in den Silven, das zu Beginn von Buch III steht und das noch weitere Vorzüge des Villenbesitzers offenbart wie seine pietas gegenüber dem Hercules Surrentinus.241 In der lyrischen Ode an Septimius Severus (silv. 4, 5), die der horazischen Oden-Dichtung nachempfunden ist,242 werden ebenfalls Themen wie das Glück eines schlichten Lebensstils auf dem Landgut, die Ästhetik der aufblühenden Natur und eine allgemeine quies poetisch ausgestaltet, in diesem Fall allerdings zunächst mit einem Fokus auf die persona des Ich-Sprechers selbst, der im zweiten Teil dann dem Freund im Rahmen eines Enkomions gilt.243 Reich ausgestattete Gebäude werden außerdem in silv. 1, 2 (Hochzeitsgedicht für Stella und Violentilla), silv. 1, 5 (Bad des Claudius Etruscus) und silv. 2, 1 (Atedius Melior) anschaulich beschrieben, wohingegen der bescheidene Lebensstil eines Mannes beispielsweise in silv. 3, 3, 105–110 (consolatio an Claudius Etruscus), silv. 4, 6, 1–7 (Hercules-Tischstatuette des Novius Vindex) und silv. 5, 1, 121–126 (Totenklage auf Priscilla) in den Fokus gerückt wird.244 Da jedoch wohl nirgends so kunstvoll wie in den beiden Villengedichten silv. 1, 3 und silv. 2, 2 die Ästhetik von Architektur und Natur zum epikureischen Lebensgefühl des Villenbesitzers in Beziehung gesetzt wird, soll diese kleine Auswahl an Statius-Gedichten als Nachweis für seine innovative und zudem explizit gemachte Rezeption des epikureischen Lebensideals genügen.
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242 243
244
Vgl. dazu auch André (1996) 909–928. Vgl. dazu u. a. Leite, „Arquitetura de uma poética nova. Estácio, Silvae, 3.1“, Phaos 12 (2012) 29–44; Fabbrini, „Callimaco, SH 260A, 8 e le sorti di Molorco in Marziale, IV 64 e Stazio, silvae III 1. Il tema dell'ospitalità umile nella poesia celebrativa e d'occasione di età flavia“, SIFC 3.2 (2005) 195–222; Newlands, „Silvae 3.1 and Statius’ poetic temple“, CQ 61 (1991) 438–452; Hardie (1983) 125–128; ferner zum Teil auch bei Newlands (2002) 154–198. Vgl. dazu v. a. Hor. carm. 1, 4; 4, 7. Vgl. dazu u. a. Nagel, „Statius’ Horatian lyrics, Silvae 4.5 and 4.7“, CW 102.2 (2008–2009) 143–157; Zeiner (2005) 189 f.; Coleman, „An African in Rome. Statius, Silvae 4.5“, Proceedings of the African Classical Association 17 (1983) 85–99; Hardie (1983) 179–182; Vessey, „Non solitis fidibus. Some aspects of Statius, Silvae, IV,5“, AC 39 (1970) 507–518. Vgl. dazu etwa Hardie (1983) 174–176.
5.4 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit λάθε βιώσας und ἀταραξία
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5.4 Gesamtfazit über den autorenspezifischen Umgang mit den epikureischen Lebensprinzipien λάθε βιώσας und ἀταραξία im Kontext römischer Figurenmodellierung Insgesamt haben wir an ausgewählten Textbeispielen gesehen, dass die augus‐ teische und in ihrer Nachfolge auch die flavische Dichtung mit dem epikurei‐ schen λάθε βιώσας völlig anders verfährt als ausgewiesen epikurkritische Autoren wie Cicero und Plutarch, ohne sich zum Kepos ausdrücklich zu bekennen. Vergil nützt die Bukolik (wie auch das georgische Lehrgedicht), um epikure‐ isch ‚gefärbte‘ Lebensprinzipien anhand seiner Handlungs- bzw. Sprechfiguren zu illustrieren und damit auch traditionsreiche Gattungen durch die Anreiche‐ rung mit philosophischen Inhalten für die römische Welt zu aktualisieren. Dabei integriert er ähnlich wie Horaz zeitgeschichtliche Probleme der Republik‐ krise und der Bürgerkriege in seine Dichtung und stellt somit konfliktreiche Szenarien dar. Anders als Horaz lässt er dabei allerdings die Dichter-persona in den Hintergrund treten und überlässt seinen literarischen Figuren durch ihre Charakterisierung und besonders durch ihre Äußerungen die Rezeption epikureischen Gedankenguts in Verbindung mit bukolischer (bzw. georgischer) Gattungstradition. Diese Verschränkung des epikureischen Ideals eines Lebens in ländlicher Abgeschiedenheit mit der Lebenswelt von Bukolik und Georgik führt bei Vergil in der Regel zum Entwurf idealtypischer Figuren wie dem vergöttlichten Daphnis in der fünften Ekloge, dem fortunatus agricola am Ende des zweiten Georgica-Buches oder dem Corycius senex im vierten Georgica-Buch. Gerade die ausgewählten Texte aus den Episteln des Horaz haben deutlich gemacht, dass das epikureische Prinzip des λάθε βιώσας in unterschiedlichem Maß explizit gemacht wird und nahezu immer mit einem Lob des Landlebens im Gegensatz zu den Strapazen des Stadtlebens einhergeht. Da die Überlegungen und vor allem die Sentenzen des jeweiligen Ich-Sprechers in den Episteln auch ein gewisses Maß an Offenheit für andere Lebensmodelle zeigen, die von den literarischen Adressaten seiner Versbriefe oder von anderen personae vertreten werden, kann man bei Horaz nicht von einem einseitigen Plädoyer für das Landleben sprechen. Die daraus resultierende Relativierung des Landlobes manifestiert sich besonders anschaulich in der Erzählung um Volteius Mena und Philippus, die als Gleichnis einer patronus-cliens-Beziehung, wie sie auch zwischen Horaz und Maecenas besteht, einen zentralen Bestandteil von epist. 1, 7 bildet: Darin wird das horaztypische Landlob verzerrt und umgekehrt, indem der zuvor glücklich in der Stadt lebende Volteius Mena, der mitunter epikureische Wesenszüge aufweist, durch seinen Umzug auf das von Philippus
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5 Das epikureische Ideal von λάθε βιώσας und ἀταραξία
gestiftete Landgut ins Unglück gestürzt wird, da er für das harte Landleben nicht geeignet ist und zudem von harten Schicksalsschlägen getroffen wird. Insgesamt zeichnet sich bei Horaz die Tendenz ab, epikureisch beeinflusste und auch sonstige Lebensweisheiten moralphilosophischer Art durch fabellae zum Ausdruck zu bringen, die der Adressat bzw. der Leser jeweils selbst zu deuten und auf seine eigene Lebenssituation anzuwenden hat. Mehr als ein Jahrhundert später greift Statius die poetische Darstellung des epikureischen Lebensideals im Kontext römischer Figurenmodellierung explizit wieder auf, indem er die Beschreibung einer Villa und ihrer natürlichen Umgebung mit der Charakterisierung des Besitzers zusammenführt (ekphras‐ tisches Enkomion). Auf diese Weise thematisiert Statius nicht nur den Besitz luxuriöser Villen als soziokulturelles Phänomen im flavischen Rom, sondern veranschaulicht die zu dieser Zeit offenbar salonfähige ‚Praktizierung‘ epiku‐ reischer Ethik anhand herausragender Persönlichkeiten und ihrem Anwesen in exponierter Lage. Die dafür exemplarisch ausgewählten Textbeispiele des Sta‐ tius verdeutlichen, dass wesentliche Aspekte des epikureischen Lebensmodells auch am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. noch nichts von ihrer Aktualität und Wirkmächtigkeit in der römischen Dichtung verloren haben.
6 Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata Stellvertretend für die antike Modellierung philosophischer Handlungsfiguren nach dem 1. Jahrhundert n. Chr. werden in einem exemplarischen Ausblick noch drei ausgewählte Werke Lukians in den Blick genommen. Damit wird in Entsprechung zu den frühesten Rezeptionsdokumenten epikureischer personae in der Neuen Komödie auch am Ende ein griechischsprachiger Autor für den literarischen Umgang mit Vertretern von epikureischem Gedankengut herangezogen. Ferner dient dieses Kapitel als eine Art ‚Klammer‘, die zu den Figurenmodellierungen bzw. -konstellationen in Ciceros philosophischen Dialogen zurückführen: die Kontrastierung von Kepos und Stoa durch die Konfrontation individueller Schulvertreter.
6.1 Allgemeine Darstellung und Beurteilung der Philosophen im Werk Lukians Im 2. Jahrhundert n. Chr. erfahren mit der Akademie und der Stoa vor allem zwei der hellenistischen Philosophenschulen eine regelrechte ‚Renaissance‘, die Literaten (z. B. Plutarch) wie Staatsmänner (z. B. Marc Aurel) gleichermaßen einbezieht. Daneben lässt sich auch für den Epikureismus ein deutlicher Auf‐ schwung feststellen, der nicht zuletzt auch auf politische Führungspersönlich‐ keiten wie die Trajan-Gattin Plotina und Marc Aurel zurückgeht.1 Diese Aufwertung der Schulen, die über die Jahrhunderte tiefgreifende Veränderungen durchlebt haben, schlägt sich literarisch vor allem in ihrer um‐ fangreichen Rezeption bei dem griechischen Schriftsteller Lukian aus Samosata nieder. Anders als es der zeitgeschichtliche Kontext erwarten lässt, pervertiert er jedoch die hellenistischen Philosophenschulen drastisch und lässt philosophi‐ sche Debatten grotesk erscheinen. In seinem monumentalen Werk stößt man dabei auf ein sehr vielfältiges philosophisches Personal, das in Schriften wie in der Vitarum auctio, im Symposium oder im Hermotimus mit stereotypen Eigenheiten versehen, überspitzt in Szene gesetzt und satirisch karikiert wird.2 Zu den stereotypen Merkmalen des Philosophen bei Lukian gehören neben
1
Vgl. u. a. Schmid (1962) 769 f.; dazu auch Caster (1937) 85.
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6 Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata
dem traditionellen Philosophenbart vor allem seine Geschwätzigkeit und seine teilweise bis zur Gewaltbereitschaft übersteigerte Streitsucht.3 Trotz der generell karikierten Darstellung von Philosophen sind durchaus markante und überraschende Unterschiede bei der Charakterisierung der je‐ weiligen Schulvertreter sichtbar. Dabei rückt insbesondere der alte Konflikt zwischen Stoa und Kepos in den Mittelpunkt, wobei gerade den ansonsten so oft kritisierten Epikureern bei Lukian offenbar eine deutliche ‚Aufwertung‘ zuteilwird:4 Zum einen geht dies aus entsprechend wohlwollenden Charakteri‐ sierungen von Epikureern wie der des Kelsos im Alexander (Lucian. Alex. 21) hervor, der sogar als Freund bezeichnet wird;5 zum anderen steht in diesen Zusammenhang der innovative Charakter im Fokus, der bei Lukian aus dem umgekehrten Kräfteverhältnis zwischen Stoa und Kepos erwächst, da die Position von Epikur und seinen Anhängern im Gegensatz zu deren Beurteilung bei einflussreichen Schriftstellern wie Cicero und Plutarch nicht nur gestärkt wird, sondern in der Auseinandersetzung mit stoischen Antagonisten sogar mehrfach siegreich hervorgeht. Kann man bei Lukian also tatsächlich von einer literarischen Rehabilitierung der Epikureer oder gar von einer Art späten ‚Rache‘ Epikurs sprechen, wie sie schon in Lucian. Alex. 61 anklingt? […] τὸ πλέον δὲ – ὅπερ καὶ σοὶ ἥδιον – Ἐπικούρῳ τιμωρῶν, ἀνδρὶ ὡς ἀληθῶς ἱερῷ καὶ θεσπεσίῳ τὴν φύσιν καὶ μόνῳ μετ’ ἀληθείας τὰ καλὰ ἐγνωκότι καὶ παραδεδωκότι καὶ ἐλευθερωτῇ τῶν ὁμιλησάντων αὐτῷ γενομένῳ. (Lucian. Alex. 61) Zum größeren Teil aber [sc. tat ich es] – was auch dir gefallen dürfte –, um Epikur zu rächen, einen wahrhaft heiligen und in seinem Wesen gottähnlichen Mann, den
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5
Zur Philosophie bei Lukian siehe u. a. Pass (2019) 198–222; Nesselrath (2001) 135–152; Jones (1986) 24–32; Innocenti (1978) 30–53 (zum Epikureismus); Neef (1940) 11–52; Caster (1937) 9–122 (zum Epikureismus v. a. 84–106); Bruns (1888) 86–103. Vgl. Schlapbach (2010) 252. Bruns (1888) 92 f., der innerhalb der philosophischen Satiren Lukians zwischen der sog. genrehaften und der systematischen Form zu unterscheiden versucht, ordnet Sympo‐ sium und Iuppiter tragoedus aufgrund der Personalisierung bzw. Individualisierung der Antagonisten der erstgenannten Gattung zu. Obwohl Lukian die epikureischen Vertreter aus den rhetorischen Duellen gegen die Stoiker in der Regel als Sieger hervorgehen lässt, finden sich in seinen Werken auch epikurkritische Passagen, insbesondere im Icaromenipp (v. a. Icar. 16; 26; 32); auch der schnelle und relativ günstige Verkauf Epikurs in Lucian. Vit. auct. 19 lässt den ‚Wert‘ seiner Philosophie eher gering erscheinen; siehe dazu auch Nesselrath (2001) 139 f. mit Anm. 9; 147; Ferguson (1990) 2293; Caster (1937) 92. Vgl. dazu etwa Nesslrath (2001) 146; Jones (1986) 26; 133–148; Innocenti (1978) 42–46.
6.2 Das Duell Kepos vs. Stoa in Lukians satirischen Dialogen
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einzigen, der wahrhaft das Schöne erkannt und vermittelt hat und dadurch selbst zum Befreier seiner unmittelbaren Mitmenschen geworden ist.
