159 35 28MB
German Pages 396 [408] Year 1935
DIE MENSCHLICHE GESELLSCHAFT IN IHREN ETHNO-SOZIOLOGISCHEN GRUNDLAGEN
VON
RICHARD THURNWALD PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT BERLIN EHRENMITGLIED DES K. ANTHROPOLOGISCHEN INSTITUTS IN LONDON
VIERTER BAND
WERDEN, WANDEL UND GESTALTUNG VON STAAT UND KULTUR IM LICHTE DER VÖLKERFORSCHUNG
MIT 6 TAFELN
BERLIN UND LEIPZIG 1935
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHEVERLAGSHANDLUNG—J.GUTTENTAG,VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.
WERDEN, WANDEL UND GESTALTUNG VON STAAT UND KULTUR IM LICHTE DER VÖLKERFORSCHUNG
VON
RICHARD THURNWALD
MIT 6 TAFELN
BERLIN UND LEIPZIG 1935
WALTER
DE GRUYTER
& CO.
VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG— J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.
INHALTSÜBERSICHT ÜBER DAS GESAMTWERK Erster Band: Repräsentative Lebensbilder I. Wildbeuter — II. Pfleger von Pflanzen und Tieren: A. Die Pfleger der Pflanzen (Feldbauer) — B. Die Pfleger von Vieh und die Hirten. Zweiter Band: Familie. I. Die Verzahnung von Geschlecht und Alter — II. Die Stellung der Frau — III. Die Verbindung von Mann und Frau — IV. Die Heirat — V. Sexuelle Sitten — VI. Das Problem der Heiratsordnung — VII. Verwandtschaft — VIII. Künstliche Verwandtschaft — IX. Das Mutterrecht — X. Das Vaterrecht — XI. Das Kind — XII. Der Altersablauf. — XIII. Die Bünde. Dritter Band: Wirtschaft. I. Die Wirtschaft (Die sozialpsychische Verflochtenheit der Wirtschaft — Methoden der Nahnmgswirtschaft und der Organisation) — II. Die Wirtschaftsfunktionen. Vierter Band: Werden, Wandel und Gestaltung von Staat und Kultur. A) Gesellungsformen und ihr Wandel. I. Soziale Gestaltungen — II. Kräfte der Vergesellung im Männerverband — III. Das Funktionieren egalitärer Verbände — IV. Politische Gefüge — V. Führerschaft. — VI. Staatsbildung — VII. Kampf und Friede — VIII. Sklaverei — B) Kultur, Zivilisation und Gesellschaft. I. Siedlung — II. Wirtschaftshorizont, politische Gefüge und Familiengestaltung — III. Extremformen und Sondergestaltungen — IV. Die Persönlichkeit in der Gesellschaft — V. Fortschritt und Zyklus — VI. Entwicklung, Rückstand, Variation und Ablauf — VII. Das Spiel der Kräfte, Gestaltung und Lebensprozeß von Gesellung und Zivilisation. Fünfter Band: Recht. I. Grundzüge des primitiven Rechtes — II. Das öffentliche Recht — III. Sachenrecht — IV. Verbindlichkeiten — V. Der Erbgang — VI. Die Missetat und ihre Bestrafung — VII. Der Rechtsstreit — VIII. Die Bedeutung der Herrschaft für das Recht und die „Gerechtigkeit".
Copyright 1935 by Walter de Gruyter & Co. vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp. Berlin und Leipzig. Printed in Germany
y
Archiv-Nr. 42 04 35
Druck von J . J . Aagnstio in Glflcketadt and Hambarg
VORWORT Meine abermalige Abwesenheit von Deutschland zwecks einer neuerlichen Forschungsreise nach Neu-Guinea und den Salomo-Inseln machte leider das Lesen der Korrekturbögen unmöglich. E s wurde wie bisher in die bewährten Hände von Herrn Dr. W. E. Mühlmann gelegt. Das Register wurde von Herrn Dr. Richard Schröter, Altona, angefertigt und von Herrn Dr. Mühlmann durchgesehen. Da der Umfang der Einleitung unter den heutigen Umständen auf das knappste gefaßt werden mußte, war es nicht möglich, auf manches so ausführlich einzugehen, wie es wünschenswert schien. Sydney, im Herbst 1933.
INHALT VORWORT V INHALTSVERZEICHNIS VII FACHAUSDRÜCKE XI E I N L E I T U N G (Problematik der Untersuchung) 1 A. Gesellungsformen und ihr Wandel 4 I. Soziale Gestaltungen 4 § 1. Zwei- und eingeschlechtige Verbände 4 § 2. Technik und Gesellschaftsgestaltung 8 § 3. Verbandsbildung auf egalitärer Grundlage 14 23 § 4. Von der Sippe zum Individuum (Schichtung und Staat) § 5. Varianten der Staatsgestaltung 32 36 § 6. Formen der institutionellen Führung (König, Priester) II. Kräfte der Vergesellung im Männerverband 40 § 1. Das Problem der „Sozialen Entwicklung" 40 41 § 2. Der Siedlungsverband § 3. Rivalitäten 43 § 4. Ballungen von Dörfern zu Gruppen 44 46 § 5. Wanderungen und ihre Wirkung § 6. Spezialität von Gruppen 50 52 § 7. Wechselnde Führung § 8. Verzahnung unter sexuellen Einflüssen 53 53 § 9. Männergesellschaft und familiale Gestaltung § 10. Sonderung der Geschlechter 56 56 § 11. Zusammenschluß durch ideelle Kräfte § 12. Vergesellung auf wirtschaftlicher Grundlage 58 § 13. Ineinanderwirken verschiedener vergesellender Kräfte 61 § 14. Soziale Gestaltung und Entwicklung 62 I I I . Das Funktionieren egalitärer Verbände 63 § 1. Horden 64 65 § 2. Banden § 3. Klan 66 Klan und Stammeshalbierung 71 — Der Klan im geschichteten Gemeinwesen; Klanbündnisse 71 — Klan-Agglomeration und Übergangserscheinungen 72. 74 § 4. Sippe Bedeutung und Funktion der Sippe 74 — Die Sippe in der sozialen Struktur 80 — Abspaltungen und Wandlungen 80 — Verfall der Sippe 84 — Auflösung der Sippe 86. § 5. Demokratie 86 IV. Politische Gefüge 89 § 1. Politische Entwicklung 89 Gestaltungstypen 92 — Erscheinungsformen und Gestaltungskräfte 96 — Besiedlung, Ausbreitung, ethnische Gruppe 97 — Gefüge und ihre Beeinflußbarkeit 98 — Ethnische Staffelung, Verdoppelung 100 — Traditionelle Führerschaft, Rat, Königtum 101 — Übergänge vom verwandtschaftlichen zum herrschaftlichen Gefüge: Expansion, Kolonisation, Nationalismus, Imperialismus 103 — Politisches Gefüge im Vergleich zur sozialen und
VIII
Inhaltsverzeichnis wirtschaftlichen Gestaltung 107 — Amalgierung niedriger politischer Formen durch höhere 109 § 2. Schichtung und Staffelung 112 Staffelung bei Wildbeutem 112 — Nebeneinandersiedeln verschiedener Familien und Sippen 113 — Ausgezeichnete Häuptlingsfamilien, insbes. bei Hirten 113 — Hörige und Sklaven 114 — Ausgebautes Rangsystem mit persönlichen Unterschieden 114 — Die Rolle von Besitz und andere Gesichtspunkte 115. 116 § 3. Hörigkeit Hörige Bauern bei Hirten 117 — Hörige aus der Mischlingsschicht 119 — Das Verhältnis der Hörigkeit in Grundeigentum und spezialisierte Tätigkeit 120 — Hörigkeit in Verbindung mit dem Hervortreten wirtschaftlicher Gesichtspunkte 122. § 4. Kastenbildung 126 Ethnisch-politische Konstellationen 126 — Ungleichheiten in einer „homogenen" Gesellschaft 128 — Hirtenadel 128 — Sippenorganisation und geheime Gesellschaften 129 — Auf Abstammung begründete Gliederung, die durch fürstliche Autorität und Wertbesitz zersetzt zu werden beginnt 130 — Feste Verbindung von Staffelung mit Wirtschaftsbau und politischem Gefüge 133 — Auflösungstendenzen von kastenmäßigen Ballungen durch individuelle Besitzunterschiede 134 — Kastenmäßige Isolierung infolge großer ethnischer Spannungen 135.
V. Führerschaft (Häuptling, Fürst, Königl. Despot) § 1. Häuptlingtum Das autoritätslose Häuptlingtum hervorragender Persönlichkeiten 138 — Die Verteilungsgewalt der Hauptlinie 141 — Autoritäres, an Besitz, Kenntnis oder Abstammung geknüpftes Häuptlingtum 143 — Doppelhäuptlinge 147 — Oberhäuptlinge als Folge von ethnischer Schichtung 149. § 2. Der heilige Fürst-Gott Weibliches Häuptlingtum 162 — Helfer 162 — Die Beurteilung des Häuptlingtums 162 § 3. Despotismus VI. Staatsbildung § 1. Der Staat als politische Erscheinungsform § 2. Vorstaatliches Gefüge; ethnische Ballungen § 3. Verhältnis der politischen Gruppen zueinander § 4. Der sakrale Staat mit eigenberechtigten Adelshäuptern § 5. Das sakrale Fürstentum § 6. Der aristokratische Staat und das Lehenssystem Frühformen eines Schutz-gegen-Treue-Verhältnisses 73 — Aristokratische Lehen 174 — Viehlehen und Pacht 176 — Beamtenlehen 177 — Lehen im frühgeschichtlichen Europa 179. § 7. Das Königtum Priestertum 184 — Vasilen und Tribut 186 — Der Beamtenstaat 187 — Hofämter und Hofhaltung 190 — Anhäufung der Bevölkerung und Bedeutung der Wirtschaft 190. VII. Kampf und Friede § 1. Feindschaften Feindschaften innerhalb des Blutracheverbandes 191 — Verhältnismäßige Friedfertigkeit von Wildbeutem 191 — Beilegung von Feindschaften durch angesehene Persönlichkeiten 192 — Feindschaft unter Eheleuten und Schwägern 192 — Bluttaten unter nahen Verwandten 192 — Anlaß zu Feindschaften 193 — Traditionelle Feindschaften 193 — Persönliche Feindschaften 193 — Festungen 193 — Geschützte Häuser 193 — Festungsanlagen kriegerischer Stämme in Afrika 194 — Festungen in Amerika 194.
136 136
156 163 164 164 166 167 169 171 172
182
191 191
Inhaltsverzeichnis
IX
§ 2 . Friede 195 Friedensschluß durch Pantomime 195 — Friede durch Zauberei 196 — Schwierigkeiten des Friedens unter Trägern ungleicher Kulturen 196 — Friedenszeremonien und Degradation 197 — Friedenssymbolik 197. 200 § 3. Friedensgebiet Auf genossenschaftlicher Grundlage 200 — A u f autoritärer Grundlage 200— Friedliche Völker 201 — Friedensideale 201 — Friedensgebiete 202. VIII. Sklaverei § 1. Sklaverei und Hörigkeit § 2. Werden und Vergehen der Sklaverei § 3. Kriegsgefangenschaft § 4. Schulen und Rechtsbruch als Anlaß zur Versklavung § 5. Sklavenhandel § 6. Sklavenjagd § 7. Charakter von Sklaverei und Knechtschaft Gelegentliche Verknechtung ohne feste Tradition 214 — I n der geschichteten oder gestaffelten Gesellschaft, sakrale Gedankengänge; Knechtschaft 216 § 8. Wirtschaftlich-rationelle Versklavung Bei bäuerlicher Kleinwirtschaft 220 — Auf Herrenhöfen 223 — Freilassung 224 — Erschütterung der Institution 225.
202 202 204 207 208 212 214 214
B. Kultur, Zivilisation und Gesellschaft I. Siedlung Die Feuerstelle 227 — Nomadische Wildbeuter 227 — Hirtennomaden 228 — Feldbauer 228 — Rodung und Ortswahl 229 — Hausform und Sicherung 229 — Ethnische Wttrfelung 231 — Ethnische Schichtung 231 — Soziale Staffelung 231 — Niederlassungsformen 232 — Planmäßige Anlage 232 — Bau und Weihe 233 — Benennung 233 — Verlegen und Verlassen 234 — Faktoren der Änderung 236. II. Wirtschaftshorizont, politische Gefuge und Familiengestaltung § 1. Wirtschaftshorizonte § 2. Politisches Gefüge § 3. Familiengestaltung und Verwandtschaft I I I . Extremformen und Sondergestaltungen § 1. Extremformen § 2. Lokaltypen § 3. Eigenheit und Spezialisierung § 4. Mischung § 5. Überlagerung IV. Die Persönlichkeit in der Gesellschaft § 1. Auszeichnung § 2. Auslese § 3. Siebung V. Fortschritt und Zyklus § 1. Anhäufung § 2. Elimination § 3. Die überkommene Substanz § 4. Das Gesellungssystem § 5. Institution und Mensch § 6. Ausspaltung in ethnische, soziale und kulturelle Sphäre § 7. Wechselwirkung zwischen den Sphären und ihre Abgrenzung § 8. Ungleicher Rhythmus der Parallelität § 9. Kultur und Volk § 10. Kulturablauf § 11. Zusammenfassung
227 227
220
236 236 238 244 244 246 249 249 250 251 257 257 261 264 266 266 274 275 277 279 280 281 283 284 286 288
X
Inhaltsverzeichnis
VI. Entwicklung, Rückstand, Variation und Ablauf 290 § 1. Entwicklung 290 § 2. Rückstand 294 295 § 3. Varianten § 4. Organisationsablauf 301 § 5. Störung, Induktion, Kontamination 304 VII. Das Spiel der Kräfte, Gestaltung und Lebensprozeß von Gesellung und Zivilisation 307 307 § 1. Auslese, Siebung, Führung § 2. Die Gestaltung 314 § 3. Der Lebensprozeß von Gesellung und Zivilisation 316 ABKÜRZUNGEN UND L I T E R A T U R V E R Z E I C H N I S 324 REGISTER 357
FACHAUSDRÜCKE. Ethnologie und Soziologie leiden an einem Mangel einheitlicher Terminologie. Jeder Forscher stellt sich beim Gebrauch einer Bezeichnung etwas anderes vor und in den Diskussionen reden die Verfechter verschiedener Ansichten darum oft an einander vorbei. Viele Termini sind überhaupt nicht deutlich umschrieben. Die Erfindung neuer Ausdrücke (z.B. "bride wealth") genügt nicht, wenn damit nicht ein klarer Begriff verbunden ist, der eine neu gesehene Erscheinung oder einen neu erfaßten Vorgang kennzeichnet und von anderen klar unterscheidet. I n diesem Werke 1 ) werden eine Anzahl von Worten in einem bestimmten Sinn gebraucht, der zu einer schärferen Terminologie auf den bearbeiteten Gebieten beitragen soll. Auch weniger übliche Ausdrücke haben in diesem Verzeichnis Aufnahme gefunden. Der Übersicht halber werden diese Ausdrücke in alphabetischer Reihenfolge gebracht. Es empfahl sich, die korrespondierenden englischen Ausdrücke in Klammern hinzuzusetzen. A c k e r b a u , A c k e r b a u e r (plough-agriculture). Darunter wird Bebauung des Bodens mit ausgesäten Samenkörnern, besonders von Halmpflanzen, verstanden, nachdem der Boden mit dem Pflug aufgelockert worden ist. Vor den Pflug ist ein Großtier (Ochse, Büffel, Maulesel, Pferd) gespannt. Dieses Verfahren ermöglicht den Anbau im Großen, die Bestellung von m e h r Feldern mit der gleichen Anzahl von Händen als der Hackbau (s. d.). Der Ackerbau ist Männerarbeit und setzt die Verbindung mit Viehhaltung voraus. Die Männerarbeit wird gerne auf Hörige (s. d.) und Sklaven (s. d.) abgewälzt. Dadurch ist der Anlaß gegeben, Hörige und Sklaven zu erwerben, d. h. Macht über Menschen zu gewinnen, teils durch friedliche Mittel (Magik, Wirtschaft), teils durch gewaltsame Mittel (Krieg, Herrschaftsorganisation). (S. a. Grabstockbau, Hackbau). A r c h a i s c h (archaic). Dieser Ausdruck wird zunächst für die Völker, Kulturen und Gesellschaftsgefüge des alten Orients (Aegypten, Babylonien, Persien, Indien, China etc.) angewendet, sodann auf ähnliche Gestaltungen. Charakteristisch dafür ist eine despotische Verfassung, die auf Unterschiedslosigkeit der ethnischen Herkunft aufgebaut ist, und Privateigentum, auch an Grund und Boden, Handel und Geldwirtschaft ausr gebildet hat (s. paläo-politisch, paläo-sozial). A r i s t o k r a t i s c h (aristocratic). Hiermit wird eine ethnische (s. d.) Schichtung der Gesellschaft gekennzeichnet, d. h. der Umstand, daß eine Anzahl von Familien besonderer Abstammung und Tradition eine Sonderstellung einnehmen, durch die sie leitenden (s. d.) Einfluß ausüben und oft auch wirtschaftliche Vorteile genießen. Dieser „ S t a m m e s a d e l " muß vom „ B e a m t e n a d e l " unterschieden werden, der durch die Gunst von Despoten (s. d.) geschaffen wurde (s. Schichtung, Staffelung). B a n d e (band). Eine dauernd gesellte Zahl von (meist „Wildbeuter") Familien in einem gemeinsamen „ G a u " , mit gemeinsamen Überlieferungen und gleicher Kultur (s. Horde). B a u e r n (peasants). Es empfiehlt sich dieses Wort mit einer gewissen Einschränkung f ü r Leute zu gebrauchen, welche mit der Feldbestellung das Halten von Klein- und Großvieh verbinden, wie dieses der Ackerbau (s. d.) mit sich bringt. B e a m t e (officials). Nicht jede Spezialisierung von Funktionen in einer Gesellschaft kann als Beamtentum bezeichnet werden: der Leiter des Feldbaues, der Magier, der Vortänzer, der Führer im Kampf usw. kann in einer egalitären (s. d.) Gesellschaft als F u n k t i o n ä r , aber nicht als B e a m t e r gelten. Letzterer übt seine Funktion im Namen eines x ) Es handelt sich nicht nur um eine Terminologie des vorliegenden (IV.) Bandes, sondern um eine des Gesamtwerkes.
XII
Fachausdrücke anderen aus. D e r Herold eines Häuptlings ist dessen Beamter. Vielfach wurden solche Ä m t e r durch jüngere Brüder oder andere nächste Verwandte ausgeübt. Bei der Aufrichtung aristokratischer Herrschaft übernahmen Familienhäupter Landstriche, die sie zu Gunsten ihres Sippenführers verwalteten. Die Stärkung der Position dieses Sippenführers (s. Despot) ermöglichte es, Statthalterschaften durch Personen seines Vertrauens z u besetzen. D a m i t wurde der Boden für ein Verwaltungsbeamtentum in archaischen (». d.) Reichen geschaffen. Die persönliche Hofhaltung durch Sklaven und Söhne von Aristokraten (die später anderweitig ersetzt wurden) führte zu einem Hausbeamtentum. Hie und da, wie im alten Aegypten des „neuen Reichs" oder unter den Inka-Herrschern in Peru hatte das Beamtentum fast die gesamte Bevölkerung systematisch organisiert. Seine Bedeutung und Überlegenheit über die aristokratische Verwaltung (die dem Stolz unter den freien Familienhäuptern Rechnung tragen mußte) bestand darin, daß die Siebung (s. d.) für Besetzung der Beamten-Posten prinzipiell die Leistungsfähigkeit im A u g e hatte, zusammen mit der bereiten Unterordnung unter den Despoten. (Tatsächlich wurde die Leistungsfähigkeit der Unterordnungsbereitschaft oft geopfert und verschuldete dadurch Krisen. — S. Aristokratisch, Despot, Lehen).
B e a m t e n a d e l (chartered aristocracy) s. „Aristokratisch". B r a u c h (custom). E s ist wünschenswert die Ausdrücke „ B r a u c h " , „Gewohnheit" und „ S i t t e " gegen einander abzugrenzen. Während „ G e w o h n h e i t * ' sich auf die Übung des Einzelmenschen bezieht, erstreckt sich „ B r a u c h " auf die einer Gesellungseinheit. „Gewohnh e i t " und „ B r a u c h " werden wertfrei gebrauch, aber mit „ S i t t e " verbindet sich, wie noch mehr mit „sittlich", die moralische Billigung des geübten Verhaltens (s. Institution). B r a u t p r e i s (bride price). Dieser Ausdruck bedarf nach zwei Seiten hin einer Klärung. E r muß in einem Sinn verstanden werden, der ein „ K a u f e n " (wie das einer Sklavin oder einer Ware) ausschließt. Andererseits spielen die Sachleistungen bei dem Erwerb der B r a u t oft eine große Rolle, wenn auch keineswegs immer und überall in gleichem Ausmaß. Diese Sachleistungen bilden den „ P r e i s " dafür, daß die künftigen Kinder aus der Ehe der Familie des Vaters anheimfallen und die Arbeitskraft der Frau dem Manne zu Gute kommt. Der Brautpreis setzt sich oft aus einer Reihe von über viele Jahre ausgedehnten Sachleistungen zusammen und findet gewöhnlich nach der Geburt des ersten (oder zweiten) Kindes seinen Abschluß. Während unter mehrpaläo-sozialen (s. d.) Verhältnissen das wirtschaftliche Moment zurücktritt, findet doch wachsend eine rationalistische Entwicklung statt, namentlich dort wo Viehbesitz sozialen Rang verleiht. C l a n s. „ K l a n " . D e m o k r a t i s c h (democratic) s. „egalitär". D e s p o t (despot). Mit diesem W o r t werden Herrscher bezeichnet, die aus der Oberschicht hervorgegangen sind und wesentlich durch eine mehr oder weniger ausgebildete Beamtenorganisation regieren (s. Beamte, Häuptling, Tyrann). E t h n i s c h (ethnic). Darunter wird eine Gruppe von Familien gleicher Abstammung u n d Tradition verstanden. „ R a s s e " (s. d.) bezieht sich nur auf die erbliche und physische Beschaffenheit einer Gesellschaft, „ K u l t u r " (s. d.) nur auf die ausbalancierte überkommene zivilisatorische Ausrüstung. E g a l i t ä r (egalitarian). Dieser Ausdruck wird abwechselnd mit „demokratisch" gebraucht, und dürfte letzterem vorzuziehen sein. A l s egalitär kann eine Gesellschaft angesehen werden, in der weder eine institutionelle Autorität noch andere soziale Unterschiede deutlich vorhanden sind. H ä u f i g sind solche Gesellschaften homogen (s. d.). (S. a. Häuptling, Schichtung, Staffelung). F a m i l i e (family). A l s Familie ist das dauernde arbeitsteilige Zusammenleben von Mann und Frau mit ihren Kindern zu verstehen. D a in manchen Gesellschaften die Verzahnung unter den Geschlechtern verhältnismäßig lose ist und oft auf mehrere Frauen sich erstreckt, so kann man die Verbindung von Mutter und Kindern als engere Einheit, als „ F a m i l i e n k e r n " , auffassen. Dieser k o m m t in der Regel auch äußerlich durch Unterhaltung einer besonderen Feuerstelle oder H ü t t e zum Ausdruck. Eine polygame Ehe enthält mehrere Familienkerne. Die Familie enthält außerdem oft Witwen verstorbener Brüder mit deren Kindern oder andere Verwandte ohne selbständigen familialen An-
Fachausdrucke
XIII
Schluß. So kann sie eine größere Zahl von Personen umschließen und trotzdem noch als „ K l e i n f a m i l i e " gelten. Die „ G r o ß f a m i l i e " unterscheidet sich von ihr dadurch, daß in ihr mehrere Generat onen unter einem gemeinsamen Großvater entweder auf dem gleichen Hof oder sogar unter demselben Dach zusammen leben. Die Familienkerne mit den dazu gehörigen Männern bleiben relativ selbständig. Natürlich können auch hier schutzlose Verwandte angegliedert werden. Von der Sippe (s. d.) unterscheidet sich die Großfamilie dadurch, daß bei ihr alle Mitglieder auf demselben Wohnplatz ansässig sind und die Verwandtschaft der Mitglieder vorwiegend in absteigender Linie vom H a u p t besteht: außerdem bildet sie eine Wirtschaftseinheit. Die Eigenart der Großfamilie liegt femer darin, daß sie, wie jede Familie, an das Leben der sie konstituierenden Persönlichkeiten geknüpft ist und mit ihnen stirbt, während sich die Sippe automatisch erneuert, gewissermaßen „ewig" ist. Eine besondere Variante ist die „ H e r r e n - F a m i l i e " im Sinne der römischen „familia", oder marokkanischer, oder mittelalterlicher H e r r e n h ö f e , zu der Sklaven und Hörige zu rechnen sind. F a m i l i e n - A g g l o m e r a t i o n (agglomeration of families, „lineage") s. „Horde". F e l d b a u (agriculture). Darunter wird jede Art von geordneter Bodenbestellung verstanden, einschließlich Ackerbau (s. d.), Grabstockbau (s. d.), Hackbau (s. d.). — Feldbau als „pflegliche" (s. d.) Behandlung von Pflanzen wird dem pfleglichen Umgang mit Tieren und dem Wildbeutertum (s. d.) gegenübergestellt. Bezeichnet man ein Volk als „Feldbauer" so ist damit deren wichtigste Nahrungsbeschaffung, wenigstens durch Tätigkeit e i n e s Geschlechts, z. B. der Frauen, gemeint. Dem steht nicht im Wege, daß nebenher etwa noch Jagd betrieben oder Kleinvieh gehalten wird, oder daß in Notzeiten Jagd, Fischfang, Sammeltätigkeit u. dgl. in den Vordergrund treten. Oft wird die Seßhaftigkeit der Feldbauer überschätzt. Auch sie sind beweglich, ihr Ortswechsel bewegt sich aber in einem anderen Rhythmus als der von Hirten (s. d.) oder Wildbeutern (s. d.). Die auf einmal zur Verfügung stehenden Ernteerträgnisse regen zum Feiern von Festen und zur Entfaltung von Luxus und Kunst an. (s. Hirten). F ü h r u n g (leadership). Davon wird in Bezug auf das Hervortreten einzelner Persönlichkeiten geredet; der Ausdruck „ L e i t u n g " (guidance) wird von ausgezeichneten Familien oder von der Beamtenschaft gebraucht. F u n k t i o n ä r (functionary). Dieser Ausdruck wird auf Personen angewendet, die in einer (egalitären) Gemeinde eine Funktion tatsächlich ausüben, zu dieser Tätigkeit aber nicht von einem Machthaber ernannt wurden, anders als Beamte (s. d.), die ihre Funktion nicht im eigenen Namen ausüben sondern beauftragt. F ü r s t (prince). Es empfiehlt sich, die verschiedenen Arten von Machtbesitz durch Einzelpersonen zu unterscheiden und mit besonderen Ausdrücken zu belegen (s. Häuptling). Als „ F ü r s t " soll der sakral gebundene Machthaber, wie etwa ein Maori-Häuptling, bezeichnet werden. F u ß p f l u g (foot-plough). Ein Grabstock (s. Grabstockbau) mit einem seitlichen D o m im untern Drittel wird Fußpflug genannt. Der D o m dient zum Aufsetzen des Fußes, um das Graben zu erleichtem. Der Ausdruck „ P f l u g " ist irreführend, da mit dem Werkzeug keine Furchen gezogen werden. Es ist eine Vervollkommnung des Grabstocks. Die Reste seiner Verbreitung können von Neu-Seeland bis Peru und Mexiko gefunden werden, aber auch im alten Schottland. G a u (domain, county). Das Land, aus dem eine Gemeinde von Wildbeutern oder Feldbauern, usw. ihren Unterhalt gewinnt, dessen Nutzung sie ungebetenen Dritten verbietet und das sie gegen Feinde verteidigt, soll als „ G a u " bezeichnet werden, (s. Gebiet, Gemeinde). G e b i e t (territory, chiefdom). Darunter sollen weitere Strecken Landes verstanden werden, über die Machthaber ihre Herrschaft ausgedehnt haben. G e m e i n d e (community). Dieser Auadruck wird auf eine politische Gesellungseinheit kleinen Ausmaßes und homogener Struktur bezogen. G e m e i n w e s e n (commonwealth). Damit sollen politische Gesellungseinheiten größeren Umfangs, die zusammengesetzt (s. d.) oder geschichtet sind (s. Schichtung) verstanden werden. G e w o h n h e i t (habit). Wird als individuelle Übung aufgefaßt (s. Brauch). G i l d e (guild). "Die Umwandlung ethnischer Gruppierung in eine funktionelle Spezialisierung,
XIV
Fachausdrucke
oder letztere allein im weiten Rahmen einer sozial gegliederten oder geschichteten (durch einen Despoten [s. d.] zentralisierten) Gesellschaft führte zur Bildung von Gilden und Zünften (s. Beamte, Hörige, Kaste, Schichtung). G r a b s t o c k b a u (digging stick-culture). Der Grabstock ist eines der ältesten Geräte. Er stellt einen vorne zugespitzten geraden Stock dar, wie ihn schon die Sammlerinnen zum Ausgraben von Wurzeln verwenden. Der Grabstockbau besteht darin, daß die Frauen, die Träger dieser Art von Bodenbestellung, Löcher auf den von den Männern vorher gerodeten Stellen graben und Setzlinge (von z. B. Taro, Yams, Bohnen, Reis, Bananen u. dgl.) pflanzen. Dazu werden besonders sumpfige oder doch feuchte Orte gewählt. Oft werden damit Bewässerungssysteme oder Terrassenanlagen verbunden. Zusammen mit dieser Art Feldbau (s. d.) tritt häufig das Schwein als Haustier auf (s. a. Ackerbau, Hackbau). G r o ß f a m i l i e (enlarged, extended, Compound family). Das Zusammenleben von wenigstens drei von einander abstammenden Generationen unter einem gemeinsamen Haupt (Großvater mit Kindern und Kindeskindern) wird als „Großfamilie" bezeichnet (s. Familie, Sippe). H a c k b a u (hoe-culture). Die Hacke besteht in ihrer primitivsten Form aus einem Ast mit angewachsenem Zweig. Das eine Ende ist zugespitzt oder mit einer Klinge aus Stein, Knochen (Schulterblatt eines großen Tieres) oder Muschel versehen; beide im spitzen Winkel sich treffenden Stockteile sind ungefähr gleich lang; das Instrument wird durch das altägyptische „mer" typisiert. Natürlich erfuhr das Werkzeug manche Veränderungen im Laufe der Zeit: die Handhabe wurde verlängert, Stein durch Eisen ersetzt, usw. Auch die Verwendung der Hacke vervielfältigte sich. Ins Gebiet des Grabstockbaus (s. d.) ist die Hacke auch eingedrungen, nur anderen Zwecken, z. B., dem Fällen von Bäumen, dienstbar gemacht oder in gewissen Formen (als „Tomahawk") zu einer Waffe geworden. — Der landwirtschaftlich wichtigste Zweck wurde die Auflockerung des Bodens, um die Saat von Halmfrüchten (Hirse, Hafer, Weizen, Gerste, Mais usw.) zu versenken. Ursprünglich waren die Frauen, wie beim Grabstockbau, die Trägerinnen dieser Tätigkeit, insofern die Männer andere traditionelle Funktionen (Verteidigung, Jagd, Fang) zu erfüllen hatten. Veränderte Lebensumstände schoben den Männern oft einen erheblichen Teil der Bodenbestellung durch Hackbau zu. Der Hackbau wird mehr in trockenen Gegenden gepflegt; die mit ihm zusammen anzutreffenden Haustiere sind Ziege und Schaf (s. Ackerbau, Feldbau, Grabstockbau). H a l b i e r u n g (dichotomous Organization, moiety System). Die Zerlegung eines Stammes in zwei, gewöhnlich exogame, Groß-Sippen, oder eines Klans oder einer Sippe in zwei, gewöhnlich exogame, Untersippen oder Familien-Agglomerationen (s. d.) wird „Halbierung" benannt (s. Familie, Heiratsordnung, Sippe, Stamm). H ä u p t l i n g (headman, chief). Dieser Ausdruck wird unbestimmt angewendet: sowohl auf den persönlich hervorragenden Führer in einer egalitären (s. d.) Gesellschaft, als auch auf das institutionelle Haupt einer autoritären Schicht, j a selbst auf weitere Arten von Machtbesitz. Wir sollten zunächst die i n s t i t u t i o n s l o s e A u t o r i t ä t s p e r s o n (authority), den persönlich einflußreichen Führer, vom i n s t i t u t i o n s g e m ä ß e n „ H ä u p t l i n g " unterscheiden. Das institutionelle Häuptlingtum in einer sekundärhomogenen (s. d.) Gesellschaft kann oft auf Nachwirkung vormaliger Überschichtung zurückgeführt werden und h a t dann die Tendenz, seine Autorität einzubüßen (Oberhaupt, headman). Unter anderen Umständen, bei Aufrechterhaltung der (ethnischen) Schichtung, tritt die entgegengesetzte Tendenz in K r a f t : aus dem Führer der aristokratischen Familien (chief) entsteht die sakral gefestigte Autorität eines in Banden heilig gehaltener, gesonderter Tradition lebenden „ F ü r s t e n " (s. d.). Diese wird später bei zunehmender Vermischung und zunehmendem Ersatz der Abkunftbewertung durch Bewertung des Besitzes von ausgezeichneten Sachgütern und daran orientierter Schichtung (Plutokratisierung) sowie persönliche Beziehung zur Führung (Beamtentum) rationalistisch ausgebaut, und führt zum Typ des D e s p o t e n (s. d.), der sich auf eine prinzipiell durch Leistungsfähigkeit und Unterordnung ausgesiebte (s. Siebung) Beamtenschaft (s. d.) stützt. Während der Despot noch der traditionellen Oberschicht entstammt, wird später, bei zunehmender Rehomogenisierung des Volkes und egalitären
Fachausdrucke
XV
Tendenzen der Geisteshaltuug, der rationalistische Machtbesitz durch Persönlichkeiten anderer Herkunft, durch T y r a n n e n (s. d.) an sich gerissen. H e i r a t s o r d n u n g (marriage-regulation). Darunter wird jede Form von Regelung der Partnerwahl f ü r die Ehe durch andere Faktoren als die in Frage stehenden Persönlichkeiten selbst verstanden. Somit fällt darunter sowohl die positive Vorschrift, den Partner aus einer bestimmten Sippe zu wählen (wie etwa in Australien), als auch Verbote ihn aus der Zahl gewisser Verwandter zu entnehmen (Exogamie), und schließlich die auf Herkommen fußende freie Verabredung der beiderseitigen Eltern (Bestimmungsheirat, besonders die Kinderheirat), ohne Rücksichtnahme auf die Ehekandidaten. Die letzterwähnte Regelung ist eine Erscheinung in sozial geschichteten Gesellschaften, in denen die Aufmerksamkeit auf die Vorschriften und Verbote für Heirat und Verwandtschaftsbeziehungen durch die Bedeutung der politischen und sozialen Gliederung absorbiert wurde (s. Beamte, Kaste, Schichtung, Staffelung). H e r r e n f a m i l i e (manorial family), H e r r e n h o f (manor) s. „Familie". h e t e r o g e n (heterogeneous). Dieser Ausdruck wird in Bezug auf Gruppen verschiedener Herkunft und Tradition angewendet. H i r t e n (pastoral people, herdsmen). Als Hirten werden Stämme bezeichnet, die Herden (von Schafen, Ziegen, Rindern, Pferden, Rentieren usw.) halten. Zucht nicht herdenweise lebender Tiere (Schweine) kann nicht darunter fallen, auch nicht das Halten von Geflügel. Das Halten einzelner Tiere, wie es durch „Bauern" (s. d.) oft geschieht, stempelt die Leute auch nicht zu „Hirten". Durch das Weiden der Herden wird das Leben der Hirten ebenso in Bann geschlagen wie das der Feldbauer durch ihre Lebensweise. Das Nomadentum der Hirten wird durch das Abweiden bedingt. Die Sorge f ü r das Vieh h a t zweifellos auch den Gedanken an eine Nutzung der Menschenkraft aufkommen lassen,, die durch Führung und Beschützung vergolten wurde wie bei den Viehherden. Überdies birgt der Viehbesitz die Idee eines Zinsertrag bringenden Kapitals. Die Notwendigkeit, die Substanz der Herde zu erhalten, ist ein zur Sparsamkeit und zum „Wirtschaften" erziehender Faktor. Selbstverständlich schließt Hirtentum Jagd und Fang, namentlich in Notzeiten (Dürre, Seuchen), nicht aus (s. Feldbau). H o m o g e n (homogeneous). Als homogene Gesellschaft ist eine Anzahl Menschen von gleichem Lokaltypus und gleicher Tradition anzusehen. In der Regel handelt es sich um Menschen gleicher Herkunft. I n einer solchen Gesellschaft herrscht eine egalitäre (s. d.) Tendenz. Von solchen „ p r i m ä r " homogenen Gesellschaften müssen wir „ s e k u n d ä r " homogene Gesellschaften unterscheiden, die sich aus geschichteten durch Vermischung von Blut und Tradition re-homogenisiert haben. Auf letzterer Art beruhen häufig Despotie und Tyrannis. H o r d e , Familienagglomeration, (horde, agglomeration of families, „lineage"). Das vorübergehende und relativ dauernde Zusammenleben von mehreren unter einander verwandten Familien f ü h r t zu Agglomerationen. Diese sind loser als Klan (s. d.) oder Sippe (s. d.), können aber zu diesen führen, wenn der Gedanke gemeinsamer Abstammung die Dauer betont, durch Riten verstärkt wird, und wirtschaftliche oder politische Verbundenheit hinzutritt. Mitunter entstehen solche Agglomerationen aus Splittern von Sippen und gelangen mit der Zeit zu selbständiger Sippenbildung (s. Klan, Sippe). Bei der „Bande" (s. d.) fehlt der Gedanke an gemeinsame Abstammung. H ö r i g e (clients). Als solche werden Leute oder Gemeinden verstanden, die zu regelmäßigen Abgaben oder Leistungen an einen Herrn oder an eine Familie verpflichtet sind, ohne daß ihre Persönlichkeit dabei unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen wird (s. Sklave). H o r i z o n t (horizon). Um die Eigenart der durch eine gewisse zivilisatorische (s. d.) Ausrüstung bedingten Gesellschafts- und Geistesverfassung zusammenfassend zu kennzeichnen, wird der Ausdruck „Horizont" angewendet, und vom Horizont des Wildbeuter-, Hirtenlebens usw. gesprochen. I n s t i t u t i o n (institution). Eine Institution erfordert zu ihrem Entstehen nicht nur einen Brauch (s. d.), sondern auch eine Geisteshaltung, eine Theorie, die eine Funktion und die Art ihrer Ausübung als notwendigen Bestandteil der Gesellschaftsordnung betrachtet und in sie einfügt. K a s t e (caste). Die Entstehung von Kasten setzt eine vorhergegangene Schichtung der Gesell-
XVI
Fachausdrücke
schaft voraus. Ethnisch zusammengehörige Klans oder Sippen werden zu Kasten zusammengefaßt. Daher gewöhnlich strenge Endogamie in der Kaste. Die ethnische Besonderheit der Kaste verbindet sich oft mit einer einseitigen Verstärkung ihrer Spezialit ä t , die Funktionsbestandteil in einem eine weitere Vergesellung umfassenden Zusammenleben wird. Manchmal kommt eine straffe Organisation innerhalb der Kaste zustande. Mitunter überschneidet sich die Kaste mit den politischen Gemeinwesen, wie in Indien. Die Kastenbildung tritt vor allem dort in Erscheinung wo ethnische Gruppen von großer Verschiedenheit mit einander in Berührung kommen. K l a n (clan). Das Wort bezeichnet im Altirischen, dem es entnommen ist, Kinder gemeinsamer Abstammung, etwa im Sinne einer „Großfamilie" (s. d.). Es wird heute f ü r Familienagglomerationen (s. Horde) gebraucht, die stabil geworden und durch den Glauben an gemeinsame Ahnen religiös unterbaut sind und oft auch wirtschaftlich u n d politisch einander stützen. Es ist ratsam, einen Unterschied zwischen dem innerhalb eines Gebietes ausschließlich siedelnden und auf diesen Gau Anspruch erhebenden „ K l a n " zu machen, der eine politisch souveräne Gemeinde darstellt, und den auf verschiedene ihrerseits selbständige Gemeinden verteilten Klansplittern, die wir als „ S i p p e n " (s. d.) bezeichnen, die unter einander gewöhnlich nicht organisiert sind und nur durch zeremoniell-religiösen Ahnenkult und durch eine gewisse Solidarität zusammengehalten werden. Die Entstehung von Klan oder Sippe ist eng mit dem Ahnenkult verwachsen, der die Stammeslinie symbolisiert. Die Klan- oder Sippen-Zugehörigkeit kann in männlicher oder weiblicher Linie gerechnet werden. Diese gewissermaßen kristallisierte Familienagglomeration wird häufig durch eines der lebenden Familienhäupter vertreten. Dadurch unterscheidet sie sich von familialen Gebilden, die mit dem Leben der sie tragenden Personen erlöschen. I n Klan oder Sippe sind die sich ablösenden persönlichen Familien dauernd vertreten (s. Familie, Kaste, Staat). K l e i n f a m i l i e (little family). Die Verbindung von Mann, Frau und Kindern wird als Kleinfamilie bezeichnet (s. Familie). K ö n i g (king). Dieses Wort wird teils auf „ F ü r s t e n " (s. d.) teils auf „Despoten" (s. d.) oder „Tyrannen" (s. d.) angewendet, (s. Häuptling). K u l t u r (culture). Darunter wird die Systematisierung und Harmonisierung aller Kenntnisse und Fertigkeiten, der „zivilisatorischen" (s. d.) Ausrüstung und der traditionellen Sonderart eines Volkes, seiner sozialen und Geistesverfassung, in einem bestimmten zeitlichen Querschnitt verstanden. Als Kultur bezeichnen wir ein System von Haltungen und Verhaltungsweisen, von Sitten und Wertungen, von Einrichtungen und Organisationen in einer Gesellschaft (s. Zivilisation). K u l t u r h o r i z o n t (cultural horizon) s. „Horizont". L e h e n (feud). Die Universalität der despotischen Macht erlaubt nur abgeleiteten Grund- oder Herdenbesitz und abgeleitete Funktionen (Beamte, s. d.). Außerdem ist Entgelt f ü r Leistungen in der vor-geldkapitalistischen Zeit hauptsächlich so ausdrückbar. Trotz großer Verschiedenheiten wird jede solche abgeleitete Ausübung von Besitzrechten an Boden oder Herden als „Lehen" bezeichnet (s. Staat).— L e i t u n g (guidance). Zum Unterschied von persönlicher „ F ü h r u n g " (s. d.) wird der Ausdruck „Leitung" von Familien oder Beamten, also von Gruppen von Personen, gebraucht. M e n g u n g (mixed settling). Darunter wird das unterschiedslose familien- oder sippenweise Durcheinandersiedeln von Stämmen verschiedener Abkunft und Tradition verstanden (s. Mischung, Würfelung). M i s c h u n g (miscegenation). Dieser Ausdruck bezieht sich auf Blutmischung (s. Mengung, Würfelung). N a t u r v ö l k e r (natural, savage tribes). Von Naturvölkern wird gesprochen, wenn sowohl auf prähistorisch-primitive (s. d.) Stämme, wie auch zeitgenössisch-periphere (s. d.) Völker Bezug genommen wird. Das Wort darf nicht im alten Sinne von „Naturnähe" verstanden werden, sondern soll die größere direkte Abhängigkeit dieser Völker von der sie umgebenden N a t u r zum Ausdruck bringen (s. archaisch, paläo-sozial). O b e r h a u p t (headman). Als Oberhaupt wird die institutionsgemäß einflußreiche Persönlichkeit in einer egalitären Gesellschaft bezeichnet (s. Häuptling). P a l ä o - s o z i a l (palaeo-social). Paläo-politisch (palaeo-politic). Diese Ausdrücke sollen sich
Fachausdrücke
XVII
auf primitivstes Gesellschaftsleben in ungeschichteten, einfachen und auf egalitärer Basis zusammengesetzten Gemeinden, sowie auf geschichtete Gemeinwesen, bis an die Grenze der „archaischen" (s. d.) Gesellschaft (s. Staat) beziehen. P e r i p h e r (peripheral). Damit sollen die zeitgenössischen Naturvölker (s. d.) bezeichnet werden, die sich an der Peripherie des Einflusses der die Zivilisation produzierenden Brennpunkte, oder ganz außer deren Reichweite entwickelt haben (s. primitiv). P f l e g l i c h (care-taking). Dieser Ausdruck wird mit Bezug auf Feldbau (s. d.), Viehzucht (s. d.) und Hirtentum (s. d.) gebraucht. Er soll den Unterschied gegen die auf Raubbau gestellte Tätigkeit der Wildbeuter (s. d.) zum Ausdruck bringen. Allerdings muß zugegeben werden, daß der Gedanke pfleglichen Handelns, wenn auch mit unzureichenden Mitteln, bereits in den Yermehrungs- und Fruchtbarkeits-Riten, etwa der australischen Jäger- und Sammler-Stämme, zum Ausdruck kommt. Die Absicht pfleglicher Behandlung von Unterhalt liefernder Pflanze und Tierart wird man wohl als viel älter zu betrachten haben, als ihre Umsetzung in wirkungsvolle Handlungen. P r i m i t i v (primitive). Mit diesem Wort sollen hauptsächlich die prähistorischen Völker armer zivilisatorischer Ausrüstung, d. h. geringer Beherrschung der Naturkräfte und geringer Einsicht in ihr Walten, bezeichnet werden. R a s s e (race). Das Ineinander-Heiraten nahe Verwandter, wie es durch viele Heiratsordnungen der Naturvölker bedingt wird, f ü h r t in Verbindung mit Isolation und Auslese zu einer Spezialisierung der erblichen Anlagen in Auseinandersetzung mit der gegebenen Umwelt. Daher haben wir es zunächst mit Lokalrassen zu tun. Aus der Ähnlichkeit verwandter und benachbarter Lokalrassen abstrahieren wir weitere Rassentypen. Von solchen durch lange Zeiträume gezüchteten P r i m ä r r a s s e n müssen wir s e k u n d ä r e Typen und die Volksgestaltung (s. Volk) unterscheiden, die das Ergebnis von Mengung (s. d.) und Mischung (s. d.) ist. S c h i c h t u n g (stratification). Beim Zusammentreffen von Völkern verschiedener ethnischer Herkunft und verschiedener Kulturhorizonte, namentlich von Hirten und Feldbauern (aber natürlich auch von einem von diesen mit Wildbeutern), entwickelten sich wechselseitige Wertungsvorgänge, die zu einer a u s g e z e i c h n e t e n und e i n f l u ß r e i c h e n Stellung besonders (aber nicht immer) der Familien der Hirten führten. Jede solche Bevorzugung von Familien gewisser Abstammung, Besitzes oder sonstiger Qualitäten ist als „Schichtung" aufzufassen. Sie bedingt natürlich auch die E n t w e r t u n g von Familien oder Personen anderer Herkunft, Tätigkeit oder Funktion in der Gesamtgesellschaft. Dadurch wird das egalitäre Prinzip der homogenen Gesellschaft durchbrochen, obgleich es innerhalb der Schichten gleicher Herkunft oft lange weiter lebt. Man wird e t h n i s c h e Schichtung, auf Grund gleicher Herkunft, von s o z i a l e r Schichtung unterscheiden müssen, welch letztere teils auf Besitz von Wertsymbolen oder Nahrungsquellen, teils auf Beziehung zur Zentralmacht (Despot, Beamte) beruht (s. Mengung, Staffelung, Würfelung). S i e b u n g (sifting process, assortation). Vermöge des sozialen Wertungssystems einer Gesellschaft gelangen Persönlichkeiten gewisser Qualitäten zu Einfluß, sei es durch selbständige Übernahme gewisser Funktionen, sei es dadurch, daß auf dem Wege über Machthaber ihnen Funktionen übertragen werden. Infolge der wechselnden Wertungen ändert sich auch die Siebung; sie ist verschieden je nach den Besonderheiten der einzelnen Gesellschaft. Die Siebung ist nicht mit biologischer Fortpflanzungsauslese zu verwechseln, sondern bezieht sich nur auf die Besetzung von Funktionen des Gesellungslebens mit Persönlichkeiten bestimmter Eigenschaften (s. Beamte, Schichtung, Staffelung). S i e d l u n g (settlement). Dieser Ausdruck muß in einem weiteren Sinn gefaßt werden, sowohl was die Dauer als auch was die Form angelangt. Als Siedlungsgebiet der Hirten sind die regelmäßig besuchten Weiden anzusehen, als das von Wildbeutern die traditionellen Jagdgründe, in denen man sich aufhält. Bezüglich der Siedlungsform haben wir vor allem die Wohnbezirke der Familienagglomerationen als Einheiten (s. Horde, Klan, Sippe) zu berücksichtigen, deren einzelne Familienhöfe in näherer oder fernerer Nachbarschaft von einander sich befinden (s. Gau, Stamm). S i p p e (sib, sept). Als Sippe wird ein politisch nicht selbständiger Klan (s. d.) bezeichnet.
XVIII
Fachausdrücke
Der Verlust der Selbständigkeit ist gewöhnlich durch Verteilung des Klanvolks auf verschiedene Siedlungsgemeinden verursacht. Eine Sippe wird durch das Bewußtsein der Abstammung von denselben Ahnen und den gemeinsamen Ahnenkult zusammengehalten. Die Sippe hat ihre besondere Bedeutung für die Heiratsordnung (s. d.). — Eine Sippe kann in Untersippen aufgeteilt sein (Croßsippe, Kleinsippe), oder sie kann zu einer „Halbierung" (s. d.) fuhren. Sippe oder Untersippe besitzen manchmal ein Oberhaupt, manchmal nicht. S i t t e (mores). Darunter wird der in der betreffenden Gesellschaft positiv bewertete Brauch (s. d.) verstanden. S k l a v e (serf, slave). Persönlich zu Leistungen und Diensten verpflichtete Menschen ohne eigenes Recht die ihres Familien- oder Sippenzusammenhangs beraubt sind und deren Leben und Existenz in der Hand ihres Herrn liegen, ob sie wirtschaftlich ausgenutzt werden oder nicht (s. Hörige). S t a a t (state). Es ist ratsam diejenigen politischen Gemeinwesen mit einem besonderen Ausdruck zu benennen, die aus Überschichtung und Zusammensetzung von Menschen verschiedenen ethnischen Ursprungs hervorgegangen sind und im Verlauf ihrer Gestaltungsänderung zu sozialen Schichtungen und Gruppenbildungen mit unterschiedlichen Vergesellungsfunktionen geführt haben, somit kompliziertere Gefüge darstellen als die paläo-politischen Gemeinden (s. d.). S t a f f e l u n g (gradation, rank-system). I n geschichteten Gemeinwesen bildet sich im Zusammenhang mit der Bedeutung, die das Familieneigentum erlangt, und unter dem Einfluß, besonders von Despotie (s. d.) und Beamtentum(s. d.), ein oft vielfältig gegliedertes familiales oder persönliches Rangsystem heraus, das als „Staffelung" der Gesellschaft zu betrachten ist (s. Aristokratisch, Kaste, Schichtung, Staat). S t a m m (tribe, gens). Gruppen von Familien, Sippen, Gemeinden, Siedlungen, die eine gleiche Sprache reden, ähnliche Institutionen, Sitten und Bräuche besitzen, und in ihrer zivilisatorischen (s. d.) Ausrüstung einander ähnlich sind, werden von Europäern als „ S t a m m " bezeichnet. Inhaltlich deckt sich diese Benennung nahezu mit „Nation". Den Naturvölkern fehlt aber weitgehend das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit auf dieser Basis und meistens das Streben nach einheitlicher politischer Organisation des Stammes. Die Grundlage f ü r ihre Organisation bilden die Familienagglomerationen, die Klans und Sippen. Wo es zur Organisation des Stammes gekommen ist, geschah das in Verbindung mit Überschichtungsvorgängen (wie z. B. in Afrika bei den Hehe oder den Schambala), oder aber es muß, falls die egalitäre oder alte Gesellschaftsverfassung erhalten blieb, oft europäischer Einfluß dafür verantwortlich gemacht werden (s. aristokratisch, Klan, Sippe, Staat). T y r a n n (tyrant). Dieser Ausdruck wurde gewählt, um solche Machthaber in einer individualistisch aufgelösten Gesellschaft zu kennzeichnen, welche nicht der früheren Oberschicht entstammen, und welche sich auf eine militärisch organisierte persönliche Anhängerschaft stützen (s. Häuptling, Despot). V a s a l l (vassal). Die Träger der Lehen (s. d.) sind die Vasallen. Einerseits sind sie von den Hörigen (s. d.) zu unterscheiden, andererseits von den Beamten (s. d.), die von Despoten (s. d.) als Statthalter von Landstrichen eingesetzt wurden. V i e h z ü c h t e r (breeders of domesticated animals). Es muß zwischen Kleinvieh- und Geflügelzucht und dem Halten von Großvieh unterschieden werden. Erstere ist gewöhnlich mit Feldbau (s. d.) verbunden. Schweine sind vorwiegend mit dem (nassen) Grabstockbau (s. d) und Bewässerung assoziiert, Ziegen (auch Schafe) mit dem (trockenen) Anbau von Halmfrüchten (s. Hackbau) und Entwässerung. Das Halten von Großtieren, Rindern, Pferden, Rentieren usw. führte zum Hirtentum (s. d.). Beim „Bauern" (s. d.) verbindet sich Ackerbau (s. d.) mit allen Arten von Viehzucht. V o l k (people, nation). Als „Volk ist die Zusammenfassung von Menschen oft verschiedener Abstammung und „Rasse" durch Sprache, politische Herrschaftsform, Kultur und Geisteshaltung zu verstehen. In primitiven Zuständen haben wir es meistens mit „Stämmen" zu t u n (s. Stamm). W i l d b e u t e r (predatory tribes). Stämme, die von Jagd, Fang und Sammeln leben, also auf Erbeutung von wilder (nicht pfleglich [s. d.] gewonnener) Nahrung gestellt sind, werden
Fachausdrucke
XIX
als Wildbeuter bezeichnet. Die p r i m ä r e n Wildbeuter verstehen nicht, für den ErnteErtrag wirksam (durch Anbau) vorzusorgen, oder den Bestand an Beutevieh (teils durch Treiben nach Weidegründen, teils durch rationelles Schonen) zu erhalten und zu mehren. Die zur Erhaltung und Mehrung der Nahrung angewandten Verfahren bezeichnen wir als „ m a g i s c h " , weil sie nach unserem Dafürhalten und ihrem offensichtlichen Mangel an kausalen Wirkungsketten nur subjektiv zweckmäßig, nicht objektiv erfolgreich sind. S e k u n d ä r e oder rückfällige Wildbeuter sind solche, welche zwar „pflegliches" Verfahren früher vermutlich kannten und es heute kennen und befolgen würden, aber aus irgend einer Zwangslage heraus zur Erhaltung ihrer Existenz dem Jäger-, Fänger- oder Sammel-Leben sich zugewendet haben, wie etwa die Wanderobbo Ostafrikas. W ü r f e l u n g (interspersed settling). Während als „Mengung" (s. d.) das DurcheinanderSiedeln von Familien oder Sippensplittern verschiedener ethnischer Zugehörigkeit innerhalb eines Dorfes oder einer Gemeinde verstanden wird, bezieht sich „Würfelung" auf ein Durcheinander von verschiedenen, aber in sich einheitlichen, Dörfern oder Gemeinden mit anderer ethnischer Zugehörigkeit (und Wirtschaftsweise); wie z . B . von Feldbauern und Hirten. Z i v i l i s a t i o n (civilization). Hierunter wird die Anhäufung und Mehrung von Fertigkeiten der Hand und von Kenntnissen des Kopfes und deren Anwendung verstanden. Nicht nur die technisch-materielle Naturbeherrschung fällt darunter, sondern auch deren Auswirkung auf die Geistesverfassung und das soziale Leben. Jedes Volk und jede Gesellschaft nimmt an diesem Zivilisationsprozeß teil und ist mit einem gewissen Bestand an zivilisatorischem Besitz ausgerüstet. Dagegen macht Abstimmung der verschiedenen Seiten einer solchen Ausrüstung auf einander und deren Systematisierung, kurz die Reaktion einer Gruppe von Menschen auf die von ihnen geschaffenen Zivilisationsmittel, die K u l t u r (s. d.) einer Gesellschaft aus. Z u n f t (corporation, guild) s. Gilde. Z u s a m m e n g e s e t z t (Compound). Von „zusammengesetzter" Gesellschaft oder Siedlung wird geredet, wenn Familien verschiedener ethnischer Herkunft politisch oder sozial mit einander zusammengeschlossen erscheinen, aber auf e g a l i t ä r e r (s. d.) Grundlage (wie etwa bei der „Halbierung" — s. d.), also ohne daß eine Gruppe verschiedener Herkunft den Anspruch der Überlegenheit erhebt oder zugestanden erhält, somit ohne daß es zu einer „Schichtung" (s. d.) kommt.