6.2 Das Duell Kepos vs. Stoa in Lukians satirischen Dialogen 6.2.1 Der Streit zwischen Hermon und Zenothemis im Symposium Im Symposium berichtet Lykinos seinem neugierigen Gesprächspartner Philon von einem Gastmahl im Hause des Aristainetos, zu dem zahlreiche Philosophen unterschiedlicher Schulen eingeladen waren und das schließlich zu einem handfesten Streit zwischen den Gästen ausgeartet ist.6 Im Mittelpunkt dieser skandalösen Veranstaltung stehen einerseits der dauerhaft schwelende Konflikt zwischen dem Stoiker Zenothemis und dem epikureischen Dioskuren-Priester Hermon, andererseits der absurde Auftritt des Kynikers Alkidamas und die empörte Rede des nicht eingeladenen Stoikers Hetoimokles.7 In den Kapiteln 6–9 werden alle bereits anwesenden Gäste des Symposiums vorgestellt und bereits näher charakterisiert, so auch die beiden philosophischen Rivalen Zenothemis und Hermon. Dass Hermon als Epikureer und zugleich als Priester präsentiert wird, hebt plakativ einen Widerspruch hervor, der sicherlich auch einem Lukrez mehr als befremdlich gewesen wäre.8 Schon als es um die Platzvergabe und damit um die sozialhierarchische Anordnung der Philosophen geht, kommt es zu einem ersten Disput zwischen Zenothemis, der den näheren Platz beim Gastgeber für sich beansprucht, und Hermon. Der Epikureer zeigt sich ungeachtet der spöttischen Bemerkungen von Seiten des Stoikers nachgiebig und überlässt diesem den begehrten Platz (Lucian. Symp. 9). Das Bild der empfindlich und kompromisslos agierenden Stoa-Vertreter erhärtet sich, als Hetoimokles, der bei der Einladung zum Gastmahl übergangen 6 7 8
Zur Motivtradition des Philosophenstreits bei Lukian siehe u. a. Lucian. Gall. 8; Herm. 11. Zur Struktur des gesamten Stücks siehe v. a. Bretzigheimer (2013) 314–352 (προοίμιον: §§ 1–4; μετάβασις: § 5; ἀρχή des Hauptteils: §§ 6–10; τὸ μέσον des Hauptteils: §§ 11–45; τελευτή des Hauptteils: §§ 46 f.; ἐπίλογος: § 48). Auch Zenothemis spottet in Lucian. Symp. 9 offensichtlich über den Widerspruch, der sich aus der philosophischen Zugehörigkeit und dem religiösen Amt des Hermon ergibt. Im weiteren Verlauf des Dialogs wird diese Unstimmigkeit jedoch nicht näher thematisiert. Sofern man die abfällige Bemerkung des Zenothemis in Lucian. Symp. 9 tatsächlich auf die ungewöhnliche Verbindung von Epikureismus und Priesteramt bezieht, vertritt der Stoiker offenbar – wie Cotta in Ciceros De natura deorum – die Meinung, dass die Epikureer entgegen ihrer Lehrtheorie die Existenz der Götter leugnen; vgl. dazu Cic. nat. deor. 1, 85 f.
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6 Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata
worden war, (von einem Sklaven) eine Rede in Abwesenheit halten lässt und darin nicht nur dem Gastgeber schwere Vorwürfe macht, sondern sogar die anderen anwesenden Stoiker scharf angreift (Lucian. Symp. 22–27). Diesen hält er ihre angebliche Inkompetenz in terminologischen Fragen und zentralen Stra‐ tegien stoischer Argumentationstechnik vor. Hetoimokles, dessen Name schon verrät, dass ihn die ausgebliebene Einladung eben doch nicht kalt lässt (ἑτοίμος + κλῆς), gibt allerdings selbst die stoische Lehre nicht adäquat wieder und offenbart nicht nur seine völlig unstoische Maßlosigkeit und Völlerei, sondern auch den scheinheiligen Anlass seines Schreibens. Mit Hetoimokles wird somit kein orthodoxer Stoiker kritisiert, sondern vielmehr ein Möchtegern-Stoiker bloßgestellt, wie es auch Cicero in seinen Invektiven gegen Piso tut.9 Obwohl sie durch die Scheltrede des Hetoimokles nicht unmittelbar ange‐ griffen wurden, können sich angesichts dieser frappierenden Heuchelei weder der Peripatetiker Kleodemos noch der Epikureer Hermon ihre sarkastischen Kommentare verkneifen, wohingegen die angeprangerten Stoiker in dieser Runde starr vor Schreck sind. So meint Hermon nicht zu Unrecht, das wahre Anliegen des Hetoimokles durchschaut zu haben: Ihm sei es einzig und allein um die verlockende Aussicht auf ein üppiges Gastmahl gegangen (Lucian. Symp. 31). Dass Kleodemos und Hermon dabei einen Seitenhieb auf stoische Schul‐ oberhäupter wie Zenon, Kleanthes und Chrysipp führen, die mit ihrer Lehre nur Heuchler und Betrüger anlocken würden, zieht sogleich einen weiteren emotionalen Ausbruch des ungehaltenen Zenothemis nach sich. Aristainetos gelingt es jedoch erneut, in dieser ohnehin schon angespannten Situation zwischen den streitenden Parteien zu vermitteln. Im Gegensatz zu Kleodemos, der nun auch noch mit Spuckattacken und verbalen Gegenstößen auf die Beleidigungen des Zenothemis reagiert, nimmt sich der Epikureer in der immer mehr eskalierenden Situation vorerst zurück.10 Erst als sich der Peripatetiker Kleodemos nochmals angriffslustig an den Stoiker Zenothemis wendet und ihm vorhält, die ständige Verunglimpfung der epikureischen ἡδονή sei ein unerträgliches Zeichen stoischer Heuchelei, da sich die Stoiker von heute die ἡδονή in Wahrheit selbst zum Leitprinzip ihres Handelns machen würden,11 meldet sich Hermon wieder zu Wort:
9
10 11
Anders dazu Jones (1986) 29. Der Überraschungseffekt, den die Selbstentlarvung des Hetoimokles auslöst, kommt auch in der erstaunten Reaktion der anwesenden Zuhörer zur Geltung, die ihn persönlich kennen: […] ἐθαύμαζον οὖν οἷος ὢν διαλάθοι αὐτοὺς ἐξαπατωμένους τῷ πώγωνι καὶ τῇ τοῦ προσώπου ἐντάσει. […] (Lucian. Symp. 28). Vgl. dazu auch Nesselrath (2001) 146. Vgl. Bis acc. 21; Fugit. 19.
6.2 Das Duell Kepos vs. Stoa in Lukians satirischen Dialogen
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[…] καὶ ὁ Ἕρμων, ‘Εὖ γε’, ἔφη, ‘ὦ Κλεόδημε, εἰπάτωσαν οὗτινος ἕνεκα ἡδονῆς κατηγοροῦσιν αὐτοὶ ἥδεσθαι ὑπὲρ τοὺς ἄλλους ἀξιοῦντες.’ […] (Lucian. Symp. 37) Auch Hermon schaltete sich ein: „Recht so, Kleodemos! Lass sie erklären, weswegen sie die Lust verurteilen, wo sie doch mehr als alle anderen nach Lust verlangen.“ (Übersetzung von Jula Wildberger)
Diese Verhaltensweise zeigt erneut, dass Hermon keineswegs die treibende Kraft dieses offen ausgetragenen Disputs ist, sondern den aktiven Part jeweils Zenothemis bzw. Kleodemos überlässt. Zur endgültigen Eskalation zwischen dem Stoiker Zenothemis und dem Epikureer Hermon kommt es schließlich, als sich beide um das fettere Brat‐ hähnchen streiten, das ihnen im Folgenden auf einer gemeinsamen Speiseplatte serviert wird: In der von Lykinos als „Höhepunkt des Geschehens“12 bezeich‐ neten Szene beanspruchen beide beharrlich das angeblich fettere Hähnchen für sich und geraten in einen handfesten Streit, der sogleich auf die gesamte Tafel übergreift.13 Mit der allgemeinen Prügelei, bei der neben Tränen und schweren Verletzungen auch noch weitere Skandale und strafwürdige Delikte (Vergewal‐ tigung, Diebstahl) ans Tageslicht kommen, ist die Darstellung der Philosophen als lächerliche Trunken- und Raufbolde auf die Spitze getrieben, sodass sich das ernüchternde Zwischenfazit des sichtlich verstörten und nachdenklichen Ich-Erzählers Lykinos, das er kurz zuvor gemacht hat, durchaus bewahrheitet:14 Ἐν ὅσῳ δὲ ταῦτ᾽ ἐγίνετο, ποικίλα, ὦ Φίλων, ἐγὼ πρὸς ἐμαυτὸν ἐνενόουν τὸ πρόχειρον ἐκεῖνο, ὡς οὐδὲν ὄφελος ἦν ἄρα ἐπίστασθαι τὰ μαθήματα, εἰ μή τις καὶ τὸν βίον ῥυθμίζοι πρὸς τὸ βέλτιον· ἐκείνους γοῦν περιττοὺς ὄντας ἐν τοῖς λόγοις ἑώρων γέλωτα ἐπὶ τῶν πραγμάτων ὀφλισκάνοντας. […] ἀνέστραπτο οὖν τὸ πρᾶγμα, καὶ οἱ μὲν ἰδιῶται κοσμίως πάνυ ἑστιώμενοι οὔτε παροινοῦντες οὔτε ἀσχημονοῦντες ἐφαίνοντο, ἀλλ᾽ ἐγέλων μόνον καὶ κατεγίνωσκον αὐτῶν, οἶμαι, οὕς γε ἐθαύμαζον οἰόμενοί τινας εἶναι ἀπὸ τῶν σχημάτων, οἱ σοφοὶ δὲ ἠσέλγαινον καὶ ἐλοιδοροῦντο καὶ ὑπερενεπίμπλαντο καὶ ἐκεκράγεσαν καὶ εἰς χεῖρας ᾔεσαν. […] (Lucian. Symp. 34f.) Während all dies geschah, lieber Philon, ging mir so manches durch den Sinn und auch der nahe liegende Gedanke, dass es also offenbar völlig nutzlos ist, die Theorie gelernt zu haben, solange man nicht auch seine Lebenspraxis zum Besseren hin 12 13 14
Lucian. Symp. 43: […] ὁμοῦ γάρ ἐσμεν ἤδη τῷ κεφαλαίῳ τῶν πραχθέντων […]. Auch im Hermotimos zeigt Lykinos nur ein geringes Interesse an den philosophischen Dogmata, sondern konzentriert sich eher auf die sozialen Begleitumstände. Vgl. dazu auch Bretzigheimer (2013) 349; Nesselrath (2011) 139.
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6 Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata
umstellt. Ich sah ja, wie jedenfalls diese Männer, die im Reden und Diskutieren allen anderen überlegen waren, für ihr Handeln nur Gelächter ernteten. […] Die Verhältnisse waren also ins Gegenteil verkehrt: Die einfachen Gäste betrugen sich beim Feiern in jeder Hinsicht vorbildlich, ließen sich vom Wein zu nichts hinreißen und zeigten auch sonst kein unschönes Verhalten, sondern lachten nur und verachteten, wie ich glaube, die Philosophen, die sie früher bewundert hatten, weil sie aufgrund von deren Gehabe gedacht hatten, diese seien etwas Besonderes. Die ,Weisen‘ hingegen ließen sich völlig gehen, beschimpften sich, fraßen mehr, als sie vertragen konnten, brüllten herum und fingen Prügeleien an. (Übersetzung von Jula Wildberger)
Ungeachtet dieser allgemeinen Karikierung und Schelte an den zeitgenössischen Philosophen, bei denen (Lehr-)Theorie und (Verhaltens-)Praxis unüberbrückbar auseinanderklaffen, ist es eine gleichsam amüsante wie auch höchst aufschluss‐ reiche Schlusspointe, wenn Lukian am Ende dieser wilden Schlägerei ausge‐ rechnet den Epikureer Hermon nochmals zu Wort kommen lässt, der, obwohl selbst schwer gezeichnet, an den verwundeten und wehleidig herumschrei‐ enden Zenothemis noch ein vernichtendes Schlusswort richtet, mit dem er nicht nur die Legitimität, sondern auch die finale Überlegenheit der epikureischen Position unter Beweis stellen möchte:15 […] ‘Μέμνησο μέντοι, ὦ Ζηνόθεμι, ὡς οὐκ ἀδιάφορον ἡγῇ τὸν πόνον.’ […] (Lucian. Symp. 47) „Merk dir das für die Zukunft, Zenothemis, dass du den Schmerz also nicht für etwas Unerhebliches hältst.“ (Übersetzung von Jula Wildberger)
Unmittelbar darauf ist das Stück zu Ende und die vermeintliche Überlegen‐ heit des Epikureers am Schluss, der am Anfang noch mit stoischer Verach‐ tung geschmäht worden war, kann nicht über den Eindruck einer völlig hemmungslosen und unreifen Philosophengesellschaft hinwegtäuschen, die dem lachenden Leser im Gedächtnis bleibt. Dabei basiert der komische Effekt der Abschlussszene und auch des gesamten Stücks natürlich auf der festen Typik der Philosophen, die als Gegensatz wirkt. Die Spannung, aus der dieser Effekt hervorgeht, kann also nur erzeugt werden, weil die Stereotypik und die Kontrastierung (zwischen Stoa und Kepos) so festgelegt sind.16
15 16
Vgl. dazu auch Bretzigheimer (2013) 346. Vgl. dazu auch Bretzigheimer (2013) 349f.