EINLEITUNG ( P r o b l e m a t i k der
Untersuchung)
Die Spekulation über die „Entstehung" und Entwicklung der menschlichen Gemeinwesen steht am Anfang einer Erforschung der Tatsachen. Überall befolgt der menschliche Geist dasselbe Verfahren. Zunächst sucht er in kühnem Sprung wie das Kind nach Sternen, Mond und Sonne zu greifen, er versucht, wie die Alten, einen Turm zu Babel „bis an den Himmel" zu bauen, er unternimmt es, durch magische Kunststücke den Erfolg dadurch herbeizuführen, daß er sich ein Geschehen und einen Ablauf phantastisch ausmalt. Er folgt dabei teils seinen Wünschen, teils seinen Befürchtungen, und richtet dementsprechend sein Handeln ein, um den Ereignissen eine für ihn günstige Wendung zu geben: man denke an die tausenderlei Fruchtbarkeitszauber zur Vermehrung des Jagdwildes, der Nutzpflanzen, der Ernte, der Haustiere, ja der Menschen selbst, an die Pubertätsweihen und Heiratsriten, an Liebeszauber, an Haßmagie zur Beseitigung eines Gegners. All diesem „magischen Denken", auf dessen inneren Mechanismus hier nicht weiter eingegangen werden kann, liegt die „Spekulation" darüber zu Grunde, wie e i g e n t l i c h d i e D i n g e z u g e h e n . Einflußreiche Köpfe stellen von ihren Erlebnissen aus Ansichten auf, die andere im Vertrauen auf die Autorität des „Vordenkers" annehmen. Schließlich werden Dogmen und Sitten, Einrichtungen und Gesetze daraus, die dem Handeln der Gesellschaft als Richtschnur dienen. Die Menschheit ist auch auf politischem Gebiet heute noch nicht viel weiter. Der Fortschritt der Wissenschaften war sehr ungleich, am erfolgreichsten gerade auf denjenigen Gebieten, die dem Menschen und dem menschlichen Zusammenleben am fernsten liegen, die gewissermaßen nur eine Erweiterung und Fortsetzung seiner Handfertigkeiten darstellen. Zwar war schon das empirische Studium des Menschenkörpers anfangs mit großen Hemmnissen verbunden. Man erinnere sich nur der religiösen Bedenken, die mit ihren Ausläufern — wenn auch mit allmählichen Milderungen — selbst bis in unsere Tage hineinreichen. Die Schwierigkeiten mehrten sich bei der Untersuchung der menschlichen Psyche, sowohl der „normalen" wie der abartigen. Man kann die wissenschaftliche Forschung in dieser Hinsicht bloß nach Jahrzehnten rechnen, wenn auch nicht zu leugnen ist, daß es psychologische Amateure schon von Alters her gab. Am schlimmsten steht es mit der Durchforschung der menschlichen Gesellschaft. Galt doch deren Studium noch bis in die jüngste Zeit hinein gelegentlich als „staatsgefährlich". Der nicht ausgesprochene, aber unterbewußte Gedanke war, daß außerhalb der „einzig richtigen F o r m " d. h. der gerade herrschenden und darum sakrosankten Ordnung, Möglichkeiten und Abläufe, also Veränderungen zu erwägen, verführerisch sein und zur Kritik anregen könnte. Dem standen Wünsche nach anderen Gesellschaftsgestaltungen entgegen, politische Träume, die bald in die Vergangenheit ein goldenes, paradiesisches Zeitalter, bald in die Zukunft rosige Hoffnungen (Utopien, Weltverbesse1
Thumwald
IV,
2
Einleitung
rangen, soziale Reformen) projizierten. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, daß für das intensivere wissenschaftliche Studium eines Gegenstandes gewöhnlich eine die Emotionen ergreifende Zeitsituation maßgebend und richtungweisend ist. Diese emotionale Einstellung verhindert eine ausbalancierte Würdigung der Funktion gewisser Einrichtungen, wie Feudalsystem, Despotie, Sklaverei, Aristokratie, Demokratie usw. Selbst das Bild weit abliegender Zeiten oder Völker wird verwirrt dadurch. Der Leser oder Hörer findet Beziehungen zu sich selbst und seinem Lebensschicksal (T. [32 a, 32 b, 33 c]). Von da aus ergibt sich für ihn ein „Verstehen", d. h. ein Miterleben. Dieses ist natürlich affektbetont, höchst persönlich orientiert. Jeder Einzelne „versteht" anders, je nach seinen Erfahrungen, Kenntnissen, Meinungen, Phantasien. Was der eine „versteht", „versteht" der andere nicht. Diese emotionelle Seite, die gleichzeitig Strebungen auslöst, ist geeignet, nicht nur durch Affekttrübung die Würdigung der Funktion einer Einrichtung (wie der oben erwähnten) im Kulturablauf zu hindern, sondern auch reagierende „geistige Abwehrbewegungen" auszulösen, die wir in dem Verlangen nach objektiver Erkenntnis des Gesellungsgetriebes als „Politik" empfinden. Die direkte oder indirekte Selbstverflochtenheit der eigenen Person des Beobachters ist die Hauptschwierigkeit der Gesellungsforschung. Sie mobilisiert Abwehr, Wollen und Phantasie, hemmt das Streben nach objektiver Erkenntnis, öffnet Tür und Tor der Selbsttäuschung, beabsichtigter oder unbeabsichtigter Entstellung der Realität. Das „Verstehen" wird zur Quelle des Mißverstehens, der Mißdeutung, der Verzerrung. Wie weit „verstehen" wir Blutrache mit folgendem Kannibalismus ? Wie weit „Asyl" ? Straflosigkeit von Diebstahl ? von Vatermord ? Kopfjagd ? J ) Die Emotionalität wertet, verfällt ins Ethisieren oder Moralisieren von einem subjektiven Standpunkt aus, der als absolut hingestellt wird. Unter dem Mantel der Philosophie läßt sie die manchmal eingeengteste Subjektivität herein, die vorher offiziell ausgetrieben worden war. Dabei läuft eine weitere Selbsttäuschung unter: man konstruiert „Idealtypen" und glaubt, daß der Ablauf der Erscheinungen in einem „Aufstieg" zu diesen hin und in einem „Verfall" von diesen weg bestehen müsse. So projiziert der philosophierende Phantast „Idealtypen" von Mutterrecht, Vaterrecht, Brautraub, Promiskuität u. dgl. je nach Geschmack als paradiesische oder animalische Bilder aus irgendwelchen romantischen Zeiten. In Wirklichkeit entsprechen diese Bilder aber extremen Varianten die man nur selten und an wenigen Orten einmal voll ausgebildet vorfindet, während gewöhnlich nur partielle Ansätze vorhanden sind, die niemals überhaupt zu logisch-systematisierter Ausgestaltung gelangten, wie an verschiedenen Stellen dieses Werkes gezeigt wurde. Hinzu kommt, daß diese Idealtypen auch „ethisiert" werden, daß man ihnen eine besondere Hochwertung zu teil werden läßt: die Folge einer ästhet i s c h e n S c h ä t z u n g logischer S y s t e m a t i k , bei mangelnder Berücksichtigung der sozialen Bedeutung solcher Extremformen, die oft sogar verhängnisvoll ist (wie z. B. im Falle extremen Patriarchats). Wenn wir diese Klippen vermeiden wollen, müssen wir gerade den andern !) Vgl. hierüber Bd. V.
Problematik
der
Untersuchung
3
Weg einschlagen: die Subjektivität des emotions- und wertbetonten „Verstehens" ausschalten, die Extremvarianten nicht als Höchstziele von „Aufstieg" und ethischer Wünschbarkeit ansehen, sondern uns zunächst damit begnügen, die F u n k t i o n e n einer Einrichtung in einer Gesellschaft von bestimmter zivilisatorischen Ausrüstung und kultureller Systematisierung zu untersuchen. Wir müssen Gesellungs- und Kulturvorgänge möglichst losgelöst von den emotionellen Beschwertheiten unserer eigenen Subjektivität betrachten lernen, ohne schulmeisterhaft den Zeigefinger zu erheben. Nicht mit dem manchmal zu findenden Hochmute der „Geisteswissenschaften", sondern in geduldigem Zuwarten sollen wir die sozialen, zivilisatorischen und kulturellen Vorgänge studieren, als N a t u r v o r g ä n g e , als etwas, das ü b e r den Menschen Macht hat, dem er Untertan ist. Wir dürfen uns nicht dem Wahn hingeben, daß das Handeln der Menschen so geplant ist, wie es erscheint und wie oft behauptet wird. Wie oft weichen die Ergebnisse ab von der Absicht! Überschätzen wir nach dieser Seite nicht die „Intelligenz", unterschätzen wir nicht das emotionelle Element, das in allen Gesellungsvorgängen dominiert, sie der Kontrolle durch die „ratio" entgleiten läßt und auf diese Weise das Spiel für eine logisch-,,vernünftige" Interpretation verdunkelt und in die Sphäre eines Getriebes von Emotionen der Gruppen, Gemeinwesen und Völker entrückt, in welche die Wissenschaft schwer zu folgen vermag. Hier liegen die Grenzen für die Möglichkeit wissenschaftlicher Erfassung, hier beginnt die Region des „Ignorabimus". Von unbekannter Hand ist das große Drama der Menschheit geschrieben, in dem wir Puppen auf der Bühne sind, meistens schlechte Beobachter und oft verwirrte Zuschauer. „ D u glaubst zu schieben, doch du wirst geschoben". Nur als Naturforscher können wir von diesem Drama etwas ahnen, — nie aber es „verstehen". Als Naturforscher also, als Erforscher der Vorgänge und Abläufe von Gestaltungen menschlicher Gruppierungen, von Einrichtungen und deren Funktion müssen wir an das gesamte Tatsachenmaterial herangehen, das sich uns aus a l l e n erreichbaren Gesellungen und a l l e n Epochen bietet. Aus den Zuständen und Situationen aller dieser Menschen, ihrer Bedingtheiten und Zustände müssen wir den Aufbau ihrer Gesellschaften und das Verhalten ihrer Individuen zu erfassen suchen. Aber es ist nicht genug, bloß ihre Zustände zu beschreiben, wie ein statisches Phänomen der einzelnen Völker, sondern vom dynamischen Standpunkt aus müssen wir die lebenden Einheiten erfassen, die ineinander übergehen, sich verschmelzen, überlagern und wieder zu anderen sozialen und kulturellen Existenzformen gelangen. Das Schema einer einheitlichen geradlinigen Entwicklung würde in die Irre führen. Die Entwicklung bietet viel kompliziertere Probleme durch Varianten und Blindläufe der Gestaltung, Kontakt und Anpassung. Nicht nur für die Vergangenheitsschicksale der Menschheit, sondern auch für die allgemeine Erkenntnis sozialen, politischen und kulturellen Geschehens ergeben sich aus solchem Studium F o l g e r u n g e n , wenn es gelingt, die von Gesellungsformen und Einrichtungen in feste Beziehung zu Situationen zu setzen und Abläufe wenigstens als Tendenzen daraus zu abzuleiten. 1*
A. GESELLUNGSFORMEN UND IHR WANDEL I. SOZIALE
GESTALTUNGEN
§ 1. Z w e i - u n d e i n g e s c h l e c h t i g e
Verbände
Die Arbeitsteilung unter den Geschlechtern, von der im I I I . Bande die Rede war, bedingt verschiedene Lebenssphären für Mann und Frau, die — trotz gewisser Schwankungen — in fast allen Gesellungsgestaltungen von Völkern mit primitiver Technik und unmittelbarer Gewinnung der Nahrung entscheidend hervortritt. Sie beruht in letzter Linie auf biologischen und psychischen Unterschieden unter den Geschlechtern, den häufigen Geburten und deren Begleitumständen, der darum schwereren Beweglichkeit des weiblichen Geschlechts und der Neigung der männlichen Psyche zu ausgreifenden, manchmal phantastischen Unternehmungen. Die persönlichen Impulse zur Vergesellung sind demgemäß verschieden bei beiden Geschlechtern. Für das weibliche Geschlecht stehen andere Gefühls* und Emotionswerte im Vordergrund als für das männliche. Vor allem weist das Kind und die Sorge für das Kind die Richtung. Bei den niedrigsten Wildbeutern (etwa Australiens, oder bei den Bergdama Südafrikas) pflegt die Mutter ihre eigene Feuerstelle zu haben, an der sie mit ihren Kindern kocht und haust. Bei halb-wildbeutenden Stämmen im Innern von Neu-Guinea (am oberen Sepik), wo die ganze Gemeinde in einem Haus zusammen wohnt, besitzt ebenfalls jede erwachsene Frau ihre Feuerstelle. Die Mutter mit dem Kind erscheint als der Kernbestandteil einer biosozialen Verzahnung von Menschen verschiedenen Alters: Das Kind ist anfangs auf die Mutter angewiesen, diese, wenn sie altert, auf die Vergeltung ihrer Mühest durch das Kind. Diese ausgleichende moralische Grundlage der Familie findet im Eltern- und Ahnenkult eine religiöse Rationalisierung von biologisch wesentlichen Existenzbedingungen. „Schutz gegen Treue" ist die Grundlage dieser auf biologischer Verschiedenheit beruhenden Vergesellung. Das biopsychologische Mutter-Kind-Verhältnis, der Familien-Kern, bleibt verhältnismäßig s t a b i l . Nur wenige Abwandlungen zeigen sich unter dem Einfluß außergewöhnlicher Wertungen: dort wo die Kinder früh in Kost- oder Adoption gegeben werden (wie etwa bei den Marind-anim oder auf den Admiralitäts-Inseln), als Folge besonderer kollektivistischer Einrichtungen der Männergesellschaft, oder in Fällen von Unterbewertung des Nachwuchses wie in den Aristokratien von Toro und Kitara in Zentral-Afrika (nach dem in Vorbereitung befindlichen Buch von H. K . N y a m b o n g o über seine Kaste der Babito in Toro), oder bei den Arioi von Tahiti (Mühlm. [32]). Im ersten Fall „schämten" sich die Eltern, sich den Kindern als Erzeuger zu erkennen zu geben, im zweiten, überhaupt Kinder zu haben. Auch in dem Fall von
Zwei- und eingeschlechtige
Verbände
5
Tahiti spielt die Adoption von Kindern in andere Familien und die daraus folgende Entpersönlichung des Verhältnisses von Eltern und Kindern als Motiv für die Kindestötung eine Rolle. Situationen der geschilderten Art sind das Ergebnis einer Einwirkung der Männergesellschaft auf den Familienkern. Damit beginnt das eigentliche Problem der Familiengestaltung. Hierbei handelt es sich um die Yergesellung der Frauen, als der Mütter von Kindern, mit den Männern als B e s c h ü t z e r n . Auch hier steht das reziprok verzahnte „Schutz-gegen-Treue"-Verhältnis im Vordergrund. E s wird ergänzt durch ein anderes Reziprozitäts-Verhältnis, 1 ) das aus der Arbeitsteilung unter den Geschlechtern resultiert 2 ) und — typischer Weise — in einem interfamilial verzahnten Austausch der Nahrungsüberschüsse von gesammelter Nahrung der Frauen gegen gejagte oder gefangene Beute der Männer (bei Wildbeutern) besteht. Unter den verhältnismäßig kleinen Gruppen von Wildbeutern tritt die selbständige Rolle des einzelnen Mannes als Beschützer hervor. Daraus resultiert nicht nur der reziproke Anspruch auf Treue, der vom Mann erhoben wird, sondern auch auf patriarchische Führung, die zu einem häufig zu beobachtenden Besitzanspruch des Mannes auf die Leistungen der Frau und ihrer Kinder gesteigert wird, auch ohne Hineinspielen materieller Wertsymbole und Leistungen von Mannesseite zum Erwerb der Frau. Die erwähnte Verzahnung unter den Geschlechtern wird durch eine solche vom Vater und dem Kind (der beschützten Frau) ergänzt. Hier macht sich eine Parallele zur oben erwähnten Mutter-Kind-Verzahnung geltend. Dadurch, daß der vom Vater geleistete Schutz extensiver ist und als stärker empfunden wird als der der Mutter (der vielleicht intensiver ist) wird das Verlangen nach Fürsorge durch die Eltern hauptsächlich auf den Vater gerichtet und im Ahnenkult meistens auf die männlichen Vorfahren beschränkt. Die Verwickelung der Männer in das Beschützer-Verhältnis zu Frauen und Kindern ist von entscheidender Bedeutung für den jeweiligen Aufbau der Familie, zu dessen Kern ein Mann als Bruder oder Gatte und Vater in Beziehung getreten ist. Dadurch nimmt der erwachsene Mann gleichzeitig wenigstens an z w e i nach verschiedenen Prinzipien aufgebauten Vergesellungen teil: an der Familie und an seiner Männergesellschaft. Auf diese Weise v e r m i t t e l t der Mann die Emotionen, Stimmungen, Gedanken, Strebungen der Männergesellschaft der Familie, und beeinflußt dementsprechend deren Organisation. E s sei daran erinnert, daß, wie noch ausgeführt werden wird, die Entstehung von politisch völlig oder weitgehend selbständigen Herrenhöfen mit Sklaven und Hörigen das Patriarchat zur gesteigerten Entfaltung brachte (wie z. B. in der alt-römischen familia, oder unter Berber-Kabylen in Marokko). Ungekehrt verlieh z. B. die Anlage von Gärten den Frauen ein selbstbewußtes Übergewicht in ihrem Reziprozitäts-Verhältnis beim Austausch der Nahrungsüberschüsse und sicherte ihnen in der Folge das besondere Interesse der Männer an ihrer Tätigkeit., das in mutterrechtlichen Einrichx ) Über die Bedeutung des Reziprozitätsverhältnisses s. a. Einleitung zu B d . V dieses Werkes. 2 ) Einzelheiten darüber s. Bd. I I I dieses Werkes.
6
Soziale
Gestaltungen
tungen seinen Ausdruck fand. Dieses Übergewicht rang auch den Männern Konzessionen zu freiem Liebesleben ab. Es verlieh dem R a t der Frauen Ansehen bis hinein in die Kreise der Männergesellschaft. Bei den Irokesen reichte z. B . das Wort der Mütter aus, um die Söhne vom Kampf fern zu halten (Parker [10b] 22ff.; Hw. [14] 112). Hieraus erhellt eine umgekehrte Wirkung der Familie auf die Männergesellschaft. Von dieser Seite erfolgte auch eine Reaktion durch Raub fremder Frauen, deren Stellung herabgedrückt wurde, wie in West-Afrika. Diese Vorgänge sind namentlich mit Wanderungen und Überschichtungen verbunden, von denen noch die Rede sein wird. Worin besteht die Männergesellschaft ? Wildbeutergemeinden setzen sich aus einer Anzahl von Familien zusammen Die Häupter dieser Familien, deren Söhne, manchmal Schwiegersöhne, Brüder und Vettern, soweit sie nicht selbständige Familienhäupter sind, unternehmen gemeinsam Jagden, fangen und erbeuten sonst, in gewisser Anzahl gesellt, Tiere, oder bringen Früchte und Wurzeln heim als Nahrung. Auch hier herrscht ein Reziprozitätsverhältnis, das sich aber auf die gleichartige von den Männern besorgte Nahrung bezieht, nur unter verzahntem Wechsel der Individuen: d. h. heute bringt A, oder die Gruppe A B C Beute heim und teilt sie mit N, oder der Gruppe NOP, unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß morgen N oder NOP Beute heimbringt und A oder ABC am Ertrag partizipieren 1 ). Dieser Faktor ist von großer vergesellender Bedeutung. Dazu kommt weiterhin, daß die unter einander verwandten Männer in verschiedener Kombination ihre Beutezüge auf einem bestimmten Gebiet, dem Gau, unternehmen und daß sie daher in dauernder Wechselwirkung zu einander stehen. Daß manchmal die Grenzen dieser Jagdgebiete verschwommen sind, oder mehrere Horden oder Banden (die vielleicht von einander abgezweigt sind) im gleichen Gau „beuten" dürfen (vgl. z. B . Stann. [33] 403), steht natürlich dem Anspruch als solchem auf ein Territorium nicht entgegen. Die Männer schützen das traditionelle Jagd- und Fanggebiet gegen fremde Eindringlinge. Ihre Interessen gehen nach dieser Richtung parallel. Alledem entspringen gemeinsame Reaktionen, Absichten, Strebungen und Gedanken, die Männer fühlen sich zu einander gehörig, stehen für einander in Gefahren ein, sind s o l i d a r i s c h unter einander verbunden. Den stärksten Ausdruck findet diese Verbundenheit in der Ausübung der Blutrache 2 ) für einander. Die Männergesellschaft unterscheidet sich grundlegend von der Familie. Die einzelne Familie ist an die Existenz der Personen gebunden, die sie zusammensetzen. Dadurch erhält sie ihren besonderen Charakter als kleine oder vielköpfige Familie, als monogame, polygyne oder polyandrische. Sie erlischt als einzelne Gruppe mit dem Tode ihrer wesentlichen Träger, vor allem des Familienhaupts, manchmal der Familienmutter. Die Überlebenden schließen sich anderen Familien an, entweder durch Heirat (der Witwe) oder durch traditionelle Aufnahme (Levirat) oder Fürsorge (z. B . für den Bruder), während die Kinder durch Heirat neue Familien begründen. Diese sind keine *) Ausführliches darüber in Band III. 2 ) Vgl. dazu Bd. V dieses Werkes.
Zwei- und eingeschlechtige Verbände
7
Fortsetzung der elterlichen Familie. Nur die Formen der Eheschließung, des innerehelichen Lebens und der Kindererziehung werden traditionell von den Trägern der einzelnen Familien nachgeahmt. Dadurch erhalten die Formen in der Eingehung der einzelnen Ehen und des Ehelebens institutionsähnlichen Charakter, zumal der Einfluß der Männergesellschaft hierbei ausschlaggebend wirkt. Die einzelne Familie ist keine konstante Größe sondern starken Schwankungen unterworfen, die sich allein aus dem Lebensablauf ihrer Mitglieder ergeben: das Altern der Eltern und das Heranwachsen der Kinder. Auch die Beziehungen zur Männergesellschaft ändern sich dadurch, namentlich durch die Vorbereitungen zur Aufnahme der Söhne in die Gemeinschaft der erwachsenen Männer (Jünglingsweihen). Der auf den persönlichen Lebenslauf eingestellten Familie, der zweigeschlechtigen Verzahnung, steht die eingeschlechtige Männergesellschaft von prinzipiell unbegrenzter Dauer gegenüber, mit der relativen Irrelevanz des Lebensablaufs der sie zusammensetzenden Personen und selbst der Anzahl ihrer Mitglieder. Sie existiert losgelöst vom Einzelnen und seinem persönlichen Schicksal. Sie ist eine Masse, die von Führern, in komplementärer Zusammenwirkung, zu gewissen Betätigungen gedrängt wird, die jenseits der biologischen Sphäre liegen, welche in der Familie ausschlaggebend ist. Die Verwandtschaft unter den Mitgliedern der Männergesellschaft spielt zwar eine große Rolle für die Begründung eines Vertrauens, auf dem die sich verzahnenden reziproken Leistungen aufgebaut werden, die zur Solidarität führen, aus der das Zusammengehörigkeitsgefühl entspringt, das einer Gesellungseinheit Leben einflößt. Ist aber Vertrauen auf irgend eine andere Weise gestiftet worden, so steht bei Einordnung in den Reziprozitäts-Mechanismus und Übernahme der Solidaritätsverpflichtung auch Fremden der Aufnahme in die Gesellungseinheit nichts im Wege. Pflegschaft, Adoption, Blutsbrüderschaft1), Aufnahme von Kriegsgefangenen besonders durch Heirat sind Zeugen für diese Art Ergänzung der Männergesellschaft aus nicht — oder nur sehr entfernt — Verwandten. Es ist bezeichnend, daß jede solche Einordnung in die Männergesellschaft durch Annahme von Verwandtschaftsbezeichnungen (auch wir sprechen noch von Adoptivvater, Adoptivbruder, nennen einen Freund „Bruder", eine sorgende ältere Frau „Mutter", sprechen Kinder als „Sohn" oder „Tochter" an) besiegelt wird. Kurz, Beziehungen zu Personen der Männergesellschaft werden im Sinne des herrschenden Verwandtschaftsschemas interpretiert. Die Kraft dieses Schemas als Organisationsträger erhellt besonders daraus, wie Abweichungen von der Ordnung trotzdem im Sinne des Schemas (bei den Daly-River Stämmen in Nord-Australien) bezeichnet werden. (Vgl Stann. [33 a] 397). Sie werden auch so aufgefaßt wie symbolisiert. An der Ordnung der Männergesellschaft nehmen die Frauen und die Familie teil, denn auch innerhalb und zwischen den Familien sind Formen des V e r h a l t e n s durch gewachsene Konventionen entstanden. Dafür werden durch die Verwandtschaftsnamen2) S y m b o l e bereit gestellt, wenn sie auch x) 2)
Vgl. darüber die betreffenden Abschnitte dieses Buches. Vgl. dazu Bd. II dieses Werkes.
8
Soziale
Gestaltungen
nicht immer restlos genau sind. — Die Einschaltung kann an dieser Stelle nicht unterdrückt werden, daß die Rousseau'sche Auffassung von einem ungebunden den Trieben hingegebenen Leben der Naturvölker wirklichkeitsfremde Schreibtischspekulation ist. Wenn man die Heiratsordnungen in Betracht zieht, die z. B . in Australien bestimmte Ehepartner von vornherein verwandtschaftlich festlegen, die strengen Strafen erwägt, die früher auf jedem Bruch der Sexualtabus lagen, die weiteren Heiratsverbote, die Kinderverlobungen und die vielerlei Verhaltensvorschriften, die in den homogenen egalitären Vergesellungen herrschten, so wird man sich dem Eindruck streng vorgeschriebenen Verhaltens nicht entziehen können, das ungebändigte Impulse zum Wohl des friedlichen Zusammenlebens der Gemeinde in Bann hielt. Auch das Leben in solchen Gemeinden vollzieht sich, wie Verfasser aus eigener jahrelanger Erfahrung zu belegen in der Lage ist, manchmal viel „gesitteter" und geordneter als unter Europäern, die gegenwärtig sich in starken sozialen und kulturellen Krisen befinden und manchmal ihren Impulsen keine Hemmungen entgegenzusetzen haben. Allerdings bedroht der aus dem Kontakt der Naturvölker mit den Vertretern der europäo-amerikanischen Kultur entspringende Anpassungsvorgang in erster Linie ihre alte „ S i t t e " , die neben manchen Roheiten und Anstößigkeiten für unser Empfinden doch ausgezeichnete Ordnungen des Verhaltens ausgebildet hatte.
§ 2. T e c h n i k u n d
Gesellschaftsgestaltung
Die verzahnende Arbeitsteilung unter den Geschlechtern liefert die Grundlage der Ernährung einer Gesellungseinheit. Dadurch, daß alle Mitglieder direkt an der Nahrungsgewinnung, j e nach ihren Möglichkeiten und Traditionen, beteiligt sind, wird die Art der Lebensführung der Gemeinde bestimmt. Die Gesellschaft der Männer, der Verteidiger und Beschützer der Familien, nimmt auf diese „wirtschaftliche" Tätigkeit nicht nur großen Einfluß, sondern erhält dadurch ihre Prägung bezüglich Planung, Zusammensetzung, Größe und Gliederung. Daraus ergibt sich die Abhängigkeit der Gesellschaftsgestaltung von dem Stand der in einem gewissen Gebiet anwendbaren oder traditionell angewendeten Technik der Nahrungsgewinnung. E s macht einen großen Unterschied für die Möglichkeit der Organisation und Größe einer Gemeinde aus, ob sie ihre Nahrung als Jäger, Fänger, Sammler gewinnt, ob sie absichtlich Weideland für Vieh, oder geeigneten Boden für den Feldbau aufsucht, ob und wie weit sie Handwerke ausübt und die Erzeugnisse (Töpfe, Beile, Armringe, Netze, Holzgeräte, Pfeile, Speere u. dgl. m.) weiter verhandelt. 1 ) Durch die Auswirkung der Technik auf die Gestaltung der Gesellschaft eröffnet sich dem — im zweiten Abschnitt dieses Bandes ausführlich erörterten — nicht umkehrbaren Vorgang der Aufspeicherung von Fertigkeiten der Hand und Kenntnissen des Kopfes, dem irreversiblen Akkumulationsprozeß, ein entscheidender Einfluß, in erster Linie auf die Gestaltung der Männergesellschaft, und weiterhin auf die der Familie. Der Familienkern, 1)
Ausführlicheres in Bd. I I I dieses Werkes.
Technik und
Gesellschaftsgestaltung
9
das Mutter-Kind-Verhältnis ist ein biologischer Fels in der Erscheinungen Flucht — bis auf wenige, aber um so destruktiver wirkende Ausnahmen, wie wir sahen. Die Verzahnung der Geschlechter unter einander öffnet dagegen den technisch-zivilisatorischen Faktoren den Zuzug zur Beeinflussung des Schemas, nach dem der Mann in das Familienleben eintritt und daran teilnimmt. Die Anwendimg einer spezifischen Technik in der arbeitsteiligen Tätigkeit der beiden Geschlechter ist nicht gleichartig, und außerdem in derselben Gesellschaft Änderungen unterworfen, wenn durch Wanderungen oder Wechsel in den lokalen Existenzbedingungen neue Faktoren sich geltend zu machen beginnen. Die Bezeichnungen „Feldbauer", „Hirten" u. dgl. müssen als Kennzeichnungen für einen bestimmten Kreis „orthodoxer" arbeitsteiliger Techniken der hervorstechenden Art der Nahrungsgewinnung aufgefaßt werden. Dabei sind bei den Feldbauern sekundäre Unterschiede eingeschlossen, wie die zwischen Grabstockbau und Hackbau, nicht vom Ackerbau mit Pflug und Zugtier zu reden. Der Grabstock ist noch dasselbe Gerät, das die Sammlerin gebrauchte. Aber die Frauen verwenden nun den Grabstock um Löcher zu bohren und Schößlinge (von Rüben, Yams, Taro, Bananen usw.) hineinzusetzen. — Der Hackbau verfährt anders. Er bedient sich der Hacke zum Auflockern des Bodens, auf dem Halmfrüchte (Hirse, Hafer, Gerste, Weizen; auch Reis und Mais in besonderer Weise) gesät werden. — Eine Variante des Grabstocks ist der sog. „Fußpflug", ein Grabstock mit Seitenast zum Aufsetzen des Fußes, der z. B. aus dem alten Schottland, aus Neuseeland, Peru und dem Pueblo-Gebiet bekannt ist. Bei den Pueblo geht beim Maisbau der Mann voran und bohrt Löcher in den Boden, die nachfolgende Frau versenkt den Samen (Wissl. [22] 22). Alle Feldbaumethoden können noch durch Be- und Entwässerungskanäle oder Terrassenanlagen ergänzt werden. Sie verbinden sich auch mit Tierzucht: der Hackbau mit Ziege und Schaf, der Grabstockbau namentlich mit Schwein und Huhn (vgl. Laufer [27] 251—255). Der Grabstockbau scheint im südlichen Asien heimisch zu sein und hat sich von da nach dem pazifischen Raum ausgedehnt. Viele Stämme im südöstlichen Asien und der pazifischen Inseln halten Hühner seit Jahrtausenden ohne deren Fleisch oder Eier zu gebrauchen. Dagegen werden die Knochen der Hähne für Wahrsagezwecke benützt, vielleicht im Anschluß an das Krähen des lebendigen Tieres. Denn bei vielen südostasiatischen Stämmen spielt der Hahn als Künder der Zukunft und heiliges Tier eine große Rolle, auch in der Mythologie. Dieselben Gegenden (Ober-Birma) gelten als Heimat der Domestizierung des Huhns. Bei denselben Stämmen wird auch das Schwein (wegen des Grunzens) als Orakeltier gehalten, besonders wird seine Gallenblase etc. untersucht. In Südost-Asien finden sich auch Hahnenund Schweinekämpfe, die ursprünglich Streitigkeiten unter Dörfern auf diesem Wege eines „Gottesurteils" entschieden. — Der Hackbau hat vielleicht vom westlichen Asien her die Küsten des Mittelmeeres und Afrika überzogen. Der reichere Ertrag des Anbaus von Körnerfrüchten ermöglichte größere Gemeinden. Das Hirtentum wieder faßt das Halten von verschiedenen Herdentieren zusammen, von Rind, Rentier, Esel, Kamel, Büffel, Lama usw. Jedes
10
Soziale Gestaltungen
erfordert eine andere Behandlung und schlägt dementsprechend die Lebensweise seiner Hirten in je verschiedener Weise in Bann. Die Frauen widmen sich der Sammeltätigkeit und helfen den Männern. Oft hat sich Feldbau angeschlossen. — Feldbau und Viehzucht betreibende Stämme verzichten nicht notwendig auf Jagd und Fang; deren Bedeutung tritt namentlich in Notzeiten hervor. — Handwerkliche Tätigkeit ist in bestimmten Familien dieser beiden Formen von Nahrungsgewinnung heimisch. Die erwähnten Typen von Techniken der Unterhaltsbeschaffung wirken durch die besondere Lebensweise auf die psychische Verfassung ihrer Vertreter zurück. Die Feldbauer werden durch das Reifen der angebauten Früchte bewogen, zum Anbauorte zurückzukehren, oder in dessen Nähe zu verweilen, somit zu größerer Seßhaftigkeit veranlaßt. Die Ernten bescheren Fülle, denen vielleicht Perioden des Darbens folgen, besonders in Zeiten der Dürre. Der Lebensrhythmus bewegt sich leicht in Extremen. Die den Ertrag vorbereitende Tätigkeit erzieht zur Arbeit, an der besonders die Frauen beteiligt sind. Zeiten des Uberflusses gestatten L u x u s und Ausüben der Künste. Die Expansion der Feldbauer ist eine kolonisatorische, durch Abzweigung eigener neuer Gemeinden, die sich verselbständigen. Ihre innere Organisation wird zwecks rationellen Verfahrens bei der Anlage von Pflanzungen, Aussaat und Ernte durch (oft zauberisch aufgeputzte) Beaufsichtigung der Wirtschaft vereinheitlicht, so daß auf egalitärer Grundlage eine sakrale — aber auf die Wirtschaftsorganisation beschränkte — Diktatur besteht. — Der Hirte ist an die Lebensfürsorge für das Vieh gebunden. Sein Nomadisieren bewegt sich in festeren Formen als das des Wildbeuters. Die Nutzungsart der Tierspezies schwankt nach deren Eigenart. Obgleich Jagd und Fang zwecks Ernährung in vielen Fällen den Anstoß zur Domestizierung einer Spezies gegeben haben mag, wurde sicher auch das spielerische Befassen mit Lieblingstieren ein Anreiz dafür. Halten doch Naturvölker verschiedene Lieblingstiere. Der hervorstechendste Zug der Viehhaltung gegenüber dem Jägertum besteht in der rationellen Bewahrung des Bestandes der Herde. Dies legt gerade andere Verwendungsarten nahe als das bloße Verzehren der Tiere. Echte Kuhhirten wie die Masai essen nur verstorbene Tiere auf, und nutzen die Herde durch Melken und Blutabzapfen: d. h. sie leben vom Ertrag. Schafhirten leben vom Gewinn an Wolle; Esel, Kamel, Lama werden zum Befördern von Lasten, der Hund zum Ziehen von Schlitten usw. verwendet. Nur ein bestimmter Prozentsatz junger Tiere der Herden wird bei besonderen Gelegenheiten geschlachtet. Dieses H a u s h a l t e n ist oft durch religiöse Vorschriften in die betreffende „Weltordnung" eingebaut. Die Hirten kennen nicht Zeiten von rauschender Fülle. Ihr Leben verläuft in weniger schroffem Wechsel. Aber Planen, Voraussicht für die Herden, Wagemut beim Aufsuchen neuer Weiden, Umsicht und doch Sicherheit des Lebensunterhalts beherrscht ihre Existenz, wenn nicht Seuchen ausbrechen oder unerwartete Dürre die Weiden vernichtet und zur Abwanderung anreizt. Ahnlich wie bei den Wildbeutern können zwar nicht große Menschenmassen zusammenleben (wie im Falle des große Siedlungen gestattenden Feldbaus). Aber die Verbindung unter den Hirtengemeinden wird mehr gepflegt und die Abstammung oft weit
Technik
und
Gesellschaftsgestaltung
11
rückwärts (besonders in der männlichen Linie) berechnet. Ihre Beweglichkeit macht sie zu Räubern oder Händlern, ihre aktive Lebensgestaltung zu politischen Führern und Eroberern. Wie oben erwähnt, unterliegt die traditionelle Technik der Nahrungsgewinnung Änderungen auch in derselben Gesellschaft. Durch den Kontakt mit den zugewanderten Melanesiern, deren Frauen Feldbau treiben und deren Männer Schweine züchten und Bäume (Kokos- und Betelpalmen, Brotfruchtbäume und Sagopalmen) pflanzen, wurden die wildbeutenden sog. „papuanischen" Stämme, besonders von Neu-Guinea und den großen Inseln, einer ähnlichen Tätigkeit gewonnen, die sie s e ß h a f t machte, ein Prozeß, der z. B . bei den Baining der Gazelle-Halbinsel erst vor kurzem vor sich gegangen ist, während einzelne Inlandstämme Neu-Guineas heute noch ein nomadisches Leben als Jäger und Fänger führend angetroffen werden, so die Kuku-kuku (Annual Report for Papua, for 1921/22 [23] 10f.). Übrigens sei die Einschaltung gestattet, daß selbst stabile Feldbauer-Gesellschaften wie die Irokesen Nordamerikas in ihrer Seßhaftigkeit nicht überschätzt werden dürfen. Sie verlegten ihre „ S t ä d t e " alle zehn bis zwölf Jahre, wenn der Boden erschöpft war. Die Frauen, die den Boden bestellten, gaben das Zeichen zum Verlegen der Siedlung, mitunter um nur ein paar Meilen (Beau. [00]). Änderungen der oben erwähnten Natur bedingen auch Verschiebungen in der A r b e i t s v e r t e i l u n g unter den Geschlechtern. Wir dürfen nicht vergessen, daß diejenigen Stämme, die wir heute mit einer bestimmten Technik ausgerüstet und eine bestimmte Arbeitsteilung beobachtend antreffen, nicht seit jeher so lebten. Bei den Irokesen herrschte gewissermaßen die orthodoxe Arbeitsteilung, weil der Mann jederzeit in Bereitschaft stand, Dorf und Familie zu verteidigen (Parker [10b] 22), während die Frauen unter Leitung einer Matrone die Felder bestellten. Dies dauerte sechs Wochen und wurde als eine Zeit von Fest und Freude betrachtet. Beiläufig geht daraus die andere Einstellung zur „Arbeit" hervor, und die Unzulässigkeit, Wertungen unserer Kultur auf die Vorgänge und Tätigkeit in einem anderen Volk zu übertragen. — B e i den Creek-Indianern von Oklahoma bestellten die Frauen nur die kleinen Hausgärten, aber auf den Feldern arbeiteten beide Geschlechter zusammen. Während der Hauptbestellzeit und Ernte war Jagen den Männern verboten, erst im Herbst und Winter durften sie diese Tätigkeit aufnehmen (Swant. [28] 384f.). Die Verteidigung scheint hier nicht so notwendig und die J a g d nicht so ergiebig gewesen zu sein um die Gesamtheit der Arbeit in den Feldern den Frauen allein zu überlassen. Solch ein rationalistischer Gesichtspunkt mag durch die Übernahme der Feldbaukunst von anderen Stämmen gefördert worden sein, nämlich dadurch, daß traditionelle Vorurteile (in Bezug auf Geschlechtsmagie) bei diesen fehlten oder schwächer waren. — Unter den südwestlichen Pueblo fiel die gesamte Tätigkeit in den Feldern dem Manne zu. Hier scheint die starke handwerkliche Tätigkeit der Frauen, besonders als Töpferinnen, Weberinnen, Korbflechterinnen, dem Manne die Feldbauarbeit zugeschoben zu haben, zumal auch die J a g d und der Fang in dieser Gegend nicht sehr ergiebig sind. Vielleicht kann das Dankeswort der Frau an den von der Feldarbeit heimkehrenden Mann im Sinne einer Reminiszenz
12
Soziale
Gestaltungen
daran gedeutet werden, daß die Feldarbeit eigentlich Frauensache sei. (Diesen Hinweis verdanke ich der Freundlichkeit von R . A. L o w i e , der selbst dieses Dankeswort bei den Hopi-Indianern gehört hat. Vgl. Godd. [27]). Bei besserer Sicherung in größeren (besonders in geschichteten) Gemeinwesen, z. B . in Westafrika, werden die Männer von ihrer Familie als ständige Beschützer der Frauenarbeit befreit und beteiligen sich neben den Frauen an der Feldarbeit. Ähnliche Veränderungen finden wir bei den Hirten. Orthodoxerweise fällt das Melken den Männern zu. Bei den Dschagga (am Kilimandscharo in Ostafrika) melken aber die Frauen. Hier wurden die Kühe aus Angst vor den räuberischen Uberfällen der benachbarten Masai in den Hütten eingesperrt gehalten, und damit fiel den Frauen das Füttern der Kühe neben ihrer Hausarbeit zu. — Während bei den nomadischen Hirten die Errichtung der Zelte oder Hütten Sache der Frauen ist, wie bei den Arabern oder den Masai, „beteiligen" sich die Frauen bei den seßhaft gewordenen wa-Kamba am Hausbau (was bei den Feldbauern nicht der Fall ist). — Historisch sich zutragende S i t u a t i o n s a b f o l g e n bedingen die Sondergestaltungen. Wenn s o z i a l e S c h i c h t u n g regelmäßige Verpflichtungen zu Leistungen und Abgaben an Getreide oder Handwerkserzeugung auferlegt, so fällt die konzentriertere Anstrengung besonders den Männern zu, weil sie in den eben durch die Schichtung geschaffenen erweiterten Friedensgebieten von ihrer Sicherungsfunktion entbunden sind. Dadurch wird Arbeitskraft gewonnen. Die Tätigkeit der beiden Geschlechter wird durch die Reziprozitätsforderungen im allgemeinen mehr ausbalanciert als oberflächliche, vorurteilsbeladene oder sensationslüsterne Berichte glauben machen. Neue Techniken, Kulturpflanzen, Fertigkeiten, Handelsmöglichkeiten, Lebensbedingungenusw. mögen die herkömmliche Arbeitsteilung unter den Geschlechtern aus dem Gleichgewicht bringen, wie etwa der europäische Einfluß in Afrika es tut, aber solche Ubergangssituationen pendeln nach einer Generation zu einer neuen ausgleichenden Dauerlage zurück. Die große Mannigfaltigkeit der Einzelheiten in der traditionellen Arbeitsteilung von Stamm zu Stamm, von Sippe zu Sippe, von Dorf zu Dorf, legen Zeugnis von der individuellen Verschiedenheit der Sonderschicksale ab. Ähnlich steht es mit der Aufteilung der handwerklichen Tätigkeit unter den Geschlechtern. Töpferei ist z. B . Frauenarbeit, vielleicht Frauenentdeckung. Mit der Einführung der Töpferscheibe, die vermutlich vom R a d abgeleitet ist, wird sie Männerarbeit. In geschichteten Gesellschaften in denen Abgaben an Töpfen gefordert werden, fällt die Töpferei ebenfalls den Männern zu Last, ähnlich wie die Getreideabgaben etc. Handwerkliche Fertigkeiten führen fast immer zu einer Sonderstellung, die günstig bewertet wird, wenn der Handwerker nicht durch Knappheit der Nahrung in eine ungünstige TauschSituation gedrängt wird. Die hergebrachte Form der Nahrungsgewinnung und Lebensführung wird nur schwer geändert. Bloßes Kennenlernen neuer Techniken bei anderen genügt nicht, um die hergebrachten Gewohnheiten der Nahrungsgewinnung aufzugeben. Jahrhunderte langer Kontakt zwischen den Bergdama und den Herero-Hirten hat jene nicht au6 Jägern zu Kuhhirten werden lassen, die
Technik
und
Gesellschaftsgestaltung
13
•wildbeutenden Vedda von Ceylon nicht die Lebensweise der Singhalesen annehmen lassen, die Waldzwerge des Kongo nicht zum. Feldbau der Yaunde verleitet. Obwohl die Masai-Hirten Feldbauerstämme ihrer Nachbarschaft Jahrhunderte lang beraubten, nahmen sie von diesen nicht die Bodenbestellung an, ebensowenig wie die Beduinen Arabiens oder die Tuareg der Sahara sich zu dieser bequemten. Vermöge der großen Konstanz und einer Reihe von Zügen, die sich aus der ähnlichen Technik der Nahrungsmittel-Gewinnung ergeben, kann man (wie das im I. Band geschehen) Wildbeuter, Feldbauer, Hirten u. dgl. je unter sich zusammenfassen und von ihnen entsprechenden „Kulturhorizonten" sprechen. Dabei werden Einzelheiten, etwa der Arbeitsteilung unter den Geschlechtern, bewußt vernachlässigt. Die Verrichtung gewisser regelmäßiger Arbeiten bedingt Abhängigkeiten von Boden, Witterung, Verhalten der Tiere u. dgl. Psychologisch werden dadurch Reaktionstypen geschaffen, die automatisiert und so zu einem Kulturfaktor werden. Darum gleichen sich Völker, die etwa Hirtentum oder Feldbau, oder „bäuerliche" Nahrungsgewinnung angenommen haben, einander jeweils psychisch so stark an, daß selbst Rassenmerkmale in den Hintergrund gedrängt werden, wie im Falle der (im I. Bande S. 219f. beschriebenen) GoajiroHirten Columbiens. Solche Übergänge kommen, wie schon angedeutet, nicht durch bloße intellektuelle Kenntnisnahme zu Stande, sondern müssen durch Kräfte irgendwelcher e m o t i o n e l l e r Betonung herbeigeführt werden. Diese können z. B. in Kämpfen, Seuchen, Hungersnöten ungewöhnlicher Art bestehen. Besonders wichtig ist dabei aus friedlichem oder kriegerischem Kontakt hervorgegangene Blutmischung. Die Verbindung von Großviehzucht mit Feldbau wurde in großen Teilen Afrikas durch rassische Verbindung der Hirten mit den Feldbauerstämmen erleichtert. Wo sich die Übernahme (vgl. T. [32 c]) fremder oder partiell fremder Techniken vollzieht, findet häufig eine teilweise oder völlige Veränderung in der Haltung zur Technik, in ihrer Wertung, ihrem Symbolgehalt, ihrer zeremoniellen magischen oder religiösen Verknüpfung statt. — Die wa-Nyamwezi (ursprünglich Hackbauer) und wa-Sukuma Ostafrikas z. B. haben Rinderherden durch ihre von Hirtenstämmen (watussi) abstammenden Häuptlingsfamilien erworben. Die Kühe wurden bei ihnen zu einem Reichtum symbolisierenden Besitz. Die Kargheit der Weiden reduzierte die Milch der Kühe. Das Vieh degeneriert, aber man verringert nicht entsprechend die Menge, um die Qualität zu verbessern, weil das an der Z a h l des Viehs haftende Prestige entscheidend ist. Erst das verstorbene Tier wird verzehrt, und heute die Haut verkauft. — Bei den ebenfalls ursprünglich feldbauenden Chinesen ist die Milchgewinnung ganz in Wegfall gekommen. Ebenso wenig nützen sie die Wolle für Webstoffe. — Die afrikanischen Hirten (mit Ausnahme Abessiniens und Nordafrikas) kennen nicht die Verwendung des Rindes als eines Zugtieres. Daher hat sich der Hackbau in Afrika nicht zum Pflugbau) gewandelt. Wir dürfen nicht vergessen, daß die an den Peripherien der alten Kulturzentren lebenden zeitgenössischen Naturvölker selten als reine oder gemischte Nachkommen der ersten Entdecker von Hirtentum oder Feldbau betrachtet
14
Soziale
Gestaltungen
werden können. Natürlich macht es einen Unterschied aus, ob ein Volk erst kürzlich etwas Feldbau angenommen hat wie papuanische Wildbeuterstämme, oder etwa vom Hirtentum durch Verlust des Viehs auf ein Jägerleben zurückgeworfen wurden, wie die wa-Nderobbo Ostafrikas. Andererseits sind viele der „ursprünglichen" Hirten oder Feldbauer dank Wanderungen, Schichtungen und dem Erwerb von neuen Fertigkeiten, also vermöge sozialer und intellektueller Vorgänge, inzwischen über das Stadium hinausgewachsen, das wir bei den „peripheren" Völkern heute noch finden: sie leben nun in zusammengesetzten und geschichteten Gemeinwesen mit indirektem Nahrungserwerb und in dementsprechenden komplizierteren Lebensformen. Der Übergang vom Wildbeutertum zu pfleglicher Behandlung von Pflanze und Tier ist nicht plötzlich eingetreten. E r war vorbereitet durch die „Zauber" zur Vermehrung der Jagdtiere und Nutzpflanzen, durch Regenmachen u. dgl. m. Dabei handelte es sich aber nur um Spekulationen, nicht um auf z e r g l i e d e r n d e r Naturbeobachtung fußende rationale Verfahren. S t a t t Vorbereiten des Bodens, Säen, J ä t e n und Ernten, wollte man ernten, bevor man gesät hatte, im Sprung den Erfolg erzielen durch Intensivierung der Wünsche mit einem von Größenwahn geschwellten Mittelpunktsgefühl. Wir werden uns vorzustellen haben, daß Familien mit neuen Entdeckungen vom Stamm abgezweigt sind, um ihr neues Verfahren einzuschlagen. Die Folge verbesserter Technik war reicherer Ertrag und die Möglichkeit einer Vergrößerung der Zahl geseilter Familien und ihrer Bedürfnisse. Die Männergesellschaft ist im Gegensatz zur Familie fast unbegrenzt erweiterbar. Allerdings spaltet sie sich bei Vergrößerung in Untergruppen auf. Sogar in den kleinsten egalitären homogenen Einheiten finden sich enger gesellte Freunde und Freundesgruppen. § 3. V e r b a n d s b i l d u n g a u f e g a l i t ä r e r
Grundlage
Die Vergesellung von Familienhäuptern hängt nicht allein vom Stand der Technik ab, von den Waffen, Vorrichtungen und Geräten für die Beschaffung der Beute, sondern von vielen lokalen Faktoren, insbesondere z. B . bei Wildbeutern, vom Vorkommen und vom Zug der Tiere, auf die sich J a g d und Fang richten, von den Pflanzen, deren Wurzeln, Knollen oder Früchte gesammelt werden, und ihren Reifeperioden. Danach richtet sich auch das Nomadisieren einer Horde. Andererseits spielen Verwandtschaftsbeziehungen und Ordnungen für die Wahl der Ehepartner eine große Rolle, endlich das Verhältnis aller dieser Sitten zur angenommenen „Weltordnung." Zunächst ist ein Überblick über die tatsächlichen Familienanhäufungen nötig, über ihre Dauerhaftigkeit, die Verwandtschaft ihrer Angehörigen untereinander, ihr Verhältnis zur Nahrungsquelle, ihre Funktion als politischer Verband, als Kulturgemeinde, als Heiratsgruppe, Altersgesellung. Die Mannigfaltigkeit der besonderen Funktionen, die in den Vordergrund treten •— j e nach der besonderen Situation, oder durch Aufspaltung eines weiten, diffusen Verbandes in Spezialgruppen (z. B . für Kult) — ermöglicht die verschiedenartigen Zusammenschlüsse, die im folgenden gekennzeichnet
Verbandsbildung
auf egalitärer
Grundlage
15
werden sollen. Die Männergesellschaft hat nicht nur die Eigenschaft ihrer Erweiterbarkeit, sondern parallel mit der Ausdehnung geht auch eine vielseitige Aufspaltung aller größeren Verbände in Untergruppen mit mannigfachen Funktionen (z. B. für Wahl der Ehepartner, lokale Verteidigung) und Zwischenwirkungen unter ihnen. Ein Mann gehört dann etwa gleichzeitig an: 6einer Familie, seinem Siedlungsverband, seiner Heirats-(Sexual)-gruppe, seiner Abstammungsgenossenschaft und Kultgesellschaft, seiner Altersstaffel, seiner Freundschaftsgruppe usw., falls alle diese Sonderfunktionen in einer Gesellschaft durch besondere Zusammenschlüsse organisiert wurden. Immer kontrolliert ein solcher Verband das Verhalten seiner Mitglieder, wenigstens in einer, gewöhnlich in mehreren Beziehungen. Durch solche „Standardisierungen" wird eine Automatisierung des Verhaltens erzielt, und werden Denken und persönliche Entscheidung im Einzelfall erspart. Die Situationen erleiden eine Schematisierung und eine anerkannte schematisch festgelegte Lösung. Die psychische Grundlage der Gesellschaftsverfassung drückt sich in diesen Wertungen und Direktiven des Handelns aus. Sie bestimmen auch den Siebungsprozeß dadurch, daß die Sitte ein gewisses Verhalten auszeichnet, ein anderes verurteilt, und deren Repräsentanten entsprechend im Einfluß steigen oder fallen läßt. Um die Mannigfaltigkeit der Verbandsbildungen zu überblicken, empfiehlt es sich, Ordnung dadurch zu schaffen, daß Verbände mit typischen Charakterzügen mit denselben Ausdrücken benannt werden. Leider herrscht Chaos in der heutigen Terminologie. Wir dürfen auch nicht von dem Wort ausgehen, das ein Autor mit mehr oder weniger Berechtigung gebraucht, sondern von dem vorfindlichen Tatbestand. — Zunächst finden wir 1. Gemeinden, die auf egalitärer Grundlage organisiert sind, 2. Gemeinwesen mit bevorrechteten Familien oder minderberechtigten Personen. Letztere werden im nächsten Paragraphen, § 4, behandelt. Hier interessieren uns egalitäre Verbände verschiedener Art, isolierte, (einzelner Klan), geschachtelte, (Siedlungsgemeinde mit mehreren Klans), sich überschneidende (auf verschiedene Siedlungen verteilte Sippen), und zusammengesetzte (ein Aggregat von verschiedenen Siedlungen oder Sippen in einem Gemeinwesen oder einem „Bündnis"). Der loseste Zusammenschluß von „souveränen" Familien auf egalitärer Grundlage mag als „Horde"1) bezeichnet werden.2) Wildbeuter wie Eskimo und Buschmänner versammeln sich je nach dem Streifen des Jagdwildes an traditionellen Lagerplätzen. Verwandte und verschwägerte Familien treffen je nach den Aussichten für Jagd und Fang zusammen und verweilen ein paar Monate.3) Dann stieben sie gemäß den Umständen und der Jahreszeit auseinander. Sie halten sich aber innerhalb eines traditionellen Gebietes, das sie gegen Fremde verteidigen. Heiraten unter Geschwistern gelten als ungehörig, noch mehr zwischen Vater und Tochter, oder Mutter und Sohn. Tatsächlich engl, horde. In der Literatur findet man alle möglichen Bezeichnungen für diesen und die folgenden Ausdrücke. Wird also in einem Buch von einem „clan" oder „Stamm" geredet, so deckt sich das nicht notwendigerweise mit dem hier verwendeten festen Terminus. 3) Vgl. dazu die Beispiele in Bd. I. 2)
16
Soziale
Gestaltungen
finden dennoch sexuelle Annäherungen unter diesen gegen die Regel statt, ausnahmsweise auch dauerndes Zusammenleben von Geschwistern. Das Verbot und die Diffamierung inzestuöser Dauerverbindungen ist höchstwahrscheinlich auf den Austausch von Mädchen innerhalb verwandter Familien zurückzuführen, wodurch die Freundschaft unter den Familien bekräftigt und durch Verstärkung der Verwandtschaft der Grund zu einer Erweiterung und Sicherung der Solidarität gelegt wurde. Aber auch ungleiche Verteilung der Geschlechter mußte zu exogamen Sitten führen. Z. B . hatten die Imutö im Mündungsgebiet des Sepik in Neu-Guinea 1913 einen Uberschuß an Burschen, das benachbarte Derbuab an Mädchen. Imuto-Burschen holten sich Mädchen aus Derbuab. Am unteren Keram gab es ein ähnliches Mißverhältnis: Kambot hatte Uberschuß an Mädchen, das eine andere Sprache redende Tjimundo an Burschen. Die Kombot-Väter holten sich sogar „mit milder Gewalt" Burschen aus Tjimundo für ihre Töchter. Bei günstiger Konjunktur konnten die Väter verlangen, daß der Bursche erst für das Mädchen bei ihnen arbeitete, wodurch inzestuöse Verbindungen weiter entwertet wurden. Als „ B a n d e " 1 ) wollen wir eine d a u e r n d verbundene Familienagglomeration benennen, wie sie bei den Sioux-Indianern oder auch bei den Bergdama Südwest-Afrikas zu finden ist. Zu den „Banden" wird man auch zu rechnen haben die von Gifford als „lineages" bezeichneten Familiengruppen „nena" der Miwok-Indianer der Sierra Nevada (A. A. 28 [26] 390). Der Zusammenschluß erfolgte hier teils zur besseren Verteidigung, teils wegen guter Beutegründe. Diese Jäger- und Sammler-Gemeinden suchten unter Führung einzelner Männer regelmäßig Sommerplätze auf und kehrten dann wieder zu ihren traditionellen Beutegründen zurück. Diese ständigen Banden hatten auch den Austausch von Mädchen zwecks Heirat unter einander organisiert. Es hatte sich eine „Halbierung" des Stammes für diese Einrichtung herausgebildet, die das Bandensystem durchkreuzte, vermutlich das Ergebnis des Anwachsens oder anderer Veränderungen im Stammesleben. — Auch die Verbände vieler australischer Stämme wird man als „Banden" zu bezeichnen haben. Vom Dampier-Land in Nordwest-Australien heißt es z. B., daß jeder Stamm in eine Anzahl patrilinearer Banden eingeteilt ist, von denen eine jede auf einen bestimmten Teil (Gau) des Stammeslandes Anspruch erhebt. Dieser Gau wird „bor" genannt, die Bezeichnung für „Lager". Jeder Gau hat seinen Häuptling und „zweiten Mann" und die Banden eines Gaus besitzen ihre Jagdregel und Territorialhoheit. Der Einzelne gehört der lokalen Bandengruppe vermöge seiner Verwandtschaft an. Diese Gruppe spielt eine wichtige Rolle für die Veranstaltung von Heiraten, die immer mit entfernten Gauen vor sich geht. Ohne auf die Einzelheiten hier eingehen zu können, sei nur hervorgehoben, daß die Vetter-Basen-Heirat (cross-cousin) verboten ist. Mit der lokalen Organisation ist der Glaube an die Herkunft der Kinder aus bestimmten Wasserlöchern, Quellen, Bäumen und Felsen des Landes oder der See verknüpft. Dazu kommt die Vorstellung einer Reinkarnation der ») engl. „ b a n d " .
Verbandsbildung
auf egalitärer
Grundlage
17
Verstorbenen in den Kindern. Anzeichen sind vorhanden, daß totemistische Vorstellungen vor kurzer Zeit von Nachbarstämmen (den Djauor, Nygina, Koradjeri und Djukan) erworben wurden (Elk. [33a] 437ff., 451). —• Schon aus diesen beiden Beispielen ist die Verflechtung und Überschneidung der politischen und lokalen Einheiten mit Verwandtschaftsgruppen für Heiratszwecke, sowie die Verwebung solcher Gruppierungen mit dem Weltbild und den Vorstellungen über Anfang und Ende des menschlichen Lebens ersichtlich. Es haben sich also Spezialgruppen von der politischen Gruppe abgespalten, die wir als „Sippen" bezeichnen wollen, und von denen noch die Rede sein wird. Als Ursache der Abspaltung werden teils Anwachsen und Verselbständigung von Banden, teils Zusammenschrumpfen anderer infolge von Abwanderung, Seuchen, Kämpfen, also innere Verschiebungsvorgänge in Rechnung zu setzen sein, somit eine Umgruppierung der konstituierenden "Familien Aber auch abgesehen davon würde die Sitte, Mädchen von einer bestimmten Familie oder Familiengruppe zur Ehe zu nehmen, zu besonderen Verbindungen unter diesen führen, die jenseits der politischen Gemeinde stehen oder doch stehen können. Ist eine „Bande" so konsolidiert, daß sie sich nicht nur als von einem oder mehreren Ahnen abstammend betrachtet, sondern auch gemeinsamen Kult der Ahnen betreibt, der durch Symbolik gestützt wird, die ihrer Auffassung von „Weltordnung" entnommen ist, auf ein gemeinsames Gebiet Anspruch erhebt und eine geschlossene besonders wirtschaftliche Organisation aufweist, so sprechen wir von Klan. 1 ) Der Klan ist eine Extremgestaltung, wobei politische, Kult- und Heirats-Organisation zusammenfallen. Der nordaustralische Stamm der Wik-Munkan vom Cap York z. B. besteht aus einer Anzahl (30) von vaterrechtlichen Klans, die je von einem gemeinsamen Ahnen abzustammen behaupten und auf einen Gau als ihr Jagdgebiet Anspruch erheben. Von diesen Klans sind heute einige ausgestorben, die Mehrheit besitzt 1—5, wenige 5—10 Mitglieder, einige bis zu 20. Das Gaugebiet eines Klans umfaßt 50 bis 100 Quadratmeilen. Früher waren diese Klans wahrscheinlich annähernd gleich groß. Der ganze Stamm mag 1500—2000 Leute umschlossen haben. Die Frauen sind immer einem fremden Klan entnommen. Jeder Klan besitzt eine Anzahl von Totems. Diese sind von Tieren und Sachen genommen, die nicht bloß wirtschaftlich sondern irgend wie emotionell für bedeutsam gehalten werden, von positivem oder negativem Wert für das Leben des Stammes (McConn. [30]). Als anderes Beispiel mag der Klan der Irokesen (Goldw. [14b] 368ff.) angeführt werden, der aus einer erweiterten mutterrechtlichen Familie hervorgegangen zu sein scheint, so daß anwachsende Familien (obgleich ohne äußerliches Symbol ihrer Einheit) dahin tendieren, zu Klans (durch Namen ausgezeichnet), schrumpfende Klans (ebenfalls mit Mutterfolge) zu Familien zu werden. In der alten Zeit (etwa 17. Jahrhundert) wurde ein Klan vorzugsweise im Besitz eines Gebietes und eines „Langhauses" (Festhalle) gedacht; er hatte seinen eigenen Bestattungsgrund, und seine Reihe von traditionellen Personen1
) engl.: „clan".
2
T b u r m t a l d IV.
18
Soziale Gestaltungen
Namen. Die Mitglieder des Klans konnten nicht untereinander heiraten; der Klan war auch die politische Einheit. Im Irokesen-Bündnis war das Oberhaupt nur Vertreter eines Klans. An der Wahl des Klan-Hauptes nahmen die Frauen als Mitglieder der Mutter-Familie teil. Letztere veranstaltete früher auch die religiösen Zeremonien. Das Oberhaupt des Bündnisses und die zeremoniellen Beamten der Klans wurden letztlich innerhalb der Mutter-Familie auserkoren. Die Häuptlinge und Unterhäuptlinge folgen in der Linie der Mutter-Familien. Es wird geschätzt, daß ein Klan aus 2 bis 5 Familien von zusammen 250 bis 500 Individuen bestand, die Zahl der Klans höchstens 40 betrug, die sich auf die 5 Stämme des Bündnisses verteilte, das im 17. Jahrhundert auf wenigstens 15 000 Personen veranschlagt wird. — Hier zeigt sich die weitere Verbindung von Klans auf egalitärer Grundlage — wobei aber die Selbständigkeit der Klans vollständig erhalten blieb — in einer freien Agglomeration von gleichwertigen Einheiten. Im Klan erlebt eine Familienagglomeration gewissermaßen einen religiös lind politisch fundierten „Nationalstaat". Selten bleibt es aber bei dieser umfassenden Systematisierung. Ohne daß notwendigerweise die Extremform des Klans erreicht werden mußte, können Familienagglomerationen sich in der Weise differenzieren, daß einige unter ihnen durch religiöse Bande auf Grund gemeinsamer Abstammung und gleichen Ahnenkults sich verbunden fühlen, während andere zu politischen Gemeinden sich zusammenschließen, wie das schon bei Schilderung der „Banden" zu Tage trat. Solche auf religiöser Basis verbundene Familien sollen als Sippen1) (Kult-Sippen) bezeichnet werden. — Oft scheinen sie hauptsächlich der Heiratsordnung zu dienen und ihr religiöser Hintergrund verblaßt. In diesem Fall können wir von H e i r a t s Sippen reden. — Da ihre Symbolik sich manchmal als auf wichtig für die Lebensführung geltende Tiere, Pflanzen oder Gegenstände bezieht, welche in der Ethnologie als „Totem" bezeichnet werden, so kann man in solchen Fällen zwar von T o t e m - S i p p e n reden, — den Ausdruck „Totem" indessen sollte man besser auf die religiös-mythologische Seite beschränken, die mit Abstammungstheorien zusammenhängt. Totem-Sippen können vorwiegend als Kult-Sippen oder als Heirats-Sippen erscheinen. Mitunter treten Differenzierungen in den Familiengesellungen noch gemäß irgend welcher Besonderheiten in Erscheinung. Dazu gehört die sexuale Teilung in zwei Hälften des Klans der Kult-Sippe oder des Stammes oder der Altersgesellungen. Die Sippen-Gruppierung kann unabhängig von dem Zustande der politischen Entwicklung ins Auge gefaßt werden. J e schwächer die politische Autorität ist, desto stärker treten religiöse und familiale Bindungen hervor. Wir werden sehen, daß politische Autorität der selbständigen Existenz von Klans oder Sippen feindlich ist. Bei den Forest-River-Stämmen Nordwest-Australiens (vgl. Elk. [33 a] 471ff.) gibt es drei große Banden-Gaue: Mararan, Umbalgeri und Yura. Ein Mann hat das Recht, im Gau seines Vaters zu leben und zu jagen, und seine x) engl.: „sib". Dieser Ausdruck wird in Amerika angewendet, wo er besonders durch Lowies Arbeiten Verbreitung fand. In der Bedeutung deckt er sich aber nicht genau mit dem Sinn des hier vorgeschlagenen Inhalts.
Verbandsbildung
auf egalitärer
Grundlage
19
Frau dahin zu bringen, auch falls sein „Geister-Zentrum" außerhalb des Gaugebietes liegen sollte. Im letzteren Fall darf er sich auch im Gau aufhalten, wo sein Ahnen-Geister-Zentrum sich befindet. Jeder Mensch hat drei Totems: eines der vaterrechtlichen exogamen Hälfte, zu der er in Bezug auf die Heiratsordnung gehört. Die Mythe berichtet, daß graunda („native companion" = Vogel) die Exogamie begründet. Er sah einen Krähen-Mann und eine Krähen-Frau und erfuhr auf Befragen, daß sie Geschwister waren. Daraufhin vertrieb er sie und begründete das Gesetz, daß „graunda''1-Wesen (der „iure" = Hälfte) die panar-Wesen (Truthahn) heiraten müßten (ein Mann heiratet Mutter-Bruders Tochter), um die Heirat unter Bruder und Schwester zu verhindern. „ K r ä h e " gibt es heute nicht als Totem. — Außerdem besitzt jeder ein Klan-Totem, das er vom Vater übernimmt, unabhängig davon, in welchem Ahnen-Geister-Zentrum es beheimatet ist. Angehörige einer Bande können verschiedenen Heirats-Hälften (Sexualgruppen) und Klan-Sippen angehören. Auch Leute desselben „Geistes" (gra) können verschiedenen Klan-Sippen (naragu) verbunden sein, obgleich gra und narugu in der Vaterlinie vererbt werden. Man würde also glauben, daß jede Bande ein totemistischer Klan mit Vaterfolge sei. Das trifft auch z. B. für die Wirngir-UnterBande zu, mit dem Kakadu, und für die Manda-Bande mit dem langbeinigen Känguruh als Totem. Die gegenwärtigen Banden scheinen aus kleineren sich zusammengeschlossen zu haben. Außerdem fanden viele Zwischenheiraten unter benachbarten Stämmen statt. Überdies muß ein Mann nach seines Vaters Tod seine Bande verlassen, bis zum nächsten Winter nach der Regenperiode. Inzwischen lebt er gewöhnlich mit den Leuten seines Mutterbruders oder mit der Bande, wo sein gra beheimatet ist. Manchmal bleibt er aber dann ganz dort. Wenn der Sohn des verstorbenen Häuptlings nicht alt genug ist, so geht das Amt an den Bruder der Gattin des verstorbenen Häuptlings oder dessen Mutter-Bruder. Dadurch können Totems und die Horden selbst amalgamiert werden. Darum ist das Land des Gaus nicht notwendigerweise exogam. Die lokale politische Organisation ist nicht mit der Heiratsordnung verbunden. Heirat findet in die Sippe der andern „ H ä l f t e " statt, besonders in die Sippe des Mutter-Bruders. Wenn man das naragu eines Menschen kennt, so weiß man seine Zugehörigkeit zur Heiratshälfte. Die Klan-Totems erfüllen hier also eine soziale Funktion. Verbote, naragu zu töten oder zu essen (wie im nordöstlichen Süd-Australien) bestehen hier nicht, ebenso wenig Vermehrungs-Zeremonien. Doch werden solche durch den Häuptling vorgenommen auf Grund seines gra. — Aus dieser Schilderung wird nicht nur die Überschneidung der Spezialgruppierungen ersichtlich, sondern auch die Vorgänge werden aufgezeigt, die zu Verschiebungen und Änderungen führen. — Eine besondere Kombination der Hälften-Gruppierung findet sich in OstArnhem-Land in Nord-Australien. Jeder Mensch durchläuft in der Generationsfolge einen Heiratszyklus von acht Untergruppen (Hälften von Hälften von Hälften), bis er in seinem Sohnes-Sohnes-Sohnes-Sohn, also in der vierten Generation wieder zur gleichen Heiratsgruppe zurückgelangt (Webb. [33]; Elk. [33b]; Stann. [33b]). Bei feldbauenden Stämmen erfährt die Aufspaltung in Sippen und Unter2*
20
Soziale
Gestaltungen
gruppen Komplikationen durch Ansprüche verschiedener Einheiten. Die profanen Gesellungseinheiten sind Familie und Siedlung z. B . in Lesu im mittleren Neumecklenburg (Powdm. [33] 31 ff.). Das Dorf besteht aus einer Anzahl von (15) Weilern, die mitunter durch Zäune eingehegt sind, jeder Weiler enthält 2 bis 8 Häuser. Die größeren Weiler besitzen Festhalle und Bestattungsplatz, außerdem einen Kochplatz, manchmal ein Kochhaus, jeder Weiler führt seinen eigenen Namen. Auf dem Weiler leben gewöhnlich nahe Verwandte zusammen. Tatsächlich ist das Dorf eine Agglomeration von Weilern, letztere sind die Siedlungseinheiten. Ursprünglich bestand die ganze Siedlung aus zwei Teilen, unter denen oft Streit und Kampf herrschte. Die andere profane Gesellungseinheit ist der Haushalt, die Einzelfamilie aus Eltern und Kindern (die Söhne schlafen nach ihrem 9ten oder lOten J a h r im Männerhaus, nehmen sonst aber am Familienleben teil). Die Siedlungsgemeinde und die Familie werden überschnitten von der Sexual- und HeiratsGruppe: nämlich durch die Halbierung des Stammes, die durch Totems symbolisiert wird: Fischgeier und Weißbrustadler. J e d e Hälfte setzt sich aus mutterrechtlichen Sippen zusammen, die offenbar aus Familien hervorgingen und nicht über eine Sprachgruppe hinausreichen. Die Halbierung nach denselben Totems bildet jedoch die exogame Heiratsgrundlage für nahezu die ganze Insel und Tabar. Außerdem spielt die Hälften-Zugehörigkeit eine Rolle beim Speisenaustausch gelegentlich Schwangerschaft, Geburt, Beschneidung, erster Menstruation, Heirat, Tod. Abstammung von diesen Totems wird aber nicht behauptet. — Die Sippen erheben Anspruch auf Stücke Land, oft auch auf ein Riff oder eine Wasserstraße. Dort nimmt man an, haust ein TotemSchwein, eine Totem-Schlange, oder ein Totem-Hai, die als ihrer Menschengruppe freundlich gesinnt gelten. Dort spuken auch die gas, die das zweite Ich jedes lebenden Sippenmitglieds darstellen. Zu dieser religiös-mythischen Grundlage tritt eine wirtschaftliche Funktion der Sippe, deren Mitglieder einander bei allen wichtigen Verrichtungen unterstützen. Die angesehenen alten Männer (orang) der Sippe sind auch politisch von entscheidendem Einfluß in der Siedlung. Früher besaß jedes Dorf einen Kriegshäuptling, einen Mann, von Reichtum, der sich auf Kampfzauber verstand. Während der sakrale Landbesitz sich auf die Sippe bezieht, liegt der profane in Händen des Dorfes (Powdm. [33] 157ff., s. a. 320ff.). Dieses übt j a die Hoheit über das Gaugebiet aus. I n diesem mag ein Angehöriger des Dorfes roden, pflanzen, jagen oder fischen. Eine Familie nützt in der Regel die alten Rodungen, die schon ihre Eltern benutzten. Will jemand auf der Rodung eines anderen pflanzen, so ersucht er ihn darum und erhält dazu in der Regel Erlaubnis. Aber auch ohne solche kann nichts ihn hindern, im Gaugebiet irgendwo zu pflanzen. Wer seinen Aufenthalt ändert, verliert nicht das Recht auf den Gau seines Dorfes, d. h. das seiner Mutter. Ähnliche Grundzüge finden wir auch in anderen Gebieten z. B . bei den Jatmül-Leuten des mittleren Sepik in Neu-Guinea (Bts. [32] l l f f . , 25), wo die beiden Heiratshälften mit Vaterfolge als „Sonne" und „Mutter" symbolisiert werden. Die Männer der einen Hälfte nehmen die Jünglingsweihe an den Söhnen der anderen vor. Die Hälften setzen sich aus vaterrechtlich-totemisti-
Verbandshildung
auf egalitärer
Grundlage
21
sehen Klans zusammen. Eine Anzahl von Klans stehen paarweise in einem reziproken Freundschafts- und Hilfe-Verhältnis (tsambela). Die Klans Zerfallen in Haushalte (Familien). Außerdem aber werden noch zwei A l t e r s s t a f f e l n unterschieden: die eine welche außer der eigenen Person noch die Großeltern und Enkel umfaßt, und die andere, welche die dazwischen liegende Generation der Eltern, Kinder und Urenkel betrifft. Die jüngeren Leute bezeichnen ihre Staffel als die Sohnesstaffel; wenn sie älter geworden sind, reden sie von der Väterstaffel als der ihrigen. Dieses Beispiel enthüllt nicht nur die Uberschneidung verschiedener Gruppierungen, sondern auch die Organisierung von Altersstufen. Sie sind in einem anderen Zusammenhang, in Band II/A, ALschn. XII a dieses Werkes, bereits behandelt worden. Beiläufig sei nur daran erinnert, daß zwei Systeme von ihnen möglich sind, und zur Anwendung gelangen: das eine (wie das oben erwähnte), das in anderen Teilen Neu-Guineas auch als Variante vorkommt, in dem der Angehörige mit seiner Altersgruppe (hauptsächlich mit den gleichzeitigen Passanten der Jünglingsweihe) altert, während bei den andern (Beispiel: die Masai-Hirten Ostafrikas) die Altersstaffel als solche konstant ist und der Einzelne diese Gesellungen wechselt, wenn er älter wird. Diese Form ist ebenfalls mit den Zusammenschlüssen für die Jünglingsweihe verbunden, die im II. Band erörtert wurden. Eine besondere Freundschaftsverbindung wurde von Klans der Jatmül berichtet. Es mag sich um eine Variante von Beziehungen handeln ähnlich den nebenehelichen Verhältnissen unter den Banaro am Keram (T. [21a]). Wie immer das sei, begegnen wir wiederum einer anderen Art von einander überschneidenden Zusammenschlüssen, augenscheinlich in magisch-spielerischer Aufmachung. Wenn es auch in der ungeschichteten egalitären Gesellschaft nicht zu zusammengesetzten politischen Organisationen kommt, und wenn auch die wirtschaftliche Organisation über die Familie, den Klan, den Weiler, das Dorf, den Gau nicht hinauswächst, so sind doch andere Zusammenschlüsse vorhanden, die gewissermaßen „internationale" Bedeutung erlangen, wie die sogenannten Stammeshalbierungen zum Zweck der Heiratsorientierung und sexueller Zeremonien, sowie kultisch-magische Verbände. Das Leben in diesen Gesellschaften ist im Durchschnitt jedenfalls viel bunter und abwechslungsreicher und auch mehr von Berührungen mit Fremden durchzogen, als nach der Enge des Lebensraumes und der geringen technischen Entwicklung zu erwarten wäre. Alle diese Ordnungen und Organisierungen von Heirat, Abstammung, Kulten sind aber, wie kritische Beobachter heute mehr und mehr erkennen, nie mit ausnahmsloser Genauigkeit befolgt (vgl. Mead [30] 167ff., 299ff. 1 ); Bts. [32] 96) worden, und ließen individuelle Abweichungen zu. Allerdings darf man nach dieser Richtung nicht übertreiben. Heute angestellte Untersuchungen lassen die Erschütterung der alten Ordnung oft zu scharf hervortreten. Wir werden recht tun, uns vor Augen zu halten, daß es auch früher *) Das Buch von Margaret Mead bezieht sich tatsächlich auf die Admiialitäts-Inseln.
22
Soziale Gestaltungen
Perioden des Übergangs und solche stabilisierten Gleichgewichts gab. In den Übergangszeiten zeigen die alten strikten Ordnungen „Verfalls"-erscheinungen. Es ist aber falsch von dem „Verfall" einer Ordnung auf den Verfall der Menschen, des Volkes, zurückzuschließen. Man darf auch nicht vergessen, daß die Nachbarschaft europäischer Einflüsse in das Leben der Eingeborenen (besonders durch Anwerbung für Pflanzungsarbeit) bereits ausstrahlt, bevor ein intimerer Kontakt mit der betreffenden Siedlung unmittelbar erfolgte. Zu der Zahl der überschneidenden Verbände gehören auch die G e h e i m bünde, die in Band I I behandelt wurden. Sie haben kultischen Charakter und scheinen aus Sippenverbänden hervorgegangen zu sein, die in fremder Umgebung, in die sie durch Wanderung gerieten, ihre alten Traditionen aufrecht erhielten, wie auf den Banks-Inseln, auf der Gazelle-Halbinsel, in T a h i t i , und auch in West-Afrika. Durch Vermischung mit Frauen der älteransässigen Bevölkerung verlor die Sippe den verwandtschaftlichen Charakter und konzentrierte sich auf das Kultische. Der soziale Zusammenhang wurde aber durch zeremoniellen Tausch z. B. von Schweinen gegen Muschelgeld (vgl. z. B. Grov. [33] 299), Eberhauer, Armringe, Matten u. dgl. aufrecht erhalten. Diese Wertträger waren vermutlich auch die Dinge, welche die Zuwanderer ursprünglich den älter-ansässigen Leuten gebracht hatten. Auf den sozialisierenden und gleichzeitig gesellschaftlich auszeichnenden Charakter, den der Besitz solchen „ G e l d e s " , solcher auszeichnender Wertungssymbole, enthält, ist schon in Band I I I hingewiesen worden und wird im Zusammenhang mit den Überlagerungs- und Schichtungsvorgängen noch zurückzukommen sein. Wiederholt wurde hier von Stämmen 1 ) geredet. Liegt ihnen eine politische Organisation zu Grunde ? Nur selten. Überwiegend handelt es sich dabei um von Europäern aufgestellte theoretische Zusammenfassung von Klans, Siedlungsgemeinden und Gauen, in denen annähernd dieselbe Sprache geredet wird, welche eine ähnliche zivilisatorische Ausrüstung besitzen und deren Auffassung von Welt und Leben, deren Kulte und Zeremonien, Überlieferungen und Einrichtungen einander ungefähr gleichen. Im übrigen aber mögen Fehden und Feindschaften herrschen, und bei Heiraten und Freundschaften können stammesfremde Nachbarn bevorzugt werden (wie z. B. im Fall der Tjimundo am Keram in Neu-Guinea). Die Bezeichnung „Stamm" besitzt einen ähnlichen Inhalt wie bei uns „Nation", „Nationalität". Es ist eine Kulturgemeinschaft auf einer hypothetischen Abstammungsgemeinschaft aufgebaut, der aber fremde Elemente assimiliert sind; politischer Zusammenschluß kann vorhanden sein oder nicht. — Im oben zitierten Beispiel des Irokesenbündnisses liegt ein Ausnahmefall vor. Gewöhnlich fehlt ein Stammeszusammenschluß. Unter europäischem Druck wurde ein solcher hie und da z. B. in Hawaii, Fiji, T a h i t i und Tonga dadurch herbeigeführt, daß einer der örtlichen Häuptlinge, gewöhnlich eine kluge und skruppellose Persönlichkeit, besondere Gewalt durch Unterstützung der Europäer erlangen konnte. So ist es auch mit den Suaheli-Sultanen in Ost-Afrika gewesen, hinter denen teils Araber, teils Europäer standen. engl.: „tribe".
Von der Sippe zum
Individuum
23
In allen diesen Fällen handelt es sich aber bereits um Überschichtungsvorgänge. Diese greifen, wie wir sehen werden, tief in die Gestaltung von Heiratsordnung, Kult, und anderen Gruppierungen ein. Die alten Sippen hefern die Grundlage, auf der z. B. die Kasten sich zusammensetzen, die in den geschichteten Gemeinwesen eine wichtige Rolle spielen. Aus ihnen gehen wieder, die späteren Stände und Gilden von Berufen hervor. § 4. V o n der S i p p e z u m I n d i v i d u u m (Schichtung und Staat). Das Hervortreten des Individualismus ist ein Prozeß, der nicht auf einen einzigen Faktor zurückgeführt werden kann. Wie so oft, sind derartige Yor-
D i a g r a m m I. Politische Gestaltungen auf Grund von Agglomeration u n d Splitterung von Sippen. Links oben ist eine einfache Horde von Wildbeutern, wie wir ihnen etwa in einer „ W e r f t " der Bergdama Südwestafrikas begegnen. I n der Mitte daneben finden wir eine Agglomeration solcher Kleinsippen, manchmal nur vorübergehend wie bei den Eskimo oder bei australischen Stämmen. Aber auch bei Feldbauern k o m m e n solche Siedlungen vor, die repräsentiert werden durch eine Anzahl von Schlafhäusern auf je einer Rodung, mitunter mit einer Männerhalle für jede Sippe, wie etwa in Buin auf Bougainville, oder in Murik, Kopar usw. im Mündungsgebiet der Sepik in lokal zusammengedrängter Form. Bei Ausdehnung der Sippen, aber Wahrung des Zusammenhanges unter ihnen, sehen wir die Sippensplitter in ein geordnetes „connubium" zueinander treten, das sich uns als „ H e i r a t s o r d n u n g " darstellt (rechts). Bei kulturellem K o n t a k t u n d bei Mischung, a n der die ganze Bevölkerung teilgenommen h a t , ergibt sich das Schema der „Stammeshalbierung" (links unten), wobei jedoch in jeder einzelnen Siedlung jede der miteinander in „ c o n n u b i u m " stehenden „ S t a m m e s h ä l f t e n " vertreten sein kann, ohne daß die politische Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird, wie z. B. auf der Gazelle-Halbinsel (Neu-Pommern/Neu Britannien). Der S t a m m ist nicht politisch, sondern n u r kulturell geeint. Dasselbe t r i f f t auch f ü r die vorher beschriebenen Agglomeration von Sippensplittern zu (rechts), f ü r deren politischen Zusammenschluß die Siedlungsgemeinschaft maßgebend ist. Wir sehen hier eine Loslösung des zeremoniell-kulturellen connubium-Verbandes von der politisch-wirtschaftlichen Siedlungsgemeinde.
24
Soziale
Gestaltungen
gänge nicht auf dem Weg über einfache, direkte und einheitliche Kausalketten zustande gekommen, sondern auf dem Umwege über verzweigte Geschehnisse. Die Auffassimg Dürkheims, daß die Arbeitsteilung für das Entstehen des Individualismus verantwortlich zu machen sei, muß aus vielerlei Gründen abgelehnt werden. E s darf auf die Ausführungen im ersten und dritten Bande dieses Werkes verwiesen werden. Zusammenfassend muß man nur bemerken, daß einerseits die Arbeitsteilung, wie wir sahen, etwas sehr Altes ist, und daß andererseits der Individualismus keineswegs auf Vorgänge der wirtschaftlichen Organisation allein zurückgeführt werden kann. Als eines der wichtigsten Ereignisse, die zum Individualismus führten, ist die Auflösung des Sippenzusammenhanges und weiteren Verwandtenverbands zu bezeichnen. Wie kam es aber dazu ? Man darf von solchen Vorgängen nicht wie von mystischen und „zufälligen" Ereignissen reden. Worauf werden wir die Auflösung dieser ältesten Form politischer Organisation zurückführen dürfen ? Sicher waren es Vorgänge von großer psychischer Kraft, die diese festen und alteingewöhnten Formen zu sprengen vermochten, emotionsgeladene Ereignisse, die an die empfindlichsten Nerven der Existenz rührten. E s waren verschiedene Faktoren. Der Übersicht halber mögen sie in Gestalt eines sozial-psychologischen Ablaufschemas kurz zusammengefaßt werden. •— Es handelt sich um den Zusammenhang einiger weniger Kettenglieder innerhalb der Gesamtvorgänge, die natürlich Varianten mannigfacher Art gestatten. Derartige Abläufe treten häufig in Erscheinung und haben dazu verleitet, nach ihrem Muster scheinbarer Einlinigkeit das gesamte Menschheitsgeschehen zu deuten. Indessen stellen solche Abläufe immer nur Tendenzen dar, die jederzeit durch Ereignisse stärkerer Art, wie vor allem durch fremde Einflüsse, die sich in irgend welcher Form, friedlich oder feindlich, geltend machen, „ g e s t ö r t " und abgebogen werden können. 1. Die erste Erschütterung des Sippenzusammenhanges brachte schon früh das Hervortreten prominenter Persönlichkeiten, wie wir das etwa aus Teilen des alten Australien (Viktoria) oder auch von den Andamanen-Inseln hören. Ein derartiges Hervortreten ist immer mit dem egalitären Geist innerhalb der Sippen in Wettbewerb getreten. Nicht selten wird von gegen derartige Persönlichkeiten gerichteten ostrakismos-ähnlichen Verfahren berichtet. Andererseits wissen wir, daß selbst dort, wo später Sippen als Ganzes in ein Schichtungsverhältnis zueinander getreten sind, innerhalb der einzelnen Sippen die Gleichheit aller Mitglieder streng gewahrt wurde. 2. Stärker machte sich diese Erschütterimg in Gesellschaften geltend, bei denen es aus vorläufig nicht näher zu erörternden Gründen zu Überschichtungen kam. Diese konnten verschiedene Gestalt annehmen. Häufig bewirkten sie Veränderungen in der Struktur der miteinander vergesellten Sippen. Derartige innere Zersetzungen traten sowohl bei den Sippen der herrschenden, wie bei denen der untergeordneten Sippen ein. Diese Veränderungen waren indessen bei den einen und den anderen sehr verschiedener Natur. Unter den Sippen der herrschenden oder zur Herrschaft gelangenden Schicht können wir gewöhnlich folgende Ablaufkette beobachten:
Von der Sippe
zum
Individuum
25
a) Die Familien von Sippen der Hirtenvölker sind von vornherein über weitere Räume verteilt als die von Feldbauern. Durch Wanderung wird der Zusammenhang noch loser; sie breiteten sich über verhältnismäßig weite Landstriche aus (wie z. B. in Ostafrika). Auch innerhalb der einzelnen Sippen selbst gewannen die Familienhäupter eine größere Selbständigkeit während der Wanderung, der Okkupationskämpfe und anderer Schwierigkeiten (vgl. Driberg, Gala Colonists etc., in „Ethnolog. Stud."). Der Selbständigkeit der Familienhäupter gegenüber der Sippe wird dadurch weiterhin Nachdruck verliehen, daß die Patriarchen der Hirtenfamilien in spezielle Beziehungen zu den Sippen der Feldbauer treten, woraus später gewöhnlich letztere als tributpflichtig hervorgehen. Auch wenn die Hirten (wie die Masai) nur Raubherrschaft ausüben, sind die Folgeerscheinungen ähnlich. — Als Beispiel mögen hier die Fulbe angeführt werden, von denen wir immerhin wissen, daß sie schon um das Jahr 1000 in der Geschichte des Sudans eine führende Rolle spielten. Ein Teil dieses Hirtenvolkes siedelte sich damals unter Vermischung mit Feldbauerstämmen an, deren Führung es übernahm und gründete die großen Ringmauerstädte am Rande der Sahara: Timbuktu, Kano, Zaria usw. Die Fulbe-Dynastien, die dort herrschten, hielten sich Jahrhunderte hindurch. Eine der letzten großen Persönlichkeiten, die aus ihnen hervorging war z. B. Osman 'dan Fodio, dem es zu Beginn des 19. Jh. noch einmal gelang, ein ungeheures Reich zu gründen, in dem er fast alle Völker des Sudan vereinigen konnte1). Der andere, größere Teil des Fulbe-Volkes siedelte sich hingegen nicht an und blieb, verhältnismäßig unvermischt, bei seinem Hirtenwanderleben, mit seinen tausenden von Rindern und Schafen in den ungeheuren Weideländern des Sudan und der Sahel. Äußerlich hat sich im Leben der letzteren nichts geändert, die Zeit ist spurlos an ihnen vorübergegangen. Stier- und Frühlingsgottkulte spielen seit alters her eine große Rolle. Diese verhältnismäßig als Einzelgänger lebenden Herrenmenschen stehen unvermittelt und fremd den feldbauenden Negerstämmen, den typischen Kollektivmenschen gegenüber, die nur innerhalb ihrer Sippe leben. Das Wanderleben der Hirten dagegen scheint trotz des stark entwickelten Verwandtschaftsgefühls und der oft weit zurückreichenden Genealogien und damit eines ausgebildeten Sippenbewußtseins doch viel weniger das Leben in der Sippe gepflegt zu haben. Umgekehrt sind derartige Erinnerungen unter den Feldbauern weniger bewußt, die Verwandtschaftszusammenhängewerden weniger kultiviert, dagegen ist das unbewußte Kollektivleben stärker entwickelt. Bei den Hirten wurden persönliche Tapferkeit, Mut und ein bewußtes Schätzen der Initiative und Unternehmungslust bei der Menschenbewertung siebend in den Vordergrund gerückt, wodurch sie befähigt wurden, bei den verschiedenartigen Zusammenstößen mit den Feldbauern und Feldbauerorganisationen sich zu deren Führern zu erheben. Die Berührung von Feldbauern mit Wildbeutern vollzieht sich gewöhnlich 1 ) Er war in seiner Art nicht nur ein afrikanischer Napoleon, sondern auch ein großer Dichter. (Die Feldbauer scheinen mehr malerische Talente zu produzieren.) Neben religiösen Schriften schrieb dieser Eroberer und Herrscher die Geschichte seines Volkes nieder, dichtete Epen über seine Feldzüge und die Gründung des letzten großen Fulbe-Reiches.
26
Soziale
Gestaltungen
anders, führt aber in Bezug auf die Zersetzung der Sippe konvergent zu ähnlichen Ergebnissen. Die Wildbeuter vermischen sich mit den Feldbauern (und zwar gewöhnlich mehr als die Hirten mit den Feldbauern). Die Mischlinge siedeln sich in der Nähe der Feldbauerniederlassungen an und treten zu den einzelnen Familien, mit denen sie verwandt sind, in ein Schutzverhältnis (Klientel). So werden sie zu einer um das patriarchischeFamilienhaupt gruppierten Schicht „minorum gentium", „minderer Herkunft", wie wir das bei den Kubu-Mischlingen von Sumatra, ausgeprägter bei den Boloki und anderen Stämmen am Kongo beobachten können. b) Die Hirten, die sich über Feldbauern schichteten, waren gewöhnlich Einwanderer. Bei den Wanderungen gewannen Persönlichkeiten aus der einen oder anderen Sippe als Führer Ansehen, das nicht selten zu einer Vormacht-
D i a g r a m m II. Staatsbildung durch Hirtenvölker. Wir finden einige Feldbauergemeinden, die aus Sippen u n d Sippensplittern zusammengesetzt sind. Ihnen h a t sich im eckigen Feld noch eine Handwerkergemeinde angeschlossen. Die Feldbauer unterhalten Beziehungen mit den benachbarten Wildbeutern, und es ist zu Mischungen gekommen. Die Mischlinge, die wie etwa zwischen K u b u u n d Malayen den Handel zwischen den Feldbauern und Wildbeutern vermitteln, siedeln f ü r sich im schraffierten Felde. Derartige Zustände, bei denen keine erheblichen Standesunterschiede zur Geltung kommen, finden wir in verschiedenen Teilen der Welt. Die politische Gestaltung t r ä g t den Charakter von gehäuften „Zellengemeinden". Es sind Agglomerationen auf vorwiegend egalitärer Basis, gewöhnlich mit erheblichem Einschlag eines kollektiven Wirtschaftsgeistes. Die Zustände werden anders durch Überschichtung mit Hirten. D a m i t setzt ein Prozeß ein, der zur Staatsbildung f ü h r e n kann. Die Hirten sind auf diesem Schema durch Zelte gekennzeichnet. Bevor sie an die Überschichtung schreiten, leben sie in Klans. Durch die Überlagerung wird der schon durch Wanderungen wachgerufene persönliche Unternehmungsgeist zur „Verherdung" von Menschen angeregt. Einzelne Familien oder Familiengruppen gewinnen Einfluß über die oben gekennzeichneten Gemeinden von Feldbauer, Handwerker u n d Jäger.
Von der Sippe zum
Individuum
27
Stellung der betreffenden Sippe oder der Familie, welcher der Führer angehörte, Anlaß gab (vgl. Nyambongos Erzählung von den Babito in Toro, Uganda). c) Daran knüpften sich Rivalitäten unter den Sippen oder Familienhäuptern oder Persönlichkeiten, namentlich bei der Feststellung der Beziehungen zu den in Abhängigkeit gebrachten Feldbauern. d) Zwecks Verstärkung suchte jede Sippe die Zahl ihrer Anhänger zu mehren, und zwar durch Aufnahme von Leuten aus fremden Sippen, aus der Reihe der Feldbauern, und auch von Kriegsgefangenen. Die letzteren wurden bevorzugt, weil sie ohne Sippenzusammenhang waren und daher u m so fester ihren Rückhalt bei der sie anwerbenden Sippe suchen mußten. Sie waren treuere Diener, als widerspenstige Adlige oder Feldbauer, die sich zu ihren eigenen Sippen zurückziehen konnten. e) Daraus ergaben sich mit der Zeit erhebliche Machtverschiebungen. Sie wirkten sich bei den Hirten als Unterschiede im Herdenbesitz aus, der zu einem Symbol der Macht wurde, weil durch das Vieh Unterstützung durch die Feldbauer erworben werden konnte. Die Größe der Herde wurde ein Index f ü r die Größe der Macht. Die größere Herde bedeutete auch eine größere Zahl abhängiger Hirten, und die Möglichkeit reicheren Eintausches von Feldfrüchten, die wieder in der Verteilungswirtschaft eine Rolle spielten. — Die Feldbauer erwarben Ansehen durch Viehbesitz, der ihre Existenz erleichterte und gleichzeitig ein Symbol der Teilhaberschaft am Prestige der Hirten wurde. f) Auf diesem Umwege wurde das Streben nach Sonderbesitz der einzelnen Sippen und Familien verstärkt. g) Innerhalb der Sippen führte das zu weiteren persönlichen Rivalitäten unter den Familienhäuptern bezüglich des Besitzes an Wertsymbolen. h) Die Folge war Besitz und Reichtum einzelner Privatfamilien, die Verarmung von einzelnen Adelsfamilien, die sich in Abhängigkeit von den Mächtigeren, d. i. Reichen begaben. Auf diese Weise führte der Ablauf der Ereignisse zur Anbahnung einer Plutokratie unmittelbar aus der aristokratischen Schichtung heraus. i) Dadurch, daß auch kleine Familienhäupter sich mit Kriegsgefangenen ausgerüstet hatten, kamen Haussklaven und Hausmägde an den Herrenhöfen auf; es entstand eine „familia" als „Herrschaftsfamilie" im Sinne des alten römischen Rechts neben den zinsenden Bauern: eine Entwicklungsvariante. k) Eine einzelne Sippe oder Familie gelangt vielleicht im Laufe der Zeit dahin, die mit ihr in Wettbewerb um die Macht stehenden anderen Sippen oder Familien durch Kämpfe siegreich niederzuwerfen oder auf andere Weise zurück zu drängen, und begründet so eine „Dynastie". Innerhalb dieser bleibt es gewöhnlich bei einer Erbfolge des „Besten", nämlich dessen, den die Familie oder deren ältester Repräsentant, oder der scheidende Familienvater einsetzt; zunächst geht dessen Wahl also im Schöße der Familie oder Sippe vor sich. Die Wahl ist hier noch nicht gesetzlich schematisiert und individualisiert, wie etwa beim Seniorat, bei der Primogenitur, uws. 3. In den mittleren Schichten hat inzwischen ein anderer Individualisierungsprozeß Platz gegriffen. E r ist das Ergebnis folgender Vorgänge:
28
Soziale
Gestaltungen
a) Der Austausch zwischen Hirten und Feldbauern wird zu Gunsten der ersteren verschoben und zwar aus verschiedenen Gründen. Die überlagernden Hirten sind gewöhnlich kampfgewohnt und besser bewaffnet, sie gehören einer oder wenigen untereinander verwandten Sippen an, während die Feldbauern gewöhnlich durch alte Fehden unter einander verfeindet sind. Außerdem zeigen die Rinderhirtenstämme im allgemeinen eine größere A k t i v i t ä t . H ä u f i g sind sie durch führende Autoritätspersonen von ihren Wanderungen und der Weidesuche her organisiert. Durch die Möglichkeit der V i e h e r w e r b u n g wird in die Sippen der Feldbauern der Gedanke des P r i v a t e i g e n t u m s getragen, bevorzugte Vertrauensleute der Hirten werden aus der Feldbauersippe hochgehoben, selbst Fremde über die Feldbauernsippe zur Einziehung der A b g a b e n gesetzt. A u f diese Weise erleidet auch der alte Sippenzusammenhang der Feldbauern eine Einbuße und wird etwa zur auf größerer Selbständigkeit der Familien beruhenden K a s t e v o n oft weiter Ausdehnung umgestaltet. b) Hand werker Stämme (Schmiede, Holzarbeiter) werden in Abhängigkeit von den Hirten gebracht, und oft auf die Hirtenfamilien verteilt (z. B . die Pare bei den Masai). D a d u r c h wird der bisherige Sippenzusammenhang unter diesen Handwerkern gelockert und ebenfalls in neue Schranken einer kastenoder zunftartigen Organisation mit starker Selbständigkeit der Familien übergeleitet. In den u n t e r e n Schichten vollzieht sich folgendes: Kriegsgefangene und Fremde werden durch die oben geschilderten Rivalitätskämpfe unter den Hirtenfamilien in zunehmendem Maße gewonnen. Ja, das Gewinnen von Kriegsgefangenen wird wirtschaftlich in doppelter Weise wichtig: zunächst für die unmittelbare Erlangung von Arbeitskräften, später auch für den Verkauf der Kriegsgefangenen als Sklaven. Sie alle sind sippenlos, müssen sich der „ f a m i l i a " eines Herrn einfügen, die „ S t a a t s s k l a v e n " der Verwaltung durch einen Beamten. Dadurch findet eine starke Siebung zugunsten von ein- und unterordnungsbereiten Individuen statt, die Selbständigeren werden hinuntergedrückt. („Schlimm ist das Schicksal des ,Manns ohne Meister'", sagte man im alten Aegypten.). F ü r diese Knechtsschicht eröffnet sich die Möglichkeit des Aufstiegs als Entlohnung für treue Dienste, d. h. für geleistete Hilfe und Unterstützung eines der rivalisierenden Oberhäupter und Führer, somit Förderung individueller Bestrebungen. Sie erhalten nicht nur Vieh, sondern auch die Aufsicht und das Einkommen v o n Feldbauergruppen. In anderen Fällen werden sie H o f b e a m t e der Adligen oder des Despoten. Dabei kommen persönliche Beziehungen und individuelle Siebungsvorgänge in Betracht. A u f diese Weise findet eine zunehmende ethnische Durcheinanderwürfelung der u n t e r e n Bevölkerung statt, aber zum Teil auch der Mittelschichten und des Adels, teils durch Einbruch aus anderen ethnischen Gruppen (Gefangene, Hilfsdienste von Nachbarn), teils durch A u f s t i e g aus anderen sozialen Schichten (Aufstieg v o n Feldbauern und Sklaven), endlich durch H e r a b g l e i t e n v o n Hirten und Adligen vermöge der wirtschaftlichen Differenzierung, d. h. V e r a r m u n g . D a z u k o m m t noch eine zunehmende V e r m i s c h u n g der in nahe Nachbarschaft geratenen Menschen verschiedener Herkunft.
Von der Sippe
zum
Individuum
29
E s muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden, daß gerade durch die Sippenentwurzelung die alten religiösen Bindungen zerreißen (wie wir das z. B. auch heute beim Hereinbrechen der europäischen Kultur in Afrika beobachten können). Die Sippenkulte ziehen sich auf g e h e i m e G e s e l l s c h a f t e n zurück, die vielfach einen aristokratischen Charakter tragen. Dort, wo die Entwurzelung und Verwürfelung im Zusammenhang mit großen Sklavenmassen einen erheblichen Teil des Volkes erfaßt hatte, wie in den archaischen Staaten des orientalischen Altertums, ist der Boden für univ e r s a l i s t i s c h e R e l i g i o n e n vorbereitet. 4. In den archaischen Staaten sind aus den siegreichen rivalisierenden Adelsfamilien die D e s p o t e n mit ihren Dynastien hervorgegangen. Dort, wo heraufgekommene Fremde, die nicht der traditionellen Adelsschicht angehören, zur Herrschaft gelangt sind, sprechen wir lieber von „ T y r a n n e n " . Despoten und Tyrannen stützen sich auf eine ethnisch vermischte, re-homogenisierte M a s s e n b e v ö l k e r u n g , ein „ P r o l e t a r i a t " . 5. Erst dadurch wurde der Boden für das Hervortreten der i n d i v i d u e l l e n Schicksale bereitet: a) Der aus dem Knechtstum zu Macht und Reichtum gelangte Herr war eine Persönlichkeit, die ihr Schicksal nur sich selbst verdankte, nicht ihrer Eigenschaft, Mitglied einer Sippe zu sein: also schärfster Individualismus. b) Von den adligen Gesippen verlieren viele in den Kämpfen ihr Vieh und ihre Macht. Sie müssen sich in Abhängigkeit von anderen begeben, oder werden selbst Kriegsgefangene, Schuldknechte, sinken in das Sklaventum herab. 6. Auch das B e a m t e n t u m , die Mittelschicht in diesen Staaten, erhält individuellen Charakter, vermöge des Aufsteigens oder Sinkens, dank persönlicher Verdienste oder Verstöße. Diese Beamten sind losgelöst aus den Sippenverbänden, falls sie überhaupt solchen angehörten und nicht der entwurzelten Sklavenschicht entsprossen sind. 7. Diese weitgehende Entsippung zusammen mit der Durcheinanderwürfelung der Angehörigen verschiedener ethnischer Herkunft bildet den Nährboden, aus dem Propheten, Neuerer, Religionsgründer u. dgl. hervorgehen, die ihre Lehre nicht auf die Angehörigen eines Stammes, einer bestimmten Herkunft beschränken, die sich im Gegensatz zu den Überlieferungen der Sippen, und der Priesterschaften stellen und an die gesamte Menschheit ohne Unterschied sich wenden. Nur unter den gekennzeichneten Vorzeichen der S t a m m e s e n t w u r z e l u n g konnten sie ein Echo finden. Daraus entstehen die universalistischen Religionen unter konvergierenden Umständen. 8. Es ist kein Zufall, daß historisch in der Epoche seit etwa dem 5. vorchristlichen Jahrhundert in Indien, China und dem nahen Orient, in den alten Kulturzentren, universalistische Lehren und Religionen auftauchen. Das war einerseits der Übergang zur Feld-Vieh-Bauernwirtschaft, andererseits das Ergebnis der politischen Herrschaft und der darauf folgenden Durcheinanderwürfelung und Entwurzelung im oben geschilderten Sinn. E s handelt sich dabei um kein mystisch zu deutendes Phänomen, sondern um das Er-
30
Soziale
Gestaltungen
gebnis ganz bestimmter ähnlicher seelisch-gesellschaftlicher Konstellationen in verschiedenen Ländern. 9. Diese Folgeerscheinungen sind auch nicht allein auf das Aufeinanderstoßen der Völker, nicht allein auf die andere Wirtschaftsmethode zurückzuführen, sondern vor allem auf die starke Vermehrung, die damals sich als die Folge einer besseren Ernährung eingestellt haben muß, und die stets die Tendenz hat bis zur äußersten Grenze des Nahrungsspielraumes zu steigen, so daß sofort wieder eine relative Übervölkerung einsetzt. 10. Dem Universalismus der neuen Religion steht der Individualismus der familialen Existenz gegenüber. Ein sippenloses Proletariat, ebenso wie aus dem Sippenzusammenhang gerissene Beamte niedrigeren und höheren Ranges, konnten durch universalistische Lehren gewonnen werden. Allerdings wirkten dem noch zweierlei Faktoren aus der alten Zeit hemmend entgegen: 1. die Religion und der Kult der herrschenden Sippe, der Dynastie, des Adels und der Priesterschaft, auf den sie sich stützte; 2. die kastenmäßige oder kastenähnliche Gliederung auf ethnischer Grundlage, wie wir sie am stärksten ausgeprägt in Indien finden. Hierdurch setzen neue Bewegungen ein, auf die hier nicht mehr eingegangen werden kann. Aus den angeführten Punkten ergibt sich eine weitläufige Kette von Vorgängen, welche ungefähr das komplizierte Ineinanderwirken von Faktoren aufzeigen, die das Zerschlagen des Sippenzusammenhanges und seine Auflösung in individuelle Familien kennzeichnen. Das Schicksal der Familie wird, wie daraus ersichtlich ist, in hohem Maße durch die Organisationsformen der politischen Gemeinde bedingt. In den erwähnten 10 Punkten, die natürlich nur schematisch gemeint sind, konnte auch nicht allen Varianten Rechnung getragen werden. E s wurden nur diejenigen herausgegriffen, die für einen verhältnismäßig geradlinigen Ablauf in Betracht kommen. Dabei darf die Verflechtung zwischen politischer Gestaltung und wirtschaftlicher Organisation nie aus den Augen verloren werden. Die Verfügung über eine große Zahl arbeits- und organisationsbereiter Menschen, die Verbindung der Überlieferungen. an Fertigkeiten und Kenntnissen verschiedener ethnischer Herkunft innerhalb der durch die Despoten geschaffenen weiten Friedensgebiete gab Anstoß zu neuen Produktions-, Verteilungs- und Bedarfsmöglichkeiten. Dort andererseits, wo gerade bei primitiver Technik die Zahl der menschlichen Arbeitskräfte gering ist, können die Aufwand an Menschenkraft erfordernden technischen Vorrichtungen, wie z. B . das Tretrad, Schleppen auf Rollen, u. dgl. nicht voll ausgenützt werden. Das Zusammentreffen verschiedener ethnischer Stammessplitter erhöht die Möglichkeit handwerkmäßiger Spezialisierung (Töpfer, Weber, Schmiede, Holzschnitzer, Zimmerleute usw.). Dadurch wird eine Intensivierung der wirtschaftlichen Produktion herbeigeführt, vor allem auf dem Wege der Abgaben. Diese wirtschaftlichen Situationen erforderten um so mehr eine umfassende politische Organisation, besonders durch Verwaltung von Aufnahme- und Verteilungsspeichern, als die Kriege ein« wichtige Rolle innerhalb der mit Expansion rechnenden politischen Gemeinwesen spielten, weil sie Arbeitskräfte, Kriegsgefangene und Sklaven zur Verfügung stellten. E s ist klar, daß die gesamte politisch-wirtschaftliche
Von der Sippe
zum
Individuum
31
Existenz sich in einer bestimmten Geistesverfassung spiegelt, auf deren Einzelheiten in diesem Zusammenhang natürlich nicht eingegangen werden kann, die jedoch charakteristisch für den gesamten Kulturhorizont der vorarchaischen und archaischen Völker ist, mit denen wir hier zu tun haben. Versuchen wir die emotionellen Kräfte zu bestimmen, von denen die Rede war, und die zur Sprengung der alteingesessenen Sippenverbände führten, so werden wir etwa auf folgende Phasen stoßen: 1. Sippenmäßige Entwurzelung von Hunderten und Tausenden von Kriegsgefangenen, die wirtschaftlich zu Arbeitsleistungen verwertet werden; 2. Zerstörung des Sippenzusammenhanges der steuerpflichtigen Gemeinden für Abgaben, teils für die Versorgung von geistigen Leitern (Beamte und Priester) des Gemeinwesens, teils für die repräsentative Machtentfaltung und des Geltungsstreben des obersten Führers, sowie für seine individuellen Genüsse; 3. Rivalitäten unter den Sippen im gesteigerten Streben nach Geltung; 4. Heranziehung Fremder, bzw. das Aufsteigen von Knechten und Sklaven in die Beamtenschicht, also weitgehende ethnische Mengung und Mischung; 5. ein Verteilungssystem, um die Ansprüche der Diener und Abhängigen des Despoten, der geistigen Unterführer zu befriedigen; 6. Rolle der materiellen Güter und Symbole als Machtmittel und zur persönlichen Geltung; 7. Glaube, die persönliche Existenz durch gewisse Vorkehrungen (Riten und Zauber) über die Lebenszeit hinaus verlängern zu können. Suchen wir schließlich die emotionellen Kräfte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so tritt vor allem das Streben nach p e r s ö n l i c h e r G e l t u n g überwältigend hervor. Die Gelegenheit dazu war es, was die demokratischen Verwandtschaftsverbände der Sippen, die auf einer prinzipiellen Gleichheit aufgebaut waren, zerstörte und zersetzte. In den despotischen Gemeinwesen, die das andere äußerste Extrem dazu bilden und am Ende der paläo-politischen Epoche stehen und die archaische Gesellschaft einleiten, hat sich die Persönlichkeit des Herrschers zu einem Selbst des gesamten Gemeinwesens erweitert: „L'etat c'est moi", ist der selbstverständliche Wahlspruch aller alten Despotien. Ihre Häupter können nicht anders denken, sie sind die lebendigen Symbole ihrer Gemeinwesen. Despotismus und entwurzelte Masse siegten über die alte demokratische Sippe. Daraus erst ging der Individualismus hervor. Aber es wäre voreilig, aus diesen Prozessen, die doch immerhin nur auf einige Staaten lokalisiert geblieben sind, gesamtmenschliche Prozesse abzuleiten. E s handelt sich hier n i c h t um streng irreversible Vorgänge, zumal diese Gemeinwesen ja immer wieder gelegentlich zerfallen. Auch hier müssen wir unterscheiden. I r r e v e r s i b e l an diesen Abläufen ist nur die E r f a h r u n g , die die Menschen überhaupt daran gemacht haben, und die darum in den Schatz ihres Wissens eingegangen ist. Der Ablauf der sozialen Gestaltung hingegen trägt einen anderen Charakter. Staaten entstehen und vergehen. Aus gewissen Konstellationen ergeben sich A b l ä u f e , die durch die psychischen Reaktionen der Einzelmenschen und Menschengruppen aufeinander
32
Soziale
Gestaltungen
vorgezeichnet sind und damit eine Art von zwangsläufigem Charakter tragen. Es sind Vorgänge, welche die Abfolge gewisser Gesellungstypen wiederholen, wenn keine „Störungen" von außen eintreten, die jedoch wegen ihrer Verflechtung mit dem akkumulativen und irreversiblen Fortschritt in den einzelnen Kultursphären stets mit anderen Sekundärerscheinungen verwirklicht werden. Unter anderen Voraussetzungen z. B . nimmt der Feudalismus im germanischen Mittelalter mit der starken Macht der Herrenhöfe andere Formen an, als etwa das Lehenswesen in den despotischen altorientalischen Staaten oder im späteren Abessinien. Nicht nur, daß im Mittelalter Völker mit anderen Traditionen aus ähnlichen Gegebenheiten etwas leicht Abweichendes gestalteten, sondern auch besondere Formen der Wirtschaft, des Geldes, der Religion usw. gaben dem mittelalterlichen Feudalismus ein anderes Gepräge als den vergleichsweise herangezogenen Beispielen von Lehensorganisation (vgl. Hintze [29]). § 5. V a r i a n t e n der
Staatsgestaltung
Nach dieser Typisierung, die sich aus einem Vergleich afrikanischen und altorientalischen Materials ergibt, müssen wir unsere Aufmerksamkeit anderen Staatsgefügen zuwenden, die zwar sehr klein sind, aber alle Merkmale einer geschichteten und durch Rang gestaffelten Gesellschaft tragen: den mikronesischen und polynesischen Gemeinwesen. Während auf den Sunda-Inseln und den Philippinen die Einflüsse asiatischer Kulturen, Religionen und politischer Vorgänge unverkennbar sind und die dortigen Einrichtungen den Charakter des Abgeleiteten erkennen lassen, ist das in der ozeanischen Inselwelt anders. Man hatte die Entstehung dieser Gesellschaften früher als originär aufgefaßt. Wenn man auch Zusammenhänge der Sprache, der Rassen, der Geräte und Werkzeuge, der Sagen und Mythen unter den Bewohnern der polynesischen und mikronesischen Inselwelt mit Südost-Asien anerkannte, „erklärte" man oft die Entstehung dieser Gemeinwesen als „natürliches" Ergebnis vom Zusammentreffen früherer und späterer Einwander er wellen. Ebenso „erklärte" man im demokratischen melanesischen Gebiet den ganz anderen Gesellschaftsbau als „natürliche" Folge ähnlicher Vorgänge. Eine genauere Untersuchung läßt aber die Gestaltung dieser politischen Gefüge in ganz anderem Licht erscheinen. Vor allem fällt eine Reihe von Ubereinstimmungen zwischen Auffassungen und Symbolen afrikanischer und ozeanischer Gemeinwesen auf. Das sakrale Fürstentum trägt dieselben Züge. Die Regierung besteht in einem „richtigen" Handhaben der repräsentativen und symbolischen Objekte. Dadurch wird der Segen von den übernatürlichen Mächten herbeigeführt. Die Aristokraten üben die Kontrolle über das ordnungsmäßige Umgehen mit den gewissermaßen gefahr-geladenen Instrumenten aus. Diese selbst sind in beiden Gebieten auffallend ähnlich, wie folgende Zusammenstellung zeigt: es finden sich in Afrika und Polynesien besondere Hofhaltung des „Fürsten", Thron, Szepter, Fächer und Fliegenwedel als Machtsymbole, Speiseverbote, Gürtel, Eßnapf, Trinkbecher, Umhang (Poncho) u. a. (Hand. [30a] 22, 4 9 ; Hand. [27] 121).