6.2 Das Duell Kepos vs. Stoa in Lukians satirischen Dialogen
451
6.2.2 Das rhetorische Duell zwischen Damis und Timokles im Iuppiter tragoedus Das epikureische Hauptmotiv in Lukians Werken, nämlich die theologische Lehre von der Indifferenz der Götter gegenüber den Menschen,17 findet man unter anderem im Iuppiter tragoedus wieder: Die Götterwelt befindet sich mitten in einer Krise, weil sie laut Zeus nicht mehr sicher sein könne, ob die Götter von den Menschen weiterhin als höchste Instanz anerkannt und verehrt oder in verstärktem Maß vernachlässigt und ignoriert würden.18 Konkreter Anlass für diese Befürchtung ist offenbar ein öffentlicher Disput zwischen dem Stoiker Timokles und dem geradezu atheistischen Epikureer Damis,19 in dem Aussage gegen Aussage steht und der deshalb vertagt worden ist.20 In der eigens dafür einberufenen Götterversammlung werden mehrere Posi‐ tionen gegeneinander abgewogen: Während sich Momos, die göttliche Perso‐ nifikation von Tadel und Schmähsucht,21 ziemlich selbstkritisch äußert, indem er die Theodizee-Problematik anspricht,22 und sich Poseidon (wie später auch Hercules) gar für die Tötung des Epikureers stark macht, mahnt der Göttervater zur Besonnenheit und verweist auf die Machtlosigkeit der olympischen Götter, wenn es um das Schicksal eines Menschen geht, welches allein durch die Parzen festgesetzt werde (Iupp. trag. 24 f.). Damit gibt Zeus’ Aussage bereits den Beurteilungsmaßstab vor und zeigt, wie man beide Redepositionen bewerten kann: Der Stoiker als Verteidiger der fürsorglichen Götter kann nicht siegen, denn die Parzen legen alles fest; der Epikureer hat de facto recht, dass die Götter nicht eingreifen.23 Allerdings würde dieser die Parzen, auf die Zeus verweist, auch nicht anerkennen, zumal er 17 18 19
20 21
22
Vgl. Caster (1937) 93 f. In der Vitarum auctio wird überdies die Theologie als das einzige Verdienst gerechnet, das Epikur gutgeschrieben werden kann, da Hedonismus (Aristipp) und Atomismus (Demokrit) keine eigenen Errungenschaften darstellten. Vgl. dazu auch Lucian. Icar. 32. Zu den unepikureisch anmutenden Merkmalen und Argumenten des Damis siehe schon Bruns (1889) 392–395 und Helm (1967) 146. Letztgenannter führt die Argumente des Damis vor allem auf Sextus Empiricus zurück. Zum Atheismus des Damis siehe auch Berdozzo (2011) 138–140; Caster (1937) 161. Vgl. Lucian. Iupp. trag. 4: […] καὶ ὁ μὲν Δᾶμις οὐδ᾽ εἶναι θεοὺς ἔφασκεν, οὐχ ὅπως τὰ γινόμενα ἐπισκοπεῖν ἢ διατάττειν […]. Vgl. u. a. Hes. theog. 208–211. Momos symbolisiert nicht zuletzt die Uneinigkeit und Ratlosigkeit der Götter, die bei ihrer Versammlung ans Tageslicht kommt. Schon in Lukians Deorum concilium war es zwischen Momos und Zeus zu einer Auseinanderset‐ zung über die angeblich unberechtigte Anwesenheit einiger Himmelsbewohner beim Göttermahl gekommen. Vgl. dazu auch Jones (1986) 40, der in diesem Zusammenhang auf die Theodizee-The‐ matik in Cic. nat. deor. 3, 79–85 verweist.
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6 Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata
sich sogar als Atheist zeigt.24 Dass die Götter außerdem nicht in epikureischer Selbstgenügsamkeit leben, sondern unglücklich sind, wenn man sie nicht verehrt, macht deutlich, dass Lukian trotz des Epikureer-Siegs im rhetorischen Duell kein epikureisches Weltbild für den Iuppiter tragoedus zugrunde gelegt hat.25 Da am Ende der Götterversammlung kein Beschluss über ein gemeinsames Vorgehen gegen die drohende Niederlage des Stoikers zustande kommt, müssen die Götter ohnmächtig und ohne große Hoffnung das entscheidende Duell zwischen Timokles und Damis als Zuschauer verfolgen,26 das eine Mischung aus sokratischem Dialog und komischem Agon ist (Iupp. trag. 35–53): Nach einem anfänglichen Kampf darum, wer wen als erster im Stil der platonischsokratischen Verhörmethode (ἔλεγχος-Verfahren) befragen darf, gelingt es dem Epikureer Damis tatsächlich mehr als eindeutig, seinem impulsiven und im elenktischen Verfahren inkompetenten Kontrahenten rhetorisch den Rang abzulaufen.27 So argumentiert er etwa gegen die stoische These, dass die Götter sich sehr wohl um menschliche Belange kümmerten, mit der erwartbaren Theodizee-Thematik: Viel zu viele Verbrechen – wie etwa die unwahren Behauptungen des Timokles – blieben unbestraft, was ein Zeichen für die Gleichgültigkeit der Götter sei. Ebenso scheitert Timokles in seinem Versuch, die göttliche Providenz und den stoischen Determinismus anhand mythologischer Beispiele aus der antiken Dichtung durchzusetzen. Stattdessen führt Damis die Unüberschaubarkeit der Götterwelt, die bei jedem Volke anders ausgeprägt sei, als Einwand gegen das stoische Götterbild ins Feld. Auch gegen die Vorwürfe, göttliche Orakel zu missachten, keinerlei Götterkult zu befürworten und den göttlichen Ursprung von Wetterphänomenen nicht anzuerkennen, hat der
23 24 25 26 27
Vgl. dazu auch Jones (1986) 40: „He [sc. Lukian] represents Damis as an atheist, when he presumably knew that most Epicureans rejected atheism“; siehe dazu ferner Lucian. Alex. 25 und Anm. 8 in diesem Kapitel. Vgl. dazu auch Zeus’ Wahrnehmung von Damis in Iupp. trag. 17. Vgl. dazu auch Coenen (1977) 54. Insbesondere Zeus bekundet in Iupp. trag. 34 voller Entsetzen, dass der Stoiker dem Epikureer nicht gewachsen ist und daher unterliegen wird; siehe dazu auch Berdozzo (2011) 135f. Zu den philosophischen Argumenten in diesem Agon siehe bereits Bruns (1888) 86–103 bzw. Bruns (1889) 374–396. Folgender thematischer Argumentationsstrang kristallisiert sich im Rahmen des verbalen Duells zwischen Timokles und Damis heraus: 1. Göttliche Ordnung im Kosmos (§§ 36–38); 2. Zeugnis der griechischen Dichter (§§ 39–41); 3. Götterbild als consensus omnium gentium (§ 42); 4. Göttliches Orakel als Beweis für Providenz (§§ 43 f.); 5. Göttlicher Ursprung von Wetterphänomenen (§ 45); 6. Schiffsmetapher vom göttlichen Steuermann (§§ 46–50); 7. Existenz von Altären als Beweis für Existenz von Göttern (§§ 51 f.).
6.2 Das Duell Kepos vs. Stoa in Lukians satirischen Dialogen
453
eloquente Damis stets ein Argument parat, das die umstehende Menschenmenge applaudieren und die zuhörenden Götter vor Angst erstarren lässt. Als auch die letzten beiden Argumente des Timokles – das Gleichnis vom göttlich gelenkten Schiff sowie der Schluss von der Existenz von Altären auf die Existenz von Göttern – an der Argumentationskunst bzw. am Spott des Damis zerschellen, zeigt sich Damis trotz seiner offenkundigen Überlegenheit nach‐ giebig und bietet seinem Rivalen zur letztlichen Versöhnung einen Friedens‐ schluss an, worauf Timokles allerdings nur mit üblen Beschimpfungen unter Androhung unmittelbarer Gewaltanwendung reagiert. Obwohl der rhetorische Sieg des Epikureers unbestritten ist und die Unterlegenheit des Stoikers sich abschließend an seinem lächerlichen Zornesausbruch manifestiert, beschwich‐ tigt Hermes den ob dieses Ausgangs verunsicherten Jupiter dadurch, dass er als Ausweg aus dieser Aporie den gesamten Vorfall relativiert und zu einem kaum erwähnenswerten Einzelfall bagatellisiert, der nur wenige Menschen ihre Aufmerksamkeit geschenkt hätten, sodass der Großteil der antiken Welt weiterhin an dem Glauben von starken und wirkmächtigen Göttern festhalten werde (Iupp. trag. 53). Wenn es um die Beurteilung der Rollen von Göttern und Philosophen im Iuppiter tragoedus geht, ist es sicherlich naheliegend, den Fokus der Schrift auf der Ridikülisierung des nicht nur in dieser Zeit weit verbreiteten stoischen Göt‐ terbildes zu sehen: Zum einen zeigt sich nämlich die stoische Position in Gestalt des Timokles – überdies ein sprechender Name: „der auf Ruhm erpichte Mann“ – rhetorisch deutlich unterlegen; zum anderen werden die auftretenden Götter, die sich in ihrer Verzweiflung wie auch im Iuppiter confutatus energisch an die stoische Theologie klammern, durchwegs mit ihrer wachsenden Angst vor dem menschlichen Urteil ins Lächerliche gezogen, da sie ihr eigenes Schicksal abhängig von der Reaktion und dem religiösen Verhalten der Menschen machen und dieses zudem an eine einzige konkrete Auseinandersetzung zwischen zwei Philosophen knüpfen.28 Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass auch Damis keineswegs einen orthodoxen Epikureer verkörpert, da seine atheistischen Ansichten wiederholt zutage treten. Wie schon im Symposium, wo Lukian mit Hermon einen Priester die Rolle des Epikureers übernehmen lässt, stattet er also auch im Iuppiter tragoedus den Kepos-Vertreter mit einem unepikureischen Merkmal aus. Caster geht zu Recht davon aus, dass Lukian damit die populäre, aber oberflächliche Wahrnehmung der epikureischen Theologie wiedergibt, wie sie auch in Ciceros De natura deorum zu finden ist.29 Ausgehend davon vertritt
28
Vgl. dazu Coenen (1977) 54.
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6 Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata
Berdozzo aus plausiblen Gründen (hoher Bildungsgrad der Leser, Klarheit der philosophischen Bedeutung, Transparenz des parodistischen Gesamtcharak‐ ters) die These, dass das römische Publikum diese Verzerrung des epikureischen Götterbildes erkannt habe.30 Lukians satirischer Dialog zeichnet sich insgesamt durch eine Verkehrung fester Erwartungen aus: Die Stoa muss sich aufgrund eines rhetorisch unfähigen Vertreters einem unorthodoxen Epikureismus geschlagen geben. Die Karikie‐ rung aller Beteiligten – seien es die Götter oder die Menschen – hebt die seriöse, wenn auch in Teilen polemische Figurenmodellierung aus den Cicero-Dialogen auf. Daher ist es durchaus berechtigt, für Lukians Iuppiter tragoedus nicht von einem philosophischen Dialog, sondern eher von einer Satire zu sprechen.31 Der satirisch-komische Effekt besteht nämlich darin, die Konsequenzen einerseits des menschlichen Verhaltens, andererseits des unerwarteten Verhaltens der Götter zu überzeichnen. 6.2.3 Epikur als advocatus voluptatis im Bis accusatus Am Ende dieser exemplarischen Darstellung von Lukian-Texten, die stoische und epikureische Positionen in rhetorischen Agonen kontrastieren und kari‐ kieren, steht das Duell von Στοά und Ἡδονή vor Gericht in Lukians Bis accusatus. Dort finden eine Reihe von Gerichtsverhandlungen statt, die in Anbetracht der menschlichen Unsicherheit über das wahre Glück und die richtige Lebensein‐ stellung abgehalten werden müssen und daher von Zeus an Dike und Hermes in Auftrag gegeben werden (Bis acc. 1–7).32 Nachdem die Prozessvorbereitung abgeschlossen ist und der Gerichtstag am Areopag unter Dikes Vorsitz beginnen kann, wird den einzelnen Gegenparteien jeweils das Wort erteilt, bevor ein schnelles und meist nicht näher begründetes Urteil gefällt wird. Dabei kommt es unter anderem auch zum Prozess der Στοά gegen die Ἡδονή, die von Epikur selbst vertreten wird (Bis acc. 19–22). Die Grundkonstellation der beiden Gegnerinnen, die eine dritte Instanz von dem Lebensmodell, das sie jeweils allegorisch verkörpern, zu überzeugen su‐ chen, erinnert deutlich an das antike ‚Scheidewegsmotiv‘.33 Tatsächlich ergeben 29 30
31 32 33
Vgl. dazu Caster (1937) 206 f.; siehe dazu Anm. 8 in diesem Kapitel. Vgl. dazu Berdozzo (2011) 139: „All das lässt also nicht ohne Grund vermuten, dass das Publikum nicht nur das ‚Endprodukt‘ der Parodie, nämlich die ‚Fälschung‘ selbst, son‐ dern auch ihren primären Stoff, nämlich eine im Volk weit verbreitete grobschlächtige Vorstellung des Epikureismus, gar bald erkannte“. Vgl. dazu v. a. Berdozzo (2011) 136. Zur Gesamtstruktur des Lukian-Stücks siehe v. a. Braun (1994) 35. Siehe dazu Kap. 3.4.
6.2 Das Duell Kepos vs. Stoa in Lukians satirischen Dialogen
455
sich bei genauem Hinsehen auffällige Parallelen zum xenophontischen Duell zwischen Κακία und Ἀρετή um die Gunst des Herakles,34 die jedoch bei Lukian zugunsten der Ἡδονή umgekehrt werden: Während sich bei Xenophon gleich zu Beginn die Κακία in den Vordergrund drängt, wird bei Lukian zunächst der Στοά das Wort erteilt. Dennoch lässt diese Reihenfolge der Wortbeiträge analog zur ‚Scheidewegsszene‘ bei Xenophon bereits erahnen, dass letztlich die zweite Rednerin – bei Lukian also die von Epikur vertretene Ἡδονή – den Sieg davontragen wird. In ihrer Rede (Bis acc. 20)35 kommt die Στοά zunächst auf das verführerische Aussehen der Ἡδονή zu sprechen, das sie als Kontrast zu ihrer eigenen strengen Schlichtheit negativ deutet (οὕτως ἑταιρικῶς ἐσκευασμένη τῷ ἐπαγωγῷ τῆς ὄψεως) und als Ausdruck ihres ‚falschen‘ Charakters sieht.36 Dabei erwähnt sie den konkreten Anlass ihres Rechtsstreits: Mit ihren künstlichen Reizen habe die Ἡδονή ihr den Liebhaber Dionysios ausgespannt. Es geht also um einen vermeintlich trivialen Streitgegenstand, der die Στοά nun zum Prozess gegen die Ἡδονή bewogen hat und den sie nun auf eine allgemein moralphilosophische Ebene hebt. Dazu greift sie auf stereotype Merkmale bzw. Inhalte der beiden unterschiedlichen Lebenskonzepte zurück, um ihre Rivalin zu diskreditieren und den moralischen Wert ihres Lebenskonzepts infrage zu stellen: Unter anderem prangert sie die damit angeblich einhergehende Asebie der Ἡδονή an und bedient sich daher ebenfalls des populären, aber unzureichenden Epi‐ kureer-Bildes, das auch in Ciceros De natura deorum an einigen Stellen zum Vorschein kommt. Die Tatsache, dass sich ihre Gegnerin obendrein Epikur zum Anwalt genommen habe und für sich sprechen lässt, tadelt sie ferner als Bequemlichkeit und Missachtung des Gerichts (ἐντρυφᾷ τῷ δικαστηρίῳ).37 Bevor sie das Gericht abschließend vor Epikurs Göttervorstellung warnt, führt sie als παραδείγματα für ihre historische Bewährung als moralphiloso‐ phisches Vorbild die Heroen Herakles und Theseus an, die sich einst für ihre Seite entschieden und damit der Welt eine Unrechtsherrschaft (ἀδικία) des Hedonismus erspart hätten.38 Mit dem Verweis auf das Gebot der Kürze beendet 34 35 36 37 38
Vgl. dazu Helm (1967) 286. Zur Gliederung dieser Rede siehe erneut Braun (1994) 160. Auch dieser Aspekt bietet einen Vergleichspunkt zu Xenophons ‚Scheidewegsszene‘, wie Braun (1994) 162 richtig bemerkt. Zur Darstellung bzw. Selbstwahrnehmung der Στοά siehe etwa Dolcetti (1998) 252. Vgl. dazu Braun (1994) 177. Zur Übertragung der Verteidung auf andere in einem Agon als literarisches Motiv siehe etwa Helm (1967) 286f. Vgl. dazu Braun (1994) 178 f.; Helm (1967) 287. Gerade die Erwähnung des Herakles ruft wiederum die xenophontische ‚Scheidewegsszene‘ in Erinnerung, in der sich der griechische Held am Ende für die Ἀρετή entscheidet, die die Στοά für sich beansprucht.
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6 Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata
die Στοά ihre Rede mit dem Vorschlag, der Ἡδονή anschließend noch in Form eines ‚sokratischen Kreuzverhörs‘ Fragen stellen zu dürfen (κατὰ μικρὸν ἀποκρίνασθαί μοι συνερωτωμένη), um die Nichtigkeit ihrer Lehre (τὸ μηδὲν οὖσα) aufzudecken. Nachdem die Στοά ihre Position im kynisch-stoischen Diatribenstil vorge‐ bracht hat,39 schließt Epikur zu Beginn seiner Rede (Bis acc. 21) an das stoische Gebot der Kürze an.40 Sein Verzicht auf rhetorische Topoi zeugt von einem hohen Maß an Selbstsicherheit und lässt sich auch mit dem Ruf der Epikureer, der Rhetorik keine große Bedeutung beizumessen, vereinbaren.41 Der wahre Grund für Epikurs Gelassenheit lässt sich an der konkreten juristischen Situation fest‐ machen: Wie Braun in seinem Kommentar zu Recht hervorhebt, ist Epikur bzw. die von ihm repräsentierte Ἡδονή nämlich schon vor der Verteidigungsrede nicht der Gefahr einer rechtlichen Verurteilung ausgesetzt, da der eigentliche Anklagepunkt, das Ausspannen des Liebhabers Dionysios, nicht strafbar ist.42 Im Gegensatz zur Στοά beruft sich Epikur für seine Argumentation meist auf den zu verhandelnden Streitfall und versucht damit, den Vorwurf der Zau‐ berei bzw. der widerrechtlichen Vereinnahmung des Dionysios zu widerlegen: Zunächst verweist Epikur auf den freiwilligen Entschluss des Dionysios, das philosophische ‚Lager‘ zu wechseln.43 Danach macht Epikur klar, dass die Aufnahme des Dionysios notwendig und „menschlich“ (ἀνθρώπινα) war, da sie einer moralischen Verpflichtung gegenüber einem Schiffbrüchigen bzw. Notleidenden gleichkomme. Die dabei gebrauchte Seesturm- und Hafenmeta‐ pher in Verbindung mit dem Streben nach γαλήνη ist ein typisch epikureisches Stilmittel.44 Da somit die Anklage der Verzauberung des Dionysios widerlegt werden konnte, geht Epikur im nächsten Schritt dazu über, die Überlegenheit der Ἡδονή gegenüber der Στοά zu demonstrieren: Als bester Beweis dafür eigne sich nicht zuletzt Dionysios selbst, der als glaubwürdiger und vernünftiger κρίτης δίκαιος herangezogen werden könne, zumal er beide Parteien gut genug kenne und sich letztlich zur Ἡδονή bekannt habe. Diesen Einblick in beide ‚Lager‘ nimmt Epikur 39 40 41 42 43
44
Vgl. dazu Braun (1994) 181. Zur Strukturierung seiner Rede siehe erneut Braun (1994) 183. Vgl. u. a. Cic. Brut. 131; fin. 1, 14. Vgl. Braun (1994) 183. Zur Verschmelzung des philosophischen und politischen Freiheitsbegriffs, der in der Wendung τις ἐλεύθερος ἐν ἐλευθέρᾳ τῇ πόλει stilistisch auffällig zur Geltung kommt und zweifellos an die Στοά-Formulierung ἐλευθέρους ἐλευθέρως φιλοσοφεῖν anknüpft, siehe Braun (1994) 188–190. Vgl. v. a. Lucr. 2, 1–4; Verg. catal. 5, 8; Diog. Laert. 10, 128; siehe dazu auch Braun (1994) 195 f.; zu Parallelen dieser Metaphern im Hermotimus siehe Helm (1967) 287.
6.2 Das Duell Kepos vs. Stoa in Lukians satirischen Dialogen
457
als Ausgangspunkt, um auf die angebliche Scheinheiligkeit der meisten Stoiker zu sprechen zu kommen: Im Geheimen würden nämlich auch sie nach dem „Angenehmen“ (τὸ ἡδύ) streben und sich dadurch zu heimlichen Anhängern der Ἡδονή machen. Damit greift der lukianische Epikur also im Bis accusatus ein Thema auf, das auch im Symposium eine zentrale Rolle spielt und dort vor allem an dem Möchtegern-Stoiker Hetoimokles veranschaulicht wird.45 Zum Ende seiner Ausführungen, die letztlich doch umfangreicher als die Στοά-Rede sind, kehrt Epikur nochmals zum konkreten Fall des Dionysios zurück: Dieser sei ganz offenbar infolge einer schmerzhaften Erkrankung zur Besinnung gekommen, fortan nicht mehr der Theorie des abstrakten καλὸν ἀγαθόν (Stoa) zu folgen, sondern den real spürbaren πόνος für ein κακόν (Kepos) zu halten. Offenbar sieht sich die Στοά durch die Argumente genötigt, nun tatsächlich noch vor dem Urteilsspruch das angekündigte Vorhaben umzusetzen, Epikur ins Kreuzverhör zu nehmen, um die Widersprüchlichkeit der epikureischen Ethik zutage zu fördern (Bis acc. 22). Da ihr aber das Gericht durch Hermes das Wort abschneidet, als sie – mit zunehmendem Gebrauch stoischer Terminologie – scheinbar zusammenhangslose Fragen stellt, die das Gericht nicht mehr nachvollziehen kann, scheitert ihr letztes taktisches Mittel. Der vorzeitige Abbruch der Befragung gibt die Στοά und ihre erfolglose Überzeugungsstrategie nun vollends der Lächerlichkeit preis.46 Mit dem einstimmigen Urteil zugunsten der Ἡδονή ist die juristische Niederlage der Στοά besiegelt, ihre angekündigte Berufung bei der höchsten Instanz (Zeus) entlockt Dike nur noch einen formel‐ haften Standardkommentar: Τύχῃ ἀγαθῇ τῇ.47 Dass Lukian auch mit diesem Dialog an Ciceros Modellierung philosophi‐ scher Antagonisten anknüpft, zeigt bereits die Eingangsszene im Bis accusatus, als Zeus über die hohe Belastung der Götter klagt (Bis acc. 1–3): Damit entspricht er dem Bild eines deus laboriosissimus, das Velleius in seiner Kritik an der stoischen Göttervorstellung entwirft.48 Das Ausmaß seines Dilemmas steht im
45 46 47
48
Zur Diskrepanz zwischen Lehrtheorie und Lebenspraxis vgl. Damox. fr. 2 Kassel/Austin; Bat. fr. 5 Kassel/Austin (siehe dazu Kap. 2.2.2.); Cic. Tusc. 2, 11f. Vgl. dazu auch Briand (2017) 75; Braun (1994) 209f. Zur engen Verknüpfung dieses vorerst abgeschlossenen Prozesses mit dem nachfol‐ genden Rechtsstreit zwischen der Τρυφή und der Ἀρετή um Aristipp (Lucian. Bis acc. 23), der aufgrund seiner ähnlichen Konstellation vertagt und vom endgültigen Urteil des Zeus über den Στοά-Ἡδονή-Fall abhängig gemacht wird, siehe etwa Dolcetti (1998) 253–256. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 51–53; siehe dazu auch S. 424; Braun (1994) 74 f. geht ebenfalls davon aus, dass „sich Lukian bei der komischen Überzeichnung des mühevollen Götterlebens die epikureische Kritik zunute gemacht hat“.
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6 Exkurs: Epikureische Figuren im Werk des Lukian von Samosata
Zusammenhang mit Epikurs Götterbild, das im Falle seines Nichtstuns von den Menschen als wahr aufgefasst werden könnte: Dies würde zu einem immensen Einkommensverlust und einer regelrechten Hungersnot der Götter führen, da zu befürchten sei, dass Menschen keine Notwendigkeit mehr darin sähen, Göttern weiterhin Opfer darzubringen, wenn sie ohnehin untätig seien. Wie im Iuppiter tragoedus machen sich also die Götter von den Menschen abhängig und stehen zusammen mit der Stoa im Mittelpunkt der lukianischen Satire.49
6.3 Fazit über die Inszenierung und Funktionalisierung epikureischer Figuren im Werk Lukians Für die Rolle und Beurteilung epikureischer Figuren im Werk Lukians ergibt sich ein recht einheitliches, vor dem philosophie- und sozialhistorischen Hin‐ tergrund jedoch eher überraschendes Gesamtbild: Einerseits wird natürlich die zeitgenössische Philosophie gerade im Hinblick auf die skandalöse Lebensweise, das moralisches Fehlverhalten und die fachliche Inkompetenz etlicher Schulver‐ treter plakativ angeprangert. Auf der anderen Seite werden aber auch veraltete Rollenbilder und konventionelle Urteile über die einzelnen Schulen verändert. Davon profitieren insbesondere die Kepos-Anhänger, denen trotz genereller Philosophenkarikierung und Zeitkritik eine deutliche Aufwertung zuteilwird: Sie schneiden nämlich bei weitem nicht so schlecht ab wie ihre stoischen Rivalen und scheinen sich gerade hinsichtlich ihres rhetorischen Auftretens entgegen ihrem klassisch schlechten Ruf zu rehabilitieren. Darüber hinaus lässt sich der Siegeszug der Epikureer bei Lukian allerdings auch als eine gewisse Kritik an der hedonistischen Haltung als sozialem Massen‐ phänomen verstehen, das auch vor der Bildungsschicht und damit der sozialen Elite nicht Halt macht. Da sich ohnehin der Großteil der Menschen – vor allem der Philosophen – einem lasterhaften Lebensstil verschrieben haben, der von üppigen Gelagen und wüsten Raufereien geprägt ist, fällt der epiku‐ reische ἡδονή-Gedanke – auf der Basis eines egoistischen Missverständnisses und Missbrauchs der eigentlichen Lehre – in der damaligen Gesellschaft auf fruchtbaren Boden. Parallel zu dieser Tendenz der Sozialisierung und zugleich Stigmatisierung epikureischer ἡδονή lässt sich im Übrigen eine unleugbare Verzerrung konstatieren, die trotz allem natürlich auch die epikureischen Philosophen einbezieht, wenn sie in einem Werk noch als Priester (Hermon)
49
Siehe dazu S. 453.
6.3 Fazit über epikureische Figuren bei Lukian
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eingeführt werden, während sie in einem anderen einen kaum gemäßigten Atheismus vertreten (Damis).50 Noch mehr als hedonistische Tendenzen in der Lebenspraxis der Philosophen und in der sozialen Elite werden heuchlerische Möchtegern-Philosophen an den Pranger gestellt, wie gerade das Beispiel des Stoikers Hetoimokles im Symposium gezeigt hat.51 Um diese Kritik an der Heuchelei deutlich zu machen, muss das Fehlverhalten der Philosophen so drastisch überzeichnet werden, wie es Lukian tut. Dazu bedarf es gerade der trennscharfen Unterschiede, die in Lukians Kontrastierung von Kepos und Stoa ersichtlich werden, weil ohne die klar erkennbaren Merkmale Satire nicht funktioniert. In diesem Rahmen werden bei Lukian schließlich rhetorische Schwächen (Ausdrucksfähigkeit) in Philosophenreden – in erster Linie natürlich rhetorische Unzulänglichkeiten bei stoischen Philosophen – schonungslos aufgedeckt, wie vor ein paar Jahren schon Karin Schlapbach konstatiert hat. Diese weist vor allem die These zurück, Lukian habe kein wirkliches Interesse an Philosophie und setze nur den Trend der Zweiten Sophistik fort, diese der Rhetorik unterzu‐ ordnen. Tatsächlich sind in Lukians Werk nicht nur satirische Merkmale bei der Darstellung von Philosophen als rhetorischen Dilettanten erkennbar, sondern auch ausreichend Beweise für Lukians fundiertes philosophisches Wissen zu finden, die in den literarisch konstruierten Disputen zur Geltung kommen.52
50 51 52
Vgl. Berdozzo (2011) 138f. Siehe hierzu darüber hinaus Nesselrath (2001) 140–143. Vgl. dazu auch Berdozzo (2011) 136 f.; Jones (1986) 26; 31f.