Thurnwald,
Staat
Tafel
1
Die M ä n n e r eines D o r f e s a m G e l b f l n ß auf einer S a n d h a n k (nördl. N e b e n f l u ß a m olieren M i t t e l l a u f des Vug u s t a - S t r o m s [Sepik]. j \ e u Guinea) im J a h r lQl t lö.
L e u t e im Dorf. 1 a i g a m a u gan am O k t . 1913 (im S t e p p e n g e b i e t zwisehen Augustastrom und Küstengebirge).
Mit K i e t t e r - Y a m s iilierw u o h e r t e B e f e s t i g u n g (Verh a u ) d e s o b i g e n D o r f e s , in d e r M i t t e das E i n g a n g s t o r . (Aufnahmen Thurnwald)
Tafel
2
Thurtmahl.
Sip[KMihiUis a m oberen Auirusla-St m m ( 19M ). i n n e n b e f i n d e n sich rcclils nnd links s y m m e t r i s c h a n g e o r d n e t je i) H oder m e h r I" euerstcllen fiir jede I-ran mit ihren K i n d e r n .
D a s Erfielmis einer Schädel jajrd in einer Männcrhalle von Üniti (Insel Boii«iainville. Salomo-I.) im J a h r e 1908. Die Schädel h a b e n n i c h t alle P l a t z a n den I n n e n w ä n d e n des R a u m e s jrefiinden. d a h e r sind sie a u s n a h m s w e i s e d a v o r auf e i n e m Tisebjrestell n n d a n e i n e m B a u m befestigt. (Aufnahmen Thurnwald)
Staat
Varianten der
Staatsgestaltung
33
Ist es möglich, einen gesonderten Ursprung dieser Embleme mit ihrer gleichen Deutungssymbolik anzunehmen? Warum sollte unter den völlig verschiedenen Lebensumständen des pazifischen Ozeans und Afrikas sich eine ähnliche Schichtung und Staffelung der Gesellschaft und Art der Symbolik ergeben, während innerhalb sehr ähnlicher sonstiger Umweltbedingungen auf anderen Inseln Ozeaniens und in anderen Gegenden Afrikas verschiedene politische Gestaltungen zu Tage treten? Der Ausgangspunkt für einen wichtigen Teil politischer Gestaltungen in Afrika, namentlich derer, die zu den verschiedenen Stadien im Werden des Staates führten, wurde im Zusammentreffen von (primären) Hirtenstämmen mit Feldbauern gefunden. Dieser Vorgang wurde auch für die Entstehung der altorientalischen Gemeinwesen angenommen. Wie steht es im Pazifik? Die selbstbewußten Familien (aliki) treten hier als Seefahrer und Fischer auf und kämpfen von der See aus. Sie besitzen das Plankenboot und sind mit großen Netzen zum Fischen ausgerüstet (Hand. [30b] 61ff., 75, 19, 35; Mühlm. [34a]). Sie zeigen große Beweglichkeit, Reiselust und Festesfreude, veranstalten Wettrudern, sakrales Bogenschießen, Tanz und Drama. Nicht das allein, das geistige Leben fand seinen Niederschlag in Rätselspielen (Jd. [30], Bckw. [22]) und in Sprichwörtern, in moralischen Maximen und rednerischen und zauberischen Veranstaltungen. Dazu gehört auch das Wandeln über glühende Steine (Hand. [30b] 38ff., 47,14). Sie sind nicht Feldbauer (Hand. [30b], 19f.; Mühlm. [34a u. b]). Die technischen Fähigkeiten werden durch den überlegenen Bootsbau gekennzeichnet, und durch kleinere Züge, wie die Ausstattung vieler Geräte mit Füßen, u. dgl. m. Die ältere Bevölkerungsschicht (menehune oder manahune) erscheint auch hier wesentlich als eine solche von Feldbauern. Daß sie in Tahiti weder Schwein noch Hund besessen haben dürften, ist wohl auf die schwierige und länger dauernde Reise in Einbäumenund vielleicht ohne Segel zurückzuführen. Ihre Kultur ist zweifellos eine ganz andere gewesen als die der aliki, und sie lebten in demokratischen Gemeinwesen. Ihnen wird die Kopfjagd zugeschrieben. Sie legten Bewässerungssysteme, besonders Terrassenpflanzungen von Taro an. Die Überschichtung war hier eine von Seefahrern über Feldbauer. In ähnlicher Weise wie in Afrika scheint auch in Polynesien eine gegenseitige kulturelle Befruchtung stattgefunden haben. Die Vorgänge waren auch hier — wie in Afrika in jeder Landschaft — auf jeder Inselgruppe etwas anders: während z. B. auf Samoa und Tonga das Element der aliki stark vertreten war, scheint es auf Neu-Seeland wesentlich schwächer gewesen zu sein. Auch der Schicksalsablauf war keineswegs überall der gleiche, weder auf den einzelnen Inseln (z. B. Huahine im Tahiti-Archipel), noch in den verschiedenen Landschaften derselben Insel. Auch die Vorgänge, die sich an die Gewinnung der Macht anschlössen, haben natürlich überall einen verschiedenen Verlauf genommen. Schließlich war der Widerstand der eingesessenen Bevölkerung ungleich (Hand. [30b] 19, 67, 73ff., 79, 95, 102ff.; Mühlm. [34a] [34b], vgl. Willms. [24] I,). Auffallend ist neben einer Reihe von schon erwähnten Ähnlichkeiten an Gegenständen, Einrichtungen und Vorstellungen in Ostafrika und Polynesien 3
Thurnwald IV.
34
Soziale
Gestaltungen
besonders das gesteigerte Selbstgefühl der überschichtenden Familie und ihre Methode, die Herrschaft durch geistige Mittel auszuüben, durch Magie und kluge Politik. Gewaltanwendung steht in Polynesien offensichtlich im Hintergrund ihres Prestiges. So wie die Hirten scheinen sie geschickt in der Behandlung von Menschen zu sein. Dazu kommt ein stark ausgeprägter Familiensinn und ein Überlegenheitsgefühl, das Vermischung mit den Fremden zu vermeiden sucht. Daraus quillt ihre Stärke und ihre Schwäche. Denn auf die Dauer waren sie nicht imstande sich unvermischt zu erhalten und ermöglichten neue Organisationen. Das Neue ihres Auftretens war eine Trennung zwischen kulturellem Austausch und rassischer Mischung, wenigstens im Prinzip. Die Durchführungsmöglichkeiten wurden durch verschiedene Momente bedingt: von ihrem Zahlenverhältnis zur alten Bevölkerung, Zwistigkeiten unter ihnen selbst und verschiedenen sozialpsychischen Verkettungen, die sich an die Ausgangssituationen knüpften. Woher kamen diese Seefahrer? Liegt ein Zusammenhang mit primären Hirtenvölkern im Bereich der Möglichkeit ? Bezüglich der polynesischen Religionen werden zwei hauptsächliche Zusammenhänge unterschieden: eine Linie, die Neu-Seeland, die Marquesas-Inseln und Hawaii verbindet und von H a n d y als indo-polynesisch bezeichnet wird, und eine zweite mit Tangaloa als dem höchsten Wesen und göttlichen Ahnen, die in verhältnismäßig jüngerer Zeit auf Samoa, Tonga und den Gesellschafts-Inseln verbreitet wurde. Diese Tangaloa-Religion wurde in verschiedener Weise den alten Kulten aufgepfropft und führte zu verschiedenen Auffassungen. Schon in den ersterwähnten Kulten finden sich Anklänge an die vedischen Auffassungen. I n der Tangaloa-Religion werden Zusammenhänge mit demBuddhismus entdeckt (Hand. [27] 312ff.), die aus Südost-Asien oder Indonesien stammen kommen. Ohne auf Einzelheiten hier eingehen zu können (vgl. insbes. Mühlm. [32/34]) und andere Einschläge und Strömungen zu berücksichtigen, müssen wir etwa zwei bis drei religiöse Ströme unterscheiden. Unsere Aufmerksamkeit muß sich daher den Ländern zuwenden, von denen diese verschiedenen Anschauungen kamen. Dadurch wird auch eine grobe Datierung der Ereignisse ermöglicht. Um die kritischen Jahrhunderte finden wir an der indischen und indo-chinesischen Küste sowie in Indonesien eine Zahl von Seefahrerstaaten (Hand. [30 a] 16 ff.). Einige davon unterhielten Verbindung mit den Arabern und den Chinesen. Nur die Namen einiger dieser Seereiche seien erwähnt: Kaccha (heute Cutch), Kerala (heute Travancore), Sinhala (Ceylon), Pandya und Chola, Pallava, Andhra, Kaiinga, Champa, Majapahit. Das indonesische Gebiet ist besonders interessant für unsere Untersuchung, denn es bildete ein Mittelglied zwischen dem asiatischen Kontinent und der südlich und östlich gelegenen Inselwelt. Und in gewissen Zwischenräumen stießen auch hier wie in Vorderindien Hirtenhorden aus Zentralasien herunter und suchten sich das Land anzueignen. Hier trafen sie auch auf alte seefahrende Stämme. I m übrigen überwogen indische und chinesische Einflüsse in diesen Gegenden und wir finden geschichtete Staaten (Die. [33] 519ff.). Dazu gehört die Herrschaft der ChampaAristokratie in Kambodja, durch deren Verfall im 14. und 15. Jahrhundert der indische Einfluß vom chinesischen verdrängt wurde. Von dem Pallava-Reich
Varianten der
Staatsgestaltung
35
ist festgestellt, daß sich die Dynastie von Hirtenstämmen ableitet (nach mündlicher Mitteilung, die ich E . S. C. Handy zu danken habe, und die dieser von einem jungen Pallava selbst erhielt, der seine Abkunft von den ursprünglichen Hirtenherrschern ableitet). Dazu kommt, daß die turmähnlichen Schreine dieses Volkes das Vorbild ähnlicher Türme im polynesischen Gebiet zu sein scheinen. Außerdem zeigen frühe brahmanische Inschriften von Borneo, J a v a und Champa Schriftzeichen der Pallava. Der zur Verfügung stehende Raum gebietet Kürze. Hier sollte nur die Möglichkeit beleuchtet werden, daß Hirtenstämme zu Seefahrern werden. Die eingeschlagene Argumentation kann natürlich nicht restlos historisch durchgeführt werden. Nur die Möglichkeiten sollten angedeutet sein. Vor allem aber soll im f u n k t i o n e l l e n Sinn gezeigt werden, daß aus gewissen S i t u a t i o n e n unter rassenmäßig bestimmt gearteten Menschen auf gewisse Folgen gerechnet werden kann. Dies trifft für den Kontakt zwischen dem Typ von primären Hirten mit Feldbauern zu. Darüber hinaus kann aber mit der Zeit auch der menschlich-historische Zusammenhang zwischen dem B a u polynesischer und afrikanischer Staatsgefüge aufzuklären sein. Dies würde das Problem der Entstehung des Staates aus der Sphäre willkürlicher Spekulation in die historischen und sozial-psychologischen Denkens hinüberleiten. E s ist nicht übersehen worden, daß der Feldbautyp der Bantu Afrikas hauptsächlich als Hackbau vor Körnerfrüchten aufzufassen ist, während der polynesische den Grabstock zum Pflanzen von Schößlingen hauptsächlich von Yams und Taro benutzt. Wie haben wir uns den Gang der Ereignisse etwa zu rekonstruieren? Wir dürfen uns nicht vorstellen, daß Hirtennomaden, die an der Küste angelangt waren, sich eines Tages in Kanus setzten und ostwärts fuhren. Soziale Erscheinungen können nicht anders als in Form von Prozessen, von inneren Wandlungen aufgefaßt werden. Die Hirten haben ebenso wenig die bäuerlichen Betriebe erfunden, die aus der Verbindung von Viehzucht und Bodenbestellung hervorgingen, wie die Seefahrt. Die Hirten waren die Organisatoren von Menschenmassen. Wie aus den alten Inschriften und Aufzeichnungen hervorgeht, übertrugen sie die Behandlung der Viehherden, die ihre leitende Erfindung war und lebensbestimmend ihr Verhalten in eine bestimmte Richtung lenkte, auf die von Menschenmassen. „Hirte der Völker" ist eine übliche Bezeichnung früher orientalischer Herrscher. Sie organisierten im Zweistromland, am Nil und in Indien die Feldbauer, bahnten einen Austausch ihrer Produkte und eine Ergänzung ihrer und der Kultur der Feldbauer an. In ähnlicher Weise verfuhren sie mit den Seefahrern. Sie waren durch ihr weitausgreifendes Nomadenleben überaus anpassungsfähig und erfinderisch. Wahrscheinlich gaben sie den Anstoß zur Verbesserung des Bootsbaues geradeso wie sie durch Heranziehung der Großtiere den Hackbau in die Pflugwirtschaft und den Bauernbetrieb umwandeln halfen. Dabei bewahrten sie Jahrhunderte hindurch ihre politische Führerstellung. Dies geschah gewöhnlich durch offizielle Fernhaltung von Vermischung und durch eine geistige Beherrschung auf dem Wege von Magiertum und Zeremoniell, dem aber tatsächlich erweiterte Kenntnisse zu Grunde lagen. 3*
36
Soziale
Gestaltungen
Man wird also die Hypothese aufzustellen haben, daß die Wanderung der aliki von einem solchen maritimen Staatsgefüge aus erfolgte, vielleicht infolge eines heimischen Zwistes. In diesem Gemeinwesen, wird man annehmen müssen, existierte bereits eine geschichtete und gestaffelte Gesellschaft, getragen von einem bestimmten System von Anschauungen und Wertungen. Da Fahrten in verschiedener Richtung bereits vorher erfolgt waren, ist es möglich, daß die Reise mit bestimmten Zielen erfolgte. Ob diese oder andere Ziele erreicht wurden, steht nicht zur Diskussion. Die Ausreise muß man nach Aufkommen des Buddhismus ansetzen, da sich in der Religion der aliki gewisse buddhistische Züge finden, also nach 500 v. Chr. Die weitest zurückreichenden Genealogien umfassen ungefähr 70 Generationen. Die Generation zu 25 Jahren gerechnet würde 1750 Jahre ergeben. Rechnet man die Generation 30 Jahre so kommt man auf 2100 Jahre. Nimmt man die Genealogien als nicht ganz vollständig und nicht gleich nach der Niederlassung in der neuen Heimat begonnen an, und erlaubt man für die Reisestaffeln Aufenthaltszeiten, so wird man vermutlich mit Recht die letzten vorchristlichen Jahrhunderte als Ausgangspunkt für die letzte Welle der aliki ansetzen dürfen. Man wird auch annehmen müssen, daß sie auf ihren geräumigen Plankenbooten mit großem Gefolge reisten, etwa mit den Handwerkern und Sklaven, die eine wichtige Rolle in ihren Hofhaltungen spielen. Sie waren natürlich auch in der Lage, Hunde und Schweine mitzunehmen, was den ersten Wanderern vielleicht oft auf den weiten Entfernungen mißglückte. § 6. F o r m e n der i n s t i t u t i o n e l l e n F ü h r u n g ( K ö n i g , P r i e s t e r ) I . Die winzigsten Gemeinden von Jägern, Fängern und Sammlerinnen bringen, wie wir gesehen haben, Führerpersönlichkeiten hervor. E s sind Führer im Kampf, auf der Jagd, beim Fang, bei Wanderungen, Propheten, Wahrsager, Traumdeuter, Zauberer, die durch Trance-Zustände Bewunderung hervorrufen und Einfluß ausüben, Vortänzer, Vorsänger, aber auch Persönlichkeiten die durch R a t in der politischen Leitung die Gemeinde beherrschen. E s wäre daher falsch die primitiven Einheiten gleichsam „ohne K o p f " vorzustellen. Nicht nur das, sondern die besonderen Fähigkeiten der Einzelnen kommen auch auf den verschiedensten Gebieten zur Geltung. Es herrscht eine Siebung entsprechend der Leistung des Einzelnen, a) Diese Leistungen werden j e nach der sozialen Gesamtsituation verschieden gewertet. In einem Dorf kamen Sänger und Maler, im anderen Zauberer, im dritten Kämpfer zu besonderem Ansehen, wie ich das am Sepik (Augustastrom) in Neu-Guinea beobachten konnte. Das hängt teils mit der Macht hervortretender suggestiver Persönlichkeiten zusammen, teils mit der komplementären Bereitwilligkeit der Gemeinde, die Sonderbegabung oder Sondertätigkeit der „Spezialisten" positiv zu bewerten. Wir finden in Afrika Tänzer, in Nordamerika Sänger in hohem Ansehen von den Gemeinden gehalten, auf den AndamanenInseln und bei sibirischen Stämmen Zauberer und Schamanen, usw. Der menschliche Geist verfällt immer bereitwillig in bequeme Verallgemeinerungen und gesteht einer Persönlichkeit, die auf einem Gebiete hervorragende
Formen der institutionellen
Führung
37
Leistungen vollbracht hat, gern auch eine — wenn auch keineswegs verdiente — Autorität auf anderen Gebieten zu. In der Tat sind dies immer sich wiederholende Irrtümer von verhängnisvollsten Konsequenzen. Der Fehler, wird heute ebenso begangen wie vor 10000 Jahren: Es wird die Meinung des Boxerkönigs über finanzielle Fragen eingeholt, die einer Filmdiva über „Naturvölker", eines Pianisten über Politik, usw. Dennoch steckt darin die Anerkennung einer starken und überragenden Persönlichkeit, von der man vielleicht nicht ganz ohne Recht Hervorragendes auch auf anderen Gebieten erwartet. Denn in der Tat sind die Leistungsbereiche der Persönlichkeiten bald eng, bald überraschend weit. Nur eben nicht immer gleich weit. Die Annahme, daß eine hervorragende Leistung einem Menschen von weiter Begabung angehört, hat zur Anerkennung allgemeiner Autorität geführt. So finden wir denn die auf Grund von Spezialleistungen ausgesiebten Persönlichkeiten die Führung auch auf anderen, besonders politischen Gebieten ergreifen. In den Gemeinden der Wildbeuter und homogenen Feldbauer und Hirten findet sich eine Leistungsführung persönlicher manchmal auch b) i n s t i t u t i o n e l l e r Art. Das will besagen, daß Persönlichkeiten verschiedener „Leistungsfärbung" entscheidenden Einfluß ausüben. Dieses kann wechseln: einmal ein Magier, nachher ein geschickter Jäger, daraufhin ein Tänzer, dann ein Führer bei Wanderungen usw. In anderen Fällen hat die Art der Führung sich institutionell verdichtet: immer wird z. B. dem Schamanen ein entscheidender Einfluß auf die Entscheidungen der Gemeinde eingeräumt; oder der erste Sänger führt das große Wort; oder der Mann, der angesehen sein will, muß sich als erfolgreichster Jäger betätigt, oder er muß eine Anzahl von Feinden getötet haben. Zu alledem kommt auch stets das Sichdurchsetzen gegenüber von Rivalen um die supreme Macht. Denn auch in den streng demokratischen Gemeinwesen besteht eine Art „Hackordnung" unter den einzelnen Familienhäuptern, welche den „Rat der Alten" bilden; d. h., daß sich aus dem regelmäßigen Zusammenwirken von den seit Jugend miteinander vergesellten Persönlichkeiten längst die Spezialbegabungen und Interessen festgesetzt und in bezug auf die öffentlichen Angelegenheiten der Gemeinde (z. B. Festsetzung der Pflanzungszeit, der Jagdunternehmungen, der Veranstaltung der Jünglingsweihen und Totenfeste, der Blutrache-Unternehmungen u. dgl.) wechselseitig abgestimmt, gewohnheitsgemäße Ansichten, Freundschaften, Feindschaften, Geltungsansprüche u. dgl. sich herauskristallisiert haben. Dazu kommt noch etwas. Bei vielen „homogenen" Stämmen treffen wir das geschilderte „institutionelle" Häuptlingtum, das an die Persönlichkeit des Trägers gebunden ist, soweit die Befugnisse und der Grad von Autorität in Betracht kommt. Aber nicht selten wird c) dieses von bestimmten Familien regelmäßig besetzt, wie im östlichen Neu-Guinea, bei den Irokesen, bei einzelnen australischen Stämmen u. dgl. Unter den Maori Neuseelands (im scharfen Unterschied besonders zu Tahiti) gilt der patriarchische Häuptling als von gleicher Abstammung wie das übrige Volk seines „Stammes" 1 ). Es handelt sich dabei um erweiterte Klans.
38
Soziale
Gestaltungen
Gerade darauf beruht der Anspruch seiner Familie. Ob die Bevorzugung dieser Familien als Rest früherer fremder Zuwanderung aufzufassen ist oder als eine Herausdifferenzierung aus allgemeiner Homogenität, würde sorgfältige und unvoreingenommene Nachprüfung in jedem einzelnen Fall erfordern (Vgl. dazu Bd. I, S. 169). Da sich Handwerk, Zauberei und andere Besonderheiten gewiß aus homogenem Bestand abzweigten, wäre das für solche Häuptlingsfamilien sicher nicht ausgeschlossen. Auf der andern Seite ist es ebenso erwiesen, daß Fremdstämmige sich mit der Zeit durch Vermischung und kulturelle Assimilierung mit dem Hauptvolk zu einer neuen, sekundären Homogenität umgestalteten, wie z. B . das Küstenvolk der Gazelle-Halbinsel (Neu-Pommern, Südsee) oder die Häuptlinge der wa-Nyamwezi in Ostafrika. (Darum muß von Fall zu Fall eine besondere Untersuchung veranstaltet werden.) Aber auch deren Häuptling ist „primus Ínter pares". I I . Ein ganz neues Moment tritt in die politische Führerschaft durch die Ü b e r s c h i c h t u n g . Der wesentliche Vorgang bei der Uberschichtung besteht, wie wir gesehen haben, darin, daß Familien derselben Herkunft, aber anderer als die übrige Bevölkerung, traditionelle Führerschaft erlangen. Der Unterschied gegen den vorher unter c) beschriebenen Fall besteht darin, daß die unter c) erwähnten Familien derselben Herkunft sind oder doch zu sein scheinen. Mit der Zeit kann, wie erwähnt, eine weitgehende Mischung und Assimilierung erfolgen. Eingehende Untersuchung wird bei Uberschichtung aber oft Besonderheiten zutage fördern, die im Falle c) sich nicht zeigen. Man erwähnt z. B . in vielen Teilen Afrikas Häuptlingsfamilien, die aus Hirtenfamilien stammen, durch Generationen hindurch sich auf dem Wege des Frauenerwerbs mit den Bantu-Feldbauern vermischt hatten, deren Nachkommen die Sprache ihrer Mütter reden und weitgehend „bantuisiert" sind. Ahnliche Vorgänge vollzogen sich in anderen Erdteilen, wie in Mikronesien und Polynesien. Diese „Häuptlingsfamilien" stellen einen Geburtsadel dar. I m § 4 wurde der Prozeß geschildert, der mit ihrer Verselbständigung verknüpft war. Hier interessiert uns ihre Funktion als Führer in den geschichteten Gesellschaften. Diese Funktion ist natürlich nur im Rahmen der Varianten und des Ablaufs dieser Gesellschaften erfaßbar. Folgende Typen lassen sich ermitteln. l a ) Der Typ der wa-Nyamwezi oder wa-Sukuma in Ost-Afrika. Hier existieren Klan-Häuptlinge, die von Hirtenstämmen abstammen, im Laufe der Zeit aber sich mit dem Klan in bezug auf Sprache und Sitte, also „national" verschmolzen haben. —• Formel: D/K (D == Dynastie, K = Klan). l b ) Eine Variante dieses Typs stellen die wa-Shambala einschließlich der wa-Pare unter der Lindi-Dynastie dar. Hier hat eine verhältnismäßig kleine Familie die Herrschaft über eine große Anzahl von Klans an sich gerissen. — Formel: D / K . K . K . K . 2. Die Herrscherdynastie ist eine erste Familie unter einer Anzahl anderer derselben Herkunft gleichen Rangs (ethnischer Adel). Die Gesamtheit dieser Familien beansprucht Führerschaft, d. h. Autorität unter den übrigen. Dieser Fall besteht z. B . unter den Toro, bei denen die Babito einen solchen ethnischen Adel darstellen. Auch der Aufbau des alten Hehe-Reiches gehört hierher,
Formen der institutionellen
Führung
39
obgleich hier der Prozeß in den Anfangsstadien war, den wir in Toro in einer ausbalancierten Dauerform antreffen. Wir finden in Tahiti, daß die Volkswelle, welche die ariH gebracht hatte, die Manahune unterjochte und in die Berge trieb. Das Land wurde unter die „Häuptlinge" aufgeteilt und in einem Feudalsystem verliehen (Mühlm. [34a]), ähnlich wie auch auf mikronesischen Inseln. Hiermit ist sakrales Königtum verbunden, das häufig von einer Priesterschaft adliger Herkunft beaufsichtigt wird. — Formel: D = F [ + F 2 + F 2 + F 2 + etc.]/V. (V = Volk ohne Rücksicht auf weitere Staffelung). 3. Wenn sich der ethnische Adel in einen Beamtenadel und eine Reichtumsschicht umwandelt, geht auch eine Veränderung der Herrschaftsform und seiner Grundlage vor sich. So finden wir die Zustände in Buganda, im alten Peru, im Aegypten des sog. „Neuen Reichs". Eine starke Zentralisation war auch in Hawaii zur Herrschaft gelangt, wo sich zuletzt eine despotische Monarchie entwickelt hatte, die willkürlich Statthalter der Distrikte ernannte. Die Priesterschaft ist hier der Despotie dienstbar gemacht (im Gegensatz zum vorher beschriebenen Typ). Der Beamtenadel wird teils aus dem ehemaligen ethnischen Adel teils aus allen möglichen anderen Schichten und Fremden genommen. Oft verbindet sich ein genau nach Rang gestaffeltes System, das teils auf Verwaltungsfunktionen, teils auf Besitz der Wertsymbole aufgebaut ist. Die kulturelle Assimilation ist überwiegend durchgeführt unter den Schichten. — Formel: D/Bj/Bj/Bg/V. (B, B 2 etc. bezeichnet Beamtenfamilien verschiedener Rangstufen. V = Volk, ohne Rücksicht auf weitere Staffelung etwa in Hörige und Sklaven etc.). 4. Der Herrscher entspringt nicht mehr der alten aristokratischen Schicht, sondern ist aus irgend einer der Gruppen hervorgegangen, welche sonst die Beamten stellen oder in Besitz von Reichtümern gelangt sind. Der Machtbesitz ist rationalisiert, wenn auch oft Anstrengungen gemacht werden, ihn mit dem alten sakralen Charakter irgendwie zu verknüpfen. I m alten Griechenland wurde diese Form als Tyrannis bezeichnet. Suaheli-Sultane im Ostafrika der arabischen Zeit waren derartige „Tyrannen", z. B. auch der berüchtigte Tippu-Tip. Die spätere römische Kaiserzeit und das Aegypten, in dem Söldnerführer die Macht an sich rissen, produzierte solche „Tyrannen". Die Priesterschaft wird völlig durch diese Herrscher kontrolliert, die naturgemäß die stärkste Zentralisation ihrer Macht durchzuführen suchen. Gewöhnlich ist in diesem Stadium eine weitgehende Rehomogenisierung des Volkes durchgeführt und alle Unterschiede in den Schatten gestellt gegenüber der Beziehung zum Tyrannen. — Formel: T/V. 5. I n archaischen Gesellschaften, wie der chinesischen und indischen schlössen sich daran Herrschaftsformen, die von rationalistischen Überlegungen geleitet waren und sich auf von gewissen Ideen geleitete Bünde stützten. (Oft allerdings erfolgten neue Uberschichtungen, die den unter 2) beschriebenen Prozeß zu wiederholen begannen).
40
Kräfte der Vergesellung im
Männerverband
II. KRÄFTE DER VERGESELLUNG IM MÄNNERVERBAND § 1. D a s P r o b l e m der „ s o z i a l e n E n t w i c k l u n g " Soziale Entwicklung kann unter zweierlei Gesichtspunkten betrachtet werden: nämlich als Beantwortung der Fragen 1. inwiefern die im Laufe der Zeit zutage tretenden sozialen Gebilde der Menschen überhaupt eine bestimmte, nicht umkehrbare R i c h t u n g vom e i n f a c h e r e n zum komp l i z i e r t e r e n Bau aufweisen, 2. wieweit innerhalb einer Kultur oder eines politischen Verbandes Veränderungen vor sich gehen, die im Sinne der Erreichung eines K u l m i n a t i o n s p u n k t e s r e i b u n g s l o s e r , o p t i m a l e r Ges t a l t u n g angesehen werden können, welche also gemäß der jeweiligen zivilisatorischen Ausrüstung dem Stande der Technik und der kausalen Kenntnisse des betreffenden ethnischen Verbandes den höchsten Grad wechselseitiger sozialer Anpassung aufweist. Diesem Gesichtspunkt der Entwicklung wird ein anderer entgegengesetzt, welcher nur die Ü b e r t r a g u n g sozialer Einrichtungen ins Auge faßt. Tatsächlich steht die Übertragung, welche von den Kulturkreistheoretikern in einseitiger Weise in den Vordergrund gerückt wird, in keinem notwendigen Widerspruch zu der historischen ,,Entwicklung". Doch muß man beachten, daß bei der Übertragung nur gewisse Dinge a u s g e w ä h l t werden und diese nachher oft noch eine U m g e s t a l t u n g erfahren, wie z. B. im Falle des sogenannten römischen, justinianischen Rechts in Deutschland (s. T. „ K u l t u r kreis", „Primitive Kultur"). Der vergesellend wirkenden Kräfte gibt es indessen mannigfache. Als ursprünglichste kann man vielleicht den B l u t s v e r b a n d betrachten, in dem die miteinander nahe verwandten Kinder gemeinsam aufgewachsen sind. Er beruhtauf der Gesellung von verwandten Männern, Brüdern, näheren und entfernteren Vettern, zu denen oft noch Schwäger kommen. Die V e r g e s e l l u n g s k r a f t ist keineswegs stets von gleicher Bedeutung für den Zusammenschluß, sie tritt in sehr verschiedenen Formen auf und bedient sich mannigfaltiger Mittel. Jedoch kann man beobachten, wie der eine Faktor gegenüber dem anderen in den Vordergrund tritt. 1. Für den politischen Zusammenschluß wirkt ursprünglich die B l u t s v e r w a n d t s c h a f t entscheidend als Bindemittel. Eine nicht auf Blut beruhende Gesellung, wie Blutsbrüderschaft, Adoption oder Pflegeverhältnis, wird nach dem Vorbild von Blutsbeziehungen betrachtet. Die Gemeinschaft von Kultur und Sprache steht unbeachtet im Hintergrund. Wichtiger ist schon die durch gemeinsames Siedeln bedingte Schicksalsgemeinschaft. Doch sind die sogenannten Lokalgruppen und Siedlungs-Agglomerate, wenn auch nicht prinzipiell auf Verwandtschaft aufgebaut, so doch gewöhnlich tatsächlich durch Verschwägerung usw. miteinander verbunden. Die Verwandtschaft ist auch eine Glaubensgruppe, die sich tatsächlich als von dem gleichen Ahnherrn abstammend betrachtet, ihn mit dem gleichen Mythos umwebt, die gleichen religiösen Erlebnisse pflegt und ihnen durch Kult, Riten, Zeremonien, Feste und dgl. denselben Ausdruck verleiht. 2. Erst später scheint die Herrschaft als Faktor des politischen Zusammen-
Der Siedelungsverband
41
schlusses wichtig zu werden. Wenn auch hervorragende Persönlichkeiten und Alte ein Gefolge um sich scharen können, so ist gerade für das Jägerund Fängertum trotz gelegentlich hervortretender Führer die starke persönliche Selbständigkeit jedes Einzelnen charakteristisch. Wirkliche Herrschaft scheint eine e t h n i s c h e Überlagerung zur Voraussetzung zu haben. Als ein Vorstadium dazu wird man die Anerkennung der Überlegenheit in dem s a k r a l e n Gewände eines persönlichen Mana zu sehen haben, das Menschen anderer Herkunft und Kultur entgegengebracht und von diesen nicht ohne Selbstbeschränkung hingenommen wird. Erst später, nachdem Mischungen sich vollzogen, durch Aufnahme Fremder als Gefangene, Diener und Helfer ein H e r v o r t r e t e n e i n z e l n e r P e r s ö n l i c h k e i t e n u n d F a m i l i e n sich geltend machte, während andere ins Hintertreffen gerieten, entwickelten sich a u s den e t h n i s c h e n S c h i c h t e n s o z i a l e K l a s s e n a u f w i r t s c h a f t l i c h e r B a s i s . Die D e s p o t i e Einzelner, die sich gegen den adligen Rivalen durchgesetzt hatten, erscheint erst als eine r a t i o n a l e N ü t z u n g d e r M a c h t , als die bewußte Anwendung des Herrschaftsprinzips (unabhängig von verwandtschaftlicher Zugehörigkeit). In der Familie findet sie ihre Parallelerscheinung im Patriarchat, während der Altenherrschaft der Jäger und Sammler die straffe Durchsetzung der Macht unmöglich ist und auch niemals von ihr beabsichtigt wird. Erst in den archaischen Staaten wird das Herrschaftsprinzip mit voller Klarheit angewendet, wenngleich auch hier noch lange der Gedanke an das persönliche Mana wenigstens der dynastischen Familie weiterwirkt. 3. Das Nebeneinandersiedeln von Gruppen verschiedener Abkunft bringt einen Riss in die Einheitlichkeit des Glaubens einer Siedlung. Beim Zusammentreffen verschiedener ethnischer Gruppen scheinen einzelne ihre Traditionen in „ G e h e i m e n G e s e l l s c h a f t e n " weiter bewahrt und einseitig ausgebildet zu haben. In diesen Bünden und Geheimen Gesellschaften sehen wir zum erstenmal I d e e n unabhängig von gemeinsamer Abstammung als einigende Kraft, auch von politischer Bedeutung, in den Vordergrund treten. — So können wir eine Abfolge der Autorität des Bluts, der Persönlichkeit und der Ideen erkennen. Dabei kann immer wieder die frühere Gesellungsmacht Einfluß gewinnen. Es handelt sich weniger um ein Verdrängen als um ein Hinzukommen hervorstechender Faktoren. § 2. D e r
Siedelungsverband
Unabhängig von dem Gefühl gemeinsamer Herkunft wirkt das Z u s a m m e n s i e d e l n als solches vergesellend. Wenngleich die Bewohner der Siedlungen gewöhnlich mehr oder minder untereinander verwandt sind, ist doch diese Verwandtschaft nicht immer in erster Linie ausschlaggebend für das Solidaritätsgefühl unter den Siedlungsgenossen, sondern vielmehr die Lebensund Schicksalsgemeinschaft, die den Charakter eines politischen Verbandes annimmt. Man spricht in solchen Fällen daher oft von „ L o k a l g r u p p e n " . Vielfach vergißt man allerdings, daß derartige Siedlungsgemeinden nichts Ewiges sind, sondern gewöhnlich im Anschluß an Wanderungsschicksale, wie folgendes Beispiel aus dem südlichen Neu-Guinea lehrt, entstanden.
42
Kräfte der Vergesellung im
Männerverband
Wie sich die E i n w a n d e r u n g e n der Marind-anim gestalteten, die höchstwahrscheinlich aus dem Osten, dem Küstengebiet zwischen dem Fly-River und Torassi, gekommen sind, lassen die Forschungen von Wirz ([25] 150ff) ersehen. Die Wanderung fand vermutlich in sehr k l e i n e n Gruppen statt, von denen die einen den anderen nachdrängten, und die sich dann auf geeigneten Flußläufen landeinwärts bewegten, bis sie namentlich für die Kokoskultur geeigneten Boden gefunden hatten. Sehr häufig findet man, daß die am frühesten eingewanderte Sippe sich die V o r h e r r s c h a f t zu sichern verstand. Die S i p p e n o r g a n i s a t i o n beherrscht die ganze Siedlungsordnung. Oft besteht eine Niederlassung aus verschiedenen totemistischen Sippen (boan), deren jede ein eigenes Männerhaus besitzt. Die Verteilung der Kokosund Sago-Bestände wird ebenfalls nach diesem Grundsatz geregelt. Diese Sippen bilden nun vermöge ihrer örtlichen Zusammengehörigkeit eine S chicks a l s g e m e i n s c h a f t , welche das umgebende Land beansprucht, um dort Jagd und Fang auszuüben. Gegen die benachbarten Siedlungsverbände haben sich mit der Zeit feste Grenzen herausgebildet, die einem Hoheitsrecht über das betreffende Landgebiet entsprechen, denn jede Siedlungsgruppe verbietet den anderen, innerhalb ihrer Grenzen zu jagen oder zu fischen, für die Herstellung von Kanus Bäume zu fällen, für Krokodile oder Wildschweine Fallen zu stellen usw. Das tatsächliche Zusammenleben dieser Sippen bedingt auch ein S o l i d a r i t ä t s g e f ü h l unter ihnen, wie es sich gelegentlich der Kopfjägerei oder auch freundschaftlicher Beziehungen zu den Nachbarn äußert. Uber diese Lokalgruppen hinaus fehlt es jedoch an jeglicher Zusammengehörigkeit, und jede Lokalgruppe ist auf sich selbst angewiesen.Doch läßt sich feststellen, daß z w i s c h e n e i n z e l n e n S i e d l u n g s g e m e i n d e n oft reger f r e u n d s c h a f t l i c h e r V e r k e h r bevorzugt wird. Dies läßt sich teilweise auf H e i r a t s b e z i e h u n g e n zurückführen und findet wohl auch bei den gemeinsamen Abhaltungen von G e h e i m k u l t - Z e r e m o n i e n , endlich auch bei K o p f j a g d - U n t e r n e h m u n g e n seinen Ausdruck. Aber auch zwischen weiter entfernten Siedlungsgemeinden bestehen oft Bande der Freundschaft, die in der Gewährung eines A s y l s an Flüchtlinge aus der anderen Gemeinde ihren Ausdruck finden. Möglicherweise werden derartige Beziehungen zwischen den entfernten Siedlungen durch ursprünglich gemeinsame Sippenzugehörigkeit getragen. An der Küste liegen die Verhältnisse noch komplizierter, weil hier mehrere Siedlungen zu S i e d l u n g s v e r b ä n d e n zusammengeschlossen sind. Auch scheint hier eine Teilung der Lokalgruppen in U n t e r g r u p p e n vorzukommen. Im Inneren sind die Gaue größer, an der Küste im allgemeinen kleiner, denn die Besiedlung wird landeinwärts dünner. Dieser Umstand führt eine gewisse Verschiedenheit der Lebensführung der Binnenlandbewohner gegenüber der der Küstenbevölkerung herbei (Wirz [25] 150ff). Auch die Bauart und Anlage der Wohnplätze und Hütten in den sumpfigen Küstengeländen unterscheidet sich von der der Binnenleute (185ff),
Rivalitäten
43
§ 3. R i v a l i t ä t e n Innerhalb der Siedlungen geht das Zusammenleben nicht immer reibungslos vor sich; denn die auf den verschiedenen anderen Vergesellungskräften beruhenden Gruppen zeigen die Tendenz, zu einer Erweiterung der Grundlage ihres eigenen Zusammenschlusses ü b e r z u g r e i f e n . Heiratsgruppen oder religiöse Bünde streben z. B., wenn die Umstände günstig sind, danach, auch „politische" Gesichtspunkte ihrem Verbände zugrunde zu legen. Umgekehrt ziehen sich ursprünglich politische Gruppen etwa auf das religiöse Gebiet z u r ü c k . So schlummern oft Erinnerungen an eine frühere ethnische Selbständigkeit, an Überlegenheit oder an Streitigkeiten in gewissen Bünden und machen sich gelegentlich in eigenartigen R i v a l i t ä t e n geltend. Nicht selten findet man eine gewisse R i v a l i t ä t zwischen den beiden Hälften eines Stammes. So scheidet sich die ganze Bevölkerung der Karolinen-Insel der Südsee Y a p unabhängig von ihrer geographischen Lage in zwei feindliche Parteien, die väani pägal und väani pilun (Müll.-W. [17] 234). In ähnlicher Weise wird auch in benachbarten Teilen Indonesiens zwischen JJrsiwa und Urlima unterschieden, deren Spaltung vielleicht auf den Gegensatz Tidore und Ternate zurückgeht. — Bezüglich Neu-Guinea vgl. Wirz [24] 46—48. Traditionelle Rivalitäten kommen auch unter den Männerbünden der großen nordamerikanischen Ebene vor, und zwar namentlich bei den K r ä h e n Indianern (Lowie [13] 198). So waren einmal die „großen Hunde" mit den „Baumstümpfen" verbündet gegen die „Füchse" und die „Schmutzhände", um von ihren Gegnern F r a u e n zu s t e h l e n . Auch werden derartige traditionelle Rivalitäten aus älterer Zeit berichtet. Dabei handelte es sich auch um Entwendung von G e s ä n g e n , die die anderen als ihr Eigentum beanspruchten (182f). — Ein solches Stehlen der Frauen des Bundes der „halbgeschorenen Köpfe" von den „Füchsen" soll den Grund zu der Rivalität zwischen den beiden gegeben haben. Die „halbgeschorenen Köpfe" waren die Vorfahren der „Baumstümpfe". In früheren Zeiten mußte eine gestohlene Frau sich rittlings auf einen Stock setzen statt auf ein Pferd, und bei dieser Gelegenheit wurde ein Tanz aufgeführt. Die beiden rivalisierenden Parteien kamen später überein, ihre Frauen, die sie einander gestohlen hatten, nicht zu verhöhnen, doch bei dem Stehlen sollte es bleiben (197). Besonders stark kam die Rivalität unter den Kriegsgesellschaften der J o wa-Indianer zum Ausdruck. Eine jede suchte auf jedem „Kriegspfad" vertreten zu sein. Geschickte Streiche wurden den einzelnen Mitgliedern besonders angerechnet und kamen dem ganzen Bunde zugute, der sich dessen rühmen durfte. Daher erwies die Gesellschaft ihren besonders wagemutigen Kämpfern Auszeichnungen, um auf diese Weise die anderen zu übertrumpfen. Die besonders rivalisierenden Verbände waren die tukala und mawatani (Sk. [15] 692). Diesen Rivalitäten liegt ein allgemein menschlicher Zug zugrunde, der immer dann zutage tritt, wenn auf keiner Seite ausgesprochene Überlegenheit erzielt werden kann, während ein Streben nach Expansion dem Verbände innewohnt.
44
Kräfte der Vergesellung
im
Männerverband
Kämpfe in primitiven Gesellschaften spielen, wenn sie zu einer traditionellen Rivalität geworden sind, leicht nach einer Seite hinüber, die wir als Sport bezeichnen würden. Die verhältnismäßig nahe Nachbarschaft und oft auch verwandtschaftliche Beziehungen mildern nämlich die Angst voreinander und bringen auch einen innerlichen Verzicht auf völlige Unterwerfung der Gegner herbei, so daß es bei einem Kampfe um das Ansehen allein, um die A u s z e i c h n u n g , sein Bewenden hat. So blutig und lebensgefährlich derartige Rivalitätskämpfe manchmal sind, der spielerische Charakter bewährt sich in einer gewissen Anzahl ritterlicher Kampfesregeln und erhält durch den Reiz der Aufregung um den Ausgang der Kämpfe den Prickel des Schauspiels. Wirz ([24] 42) entwirft folgende Schilderung: Zwar fehlt es den Eingeborenen des zentralen (holländischen) Neu-Guinea an jedem Zug aktiver G r a u s a m k e i t , wie sie namentlich dem Papua der Südküste eigen ist. Doch ist der Eingeborene, wie alle Papua, ein großer E g o i s t , der sich um Alte, Schwache und Kranke wenig kümmert; sie müssen selbst sehen, woher sie ihre Nahrung bekommen. Niemals ist es jedenfalls ein Mann, der sich eines anderen annimmt, dies ist vielmehr Sache der Frauen, namentlich der älteren. Das Quälen von Tieren kann man geradezu als eine Lieblingsbeschäftigung der Jugend bezeichnen. Im Kriege bedient man sich bloß des Bogens und Speers als Waffe und läßt die getöteten Feinde liegen. Kopfjägerei und Kannibalismus sind unbekannt, doch bringt ein kriegerischer Rachezug ins feindliche Gebiet der Männerwelt jederzeit eine angenehme A b w e c h s l u n g in das sonst so monotone Alltagsleben. Man kann auch aus den Erzählungen der Männer und Jünglinge ersehen, wie die kriegerische Betätigung einen außergewöhnlichen Reiz für sie hat und die bloße Erinnerung an solche sie in Eifer und Feuer versetzt. § 4. B a l l u n g e n von Dörfern zu Gruppen Die N a c h b a r s c h a f t des Siedeins wirkt nicht eindeutig vergesellend, sondern sowie etwas größere Menschenmengen in Betracht kommen, führt sie sofort zu B a l l u n g e n innerhalb der Anhäufung von Menschen und zu einem nicht selten mehr oder minder feindseligen Verhalten unter den geballten Aggregaten. Selbst innerhalb größerer Lokalgruppen kommen derartige Scheidungen vor, die manchmal zur Abwanderung größerer oder kleinerer Teile Anlaß geben. — Aber auch unter verschiedenen Siedlungen findet ein Zusammenschluß oft, aber nicht immer auf Grund verwandtschaftlicher Beziehungen statt, während andere sich abtrennen. Von den Stämmen des zentralen Neu-Guinea betont Wirz ([24] 37£f) das Bestehen von verhältnismäßig lebhaftem V e r k e h r und F r i e d f e r t i g k e i t . Trotzdem kommen natürlich Kämpfe vor. Er weist darauf hin, daß Freundschaft und Feindschaft sehr l a b i l und wechselnd sind. Befreundet sind S i e d l u n g e n oder vielmehr K o m p l e x e von solchen, die gegenseitig Handelsbeziehungen unterhalten; aber auch diese können oftmals und plötzlich durch irgendeine geringfügige Veranlassung in Feindschaft umschlagen, die unter
Ballungen
von Dörfern
zu
Gruppen
45
Umständen recht erbittert werden kann. Umgekehrt kann langjährige Feindschaft auf einmal wieder zu freundschaftlicher Haltung werden. Aus diesem Grunde sind auch die Aussagen der Eingeborenen über feindlich gesinnte und befreundete Nachbarstämme meist widersprechend und mit Vorsicht aufzunehmen. D i e b s t a h l und „ W e i b e r g e s c h i c h t e n " sind es gewöhnlich, welche das Verhältnis zwischen zwei benachbarten Tälern oder beiden Seiten eines Tales gespannt machen und zu erbitterter Feindschaft führen können. Der Bevölkerung fehlt Solidaritätsbewußtsein und Gefühl von Zusammengehörigkeit, das niemals über das heimatliche Tal hinausreicht. Aus diesem Grunde vermeidet man alles, was zu feindlichen Begegnungen führen könnte, vor allem das Uberschreiten der G r e n z e n eines feindlichen Gebietes. Nur wenn es gilt, einen von den Feinden getöteten Siedlungsgenossen zu rächen, werden kriegerische Expeditionen ins feindliche Gebiet unternommen. Die verschiedenen Gruppen kleiner Dörfer, wie z. B. der Mailu (oder Toulon), einer Neu-Guinea im Osten vorgelagerten Insel, stehen untereinander oft in einer gewissen Verbindung. So das Dorf M a i l u mit seinen vor verhältnismäßig kurzer Zeit gegründeten Kolonien Oraido und Kurere. Diese Gruppe war zweifellos die mächtigste, zumal Mailu der volkreichste Ort der Gegend war und die größte Zahl von Kriegskanus besaß. Auch wirtschaftlich ist sie am wichtigsten, weil sie diejenige Gemeinde ist, die zur See fährt und Handel treibt und sich dadurch an der ganzen Südostküste auszeichnet. Auch ist Mailu der einzige Ort, der Töpferei betreibt und Kanus baut. Eine weitere Gruppe von Dörfern westlich der Amazonenbucht wird durch die Dörfer Daläva, Magaübo, Durom, Domära und Domu gebildet. Sie gleichen sonst der Mailu-Gruppe, obgleich ihr Handel nicht bemerkenswert ist, sie keine großen Kanus bauen und, mit Ausnahme vielleicht von Domära, in früherer Zeit, keine Töpferei ausüben. Heute ändern sich die Dinge insofern, als die Eingeborenen Handwerke auszuüben beginnen, die sie früher nicht betrieben. Diese westlichen Dörfer befanden sich in freundschaftlichen Beziehungen zu der Mailu-Gruppe. Zwei Dörfer auf den Korallen-Inseln in der Amazonenbucht: Loupom und Laruoro, bildeten eine Gruppe für sich. Sie lebten unter den gleichen Bedingungen, zeigten den gleichen Gesellschaftsbau und dieselben wirtschaftlichen Tätigkeiten. Vor allem waren dort Fischer, früher segelten diese jedoch nicht viel und hatten keine großen Kanus. Sie unterhielten untereinander gute Beziehungen, waren jedoch nicht immer freundlich den Mailu gegenüber. Ganz besonders traf dies in bezug auf das Dorf Laruoro zu, das näher bei Mailu gelegen war und sich oft im Kriegszustand mit ihm befand. Vor einiger Zeit sollen die Laruoro erfolgreich die Mailu angegriffen und einige getötet, andere zur Flucht auf Kanus genötigt haben. Die Mailu nahmen so gründliche Vergeltung dafür, daß sie das ganze Dorf vertrieben, nachdem sie viele getötet hatten. Die Flüchtigen segelten bis nach Gadaisiu, dem Grenzdorf des südlichen Massim. Dort verblieb ein Teil von ihnen und bildete so einen Mailu-Bestandteil dieser Niederlassung, während andere nach dem Dorfe auf der Insel zurückkehrten. — Die Dörfer von Wowuoro, Tselai und Derebai, die jetzt an der Küste hegen, stellen eine andere Gruppe dar. Früher befanden sie sich auf
46
Kräfte der Vergesettung im
Männerverband
dem Kamm der Hügel um die Amazonenbucht. Sie unterhielten dauernd freundschaftliche Beziehungen untereinander und mit dem Dorfe Mailu. Zwischen dieser und der folgenden Gruppe, die aus den Dörfern Dägobo, Unevi, Borebo, Pediri, Tsaviribo, Geagea, Banöro und Gima besteht, klafft eine große Lücke. Diese Dörfer leben zwar auf freundlichem Fuße untereinander, doch sollen die ersten fünf miteinander enger verbunden sein und ebenso die drei letzteren. Diese Dörfer pflegten mit den Mailu und den Dörfern der Amazonenbucht im Kampfe zu liegen. Sie waren untereinander auch durch Feste verbunden, die sie der Reihe nach gaben, und auch durch gewisse wirtschaftliche Abmachungen in bezug auf die Nutzung der SagoSümpfe. Die Dorfgruppen an der Westküste von der Orangerie-Bucht: Oibäda, Nabäi, Ore und Gogotstiba, haben die gleichen Beerdigungssitten, Zauberei usw. und scheinen auf freundschaftlichem Fuße zu leben, während sie von den anderen Mailu gefürchtet, gehaßt und bekämpft wurden, obgleich die eigentliche Mailu-Gruppe bessere Beziehungen mit ihnen zu unterhalten scheint als ihre unmittelbaren Nachbarn, die Borebo, Pediri, Geagea usw. Diese verschiedenen Gruppen stellen also politische B ü n d e dar, die jedoch auch durch andere soziale Faktoren untereinander verknüpft waren. Auch sprachlich dürften sie dialektische Gruppen darstellen (Mal. [15] 510ff; vgl. a. ders. [22] 57, 67 ff, 71). § 5. W a n d e r u n g e n u n d i h r e W i r k u n g Der beständig vor sich gehende Prozeß einer V e r ä n d e r u n g d e r M e n s c h e n z a h l , hauptsächlich einer Vermehrung durch die Nachkommenschaft, führt auch zu einer Veränderung des Bestandes an Angehörigen eines Verbandes. Ein Anwachsen der Zahl fördert in den kleinen Gemeinden Ballungen im Innern derselben, führt zu Streitigkeiten und zur A b s p l i t t e r u n g von Teilen, die sich anderswo mehr oder minder dauernd niederlassen und so den Anlaß zu W a n d e r b e w e g u n g e n geben können. Solche Abschnürungen, die sich in Bewegung setzen, sind von größter Bedeutung für die soziale Entwicklung und Gestaltung. Einerseits sind sie Träger verschiedener Sitten und Gebräuche, die sie nach anderen Orten verpflanzen können, andererseits werden diese Traditionsgüter durch die Wanderung, wenn diese weiter weg in ungewohnte Lebensbedingungen führt, dort dem Zwang der V e r ä n d e r u n g und der A n p a s s u n g an die neuen Lebensbedingungen ausgesetzt, wobei ein Teil des mitgebrachten Kulturgutes v e r l o r e n geht. Treffen die Wanderer im neuen Land mit fremden Menschen zusammen, so können sich v e r s c h i e d e n e F o r m e n e i n e s K o n t a k t s , eine Neben-, Unter- oder Uberordnung, eine Aufsaugung oder ein völliger Untergang, teils der Menschen, teils der Kulturgüter, abspielen. Ein besonders gut untersuchter Fall einer derartigen Wanderung, der hier beschrieben werden soll, lenkt das Interesse deshalb auf sich, weil der Wechsel der klimatischen Lebensbedingungen einerseits das Problem der Anpassung der mitgebrachten K u l t u r an das neue Klima, andererseits das der k o n s t i t u t i o n e l l e n Anpassung an die fremdartigen Ernährungs- und sonstigen
Wanderungen
und ihre
Wirkung
47
Lebensbedingungen zeigt. Für die mit dem Klima und den Lebensbedingungen konstitutionell in Einklang gebrachten Eingeborenen, die Eskimo, bedeutete die Zuwanderung der normannischen Volkssplitter eine Bereicherung ihres Kulturbesitzes. Das folgende Beispiel lehrt aber auch, mit welchen Schicksalen und Erschütterungen Kulturübertragungen, mit denen man in der Theorie oft allzu leichthin operiert, tatsächlich verbunden sind. Dabei sei gleich eingeschaltet, daß es selbstverständlich viele und verschiedenartige Möglichkeiten solcher Übertragungen gibt, von denen jede in anderer Weise sich auswirkt. Stby. ([17] 169 ff) kommt zu dem Ergebnis, daß die Eskimo-Kultur nicht ausschließlich als das Ergebnis geographischer Anpassung betrachtet werden kann, sondern daß auch Einflüsse und Erwerbungen von außerhalb zu ihrer Gestaltung beigetragen hatten, wenigstens zu der Zeit, als die Europäer Verbindungen mit ihnen aufnahmen. Durch welche soziologischen Vorgänge sind diese Kulturübertragungen nun zustande gekommen ? Hier bietet sich eine Gelegenheit, sie zu durchleuchten! Die erste nachweisbare Verbindung mit den Eskimo rührt aus der Normannenzeit her, als Isländer mit dem Irminger-Strom nach Westen trieben und auf die begünstigte Stelle bei Angmagsalik trafen und 100 Jahre später, vermutlich auf dem Umweg über die Davis-Straße und nach Baffin-Land, die amerikanische Küste erreichten, um mit dem Labrador-Strom über Hellu-Land und Mark-Land nach Vin-Land zu gelangen. (Uber die wahrscheinlichen Reste isländischer Einwirkung auf Sitte, Sage und Technik der dort lebenden Indianer vgl. Lwth. [23] 362ff und ders. [26] 66ff.) Die grönländischen Siedlungen der Isländer konnten sich auf die Dauer nicht halten. Die normannische Kultur in Grönland blieb dort fremd, obwohl sie sich sehr an die Naturbedingungen des Landes anzupassen suchte. Solange die Verbindung mit dem Mutterland aufrechterhalten werden konnte, d. h. solange Zufuhr von Holz, Eisen und Korn stattfand, vermochten sich die Kolonien zu halten. Die V i e h z u c h t war wohl in diesem Klima und bei dem damaligen Stande der Technik im hohen Norden auf die Dauer nicht durchführbar. Sie wurde daher von J a g d u n d F a n g v e r d r ä n g t . An Stelle des Haltens von Ziegen, Schafen und sogar Kühen und Pferden trat der Fang von Seehunden, Lummen, Flundern, Rentieren, Walrossen, Eisbären usw. Dies bedingte eine A n g l e i c h u n g der L e b e n s v e r h ä l t n i s s e der Normannen an die der Eskimo. Dazu kommt noch der Umstand, daß der Ubergang zu der ausschließlichen Fleisch- und Fettnahrung dem Europäer nicht bekömmlich ist und die Fortpflanzungsfähigkeit herabsetzt. Dazu traten M i s c h u n g e n und teilweise wohl auch Abwanderung, wahrscheinlich auch Kämpfe, so daß auf die Dauer die Eskimo durch ihre von vornherein b e s s e r e A n p a s s u n g an die N a t u r des Landes den Normannen und vielleicht auch ihren Mischlingen gegenüber im Vorteil waren. Auf diese Weise haben wir es uns vorzustellen, daß die Spur der Normannen bis auf wenige Ruinen, die heute noch längs der Küste gefunden werden, getilgt ist; gerade so wie unter den Indianern (vgl. o. Loewenthal) oder in Sizilien und anderswo. Dafür haben sich jedoch einzelne kulturelle Errungenschaften unter den Eskimo erhalten, während die
48
Kräfte der Vergesellung
im
Männerverband
Normannen selbst, die sich zu weit vorgewagt hatten, als rassischer Bestandteil zugrunde gingen (Nss. [24] 13ff, 96ff). Die erwähnten Schicksale illustrieren einerseits die Art, wie in einem Falle der Erwerb von sogenannten Kulturgütern vor sich gegangen ist. Sie zeigen aber auch, wie überwältigend stark auf der anderen Seite die äußeren Lebensbedingungen gerade bei ärmerer Kultur sind. Wenn man sagt, daß die Eskimo-Kultur in ihrer ältesten Form arktisch ist (Stby. [17] 170), so darf man nicht vergessen, daß auch ihre Träger, die Menschen selbst, in hervorragendem Maße den arktischen Lebensbedingungen a n g e p a ß t sind und das soziale Leben dadurch in bestimmter Weise den Stempel aufgedrückt erhält. Hier zeigt sich gleich wieder die Verflochtenheit mit anderen Erscheinungen. Steensby nimmt an, daß die ursprüngliche Eskimo-Kultur im a r k t i s c h e n A r c h i p e l „entstanden" sei und sich von da aus ost- und westwärts verbreitet habe. In der Gegend der Bering-Straße geriet sie unter asiatische Einflüsse von der pazifischen Küste. Indessen waren die fremden Einflüsse auf die ursprüngliche Eskimo-Kultur nicht derart, daß auf diese Weise etwas vollkommen Neues geschaffen worden wäre, sondern es handelte sich nur um Neuerwerbungen, die sich die Eskimo a s s i m i l i e r t e n . Der Erwerb neuer Fertigkeiten und Geräte trug natürlich zu einer Verbesserung der Lebensformen bei, ohne diese jedoch von Grund aus zu beeinflussen. Durch weiteres Vordringen nach dem Süden wurde die subarktische Kulturform entwickelt, und zwar hauptsächlich an den Küsten der Bering-Straße. Somit erscheint die arktische Form als die ältere, die suba r k t i s c h e als die jüngere und vor allem a s i a t i s c h b e e i n f l u ß t e EskimoKultur. Um uns die Wirkung des mit einer bestimmten Technik und Lebensführung Hand in Hand gehenden K l i m a s auf die soziale Gestaltung zu vergegenwärtigen, müssen wir uns vor Augen halten, daß der Sommer und der Winter ganz verschiedene Ansprüche an die Art der Nahrungsgewinnung und auch der Unterkunft stellen. Das geht so weit, daß man eine W i n t e r - und eine S o m m e r k u l t u r unterscheidet (Stby. 156ff). Erstere stellt sich für die arktischen Eskimo in folgender Weise dar: Ihr Aufenthalt ist zu Beginn des Winters an der Küste, später auf der gefrorenen See. Da leben sie von der Jagd auf dem Eis der See. Ihre hauptsächlichen Geräte, die sie dabei verwenden, sind der Hundeschlitten und die Harpune. Zu Beginn des Winters wohnen sie in Erdhäusern, später in Schneehäusern. — Der Sommer findet diese selben Eskimo im Inland, nicht mehr an der Küste; dort jagen sie auf dem Lande und fischen in den Flüssen. Dabei verwenden sie den Kajak und die Lanze, sowie Pfeil und Bogen und den Fischspeer für die Forellen; jetzt wohnen sie in Zelten. Eine ähnliche Verschiedenheit der Lebensweise gilt auch für die subarktischen Eskimo. Auch die Jagdmethoden auf die verschiedenen Tiere hängen mit den charakteristischen Lebensweisen zusammen und ändern sich natürlich nach dem besonderen Vorkommen der verschiedenen Tiere. Von der Gestaltung der Lebensweise hängt auch die soziale Organisation ab. Die soziale Organisation erfordert bei den Wild-
Ballungen
von Dörfern
zu
Gruppen
49
beuterstämmen keine großen Vorkehrungen. Da die einzelnen Gruppen in ihrer Nahrungssuche, in der Errichtung ihrer Unterkünfte und ihrer Bekleidung voneinander völlig unabhängig sind, so verkehrt man vollkommen auf dem Fuße der G l e i c h h e i t , der Neben- und nicht der Unterordnung. Trotzdem kommen gelegentlich an gewissen Jagdplätzen Ansammlungen vor, wie z. B. bei den Netschillik-Eskimo in der Gegend von Boothia und König-Wilhelmsland. Spät im Frühjahr kommen sie um den Boothia-Isthmus zusammen, und zwar bevor das Eis so zerfällt, daß man es nicht mehr mit Schlitten überqueren kann. Sie vertauschen dann die Maupok-Jagd mit der auf Seehunde. Aber es besteht noch ein besonderer Grund dafür, sich gerade dort zu versammeln, da dann die J a g d auf Rentiere beginnt, die vom Süden heraufziehen, und um Forellen zu fangen, wenn die Wasserläufe eisfrei werden (Stby. 113). Die Küsten-Tschuktschen des östlichen Asien haben die E s k i m o - K u l t u r a n g e n o m m e n , so daß man kaum zwischen ihnen und den Eskimo einen Unterschied sehen kann. Diese Küsten-Tschuktschen, die am Arktischen Ozean leben, ahmten den Eskimo das Jagen auf dem Eise nach und verwendeten dafür auch deren Geräte. Doch haben sie ihre asiatische Methode des Anspannens der Hunde zu je zwei voreinander bewahrt. Auch leben sie in Zelten, wie die nomadischen Tschuktschen, obgleich ihre Vorfahren vielleicht ursprünglich in Erdhütten wohnten. Wahrscheinlich lebten die Tschuktschen aber ursprünglich an der Küste, und die Rentier-Nomaden unter ihnen und den Koryaken stellen eine besondere Abzweigung dar, welche zu dieser Lebensweise durch N a c h a h m u n g anderer Stämme übergeleitet wurde. Dadurch, daß sie sich auf R e n t i e r - N o m a d e n t u m einstellten, nahmen die betreffenden Abzweigungen der Tschuktschen und Koryaken auch das Leben in Zelten an, das nach der Annahme von Jochelson „den Behausungen der asiatischen Nomaden nachgeahmt, jedoch nicht den Erfordernissen des arktischen Klimas angepaßt ist". Eine Art dieses Winterzeltes wurde nun weiter von den Küsten-Tschuktschen und von den asiatischen Eskimo an Stelle ihrer früheren Erdhütten verwendet. Bogoras fand nur eine Wintererdhütte bei den Eskimo noch in Verwendung. Auch in bezug auf den Lebensunterhalt ist die Eskimo-Form nicht nur bei den asiatischen Eskimo selbst, sondern auch bei den Küsten-Tschuktschen, die unter ihnen und noch weiter nördlich an den Küsten des Arktischen Ozeans wohnen, herrschend. Dagegen nimmt der Einfluß der Eskimo bei den KüstenTschuktschen ab, die an der pazifischen Küste südlich der Bering-Straße wohnen, und ist noch geringer bei den Küsten-Koryaken, die gleichfalls etwas durch die Eskimo unmittelbar beeinflußt sind, jedoch auch auf dem Wege über die Tschuktschen manches von diesen übernommen haben, wie z. B. das Kajak-Boot (Stby. 134f). Aus diesen Darlegungen ersehen wir, wie sich das, was wir Kultur nennen, aus einer ständigen Auseinandersetzung zwischen einer bestimmten Technik, der Meisterung der Umwelt durch den Menschen, und den gegebenen Naturbedingungen ergibt. Dadurch wird im allgemeinen auch die Art der sozialen Organisation bestimmt. Änderungen können hauptsächlich in dreierlei 4
T b a r n w a l d IV
50
Kräfte der Vergesdlung
im
Männerverband
Richtung eintreten: 1. Die Technik wird erhöht (Erfindungen, Übernahme fremder Fertigkeiten und Kenntnisse); 2. Aufsuchen oder Antreffen anderer Klimate (Wanderungen); 3. die Menschen selbst können anders werden (Mischung, Wechsel in der Schichtung, Aussterben gewisser Typen, Vermehrung anderer). Das gut untersuchte Beispiel der oben angeführten Eskimo mit ihren extremen Lebensbedingungen ist für die Entwirrung der ineinanderlaufenden Fäden von Einflüssen der Wanderung und Kulturübertragung besonders aufschlußreich. § 6. S p e z i a l i t ä t v o n G r u p p e n Schicksal, Lebenslage und Veranlagung wirken zusammen, die C h a r a k t e r z ü g e der sozialen Gruppen hervorzurufen, deren außerordentliche M a n n i g f a l t i g k e i t in die Augen springt. Jede Gruppe erscheint in ihrer Weise s p e z i a l i s i e r t . Das gilt auch schon für die Lebensweise der Jäger und Fänger. Die Jagd auf Groß- oder Kleinwild, der Fang von Fischen und anderen Seetieren, wie bei den Eskimo, das Leben in Wäldern bei den Pygmäen, Kubu, Vedda und dgl., in Wüsten bei den Buschmännern, in Gebirgen bei den Bergdama usw. enthalten trotz der verhältnismäßig einfachen Technik der Nahrungsgewinnung doch ganz verschiedenartige Auseinandersetzungen mit der jeweils gegebenen Natur und führen dementsprechend auch zu einem ganz verschiedenartigen Zwang des Verhaltens. Dazu kommt bei manchen der heute lebenden Jäger- und Fängervölker ein U n t e r l e g e n h e i t s g e f ü h l , das mit einer gewissen F r i e d f e r t i g k e i t oder S c h e u gepaart auftritt und einen entscheidenden Charakterzug der betreffenden Gruppe bildet. Ob man diese Eigenschaften mit dem Jäger- und Fängerleben überhaupt oder nur mit den heute noch lebenden rassischen Trägern dieser Kultur in Verbindung zu setzen hat, muß dahingestellt bleiben. Vieles spricht dafür, daß wenigstens ein erheblicher Teil der erwähnten zeitgenössischen Jäger- und Fängervölker sich vor fremden, überlegenen Stämmen zurückgezogen hat, weil er zu höheren Formen der Lebeusgestaltung, die namentlich auf einer ausgebildeteren Technik beruhen, überzugehen nicht die Kraft aufbrachte. Der primitive Jäger und Fänger der Altsteinzeit kann also nicht ohne weiteres, wenigstens was die M ö g l i c h k e i t e n seiner Entwicklung betrifft, den heutigen Resten von Jägern und Fängern gleichgesetzt werden. Die A u s g e g l i c h e n h e i t des Lebens hat bei den heutigen Wildbeutern sicher eine ganz besonders hohe Stufe aus dem einfachen Grunde erreicht, weil die mit dieser Lebensweise verbundene soziale Form ungemein viel älter ist als irgendeine andere auf einer fortgeschrittenen Technik aufgebaute Gesellschaftsordnung. Darin ist vielleicht auch der Grund dafür zu sehen, daß das Heraustreten aus dem Jäger- und Fängertum innerhalb der gegebenen Existenzbedingungen so schwer ist. — Um eine Harmonie der Einrichtungen und des traditionellen Verhaltens, der Geistesverfassung und der Sitten herbeizuführen, wie das bei mittleren und höheren Naturvölkern in Erscheinung tritt, sind indessen nicht notwendigerweise unabsehbare Zeiträume nötig. Auch bei geschichteten Naturvölkern verblüfft oft die
Spezialität
von
Gruppen
51
h a r m o n i s c h e D u r c h b i l d u n g der — selbstverständlich einseitigen — Kulturordnung. Eine solche Ausgeglichenheit sichert der Gesellschaft einen verhältnismäßig reibungslosen Ablauf in den gewöhnlichen Lebenslagen für jeden Einzelnen, auf die er so vorbereitet ist, und schafft für ihn feste Bindungen, die seinem Denken und Verhalten eine von vornherein vorgezeichnete Richtung weisen, sein Denken sparen und nach außen den Eindruck einer harmonischen, in sich gefestigten Persönlichkeit erwecken. Diese Geschlossenheit des Charakters meinen wir, wenn wir von einem derartigen „Wilden" sagen: Der Mann hat Kultur (s. a. T. „ M o r a l " , „ P r i m i t i v e Kultur"). Als hervorstechender Zug in der Familie der Bubi von Fernando Po (Westafrika) wird von Tess. ([23] 229) die gegenseitige H ö f l i c h k e i t bezeichnet. Anständiges Benehmen in der Familie wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Daß jemand sich auch im engsten Familienkreise irgendwie gehen ließe, kommt nicht vor. Die größtmögliche Rücksicht wird geübt und verlangt. Angenehm berühren auch die natürliche Freundlichkeit und die Mitteilsamkeit, die in der Familie üblich sind, besonders im Verkehr mit Fernerstehenden. Sogar Weiße werden, wenn sie bekannt geworden sind, viel höflicher und zuvorkommender behandelt als auf dem Festlande. Unter sich üben die Bubi eine unbegrenzte Freigebigkeit und Gastfreundschaft. Auch wird nicht immer sofortiger Ersatz der mitgebrachten Tauschgeschenke verlangt. Ganz besonders rücksichtsvoll sind die Bubi bei irgendwelchen Versehen, wenn z. B. irgendein Gefäß oder Gebrauchsgegenstand versehentlich zerbrochen wurde, wenn Ziegen eines anderen in die Pflanzungen eingebrochen sind. Vergessene oder verlorene Sachen werden ohne weiteres und ohne etwas zu verlangen zurückgegeben. Sogar versehentlicher Totschlag wird nur durch eine Entschädigung gesühnt. Ist das Benehmen den Gleichgestellten und der Familie gegenüber schon so rücksichtsvoll, so ist es noch mehr den Häuptlingen gegenüber der Fall, und zwar sowohl von seiten der Frauen als auch der Männer. Wenn der Häuptling sitzt, darf ein anderer nicht aufrecht stehen bleiben. Den Befehlen des Häuptlings kommt man ohne Einwendungen oder Abänderungen nach. Vergehen oder Verbrechen richtet der Häuptling oder der Oberhäuptling. Die militärische Organisation ist durch Grade und Abzeichen durchgebildet, und die gewöhnlichen Soldaten folgen ihrem Führer blindlings. Doch werden die Streitigkeiten unter den Bubi-Sippen mit großer Schärfe geführt, und der Prozentsatz der Gefallenen ist weit höher als anderswo, da die Kämpfe viel erbitterter sind. Auch die Dauer der Kriege ist länger; so währte z. B. einer sieben Jahre. Er wird dann so lange durchgeführt, bis ein Gegner wirklich vernichtet ist. Es gilt als edel und anständig, dem Feinde so nahe wie möglich im offenen Kampfe entgegenzutreten. — Die soziale Organisation ist, wie erwähnt, auf strenger Unterordnung aufgebaut, und zwar besteht die Auffassung, daß die irdische Gesellschaftsordnung der himmlischen e n t s p r i c h t : Über dem Einzelnen steht der Vater als Vertreter der Familie, und über diesem der Häuptling als Vertreter der Gesellschaft, und der größte Häuptling, der der Person Gottes entspräche, ist der Oberhäuptling. Das Ver4*
52
Kräfte der Vergesellung im
Männerverband
halten des Einzelnen zu diesem irdischen Vorgesetzten ist genau das gleiche wie zu den himmlischen (224). § 7. W e c h s e l n d e F ü h r u n g Die erwähnte Besonderheit der einzelnen Gruppen und ihrer sozialen Ordnungen dürfte auch mit der charakteristischen L a b i l i t ä t und D i f f u s i t ä t i h r e r F ü h r u n g zusammenhängen. Während die Lebensordnung, die Sitten und die Geistesverfassung starke Bindungen verraten, vermißt man dort, wo wir bei uns ein festes Gefüge fordern, bei den Naturvölkern oft stabile Einrichtungen. Nicht nur, daß z. B. das Häuptlingtum bei Jäger- und Fängervölkern, bei denen die Frauen Früchte und Kerbtiere sammeln oder Gartenbau treiben, durchaus schwankend und von d e r K r a f t der e i n z e l n e n P e r s ö n l i c h k e i t abhängig ist, sondern der entscheidende Einfluß wird auch bald von einem Mann ausgeübt, der ein erfolgreicher J ä g e r ist, bald von einem wirkungsvollen Z a u b e r e r , oder er gleitet in die Hand eines K r i e g e r s . Bei höheren und organisierten Jägern mit Feldbau der Frauen ist manchmal, z. B. bei den nordamerikanischen Indianern der großen Ebene, ein ganz bestimmter W e c h s e l in der Führung sogar zu einer traditionellen Einrichtung erhoben. Je nach den Umständen und Zwecken ging die Führung in bestimmte Hände über. Bei den östlichen Dakota-Indianern lag die Führung für gewöhnliche Jagdunternehmungen in anderen Händen als für die große zeremonielle Büffeljagd, und für diese wieder bei anderen Personen als für einen Kriegszug. Der Stamm der Sisseton wurde z. B. von einem Häuptling geleitet, der sein Leben lang dieses Amt ausübte und es an seinen ältesten Sohn gewöhnlich vererbte, falls dieser nicht ungeeignet dafür war. Unter diesem standen 4 akitcita, „Helden", die auf Grund besonderer Taten, deren sie sich in der Volksversammlung zu rühmen hatten, von dieser gewählt wurden. Sie dienten als Anführer der Jagden. Andere nur von den Kriegern gewählte akitcita leiteten die Kriegsunternehmungen. Die großen zeremoniellen Büffeljagden wurden von 10 in einem besonderen Stammesrat nominierten Richtern (wanyätcö) angeführt, die nur für die betreffende eine Jagd im Jahr erwählt wurden, während man im nächsten Jahr andere dazu bestimmte. Diese 10 standen einander im Rang gleich und wurden nicht notwendigerweise auf Grund ihrer Tapferkeit erwählt. Sie führten den Weg, bestimmten die Ruheplätze und Jagdlager; vor allem aber ernannten sie die „Helden" (akitcita), welche die Büffel zu beschleichen und die beiden Hälften, in die sich der Stamm bei der Büffeljagd spaltete, anzuführen hatten. Nach der Jagd verteilten sie das Fleisch und erfreuten sich eines Vorrechts auf bestimmte Stücke (Lowie [11] 131 ff). Diese Verschiedenheit in der Führung bot wohl den Anlaß dazu, daß, wo ein altes Halbierungssystem in der Heiratsordnung vorhanden war, im Anschluß daran eine Verdoppelung der Häuptlinge oder Fürsten stattfand. Verschiedene Einstellungen bei der Wahl der Führer. — In Nordamerika kann man z. B. beobachten, daß v e r s c h i e d e n e E i g e n s c h a f t e n in den einzelnen Stämmen, gemäß ihrer Lebensweise und hergebrachten sozialen
Männergesellschaft
und familiale
Gestaltungen
53
Wertungen, für die A u s w a h l der F ü h r e r bevorzugt werden. Damit hängt auch eine besondere Geistesverfassung innerhalb der einzelnen Gruppen zusammen. Während an der pazifischen Küste Einfluß und Macht auf dem R e i c h t u m (s. d.) beruhen, ist das im mittleren Nordamerika anders. L. J n . ([1632] 195) bemerkt von den Montagnais: die R e d e g e w a n d t h e i t (vgl. K t . [25] 149f, 253£f, 276ff, 413) ist ausschlaggebend für alle diese Stämme, und der Häuptling wird nur um dieser willen gewählt; man gehorcht ihm entsprechend seinem Einfluß durch das Wort. Ahnliches wird von den AlgonquinIndianern und den Ojibway gesagt. Bei den Schwarzfuß-Indianern empfingen die Häuptlinge niemals Gaben, weil sie das für entwürdigend angesehen hätten. Nach Schoolcraft (5,686) haben die Häuptlinge nur Einfluß, wenn sie sich als K r i e g e r ausgezeichnet haben und durch ein Gefolge von Tapferen unterstützt werden (Nieb. [00] 238f). § 8. V e r z a h n u n g u n t e r s e x u e l l e n
Einflüssen
In sehr verschiedener Weise wirken die s e x u e l l e n Faktoren auf die Gesellung ein. Vor allem nach zwei grundsätzlichen Richtungen hin, in der A n z i e h u n g und in der A b s t o ß u n g der Geschlechter. Es gibt Verbände, die teils unmittelbar durch die Sexualität bedingt sind, wie die verschiedenen Formen der Ehe, Nebenehe, Vielehe und dgl., teils mittelbar, wie die Familie und die der Familie nachgebildete Adoption und künstliche Verbrüderung sowie die verschiedenen Schwägerschaftsverhältnisse: A v u n k u l a t , L e v i r a t , S o r o r a t und sonstige Verwandtschaftsbeziehungen. Dabei handelt es sich nicht allein nur um die Beziehung zwischen einzelnen Personen verschiedener Verwandtschaftsgrade (z. B . Neffe und Mutterbruder), sondern auch um Beziehungen zwischen ganzen Gruppen, wie das bei den Heiratsordnungen und den Sippen- und Klanbeziehungen in Betracht kommt. Unter den Stämmen des zentralen (Holländisch-) Neu-Guinea besteht z. B . eine v a t e r r e c h t l i c h e H a l b i e r u n g des ganzen Stammes in eine Gruppe der Känguruhsöhne (woya apuro) und Beutelmardersöhne (wenda apuro). Jede Hälfte zerfällt aber wieder in totemistische Sippen. Die Zahl dieser Sippen ist sehr groß und in jedem Tal anders. Die S i e d l u n g e n werden immer nur von e i n e r S i p p e bewohnt, doch kann eine Sippe auf mehrere Siedlungen verteilt sein (Wirz [24] 46ff). Daß das Patriarchat und die Vaterfolge als Funktion der überlagernden Schicht aufzufassen sei, erweist die Tatsache, daß an sehr verschiedenen Orten die männliche Abstammungsberechnung den o b e r e n Klassen vorbehalten ist, während die unteren die Mutterfolge bewahrt haben, wie z. B . auf der Südsee-Insel Aua oder bei den Ewe-sprechenden Völkern von Dahome (Pitt-Riv. [25] 433; Ellis [90] 177). § 9. M ä n n e r g e s e l l s c h a f t u n d f a m i l i a l e
Gestaltungen
Die Bildung der Familie ist verschiedenen Varianten ausgesetzt. Der Feldbau der Frauen führte günstigere Ernährungs- und Fortpflanzungs-
54
Kräfte
der VergeseUung
im
Männerverband
bedingungen herbei und brachte so eine Erweiterung der zusammenlebenden Gemeinden. Die wichtige Stellung der Frau machte sie unabhängig in der Vergebung ihrer Gunst und förderte mutterrechtliche Gedankengänge. Die Tendenz zu einem freien Liebesleben veranlaßte jedoch Einrichtungen, die wohl hauptsächlich von Männern ausgingen und für eine Erziehung der Kinder durch die ganze Gemeinde, namentlich auf dem Wege der Jünglingsweihen und ähnlicher Einrichtungen, Sorge trugen. Bei den M a r i n d - a n i m des südlichen Holländisch-Neu-Guinea, wie bei manchen anderen Naturvölkern, steht man sonderbaren moralischen Anschauungen gegenüber. Monogamie mit starker sexueller Eifersucht herrscht auf der einen Seite, die größte Sittenlosigkeit und zeitweise Promiskuität auf der anderen. Da die F r a u A r b e i t e r i n des M a n n e s ist, ihm Sago bereitet und Kuchen backt, ist der Besitz der Frau eine wichtige wirtschaftliche Angelegenheit. Wer angesehen ist und viele P f l a n z u n g e n besitzt, ehelicht zwei Frauen, damit sie die Pflanzungen bestellen. Auch hält man auf zahlreiche N a c h k o m m e n s c h a f t , und so ist es verständlich, daß unverheiratete Männer, deren es indessen nur wenige gibt, nicht viel Ansehen genießen (Wirz [22] 1 70). Schon als Knabe verläßt der Marind den Kreis von Mutter und Geschwistern sowie das väterliche Dorf und muß mehrere Jahre abgesondert im J ü n g l i n g s h a u s zubringen. Dort findet er jedoch seine Altersgenossen, Spielgefährten und Kameraden, so daß er nach kurzer Zeit nicht das geringste Verlangen mehr empfindet, zur Mutter und zu den Geschwistern zurückzukehren. Neben den Eltern werden ihm A d o p t i v - E l t e r n zugeteilt, die sich fortan um das Wohl des Knaben bekümmern und ihm fast ebenso nahe stehen wie die leiblichen Eltern. (Ebenso verfährt man auch auf den Admiralitäts-Inseln bei den Moanus, nach eigener Ermittlung.) 1 ) Das soziale Leben der Marind baut sich also auf den Zusammenschluß der A l t e r s g e n o s s e n auf. Daneben wird es durch den mythologisch-totemistischen S i p p e n v e r b a n d beherrscht. Die E h e bildet nur einen ganz lockeren Verband gegenüber der Altersklasse und dem Klan. Die beiden Geschlechter leben weitaus die größte Zeit getrennt. Die Ehegatten wohnen besonders, die Männer mit den Jünglingen im Männerhaus und in der Regel sippenweise, die Frauen mit dem Kindern und unverheirateten Mädchen in den Weiberhütten, die mehr den Familienwohnungen entsprechen und viel zahlreicher sind als die Männerhütten einer Siedlung. Die Frau zieht ins Dorf des Mannes, und ihre Kinder gehören in die väterliche Sippe. Auch im übrigen bilden die G e s c h l e c h t e r g e t r e n n t e G e s e l l s c h a f t s k r e i s e . Die Mahlzeiten werden getrennt eingenommen, auf Reisen kampiert man getrennt, und die verschiedenen Tätigkeiten werden von den Geschlechtern besonders ausgeführt. Dennoch kann man nicht sagen, daß kein Familienzusammenhang besteht, im Gegenteil dreht sich eigentlich alles nur um die Familie, der man angehört. Bei jedem Ubertritt des Knaben oder Mädchen in die nächsthöhere Altersklasse werden innerhalb der Familiensippe Feste gefeiert. Des!) Neuerlich durch die eingehenden Untersuchungen von Margaret Mead ([30] 151 ff) bestätigt.-
Männergesellschafi und familiale
Gestaltungen
55
gleichen sind Heirat und Totenfeier ausschließlich Familienangelegenheiten. Innerhalb der Familie bewegt sich die Sorge u m die Kinder, wobei die leiblichen E l t e r n mit den Adoptiv-Eltern geradezu wetteifern, denn die Kinder sind beliebt, u n d m a n ist stolz auf sie. Die Adoptiv-Eltern werden auch von den leiblichen Eltern erwählt. Reine Familienangelegenheit ist u. a. das Bestellen der P f l a n z u n g e n , welche Arbeiten von den Gatten gemeinsam ausgeführt werden, u n d selbst bei Jagden, Reisen, Festen u n d dgl. sorgt der Mann nicht bloß f ü r sich, sondern auch f ü r die Familie. — J e d e r d u r c h l ä u f t von seiner Geburt an eine bestimmte Anzahl von Altersklassen und Unterklassen, deren jede ihre besonderen Rechte u n d Privilegien, Verpflichtungen u n d äußeren Abzeichen besitzt. Der Übergang von einer Klasse zu der anderen ist mit Festen v e r k n ü p f t (Wirz [22] 37ff). I m Zusammenhang damit ist auch die Abfolge der Generationen, das Heranwachsen des jungen Nachwuchses ü b e r h a u p t , in Rücksicht zu ziehen, wodurch es m i t u n t e r zu einem Zusammenschluß von Altersstufen k o m m t . Vor allem ist eine andere soziale Verbindung von großer Bedeutung, nämlich das U b e r w i e g e n d e s V e r w a n d t s c h a f t s g e f ü h l s entweder nach der v ä t e r l i c h e n oder m ü t t e r l i c h e n Seite hin, so daß daran besonders enge Bande nach der einen oder anderen R i c h t u n g hin geknüpft werden und der E r b g a n g dadurch entscheidend beeinflußt wird. — J e mehr die politische Organisation, wie oben gezeigt, auf verwandtschaftlicher Grundlage aufgebaut ist, desto wichtiger sind f ü r diese die Gesichtspunkte, nach denen die Heiraten erfolgen, nach denen die Verwandtschaft empfunden und berechnet wird. Das extreme Mutterrecht der Feldbauerinnen, das mit einer nicht zu unterschätzenden Verstärkung des weiblichen Einflusses und einer Locker u n g der sexuellen Schranken verbunden war, t r u g zur Erschütterung der Heiratsordnungen bei, zum mindesten zu einer starken Milderung der Vorschriften (Stammeshalbierung). Die ethnische Uberschichtung durch Räuber- u n d K ä m p f e r - S t ä m m e brachte eine E r s c h ü t t e r u n g der Sippenverbände mit sich u n d f ü h r t e zur wirtschaftlichen Verselbständigung der Familie. Die Heiratsordnungen wurden hier von männlicher Seite untergraben. Die Erinnerung daran lebt h ä u f i g n u r als traditionelle Verbindung der Kinder verwandter E l t e r n weiter u n d sucht durch frühzeitige Verlobung oder Kinderheirat die Uberlieferung zu sichern. Als Opposition dagegen u n d wohl im Anschluß an die Plünderungen h a t m a n sich das E n t s t e h e n der wirklichen R a u b h e i r a t vorzustellen, die eine N a c h a h m u n g u n d Verherrlichung der Sitten von R ä u b e r s t ä m m e n enthält u n d von einem psychologischen Sträuben eines der Brautleute gegen die Änderung der gesellschaftlichen Stellung getragen wird. Dadurch, d a ß die Familie als Wirtschaftsgemeinschaft verselbständigt wurde u n d ein engeres Zusammenleben zwischen den E h e p a r t n e r n förderte, als es in der Gemeinschaft von Sippe, K l a n oder gens üblich oder möglich war, wurden psychische Ansprüche der P a r t n e r aneinander lebendig, die einem freien Liebeswerben R a u m schafften. Dieses t r i t t im Gegensatz zur
56
Kräfte der Vergesellung im
Männerverband
Heiratsordnung oder Elternwahl (Kinderheirat) erst unter höherer kultureller Entwicklung in Erscheinung, wenngleich es in den niedrigeren sozialen Gestaltungen keineswegs völlig fehlt. § 10. S o n d e r u n g d e r
Geschlechter
Der Zusammenschluß der Männer zu politischen Gemeinden geht o h n e die Frauen vor sich, und diese werden durch die Männer, trotz Mutterrecht in den Gärtnerinnengesellschaften, von den meisten religiösen Riten u n d heiligen Zeremonien, vom Verkehr mit den Geistern usw. ausgeschlossen. Nicht n u r die militärischen Männerbünde, sondern auch die mit besonderen Wirksamkeiten arbeitenden, religiösen und therapeutischen „geheimen Gesellschaften" halten in der Regel die Frauen fern. Jedes Geschlecht h a t seinen eigenen L e b e n s k r e i s allenthalben in der primitiven Gesellschaft. Diese scharfe Scheidung des Tätigkeitskreises bildet auch die Grundlage f ü r die strenge Gebundenheit an feste Heiratsvorschriften. E i n Zusammenleben des Ehepaares oder der Familie findet zwischen den verschiedenen Geschlechtern gerade bei den mittleren Naturvölkern so gut wie gar nicht statt. Es ist auch bei den niedrigen Jägern und Sammlern nicht stark entwickelt. Der Beischlaf wird in der Regel im Busch vollzogen, manchmal in der Frauenhütte. J e stärker jedoch diese Trennung zwischen dem jagenden und fangenden Manne u n d der Gartenb a u treibenden F r a u ist, desto geringer auch die Forderung nach einer psychischen Harmonie. Darauf ist zurückzuführen, daß bei der Entstehung der Heiratsordnungen durch freundschaftlichen Zusammenschluß von Großfamilien unter Führung der Alten kein Widerstand zu überwinden war. — Allerdings finden sich hier und da ähnliche Bünde der Frauen mit ähnlichen Zeremonien, doch bilden diese meistens n u r Abklatsche analoger Bünde der Männer, wie z. B. in Mikronesien. Die Geschlechter finden sich in diesen Bünden f ü r sich zusammen, grenzen ihre Versammlungen jedoch wesentich voneinander ab. — Hier und da, wie z. B. in Teilen des östlichen NordAustralien, steigert sich die Abschließung der Männerschaft von der Frauenschaft zu förmlichen Feindschaften u n d blutigen Scheinkämpfen. § 11. Z u s a m m e n s c h l u ß d u r c h i d e e l l e K r ä f t e Als zusammenschließende K r a f t kommen nicht n u r die bereits erwähnten Faktoren in Betracht, sondern auch das i d e e l l e Moment wirkt, wenn auch in bescheidenem Umfang, schon bei Naturvölkern im Sinne einer Kristallisierung der Menschen. Dort, wo Gruppen-Totemismus herrscht, ebenso wie im Falle totemistischer Halbierung zum Zwecke der Heiratsordnung ist es der G l a u b e an die Abstammung von einem gemeinsamen Ahnen und an die Notwendigkeit eines g l e i c h e n V e r h a l t e n s durch Meidungen, Feste u n d Zeremonien, durch welche die Stellung der Gruppe gegenüber transzendenten Mächten in einheitlicher Weise gestaltet wird. Es mag sein, daß unter gewissen Umständen beim Zusammentreffen mit fremden Völkern derartige religiöse Lehren und Übungen sich auf geheime
Zusammenschluß
durch ideelle
Kräfte
57
Gesellschaften zurückzogen, oder daß andere Umstände zur Schaffung von Männerbünden und dgl. Anlaß gaben. Aber auch für letztere ist ein Glaube an gewisse Zusammenhänge des Lebens und bestimmter ritueller Verhaltungsweisen die Grundlage für den Zusammenschluß. Die O r g a n i s a t i o n ist bei den meisten Stämmen nicht nur ein Ausdruck ihrer ganzen Lebensmöglichkeiten, sondern sie ist auch auf das innigste mit ihren A n s c h a u u n g e n v o n d e r W e l t u n d d e n L e b e n s b e d i n g u n g e n des eigenen Stammes verwoben. Ganz besonders tritt das bei den Stämmen zutage, bei denen durch den Übergang der Frauen zur Feldbestellung und durch die Einführung verschiedener handwerklicher Fertigkeiten (Töpferei, Flechterei, Holzbearbeitung; s. a. T. „ T e c h n i k " A) eine größere Seßhaftigkeit und damit mehr Muße vorhanden ist. Das zeigt sich vornehmlich bei vielen nordamerikanischen Stämmen, und zwar hauptsächlich in der Organisation von Männerbünden und geheimen Gesellschaften. Die Muschel-Gesellschaft der Omaha-Indianer soll durch ihre Organisation schon die Sage darstellen, auf der sie aufgebaut ist, und deren d r a m a t i s c h e V o r f ü h r u n g die Grundlage für die Zeremonien abgibt, die bei ihren regelmäßigen Versammlungen abgehalten werden. Die Mitgliedschaft bestand aus fünf ti oder Logen, von denen jede durch einen „Meister" geleitet wurde. Jede Loge besaß ihren besonderen P l a t z in der Niederlassung, auf dem sich die Gesellschaft für die großen Versammlungen traf. Ursprünglich war es ein großes Zelt, später eine Erdhütte und in den letzten Jahren ein rundes Holzhaus, das wie eine Leiter zusammengestellt war. Die Meister von vier Logen stellten die vier Kinder der Sage dar, und man benannte die Logen als die des ältesten Sohnes, des zweiten Sohnes, der Tochter und des jüngsten Sohnes. Die fünfte Loge leitete der Obermeister der ganzen Gesellschaft. In früheren Zeiten soll letzteres Amt eine F r a u innegehabt haben, und zwar deswegen, weil es eine Frau war, nämlich die Gattin des Mannes in der Sage, welche die Initiative ergriff, um durch ihren Sohn „den F r e m d e n " in ihr Haus zu laden, die das Fest vorbereitete und ihn bewirtete. Auch deshalb soll es eine Frau gewesen sein, weil die Kinder sich an die Mutter wandten, nachdem sie dem geheimnisvollen Fremden in den Weg gelaufen waren. Später sollen jedoch die Frauen ängstlich geworden sein, diesen Platz einzunehmen, und so trat an ihre Stelle ein Mann. Der Platz der erwähnten fünf leitenden Personen war genau vorgeschrieben und hatte k o s m i s c h e B e d e u t u n g . Auch die Art, in der der geheimnisvolle Fremde in der Sage die vier Kinder bemalte, hatte den gleichen Sinn: E r malte den Körper des ältesten Sohnes b l a u an, um den wolkenlosen Himmel darzustellen und so indirekt auch die S o n n e , wie es heißt. Der jüngste Sohn wurde in der Farbe der E r d e bemalt, und dieser beiden Kinder Logen befinden sich an der S ü d s e i t e , „wo die Sonne wandert und die Erde sprießen läßt". Diese Seite nennt man auch die m ä n n l i c h e . Der zweite Sohn sollte den N a c h t h i m m e l darstellen, und auf die Tochter war der M o n d gemalt. Diese beiden Kinder waren an der N o r d s e i t e angesiedelt, welche „die Nacht und die w e i b l i c h e n K r ä f t e " symbolisierte. Und zwar ist der älteste Sohn als Sonne diagonal gegenüber der Tochter aufgestellt; der zweite Sohn,
58
Kräfte der Vergesellung im
Männerverband