7 Auswertung der Einzelergebnisse Zum Abschluss dieser Arbeit über die autorenspezifische Modellierung epiku‐ reisch ‚gefärbter‘ Figuren bzw. personae in ausgewählter Literatur der späten Republik und frühen Kaiserzeit gilt es, die in den einzelnen Kapiteln gemachten Beobachtungen über die Rezeption der voluptas (Kap. 3), der Götter- und To‐ desvorstellung (Kap. 4) sowie des zurückgezogenen und schlichten Lebensstils (Kap. 5) zusammenzuführen und mit Blick auf die eingangs gestellten Leitfragen auszuwerten. Ausgehend von der Neuen Komödie, die erste griechischsprachige Zeugnisse über den Umgang mit der epikureischen Lehre im Rahmen gattungstypisch inszenierter personae enthält, lässt sich eine implizite Beschäftigung mit der epikureischen Ethik und Theologie auch im frührömischen Drama nachweisen, insbesondere in einigen Plautus-Komödien (Trinummus; Mercator; Amphitruo) sowie im ennianischen Telamo und im pacuvianischen Chryses. In der römischen Komödie bei Plautus und Terenz werden vorrangig ethische Inhalte themati‐ siert, die häufig in eine moralphilosophische Abwägung einer dramatis persona zwischen zwei Lebens- bzw. Handlungsalternativen eingebettet und zudem wesentlicher Bestandteil komödientypischer Konfliktsituationen zwischen Ge‐ nerationen, Geschlechtern oder Menschen und Göttern sind. Formal gesehen werden diese Überlegungen oftmals in Monologen zum Ausdruck gebracht, wie das Beispiel des Lysiteles im Trinummus oder das Beispiel der Alcumena im Amphitruo zeigt. Für eine explizite Einbeziehung spezifischer Philosophen‐ schulen und ihres Gedankenguts scheint jedoch kein Platz in der römischen Komödie zu sein; vielmehr fungieren Passagen mit ‚philosophischen‘ Inhalten als Teil von gattungstypischen Motiven der Komödie. Insgesamt bedeutet dies, dass in der römischen Komödie durchaus ein Interesse an ‚philosophischen‘ Themen und Überlegungen festzustellen ist, die die Charakterisierung der be‐ treffenden Figuren entscheidend beeinflusst; ein Interesse an der Konfrontation schulspezifischer Lebensperspektiven lässt sich jedoch nicht nachweisen. ‚Philosophische‘ Textpassagen in der römischen Tragödie bei Ennius und Pacuvius scheinen sich im Gegensatz zur Komödie eher mit theologischen und kosmologischen Inhalten zu befassen, wie entsprechende Fragmente des ennianischen Telamo und des pacuvianischen Chryses nahelegen. Im Speziellen ist in beiden Werken eine polemische Kritik an der Mantik vorzufinden (Enn. scaen. 319–323 Vahlen; Pacuvius fr. 77 Schierl), bei Ennius zusätzlich die mutmaßlich von Telamo geäußerten Zweifel an der göttlichen cura gegenüber
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7 Auswertung der Einzelergebnisse
den Menschen und die dadurch ausgelöste Theodizee-Problematik (Enn. scaen. 316–318 Vahlen): Telamo klagt wohl über den Tod seines Sohnes Aias und die ‚philosophischen‘ Verspartien werden somit Bestandteil der unmittelbar wahrnehmbaren Tragik des Stückes. Für Pacuvius gestaltet sich eine ähnlich plausible Kontextualisierung dagegen schwieriger, zumal die allzu lückenhafte Überlieferung der einzelnen Werke und der Mangel an weiteren Textpartien mit moralphilosophischem Inhalt eine klare Zuordnung der mutmaßlichen Chryses-Fragmente zu einer dramatis persona nicht zulässt. Dennoch hat gerade der Vergleich dieser Fragmente mit seiner euripideischen Vorlage gezeigt, dass das griechische Drama zahlreiche Passagen mit philosophischen Inhalten aufweist, ohne diese an spezifische Schulen zu binden. Wenn man dazu die Euripides-Fragmente, die als direktes Vorbild für besagte Pacuvius-Fragmente gelten, mit Lukrez vergleicht, wird deutlich, dass Lukrez auch auf ausgewählte Inhalte und Formulierungen aus nicht-philosophischen Werken wie der grie‐ chischen Tragödie zurückgreift, um diese in seine Darstellung des epikureischen Lehrsystems zu integrieren. Obwohl sich vor diesem Hintergrund eine Art ‚philosophischer‘ Diskurs im frührömischen Drama zwar generell bestätigen lässt, muss man aber betonen, dass eine klare Zuordnung der dort behandelten Überlegungen und Äußerungen zu einer spezifischen philosophischen Lehre in den überlieferten Fragmenten nicht möglich ist. Als relativ sicheres Ergebnis kann konstatiert werden, dass eine explizite Markierung bzw. Kategorisierung der ‚philosophischen‘ Elemente eines römischen Dramas nicht im Interesse der frührömischen Dichter war. Nicht entschieden werden kann die Frage, ob dies daran liegt, dass die Be‐ kanntheit bzw. die problemlose Identifizierbarkeit der vorgetragenen ‚philoso‐ phischen‘ Inhalte als epikureisches oder anderes philosophisches Gedankengut zur damaligen Zeit bereits vorausgesetzt werden konnte, oder aber daran, dass diese ‚philosophische‘ Dimension von Komödie und Tragödie im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. ohnehin im Hintergrund stand bzw. eine Verbindung mit dem epikureischen Gedankengut vom römischen Publikum noch gar nicht hergestellt werden konnte. Die explizite Markierung und der funktionale Einsatz von epikureisch ‚gefärbten‘ personae ist – abgesehen von Lukrez – offensichtlich erst bei Cicero sicher nachweisbar. Sein vielfältiges Werk zeigt je nach Gattung und Entstehungszeit unterschiedliche Beweggründe und Ziele, die Cicero für die Modellierung eines Römers als Epikureer hatte: Auf der einen Seite hat er in den Reden nach seiner Rückkehr nach Rom vor allem den politischen Rivalen Piso mit der epikureischen Lehre in Verbindung gebracht, um Piso als Politiker und auch als Mensch zu diskreditieren, indem er ihm ein falsches voluptas-Ver‐
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ständnis unterstellt und daraus seine schlechten Eigenschaften wie Heuchelei, Plumpheit und Heimtücke ableitet. Auf der anderen Seite dient Cicero die Modellierung seriöser Philosophen in seinen Dialogen als literarische Strategie zur strukturierten Auseinandersetzung mit divergenten Lehrpositionen über ein gemeinsames Diskussionsthema. Obwohl die epikureische Position jeweils widerlegt wird und ihre jeweiligen Vertreter als rhetorisch unterlegene Diskussionsteilnehmer präsentiert werden, haben literarische Repräsentanten des Kepos für das philosophische Werk Ciceros insgesamt – insbesondere für Ciceros Etablierung und Entfaltung der skeptischen Position in der römischen Geisteswelt – eine große Bedeutung. Gerade die epikureische Lehrmeinung bzw. ihre Darstellung durch Vertreter, die von Cicero ausgewählt und entsprechend charakterisiert werden, eignet sich für eine systematische Kritik an einem philosophischen Dogma und seinen orthodoxen Anhängern. Auch wenn sich damit der Eindruck verfestigt, dass Cicero selbst den Epikureismus vehement abgelehnt und vor allem die Mängel in Methodik und Argumentation angeprangert habe, die in De finibus bonorum et malorum und De natura deorum aufgedeckt werden, werden Ciceros Kepos-Vertreter keineswegs durchgehend negativ beurteilt, sondern gerade zu Beginn der gesamten Diskussion und vor der jeweiligen Gegenrede durchaus für ihre Bildung und ihren Sachverstand gewürdigt. An der letztlichen Ablehnung ihrer philosophischen Anschauungen ändert diese Beobachtung nichts; wohl aber gibt sie Aufschluss über den kritischen und doch respektvollen Umgang Ciceros mit seriösen Epikureern im Gegensatz zur öffentlichen Diffamierung politischer Gegner, die angeblich die Philosophie zu ihren Gunsten auslegen und somit missbrauchen. Der Typus des Epikureers, der in der Literatur offensichtlich über Cicero hinausgeht (z. B. Plutarchs Kolotes), wird bei Lukian bewusst umgekehrt: Die Kontrastierung der epikureischen mit der stoischen Lehrposition (v. a. Ethik, Theologie) ist in mehreren satirischen Dialogen Lukians wesentlicher Bestand‐ teil einer umfangreichen Philosophensatire (z. B. Symposium, Iuppiter tragoedus, Bis accusatus). Die Einbeziehung der in der römischen Literatur verbreiteten und beispielsweise in Ciceros De natura deorum thematisierten Vorstellung, dass Epikureer in Wahrheit eine atheistische Lehre vertreten, lassen Lukians rhetorische Agone zwischen Epikureern und Stoikern zu einem innovativen ‚Spiel‘ mit Stereotypen werden, das ein satirisch-parodistisches Gegenbild zu Ciceros philosophischen Dialogen darstellt. In der römischen Dichtung finden sich nach Lukrez die deutlichsten Spuren von epikureischem Gedankengut zweifellos im reichhaltigen Œuvre des Horaz. Anders als bei Cicero werden philosophische Überlegungen bei Horaz je nach
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Werk nicht immer anhand einer konkreten (namentlich genannten) Figur veranschaulicht, die dafür eigens als exemplum inszeniert wird, sondern von der persona des jeweiligen Ich-Sprechers unmittelbar dargelegt. Gerade der Umgang mit dem facettenreichen voluptas-Konzept, das sich teilweise recht weit vom epikureischen Ursprungsgedanken löst, ohne dass jedoch die philosophische Grunddimension ganz verschwindet, beweist, dass Horaz die philosophische voluptas auf vielfältige Kontexte anwendet und die semantische Breite des Begriffs dabei voll ausschöpft: Im ersten Epistel-Buch steht die voluptas in engem Zusammenhang mit einer homerischen Figurenalle‐ gorese, die Odysseus als philosophisches Vorbild zeigt, da er mit seiner voluptas richtig umzugehen versteht. Im zweiten Epistel-Buch wird der voluptas-Begriff als wesentliches Element der Dichter- und Theaterwelt auf eine poetologische Ebene gebracht: Während der Theaterdichter im ersten Brief die Dekadenz des Publikums beklagt, die vor allem in einer überbordenden Schaulust (visuelle voluptas) zum Ausdruck kommt, wünscht sich der unfreiwillig geheilte Argeier im zweiten Brief sehnlichst in den Zustand seiner Halluzination zurück (extorta voluptas). Neben dieser allegorischen und poetologischen Funktion in den Episteln erscheint die voluptas in den Satiren zum einen in einem gesellschafts‐ kritischen (Einteilung der römischen Gesellschaft in Stereotype) und vor allem erotischen Kontext (frivole Sexualanleitung), zum anderen in der sogenannten ‚Bauernphilosophie‘ des Ofellus, die einen starken Bezug zum epikureischen voluptas-Konzept erkennen lässt (satirische Übertragung von virtus, voluptas und vivere parvo auf den landwirtschaftlichen Kontext). Theologische und thanatologische Elemente sind dagegen in erster Linie in den Oden zu finden: Dort werden Götter und Tod natürlich schon aufgrund der mythologischen Konvention und der poetischen Gattungstradition zum Thema gemacht, doch bei Horaz werden sie darüber hinaus in den Dienst moralphilosophischer Aussagen bzw. Sentenzen gestellt. In den meisten Oden, in denen Götter eine zentrale Funktion haben (z. B. beim Götterhymnus), ist ein explizit philosophisches Gedankengut nicht erkennbar. Epikureische Philosopheme lassen sich überhaupt nur mit dem Inhalt sehr weniger Gedichte, die auch theologische Elemente bzw. agierende Götter aufweisen, in Einklang bringen (carm. 1, 34; 3, 1; 3, 29); dort aber kommt der Einfluss epikureischer Philosophie umso mehr zur Geltung. Um diesen Eindruck zu bestätigen, wurden drei Oden besprochen, in denen Götter bzw. Personifikationen abstrakter philosophischer Termini wie necessitas und fortuna einen aktiven Part einnehmen: In der sogenannten ‚Konversionsode‘ 1, 34 fungiert Jupiters Blitz aus heiterem Himmel als göttlicher Impuls für eine Reflexion des lyrischen Ichs über seine Ehrfurcht vor den
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Göttern, die es in der Vergangenheit nur selten praktiziert hat. Die Erkenntnis der eigenen insaniens sapientia führt zu einer inneren Umkehr hin zu einem ehrfürchtigen Verhalten, das fortan vom Glauben an die göttliche Wirkmacht gestützt wird. In der Eröffnungsode des dritten Buchs steht die Bewältigung von Zukunftsängsten durch einen schlichten Lebensstil im Vordergrund: Diese Zukunftsängste werden an der menschlichen Ohnmacht gegenüber Jupiter und Necessitas veranschaulicht. Diesen Ängsten, die aus einer übersteigerten Götterfurcht entstehen, kann der Mensch jedoch entgegenwirken, wenn er sich möglichst unangreifbar für mögliche Schicksalsschläge machen kann: Dies ge‐ lingt am besten durch eine autarke Lebensweise, wie sie auch Epikur empfiehlt (v. a. Epik. sent. Vat. 36; 44 f.; 77). In carm. 3, 29, das anstelle von städtischem Lärm und Prunk ländliche Ruhe für ein glückliches Leben vorsieht, wird dem prudens deus eine komplexe Funktion zuteil: Einer von mehreren epikureisch ‚gefärbten‘ Lebensratschlägen in dieser Ode ist die bestmögliche Vermeidung von nicht erfüllbaren Erwartungen an die Zukunft (v. a. Epik. Men. 127; sent. rat. 13; sent. Vat. 55; 75). Diese Empfehlung wird mit Hilfe des prudens deus erklärt, der dem Menschen den Blick in die Zukunft verwehrt hat, sodass etwaige Zukunftssorgen unnötig sind. Dieser Gott lässt allerdings keine Fürsorge für den Menschen erkennen, da er als amüsierter Beobachter des menschlichen (Fehl-)Verhaltens aus der Ferne inszeniert wird. Somit widerspricht die Ein‐ bindung des prudens deus der epikureischen Theologie nicht von Grund auf, zumal sie gerade die Lächerlichkeit irrationaler Ängste aufzeigen soll. Darüber hinaus ist die Fortuna-Motivik ein gemeinsames Element aller drei Oden, das vor allem die Vorteile eines schlichten und autarken Lebensstils als hilfreiches ‚Gegenmittel‘ deutlich macht, um den Unwägbarkeiten des Lebens wirksam vorzubeugen und die eigenen Zukunftsängste auf ein Minimum reduzieren zu können. Die Analyse weiterer Oden, in denen der Tod sehr präsent ist, hat einen hohen Grad an Übereinstimmung zwischen horazischen ‚Todestopoi‘ und dem epikureischen Umgang mit dem Tod sichtbar gemacht. Bei den hier behandelten Oden, in denen sich epikureischer Einfluss nachweislich bemerkbar macht, sind folgende Überschneidungen deutlich geworden: Aufforderung zum unmittel‐ baren Lebensgenuss (carm. 2, 3; 2, 14; 2, 16); Betonung der eigenen Sterblichkeit (carm. 1, 24; 1, 28; 2, 14; 2, 16; 4, 7); hoher Stellenwert von innerer Gelassenheit bzw. otium (carm. 2, 3; 2, 16); geringe Bedeutung von Macht und Reichtum für ein glückliches Leben (carm. 2, 3; 2, 14; 2, 16; 4, 7). Auch das formelhafte Lebensideal des λάθε βιώσας wird bei Horaz in seiner epikureischen Grundbedeutung intensiv umgesetzt. Wie schon bei der voluptas-Rezeption erfolgt dies am deutlichsten in den Episteln und Satiren.
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Für den horazischen Umgang mit dem epikureischen λάθε βιώσας haben sich hauptsächlich zwei Darstellungsstrategien herauskristallisiert: zum einen die kurze, definitionsähnliche Umschreibung des Lebensideals (epist. 1, 17, 9 f.; 1, 18, 103), wobei die lateinische Version dennoch ausführlicher ist als die griechische Formel; zum anderen die Veranschaulichung durch fabellae wie in sat. 2, 6 und in epist. 1, 7. Dabei ist das Prinzip des „Lebens im Verborgenen“ stets in die Motivtradition der Stadt-Land-Kontrastierung eingebettet: Mit Ausnahme der Volteius-Mena-Episode (epist. 1, 7, 46–95) ist dieses Lebensideal in den hier behandelten Werken zwar immer mit dem Landleben verbunden; doch die horazische Offenheit für alternative Lebensszenarien und die Thematisierung entscheidender Einflussfaktoren für ein glückliches Leben (u. a. laetitia und amicitia in epist. 1, 10; eigener animus und passende ars in epist. 1, 14; maßvolle Umsetzung der eigenen Lebensvorstellung in epist. 1, 7) führen einerseits zu einer Relativierung des einseitigen Landlobs und lassen andererseits sichtbar werden, dass die individuelle Qualität des Lebensglücks anerkannt wird. Die zentralen Eindrücke der autorenspezifischen Modellierung epikureisch ‚gefärbter‘ Sprecher lassen sich bis hierher folgendermaßen zusammenfassen: Während die epikureischen Dialogsprecher bei Cicero und Lukrez insgesamt sehr selbstbewusst als orthodoxe Schulanhänger auftreten, wirkt gerade die Sprecher- bzw. Dichter-persona bei Horaz in ihren Empfehlungen, die als eine persönlich-subjektive Haltung ohne Tendenz zu Orthodoxie markiert werden, recht vorsichtig und sogar offen für alternative Lebensweisen, wenn sich diese mit ihrem Wertekonzept in Einklang bringen lassen. Diese konsequente dissimulatio ist sicherlich als integraler Bestandteil und Voraussetzung einer horazischen Vermittlungsstrategie zu sehen, bei der es nicht allein darum geht, eine Unabhängigkeit von Schultraditionen zu demonstrieren, die miteinander konkurrieren und immer wieder kritisch hinterfragt werden, sondern vor allem darum, einen reflektierten Blick auf die (eigene) Lebensrealität anzubieten und zu teilen bzw. mitzuteilen sowie die jeweiligen Adressaten von einem lebens‐ praktischen (statt dogmatischen) Ansatz zu überzeugen. Der kommunizierte Verzicht auf eine klar erkennbare philosophische Doktrin kann dennoch über die unterschiedlich zur Geltung kommenden Einflüsse hellenistischer Schulen nicht hinwegtäuschen. Daher ist es durchaus zulässig, wie in der vorliegenden Studie von einer epikureischen ‚Färbung‘ einzelner Gedichte bzw. personae zu sprechen, wenn es erkennbare intertextuelle Referenzen auf epikureische Prätexte erlauben. So ausgeprägt und gut erkennbar wie bei Horaz ist die Verarbeitung epi‐ kureischen Gedankenguts bei Vergil nicht, wie die Analysen der ersten und fünften Ekloge und ausgewählter Passagen aus den Georgica gezeigt haben. Eine
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epikureische Auslegung der programmatischen Eröffnungsekloge ist aufgrund der zahlreichen Anspielungen auf das lukrezische Epikur-Lob zwar naheliegend und prinzipiell möglich (ethische Allegorese), aber nicht ohne Probleme auf eine bestimmte Figur anwendbar. Die Hypothese eines epikureischen Grundcharak‐ ters dieser Ekloge erwächst also nicht aus der Darstellung einer einzelnen Figur, sondern allenfalls aus der Kontrastierung unterschiedlicher Lebensmodelle bzw. -situationen und aus dem jeweiligen Umgang mit dieser Situation. Auch die fünfte Ekloge ist durch den Kontrast geprägt, der sich in diesem Fall auf den unterschiedlichen Liedinhalt der beiden Hirten Mopsus und Menalcas bezieht, wobei der Daphnis-Mythos den gemeinsamen thematischen Rahmen bildet. Ungleich deutlicher als in der ersten Ekloge enthält gerade der bukolische Gesang des Menalcas nicht nur zahlreiche lukrezische Formulierungen und Motive, sondern auch ein epikureisch ‚gefärbtes‘ Götterideal: Dies zeigt sich besonders an der alacris voluptas und den otia, die als Wirkprinzipien von der Daphnis-Apotheose ausgehen und Daphnis nicht nur als ruhmreichen ‚Helden‘ der Hirtenbukolik, sondern auch als wirkmächtigen Schutzgott nach seinem Tod zeigen. Damit kommt dem Lied des Menalcas als Vergil-Spezifikum zum einen eine konsolatorisch-therapeutische, zum anderen sogar eine idealisierende Funktion zu, die eine Weiterentwicklung der theokritischen Daphnis-Figur erkennen lässt. Diese idealisierende Funktion wird auch in den Georgica deutlich, dort sogar in zweifacher Hinsicht: Am Ende von Buch II ist das Leben des glücklichen Bauern (fortunatus agricola) offensichtlich als Parallele zum Glück, das der epikureische Weise erreichen kann, gestaltet: Das praktisch erworbene Wissen über die Natur ist gleichwertig mit dem in wissenschaftlich-philosophischen Studien erworbenen Wissen, wenn sich daraus dieselbe Erkenntnis für die eigene Lebensführung ergibt, dass man mit bescheidenen Mitteln angstfrei und glücklich sein kann. Zu Beginn von Buch IV steht die Episode des Corycius senex als exemplum eines Gärtner- und Lebensideals, das an den μακαρισμός des fortunatus agricola anknüpft. Der alte Mann, der als Einzelgänger trotz widriger Lebens- und Arbeitsumstände erfolgreich seinen Lebensunterhalt verdient und dabei eine große Zufriedenheit an den Tag legt (Individualismus), ist komplementär zum ‚Bienenstaat‘ zu lesen, der vor allem in Verg. georg. 4, 219–227 beschrieben wird (Kollektivismus). Es handelt sich geradezu um eine fruchtbare Symbiose von Greis und Bienen, die über den Garten als gemeinsame Wirkungsstätte entsteht. Wenn man Horaz und Vergil auf Basis dieser Beobachtungen in ihrem Um‐ gang mit epikureischen Philosophemen vergleicht, kommt man zu folgendem Ergebnis: Beide Dichter scheinen durch die mehr oder weniger explizite Ein‐
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bindung epikureischen Gedankenguts darauf hinzuarbeiten, dass das damit verbundene Lebenskonzept eine legitime Alternative zu anderen angesehenen Lebensentwürfen ist. Im Unterschied zu Cicero, bei dem der Kepos-Anhänger jeweils den dialektischen Widerpart zur Stoa einnimmt oder als Scheinepikureer moralisch suspekt dargestellt werden kann, wird das epikureische Lebensideal aber so präsentiert, dass eine Kontrastierung mit etablierten Wertevorstellungen aufgehoben und stattdessen die Kompatibilität betont wird. Das bedeutet nichts weniger, als dass beide Dichter mit der epikureischen Ausrichtung zentraler Passagen in ihren Werken darauf hinwirken, die epikureische Philosophie als Grundlage einer Lebenshaltung insbesondere mit römischen Wertevorstel‐ lungen vereinbar zu machen. Anders als Cicero, Horaz und Vergil werden die Epiker Silius Italicus und Statius weitaus weniger für eine Untersuchung philosophischer Inhalte und Motive herangezogen, obwohl sie sich in ihren Werken ausführlich mit dem Thema der Lebenswahl auseinandersetzen. Silius Italicus verbindet den Konflikt entgegengesetzter Lebenswege in seinem Kriegsepos mit den philosophisch aufgeladenen Begriffskonzepten von virtus und voluptas, die bei ihm zu gött‐ lichen Leitprinzipien personifiziert werden. Unter Einbeziehung von Scipio als heroischer Gestalt reiht sich Silius Italicus mit dem rhetorischen Agon zwischen Virtus und Voluptas in die antike Tradition der ‚Scheidewegsszenen‘ ein und führt diese in einen philosophischen Kontext. Die Thebais des Statius ist dagegen nicht nur vom Konflikt zweier Brüder geprägt, sondern auch von der internen Auseinandersetzung zwischen Amphiaraus und Capaneus auf Seiten der Argiver (Buch III). Obwohl die ‚Kriegsphilosophie‘ des Götterverächters Capaneus vereinzelt Spuren epikureischen Gedankenguts aufweist (v. a. die Ablehnung der Furcht vor den Göttern), erklären sich seine Charakterisierung und seine Verhaltensweise bei Statius nachweislich durch seine Darstellung in der griechischen Tragödie (Aischylos und Euripides). Gerade die verbalen Duelle zwischen Virtus und Voluptas bzw. zwischen Amphiaraus und Capaneus zeigen jedoch, dass die deutliche Kontrastierung der Konzepte stoisch-epikureisch als Weltanschauungen mit unvereinbaren Gegensätzen auch in der Figurentypik des nachvergilischen Epos prinzipiell aufrechterhalten werden. In den Silven des Statius, die entsprechend ihrer mutmaßlichen Entstehungs‐ zeit am Ende des Hauptteils näher betrachtet wurden, werden schließlich mit Manilius Vopiscus (silv. 1, 3) und Pollius Felix (silv. 2, 2) zwei Villenbesitzer in ihrem Charakter und in ihrer Lebensführung explizit als Epikureer markiert. In diesen beiden Gedichten vereinigt Statius nicht nur Ekphrasis und Enkomion, sondern verleiht dem Epikureismus der beiden Villenbesitzer insbesondere durch die Beschreibung des Ortes und des Gebäudes Ausdruck. Der Wohlstand,
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der an diesem Ort zur Schau gestellt wird und bei der Besichtigung des Anwesens zur Geltung kommt, ist ebenso als symbolischer Ausdruck der beispielhaften Lebenseinstellung seiner Bewohner und damit ihrer ethischen Erhabenheit aufzufassen, sodass er nicht im Widerspruch zu epikureischen Grundsätzen steht. Wiederum erscheint die voluptas als göttliche Schutzmacht, die Bewohner und Besucher gleichermaßen erfasst. Neben der mira quies, die von der natürlichen Umgebung beider Anwesen ausgeht und die innere Ausgeglichenheit der Villenbesitzer widerspiegelt, gehört zu den epikureischen Wesenszügen der Bewohner eine moralische Integrität und ein otium, das eine rege wissenschaftliche Selbstbeschäftigung und eine große literarische Produktivität mit sich bringt. Das positive Bild des epikureischen Lebenskonzepts in den Silven kommt im Gegensatz zum Epos dadurch zustande, dass die voluptas und die epikureische Ethik insgesamt in den Villengedichten als salonfähiges Lebensmodell präsen‐ tiert wird, das sich mit den Wertevorstellungen der frühen Kaiserzeit in Einklang bringen lässt. Ferner wird dieses Lebensmodell mit enkomiastischen Elementen angereichert und dadurch zu einem erstrebenswerten Ideal erhoben. Statius knüpft dieses Lebensideal zusätzlich an einen locus amoenus und bringt dessen ethische Überlegenheit auch durch die Ästhetik von Natur und Architektur zum Ausdruck. Daher wird das epikureische Lebenskonzept auch nicht – etwa in Form eines rhetorischen Agons wie in den Punica und in der Thebais – vor dem Hintergrund einer kriegerischen Auseinandersetzung mit anderen Lebens‐ formen kontrastiert, sondern in einer Art Idyll geradezu als konkurrenzloses Lebensideal präsentiert, das eine Diskussion über alternative Lebensformen überflüssig macht. Auch über die hier behandelten Autoren hinaus hat sich die rezipierende Beschäftigung mit epikureischem Gedankengut in der Antike fortgesetzt, ob‐ gleich seine Verarbeitung mittels (funktionaler) Figurenmodellierung – mit ganz wenigen Ausnahmen – an Bedeutung verloren zu haben scheint. Eine dieser Ausnahmen bildet Lukian von Samosata,1 der als exemplarischer Ausblick ebenfalls auf die Modellierung epikureischer Figuren untersucht wurde: In Werken wie dem Symposium, dem Iuppiter tragoedus und dem Bis accusatus wird die kontrastierende Gegenüberstellung der Epikureer gegen Stoiker, wie sie insbesondere in Ciceros philosophischen Dialogen angelegt ist, von Lukian in einem satirischen Kontext eingesetzt, um sie parodistisch umzukehren. Damit wird indirekt natürlich zugleich die nach römischen Maßstäben übliche
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Zu Lukians Ausnahmestellung aufgrund seiner Epikur-Rezeption siehe u. a. Timpe (2000) 43 f.; 50–52.