welcher die S t e r n e darstellt, befindet sich gegenüber dem jüngsten Sohne, der Erde. Der geheimnisvolle Fremde hat nämlich erklärt, daß „die Erde und die Sterne Brüder sind". Die Ä m t e r in der Gesellschaft wurden durch K a u f erworben, nicht durch Wahl. Wenn einer erkrankte oder alt wurde, so daß er die an ihn gestellten Anforderungen nicht mehr erfüllen konnte, wurde sein Amt verkauft, und zwar in der Regel an einen V e r w a n d t e n . Außer den erwähnten Hauptämtern gab es noch mehrere mindere Amtsverrichtungen, die mit dem dramatischen Ritual verbunden waren, wie z. B. die Trommel zu schlagen, das alte Holzbecken aufzubewahren, dieses mit Wasser zu füllen, das Wasser zu prüfen, das Becken weiterzugeben usw. Für den Erwerb der Mitgliedschaft war nicht ein besonderer Traum erforderlich, wie das sonst oft in Amerika der Fall ist. Von einem Mitglied wurde verlangt, „ein G e h e i m n i s bewahren zu können und nicht von z ä n k i s c h e m Charakter zu sein". Für die Aufnahme eines neuen Mitgliedes war E i n s t i m m i g k e i t erforderlich. Früher vergingen oft Jahre von der Zeit des Vorschlags bis zur Aufnahme einer Person als Mitglied. Auch soll es früher sieben Logen gegeben haben. Die Loge des ältesten Sohnes wird auch die des schwarzen B ä r e n genannt, die des zweiten Sohnes die Elch-Loge, die der Tochter die des B ü f f e l s und die des jüngsten Sohnes die Hirsch-Loge. Der A d l e r gehörte dem Obermeister zu, und zwar deswegen, weil „der Adler sich niederließ und zu dem Manne sprach, nachdem er den schwarzen Bären getötet hatte, und sagte, er würde kommen und einer von ihnen sein und übernatürliche Kraft verleihen". Früher mußten die Kandidaten die Haut einer Otter, eines Nörz oder eines Bibers bringen, um das Wasser zu symbolisieren, während die Haut eines Eichhörnchens oder Hamsters die Erde darstellte, eine Krähe oder Eule die Luft. Auch besaß eine jede Loge heilige Bündel und verschiedene Regalien (Fit. u. La Fl. [11] 516ff). § 12, V e r g e s e l l u n g a u f w i r t s c h a f t l i c h e r G r u n d l a g e Von weitreichender Bedeutung für die Formen der Gesellung ist die Art der Lebensfürsorge, die W i r t s c h a f t überhaupt. Diese muß allerdings zum Teil wieder als eine Funktion der T e c h n i k betrachtet werden, nämlich der Fertigkeiten der Hand und des Kopfes, sich mit der gegebenen Natur auseinanderzusetzen, sie zu nützen. Namentlich wird die Größe der Verbände dadurch bedingt. Je intensiver im allgemeinen die Wirtschaft ist, desto größere Menschenansammlungen ermöglicht sie. Dabei darf man sich nicht allein auf die N a h r u n g s g e w i n n u n g beschränken, sondern muß auch das H a n d w e r k ins Auge fassen, das namentlich für die Aufdeckung oder doch für die Vermutung kausaler Zusammenhänge außerordentlich wichtig und fördernd wirkt, so irrig manchmal gewisse „zauberische" Hypothesen sein mögen (T. „ P r i m i t i v e s D e n k e n " , „ Z a u b e r " A). Die technische Bewältigung des V e r k e h r s ist namentlich ein entscheidender Faktor zur Ermöglichung ausgedehnterer politischer Verbände. Die großen archaischen Kulturen an den Ufern der Ströme setzten den Bau und die Beherrschung von Wasserfahrzeugen, namentlich mit Segeln, voraus. — Allerdings darf man nicht
Vergesellung auf wirtschaftlicher
Grundlagi
59
vergessen, daß wirtschaftliche Momente erst dann stärker in den Vordergrund treten, wenn die Technik einen verhältnismäßig h ö h e r e n Stand erreicht hat und auch die Möglichkeit einer O r g a n i s a t i o n und L e i t u n g der Arbeit, namentlich durch Überschichtung, sich durchgesetzt hat. Wirtschaft und Technik wirken in ihrer Gestaltung auch auf andere Seiten des Zusammenschlusses in hohem Maße ein. So wird z. B die politische Organisation durch die Rolle, welche die V e r t e i l u n g s g e w a l t und der B e s i t z spielen, nach bestimmten Richtungen begrenzt. Aber auch die S i e d l u n g wird durch wirtschaftliche Faktoren, namentlich durch die Art der Nahrungsgewinnung (Jäger-Nomaden, relativ seßhafte Feldbauer, Hirten-Nomaden), sowohl in ihrer Art wie auch in ihrer Größe entscheidend beeinflußt. Das Ringen um den Besitz dort, wo bewegliche Güter im Vordergrund des Interesses stehen, wie bei den Herdenhaltern, führt zu Räubertum, zum Wandern und zur Lust am Erobern. Hat der Besitz den Charakter einer sozialen A u s z e i c h n u n g angenommen, so wird das Streben danach leicht ins Ungemessene gesteigert. Wo die Unterscheidung nach Abstammung oder nach fürstlicher Auszeichnung im Beamtentum zurücktritt, gewinnt der Z u s a m m e n s c h l u ß u n t e r den B e s i t z e n d e n Bedeutung. Dadurch wird aber nicht allein die politische Organisation in gewisse Bahnen gedrängt, sondern auch das Verhalten unter den G e s c h l e c h t e r n erleidet eine wesentliche Veränderung. Der Erwerb von Frauen als Beute oder als Arbeiterinnen für die Pflanzungen bildet einen mächtigen Hebel zur Entwicklung der Vielweiberei, von Frauenkauf, sowie des Handels mit Menschen überhaupt. Die Sklaverei nimmt davon ihren Ausgangspunkt. Auch die Auswirkung auf die auf religiöser Grundlage beruhenden Gesellungen fehlt nicht, wenn wir bedenken, in wie hohem Maße die verschiedenen Fertigkeiten mit religiösen und zauberischen Vorstellungen verwoben auftreten. Zwischen den Hackbau treibenden Yaunde-Negern in Kamerun (Afrika) und den benachbarten Pygmäen hat sich eine S y m b i o s e dadurch herausgebildet, daß die Pygmäen die Bauern mit erjagtem Fleisch versorgen und diese ihnen dafür Feldfrüchte abgeben (vgl. Meinhf. [26] 35). Während die Pygmäen in verstreuten Großfamilien leben, siedeln die Hackbau treibenden seßhaften Neger in größeren Dörfern. Ein Yaunde-Mann erzählt von den P y g m ä e n (nach Heepe [20] 122ff), daß sie im Walde wohnen und keine eigentlichen Dörfer haben. An dem einen Ort bleiben sie zwei Tage, an einem anderen drei, am dritten vier, und so streifen sie immer im Urwald herum. Sie gehen nicht heraus in das Grasland und mögen auch nicht in einem Dorfe bleiben, sondern kehren immer, sobald es nur geht, in den W a l d zurück. Sie widmen sich ausschließlich der J a g d und dem F a n g : Die Männer erlegen Wild, die Frauen fangen Fische. Oft tanzen sie die ganze Nacht hindurch bis in den Morgen und begeben sich dann sogleich wieder auf die Jagd. Haben sie Wild erlegt, so verk a u f e n sie es an die Dorfbewohner gegen Salz, Tabak, Gemüse, Tücher usw. Auch mit Fischen und Honig treiben sie Tauschhandel, kehren jedoch
60
Kräfte der Vergesellung im
Männerverband
so schnell wie möglich in den Wald zurück. Ein Pygmäe hält sich nicht dort auf, wo viele Leute sind. Sie sind sehr geschickt im Erklettern der Bäume und einander außerordentlich ähnlich. Um die Auswirkung der Wirtschaftsform auf den sozialen Bau, insbesondere auch auf die Schichtung und die Menschenzirkulation unter den verschiedenen Gruppen zu beleuchten, sei das Beispiel eines mit Hirten überschichteten Hackbauvolkes, der Mossi des westlichen Sudan (nach Mg. [14] l l O f f ) , hier angeführt. Um ihre Felder zu bestellen, bedienen sie sich der Hilfe von S k l a v e n , die auf diese Weise die Quelle des Reichtums werden. Darum unterscheidet man zunächst auch nicht zwischen männlichen und weiblichen Sklaven, sondern schätzt sie beim Verkauf nur nach ihrer Arbeitskraft ein. So kommt es auch selten vor, daß ein Mossi einen Sklaven tötet, obgleich er das Recht dazu h a t . Wünscht einer, seinen Sklaven loszuwerden, so ist es vorteilhaft, ihn zu verkaufen. Der Sklave, welcher mit seinem Herrn gut auskommt, h a t die Aussicht, eine Frau zu erhalten und ein eigenes Haus; ja, es kommt vor, daß der Herr ihm sogar eine seiner Töcht e r in die Ehe gibt; damit wurde er frei, und die Kinder waren nicht mehr Sklaven. Die Sklaven wurden von den Bousanse und den Gourounsi gestellt und durch die islamitischen Yarse und Hausa verhandelt. Die Bousanse und Gourounsi waren also ursprünglich Feldbauern, die durch die Hirten vertrieben, versklavt und an anderer Stelle angesiedelt wurden. Das bewirkte natürlich eine Zerstörung ihrer alten Geschlechterverbände und damit ihres gesamten kulturellen und sozialen Zusammenhanges. Ausnahmsweise kommen jedoch auch Sklavenverkäufe innerhalb der Mossi vor. Die Sklaven bilden einen Teil des Familienbesitzes und gehen nach dem Tode an den Erben über. Die verheirateten Sklaven besitzen ihr eigenes Heim und die Felder, die sie bepflanzen. Sie konnten Güter aller Art erwerben: Rinder, Ziegen, Schafe; n u r mußten sie ihre Töchter ihrem Herrn verheiraten. (Dadurch sollte die selbständige Nachkommenschaft auf mutterrechtlicher Basis unterbunden werden.) So gab es ganze Sklavendörfer, die sich in nichts von den anderen unterschieden. Außerdem besitzen die Mossi auch H ö r i g e , und zwar zweierlei Klassen: häusliche, die dakwaba. Es sind Leute, die von ihrer Familie einem reichen Manne zu Diensten gestellt sind, u n d zwar zu dem Zwecke, u m durch ihn eine Frau zu bekommen. Sie bestellen die Felder des Herrn und verrichten für ihn allerlei kleine Dienste, verbleiben jedoch an sich frei. Die andere Art von Hörigen sind die noakanse, Leute ohne Familien, die sich einem Herrn frei zu Diensten anbieten, ebenfalls, um durch ihn verheiratet zu werden. (Da wir oben gesehen haben, daß dem Herrn die T ö c h t e r d e r S k l a v e n d ö r f e r zufallen, ist er in der Lage, F r a u e n z u v e r g e b e n . ) Die Hirtenstämme der Peul wurden bezeichnenderweise von den Mossi nicht versklavt, und zwar angeblich deswegen, weil sie das Land nicht bearbeiten und nur die Herden bewachen können. Doch befanden sie sich in einer A b h ä n g i g k e i t von ihnen und sollen f ü r gewisse Menschenopfer von ihnen verwendet worden sein. Eine extreme Verwirtschaftlichung der Menschen zeigen gewisse Kulturen in Afrika, teils durch eine einseitige Entwicklung der Sklaverei, teils in der
In einanderwirken
verschiedener
vergesellender
Kräfte
61
Behandlung der Frauen. Zweifellos liegt der Ausgangspunkt dafür in der V i e h h a l t u n g . So dreht sich z . B . in den sozialen Einrichtungen und Gesetzen der D i n k a Ostafrikas alles um den Besitz von Frauen und Vieh. Der Kauf von Frauen findet durch Vieh statt. Frauen und Kinder, die das Vermögen ausmachen, werden zusammen vererbt; die Entschädigung für erlittenes Unrecht und Mord erfolgt ebenfalls durch Frauen und Vieh (O'Sullv. [10] 175ff). Es ist aber für die Bedeutung der wirtschaftlichen Vorgänge sehr wichtig, auch die Menschen selbst in Betracht zu ziehen, denn schließlich sind sie es ja, aus denen die Zusammenschlüsse bestehen. Wir können z. B. oft verfolgen, daß die Sklaverei als I n s t i t u t i o n fast unverändert weiter besteht, daß jedoch auf der einen Seite ein A u f s t e i g e n ausgewählter Sklaven erfolgt, etwa durch Gelderwerb, während auf der anderen Seite durch Bußeverpflichtungen oder sonstige Verschuldung Freie vergeiselt werden und in die Knechtschaft gleiten. Solche Vorgänge können sich nicht nur innerhalb der gleichen Kulturgesellschaft vollziehen, sondern es können gerade dadurch auch F r e m d e als Kriegsgefangene und Sklaven Einfluß auf das Volk, seine Zusammensetzung und seine Kultur gewinnen. Derartige Verschiebungen brauchen nicht nur mit Sklaven vor sich zu gehen, sondern es können auch Hörige oder andere ethnische oder soziale Schichten oder Kasten daran teilhaben. § 13. I n e i n a n d e r w i r k e n
verschiedener vergesellender
Kräfte
Das Ineinanderwirken verschiedener sozialer Faktoren mag an folgendem Beispiel beleuchtet werden: Ernst Mayer ([16] 93ff, 130; [11] 226ff) versucht, die älteste Ständegliederung der Germanen auf G e s c h l e c h t e r v e r b ä n d e zurückzuführen, die bei dem Übergang zu einem intensiveren Ackerbau als Ansiedlungsverbände aufgefaßt werden. Ein solcher Geschlechterverband (Sippe), der für eine Vielzahl von Bauern-Anwesen Raum hat, wird mit den Namen havina (hafnae, hamna), Hide, Hof, bol bezeichnet, mit Ausdrücken also, die alle nichts weiter als Ansiedlung, Wohnplatz und überhaupt Platz, wo etwas zur Ruhe kommt, bedeuten, und die deshalb auch für andere Beziehungen von Personen zu einer Örtlichkeit angewendet werden können: so für den Ort, wo ein Schiff anlegt, für den Ruderplatz, den einer auf dem Schiffe hat. Deshalb kann auch die einzelne Wohnstätte jedes Bauern jene Namen tragen. Aber mit diesen Bezeichnungen kann auch der g a n z e Geschlechtsverband gemeint sein, der eine Ackerflur von 120 Acker b e s t e l l t , die im skandinavisch-angelsächsischen Gebiet 40—55 Ar, etwa 192—264 süddeutsche Morgen, umfaßt. Da für die nördlichen Gebiete noch spät nicht die Dreifelderwirtschaft, sondern die Z w e i f e l d e r w i r t s c h a f t zugrunde zu legen ist, hat man den Umfang des gesamten Ackerlandes zu verdoppeln. Dazu kommt noch die umfassende Wald- und Weide-Allmende, so daß eine Bauernschaft den Bereich eines kleinen Dorfes als Verband, als „Heim" von 8—12 südgermanischen mansus umschließt. Da der vielleicht aus der höheren keltischen
62
Kräfte der Vergesellung im
Männerverband
Kultur stammende G r o ß p f l u g , der mit 8—16 Tieren bespannt wird, zum ganzen Geschlechtsverband gehört, wird auch die Bezeichnung für „Pflug" (friesisch fliota) mit dem Geschlechtsverband gleichbedeutend, und die Leitung des Pfluges durch den Geschlechtsältesten ergibt, besonders in England, eine tiefgehende Herrschaft des Geschlechtsältesten, die sich in eine Grundherrschaft wandelt. Wo dagegen die Bestellung mit k l e i n e r e n P f l ü g e n durch die einzelnen Bauern geleistet wird, führt dies zur Auflösung des Sippenverbandes, und dort ergibt sich ein breiter Stand freier Bauern, wie in Skandinavien. Der Geschlechtsverband bildet auch die Grundlage für die öffentlichen Lasten, vor allem für den Auszug zum Krieg und die damit zusammenhängenden finanziellen Leistungen. Bemerkenswert an dieser Darstellung ist, daß sie ausgeht vom Geschlechts» verband ( = Sippe) und schildert, wie durch eine straffere Zusammenfassung aus dem Geschlechtsverband die Grundherrschaft wurde. Ob dafür allein die Benutzung des Großpflugs verantwortlich zu machen ist, mag dahingestellt bleiben. Wahrscheinlicher ist es, daß der Großpflug nur als Ausdruck einer G r o ß w i r t s c h a f t aufzufassen ist, die durch Sklaven und Hörige ermöglicht wurde, somit durch eine ethnische Überschichtung bedingt ist. Eine solche Überschichtung fehlte jedoch im allgemeinen in Skandinavien, wo die Bauernschaft in den Vordergrund trat. Die Sippenbande lebten da vor allem als Verwandtschaftsbeziehungen der Großfamilien weiter, wobei die jüngeren Linien in eine steuerartige Abhängigkeit von der geschlechtsführenden Großfamilie kamen. Das politische Moment der Geschlechtsführung muß also auch dort als ausschlaggebend betrachtet werden, wo eine Grundherrschaft in den skandinavischen Ländern zustande kam, nicht die Grundleihe (a. a. 0 . [16] 31). Was überall in den germanischen Ländern zur Entstehung eines Einzeleigentums an Grund und Boden beitrug, ist vor allem ein W a c h s e n der Bevölkerungsziffer und infolgedessen der Drang, durch Rodungsarbeit neuen B o d e n in Besitz zu nehmen, zumal gerade dies den Edlen und Gemeinfreien von den Ansprüchen des Geschlechtsverbandes ausgenommenes Land in Aussicht stellte. Es war also eine großzügige K o l o n i s a t i o n , die hier überall, sowohl im Norden wie im Süden, vor sich ging. Dies trifft auch für das Markland zu und für die Eroberung auf romanischem Boden (111). Alles dies förderte die Überleitung in freies Grundeigentum, das scheinbar nach Analogie des Viehbesitzes behandelt wurde, denn man bezeichnete es als Alodis und Erbe, ursprünglich = Vieh. — Vgl. a. Dopsch [22] 2 17, 27 ff, 41, 50 ff, 64ff. § 14. S o z i a l e G e s t a l t u n g und E n t w i c k l u n g In den voraufgegangenen Ausführungen wurde wiederholt auf die mannigfaltigen Grundlagen, die vielerlei Kristallisationskerne der menschlichen Gesellschaft hingewiesen, wie sie im Leben der Naturvölker zutage treten und sich in den verschiedenartigen Organisationen niederschlagen. Durch das Ineinandergreifen und die Einwirkung solcher sozialer Organisationen und
Soziale Gestaltung und
Entwicklung
63
Gruppen aufeinander kommt das zustande, was man als die V e r f a s s u n g e i n e r G e s e l l s c h a f t bezeichnen kann, und die auch von deren Geistesverfassung unzertrennbar ist. Denn man darf nicht vergessen, daß der E i n z e l n e gewöhnlich an m e h r e r e n G r u p p e n g l e i c h z e i t i g b e t e i l i g t ist (z. B . „Lokalgruppe", Geheime Gesellschaft, Familie, Sippe, Klan), und daß er mitunter auch im Ablauf seines Lebens h i n t e r e i n a n d e r an verschiedenen Gruppen teilhat, wie etwa an der Altersklasse, der Heiratsgruppe, dem Männerbund usw. Die Gesellschaftsverfassung ist in sich mehr oder minder abgestimmt in ein S y s t e m gebracht und kann daher als eine einheitliche „ G e s t a l t u n g " bezeichnet werden. Das ist allerdings nicht immer in gleich harmonischer Weise durchgeführt, tritt jedoch bei dem verhältnismäßig l a n g s a m e n L e b e n s r h y t h m u s der Naturvölker oft bemerkenswert in Erscheinung. Einzelne Seiten dieser sozialen Gestaltung können sich niemals ändern, ohne auch a n d e r e i n M i t l e i d e n s c h a f t zu ziehen. Doch geschieht dies n i c h t g l e i c h m ä ß i g für alle übrigen Seiten, sondern nach der einen bald stärker, nach der anderen schwächer. So können technische Neuerungen zunächst wohl die Wirtschaft stark beeinflussen, doch vielleicht viel weniger das Familienleben. Politische Veränderungen brauchen sich keineswegs immer nach der wirtschaftlichen Seite hin empfindlich auszuwirken, während sie auf die Gestaltung der Familie abfärben, etwa durch das Emporkommen eines despotischen Patriarchats. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit dessen, was wir „soziale Entwicklung" nennen. Diese geht s t e t s ü b e r k l e i n e r e g e s e l l s c h a f t l i c h e B a l l u n g e n , die ihrerseits an den gesamten Gestaltungen der Kultur teilhaben. Der Kulturprozeß ist ohne die vielen einzelnen sozialen Gestaltungen nicht denkbar, wird von diesen getragen und von den ihnen angehörigen M e n s c h e n . Die Institutionen wie Blutrache, Asyl, Männerkindbett, Mutterrecht, Menschenopfer, Kannibalismus usw. bilden nur V e r h a l t u n g s w e i s e n in Gruppen von Menschen. Dennoch e n t s t e h e n u n d v e r s c h w i n d e n diese Einrichtungen, und ihr Ablauf, das Werden und Vergehen dieser Erscheinungen, stellt einen n i c h t u m k e h r b a r e n V o r g a n g dar. Es gibt keine einzige gerade Linie dieses Vorgangs, an dem die einzelnen Stufen wie Perlen aufgereiht werden können, sondern nur verschiedene, in ähnlicher Richtung verlaufende Vorgänge, die ein Netzwerk bilden, das von Adern in Breite und Tiefe durchzogen wird, durch das aber ein höchst ungleicher Rhythmus pulsiert. So spannt sich auch keine unmittelbare Brücke v o n e i n e r G e i s t e s v e r f a s s u n g z u r a n d e r e n , sondern der Weg führt stets ü b e r die g e s e l l s c h a f t l i c h e n G e s t a l t u n g e n , die ihrerseits durch Technik, Wirtschaft, politische Form und dgl. bedingt sind. I I I . DAS F U N K T I O N I E R E N E G A L I T Ä R E R V E R B Ä N D E Einige wichtige Formen von Zusammenschlüssen erheischen nähere Beleuchtung durch Beispiele, die ihr Funktionieren im Zusammenhang des
64
Das Funktionieren
egalitärer
Verbände
Lebens zeigen und die Veränderungen erkennen lassen, denen die jeweiligen Gestaltungen ausgesetzt sind. Wir folgen der schon eingangs angedeuteten Einteilung und Terminologie. § 1. H o r d e n Eine eigentliche Organisation fehlt bei den Horden, die hauptsächlich in Gruppen von Familien leben. So haben wir es z. B. auf den A n d a m a n e n I n s e l n mit Gemeinden zu tun, deren Angehörige wohl untereinander verwandt sind, jedoch weiterer Organisation entbehren. Namentlich ist für die Heiratsordnung keineswegs die Angehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe entscheidend. Es werden allerdings Siedlungsgruppen der Küste und des Binnenlandes unterschieden, denen aber keinerlei organisatorische Bedeutung zukommt. Wenn man von „Stämmen" spricht, so bezieht sich das auf Gruppen, die sich allerdings durch gleiche Sprache und Kultur von den anderen abgrenzen, die jedoch organisatorisch ebenfalls bedeutungslos sind. Die Größe der einzelnen Siedlungsgemeinschaften schwankt außerordentlich: von etwa 10—200 oder 300 Köpfen; in der Regel umfassen sie etwa 30—50 Männer, Frauen und Kinder. Die Siedlungsgemeinden besitzen keine unterscheidende Bezeichnung, sondern werden nur nach der Gegend oder den Flurnamen benannt. Einen Mann oder eine Frau rechnet man gewöhnlich der Horde zu, in welcher der oder die betreffende geboren wurde. Einer kann auch seine Gruppe ändern, wenn er von der anderen angenommen wird. Die Siedlungsgruppe ist die Gemeinschaft, welche den Anspruch auf ein bestimmtes Landgebiet, den Gau, erhebt. Darin darf einer jagen. In diesem Gebiet befindet sich eine Anzahl von überlieferungsgemäßen Lagerplätzen, die gelegentlich gewechselt werden. Daß diese Lagerplätze seit Jahrhunderten benutzt wurden, zeigt sich an den Abfallhaufen von Muscheln und Tierknochen, wie sie durchaus den vorgeschichtlichen K ö k k e n m ö d d i n g e r n Europas entsprechen. Innerhalb des Gaugebietes lebt die Gruppe nomadisch. Man bleibt selten länger als wenige Monate auf dem gleichen Lagerplatz. Jedes Lager besteht aus einer Reihe von Hütten, die von je einer Familie bewohnt werden (Brown [22] 22ff). — Den einzigen Gesichtspunkt, nach dem hier die Heirat geregelt wird, bildet die Verwandtschaft, und zwar nur die der allernächsten Blutverwandten. Für einen Mann ist nämlich nur die Verbindung mit seiner Schwester oder der Schwester seines Vaters oder seiner Mutter sowie auch mit der Tochter seines Bruders oder seiner Schwester verboten (71). (Bgl. u. Webst. [11] 485 und Wheel. 10], sowie Knabh. [19] 129; Spenc. u. G. [12] 1 198; Math. [10] 165ff.) 1 ) Rückfall in die „Horde." — Unter den T s c h u k t s c h e n des nordöstlichen Sibiriens wird eine Gruppe verwandter Familien varat genannt = 'ein Haufe von Leuten, die zusammen sind'. Das Mitglied einer solchen Gruppe bezeichnet man als Enan-Varatken = 'einen vom gleichen varat'. Ein anderer Name einer solchen Gruppe ist Cin-Yirin = 'ein Haufe von Leuten, die an der Blutrache teilnehmen'. Bog. (660) meint, daß ein varat als „Embryo 1)
Über Eskimo und Buschmänner s. Band I dieses Werkes,
Banden
65
eines K l a n s " bezeichnet werden kann; doch ist er unstet, und die Zahl der Familien, die „zusammen sind", wechseln fast mit jedem J a h r . Entsteht ein Streit zwischen fcwei in der Nachbarschaft lebenden varats, so gibt es gewöhnlich einige Familien, die in gleicher Weise mit einer jeden der streitenden Parteien verbunden sind. — Früher soll es nach Bog. (543) eine strengere Organisation gegeben haben, als es die des gegenwärtigen varat ist. Diese alten Horden bestanden aus 10—15 verwandten Familien, die stets zusammen lebten, und die verschiedenen Beschäftigungen nachgingen, für die sie sich spezialisiert hatten, wie dem Jagen, Fischen und der Zucht von Rentieren und die stets kriegsbereit waren. Statt den varat als embryonalen Klan zu bezeichnen, sollte man ihn richtiger eine Auflösungsform strenger Klan-Organisation auffassen. Die durch die russische Verwaltung eingerichteten Klans unter den Tschuktschen sind hingegen rein willkürliche Maßnahmen, die mit dem ursprünglichen Klan-System dieses Stammes nichts zu tun haben; sie sollten nur einer leichteren Eintreibung der Tribute dienen (Czap. [14] 27f). § 2. B a n d e n Die „Bande" grenzt man, wie schon erwähnt (s. S.16) am besten durch die größere Konstanz der Gruppe und gewisse Heiratssitten gegen die Horde ab. Klpr. ([1812] 287) berichtet von den mongolischen N o g a y , daß sie in Gemeinschaften von mehreren Familien leben, die dann zusammen einen Aul ausmachen, der, je nachdem die Weide ist, sich bald hier, bald dort lagert. Die Stärke eines Aul, einer „Bande", wird nach der Zahl der Kessel (Feuerstellen) berechnet, denn auf jede Familie entfällt ein Kessel. Die Russen nahmen die Zahl der Filzjurten oder Kibitken zur Grundlage für ihre Berechnung. Die Gewohnheit, auf Wagen zu wohnen, ist schon zu Klaproths Zeiten abgekommen. Eine große Buntheit in kleineren und größeren Gruppierungen findet man bei verschiedenen s i b i r i s c h e n Stämmen. Die Grundlage bilden gewöhnlich die F a m i l i e n , wobei eine Tendenz zutage tritt, wie z. B . bei den K o r y a k e n , daß die durch Heirat vereinigten Familien zu größeren Gruppen sich zusammenschließen, die durch gewisse moralische und materielle Verpflichtungen miteinander verbunden sind. Diese Tendenz eines Zusammenschlusses von Familien macht sich jedoch auch unter Nicht-Verschwägerten geltend. Früher waren derartig befreundete Gruppen verpflichtet, einander im Kriegsfall zu helfen. Heute beschränkt sich eine derartige Hilfe auf materielle Leistungen. Auch Frauen gehen derartige Bünde ein. Die ihnen später durch die Russen aufgezwungene Klan-Organisation war eine Verwaltungsmaßregel, die nichts Ursprüngliches an sich hat. Obgleich die B a n d e n — Tagaun — der T u n g u s e n des nordöstlichen Sibiriens auf einem System der Blutverwandtschaft gegründet sind, ist das doch nicht bei allen Banden der Fall. Manchmal trennen sich einige Familien von der Bande auf der Suche nach Jagdgebieten, wenn auch eine Einzelperson niemals ihre Familie verläßt. Doch bewahrt eine abgetrennte Familie die Erinnerung an ihren Zusammenhang mit der betreffenden Bande noch lange 5
Thurnwald IT-
66
Das Funktionieren
egalitärer
Verbände
Zeit. Solche Überlieferungen leben z. B. unter den Familien der Lamut der Chaun-Gegend, wo Splitter verschiedener Banden gewandert sind. Auch kleine, abgetrennte Gruppen aus mehreren Familien von zusammen ungefähr 100 Seelen pflegen sich als besondere Bande zu bezeichnen. — Die Bande wird durch einen „Altesten" geleitet, dessen Amt erblich ist. Die Banden-Namen sollen von ihren Begründern oder Heroen herrühren. Einige Banden nennen sich nach einem Fluß oder einem Berg der Gegend, die sie früher bewohnten. Einige Namen stammen auch von den Tungusen und sogar auch von den Russen. — Die Bande der Tungusen setzt sich aus S i p p e n zusammen und bildet kein unteilbares Ganzes. Die tungusische Bande Lamunkhinsk z. B., der in der Yakuten-Gegend lebte, bestand aus 4 Sippen: Khorinsk, Dondakonsk, Lamunkhinsk und Tugiasirsk. Die ersten zwei Sippen bestanden ursprünglich aus mongolischen Buryaten, die seit dem 17. Jahrhundert unter den Tungusen lebten und so letzteren assimiliert wurden. Am reinsten hat sich die alte Banden-Organisation unter denjenigen Tungusen erhalten, die vor fremder Einmischung bewahrt blieben (Czap. 51 ff). Bei den Bergdama Südwestafrikas (Vedd. 79) ist der sogenannte „Werfthäuptling" das Oberhaupt einer „Bande". Er vergibt die Landstücke zur Bearbeitung an einzelne, setzt Schonzeit für Zwiebeln an, verfügt über die Jagd usw. Man kann sagen, daß hier die Großfamilie mit der Bande verschwimmt. 3. K l a n Das Wort Klan ist schwankenden Charakters, ein Ausdruck, bei dem oft jeder Berichterstatter oder Bearbeiter von Berichten an etwas anderes denkt. — Klan bedeutet im Altirischen (Clann): Kinder, bezeichnete somit die gemeinsame Abkunft von einem Ahnen. Das irische Wort Clann wird jedoch gewöhnlich für keine größere Verwandtschaftsgruppe angewendet als für eine Großfamilie oder eine Sippe, jedenfalls für eine kleinere Gruppe als den Stamm (tribe). Die p o l i t i s c h e E i n h e i t wurde im alten Irland Tuath (gewöhnlich übersetzt mit tribe = Stamm) benannt. An ihrer Spitze stand der Ri = König oder Häuptling. Alle Angehörigen des Tuath betrachteten sich als Abkömmlinge von einem gemeinsamen Ahnen. In der Tat befanden sich jedoch viele Fremdlinge, die aus verschiedenen Gründen ihren eigenen Stamm verlassen hatten, im Tuath. Das Schicksal der einzelnen Tuath war verschieden. Der Tuath: Chruithnech war in historischer Zeit über einen großen Teil von Ulster ausgebreitet, der Tuath: Mac n-Umhoir war über verschiedene Teile von Connacht und Thomond verstreut. Manchmal wurde Tuath auch in einem umfassenderen Sinn gebraucht. Später gewann dieses Wort die Bedeutung 'Landgemeinde' (Mac Neill [21] 153 ff). Bei diesen Bezeichnungen, vor allem bei dem Ausdruck Clann, handelt es sich immer um ein bestimmtes Verhältnis einer Verwandtschaftsgruppe zum gemeinsamen Landbesitz (162ff). Doch kommt es bei solchen Bezeichnungen, wie „Klan", „Totem" usw. nicht darauf an, welche Bedeutung ihnen bei dem Volk beigelegt wird, von dem sie entlehnt sind, sondern entscheidend ist für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch die Konvention der Fachleute.
Klan
67
Von den Melanesiern der Südsee her will Riv. ([14] 1 7) als 'Clan' eine exogame Gruppe in einem Stamm oder in einer anderen Gesellschaft verstanden wissen, deren Angehörige als untereinander verwandt gelten und durch das Band des Glaubens an eine gemeinsame Abstammung von einem wirklichen oder mythischen Ahnen oder von einem Totem-Wesen verbunden sind. — Tatsächlich handelt es sich auch hier um eine Gemeinschaft, die Anspruch auf ein bestimmtes Gaugebiet erhebt, aus dem sie ihren Unterhalt und ihre Lebensbedürfnisse bestreitet, und den sie gemeinsam verteidigt. Gewöhnlich gründet sich auch darauf der Blutracheverband (vgl. a. Hoc. [14] 737ff). Auf Grund der australischen Verhältnisse kommt Brown A.R. ([18] 159) zu der Auffassung, daß ein „ K l a n " aus einer Gruppe von nahe verwandten Menschen besteht, gleichviel ob diese Verwandtschaft in männlicher oder weiblicher Linie berechnet wird. Jeder Klan unterscheidet sich von dem anderen dadurch, daß er seinen eigenen Gau besitzt, aus dem er die Nahrung vorwiegend auf dem Wege von Jagd, Fang und Sammeln, gewinnt und gemeinsam die Blutrache ausübt. Ffk. ([07—08] 394 ff) bezeichnet als „Klan" auf Grund seiner westafrikanischen Forschungen vor allem eine Dorfgemeinschaft, die unter einem eigenen Häuptling steht, dem Gefolgschaft geleistet wird. Dieser kann seinerseits in Abhängigkeit von einem Fürsten oder König stehen. Von einem solchen Klan, der also hier die einfachste territoriale politische Einheit darstellt, wird die Sippe ( sept ) unterschieden, die ihre Abkunft von einer gemeinsamen weiblichen Ahnin ableitet. Der Stamm (tribe) dagegen, der in der Fanti-Sprache Oman heißt, stellt eine Kultur- und Sprachgemeinschaft auf einem bestimmten Gebiete dar, in dem die gleiche Sitte gepflegt wird, und das einem Fürsten (omanhin) politisch untersteht. Die Familie unterscheidet sich vom Klan dadurch, daß sie nur die Blutsverwandten von einer ältesten noch lebenden Mutter umfaßt und nur in weiblicher Linie berechnet wird. Die Eingeborenen gebrauchen den Ausdruck ebussia sowohl für die Sippe wie für die Familie. Im allgemeinen kann man sagen, daß das Wort „Klan" gewöhnlich auf eine Gruppe mehr oder weniger weitläufiger Verwandter bezogen wird, die sich häufig als von einem gemeinsamen Ahnherrn oder einer Ahnfrau abstammend betrachten. Eine solche Gruppe führt ein selbständiges Leben und fühlt sich völlig souverän. Daher führt der Klan, wo keine Abspaltung oder Überlagerung durch Aristokratie oder Königtum erfolgt, ein unabhängiges politisches Leben, er ist ein F r i e d e n s v e r b a n d , der nach außen Blutrache übt, unter seinen Mitgliedern jedoch Streitigkeiten in gütlicher Weise zu schlichten versucht. Dies alles zeigt, daß der Klan eine primitive p o l i t i s c h e E i n h e i t darstellt; man wird ihn als Phase auf dem Wege zur Staatsbildung bezeichnen können. Auch dort indessen, wo Überlagerung mit einer Aristokratie oder mit despotischem Königtum stattgefunden hat, bleiben manchmal manche Traditionen eines selbständigen Verbandes bewahrt, vor allem religiöses Zeremoniell, oft auch die Blutrache. In den Kasten und Gilden, sowie auch in 5*
68
Das Funktionieren
egalitärer
Verbände
den geheimen Gesellschaften haben sich Überlieferungen solcher selbständigen politischen Verbände erhalten. Vielfach ist es üblich, den Ausdruck Klan nur dann zu gebrauchen, wenn die betreffende politische Gruppe exogam ist, wenn also die H e i r a t s o r d n u n g sich an eine solche politische Gruppierung anlehnt. Wird dieser Gesichtspunkt in den Vordergrund geschoben, so bildet er eine Quelle von Mißverständnissen, indem nämlich nicht immer deutlich zwischen den politischen Friedensverbänden und den der exogamen Gruppe zugrunde liegenden Einheiten unterschieden wird. Überdies kommt es bekanntlich nicht selten vor, daß die politische Einheit sich aus verschiedenen Heiratsgruppen zusammensetzt (vgl. a. Coli. [23]). Die amerikanische Ethnologie hat den Sprachgebrauch für das Wort 'Clan' noch weiter eingeschränkt, dadurch nämlich, daß sie von clan nur dann spricht, wenn die Verwandtschaft in der mütterlichen Linie berechnet wird. Einen Klan mit Vaterfolge bezeichnet sie als gens. Von dem entgegengesetzten Gesichtspunkt gingen allerdings Forscher an den australischen Eingeborenen, wie Howitt (44) aus, die als clan eine vaterrechtliche Gruppe verstanden wissen wollten, während eine Gruppe, die ihre Abstammung in weiblicher Linie berechnet, „horde" benannt wurde. Spricht man von Klan nur bei solchen politischen selbständigen Verwandtschafts- und Blutracheverbänden, bei denen die Heiratsordnung nach der Zugehörigkeit zur politischen Gruppe orientiert ist, so scheidet eine große Zahl von Verbänden aus, namentlich von niedrigen Naturvölkern von Jägern und Sammlern, bei denen die Heirat ausschließlich auf Grund der persönlichen Verwandtschaft geordnet wird, und bei denen in der Tat nur die allernächsten Blutsverwandten an einer gegenseitigen Verbindung gehemmt werden. In solchen Fällen spricht man gewöhnlich von „Horden" oder „Banden". Es wäre allerdings mißverständlich, wenn man meinen sollte, daß diese Gruppen nicht auch ganz überwiegend aus nahen Verwandten zusammengesetzt wären, und daß sie nicht auch Friedens- und Blutracheverbände darstellten. Zwar ist das organisatorische Gerippe unter den verschiedenen Familien oder Großfamilien, aus denen derartige Gruppen bestehen, nur schwach, und die Familien können sich ohne weiteres loslösen, jedoch bildet Gewohnheit und Überlieferung hier einen mächtigen Faktor zur Erhaltung des bestehenden Verbandes. Die Einbeziehung einer bestimmten Heiratsordnung in den Begriff des Klan gibt diesem insofern eine besondere Prägung, als eine derartige politische Einheit etwas Komplizierteres im Vergleiche zur „Horde" oder „Bande" darstellt, weil die exogame Heiratsordnung eine k u l t u r e l l e G e s e l l u n g m e h r e r e r K l a n s zur Voraussetzung hat. Trotz der auch in diesem Falle bestehenden politischen „Souveränität" des einzelnen Klan scheint ein jeder doch, durch die erwähnten Heiratsordnungen, gemeinsame Grundlagen des geselligen Lebens zusammen mit anderen Klans in b e w u ß t e r Weise anzuerkennen. Die Klans finden wir nicht selten in zwei H ä l f t e n gespalten oder aber zwei Klans gesellschaftlich gepaart, in der Weise, daß entweder eine Heirat unter den Klan-Hälften üblich ist oder
Klan
69
unter den gepaarten Klans, oder daß doch diese Halbierung oder Paarung sonst in irgendeiner Beziehung zur Heiratsordnung steht. Diese innere Halbierung der Klans muß, wie schon bei der Erörterung von H e i r a t s o r d n u n g (Band I I dieser Serie) hervorgehoben, von der Aufspaltung des ganzen Stammes in zwei Hälften, ,,Phratrien", unterschieden werden. — Das Wort Klan wird übrigens in diesen Fällen nicht immer konsequent angewendet: so werden z. B . „Phratrien" mitunter als „Klans" bezeichnet. Früher herrschte die Auffassung, daß der Klan ursprünglich v o r der Familie bestand. Es hat sich jedoch erwiesen, daß nur die wirtschaftliche Bedeutung der Familie zurücktritt, namentlich in solchen Klans, in denen teilweise kollektiv gewirtschaftet wird. Wenn auch die Klans manchmal bei aristokratischer Schichtung und Königtum eine gewisse politische Selbständigkeit bewahren, so bedeutet doch im allgemeinen die Schaffung eines weiteren Friedensverbandes, wie er durch diese Faktoren bedingt ist, eine Zersetzung des Klans. Die Entwicklung kann sich entweder so gestalten, daß die Klan-Überlieferungen in Verbände übergeleitet werden, die mehr oder weniger eine gewisse politische Selbständigkeit bewahren, wie z. B . K a s t e n , oder, daß die Klan-Überlieferungen nur auf religiösem oder zauberischem Gebiet weiter leben in Gestalt von Zeremonial- oder g e h e i m e n G e s e l l s c h a f t e n . Vor allem hört der Klan dann gewöhnlich auf, kleinste Wirtschaftseinheit zu sein, selbst wenn er noch sonst als Traditionsgemeinschaft, etwa als Geschlechterverband, sein Leben weiter fristet. Als Verwandtschaftsverband wird der Klan in der Regel völlig von der Familie, insbesondere von der Herrschaftsfamilie, abgelöst. Der Klan ist als eine besondere Erscheinungsform politischen Zusammenschlusses zu betrachten, deren Ausbildung vorwiegend durch das Leben von Hirten und Hackbauern, jedoch in verschiedener Weise, gefördert wurde. Der Klan als politisches Gefüge. — Die Banden der im äußersten Osten des nördlichen Sibiriens hausenden G i l y a k e n gründen sich auf den Besitz gemeinsamer Verwandtschaft, gemeinsamen Feuers, gemeinsamer Berg-, See-, Himmel- und Erdgeister, gemeinsamer Religion und Mythologie sowie gemeinsamer kultischer Zeremonien; vor allem aber auf die Angehörigkeit zum gleichen Blutracheverband sowie überhaupt auf die Beobachtung gemeinsamer Sitte. Daraus ist auch die Bedeutung des Klans als politischer Verband ersichtlich. Man kann diese Banden also wohl schon als Klans bezeichnen. Daß eine solche Gruppe Klal genannt wird = 'Fußsack', wie er beim Reisen benutzt wird, deutet drastisch darauf hin, wie man in ihr die Zufluchtsstätte für die Schwierigkeiten und Gefahren des Lebens findet (Czap. [14] 43ff). Zur Zeit der russischen Eroberung besaßen die Y u k a g h i r e n der Tschuktschen-Halbinsel ein gut organisiertes Klan-System, das jedoch heute in Verfall geraten ist. Eine Stammesorganisation fehlt ihnen; auch gibt es keinerlei Traditionen über einen gemeinsamen Stammesahnen, wie etwa bei den Koryaken (Jochls. [05] 17). Jedoch werden innerhalb des Stammes keine Kriege geführt, sondern höchstens Blutrachefehden ausgetragen. — Die russische Verwaltung gebrauchte zwar die Klan-Organisation für
70
Das Funktionieren
egalitärer
Verbände
ihre Zwecke, verfuhr indessen willkürlich bei der Abgrenzung der einzelnen Klans. — Die Klans der Yukaghiren umfaßten nicht bloß blutsverwandte Familien, sondern begriffen auch solche Familien in sich ein, die ein gemeinsames Territorium bewohnten (Jochls. [10] 116, 126). Den Kern bildete jedoch immer eine blutsverwandte Gruppe im Klan, die ihre Abkunft von einem gemeinsamen Ahnen ableitete, der vor 6 oder 7 Generationen gelebt hatte. Wenn man sagt, daß die anderen Familien nur vermöge des territorialen Prinzips dem Klan angegliedert sind, so muß man beachten, daß der Yukaghir die Verwandtschaft nur als 4 Generationen zurückbestehend anerkennt, obgleich die Genealogien viel weiter zurückreichen. Viele Klans benennen sich nach Tieren, wie z. B. nach dem Hasen, und werden auch die „Hasenstämmlinge" oder die „Leute der Hasensippe" genannt. Ein anderer Klan heißt der „Fischklan", weil er ausschließlich von Fischen lebt. Der „Gänse-Klan" leitet seinen Namen davon ab, daß einer seiner Schamanen (Zauberpriester) sich einst in einen Storch (nicht in eine Gang!) verwandelt habe und mit den Vögeln weggeflogen sei. — Die Angehörigen des Klans bewahren die Erinnerung an den gemeinsamen Ahnen des Klans, obgleich sein Kult heute nur gering ist. Die territorial angegliederten Familien des Klans sind manchmal sogar Stammesfremde: Tungusen, Koryaken oder Chuvantzy, die assimiliert sind und an dem Ahnenkult der Blutgruppe teilnehmen. Der Prozeß der Assimilation wurde gewöhnlich durch Zwischenheiraten gefördert. Die Klans sind e n d o g a m , doch wird nicht innerhalb des gleichen Dorfes geheiratet. — Die politische Herrschaft übt der Alte aus, welcher immer der Blutgruppe entstammt. Er ist der Leiter der Kriegs-, Fisch- und Jagdexpeditionen, er wählt die Halteplätze während der Wanderungen des Klans aus, teilt die Jagddistrikte einer jeden Gruppe zu und bringt die Opfer den Ahnengeistern dar, veranstaltet die Feste und setzt den Gehorsam gegen die Sitte des Klans durch. Daraus ist die Bedeutung des aus einem Kern von B l u t v e r w a n d t e n gebildeten Klan als p o l i t i s c h e r Einh e i t klar ersichtlich. Auch der Schamane und „der starke Mann" werden der Blutgruppe entnommen. Letzterer jedoch, wie auch „der Jäger", muß nicht notwendigerweise der Blutgruppe angehören. Für diese Spezialitäten ließ man also die persönliche Eignung überwiegen. Manchmal fiel die Rolle „des starken Mannes", der erster Krieger des Klans war, mit dem „Jäger" zusammen, jedoch nicht immer. Dem „Jäger" fällt die Sorge für Fleischkost und Felle zur Kleidung seines Klans zu. Der „Jäger" erhält keinen besonderen Anteil an den Erträgnissen der Jagd; der einzige Ansporn zur energischen Ausübung dieser Funktion ist nach Jochls. ([10] 121 ff) der Instinkt der Zusammengehörigkeit. „Der Jäger erträgt alle Schwierigkeiten und Gefahren für die Leute seines Blutes." Man glaubt auch, daß die Geister einem Jäger nicht helfen, der nur für seinen eigenen Nutzen und nicht für den seines Klans tätig ist. — Früher gab es auch eine Schicht von Sklaven unter den Yukaghiren, die Kriegsgefangene waren und weder „Krieger" noch „Jäger" werden konnten, deren Stellung jedoch im übrigen gut war. Sie wurden hauptsächlich im Hause beschäftigt und verrichteten Frauenarbeit (Czap. 36ff).
Klan
71
Klan und Stammeshalbierung. — Die Klans der I n l a n d s t ä m m e des südlichen Teiles von H o l l ä n d i s c h - N e u - G u i n e a tragen totemistischen Charakter, wobei sie sich meistens nach einem Naturobjekt benennen, mit welchem man in bestimmter naher Beziehung zu stehen glaubt. I n bezug auf das Klantotem herrschen nur teilweise Speiseverbote. Diese Klanorganisation ist entweder als „im Verfall" stehend zu betrachten, wahrscheinlicher jedoch n i e m a l s s e h r a u s g e p r ä g t zur Geltung gekommen. Durch die orthodoxe Form der Ehe zwischen der Tochter des Mutterbruders und dem Sohne von des Vaters Schwester (Cross-cousin-Heirat) ist es üblich, daß ein jeder ständige Beziehungen zu z w e i Klans h a t und seiner Angehörigkeit zu diesen beiden durch Nebeneinandersetzung beider Klannamen Ausdruck gibt, also sich ein Mann, der zum Klan mabu und kayeput in Beziehung steht, als mabu-kayeput bezeichnet. Die Kinder folgen dem Klan des Vaters, werden sich also infolge der Vetternheirat wiederum mabu-kayeput nennen. Diese Bezeichnung wird indes auch — ähnlich wie in Australien — dann beibehalten, wenn die Mutter keine orthodoxe Verbindung einging und einem anderen Klan zugehört als des Vaters Mutter. Das System ist stärker als die Wirklichkeit. Aus zwei verschiedenen Klanbezeichnungen, der väterlichen und mütterlichen, ist also, wie am obigen Beispiel dargelegt, eine einzige geworden, wodurch die eigentliche Klanzugehörigkeit v e r w i s c h t wird. — Um so größere Bedeutung kommt jedoch hier der S t a m m e s h a l b i e r u n g zu, auf der die Heiratsordnung eigentlich aufgebaut ist, nämlich der Scheidung in totemistische v a t e r r e c h t l i c h e H ä l f t e n , in die woya „ K ä n g u r u h " und wenda „Beutelmarder". — Die Klans s i e d e l n zusammen, und in jedem Tal finden sich andere Klans. Die Männerhallen werden bloß von Vertretern eines einzigen Klans errichtet und bewohnt. Die Siedlungen sind r e i n e K l a n s i e d l u n g e n (Wirz [24] 46£f). — Der Klan in geschichteten Gemeinwesen; Klan-Bündnisse. — Das Schicksal der Klans bei der Überlagerung durch Fremde tritt deutlich an einigen Stellen des Nil-Kongo-Zwischengebietes in Erscheinung. I n Ndowra sitzen unabhängige Klans. I n Mulera sind die Klans von einem König unterworfen und zahlen Steuern. Von einigen Hügeln haben die Batutsi die ursprünglich Eingesessenen verjagt und gestatten den obdachlosen Angehörigen zersprengter Klans, sich daselbst niederzulassen. Diese Leute müssen für den gewährten Schutz Frondienste verrichten und ihre Herren unterstützen. So sind neue Gemeinden entstanden, die an G u t s b e z i r k e erinnern. Dabei schließen sich einige Klan-Alteste den Eroberern an und werden von diesen unterstützt. — I n Bugoye verwischt sich allmählich die Grenze zwischen den Eroberern und dem Bauernadel. — Der Klan der Bambari arbeitet schon auf dem Felde des Häuptlings, der aus dem gleichen Klan stammt und als ehemaliger Klan-Altester aufgefaßt werden muß. Hier wird jedoch der Boden als sein Eigentum, als ein vom König verliehenes Gut angesehen. (Czekn. [17]). Die erobernden Schichten behalten unter Umständen ihre alte KlanOrganisation bei. Dafür bieten die B a n y a n k o l e von Uganda ein Beispiel. Diese nomadischen Hirten, die alles verachten, was nicht mit ihrem Rind-
72
Das Funktionieren
egalitärer Verbände
vieh zusammenhängt, haben ihre alte totemistische Klan-Einteilung beibehalten, nach der auch die Heiratsordnung orientiert ist. Der Stamm stellt sich in drei Haupt-Klans gespalten dar. Jeder dieser Klans besaß ein Haupttotem und ein Nebentotem. Das Haupttotem des ersten Klans, dem auch der König angehörte, ist ein kleiner, schwarzgesichtiger Affe, das Nebentotem eine kleine Hirseart in ungeschältem und ungekochtem Zustande. Enthülst und gekocht durfte also diese Hirseart gegessen -werden. Die Klans zerfielen wieder in viele Sippen, die manchmal außer dem gemeinsamen noch besondere Totems besaßen. Mitunter waren die Sippentotems sogar ganz andere als die des gemeinsamen Klans. H e i r a t unter den Angehörigen der Sippen des gleichen Klans war nur dann gestattet, wenn sie unterschiedliche Tote ms besaßen. Die Bedeutung des Klans bestand hauptsächlich darin, daß ein Mann immer auf die H i l f e und die Unterstützung von Leuten rechnen konnte, die das gleiche Totem besaßen wie er selbst. Diese Hilfe bezog sich hauptsächlich auf Krankheitsfälle, Bestattung eines Toten, Eintreten im Falle von Verschuldung und vor allem im Vollzug der Blutrache (Rose. [23/b] 4ff). 1 ) Klan-Agglomeration und Übergangserscheinungen. — Die nomadischen und halbnomadischen Türk-Stämme Sibiriens besitzen als soziale Einheit den Klan. Diese Klans bilden „ S t ä m m e " , und aus solchen setzt sich wieder das V o l k zusammen, das einen gemeinsamen Ahnen in Anspruch nimmt. Früher wurden die Altesten des Stammes gewählt, und ihre Autorität war durch die Stammes-Versammlung und den Ältestenrat der Klans beschränkt. Die Klan-Organisation wird insbesondere noch unter den TurkStämmen des Altai streng bewahrt. Diese Stämme besitzen keine gemeinsamen Namen, doch zerfallen sie in drei Hauptgruppen: die eigentlichen Altaier, die Telengit und die Toyolen. Diese Gruppen unterscheiden sich voneinander nur wenig in Sprache oder Sitte. Ihre Klans werden als Seoks = 'Generationen' bezeichnet (russisch KOCTb-Knochen). Die Altaier zählen 24 Klans, doch glaubt P o t a n i n (4 1), daß diese Ziffer nur mystische Bedeutung besitzt und nicht der tatsächlichen Zahl der Klans entspricht. Die Angehörigen eines Klans leben auch unter denen eines anderen, und sie errichten nicht besondere Lagerplätze, wie das bei den Kirgisen der Fall ist. Die Angehörigen eines Seok betrachten sich als untereinander verwandt und reden jeden Alteren ihres eigenen Seok als ihren „Onkel" an, während der jüngere als „Neffe" bezeichnet wird usw. Auch unter den Kirgisen, den Uriankhai und den Yakuten hat sich das Klan-System gut erhalten. Die Klans der Yakuten sind auf Blutverwandtschaft begründet, und das Rückgrat ihres Gesellschaftsbaues bilden die Klans. Die Verwandtschaft wird bis zur 9. Generation berechnet. Sind die Partner darüber hinaus verwandt, so ist eine Verheiratung unter ihnen erlaubt. Diese Klan-Organisation war bei den Yakuten eng verknüpft mit dem B e s i t z großer Herden von Pferden, die das g e m e i n s a m e E i g e n t u m der Klans bildeten. Als sie jedoch anfingen, Rinderherden zu halten, trat eine Auflösung in kleinere 1 ) Genaueres in dem im Erscheinen begriffenen Buch von Hosea K. N y a m b o n g o , einem Angehörigen der Babito Kaste des Toro-Volkes.
Klan
73
Gruppen ein, was ein Hervortreten der Familie gegenüber dem Klan zur Folge hatte. Der Antagonismus zwischen der Familie und dem Klan tritt heute besonders bei Erbstreitigkeiten zutage. Der Klan stellte stets die Einheit für die Blutrache vor, bzw. für die Zahlung der Blutbuße. Innerhalb des Klan wurde im Falle eines Mordes ein Volksgericht abgehalten. — Mitunter traten auch B ü n d n i s s e unter verschiedenen Klans auf, und zwar unter solchen, die entfernt untereinander blutsverwandt waren. Also auch über die Klans hinaus wurde die Verwandtschaft beachtet. Diese Bündnisse wurden durch gemeinsame Opfer und Feste ( Y s y a k h ) besiegelt. Die einzelnen Klans, an deren Spitze Häuptlinge standen, erfreuten sich vollkommener Unabhängigkeit untereinander, sofern sie nicht durch besondere Bündnisse verknüpft waren. In letzterem Fall gab es noch eine Bundesversammlung, die, so wie der Rat des Klans, aus „drei Kreisen" zusammengesetzt war. In dem ersten saßen die Häuptlinge und die Redner, im zweiten die Adligen und Krieger und im dritten das gemeine Volk und die Jugend. Jeder Klan war hinter seinen Vertretern des ersten Kreises aufgestellt. — Die Klan-Organisation der mongolischen Stämme ist patriarchalisch. Die Generalogien werden mit großer Sorgfalt bewahrt, obgleich die Angehörigen der Klans unter vielen fremden Gruppen zerstreut leben. Die eigentlichen Mongolen führen ihre Abstammung auf Biarte-Chino = 'blauer Wolf', den Ahnen von Djingis-Khan, zurück. Die Mongolen zerfallen in eine östliche und eine westliche Gruppe. Die letztere besteht aus 4 Stämmen und wird der „Viererbund" genannt, während die östlichen Mongolen einen „Fünferbund" bilden. Jeder dieser Bundesstämme nimmt eine besondere Symbolfarbe für sich in Anspruch. Im Klan wird die Seniorität beachtet, so daß z. B. die Kalmüken beim Aufschlagen des Lagers ihre Zelte nach dem A l t e r s r a n g ordnen. Unter den Buryaten wird die Einheit des Klans noch immer durch eine g e m e i n s a m e J a g d betont, an der alle Klan-Mitglieder und auch solche von verbündeten Klans teilnehmen. Diese J a g d dauert manchmal mehrere Monate und wird von einem besonderen Jagdherrn ( tubuchi ) geleitet, dessen Amt oft erblich ist. Außerdem funktionieren bei diesem Jagdfest auch noch ein Feuer- und Ernährungsmeister ( galshas ) und zwei Führer (gazarish) sowie noch andere Beamte minderen Ranges. — Der Klan veranstaltet auch noch ein öffentliches Opfer, zu dem verschiedene Haushalte nach ihren Mitteln die Opfertiere stellen. Das Fleisch wird dann in gleicher Weise an alle Teilnehmer abgegeben. Bei diesem Fest werden Ring- und Springkämpfe, früher auch Wettschießen mit Pfeilen, abgehalten (Czap. [14] 63ff). Von dem f i n n i s c h e n Stamm der Ostyaken sagt Castren, daß sie wie die Samoyeden in Klans geteilt sind, die in Wirklichkeit eine große Familie und einen unabhängigen Staat darstellen, an dessen Spitze ein „Altester", Urt, steht, der in der russischen Literatur oft als Kniaz (Fürst) bezeichnet wird. Früher soll dieser Urt eine sehr machtvolle Persönlichkeit gewesen sein. Vor der tatarischen und russischen Eroberung fehlte jedes Bestreben unter den Ostyaken, sich zusammenzuschließen; sie lebten in voneinander unabhängigen Klans, an deren Spitze ein Häuptling sich befand. Auch Bündnisse unter den Klans kannte man kaum. Dem Häuptling stand ein Ältesten-
74
Das Funktionieren
egalitärer
Verbände
rat für gewisse Angelegenheiten zur Seite. Jedoch bildeten die Häuptlinge mit ihren Familien eine a r i s t o k r a t i s c h e Kaste; sie stellten eine Kriegerschaft dar, die das Land vor fremden Feinden zu verteidigen hatte, während sie im Frieden Jagd- und Kampfspiele betrieb (Czap. 67ff). — Hierzu ist das oben gebrachte Beispiel der Klans des Irokesen-Bündnisses anzureihen (S. 17 f). § 4. Sippe Bedeutung und Funktion der Sippe. — Die Bedeutung der Sippe besteht in der Verbindung von Verwandten zu gemeinsamem Leben, besonders zum Nahrungserwerb und zur Wirtschaftsführung. Die Sippe umfaßt eine größere oder kleinere Gruppe, die sich als von einem gemeinsamen Ahnen abstammend betrachtet und oft auch mythologisch-kultisch vereint ist, insbesondere oft durch totemistische Züge sich kennzeichnet. Zur Sippe werden gewöhnlich auch die eingeheirateten und zugesiedelten Frauen, seltener die eingeheirateten und zugesiedelten Männer gezählt. Der Begriff der Sippe muß nach verschiedenen Seiten hin abgegrenzt werden: einerseits verschwimmt er oft mit dem der erweiterten Familie, andererseits mit denen von Klan und gens. Der Bestand der Sippe wird durch regelmäßig wiederkehrende Heiraten erhalten, welche die Grundlage sowohl für die Ausbildung von Lokalrassen als auch von Lokalkulturen und Lokaldialekten bilden. Man kann sagen, daß das gesamte primitive Leben noch bis tief hinein in die geschichteten und selbst in die archaischen Völker von der verwandtschaftlich gebundenen Sippe getragen wird. Die Heiratsordnungen sind für die Sippe gewöhnlich exogam, derart, daß regelmäßige Verbindungen innerhalb einer bestimmten Zahl von (manchmal „totemistischen") Sippen vor sich gehen. Manchmal sind die Sippen in einer auf Stammeshalbierung beruhenden Regelung zur Wahl der Ehepartner eingeordnet. Man darf nicht vergessen, daß die Sippen „leben", daß sie sich vermehren oder durch Kämpfe und Seuchen zu einem erheblichen Teil dahingerafft werden. Darum müssen wir mit einem ständigen S c h w a n k e n in der Größe der Sippe rechnen. Bei den technischen Grundlagen der primitiven Wirtschaft bedingt das Anwachsen der Bevölkerungszahl ein Auseinanderfallen in kleinere Verwandtschaftsgruppen. Je nach den örtlichen und sonstigen Schicksalsbedingungen bleiben indessen doch gewisse Zusammenhänge gewahrt, und es entstehen manchmal hier weit verzweigte Organisationen, dort, unter anderen Umständen, jedoch nicht. Die Bedeutung der Sippe tritt hauptsächlich bei den feldbautreibenden Völkern durch die g e n o s s e n s c h a f t l i c h e B e w i r t s c h a f t u n g des Landes seitens einer Verwandtschaftsgruppe hervor. Denn die Verwandtschaft stellt das älteste und ursprünglichste Vergesellungsprinzip dar. Die Auflösung der Sippe ist hauptsächlich in der Verselbständigung eines besonderen F a m i l i e n e i g e n t u m s an Grund und Boden zu suchen, das von dem gemeinsamen Sippenbesitz losgelöst wird. Damit macht sich eine andere, aber ebenfalls vorläufig noch auf verwandtschaftlicher Grund-
Sippe
75
läge beruhende Ballung geltend, die wir als die p a t r i a r c h a l i s c h e H e r r s c h a f t s f a m i l i e (im Gegensatz zur primitiven gerontokratischen) bezeichnen können. Es ist die ,,/amifta", der auch Sklaven angehören und von der oft hörige Bauern abhängen. Diese Veränderung macht sich in den Zentren oder in den Ausstrahlungsgebieten des Despotismus bemerkbar. Zwar können auch da noch sippenmäßige Verbindungen unter den patres fat.iiliares aufrechterhalten werden, jedoch ist die Sippe nunmehr dem Untergang geweiht. Eine ähnliche Art der Zerstörung des Sippenverbandes ergibt sich aus der Berührung mit wesensfremden Kulturen. Ahnlich wie andere Institutionen der primitiven Gesellung, wie Mutterrecht, Blutrache, Asyl usw., ist auch der Bestand der Sippe an gewisse V o r a u s s e t z u n g e n d e r L e b e n s f ü h r u n g geknüpft. Wie fließend der Übergang von Klan zu Sippe ist, tritt an dem Beispiel der Wagawaga im äußersten Osten von Neu-Guinea zu Tage. Drei Klans werden dort unterschieden, die Garuboi, Modewa und Hruna genannt werden. Jeder dieser Klans besitzt wenigstens einen Totemvogel und außerdem noch ein damit verbundenes anderes Totem in Gestalt eines Fisches, einer Schlange und einer Pflanze. Die Namen der Wagawaga-Klans sind in zwei Fällen die Bezeichnungen alter Siedlungen, von denen die Klans stammen. Jeder Klan zerfällt in zwei Hälften. Danach wird die Anrede der einzelnen Personen bestimmt. Früher richtete sich danach die Anteilnahme an dem Kannibalenfest, das bei der Blutrache an Feinden abgehalten wurde. Danach wurde früher auch die E x o g a m i e bestimmt (Slgm. [10] 435; Reports Cambridge Expedition to Torres Stroits V 162f; Hoc. [14] 737ff; F o x [19/20] 94 ff). Die Bewohner eines jeden Dorfes unter den K o i t a des südlichen NeuGuinea zerfallen in eine Reihe von Gruppen, die iduhu genannt werden. Nicht alle Dörfer beherbergen alle Sippen (iduhu), die ihre Abstammung in männlicher Linie berechnen. Es kommt vor, daß Angehörige einer in einem Dorfe schwach vertretenen Sippe in eine stärkere Sippe aufgenommen werden. Auch kommt es vor, daß, wenn Leute sich in einem Dorfe niederlassen, in dem ihre Sippe nicht vertreten ist, sie die Sippen-Zugehörigkeit von solchen Nachbarn annehmen, mit denen sie in einem dauernden Freundschaftsverhältnis stehen. Überhaupt ist es erforderlich, daß Neuankömmlinge in einem Dorfe sich einer der bereits bestehenden Sippen anschließen, da sie sonst nicht zugelassen werden, F e l d e r anzulegen. Doch ist es nicht so, daß diese Neuankömmlinge dann nur das Land derjenigen Sippe bearbeiten, der sie sich angeschlossen haben. Sie werden z. B . auch zugelassen, das Land einer erloschenen Sippe zu bebauen. — Einige Sippen haben das Recht, besondere S y m b o l e zu gebrauchen. Diese bestehen aus Holzschnitzereien oder z. B . aus getrocknetem Gras oder aus Blättern, die von einer Muschel herabhängen. Diese Symbole werden an den Kanus oder an den Firstenden der Häuser usw. angebracht (Slgm. [10] 49ff). Die Bedeutung des iduhu besteht hauptsächlich in dem gemeinsamen Anspruch auf Land, an dem jeder einzelne Sippen-Angehörige t e i l n i m m t . Wünscht einer mehr Land oder eine Veränderung seines Landbesitzes, so bespricht er die Angelegenheit
76
Das Funktionieren
egalitärer
Verbände
mit dem Sippen-Häuptling (iduhu-rohi), der wieder nach Beratung mit den anderen Alten der Sippe den Wünschen des Bewerbers zu entsprechen sucht. Beim Roden des Landes helfen alle Angehörigen der Sippe. Ein Verkauf des Landes ist ausgeschlossen. Fehlt es an Erben, so fällt das Land an die Sippe zurück. — Die Mitglieder der exogamen Sippe helfen zusammen den Brautpreis bei der Verheiratung eines Mannes aufbringen. Die Frau tritt in die Sippe ihres Gatten ein und bleibt darin auch als Witwe. — Die Sippe ü b e r t r i f f t die S i e d l u n g s g e m e i n s c h a f t an Bedeutung. Das Dorf besitzt keinen gemeinsamen Häuptling, sondern nur die einzelnen Sippen zusammen. Die Würde eines Sippen-Häuptlings wird auf den Sohn vererbt; nur wenn ein solcher fehlt oder zu jung ist, tritt der Schwestersohn an dessen Stelle. Dieser Sippen-Häuptling beaufsichtigt vor allem die Pflege des Feldbaues und nimmt die Verteilung des Essens, namentlich bei den großen Festen, vor, deren Datum und Zeremoniell er, jedoch nicht ohne vorherige Beratung mit den übrigen Altesten der Sippe, bestimmt. Vermöge seiner Autorität ist er vor allem berufen, Streitigkeiten zu schlichten. Der Häuptling der O r t s - S i p p e oder der G e s a m t - S i p p e ist zur Verurteilung und Exekution eines Mörders an einem Sippen-Genossen berufen. Dafür fallen ihm anderseits Ehrenstücke der Jagdbeute zu. Der Häuptling der GesamtSippe (rohi-ketaike) legt Streitigkeiten unter den Häuptlingen der örtlichen Sippen (iduhu-rohi) bei; dabei handelt es sich hauptsächlich um FamilienStreitigkeiten (Slgm. [10] 52ff, 77, 79, 87, 128). Um die Verschiedenheit des Siedlungsverbandes von der Sippe zu illustrieren, sei etwa auf die M a f u l u , einen Bergstamm des südlichen NeuGuinea, hingewiesen. Mit dem Ausdruck imbele wird dort die engste Gruppe bezeichnet. Auch wenn einer von einem Angehörigen dieser Verwandtschaftsgruppe spricht, redet er von ihm als von seinem imbele. Das Wort bilage kennzeichnet dagegen einen loseren Zusammenhang. Ein Mann, der wohl nicht zur imbele gehört, jedoch zum gleichen Siedlungs-Verband, wird als bilage bezeichnet. Alle außerhalb von imbele und bilage stehenden Personen werden a-gate benannt, mag es sich um einen Mafulu, Kuni, Ambo oder sonst irgendeinen anderen handeln. Eine Unterscheidung zwischen der eigenen Kulturgemeinschaft und einer fremden wird dabei unterlassen. Jede dieser imbele, die wir wohl nach der vorgeschlagenen Terminologie am besten als „Sippe" bezeichnen, siedelt für sich. Sie besitzt k e i n besonderes Abzeichen, etwa in Gestalt von Tieren, Vögeln, Fischen, Pflanzen und dgl., auch sonst keinerlei totemistische Sagen oder Verbote. Solche totemistischen Beziehungen fehlen auch in Beziehung zur Siedlungs-Gemeinde (bilage). Verläßt einer seine imbele und siedelt nach dem Dorf einer anderen um, so rechnet er sich der neuen imbele zu, obgleich er nicht alle Beziehungen zwischen sich und seiner alten Sippe abbricht. Man kann sagen, daß eine imbele vorwiegend auf V e r w a n d t s c h a f t beruht, obgleich ausnahmsweise auch Fremde aufgenommen werden können. Der Zusammenhang unter den Angehörigen einer imbele ist so eng, daß ein Unrecht, das einem Mitglied zugefügt wird (Mord, Ehebruch der Frau mit einem Fremden und Verweigerung der Rückgabe ihres Kaufpreises), von der ganzen Sippe als ihr zugefügt betrachtet
Sippe
77
wird, so daß sie dem Beleidigten. Genugtuung verschaffen. Die Angehörigen einer imbele besitzen ein gemeinsames Oberhaupt und eine gemeinsame Männerhalle. Die Heirat unter den Angehörigen der gleichen imbele ist nicht erlaubt. Dieselben imbele sind manchmal auf verschiedene Dörfer verteilt, ursprünglich jedoch •wahrscheinlich gemeinsamer Abstammung. Das Oberhaupt (amidi) hat vor allem die Leitung zeremonieller Funktionen, besonders in dem Dorf, in dem es residiert. Gelegentlich großer Feste funktioniert das Oberhaupt aber auch in anderen Dörfern, in denen sein imbele ansässig ist. Im letzteren Fall wird zu einem solchen Zweck von seinen Leuten auch eine eigene Männerhalle (emone) errichtet. Dem amidi zur Seite steht der em' u habe = Vater des Dorfes. Letzterer ist gewöhnlich ein Verwandter des Sippenhauptes, der in seinem Dorf gleichfalls eine Halle (emone) besitzt. Am Residenzort des amidi gibt es keinen besonderen „Dorfvater" (Willms. [12] 88ff). Jede imbele besitzt ihre eigene Rodung. Doch leben verschiedene imbele oft in naher Nachbarschaft. Man kennt nur eine Bezeichnung für eine solche Rodung: emi, jedoch keine für eine Gruppe benachbarter Rodungen (ebd. 84f). Daraus ergibt sich, daß die bilage die Siedlungsnachbarschaft bezeichnet, ohne jedoch organisatorisch von großer Bedeutung zu sein. Nur in Kriegen tritt die Siedlungsnachbarschaft als solche in Erscheinung, und es kommt auch vor, daß mehrere bilage sich miteinander verbünden (180). Sie ist also ein politischer Verband. (Slgm. [10]; ferner Mac. K. [26] für NordAmerika; Coli. [22/23] für Sumatra). Verhältnismäßig komplizierter liegen die Dinge bei den T u r k - S t ä m m e n . Bei diesen nomadischen und halbnomadischen Stämmen Sibiriens gibt es verschiedene soziale, einander überlagernde Gruppen. Die A l t a i e r zerfallen in seok (russ. KOCTb = Knochen) oder „Generationen". Doch leben die Angehörigen dieser verschiedenen seok, die man wohl am besten als „Sippen" bezeichnet, durcheinander und bilden keine besonderen „Lager", wie das z. B. bei den K i r g i s e n der Fall ist. Die Angehörigen eines seok betrachten sich als untereinander verwandt und reden sich gegenseitig je nach dem Alter oder der Verwandtschaftsbeziehung als Onkel oder Neffe, als Tante oder Nichte an. — Komplizierter ist die Organisation der sogenannten T a n g n u U r i a n k h a i , die in 5 khoshun zerfallen, an deren Spitze je ein ogurta steht. Der Alteste dieser ogurta wird als amban bezeichnet, dem die anderen unterstehen. Jeder khoshun zerfällt in 4 sumyn, der von Kemschik in 10. Der sumyn, dem der ogurta angehört, verleiht dem ganzen khoshun seinen Namen, und diesen gebraucht auch der ogurta. Auf Grund dieser Einteilung würde man einen sumyn als „Sippe", khoshun als „Klan" bezeichnen. — Die heutigen Y a k u t e n gruppieren sich in aga-usa, nasleg und ulus. Ein aga-usa besteht manchmal nur aus wenigen Individuen, mitunter allerdings aus mehreren Hunderten. Ein nasleg umfaßt von ein bis zu mehr als dreißig aga-usa. Die ulus umspannen wieder mehrere nasleg. Früher nannte man die Gruppe, die heute als nasleg bezeichnet wird: aimak, und die ulus: djon. Gegenwärtig umfaßt der größte ulus (djon) 11000 Seelen. Doch ist die Unterscheidung zwischen ulus und nasleg nicht scharf durchgeführt; man bezeichnet manchmal beide als djon, und einen aga-usa, dem wir die
78
Das
Funktionieren
egalitärer
Verbände
Bezeichnung „Sippe" gaben, als aimak. Aimak bedeutet jedenfalls immer eine Untergruppe eines djon. — Die nördlichen Y a k u t e n von Verchojansk, Ustiansk, Elgetesk, Jigansk und Kolymsk besitzen nur zweierlei Gruppen in ihrem sozialen Bau: nasleg und aga-usa fallen zusammen und sind dem djon (ulus) untergeordnet. — Das Wort aga-usa bedeutet „Vatersippe"; aga = Yater; usa wurde folgendermaßen erklärt: „nimm alle Zweige, Knoten, Blätter und Knospen, die aus einer Wurzel sprießen, und du hast ein usa". Usa bedeutet somit die durch Abstammung Verwandten. Statt des Wortes usa gebrauchen die Yakuten auch den Ausdruck tördö = Ursprung, Wurzel. Wenn sie sich auf die Angehörigen der gleichen Sippe beziehen, so sprechen sie von kan-ät uruta = Blut- und Fleischverwandtschaft. Jedoch wird diese verwandtschaftliche Zugehörigkeit nur bis zur neunten Generation zurückverfolgt. Die darüber hinaus entfernten Verwandten nennt man sygan, und einen sygan darf man heiraten, nicht dagegen den Sippengenossen. Man sagt, ein sygan ist ein uru (entfernter Verwandtschaftsgrad), und es ist n i c h t sündhaft, einen solchen n i c h t vor dem Ertrinken zu retten. Die Sippe trifft außer dem Heiratsverbot insbesondere die gemeinsame Verpflichtung zur B l u t r a c h e . — Auch durch Bündnisse ( äyellakh ) können sich Sippen untereinander verbinden. Solche Bündnisse werden durch gemeinsame Opfer und Feste (jsyakh) besiegelt (Czap. [14] 32, 53ff). Die als kika bezeichneten Verwandtschaftsverbände der B a g a n d a Ostafrikas wird man wohl richtiger als „Sippen" denn als Klans anzusprechen haben. Eine solche kika leitet ihren Ursprung auf einen gemeinsamen Ahnen und gemeinsame Totems, miziro (plur.), zurück. Alle Männer gleichen Alters bezeichnen sich als Brüder, die Frauen als Schwestern, die jüngere Altersschicht nennt die älteren Personen Vater beziehungsweise Mutter usw., Kinder der gleichen Mutter werden als lubuto, des gleichen Vaters als kitabwe omu bezeichnet. Jede Sippe besitzt zwei Totems: ein Haupttotem, unter dem die Sippe bekannt ist, und ein zweites weniger bekanntes; das erstere wird muziro (sing.), das andere kabiro benannt. Beide Totems werden heilig gehalten und dürfen nicht zerstört werden. Die Frau nimmt ihres Mannes Totem an, behält jedoch auch ihr eigenes bei. Ebenso müssen die Kinder beider Eltern Totem respektieren. Jedoch pflegen sie die Totems ihrer Mutter zu vernachlässigen. Jede Sippe besitzt ihre Ländereien, die sich gewöhnlich auf einem Hügel befinden, an dessen Hängen die Gärten angelegt werden. Jede diese Ländereien wird von einem Oberhaupt beaufsichtigt, das für das Verhalten der Mitglieder seiner Abteilung ( siga ) verantwortlich ist und als deren „Vater" bezeichnet wird. Der „Vater" der ganzen Sippe hat die wichtigsten Ländereien inne. Viele dieser Sippen hatten ihren Familien-Gott Lubare oder betreuten eine der ihnen anvertrauten Gottheiten; in einem solchen Fall wurde der Sippenhäuptling, auf dessen Grundstück der Tempel stand, der Priester der betreffenden Gottheit und hatte für den Tempel zu sorgen. Die Tempel befanden sich gewöhnlich auf den Spitzen der Hügel und waren von gutem Land umgeben, das als Eigentum der Gottheit galt. Außer diesen alten F a m i l i e n l ä n d e r e i e n gab es andere von geringerer Bedeutung, die tatsächlich Unterabteilungen von ursprünglich ausgedehnteren
Sippe
79
Ländereien waren, nämlich Boden, in dem drei oder vier Generationen des Zweiges einer Sippe b e g r a b e n worden waren. Dieses Land war auch f r e i e s E i g e n t u m des Zweiges der Sippe, welcher darauf gewohnt h a t t e ; die anderen Zweige (siga) besaßen darauf kein Anrecht. Die Angehörigen eines Sippenzweiges ordneten sich nicht einem Angehörigen eines anderen Sippenzweiges unter, der über sie als Nachfolger eines verstorbenen Häuptlings gesetzt war, obgleich sie das Recht der Sippe anerkannten, ein Mitglied ihrer eigenen Sippenabteilung f ü r dieses Amt zu bestimmen. Die Häuptlinge mußten auf der H u t sein, das Volk davon abzuhalten, ihre Toten auf den Feldern zu begraben, weil diese sonst dadurch zu P r i v a t l a n d wurden. Selbst der Fürst mochte nicht eine Familie von dem Grundstück vertreiben, auf dem es ihr gelungen war, drei Generationen hindurch ihre Toten auf dem gleichen Platz zu beerdigen: er fürchtete den Zorn der Geister. Entdeckte man Leute, die einen Toten in einem Garten bestatteten, so veranlaßte man sie, den Leichn a m hinweg nach ihrem Familiengrundstück zu bringen. Die auf F a m i l i e n g r u n d s t ü c k e n angesiedelten Leute nannte man Bataka = Grundbesitzer. Diese Bezeichnung wurde öfter spöttisch gebraucht, ähnlich wie etwa unser Ausdruck „Vetter vom Land". Die Fürsten wurden auch Bataka genannt, weil sie Land besaßen. — Alle Sippen waren exogam, nur nicht die Lungenfisch-Sippe. Der Grund dafür mag darin zu suchen sein, daß ein Zweig der genannten Sippe von einem anderen Teile des Landes gekommen war und die Väter eines jeden der beiden Teile anderer Abstammung waren; auch besaßen die beiden Teile dieser Sippe andere zweite Totems. — Unter diesen Sippen herrschte früher eine H e i r a t s o r d n u n g , nach der es sich für einen Mann gehörte, seine zweite Frau von der Sippe seiner väterlichen Großmutter zu nehmen. Diese Frau, nasaza, h a t t e ihrem Gatten das Haar und die Nägel zu schneiden. — Die Sippen gruppierten sich in A b t e i l u n g e n , Zweige, entsprechend ihrem Grundeigentum. Das Oberhaupt einer siga h a t t e das Recht, Streitigkeiten zuentscheiden und Ansprüche innerhalb seiner Abteilung zu schlichten. Die Sippenzweige zerfielen wieder in U n t e r a b t e i l u n g e n : enda, deren Oberhaupt ebenfalls richterliche Gewalt zufiel, obgleich seine Angehörigen an die siga und weiterhin an die kika appellieren konnten. Von ihrem Grundeigentum konnte eine Familie nicht vertrieben werden, obgleich ihr Oberhaupt, wenn es dem König nicht paßte, abgesetzt werden konnte. Dann präsentierte sie jedoch einen anderen Mann als dessen Nachfolger. So ist dieser Grundbesitz n i c h t als persönlicher anzusehen, sondern als F a m i l i e n g u t . Als echte siga einer Sippe galten diejenigen, die von den Söhnen oder Enkeln eines Mannes abstammten, den man „Sippenvater" genannt h a t . Aber auch durch die sonstige V e r m e h r u n g der Sippe entstanden Abzweigungen. Eine Sippe konnte sich so in zwei oder mehrere siga aufspalten. Die Unterabteilungen (enda) der angewachsenen siga hatten gewöhnlich keine eigenen Begräbnisplätze. Starb das Oberhaupt einer enda. so versammelten sich die anderen enda- Schulzen zusammen mit dem „ V a t e r " der siga und bestimmten den Nachfolger, welcher der verwaisten enda entnommen wurde und häufig der Sohn des Verstorbenen war. In ähnlicher Weise
80
Das
Funktionieren
egalitärer
Verbände
wurden auch die anderen Nachfolger von Abzweigung und Sippe nominiert. Die Abzweigungen und Unterabteilungen der Sippe hatten Totems und sonstige Lebensordnungen mit den anderen Angehörigen der Sippe gemein (Rose. [11] 133ff). — Vgl. a. Crooke [14]; Lgf. [19/20]. Die Sippe in der sozialen Struktur. — Bei den D s c h a g g a Ostafrikas beruht die soziale Struktur des Volkes auf den Sippen. In der ca. 7000 Seelen zählenden Häuptlingschaft Moschi gibt es über 80 selbständige Sippen. Davon sind 40 alteingesessen. Einige dieser Sippen tragen den Namen eines weiblichen Vorfahren; sonst tragen die Sippen den eines männlichen Urahnen. Die Sippe zerfällt in „ H ä u s e r " und „ R i p p e n " nach dem Namen der Mütter. Die Sippe wird im östlichen Dialekt als Os'ari, im westlichen Dialekt als Ufjari bezeichnet ( = Gebärakt bei Tieren). Wie sehr diese Sippen als L o k a l r a s s e n angesehen werden, geht daraus hervor, daß man für die einzelnen Sippen verschiedene Zeitdauer für das Austragen des Kindes ansetzt; so unterscheidet man Sippen, in denen das Kind in 9 Monaten, andere in 10 oder gar 11 Monaten reifen soll. Der S i p p e n t y p beeinflußt nicht nur die Frauen, sondern auch die Kinder. Die Lebenseinheit der Sippen ruht nicht nur im Blute, sondern ebensosehr in der Muttermilch. Darum kann die Annahme eines fremden Kindes durch Darreichen der Mutterbrust vor sich gehen. Die Opfergemeinschaft der Sippe wird durch einen R i t e n - A l t e n geleitet, der das gemeinsame Opfer darbringt: er bespeichelt das Opfertier zuerst, nach ihm tun es die anderen. Durch die Bespeichelung soll das Opfertier Träger der Sippenkraft werden und diese dem Ahnen zuführen. Neben ihm steht der R e c h t s v o r m u n d , ein angesehener, manchmal verhältnismäßig junger Mann, dem das Vertrauen der anderen entgegengebracht wird, und der die Interessen der Sippe vor allem auch beim Häuptling, insbesondere bei den Steuerleistungen, zu vertreten hat. Auch der Ausgleich von innerhalb der Sippe entstandenen Zwiespältigkeiten und Gegensätzen fällt ihm zu. E r kann auch ein schädliches Mitglied aus der Sippe ausstoßen, und zwar in Gegenwart aller Sippenangehörigen vor dem Häuptling. Besondere Bezüge kommen dem Rechtsvormund nicht zu, jedoch verschiedene zeremonielle Ehrenrechte. Die Sippe kommt im allgemeinen mit dem mildesten Zwange aus. Jedes neugeborene Kind bedarf einer besonderen A u f n a h m e z e r e m o n i e in die Sippe. Diese erfolgt durch den Schwiegervater der Mutter und dessen Sippenbrüder. Die selbständigen Sippen, aus denen sich die 11 Häuptlingschaften zusammensetzen, sind auf etwa 400 zu veranschlagen (Gutm. [26] l f f , 217ff). Abspaltungen und Wandlungen. — Die Zahl der Sippen ist bei den K p e l l e Westafrikas prinzipiell in der Weise festgelegt, daß jeder Neugeborene von vornherein einer bestimmten Sippe angegliedert wird. Tatsächlich entstehen jedoch neue Sippen dadurch, daß eine Kleinfamilie sich in einer unbebauten Gegend ansiedelt, dort eine neue Niederlassung gründet und so ihre Nachkommen allmählich zu einer eigenen Sippe zusammenschließt. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der älteren Sippe geht dabei zwar nicht ganz verloren, wird jedoch um so loser, j e weniger der persönliche Zusammenhang aufrecht erhalten wird. Trotzdem bleibt als verbindende Einheit das gemein-
Sippe
81
same Verbot des Genusses bestimmter Tiere oder Pflanzen oder der Verrichtung gewisser Handlungen erhalten. Die T a b u - G e m e i n s c h a f t fällt nach der Meinung der Eingeborenen und auch tatsächlich zusammen mit wirklich gemeinsamer Abstammung. Sie ist ein Erkennungszeichen, das alle Angehörigen zu einer Brüderschaft verbindet, wenn ihnen auch die Erinnerung, stammverwandt zu sein, längst abhanden gekommen ist. Solche durch gemeinsames Tabu verbundenen Genossen sind einander uneingeschränkte H i l f e schuldig, sie dürfen vor Gericht nicht gegeneinander zeugen, und im Fall einer Anklage oder anderen Gefahr muß jeder unbedingt zum anderen stehen. Der Reisende erkundigt sich am fremden Ort sofort nach einem TabuGenossen, bei dem er wohnen kann, Gastrecht, Schutz und Beistand wie ein naher Verwandter genießt. Das Tabu vererbt sich vom Vater auf die Kinder, häufig nehmen aber diese daneben das der Mutter an. Die Frau behält bei ihrer Verheiratung ihr eigenes Tabu, fügt ihm aber manchmal das ihres Mannes zu. — Die Sippe ist vor allem auch die W i r t s c h a f t s e i n h e i t , welche die Kleinfamilie an Bedeutung weit überragt; denn jedes Familienmitglied hat einen Teil seines Arbeitsertrages der Sippe abzuliefern, der es angehört; ein anderer Teil gehört ihm persönlich, so daß dem Haushalt der Kleinfamilie nur etwa ein Drittel des Arbeitsertrages zufließt. Das Haupt der Sippe ist ihr ältestes männliches Mitglied, sofern dieses sich im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte befindet. Sie besteht aus dieses Mannes Brüdern und Vettern, deren Kindern, Enkeln und Urenkeln, sowie aus allen im Besitz der Sippenmitglieder befindlichen Hörigen, stellt also eine große , , f a m i l i a " eine „Herrschaftsfamilie" dar. Unter den Sippengenossen gebraucht man nur die Bezeichnung: Großvater, Vater, Bruder und Sohn und entsprechend die weiblichen Verwandtschaftsbezeichnungen. So können zwei Vettern, die sich als Brüder bezeichnen, weder Vater noch Mutter gemeinsam haben. Jeder Ehegatte verbleibt auch nach seiner Heirat in der Sippe, in der er geboren ist, und untersteht den Weisungen seines Sippenhauptes, einerlei, ob er am gleichen Orte wohnt oder nicht. Die Kinder werden der Sippe der Mutter zugerechnet, und der älteste Mutterbruder führt die Aufsicht über sie; jedoch beerben die Kinder den Vater (Westm. [21] 54ff). Die alten c h i n e s i s c h e n Gesellungseinheiten, die einen gleichen Familiennamen tragen, erscheinen heute wie Sippen und werden als solche bezeichnet. Sie sind exogam und regeln die Verwandtschaftsberechnung nach vaterrechtlichem Gesichtspunkt. Eine genauere Untersuchung zeigt jedoch, daß diese Gemeinschaften das Ergebnis verschiedener Veränderungen an einer älteren Sippenverfassung sind. Die Angehörigkeit zu einer alten Sippe war früher ein Zeichen des Adels, der sich als die „100 Sippen" bezeichnete. Diese Gesamtheit der alten Sippen wurde in Gegensatz zu dem „schwarzhaarigen" Volk oder der unteren, d. h. der großen Masse gesetzt. (Ein ähnlicher Gegensatz durchzieht bekanntlich auch das sumerische Volk, in dem man in ähnlicher Weise von der unteren Schicht als den „Schwarzköpfigen" redet.) — Später breitete sich die sippenähnliohe Einteilung nach gemeinsamen Familiennamen über das ganze Volk aus. Parallel mit dieser Erweiterung der 6 Thnrnwald IV.
82
Das Funktionieren
egalitärer Verbände
alten Sippenorganisation geht eine andere Veränderung vor sich. Zur Zeit der alten Adelssippen machte die „Gemeinschaft der Leute mit gleichen Familiennamen" noch nicht eine unabhängige exogame Gruppe aus, sondern eine manchmal ganz erhebliche Zahl von durch einen Namen vereinigten Familien bildete eine „Sippe". Diese alten Sippen waren teilweise wieder einer höheren Einheit untergeordnet. Einige Gruppen der alten Sippen leiteten nämlich ihre Abstammung zurück auf einen gemeinsamen Ahnen und betrachteten sich daher als untereinander blutsverwandt. Solche Verbindungen verwandter Sippen kann man als „ P h r a t r i e n " bezeichnen. Die bedeutendste Phratrie besteht aus den Sippen Ki, P'eng, Yün, Ts'ao und Chen, die ihre Ahnen auf Chuan-höh zurückführen, die kleinste Phratrie besteht aus den Sippen Kuei und Yao, die Shun als ihren Ahnen ansehen. Die Ausgestaltung der durch Namen verbundenen Familien zu „Sippen" und das Übergreifen dieser Gruppierung auf das ganze Volk fand in einer historischen Periode statt und spiegeln sich in gleichzeitigen Quellen. Der soziale Umschwung beginnt mit der älteren Chou-Dynastie und wird abgeschlossen mit dem Ende der Chou-Periode. Geht man noch weiter zurück, so wird man zu der Vermutung gedrängt, daß die durch den Namen verbundenen Familien die Bezeichnung gewisser Gebiete tragen. Diese durch den Namen verbundenen Familien hängen wieder mit den alten Sippen in der Weise zusammen, daß, wie man annehmen muß, sie von den alten Sippen sich dadurch absplitterten, daß einzelnen Angehörigen der Sippe L a n d e i g e n t u m verliehen wurde. Es fand somit eine Auflösung der Sippen in unabhängige, durch den Namen verbundene Familien innerhalb des Sippenverbandes statt. Diese Auflösung muß, wenn auch nicht sehr früh, so doch schon einige Zeit vor Beginn des frühgeschichtlichen Zeitalters eingesetzt haben. Unter den alten eingeborenen Sippen kann die Aufspaltung der ersten Reihe von durch Namen verbundenen Familien in solche einer zweiten und dann wieder einer dritten Reihe innerhalb der historischen Epoche verfolgt werden. Die Ursachen für diese Veränderungen sind in der Überlassung von Lehen, der Übertragung von erblichen Ämtern und dgl. zu suchen, während die Aufspaltung einer Sippe in durch Namen verbundene Familien der ersten Reihe nur an ursprünglichen Sippen fremder Herkunft beobachtet werden kann; besonders deutlich an der Sippe Ki, die in China während der Invasion der Chou im 12. Jahrhundert v. Chr. wohnte. Die älteste Form der Sippenorganisation der herrschenden Adelsschicht enthielt in der ältesten bekannten Zeit keine vertikale Differenzierung, keine Schichtung unter den Vorfahren der Chinesen; die Sippe stand in keiner festen Verbindung mit einem Territorium, sondern jede Niederlassung enthielt Angehörige verschiedener Sippen. Diese Sippen stellten aber gemeinsam eine Herrschaftsschicht dar (Hai. [24] 76ff). Nach der Sage haben bei den Navajo-Indianern die Sippen begonnen, als die Menschen aus der Unterwelt vertrieben wurden; die Phratrien (Stammeshalbierungen) seien später nach Sippen geordnet worden. Die meisten Sippen tragen Ortsnamen, wie z. B. „Bitterwasser", weil die betreffende Gruppe am Brackwasser gewohnt habe; „rotes Haus", weil sie in einem roten Hause
Sippe
83
lebten. Die nach Tieren benannten Sippen, wie z. B. „viele Ziegen", scheinen verhältnismäßig jungen Ursprungs zu sein. Alle Angehörigen der gleichen Phratrie gelten als Brüder und Schwestern, und die Kinder gehören der Sippe des Vaters an. Die Verwandten von des Vaters Sippe und Phratrie werden als Vettern und Basen betrachtet, die Heirat zwischen Geschwistern und zwischen Vettern und Basen ist verboten. — An verschiedenen Orten werden die Sippen oft verschieden benannt. Jedoch weiß man, welcher Name einer Sippe dem an einem anderen Orte entspricht. Man hält sich daran und erkennt demgemäß seine Freunde (Bux. [23] 293ff, 308). Die sozialen Gruppen der JZa-sprechenden Völker von Nordrhodesien sind Familie, Sippen und Siedlungsgemeinschaft. Erstere stellt eine Großfamilie vor, die auf den Beziehungen und der Autorität des Vaters aufgebaut ist. Die Sippe jedoch ist mutterrechtlich. Die Siedlungsgemeinschaft scheint vor allem das Ergebnis einer Uberlagerung mit einer Häuptlingsschicht zu sein. — Die Sippen tragen totemistischen Charakter, indem sich ihre Angehörigen nach einem Tier, einer Pflanze oder einem Gegenstand bezeichnen, mit dem sie in einer gewissen Beziehung zu stehen wähnen, und den sie mit Verehrung behandeln. Insbesondere trägt man auch Bedenken, den Namen des Sippen-Totems zu nennen. Die Sippen meinen, daß sie von gewissen ö r t lichkeiten herstammen. Auch glauben sie, nach dem Tode in bestimmte Tiere überzugehen, z. B. in Hasen, Löwen usw. Das Totem h a t indessen mit diesen beiden Vorstellungen nichts Unmittelbares zu tun. Man meint, daß z. B. das Nashorn als Totem-Tier ursprünglich ein Mensch gewesen sei. Von diesem Menschen stamme der betreffende Klan. — Die Sippen sind streng exogam. Angehörige verschiedener Sippen, die im gleichen Dorfe leben, dürfen heiraten. Bewohner verschiedener, weit entfernter Siedlungen dürfen aber, wenn sie derselben Sippe angehören, in keine sexuelle Beziehung miteinander treten. Finden dennoch Heiraten unter Angehörigen des gleichen Sippe statt, so werden sie mit Abscheu betrachtet, und jene manchmal aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Das Totem-Tier wird derartig wie ein Verwandter betrachtet, daß auch sein Verzehren in der Regel als unerlaubt gilt. — Obgleich vorwiegend ein Mann sich zur Sippe seiner Mutter bekennt, scheint heute die Erschütterung des Sippen-Systems so weit fortgeschritten, d a ß manchmal auch die Sippe des Vaters neben der der Mutter, ja manchmal n u r die des Vaters angegeben wurde. Jedenfalls besteht die Tendenz, die Sippe des Vaters auch noch zu berücksichtigen. — Was eigentlich die Sippe bedeutet, gelangt darin zum Ausdruck, wenn gesagt wird: die wahre Sippe ist diejenige, die sich offenbart, wenn einer in N o t oder K r a n k h e i t ist. Die Sippen-Genossen, die dann erscheinen, sind die wahren. Was sonst zur Sippe gerechnet wird, ist bloße „Bekanntschaft", keine echte „ S i p p e " ; n u r die sind von der richtigen Sippe, die in allen Nöten helfen. — Wie sehr derartige Gesichtspunkte gegenüber der bloßen Blutverwandtschafts-Berechnung bereits zu überwiegen beginnen, zeigt die Tatsache, daß das Kind einer Sklavin mit einem Freien in der Regel des Vaters Sippe zugerechnet wird. J a , ein solches Kind wird sogar mit Vorliebe als Häuptling einer S i e d l u n g s g e m e i n s c h a f t gewählt, weil man annimmt, daß ihm mehr die Interessen 6*
84
Das Funktionieren
egalitärer
Verbände
der Siedlung am Herzen liegen als einem anderen, das durch die Sippen-Interessen seines mütterlichen Klans gebunden ist. — Die Bedeutung der Sippe liegt hier also vor allem in der wechselseitigen H i l f e , die Mitglieder einander leisten. I n erster Linie ist es die Blutrache, durch die im Falle einer Mordtat die Sippe eintritt. Zur Verheiratung eines Mädchens muß die Sippe ihre Zustimmung erteilen. Fremde Ba-ila, die sich irgendwo treffen und die Zugehörigkeit zur selben Sippe feststellen, sind sofort Freunde. Fällt einer in Sklaverei, so suchen seine Sippen-Angehörigen das Lösegeld aufzubringen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl geht so weit, daß Angehörige eines gleichen Totem-Tiers, z. B . der Ziege, auch wenn sie aus einem a n d e r e n V o l k stammen, z. B . von den Muluba, in einem Dorfe beim Totem-Genossen Gastfreundschaft finden. Die einigenden Bande der Sippe und der totemistischen Symbolgemeinschaft erstrecken sich selbst auf Fremde (Smith u. D. [20] 1 187 ff; Thom. [10] 1; Gutm. [23] 248). Verfall der Sippe. — Ein weitläufiges Sippen-System, innerhalb dessen jedoch der Familie ein weiter Spielraum gewährt ist, bieten die Z u n i von Neu-Mexiko. Die Sippen-Angehörigen betrachten sich als untereinander verwandt und gebrauchen Verwandtschaftsbezeichnungen. Die Verwandtschaft wird in der mütterlichen Linie berechnet, doch verleugnet ein Kind nicht die Beziehungen zur Sippe seines Vaters, mit dem es noch verschiedene andere Verbindungen unterhält. Obgleich die Sippe eine totemistische Bezeichnung führt, fehlt doch der Gedanke an eine Abstammung oder an einen geistigen Zusammenhang mit dem Tier oder dem Gegenstand, nach dem die Sippe benannt wird. Auch bestehen diesbezüglich weder Tabus noch Meidungen. Völliges Heiratsverbot gilt gegenüber der Sippe der Mutter. Die Verbindung eines Mannes mit einer Angehörigen aus des Vaters Sippe wird als ungehörig betrachtet, wenn eine Blutverwandtschaft innerhalb der letzten Generationen nachgewiesen werden kann. Auch wenn dies nicht möglich ist, wird eine solche Verbindung mißbilligt. Es gibt weder ein Sippen-Haus noch einen Sippen-Rat noch auch einen Sippen-Häuptling. Die Bedeutung der Sippe ist bereits derart zurückgegangen, daß für das alltägliche Leben nur das Zusammenwohnen, die bekannte Blutsverwandtschaft, persönliche Freundschaft und Nachbarschaft hauptsächlich in Betracht kommen. Die Bedeutung der Sippe hat sich auf das zeremonielle und religiöse Leben zurückgezogen, so namentlich auf Opfer und Tänze (Kroeb. [17] 48f). — Es gibt 15 Sippen unter den Zuni, von denen die größte etwas über 400 Leute umfaßt, während die kleinste nur mehr 3 oder 4 zählt. Unterabteilungen der Sippe sind zwar nicht mehr von sozialer Bedeutung, weisen jedoch auf einen Zusammenhang des Sippen-Systems der Zuni mit dem anderer Pueblo-Indianer hin (91, 140ff). Als charakteristischer Zug kann dabei die Tendenz zu einer Paarung der Sippen hervorgehoben werden, wobei manchmal Paare noch einmal gepaart werden, so daß eine vierfache Zusammenballung erfolgt. Kroeb. (143) betont den Zusammenhang solcher SippenPaarungen mit der Halbierung. Wenn auch heute der offizielle politische Einfluß der Sippe verschwunden ist, so muß man doch in Betracht ziehen, daß die Quelle aller heiligen und profanen A u t o r i t ä t unter den Zuni
Sippe
85
bei gewissen P r i e s t e r n liegt, die ihren Ursprung, ihre Heiligkeit und auch ihren Namen von gewissen Fetischen herleiten (wie das z. B. in ähnlicher Weise unter westafrikanischen Stämmen von Loango der Fall ist). Die Priesterschaft seihst ist jedoch auf bestimmte F a m i l i e n einer Sippe beschränkt (167, 182). Auch verschiedene zeremonielle Funktionen dürfen nur Mitglieder einzelner Sippen ausüben. Bei der politischen Leitung tritt heute das Streben zutage, jede Sippe ungefähr im Verhältnis zu ihrer Kopfzahl daran teilnehmen zu lassen (182). — Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es heute bei den Zuni mit einer komplizierten Organisation zu tun haben, bei der neben der Sippe noch Brüderschaften (a. a. 0 . 15Off) und zeremoniale Gesellschaften (161 ff) sowie Priesterschaften (165 ff) auftreten. Diese Tatsache allein weist auf verschiedene geistige und soziale Einflüsse hin (186 ff), die zur Zersetzung der nur auf Verwandtschaft beruhenden Sippen beitrugen und zur Bildung von durch andere Kräfte zusammengeschlossenen Gruppen führten. Die Ahnen der Priestergeschlechter sind bei den K ägaba-Indianern von Columbien (Südamerika) zugleich die Ahnen des ganzen Volkes, so daß ein jeder seinen Ursprung auf eine der 4 ersten Sippen (cisuama täukekuei) zurückführt, die namentlich häufig als Ursprung der Novizen genannt werden. Gewöhnlich werden die Ausdrücke taukai oder zitaukäi, auch sana, gebraucht, die Stamm, Geschlecht, auch in bezug auf die sogenannten „jüngeren Brüder", das sind alle Fremden, bezeichnen. Die Einteilung in nicht mehr als 4 Geschlechter hängt mit einer m y t h o l o g i s c h e n S y s t e m a t i k zusammen, die sich jedoch wieder mit einer anderen Systematik von eigentlich 5 Urvätern nicht ganz deckt. Jedes der Geschlechter nimmt einen der Urväter für sich in Anspruch, und ihre Bezeichnungen sind augenscheinlich von den Urvätern hergenommen. Ein Zurückzählen der Vorfahren bis auf die Urahnen findet außer bei den Priestergeschlechtern nicht statt, und die Angaben, zu welchem Geschlecht der einzelne gehört, erscheinen willkürlich. Diesem Schematismus entspricht es, daß auch 4 Frauengeschlechter angenommen werden, die von den Schwestern der Urväter oder auch anderen Personen hergeleitet werden. Doch gehen die Namen hier sehr auseinander. Außer den Namen der 4 ursprünglichen Geschlechter gibt es eine nicht große Anzahl von Familiennamen, von denen manche viele Individuen umfassen. Diese Namen sind jedoch erst durch die spanischen Patres eingebürgert worden, die bei der Taufe einen christlichen Vornamen gaben. Dieser unterschied sich aber nicht von anderen, während die einheimischen Namen, die die Kägaba-Priester bei ihrer Taufe den Neugeborenen beilegten, nicht nur in derselben Generation von allen anderen abwichen, sondern auch niemals mit früheren Namen übereinstimmten, es sei denn durch einen besonderen Zufall. Wohl deshalb und in Nachahmung der spanischen Namen wurden Vatersnamen eingeführt, die sich, wie das Gut des V a t e r s auf die Söhne, auf die Kinder vererbten. Man hört deshalb manchmal sagen, daß z. B. Seokukui aus dem Geschlecht Dingula ist, weil die Priester von Takania, deren Urahn Seokukui ist, den Familiennamen Dingula führen. Da es Sitte ist, daß der Mann im Dorfbezirk seiner Frau bleibt, so heiratet er fast aus-
86
Das
Funktionieren
egalitärer
Verbände
schließlich ein Mädchen aus demselben Dorf oder den zugehörigen Siedlungen. Auf diese Weise bleibt der Familienname gewöhnlich im Dorfe, obwohl durch Auswanderung und Anlage neuer Dörfer manche Verschiebungen eingetreten sind. Heute kommt es zuweilen vor, daß ein Indianer sich als Beinamen den Familiennamen eines Kolumbianers zulegt oder ihn von diesem erhält, weil er sein Taufpate war oder sonst in besonderen Beziehungen zu ihm gestanden hat (Preuss [19/20] 1065ff). Daraus geht hervor, daß eine alte Sippeneinteilung hier wohl längst in Verfall geraten ist und nur noch in einer von den Priestern gepflegten mythologischen Systematisierung die Erinnerung daran fortlebt. Auflösung der Sippe. — Innerhalb der verhältnismäßig hoch entwickelten und geschichteten p o l y n e s i s c h e n Gesellschaft scheinen die Sippen in Auflösung begriffen zu sein. Die auf Abstammung beruhenden Rangunterschiede, die durch verschiedene ethnische Zugehörigkeit begründet sind und durch die Momente der Herrschaft verstärkt werden, haben auf der einen Seite die Bedeutung der Familie, auf der anderen die des SiedlungsVerbandes, des Dorfes, in den Vordergrund gerückt, so insbesondere auf Samoa (Willms. [24] 2 l f f ) . Wenn die einzelnen Distrikte auf Samoa auf ihren Kanus oder auf ihren Häusern einen Vogel, einen Hund oder ein Bündel Blätter anbrachten, so wird man darin mit Recht den Rest von Sippen-Abzeichen erblicken dürfen (317ff). Nach allem, was wir gehört haben, ist es nicht verwunderlich, wenn berichtet wird, daß zur Sippe der japanischen Urzeit nicht nur Blutsverwandte, sondern auch Fremde gehörten. Die alte japanische Sippe stellte eine Gemeinschaft von Menschen dar, die denselben Ahnen verehrten; sie war also im wesentlichen nur mehr eine Kultgemeinschaft. Daran nahmen auch die Leibeigenen teil, die keine eigenen Ahnen verehrten, sondern die ihrer Herren (Heber [16] 402). Bezügl. Griechenland vgl. A. E . Zmm. [22]. § 5. D e m o k r a t i e Man hat auf den „demokratischen" Charakter vieler politischer Gefüge der Naturvölker, insbesonders der niedrigeren Gemeinwesen, hingewiesen. Unter Demokratie versteht man die ungeschmälerte und gleiche Berechtigung aller erwachsenen männlichen Mitglieder einer Gemeinschaft, an der Leitung von deren Geschicken in entscheidender Weise teilzunehmen, nicht aber wirkliche Gleichstellung aller Mitglieder der Gemeinschaft. Die moderne Demokratie unterscheidet sich von der primitiven, die wir auch in manchen archaischen Staatswesen der höheren Völker historischer Zeit wiederfinden, dadurch, daß sich in der Volksversammlung dieser Gemeinwesen die sämtlichen Mitglieder persönlich zusammenfinden und an den Beratungen beteiligen können. In den primitiven und archaischen Verbänden, wie z. B. in einer papuanischen Dorfgemeinde oder in dem athenischen Stadtstaat oder in dem isländischen Allthing, war das wegen der verhältnismäßig geringen Zahl der erwachsenen Männer, aus denen diese Verbände bestanden,
Demokratie
87
möglich. Allerdings sind die erwähnten alten Gemeinwesen vielfach schon keine reinen Demokratien mehr, und zwar deshalb, weil die Sklaven und Hörigen von der Teilnahme an den Volksversammlungen ausgeschlossen waren. In diesen Fällen kann man nur von einem egalitären Prinzip innerhalb der Oberschicht reden. Bei den niedrigsten Stämmen ergibt sich die reine demokratische Form der Organisation schon aus den gesamten L e b e n s v e r h ä l t n i s s e n . Bei diesen Stämmen fehlen die Faktoren, welche bei höheren Völkern Unterschiede hervorrufen: der Besitz am Boden ist gemeinsam; Haustiere, die als Wirtschaftswerte in Betracht kämen, gibt es nicht außer dem Hund; Werkzeuge und Geräte sind nur wenige vorhanden und gelten ebenso wie die Beute von Jagd oder Fang oder der Ertrag des Sammeins mehr als Zubehör der Persönlichkeit ; sie sind für unmittelbaren Gebrauch und Genuß bestimmt, nicht wirtschaftliche Werte, denen für die ganze Lebensführung der Menschen unterscheidende Tragweite innewohnt. Auch gibt es nicht Schichten verschiedener ethnischer Abstammung, die sonst so wichtig für die Gliederung der Gemeinwesen sind. Die Heiraten werden gewöhnlich innerhalb weniger Familien geschlossen. Die Gemeinden umfassen bei den niedrigen Stämmen oft nicht mehr als 15 bis höchstens 50, 70 oder 80 Köpfe. Es ist Grund zur Annahme vorhanden, daß auch die schweifenden Horden der älteren Steinzeit nicht größer waren (Soerg. [22] 147). Vedder sagt (17) von den Bergdama, daß sie weder Könige noch Häuptlinge noch Gewalthaber in dem Sinne kennen, daß sich verschiedene durch Verwandtschaft nicht miteinander verbundene Familien unter der Leitung und dem Schutz eines gemeinsamen Oberhauptes zusammenfinden. „Die Bergdamawerft hat nur Raum für eine einzige Familie im umfassenden Sinne ( = ,Sippe'), und das Familienoberhaupt ist zugleich das Werftoberhaupt (Werft = Lager)." Ähnliches berichtet Stuhlm. [94] von den ostafrikanischen Zwergvölkern (845, 854). Von den Feuerländern sagt Bridges (84, 184), daß sie jedem Gedanken an Überordnung und Autorität feindselig gegenüberstehen. Sie anerkennen nur eine Überlegenheit der Moral und Intelligenz, doch nur innerhalb eines kleinen Kreises von Freunden, und nicht in der Weise, daß sie Raum für eine Herrschaft geben könnte, die übrigens auch von keinem angestrebt und durch keinen gefördert werden würde. Das bezieht sich auch auf Zauberer,-welche höchstens Ratschläge geben. Diese demokratischen Gemeinwesen sind indessen doch nach biologischen Gesichtspunkten, nach Alter und Geschlecht, gegliedert. Diese Gliederung scheint immerhin von so großer Bedeutung zu sein, daß ihr in den Verwandtschaftsbezeichnungen in nachhaltiger und umständlicher Weise Rechnung getragen wird. Die Bedeutung dieser „verwandtschaftlichen Auszeichnungen" besteht darin, daß sie mit gewissen Verrichtungen, Zeremonien, Verpflichtungen und der Heiratsordnung verbunden erscheinen. Doch treten auch davon unabhängig i n d i v i d u e l l e Unterschiede der Begabung, Initiative und Kraft hervor, wobei es sich etwa um gelungenen Totschlag, ansehnliche Beute, um Gewinnung von Schädeln oder anderen Trophäen handelt mag. „Überall wo, durch die Verhältnisse gezwungen,
88
Das Funktionieren
egalitärer
Verbände
heute eine große Bergdamawerft künstlich entsteht", sagt Vedder (18), „entsteht auch der Versuch einzelner, sich Häuptlingswürde beizulegen, unterstützt von dem guten Namen, den etwa der Vater oder Großvater besaß, oder von der höheren Bildung, die ihnen die Schule vermittelte, oder von dem Vertrauensposten, den ihnen Regierung oder Dienstherr anwiesen. Selbst das Ältesten-Amt in christlichen Gemeinden bringt für manchen die Versuchung mit sich, sich als kleinen Häuptling aufzuspielen." Aber selbst wenn ausgezeichneten Familien ein besonderes Ansehen oder eine gewisse Funktion, wie z. B. die eines Zauberers, zufällt und in ihnen vererbt wird, leitet man daraus kein p o l i t i s c h e s Vorrecht ab. Die Voraussetzung dazu bildet stets, wie auch Vedder hervorhebt, daß nicht-verwandte Familien in Berührung miteinander treten, vor allem verschiedene einander fremde ethnische Verbände. Als Grundlage hält sich diese demokratische Verfassungsform i n n e r h a l b der Sippen, Geschlechter und Kasten, auch nachdem die betreffenden Gruppen in sozial geschichtete Staaten eingeordnet worden sind. Das demokratische Prinzip ist auch von Bedeutung im „ i n t e r n a t i o n a l e n " Zusammenschluß mehrerer Gemeinden. Was für Umstände zu einem solchen „Völkerbund" in den einzelnen Fällen geführt haben, ist nicht immer klar erkenntlich. In dem Falle der amerikanischen Totonaken scheint es sich z. B. um einen Abwehrbund gegen die Gefahr einer aztekischen Eroberung gehandelt zu haben (Krickbg. [18/22] 44, 45). Möglich, daß den „Kulturkongressen" kalifornischer Indianerstämme (Kroeb. [23] 307—9), ähnlich wie den australischen Verbänden zur Abhaltung der Jünglingsweihefeste (Knabh. [19] 194), Verwandtschaftsbeziehungen aus gemeinsamer Abstammung zugrunde liegen. Übrigens finden wir derartige Zusammenschlüsse, wie sie wohl aus ältester Zeit heute noch in der schweizerischen Eidgenossenschaft fortleben, ebenfalls unter den altirischen Gemeinden (Lavl. [75] 788). Auch aus dem alten Arabien hören wir durch Wellh. ([97] 85) von den „Amphiktionen des Haram von Mekka". Das demokratische Prinzip der Gleichheit beherrscht auch die Stellungnahme gegenüber allen Leistungen und Taten. So wie jede Übeltat ihre V e r g e l t u n g heischt, so wird auch für jede Leistung eine Gegenleistung gefordert, eine Erscheinung, die sich restlos durch alle primitiven Stämme zieht. In besonders charakteristischer Weise tritt dies z. B. bei den eigenartigen Kula- Geschäften auf den Trobriands-Inseln, östlich von Neu-Guinea, in Erscheinung. Ein beständiges Geben und Nehmen steht in Verbindung mit dem sozialen Leben, den Zeremonien in Religion und Zauberei. Dagegen kommen Geschenke ohne Gegengabe kaum vor. Kann eine Gegengabe im Augenblick nicht im vollen Maße geleistet werden, so muß sie wenigstens andeutungsweise erfolgen (Mal. [22] 113, 164, 173ff). Ähnliches kann z. B. auch von den Salomo-Inseln berichtet werden (T. [12] 3 37). Auch die Gastfreundschaft der arabischen Beduinen ist auf den Gedanken der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem aufgebaut. — Aus dieser Einstellung heraus ist auch die Gekränktheit verständlich, wenn die Gegenleistung nicht erfolgt. Darum gilt das Schuldigbleiben als eine Beleidigung, als eine Mißachtung der Persönlichkeit.
Politische
Entwicklung
IV. POLITISCHE § 1. P o l i t i s c h e
89
GEFÜGE
Entwicklung
Die in der Zeiten Flucht am weitesten zurückliegenden, uns auf Grund von Dokumenten noch erfaßbaren Gemeinwesen des alten Orients weisen einen Stand der politischen Entwicklung auf, der auf ein früheres Leben in kleineren Gruppen hindeutet. Wie letzteres beschaffen war, darüber fehlen uns verläßliche Anhaltspunkte. Man hat darüber spekuliert und wie immer gleich hinter dem Ende des historischen Wissens sich einen „Anfang" phantasiert, wie er der jeweiligen Geistesverfassung entsprach und sich dem Weltbild einfügte. Leider sind auch heute solche mit nur logischen und rationab'stischen Konstruktionen operierenden Methoden nicht ausgestorben. Das nur sehr langsam auf dem soziologischen Gebiet Boden gewinnende induktive Verfahren ließ es ratsam erscheinen, nach sichereren Anhaltspunkten für eine „Frühgeschichte" der politischen Gestaltungen Ausschau zu halten. Solche Anhaltspunkte boten die heute lebenden Naturvölker mit ihrer teilweise rasch dahinschwindenden Möglichkeit eines Lebens in verhältnismäßig abgeschlossenen, kleinen, politischen Gemeinwesen. Besteht die Wahrscheinlichkeit oder die Möglichkeit, daß die politischen Zustände der vorgeschichtlichen Zeit höhere, kompliziertere Formen aufwiesen ? Kaum ein vorurteilsfreier, mit der Kombination der verschiedenen Gegebenheiten rechnender Forscher dürfte das heute zu beweisen versuchen. Wie schon wiederholt betont wurde, kann man zwar nicht von einem geradlinigen Zug der Entwicklung reden, indessen wirkt sich die Akkumulation der t e c h n i s c h e n F e r t i g k e i t e n u n d E r f i n d u n g e n auch an dem Gebiete der politischen Gestaltungen im Sinne einer Zunahme der Vergesellung aus. Die eine Geschicklichkeit hat die andere zur Voraussetzung. Dies bedeutet eine erhöhte Meisterung der Umwelt und im Zusammenhang damit auch eine in einer bestimmten Richtung sich verändernde Stellung des Menschen zu seinen äußeren Lebensbedingungen, und zwar eine fortschreitende Emanzipation von Fesseln der Umgebung sowie eine zunehmende Möglichkeit, die Existenz des Einzelnen zu erhalten und zu sichern, den Bestand seiner Nachkommenschaft zu vervielfachen. Mehr und mehr machte sich der Mensch Tier, Pflanze und Gestein, Wasser, Luft und die verschiedenen anderen Naturkräfte Untertan. Diese Auswirkung läßt sich nicht in Abrede stellen: die Zahl der Menschen hat sich auf der Erde im Laufe der Geschichte außerordentlich vergrößert, die Gemeinden, in denen der Mensch lebt, wurden, von gelegentlichen Rückschlägen abgesehen, volkreicher, die Zusammenhänge unter diesen vielseitiger und komplizierter. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß Hand in Hand mit der Steigerung der Technik eine Mehrung des Wissens, eine Erweiterung seines geistigen Horizontes sich vollzog, die zu einer M e h r u n g u n d V e r t i e f u n g s e i n e r K e n n t n i s s e u m k a u s a l e Z u s a m m e n h ä n g e , um festere und sichere Bedingtheiten und Abhängigkeiten seines Lebens führte. Mit der wachsenden Technik der „ H a n d " war auch eine solche des „Kopfes", des Denkens verbunden.