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Präferenz für die stoische Lehre, die auch in Ciceros Dialogen oder in anderen Werken mit antiepikureischen Tendenzen zur Geltung kommt, pervertiert. Gerade in der römischen Dichtung nimmt die (nachweisbare) Rezeption epikureischen Gedankenguts ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. spürbar ab, lediglich Juvenal scheint sich noch in einigen seiner Satiren (insbesondere im vierten und fünften Buch) explizit mit dem epikureischem Lebensideal zu beschäftigen und auf seine Figuren anzuwenden.2 Obwohl mehrere römischen Kaiser im 2. Jahrhundert n. Chr. wie Trajan bzw. seine Gattin Plotina, Hadrian und Marc Aurel offenbar durchaus Sympathien für den Epikureismus zeigten oder zumindest seine Institutionalisierung in Rom förderten,3 hat mit Plutarch in der antiken Literatur eine neue Strömung antiepikureischer Polemik eingesetzt,4 die fortan den Umgang mit Epikur, seiner Lehre und seinen Anhängern bestimmen und in der stark ablehnenden Haltung christlicher Apologeten des 3. und 4. Jahrhunderts ihren Höhepunkt finden sollte.5 Erst mit dem Beginn des italienischen Humanismus bzw. der Renaissance wird der Umgang mit Epikur 2
3 4
Vgl. dazu Gellar-Goad, „Trouble at sea at Juvenal 12, Persius 6 and the proem to Lucretius, De rerum natura 2“, Cambridge Classical Journal 64 (2018) 49–69; Keane, „Philosophy into satire. The program of Juvenal’s fifth book“, AJPh 128.1 (2007) 27– 57; Ferguson (1990) 2286 f.; Highet, „The philosophy of Juvenal“, TAPhA 80 (1949) 254–270; siehe dazu auch Mayer (2005) 157 f.; Uden, The invisible satirist. Juvenal and second-century Rome, Oxford/New York 2015. Explizit genannt wird Epikur in Iuv. 13, 122; 14, 319. Vgl. dazu v. a. Timpe (2000) 56 f.; Ferguson (1990) 2285; 2287 f.; 2294; 2302; Schmidt (1989) 207. Hierfür sind in erster Linie die drei antiepikureischen Schriften Adversus Colotem, Non posse suaviter vivi secundum Epicurum und De latenter vivendo zu berücksichtigen, die zu Plutarchs Moralia zählen. Zu Plutarchs Umgang mit dem Epikureismus siehe u. a. Corti, L’Adversus Colotem di Plutarco. Storia di una polemica filosofica, Leuven 2014; Nickels Einführungen in: Plutarch, „So nicht, Epikur!“ Drei Schriften gegen Epikur aus den Moralia, übers. und hrsg. von Rainer Nickel, Berlin 2011; Kechagia, Plutarch against Colotes. A lesson in history and philosophy, Oxford 2011; Erler (2009) 50 f.; Boulogne, Plutarque dans le miroir d’Épicure. Analyse d’une critique systématique de l'épicurisme, Villeneuve-d’Ascq 2003; Morford (2002) 127 f.; Timpe (2000) 60 f.; Berner (2000) 117–139; Gallo, „La polemica antiepicurea nel De latenter vivendo di Plutarco. Osservazioni e note esegetiche“; in: Gabriele Giannantoni/Marcello Gigante (Hrsg.), Epicureismo greco e romano. Atti del congresso internazionale. Napoli, 19–26 maggio 1993, vol. 2, Neapel 1996, 929–937; Hershbell, „Plutarch and epicureanism“; in: Wolfgang Haase/Hildegard Temporini, Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2.36.5, Philosophie, Wissenschaften, Technik. Philosophie (Einzelne Autoren, Doxographica), Berlin/New York 1992, 3353–3383; Barigazzi, Una declamazione di Plutarco contro Epicuro. Il De latenter vivendo, Prometheus 16 (1990) 45–64; Ferguson (1990) 2286; Schmidt (1989) 207 f.; Seel, „Zu Plutarchs Schrift De latenter vivendo“; in: Rudolf Hanslik/ Albin Lesky/Hans Schwabl (Hrsg.), Antidosis. Festschrift für Walther Kraus zum 70. Geburtstag, Wien 1972, 357–380.
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und seiner Philosophie wieder differenzierter, sodass der polemische Grundton spätantiker Autoren zumindest teilweise reduziert wird.6
5 6
Vgl. dazu die überblickshaften Ausführungen bei Erler (2009) 59–64; Morford (2002) 128; Kimmich (1993) 60–67; Ferguson (1990) 2298–2321; Schmidt (1989) 207–210. Vgl. dazu v. a. Kimmich (1993) 67–88; Schmidt (1989) 210–213; Garin, „Ricerche sull’epi‐ cureismo del Quattrocento“; in: Epicurea in memoriam Hectoris Bignone. Miscellanea philologica, Genua 1959, 217–237; Allen, „The rehabilitation of Epicurus and his theory of pleasure in the early Renaissance“, SPh 41 (1944) 1–15.
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Register Acc. trag. 142 f. Ribbeck3 111 trag. 169 f. Ribbeck3 111 Aeschyl. Sept. 422–436 359 Antiph. fr. 202 Kassel/Austin 60 Archil. fr. 13 West, 1f. 326 fr. 13 West, 5–7 326 Athen. 3, 101 f 48 3, 102 a–103 b = Damox. fr. 2 Kassel/ Austin 56 3, 103 b–c 57 3, 103 b–e = Bat. fr. 5 Kassel/Austin 59 3, 103 e–104a = Antiph. fr. 202 Kassel/ Austin 63 7, 278 f 64 7, 279 c–d = Bat. fr. 3 Kassel/Austin 66 7, 279 d = Heges. fr. 2 Kassel/Austin 67 Bat. fr. 3 Kassel/Austin 65 fr. 5 Kassel/Austin, 1–4 56 fr. 3 Kassel/Austin 4 33 fr. 5 Kassel/Austin, 5–10 57 fr. 5 Kassel/Austin 7 33 fr. 5 Kassel/Austin, 13–19 58 Cic. ac. 2, 19 257 ac. 2, 45 258 ac. 2, 142 254 ad Q. fr. 2, 16 128 Brut. 131 113 Cato 43 24
de orat. 3, 78 249, 263 div. 1, 131 98, 101 div. 1, 132 92, 94 div. 2, 104 93 fat. 38 126 fin. 1, 6 156 fin. 1, 13 156 fin. 1, 14 157 f. fin. 1, 25 159 fin. 1, 28 159 fin. 1, 30 161 fin. 1, 31 160 fin. 1, 37 164 fin. 1, 38 165 fin. 2, 3 162 fin. 2, 8 162 fin. 2, 12 167 fin. 2, 17 165, 172 fin. 2, 18 172 fin. 2, 20 354 fin. 2, 21 166 fin. 2, 56 218 fin. 2, 62 168 fin. 2, 69 232 fin. 2, 76f. 167 fin. 2, 102 354 fin. 2, 119 168 f., 236 fin. 3, 1 169 fin. 3, 2f. 170 fin. 3, 3 171 leg. agr. 2, 13 130 nat. deor. 1, 1 247 nat. deor. 1, 1f. 247 nat. deor. 1, 3 248 nat. deor. 1, 10 248
Register
nat. deor. 1, 18 166, 249, 252 nat. deor. 1, 22 252 nat. deor. 1, 24 252 nat. deor. 1, 42 253 nat. deor. 1, 43 253, 259 nat. deor. 1, 45 260 nat. deor. 1, 46 259 nat. deor. 1, 47 259 nat. deor. 1, 49 258 nat. deor. 1, 56 13, 261 f. nat. deor. 1, 58 262 nat. deor. 1, 59 263 nat. deor. 2, 1 264 nat. deor. 3, 2 265 nat. deor. 3, 4 265 nat. deor. 3, 79 91 nat. deor. 3, 95 266 off. 1, 12, 1 405 off. 1, 107–121 18 off. 1, 118 235, 424 p. red. in sen. 10 117, 128 p. red. in sen. 13 130 p. red. in sen. 13f. 118 p. red. in sen. 14 121 p. red. in sen. 15 122 f. Pis. 1 143 Pis. 42 143 f. Pis. 53 144 Pis. 55 144 Pis. 56 145 Pis. 57 145 Pis. 58 145 Pis. 59 146 Pis. 60 147 Pis. 61 147 Pis. 62 147 Pis. 63 147 Pis. 65 148 Pis. 66 148
507
Pis. 67 148 Pis. 68 33, 149 Pis. 69 33 Pis. 69f. 149 Pis. 70 33, 150 f. Pis. 71f. 151 prov. 2 140 prov. 3 140 prov. 7 140 prov. 8 140 prov. 12 140 prov. 13 140 prov. 14 140 rep. 3, 6 237 Sest. 17 128 Sest. 19 128, 130 f. Sest. 21 131 Sest. 22 132 Sest. 23 133 Sest. 24 135, 137 Tusc. 5, 97 192 Damox. fr. 2 Kassel/Austin, 1–4 49 fr. 2 Kassel/Austin, 5–16a 51 fr. 2 Kassel/Austin 62 33 fr. 2 Kassel/Austin, 62–69 55 Enn. ann. 494 f. Skutsch 185 scaen. 316–318 Vahlen = 270 f.; 265 Jocelyn 94 scaen. 319–323 Vahlen = 266–269 Jocelyn 94 Epich. fr. B 17 Diels/Kranz = 258 Kaibel 44 Epik. fr. 8 Usener = Diog. Laert. 10, 119 376 fr. 187 Usener 315 fr. 187 Usener = fr. 131 Arrighetti 292 Her. 42 336 Men. 123 95
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Men. 124 95 Men. 128 187 Men. 130f. 195, 318 Men. 131 163, 196 Men. 132 163 Men. 133 27 Men. 135 219 sent. rat. 2 = sent. Vat. 2 294 sent. rat. 1–4 26 sent. rat. 6 294 sent. rat. 14 375 sent. rat. 17 = sent. Vat. 12 295 sent. Vat. 7 294 sent. Vat. 14 221 sent. Vat. 28 75 sent. Vat. 41 313 sent. Vat. 51 189 sent. Vat. 55 324 sent. Vat. 58 280 sent. Vat. 65 311 sent. Vat. 66 324 sent. Vat. 81 312 Eur. fr. 839 Kannicht 103 fr. 941 Kannicht 103 Suppl. 860–871a 368 Heges. fr. 2 Kassel/Austin 67 Herakl. fr. Diels/Kranz 22 B 78 = Orig. c. Cels. 6, 12 44 22 B 119 = Stob. 4, 40, 23 44 Hes. erg. 287–292 226 Hor. carm. 1, 1, 15–18 310 carm. 1, 3, 10–12 274 carm. 1, 17, 5f. 272 carm. 1, 17, 13f. 272 carm. 1, 28, 14f. 329
Register
carm. 1, 28, 15f. 329 carm. 1, 34, 3–5a 299 carm. 1, 34, 12–14 301 carm. 1, 34, 13–16 302 carm. 2, 3, 27f. 316, 320 carm. 2, 16, 13 398 carm. 2, 16, 13–16 312 carm. 3, 1, 2f. 291 carm. 3, 1, 4 292 carm. 3, 29, 26 282 carm. 3, 29, 30 283 carm. 3, 29, 31f. 284 carm. 3, 29, 32f. 284 carm. 3, 29, 49–52 303 carm. 3, 29, 53–56 287 carm. 3, 29, 57–59 290 carm. 4, 7, 7f. 336 carm. 4, 7, 9–12 335 carm. 4, 7, 30f. 339 epist. 1, 1, 14f. 177 epist. 1, 1, 18 405 epist. 1, 2, 6–26 175 epist. 1, 2, 51–55 176 epist. 1, 2, 55 173 epist. 1, 4, 16 15 epist. 1, 6, 15f. 179 epist. 1, 6, 30 178 epist. 1, 6, 31f. 179 epist. 1, 6, 47 179 epist. 1, 6, 49 179 epist. 1, 6, 56–64 180 epist. 1, 6, 63f. 173 epist. 1, 6, 65f. 181 epist. 1, 7, 14f. 420 epist. 1, 7, 50f. 422 epist. 1, 7, 55–59 422 epist. 1, 7, 83–95 422 epist. 1, 7, 96–98 424 epist. 1, 10, 1–7 414
Register
epist. 1, 10, 8 414 epist. 1, 10, 11 414 epist. 1, 10, 44–50 415 epist. 1, 14, 4f. 418 epist. 1, 14, 10–13 416 epist. 1, 14, 16f. 417 epist. 1, 14, 35 417 epist. 1, 14, 37f. 417 epist. 1, 14, 44 416 epist. 1, 16, 79 306 epist. 1, 17, 3f. 404 epist. 1, 17, 6–10 404 epist. 1, 17, 18 404 epist. 1, 17, 20f. 405 epist. 1, 17, 21f. 405 epist. 1, 17, 35 406 epist. 1, 17, 41f. 406 epist. 1, 18, 1f. 408 epist. 1, 18, 5 408 epist. 1, 18, 9 184, 408, 410 epist. 1, 18, 96–103 409 epist. 2, 1, 132–138 271 epist. 2, 1, 182–188 199 epist. 2, 1, 187f. 173 epist. 2, 2, 65f. 203 epist. 2, 2, 136–140 201 epist. 2, 2, 138–140 173 epist. 2, 2, 141–144 202 epist. 2, 2, 198 203 epist. 2, 2, 213–216 204 epist. 2, 3, 338 173, 198 sat. 1, 2, 4f. 184 sat. 1, 2, 10 184 sat. 1, 2, 12 184 sat. 1, 2, 37–46 185 sat. 1, 2, 39 173 sat. 1, 2, 74–76 188 sat. 1, 2, 78f. 188 sat. 1, 5, 40–42 323
509
sat. 1, 5, 101–103 305 sat. 1, 6, 62f. 406 sat. 2, 2, 1–7a 193 sat. 2, 2, 19f. 173, 194 sat. 2, 2, 20f. 195 sat. 2, 2, 35 195 sat. 2, 2, 38 195 sat. 2, 2, 52 193 sat. 2, 6, 1–5 412 sat. 2, 6, 16 412 Kall. fr. 400 Pfeiffer 273 Lact. Plac. ad Theb. 3, 659f. 365 Liv. 26, 18, 5 215 26, 19, 3f. 216 Lucian. Alex. 61 446 Bis acc. 20 455 Bis acc. 21 456 Bis acc. 22 457 Iupp. trag. 4 451 Symp. 28 448 Symp. 34f. 449 Symp. 37 449 Symp. 47 450 Lucr. 1, 1f. 208, 429 1, 72–74 330 1, 945 292 2, 1–4 310 2, 20f. 296 2, 37–39 297 2, 47–54 297 2, 327f. 351 2, 991–1001 105 3, 47 377 3, 50 377
510
3, 59 377 3, 62f. 377 3, 70f. 377 3, 0045 377 4, 1058–1072 190 4, 1123f. 187 5, 7–12 385 5, 8 352 5, 82 = 6, 58 305 5, 318–323 107 5, 731–734 338 5, 737–747 336 5, 748–750 338 5, 1006 275 5, 1127f. 377 5, 1226–1235 288 5, 1392f. 348 6, 7f. 352 6, 96–101 301 6, 246–249 301 6, 387–392 365 6, 400–403 301 Men. Epitr. 1078–1099 [720–741] 42, 44 Mimn. fr. 1 West, 1f. 181 Pacuvius fr. 77 Schierl 98 fr. 78 Schierl = 88 Ribbeck3 = 137 D’Anna 102 fr. 79 Schierl = 86 f.; 89 Ribbeck3 = 134– 136 D’Anna 102 fr. 80 Schierl 100 fr. 81 Schierl = 93 Ribbeck3 = 141 D’Anna 102 PHercul. 1005, 5, 8 Angeli 28 Philod. De pietate, col. 49, 9–19 376 Pind. fr. 131 228
Register
Plat. apol. 24 b 57 Plaut. Amph. 633–653 82 Amph. 938–943 84 Merc. 3–8 77 Merc. 53–58 80 Merc. 358b–360 78 Merc. 544–554 80 Merc. 598a–b 77 Merc. 625b–627 77 Trin. 223–232 73 Trin. 270–275 74 Plut. Pyrrhus 20, 6 25 Porph. Hor. comm. ad epist. 1, 6, 63 180 ad sat. 1, 2, 39f. 185 Prop. 4, 11, 1–4 326 Sen. benef. 4, 2 13 dial. 7, 7, 3 238 dial. 7, 7, 4 163 dial. 7, 12, 5 164 dial. 7, 13, 4 164 epist. 8, 8 90 epist. 41, 2 44 Sil. 3, 557f. 209 3, 575–581 209 11, 385–387 211 11, 419 212 11, 422f. 212 15, 10f. 217 15, 20f. 214 15, 26f. 233 15, 46f. 233 f. 15, 46–58 219
Register
15, 48 234 15, 54 234 15, 57 234 15, 59f. 225 15, 63–67 221 15, 104 223 15, 124–127 223 Stat. silv. 1 praef. 23–26 428 silv. 1, 3, 1–6 428 silv. 1, 3, 90–98 430 silv. 2, 2, 3 433 silv. 2, 2, 6–12 433 silv. 2, 2, 9f. 433 silv. 2, 2, 13 433 silv. 2, 2, 13–35 434 silv. 2, 2, 29 435 silv. 2, 2, 33 435 silv. 2, 2, 44f. 435 silv. 2, 2, 71f. 436 silv. 2, 2, 73f. 436 silv. 2, 2, 107–115 437 silv. 2, 2, 121–129a 438 silv. 2, 2, 131f. 438 silv. 2, 2, 141f. 438 silv. 2, 2, 143–155 439 silv. 3 praef. 1–7 434 Theb. 3, 598–618 362 Theb. 3, 661 364 Theb. 8, 744 365 Theb. 10, 837–852 366 test. 6 Körte/Thierfelder = Strab. 14, 638 40 Val. Max. 4, 3, 6 24 Verg. Aen. 1, 403 232
511
Aen. 2, 772f. 219 Aen. 6, 179a 34 Aen. 7, 647f. 360 Aen. 8, 7 360 Aen. 10, 773f. 363 catal. 5, 8f. 301 catal. 5, 8–10 382 catal. 8, 1f. 382 ecl. 1, 1 383 ecl. 1, 1–5 384 ecl. 1, 6 350, 383 f. ecl. 1, 40–45 390 ecl. 1, 46–58 387 ecl. 1, 79–83 387 ecl. 5, 52 348 ecl. 5, 56–61 349 ecl. 5, 62–64 351 ecl. 5, 65–80 353 georg. 2, 458–474 393 georg. 2. 490–502 395 georg. 4, 6 399 georg. 4, 125–146 398 georg. 4, 563–566 383 Xen. mem. 2, 1, 20 226 mem. 2, 1, 22 232 mem. 2, 1, 23 233 f. mem. 2, 1, 24 233 f. mem. 2, 1, 27 229 mem. 2, 1, 28 229 mem. 2, 1, 29 229 mem. 2, 1, 31 229 Zen. fr. 216 SVF 238
Classica Monacensia Münchener Studien zur Klassischen Philologie herausgegeben von Martin Hose und Claudia Wiener Die Classica Monacensia verstehen sich als Präsentationsforum für aktuelle Ergebnisse von Forschungsprojekten zur antiken Literatur, die an der LMU München entstanden sind. Seit mehr als 25 Jahren erscheinen in der Reihe Monographien, kommentierte Textausgaben und Sammelbände aus Themenbereichen der Griechischen und Römischen Antike. Der Schwerpunkt liegt dabei auf literaturwissenschaftlicher Forschung in Verbindung mit historischen und philosophischen Fragestellungen. Bisher sind erschienen: Band 28 Christian Zgoll Phänomenologie der Metamorphose Verwandlungen und Verwandtes in der augusteischen Dichtung 2004, 405 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6025-4
Band 32 Gunther Martin Dexipp von Athen Edition, Übersetzung und begleitende Studien 2006, XII, 287 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6242-5
Band 29 Hellmut Flashar Spectra Kleine Schriften zu Drama, Philosophie und Antikerezeption 2004, 348 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6118-3
Band 33 Patrizia Marzillo Der Kommentar des Proklos zu Hesiods „Werken und Tagen“ Edition, Übersetzung und Erläuterung der Fragmente 2010, LXXXVIII, 458 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6353-8
Band 30 Niklas Holzberg (Hrsg.) Die Appendix Vergiliana Pseudepigraphen im literarischen Kontext 2005, XX, 294 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6202-9 Band 31 Regina Höschele Verückt nach Frauen Der Epigrammatiker Rufin 2005, XII, 156 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6205-0
Band 34 Helmut Löffler Fehlentscheidungen bei Herodot 2008, X, 242 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6381-1 Band 35 Gregor von Nazianz Über Vorsehung Περὶ Προνοίας Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Andreas Schwab 2009, 142 Seiten €[D] 39,9,00 ISBN 978-3-8233-6418-4
Band 36 Peter Grossardt Achilleus, Coriolan und ihre Weggefährten Ein Plädoyer für eine Behandlung des Achilleus-Zorns aus Sicht der vergleichenden Epenforschung 2009, XII, 159 Seiten €[D] 39,9,00 ISBN 978-3-8233-6483-2 Band 37 Regina Höschele Die blütenlesende Muse Poetik und Textualität antiker Epigrammsammlungen 2010, X, 375 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6552-5 Band 38 Alexander Müller Die Carmina Anacreontea und Anakreon Ein literarisches Generationenverhältnis 2010, VIII, 300 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6575-4 Band 39 Andreas Patzer STUDIA SOCRATICA Zwölf Abhandlungen über den historischen Sokrates 2012, X, 370 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6579-2 Band 40 Maria Gerolemou Bad Women, Mad Women Gender und Wahnsinn in der griechischen Tragödie 2011, X, 442 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-6580-8 Band 41 Karin Mayet Chrysipps Logik in Ciceros philosophischen Schriften 2010, 340 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6581-5
Band 42 Nikolaos Vakonakis Das griechische Drama auf dem Weg nach Byzanz Der euripideische Cento Christos Paschon 2011, 184 Seiten €[D] 48,00 ISBN 978-3-8233-6582-2 Band 43 Evanthia Tsigkana Studien zu Euripides’ Elektra Das Motiv der Erwartung im griechischen Drama 2012, 320 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-6724-6 Band 44 Margot Neger Martials Dichtergedichte Das Epigramm als Medium der poetischen Selbstreflexion 2012, 392 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6759-8 Band 45 Isabella Wiegand Neque libere neque vere Die Literatur unter Tiberius und der Diskurs der res publica continua 2013, XIV, 362 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6811-3 Band 46 Sophia Bönisch-Meyer/Lisa Cordes/ Verena Schulz/Anne Wolsfeld/Martin Ziegert (Hrsg.) Nero und Domitian Mediale Diskurse der Herrscherrepräsentation im Vergleich 2014, VIII, 485 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6813-7 Band 47 Fabian Horn Held und Heldentum bei Homer Das homerische Heldenkonzept und seine poetische Verwendung 2014, IV, 388 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6837-3
Band 48 Jan-Markus Pinjuh Platons Hippias Minor Übersetzung und Kommentar 2014, 264 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-8233-6849-6 Band 49 Olga Chernyakhovskaya Sokrates bei Xenophon Moral – Politik – Religion 2014, XII, 279 Seiten €[D] 58,00 ISBN 978-3-8233-6863-2 Band 50 Lukians Apologie Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Markus Hafner 2017, 159 Seiten €[D] 38,00 ISBN 978-3-8233-8071-9 Band 51 Manuel Caballero González Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur 2017, 628 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-6991-2 Band 52 Philipp Weiß Homer und Vergil im Vergleich Ein Paradigma antiker Literaturkritik und seine Ästhetik 2017, 392 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8110-5 Band 53 Andreas Patzer Von Hesiod bis Thomas Mann Dreizehn Abhandlungen zur Literaturund Philosophiegeschichte 2018, 245 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8190-7
Band 54 Vicente Flores Militello tali dignus amico Die Darstellung des patronus-cliensVerhältnisses bei Horaz, Martial und Juvenal 2019, 366 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8296-6 Band 55 Alexander Schütze, Andreas Schwab (eds.) Herodotean Soundings The Cambyses Logos 2023, 434 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8329-1 Band 56 Margot Neger Epistolare Narrationen Studien zur Erzähltechnik des jüngeren Plinius 2021, 448 Seiten €[D] 88,00 ISBN 978-3-8233-8345-1 Band 57 Alexander Sigl Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur 2023, 511 Seiten €[D] 98,00 ISBN 978-3-8233-8503-5 Band 58 Maria Anna Oberlinner Intertextualität und Parodie in Ovids Remedia amoris 2023, 285 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-8233-8526-4 Band 59 Cagla Umsu-Seifert Olympiodors Kommentar zu Platons Alkibiades Untersuchung, Text, Übersetzung und Erläuterungen 2023, 690 Seiten €[D] 118,00 ISBN 978-3-8233-8590-5
Alexander Sigl
www.narr.de
Die Modellierung epikureischer personae
Der Epikureismus gehört zweifellos zu einer der umstrittensten Philosophenschulen in der Antike. Seine Lebensmaximen, die sich um Begriffe wie „Lust“, „Seelenruhe“ und ein „Leben im Verborgenen“ drehen, wurden schon in der antiken Literatur ganz unterschiedlich rezipiert und oftmals sehr kritisch beurteilt. Eine zentrale Gestaltungstechnik, die bei der Rezeption epikureischen Gedankenguts bisher noch nicht systematisch untersucht wurde, stellt die autorenspezifische Inszenierung entsprechender Figuren in der römischen Literatur dar. Neben den philosophischen Dialogen Ciceros bildet die römische Dichtung im 1. Jhd. v. Chr. und im 1. Jhd. n. Chr. mit einer thematisch geordneten Textauswahl von Vergil, Horaz, Silius Italicus und Statius den Schwerpunkt dieser Arbeit. Sie richtet sich an Interessierte und Kenner:innen der antiken Literatur und Philosophie.
ISBN 978-3-8233-8503-5
Die Modellierung epikureischer personae in der römischen Literatur
von Alexander Sigl