90
Politische Gefiige
Dies alles wirkte sich auch in der Veränderung der politischen Gestaltung auf verschiedene Weise aus, wie noch erläutert werden soll. Allerdings ist es richtig, daß der Ablauf der menschlichen Kultur nicht allein durch die angeführten Faktoren der technischen u n d intellektuellen Akkumulation bestimmt wird. Wir haben noch andere Elementarkräfte in Rechnung zu stellen, die vielleicht am besten unter dem Gesichtspunkt der a r t e i g e n e n b e s c h r ä n k t e n R e a k t i o n s m ö g l i c h k e i t e n sowohl des Menschen als auch der Dinge seiner Umgebung zusammengefaßt werden können. Ob und wieweit diese arteigenen beschränkten Reaktionsmöglichkeiten zum Teil auch noch einer akkumulativen Tendenz in einem vielleicht unendlich langsamen Tempo ausgesetzt sind oder nicht, soll hier nicht weiter untersucht werden. Für uns k o m m t dabei in Betracht, daß sie überwiegend k e i n e r greifbaren Akkumulation unmittelbar unterliegen. Es sei daran erinnert, daß z. B. die Eigenart der Menschheit n u r zwei Möglichkeiten zuläßt: entweder Vaterfolge oder Mutterfolge. Der Übergang von der einen Institution zur anderen k a n n nicht als „ F o r t s c h r i t t " , als Ergebnis erhöhter Technik oder vertiefter Einsicht in die Kausalbedingungen, gedeutet werden. Dabei ist allerdings die Einschränkung zu machen, daß die Auswirkung von Fertigkeiten oder Wissen auf gewissen U m w e g e n das Pendel f ü r eine Zeit lang nach der einen oder anderen Seite stoßen kann. Das s u b j e k t i v e E m p finden einer Zeit wird eine derartige Veränderung vielleicht als „Fortschritt" buchen, andere mögen bei solchen Veränderungen von „Rückschritt" sprechen — jedenfalls bleibt die Wertung derartiger Wandlungen eine Beute subjektiver Auffassung. Auf den der Akkumulation ausgesetzten Gebieten bleibe jedoch jede Wertung beiseite, es handelt sich dort u m o b j e k t i v e Vorgänge. Uns interessiert hier vor allem, wieweit die akkumulativen Vorgänge die Veränderungen im Bau der politischen Gemeinwesen beeinflussen. Bereits erwähnt wurde die Tatsache, daß die führenden politischen Gemeinwesen von J a h r h u n d e r t zu J a h r h u n d e r t einen größeren Umfang aufweisen: Babylonien oder Ägypten vergleiche m a n mit Alexanders Reich, mit dem römischen Imperium, mit der schon die neue Welt umspannenden Herrschaft der Spanier zu Beginn der Neuzeit oder gar mit der heutigen britischen Weltmacht! Daneben zeigt sich aber, daß auch die übrigen politischen Gebilde eine T e n d e n z z u r A u s d e h n u n g aufweisen: von dem selbständigen Dorf zur Stadt, und weiterhin zum territorialen Staat, und daß darin die Auswirkung vor allem neuer technischer Verkehrs- und Mitteilungsmöglichkeiten vorliegt. Aber auch eine I n t e n s i v i e r u n g der Vergesellschaftung ist zu verzeichnen, die auf indirektem Wege über gewisse Umwege von der Technik zustande kommt. Denn die vervielfältigten Fertigkeiten vervielfältigten auch die Zweige spezialisierter Tätigkeit. Dadurch aber wurde die Verflechtung der Wirtschaft, nämlich der organisierten technischen Tätigkeit, komplizierter. Die politische Macht, die Führung der Gemeinwesen, mußte sich damit auseinandersetzen. Die jeweilige Einsicht in die Kausalzusammenhänge oder in das, was eben als solche galt, bildete die Basis, von der aus eine Stellungnahme erfolgte. Dazu gehört vor allem die
Politische
Entwicklung
91
S c h i c h t u n g verschiedener miteinander in Verzahnung geratener ethnischer Gruppen, die teils zu einer Heraushebung der einen als Adel oder als Kaste, teils zu einer Abhängigkeit der anderen als Hörige oder Sklaven führte. Der gesamte Gesellungsvorgang spielt sich als z e i t l i c h e V e r ä n d e r u n g s r e i h e ab, die immer neuen Bedingungen unterworfen wird. Auch die Konsolidiertingen in Gewohnheiten, Sitten, Gebräuchen, Einrichtungen sind gewissermaßen nur provisorische Lösungen, A u s b a l a n c i e r u n g e n von K r ä f t e n , die in einer Gemeinschaft zur Geltung gekommen sind. Keine neue Fertigkeit bricht sich Bahn, kein neuer Gedanke faßt Wurzel in einer Gruppe, keine Berührung mit Fremden findet statt, ohne daß daraus nicht n e u e K r ä f t e quellen, welche auch die O r g a n i s a t i o n des Ganzen früher oder später in Mitleidenschaft ziehen. So stellt sich das, was man „politische Entwicklung" nennt, als eine Veränderungsreihe dar, die vor allem von den akkumulativen Faktoren getragen wird. Indessen sind diese Veränderungsreihen nicht kontinuierlich, sondern sie führen über gewisse „ V e r k n o t u n g e n " , über einmalige und einzigartige h i s t o r i s c h e Gebilde. Was wir in der Wirklichkeit vorfinden, sind politische G e s t a l t u n g e n , für die wir die zu ihnen führenden Kräfte gedanklich wohl herauslösen können, die aber dennoch immer nur in ihrer komplexen Originalität allein verstanden werden können. Der Gang der Ereignisse ist keineswegs überall gleich. Sehr verschieden ist die Art der Lebensführung, wie sie durch Klima und Ernährungsbedingungen gestaltet wird, sowie durch die Notwendigkeit, sich mit einer gegebenen Umwelt (Küste, Gebirge, Wald, Wüste, Flußufer) nach dem jeweiligen Stand der Technik (Jäger, Sammler, Hirten, Hackbauer, Ackerbauer, Handwerker, Händler) auseinanderzusetzen. Vielfach führen v e r s c h i e d e n e W e g e zu ä h n l i c h e n G e s t a l t u n g e n . Das Zusammentreffen von Viehhaltern mit Gärtnern oder Jägern führt zu einem neuen politischen Gebilde: das eine Mal stellt sich uns der Gang der Ereignisse jedoch vom Gesichtswinkel des Jägers aus dar, das andere Mal von dem des Hirten oder endlich von dem des Gärtners. Die Schicksale der Einzelnen sind verschieden, sie münden indessen zusammen in einem neuen politischen Gemeinwesen, das schließlich häufig als ganz neues „ V o l k " in die Geschichte tritt. Diese Erscheinung erheischt noch unsere Aufmerksamkeit, weil man vielfach die Frage aufwerfen hört, was etwa aus den alten Iberern oder Ligurern geworden ist. Die politische Organisation dieser Stämme war zweifellos nicht anders als die heutiger Naturvölker, bei denen wir ebenfalls ein „Vers c h w i n d e n " vermöge verschiedener Faktoren beobachten können: durch Vermischung oder durch Angliederung an einen bestehenden politischen Verband oder durch Verschmelzung mehrerer zu einer neuen Einheit. Damit vollzieht sich häufig auch ein Wechsel der Bezeichnungen. Alte N a m e n verschwinden, neue tauchen auf. Andererseits garantiert das Weiterbestehen alter Namen, wie der Perser, Ägypter oder Griechen, weder den früheren Gehalt an Rassebestandteilen noch die politische Tradition von ehedem.
92
Politische
Gefiige
Gestaltungstypen. — Versuchen wir nun, auf Grund des ethnologischen Materials eine Staffelung der bunten politischen Gebilde der Naturvölker vorzunehmen und diese mit dem akkumulativen Ablauf in Beziehung zu setzen, so fällt uns zunächst einmal auf, daß die Bedeutung der Machtorganisation selbst sehr verschieden ist. Man vermag mitunter sehr wenig von einer p o l i t i s c h e n F ü h r u n g zu merken, wogegen z. B. die Zauberer, Schamanen, Regenmacher oder Wirtschaftsleiter tatsächlich einen großen Einfluß ausüben. Die aus dem besonderen Schicksal einer Gruppe ableitbare Bewertung der einen oder anderen Seite des Lebens läßt also bald das religiöse Moment, bald das wirtschaftliche Leben, bald eine besondere Regelung der sexuellen Angelegenheiten, bald Kampf oder Raub, bald aber auch eine geschickte Ausübung der politischen Macht in den Vordergrund treten. Hierbei wird m a n kaum einen entwicklungsgeschichtlichen Faden finden können: es ist vielmehr ein Pendeln zwischen verschiedenen Aufmerksamkeitsgebieten, das durch die Situationen herbeigeführt wird, in welche die jeweilig technisch gegebene Auseinandersetzung mit der Umwelt die Menschen drängt. Früher wurde die Ansicht vertreten, der „ S t a a t " sei aus der „Familie" hervorgegangen. Diese Auffassung, die heute in ethnologischen Kreisen wohl kaum mehr geteilt wird, gehört zur gleichen Kategorie von Ansichten, wie die, Religion stamme aus der Zauberei, und dgl. mehr. Ihr liegt der oberflächliche Eindruck zugrunde, daß die kleinen, souveränen Verbände der Jäger und Sammler auf verwandtschaftlicher Basis aufgebaut sind. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die familialen Beziehungen von Stämmen, in denen die Männer Jäger und Fänger sind, die Frauen Sammler oder Feldbauerinnen, sich hauptsächlich in der Sippe erschöpfen. Mitunter treten nun diese Sippen oder ein Konglomerat von Sippen oder Klans als Träger der politischen Macht auf. Jedoch muß diese Äußerung der politischen Macht völlig von dem Einfluß der Führerpersönlichkeiten unterschieden werden. So schemenhaft diese Macht mitunter sein mag, nie wird gesagt werden, daß eine bestimmte Gruppe nicht einen entscheidenden Anspruch auf ein Gebiet, einen „ G a u " , f ü r die Gewinnung ihres Unterhalts erheben würde. I n diesem hoheitsrechtlichen Anspruch, auf einem Territorium das Leben ohne Duldung anerkannter, fremder Einmischung zu führen, beruht aber die politische S o u v e r ä n i t ä t , die Unabhängigkeit der Gruppe. Ob diese Funktion von Verwandten ausgeübt wird oder nicht, ist durchaus irrelevant. Darum unterscheidet sich der familiale Verband f u n k t i o n e l l vom politischen. Daß manchmal die politische Gruppe nicht mehr Leute u m f a ß t als eine Großfamilie, kann nicht in dem Sinne gedeutet werden, daß der „ S t a a t " aus der „Familie" hervorgegangen sei (zumal man gewöhnlich an die Kleinfamilie denkt). Denn weder „ S t a a t " noch „Familie" in unserem Sinne kennen niedrige Naturvölker. Das wichtigste Ereignis f ü r die politische Entwicklung ist das Z u s a m m e n t r e f f e n v e r s c h i e d e n e r e t h n i s c h e r G r u p p e n . Die Vorgänge hierbei sind sehr unterschiedlicher Natur, und einige Beispiele werden hier in ausführlicher Weise geschildert. Sie können natürlich die Möglichkeiten nicht
Politische
Entwicklung
93
erschöpfen. Doch darf der Hinweis nicht unterlassen werden, daß die frühgeschichtlichen Zustände wegen der im allgemeinen geringeren Dichte der Bevölkerung und wahrscheinlich auch wegen der verhältnismäßig minderen Unterschiede an Technik und Kenntnissen zwischen den Gruppen, die miteinander in Kontakt traten, etwas andere Bedingungen aufwiesen als die der modernen Naturvölker, die etwa mit Europäern sich auseinanderzusetzen haben. Sicher steht wohl fest, daß die Berührung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen schließlich zu Üb e r s c h i c h t u n g e n und letztere häufig zu Mischungen von Kultur und Rasse führten. Indessen ging der Weg, der dazu eingeschlagen wurde, in der Regel über vielverschlungene Pfade. Als Ausgangspunkt kann man die k l e i n e , s e l b s t ä n d i g e Gruppe betrachten, wie sie etwa die Bergdama-Jäger oder gewisse papuanische Stämme heute aufweisen. Allein auch diese zeigt keine völlige Isoliertheit, sondern freundschaftliche oder Heiratsbeziehungen mit Nachbarn oder selbst entfernt hausenden Gruppen beleben ihre Unabhängigkeit: die selbständigen Gruppen sind untereinander vergesellschaftet. Die naturrechtlich-logische Konstruktion muß diesen Tatsachen gegenüber sehr viel von ihren Phantasien abstreichen. Diese „außenpolitischen" Beziehungen können, wie z. B. in Australien, sogar geregelt sein (vgl. Wheel. [10], Knabh. [19] ) und durch die H e i r a t s o r d n u n g oder durch Feste der J ü n g l i n g s w e i h e , welche die einen für die anderen veranstalten, ihren Niederschlag als „Institutionen" gefunden haben. Wenn auch die V e r w a n d t s c h a f t s g r u p p e n in erster Linie t e r r i t o r i a l gebunden erscheinen, wird man doch sagen können, daß die Lebensgemeins c h a f t als solche der vergesellschaftende Faktor dabei ist. Über die verwandte Siedlungsgemeinschaft der mehr oder minder unsteten Horden reicht die niedrige politische Einheit niemals hinaus. Daß gelegentlich entferntere Verwandte oder ausnahmsweise Fremde in dem Verband Aufnahme finden, berührt das Wesen dieser Verwandtschaftsverbände um so weniger, als die Einordnung dieser „outsider" sich in der Form einer verwandtschaftlichen Adoption vollzieht. Die Bedeutung der V e r w a n d t s c h a f t s namen in der primitiven Gesellschaft beleuchtet am grellsten die verwandtschaftliche Grundlage derselben. Dieser Zustand verändert sich erst allmählich. Ja, man kann sagen, daß er in Wirklichkeit nie ganz verschwindet, sondern nur durch andere Faktoren in den Hintergrund gedrängt wird. Der bedeutendste später aufkommende politische Faktor ist die H e r r s c h a f t . Eine Darstellung, die mit um so mehr Befangenheit arbeitet, je weniger ihr Kenntnis der Tatsachen bei Naturvölkern zugrunde liegt, schildert das Aufkommen der Herrschaft oft wie eine boshafte Erfindung von gewalttätigen Kriegern. In Wirklichkeit liegen die Dinge ganz anders. Herrschaft kann sich auf die Dauer nie ohne eine entsprechende geistige Fundierung halten. Letztere spielt aber in den primitiven Verbänden eine überragende Rolle — was leider von den kolonisierenden Europäern zu oft verkannt wurde. Die Herrschaft nahm ihren Ausgangspunkt von einem Nebeneinander-
94
Politische
Gefüge
s i e d e l n . Wir werden zu der Annahme gedrängt, daß, wie wir aus Vorgängen bei den Naturvölkern zurückschließen dürfen, benachbarte und auf dem Wege der Heirat, manchmal in der Form des Frauentausches, miteinander in Beziehimg tretende Gruppen in Rivalität gerieten, die mit dem Zurücktreten der einen vor der anderen zu einer „Ruhelage" gelangten, welche dann in der Anerkennung einer Überlegenheit durch eine Seite ihren Niederschlag fand. Das Zusammentreffen zweier ethnischer Gruppen mit anknüpfendem traditionellen Frauentausch dürfte namentlich da stattgefunden haben, wo wir ein V e r d o p p e l u n g s s y s t e m antreffen, bei dem der eine Teil wie z. B . auf F i j i ( H o c . [19]) oder bei den Natchez-Indianern (Mac L d . [23]), eine gewisse Überlegenheit zur Schau trägt (vgl. a. "Webst. [24] bezüglich Australiens). Die Verdoppelung, die den ganzen Stamm umfaßt, muß übrigens von der „ H a l b i e r u n g " des Klans in Sippen für die Heiratsordnung unterschieden werden. Während die erstere auf ethnische Beziehungen und Mischungen zurückzuführen sein dürfte, ist das bei der letzteren kaum der Fall, sondern sie ist nur aus dem Austausch von Frauen unter nahen Nachbarn hervorgegangen und gehört zweifellos einer viel älteren Ordnimg sozialer Gestaltung an, wohl einer Zeit, in der die Frauen durch Anlegen von Gärten zu mehr Seßhaftigkeit und damit überhaupt zu einer weitergehenden Stabilisierung des Lebens Anlaß gaben. Der sogenannte K l a n t o t e m i s m u s , bei dem verschiedene Gruppen, wie z. B . in Australien (Brown A. R . [18], Knabh., Spenc. u. G. [12]), durch Heiratsordnung und Jünglingsweihe vergesellschaftet erscheinen, stellt einen freien Zusammenschluß souveräner Klans vor und ist wohl aus einer Erweiterung des Frauenaustauschs bei dichter werdender Bevölkerung, insbesondere bei Abspaltung von Tochtergruppen, zu erklären. Dem sind gewisse Gedanken und Vorstellungen über das Wesen der Sexualbeziehungen und die Herkunft der Menschen neu hinzugetreten — wobei die Frage der Ausbreitung solcher Vorstellungen von einem Brennpunkt aus offengelassen werden kann — und haben eine „ I d e o l o g i e " für die politische Vergesellschaftung geliefert (vgl. T. „ P r i mitives Denken", „Totemismus"). Das Verdoppelungssystem enthält erst den Ansatz zu einer Schichtenbildung. Denn die dort herrschende Heiratsordnung führt zu einer raschen Vermischung der ethnischen Schichten und so auch zu einer Vermischung der ethnischen Besonderheiten. Dies hindert indessen nicht, daß schon mit dem Verdoppelungssystem verbunden häufig ein s a k r a l e s u n d a u t o r i t ä r e s H ä u p t l i n g t u m auftritt. Nicht selten schließt sich die betreffende Sippe teilweise von der Vermischung dadurch aus, daß sie Endogamie, j a Inzucht im engsten Rahmen, Bruder-Schwesterehe, zuläßt. Damit hebt sich eine M i n d e r h e i t vor den übrigen heraus, die sowohl durch rassische Eigenart als auch durch Pflege kultureller Überlieferungen — beides geht gewöhnlich Hand in Hand — als etwas B e s o n d e r e s erscheint. Man wird sich nicht vorstellen dürfen, daß ein solches Verhalten in rationalistischer Weise geplant wurde. Viel eher wird man die S p a n n u n g zwischen den ethnischen Gruppen dafür in
Politische
Entwicklung
95
Rechnung zu stellen haben. War der Unterschied an Kultur und Rasse sehr groß, so bestand Abneigung, die eigenen Frauen der niedrigeren und ärmeren Gruppe zu überlassen. In diesem Fall wirkte der Besitz überlegener Technik auf die inferiore Gruppe wie die Ausübung transzendenter und unbegreiflicher Macht, sie mündete in der Anerkennung eines persönlichen Mana (s. T. „Mana" B). Solches kann man etwa bei der Berührung von wandernden indo-polynesischen Stämmen mit papuanischen Gruppen annehmen (vgl. Brew. [23], Hoc. [13], ders. [16], Smith P. [19]. In derartigen Absonderungen und Auszeichnungen liegt die Voraussetzung zur S c h i c h t e n b i l d u n g und zur politischen H e r r s c h a f t . Dabei brauchen wir das eben angeführte polynesische Beispiel keineswegs als eine ganz ursprüngliche Gestaltung aufzufassen. Es wäre z. B. durchaus möglich, daß die wandernden Gruppen eine Abschließungs- und Überl e g e n h e i t s i d e o l o g i e schon mitbrachten, und daß diese etwa von asiatischen Hirten ihren Ausgangspunkt nahm. Trotzdem illustrieren die bei ihnen in der Südsee auffindbaren konkreten Zustände Vorgänge sozialpsychologischer Art, deren wir auf anderem Wege nicht gut habhaft werden. Während also das Verdoppelungssystem allein ausgleichend wirkt, liegt das eben skizzierte andere endogame Verhalten auf dem Wege zur Kastenbildung und zur Herrschaft. Damit weiterhin zur Staatsbildung. Dabei eröffnet sich beim Vorhandensein einer größeren Zahl von ausgezeichneten Familien die Bahn zur Bildung einer Aristokratie, bei einer geringeren Zahl zu der einer „Despotie". Doch führt auch die adlige Überschichtung durch Rivalitätskämpfe zur Despotie einzelner Dynastien. Mit dieser Abschließung sind auch Ansprüche verbunden, die Angehörigen unterer Schichten auszuschließen. Sie hängen, wie schon oben dargelegt, mit dem Besitz besonderer F e r t i g k e i t e n (z. B. Viehzucht, Zauberei) zusammen (vgl. z. B. die Zustande bei den ba-Kitara und ba-Nyankole Afrikas; Rose. [23]). Auf diese Weise wirkt die an gewisse Techniken geknüpfte Wirtschaft ethnischer Gruppen weiter. Wir finden ferner eine oft weitgehende S p e z i a l i s i e r u n g einzelner Familien und damit im Zusammenhang schon früh ausgedehnten Handel. Dadurch wirken der Schichtung, Kastenbildung und abschließenden Tendenz andere, und zwar widerstrebende Kräfte der Vergesellung entgegen. Zu diesen gehört auch der Anspruch von Männern der bevorzugten Schichten auf Frauen der anderen. Neben solchen p a t r i a r c h a l i s c h e n und p o l y g y n e n Tendenzen, die besonders auf die Dynasten konzentriert sind, können mutterrechtliche Einrichtungen noch weiter bestehen. Wenn man die Schicksale und Wanderungen von Gemeinwesen der Naturvölker in verschiedenen Stadien ihrer Ausgestaltung betrachtet, so wird man finden, daß der e x p a n s i v e Faktor im Leben dieser Gemeinwesen keineswegs fehlt. Es gehört die leider sehr verbreitete, tiefe Unkenntnis von ethnologischen Tatsachen dazu, um das Vorkommen dessen, was wir als Kolonisation und I m p e r i a l i s m u s bezeichnen, bei den Naturvölkern nicht zu sehen. Nicht ein besonderer „Kapitalismus" oder ein „mittelalterliches Lehenssystem" ist dazu nötig. Weiß man nicht von der griechischen
96
Politische Gefüge
Kolonisation, vom römischen Imperialismus und weiter zurück vom persischen, assyrischen, babylonischen, ägyptischen, finden wir nicht ähnliche Phänomene im alten Indien, in China, Mexiko und P e r u ? Die Geschichte besonders der ost- und west-mittelafrikanischen Staatswesen zeigt dasselbe Bild (vgl. Avon [15], B a r t . [23], Dempw. [14], Ellis [87], Len. [24], Pech. L . [07], Rcht. [08], Schmidt M. [13]). Aber auch bei noch einfacheren Gemeinwesen fehlt diese Tendenz nicht. Diesen „imperialistischen" Strömungen, die j a überhaupt die Voraussetzung der Staatsbildung abgeben, kommt die Bedeutung zu, große Friedensgebiete zu schaffen. Erst durch die Unterordnung mehrerer Verbände und vieler Menschen unter einzelne F a m i l i e n , wodurch die älteren Klanverbände zerbrachen, war es möglich, die v i e l e n k l e i n e n S o u v e r ä n i t ä t e n zu z e r s t ö r e n und an ihre Stelle statt Blutrache und Fehde „ R e c h t " zu setzen. Erscheinungsformen und Gestaltungskräfte. — I n welcher Weise manchmal g l e i c h e Faktoren, wie z . B . die natürliche Altersstaffelung innerhalb v e r s c h i e d e n e r Gesellschaften, gemäß den historischen Voraussetzungen e i g e n a r t i g e Gestaltungen auslösen, zeigt folgender Überblick. Nach eingehendem Studium der Altersgesellschaften der Indianer der großen nordamerikanischen Ebene kommt Lowie ([16] 93 8f) zu dem Ergebnis, daß Altersklassen bei verschiedenen Völkern, wie z . B . bei den afrikanischen Masai und in Melanesien (z. B . Neue Hebriden), durch v e r s c h i e d e n e s o z i a l e Umstände herbeigeführt worden sind. I n der Tat ist die Ubereinstimmung vielfach mehr eine ä u ß e r l i c h e . Während bei den Masai verschiedene Grade fehlen, tritt die Ähnlichkeit zwischen den indianischen Tanzgesellschaften und den Suque der Eingeborenen der Neuen Hebriden als f o r m a l e P a r a l l e l e stärker hervor. Jedoch sind die p s y c h o l o g i s c h e n M o t i v e , die dem Staffelungssystem der Indianer zugrunde liegen, ganz verschieden von denen der Suque. Lowie faßt die Altersgesellschaften der Indianer als eine spezialisierte und spätere Entwicklung der altersstaffelungslosen militärischen Organisationen dieses Gebietes auf. Dieser Gestaltung liegen wieder drei Faktoren zugrunde: 1. die natürliche Altersstaffelung; 2. der Tanz, der überhaupt mit einem gesellschaftlichen Komplex auch nicht gestaffelter Bünde zusammenhängt; und 3. der Gedanke, daß Tänze gewissermaßen käufliche Güter sind. Die natürliche Altersstaffelung kann in sehr verschiedener Weise organisatorischen Ausdruck in einer Gesellschaft finden: unter den Indianern der großen Ebene gibt es z. B . keine Schichtung der ganzen Gemeinschaft nach drei großen Altersgruppen, in Kinder, Erwachsene und Greise, sondern eine engere Gruppe von Gleichaltrigen bleibt das Leben lang zusammen, so daß unter den einzelnen Altersgesellschaften immer ein Abstand von ungefähr j e vier bis fünf Jahren herrscht. Hierbei handelt es sich also darum, daß eine Gruppe von Menschen, die vermöge ihrer Altersentwicklung auf ihre Mitmenschen in ä h n l i c h e r W e i s e r e a g i e r e n , immer zusammenbleibt und sich auch äußerlich von den anderen durch s y m b o l i s c h e H a n d l u n g e n unterscheidet. Diese Art der Altersschichtung ist z. B . ganz verschieden von der Einteilung des ganzen
Thurnu-iilfl.
Sinai
Tafel
I n n e r e s eines Sippenluuises der K e n y a h von B o r n e o m i t S e h ü d e l t r o p h ä e n . Aus II o s i -
[26]
TO.
:j
Tafel
Thtirrufald.
4
T a r o r ü b e n in Hiindeln. Kssenstribut auf Bau. Fiji-Inseln. (Südsee). Aus
Krämer
|»8J T a l .
11.
Die
Armringe
de> T o ' u l u w a
b r i a n d - J i i s e l n ) . die im nach
Omarakana gebracht
zum
Aus M a l i n v w s k i
[22]
171, T a l .
01.
Häuptling;
wurden.
A u s M a l i n nw s k i [ 2 2 ] 5 7 0 ,
F e i e r l i c h e s E i n b r i n g e n von Halsgehängen (Sulava, Trobriand-Inseln). D e r M a n n an der Spitze b r i n g t d a s H a l s g e h ä n g e an e i n e m S t o c k z u m H a u s e des H ä u p t l i n g s . D a z u b l ä s t d e r zweite M a n n ein Muschelhorn.
(Trn-
Oktoliorl915
Tal .
60.
Staat
Politische
Entwicklung
97
Stammes in drei große Altersgruppen nach Kindheit, Reife und Greisenalter, wie bei den Omaha-Indianern oder in den drei-geteilten Schichten der Krähen-Fuchs-Gesellschaft. Die Tänze selbst unterscheiden sich prinzipiell nicht von denen der ungestaffelten Stämme, und die Käuflichkeit tritt besonders bei den Kriegsgesellschaften auf. Besiedlung, Ausbreitung, ethnische Gruppe. — In bezug auf den wahrscheinlichen Vorgang bei der B e s i e d l u n g des Inlandes des zentralen holländischen Neu-Guinea kommt Wirz auf Grund seiner Studien bei den MarindrAnim zu dem Schluß, daß diese jedenfalls durch einzelne oder nur wenige I n d i v i d u e n erfolgte, und daß dann die am frühesten eingewanderte Sippe die vorherrschende war. Vielfach wurde der Name des ersten Siedlers von den Nachkommen auf die ganze Siedlung oder Landschaft übertragen. Ein wichtiger Gesichtspunkt für die Auswahl der Plätze bildete das Vorkommen von Sandboden, der geeignet für Kokos-Anpflanzungen ist. Außerdem kam noch die Nähe eines Flusses als geeignete Verkehrsader in Betracht, sowie das Vorkommen von Trinkwasser. Erst später dürfte man sich mit schlechterem Boden und mit abgelegeneren Orten begnügt haben. Die soziale E i n h e i t b i l d e t die Sippe (boan). Das Dorf besteht aus einer Gruppe von Einzelsiedlungen, die sich aus je einem Männerhaus und mehreren Weiberhütten zusammensetzen. Dies ist die eigentliche K l a n s i e d lung. Der Name des Dorfes wird vielfach von der ältesten dort angesiedelten Sippe oder dem Klan entlehnt, oder er ist eine Bezeichnung, die als Flurnamen dem betreffenden Platz überhaupt zukommt. Das ganze Dorf setzt sich aus verschiedenen Klans zusammen, deren jeder aus zwei bis vier Sippen besteht. Die Klanorganisation beherrscht auch die wirtschaftlichen Verhältnisse : nicht nur die Anlagen der Siedlungen, sondern auch die Verteilung der Kokos- und Sago-Bestände finden klanweise statt. Hinzugewanderte, spätere Siedler haben sich wahrscheinlich manchmal an der Grenze des alten Dorfplatzes niedergelassen, so daß er ursprünglich nur von einem Klan bewohnt wurde, nach und nach aber noch andere Klans aufnahm. Die nebeneinander siedelnden Klans beanspruchen jeder ein fest umgrenztes Wohn- und W i r t s c h a f t s g e b i e t . Die L o k a l g r u p p e , nämlich das Dorf, bildet jedoch die politische Einheit. Es besitzt feste Grenzen gegenüber den Nachbardörfern und übt in seinem Territorium, dem Gau, Jagd- und Fischrecht aus. Außerhalb dieses Gaues dürfen nur mit der ausdrücklichen Zustimmung der anderen Lokalgruppe etwa Bäume für die Herstellung der Kanus geschlagen oder Fallen für Krokodile und Wildschweine aufgestellt werden. Eine Lokalgruppe erweist sich nach außen hin als eine völlig autonome und solidarische Gemeinschaft, was sich sowohl bei der Kopfjägerei als auch in den freundschaftlichen Beziehungen zu den anderen zeigt. Zwischen einzelnen benachbarten Lokalgruppen kann ein reger, freundschaftlicher Verkehr gepflegt werden, der durch Heiratsbeziehungen unterstützt wird. Auch bei festlichen Anlässen und beim Abhalten von Geheimkult-Zeremonien pflegen b e f r e u n d e t e S i e d l u n g e n sich zusammenzufinden, vor allem auch zu den Kopfjagden. Eine Zusammenfassung der Klans über diese freundschaftlichen Beziehungen der souveränen Lokal7
Thornwald IV.
98
Politische
Gefüge
gruppen hinaus gibt es jedoch nicht. So wie auf der einen Seite Feindschaft innerhalb naher Siedlungen des gleichen Stammes bestehen kann, gibt es andererseits Freundschaftsbeziehungen mit verhältnismäßig weit entfernten Klans. Diese werden sowohl durch Heiratsbeziehungen getragen als auch durch Adoption von Kindern und dadurch, daß die flüchtigen und von Feinden verfolgten Angehörigen bei den anderen ein Asyl finden und vor der Blutrache geschätzt sind. Solche Freundschaften e n t f e r n t e r Klans mögen sich aus Abwanderungen der einen oder der anderen herleiten. Im allgemeinen kann man sagen, daß die Wohngebiete der Lokalgruppen an der Küste k l e i n e r , und je mehr man landeinwärts kommt, um so größer sind. Nicht selten sind die Siedlungen im Innern jedoch gewissen V e r ä n d e r u n g e n ausgesetzt, derart, daß sie zur Regen- oder Trockenzeit verlegt werden, und daß man N e b e n s i e d l u n g e n bezieht. Letztere liegen jedoch immer innerhalb des Gebietes der Lokalgruppe (Wirz [25] 150ff, 159ff). Gefüge und ihre Beeinflußbarkeit. — Die Verhältnisse bei den Bergdama Südwestafrikas sind außerordentlich lehrreich dafür, wie schon bei niedrigen Wildbeutern eine soziale Schichtung dadurch entstehen kann, daß eine Gruppe von ihnen zu einer a n d e r e n F e r t i g k e i t im Nahrungserwerb übergeht. Auf der anderen Seite geht jedoch daraus hervor, wie außerordentlich schwierig es für die Menschen selber ist, z. B. für diese nomadischen Jäger, vermöge der Annahme einer neuen Art der Nahrungsversorgung auch zu einer entsprechenden Wirtschaftsform überzugehen. Bei den Bergdama unterscheidet Vedder (6) eine obere und eine u n t e r e Volksschicht. Die obere Schicht, welche die Täler der Gebirge bewohnt, ist in den Besitz von Ziegen gekommen und errichtet d a u e r n d e W e r f t e n (Lagerplätze). Die untere Schicht wird als die Bergspitzenbewohner bezeichnet, die keine Ziegen besitzen und in dem hoch gelegenen Gebiet durch J a g d und S a m m e l t ä t i g k e i t ein kümmerliches Leben fristen. Letztere sind geschickt im Aufsuchen von wildem Honig, den sie als Tauschartikel bei den reicheren Nachbarn in den Tälern verwenden. Aus beiden Schichten rekrutieren sich Leute, die sich aus irgendeinem Grunde aus den festgefügten Familien- oder Sippenverbänden losgelöst haben oder von den Volksgenossen als friedlos betrachtet werden. Lassen sie sich in einem fremden Stammesgebiet mit der Erlaubnis des Werftältesten (Sippenhaupt) nieder, so sind sie verpflichtet, obwohl sie als nicht zur Sippe gehörig angesehen werden und auch dort keinen Wohnsitz erhalten, alles Großwild, dessen sie mit Netz oder Pfeil habhaft werden, abzuliefern. Täten sie das nicht, so würden sie, die ohne Hilfe von Anverwandten in der Welt dastehen, schwerlich der Todesstrafe entrinnen. — Die Bergdama unterscheiden sich voneinander nach verschiedenen S t a m m e s g e b i e t e n , die Vedder (9f) anführt. — Der Besitz von Ziegen hat auf die in den Tälern wohnende Oberschicht wahrscheinlich schon dadurch günstig eingewirkt, daß die Kinder in den ersten Jahren besser ernährt wurden. Allerdings unterlagen gerade diese Ziegenbesitzer eher den Uberfällen der Nama und Herero. Die Räuber machten indessen die, welche mit dem Leben davonkamen und mitgeschleppt wurden, in der Regel zu Hirten, die sich nicht selten durch jahrelangen Dienst einige
Politische
Entwicklung
99
Ziegen erwarben. Auf diese Weise g e l a n g t e wohl überhaupt die Ziegenzucht zu den Dama. Andererseits wirkte dieser Kontakt durchaus im Sinne einer Auslese. In der Tat zeigen die Ziegendama eine bessere körperliche und geistige Entwicklung als die Bergspitzen-Bewohner (3). — Die politische Einheit der Bergdama bildete eine S i p p e von 10—30 Köpfen, die in einer gemeinsamen Werft (Lager) zusammenwohnten. Die Angehörigen waren untereinander verwandt. An der Spitze stand ein Ältester mit nur geringem Einfluß; ihm zur Seite stand der Speisemeister und der R a t der A l t e n . Das Volk war in Hunderte solcher souveräner Verbände aufgeteilt, die weiter keinen Zusammenhang untereinander besaßen. Ein gemeinsames Oberhaupt des Volkes oder eines Stammes fehlte. Jede Sippe besaß ein angestammtes Gebiet, in dem sie allein das Wild jagen und die Feldkost einsammeln durfte. Grenzüberschreitungen führten zu Streit, Kampf und Totschlag. Ahnlich war das Leben der Buschmänner gestaltet, die jedoch geistig gewandter sind und für die Bergdama ein gefährlicher Gegner wurden. Der Bergdama wurde vom Buschmann entweder aus seinem Gebiet verdrängt, erschlagen oder geknechtet. Da ferner der Bergdama-Jäger und -Sammler mit lüsternen Blicken den Viehreichtum der Herero-Hirten sah und das Rauben, das J a g e n auf das gehaltene Vieh, nicht lassen konnte, da er außerdem das dürre Gras der Rinderweide anzuzünden liebte, um seine Jagd ergiebiger zu gestalten und die Knollenfrüchte der Erde von überwucherndem Gras zu befreien, wurde auch der Herero-Hirt sein Feind, der ihn verjagte, erschlug oder knechtete. Zu diesen beiden Feinden gesellte sich der Nama, der zuerst in den Besitz der Feuerwaffe gelangt war. Durch diese drei Feinde wurde ein großer Teil des Volkes aufgerieben, aus den alten Wohnsitzen verdrängt oder in lebenslängliche Knechtschaft geführt (171f). Hervorstechend ist jedoch an dem Schicksal der Bergdama, daß auch dieses Jägervolk nur schwer s e ß h a f t zu machen ist, ja, daß ihm auch der Ü b e r g a n g zur V i e h z u c h t außerordentlich schwer fällt. Der Gartenbau dagegen scheint bei ihm größerem Verständnis zu begegnen (173,189f). — Müssen, durch die Verhältnisse gezwungen, heute mehrere nicht verwandte Familien gemeinsam in einer Werft zusammenwohnen, so verschwindet der Einfluß des einzelnen Familienhauptes, untergraben durch unzählige Zufälle. Im gleichen Maße aber wächst die Möglichkeit für Streber, sich eine W ü r d e anzueignen, die das Volk nie kannte. Unterstützt von dem guten Namen etwa des Vaters oder Großvaters oder heute irgendeinem Einflüsse, etwa der Mission oder der europäischen Verwaltung, suchen sich die betreffenden eine autoritative Häuptlingsstellung beizulegen (18). Haben wir es in dem Beispiel der Bergdama mit der Spaltung eines Volkes in verschiedene Schichten zu tun, so lehrt der folgende Fall den Kontakt zweier verschiedener, jedoch ä h n l i c h e r Gruppen. Bei den Ojibway oder Büngi der großen nordamerikanischen Ebene wurde festgestellt, daß sie mit den Cree, Assiniboine und vor einigen Generationen mit den Ottawa sich verheiratet haben, späterhin auch mit ihren früheren Feinden, den Sisseron und Santee-Sioux. Offenbar handelte es sich hier um einen früher in den Wäldern heimischen Algonkin-Stamm mit typischer 7*
100
Politische
Gefüge
Waldkultur, der bei der Verfolgung der Büffel die Grenzen der Ebene überschritt (Sk. [11] 477f). Ethnische Staffelung, Verdoppelung. — In ähnlicher Weise haben wir es mit dem Zusammentreffen verschiedener Stämme im folgenden Fall zu tun. Einen eigenartigen Weg hat nämlich die politische Entwicklung bei den Natchez-Indianern der südöstlichen Küste von Nordamerika genommen. Die wichtigsten Amter in dem Staat der Natchez befanden sich in den Händen der Mitglieder einer mutterrechtlichen Königsfamilie, welche als die „Angehörigen der Sonne" bezeichnet wurden. Der König galt als die „große Sonne", seine Mutter oder, wenn diese nicht mehr am Leben war, seine Schwester als die „weise Frau" oder als die „Sonnenfrau". Der älteste Sohn der letzteren wurde König und ihr zweiter Sohn großer Kriegshäuptling, die älteste Tochter ihre Erbin. Die übrigen Angehörigen der „Sonnensippe" wurden mehr oder minder in dem Grade geachtet, wie sie dem König nahestanden. Der König scheint über seine große Siedlung oder Hauptstadt unmittelbar regiert zu haben. Die anderen Dörfer der Natchez-Bevölkerung wurden durch andere Mitglieder der königlichen Familie nach einem bestimmten Rangsystem verwaltet. Der König ernannte die Beamten seines Staates wenigstens so weit, als sie nicht nahe Verwandte des Königs waren. Die acht Hüter des ewigen Feuers des Tempels wechselten zu je zweien während der vier Mondphasen ab. Über ihnen stand das „Haupt der Feuerwächter". Zwei andere Beamte waren da für die Friedens- und Kriegsverträge; ferner einer für die öffentlichen Arbeiten und vier für die Volks-Festlichkeiten. Auch soll es noch ein Oberhaupt gegeben haben für die Überwachung von Aussaat und Ernte. — Dieser O b e r s c h i c h t stand eine U n t e r s c h i c h t gegenüber, die „Stinker" ( P u a n t s ) genannt wurden. Die beiden Gruppen waren exogam, und die eine suchte ihre Ehepartner unter der anderen. Nach dem herrschenden Mutterrecht erbten die Kinder der „Sonnen" nicht den Rang ihrer Väter, sondern den ihrer Mütter, erhielten hier jedoch eine Art zweitklassigen Adel. — Diese Verhältnisse erinnern einigermaßen an die a l t j a p a n i s c h e n . In diesen war der Sohn des Himmels, der Mikado, die Quelle für königliches und adliges Blut. Die oberen Schichten der Adligen, die Shinno (Shin-Wo), waren Fürsten von Blut. Dieser Rang wurde vom ältesten Sohn eines Shinno geerbt, während die jüngeren Söhne Wo wurden und eine zweite Schicht des Adels bildeten. Der Shinno-Rang konnte nicht unbegrenzt fortgesetzt werden. Nach der sechsten Generation fiel auch der älteste Sohn eines Shinno in den Wo-Rang. Die Shinno-Klasse wurde immer wieder durch Kinder der nachfolgenden Herrscher aufgefüllt ( E n c y c l o p a e d i a Britannica 1910, Japan). — Die militärische Organisation der NatchezIndianer war in einer anderen Weise gestaffelt: man unterschied Lehrlinge, gewöhnliche und echte Krieger. Unter oder über den letzteren standen die Kriegshäuptlinge. Auch ein „Stinker" konnte den Rang eines „ehrenwerten Mannes" dadurch erlangen, daß er einen Skalp oder einen Pferdeschwanz erbeutete. Diese Auszeichnung erstreckte sich auf seine Frau, und beide durften dann entsprechende T ä t o w i e r u n g s z e i c h e n tragen, sowie auch einen N a m e n für seine Tat. Derartige Kriegsauszeichnungen hatten also
Politische
Entwicklung
101
ihre Auswirkung in der allgemeinen Rangstellung, insbesondere der militärischen Organisation. Es scheint, daß ein jeder Kriegshäuptling in der Lage war, Freiwillige zu sammeln und Kriegszüge gegen Stämme zu unternehmen, mit denen nicht ein besonderer Friedensvertrag bestand. Außer durch solche Kriegsverdienste konnte ein „Stinker" auch durch religiösrituelle Verrichtungen in die Klasse der „Ehrenwerten" aufgenommen werden. Wenn nämlich eine „Stinker"-Frau zur Zeit, als ein König starb, ein Kind gebar und sie und ihr Gatte dieses Kind an der Bahre des großen Königs erwürgten (vgl. a. T. „ M e n s c h e n o p f e r " C), so wurden sie in die Klasse der „Ehrenwerten" aufgenommen. Ferner, wenn ein „Stinker" dem verstorbenen König in das Jenseits folgte, indem er sich von acht seiner „Stinker"-Verwandten erwürgen ließ, so traten diese acht Verwandten zu den „Ehrenwerten" über. Die „ehrenwerten Männer" der Natchez setzten sich also aus drei Elementen zusammen: den Kindern von männlichen Adligen und wahrscheinlich Kindern von weiblichen Adligen, die bis zum sechsten Grad von einer „weisen Frau" abstammten; „Stinkern" und ihren Frauen, die durch einen religiösen Akt in diesen Rang aufgenommen wurden; endlich „Stinkern", die durch kriegerische Verdienste zu diesem Rang gelangten; die „Ehrenwerten" waren also teils degradierte Abkömmlinge der Adligen, teils gehobene „Stinker". Da die Mitglieder dieser Klasse in der Regel schon verheiratet waren, fand auf sie die Exogamie keine Anwendung. Wenn man erwägt, daß die Natchez-Sprache aus einer Verschmelzung von Tunican- und JVfusftfeogeore-Elementen zusammengesetzt ist, und daß vielleicht die eigenartige H a l b i e r u n g des Stammes damit zusammenhängt, so muß man die zuletzt betrachtete Gruppe der „Ehrenwerten" als das Ergebnis einer Mischung, als die e i g e n t l i c h e n Natchez-Leute, betrachten. Möglicherweise war die „Sonnen"-Gruppe eine an Zahl arme Muttersippe, die aus diesem Grunde das exogamische Prinzip vertrat (MacL. [24] Natchez 201 ff). In W e s t a f r i k a gibt es einen Einrichtungskomplex, der sowohl unter Bantu- wie unter Nicht-Bantu-Kulturen sich findet und besonders durch die Einrichtung der K ö n i g s s c h w e s t e r und K ö n i g s m u t t e r getragen wird und sich mit der Gewohnheit der Verheiratung der Königsfamilie m i t G e m e i n e n verbindet. Bei den Ashanti kann z. B. der König seiner Schwester, deren Kind ihm im Amte nachfolgt, erlauben, einen ihr passenden Gemeinen zu heiraten. Dieser Mann muß dann beim Tode seiner Frau aus königlichem Geblüt, aber auch beim Tode eines männlichen Kindes, Selbstmord begehen (Bowd. [1820]; Ratty. [23] 78 Anm.). Die oben erwähnten Natchez-Frauen adliger Herkunft konnten ihre gemeinen Männer aus der „Stinker"-Schicht entlassen und andere nehmen; warpn diese ihnen untreu geworden, so konnten sie sie auf den Kopf schlagen lassen, ohne selbst aber in der Wahl ihrer Verehrer eingeschränkt zu sein. Ähnliche Sitten berichtet Pech.-L. auch von Loango (187f). Traditionelle Führerschaft, Rat, Königtum. — Die charakteristische Vergesellschaftung von Klans, wobei sich jedoch bereits eine traditionelle Führerschaft inter pares zeigt, finden wir bei den nordamerikanischen OmahaIndianern.
102
Politische
Gefüge
Bei diesen hing der R a n g und die Bedeutung des Klans im Lagerkreis des Stammes vom B e s i t z des Klans an bestimmten h e i l i g e n Gegens t ä n d e n ab. Dasselbe galt auch im großen Maße für die Ponka, Kansa, Osage und Iowa. Dementsprechend war auch die M a c h t unter den Klans dieser Stämme verteilt. Die Macht war von verschiedener Art und erstreckte sich manchmal auf Einzelheiten in der Handhabung heiliger Gegenstände, wie z. B. bei den Omaha, oder sie war mit der F ü h r e r s c h a f t in gewissen K u l t h a n d l u n g e n verknüpft, mit der Pflicht, anderen Klans in bestimmten Dingen zu d i e n e n , mit der Regelung der Jagd, mit der Weihe der mystischen Feuerplätze, mit Krieg und Frieden oder mit gewisser Disziplinargewalt. — Bei den Winnebago hatten nur zwei Klans unterschiedliche Funktionen: der Donnervogel- und der Bären-Klan. Doch ist es wahrscheinlich, daß auch der Krieger- oder Habicht-Klan und der Wassergeister-Klan mit besonderen Rechten und Pflichten ausgestattet waren. Der DonnervogelKlan zeichnete sich durch besonderes Ansehen aus, und der Häuptling des Stammes wurde immer aus diesem gewählt. Immer vertrat er die Friedenspartei und konnte keinen Kriegszug leiten, obgleich er an einem solchen teilnehmen durfte. Seine Hütte stand stets im Mittelpunkt des Dorfes und enthielt den Platz mit dem heiligen Feuer, um den nur die Angehörigen des Donnervogel-Klans sitzen durften. Diese Hütte war auch ein A s y l für alle Übeltäter. Der Donnervogel-Häuptling trat dazwischen, wenn Übeltäter von ihren Rächern verfolgt wurden, selbst im Falle eines Mordes an einem Klan-Angehörigen. — Dem Bären-Klan dagegen fiel die Regelung der Jagd zu; er hatte allgemein disziplinarische Rechte und die Pflicht, die Befehle des Donnervogel-Häuptlings zu vollstrecken. Bei einer Jagd des Stammes trat die Macht des Klans in charakteristischer Weise hervor: wer die Vorschriften in bezug auf zu frühes Schießen oder dadurch, daß er das gefangene Tier außer der Reihe aufschnitt, mißachtete, dem konnten Bogen und Pfeile konfisziert werden, und er durfte sie erst dann zurückerhalten, wenn er sich mit einer Bestrafung abgefunden hatte. Wiederholte er jedoch seinen Verstoß, so wurden ihm Bogen und Pfeil zerbrochen. Die allgemeine d i s z i p l i n a r i s c h e Gewalt bestand darin, daß das Dorf abpatrouilliert wurde, um Unordnung vorzubeugen. Der Ehebruch wurde durch Züchtigung bestraft. Als symbolisches Emblem seiner Macht trug der Führer des Klans einen Stock, der „Brummholz" hieß und dem „Einladungsstock" der MenominiIndianer glich. Beim Abpatrouillieren des Dorfes trug ihn immer der Führer des Bären-Klans; dabei sangen sie, und bei ihrem Nahen hörte sofort aller Lärm auf (Rad. [10] 215ff). Wie sehr die primitive Herrschaft auf das Geistige eingestellt ist, auf die besondere Macht, die Einzelnen oder Gruppen der Tradition gemäß zugeschrieben wird, geht aus einer Art T h e o k r a t i e im nordöstlichen Afrika hervor. Die politische Organisation der nordostafrikanischen Lotuko besteht in einer Anzahl von unabhängigen Dörfern, die in Klans geteilt sind, und an deren Spitze ein R e g e n m a c h e r (kobu) steht, der in arabischer Sprache als „Sultan" bezeichnet wird. Diese Klans sind vaterrechtlich, exogam, und
Politische
Entwicklung
103
nach dem Tode wird ein jeder das Tier, das mit dem Klan in Verbindung steht. Das Essen des betreffenden Tieres ist verboten (s. T. „ T o t e m i s m u s " B). Die Häuptlinge sind sowohl die religiösen als auch die politischen Führer der Gemeinde. Männer wie Frauen können dieses Amt versehen. Die Regenmacher gehören keinem besonderen Klan an, aber in jedem Dorf soll der Regenmacher aus einem Klan kommen, der stark an Zahl ist und außerdem Ansehen besitzt. Umgekehrt wird der Sitz des Regenmachers als das Hauptquartier des Klans angesehen, dem er zugehört, so daß dadurch eine gewisse T e n d e n z z u e i n e r t e r r i t o r i a l e n G r u p p i e r u n g der Klans entsteht, in der Weise, daß z. B. die Igago-Regenmacher Häuptlinge in dem Tarangoleund Torit-Bezirk sind, der Lomia-Regenmacher Häuptling Iboni am LafitBerge, Lewudo in Losito und Lomini in Lorongo. Diese Häuptlinge üben eine t e r r i t o r i a l e Gewalt aus ohne Unterschied auf die Klan-Angehörigkeit. Die Angehörigen eines Klans, der irgendwo anders einen Regenmacher besitzt, sind nichtsdestoweniger von ihrem territorialen Häuptling abhängig. Diese kobu sollen womöglich von väterlicher wie mütterlicher Seite wieder von Regenmachern abstammen (sind also d y n a s t i s c h - a r i s t o k r a t i s c h ausgezeichnet). Ein Mädchen, das von beiden Seiten von Regenmachern abstammt, heißt mongoti, erhält jedoch erst eine Macht als solche, wenn sie einen Regenmacher heiratet. Daraus geht hervor, daß die Häuptlingschaft innerhalb gewisser Familien, die b e s o n d e r e K r ä f t e für sich in Anspruch nehmen, gewahrt bleibt. Der Regenmacher erfreut sich gewisser Rechte in bezug auf das erbeutete Jagdwild: alle Felle von Löwen und Leoparden sowie Elfenbein werden ihm gebracht. Besonders kommen Leopardenfelle in Betracht, die der Regenmacher gelegentlich wieder verschenkt. Außerdem erhält er vom Fleisch der Tiere und den gefangenen Fischen einen bestimmten Anteil, desgleichen Durra zu seinem Unterhalt. Ebenso die Erstlinge der Früchte. Der Speichel des Regenmachers soll angeblich die Ernte davor bewahren, von Krankheiten befallen zu werden. Der Regenmacher nimmt auch tätigen Anteil an Kriegen. I h m stehen Gehilfen (abalok), hauptsächlich als Boten, zur Verfügung. Die größeren Lotuko-Dörfer zerfallen in Weiler (nangatit) zu je 50—100 Häusern. Jeder Weiler führt einen Namen und enthält Treffort der Männer (namangat), ein Trommelhaus (nadupa) und einen Tanzplatz (napwerä). — Der Regenmacher soll im eigenen Dorfe sterben, womöglich im Hause seiner Mutter, vorausgesetzt, daß seine Mutter noch am Leben und selbst Regenmacher ist; sonst im Hause seiner Hauptf r a u , die theoretisch Regenmacher ist. Mit ihm zusammen wird entweder ein lebender Mann seines Klans oder eine Frau, die auch Regenmacher ist, begraben, indem man dem Opfer Hände und Füße zusammenschnürt und es an die Seite des toten Regenmachers auf ein Lager von Blättern legt, das mit einer Ochsenhaut verdeckt wird. Diesen beiden wird eine Art Zelle errichtet und gesagt: „Sie schlafen zusammen" (Slgm. [25] 3ff, 12, 26ff; vgl. T. „Menschenopfer"). Übergänge vom verwandtschaftlichen zum herrschaftlichen Gefüge; Expansion, Kolonisation, Nationalismus, Imperialismus. — Besonders aufschlußreich ist der Ablauf der politischen Gestaltung, wie ihn die Verfassungs-
104
Politische
Geföge
geschichte der Mandschu zeigt. Darin tritt vor allem auch die Expansion und Kolonisation dieses Stammes zutage, und damit die innere Umgestaltung der Organisation, jedoch unter starkem Festhalten an den überkommenen Formen. Die Mandschu unterscheiden einander nach der Zugehörigkeit zu drei Hauptgruppen: den alten Mandschu (fö mandu); den modernen oder neuen Mandschu (ice mandu); und den mongolischen Mandschu (monqo mandu). Die ersten zeichnen sich vor den anderen dadurch aus, daß sie den ursprünglichen Stamm der militärischen Organisation des großen Apkaj han bildeten, während die anderen zunächst in den Bergen verblieben und sich erst nachher diesem Heer anschlössen. Die später unterworfenen mongolischen Stämme, welche der militärischen Organisation der Mandschu einverleibt wurden, bildeten die mongolischen Mandschu. Wahrscheinlich befinden sich aber unter den modernen Mandschu sowie unter den mongolischen auch Abkömmlinge vieler Chinesen und nomadischer Tungusen der Waldgegend, Bahuren usw. So bezieht sich die Bezeichnung mandu auf verschiedene ethnische Gruppen, die durch Organisation und Kultur miteinander verschmolzen wurden. Es ist also die Bezeichnung für einen p o l i t i s c h e n u n d k u l t u r e l l e n K o m p l e x , der durch einige südliche Tungusen-Gruppen begründet und beherrscht wurde und mit diesen auch sprachlich zusammenhängt. Sie sollen früher das gleiche nomadische Leben wie die Tungusen geführt haben. Die militärische Organisation der Mandschu bestand während der MandschuDynastie in acht „Bannern" (Korps) von Kavallerie, Artillerie und Infanterie und vereinigte sämtliche Mandschu als ethnische Einheit. Jeder Mandschu ist Soldat sein Leben lang und steht beständig unter militärischen Autoritäten. Diese militärische Organisation hängt nicht direkt mit ihrer KlanVerfassung zusammen. Letztere bildet aber die Grundlage für alle Lebensbeziehungen. Eine Existenz außerhalb des Klans (s. d.) war nicht möglich. Diese Klan-Verfassung, die heute noch besteht, gilt als uralt und ursprünglich. Tatsächlich lassen sich einige der heutigen Klan-Namen bis auf das 12. und 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückverfolge.n. Gegenwärtig bildet den Klan eine Gruppe von Leuten, die durch das Bewußtsein gemeinsamer Abkunft von einem Ahnherrn und durch weitere männliche Ahnen gekennzeichnet ist. Dazu führt der Klan heute Bücher und Listen. Vor allem beaufsichtigt er die Heirat, die Familie, die Angelegenheiten des öffentlichen und persönlichen Verhaltens und schließlich alle Eigentumsfragen. Deshalb ist die Voraussetzung für die Mitglieder des Klans, daß sie innerhalb eines bestimmten Landstriches wohnen, so daß der Mangel an Verbindung nicht den Ablauf der Klan-Angelegenheiten stört. Der Name für Klan ist hala, außerdem auch noch mokun. Gegenwärtig hat jeder hala seinen Eigennamen. Da die Klans aber jetzt sehr groß geworden sind, können die religiösen Übungen und sozialen Funktionen von ihm nicht mehr vollständig ausgeübt werden. Wahrscheinlich k o l o n i s i e r t e n die Mandschu während ihrer endlosen Kriege das gegenwärtige Wohngebiet nicht mit den Klans, sondern mit m i l i t ä r i s c h e n G r u p p e n aus verschiedenen Klans, ohne Rücksicht auf die soziale Organisation dieser Klans. Durch die A u s -
Politische
Entwicklung
105
b r e i t u n g derselben auf die ungeheuren Landstrecken Asiens von der Mandschurei bis zu den westlichen Grenzen Chinas verloren die Mandschu-Klans allmählich ihre innere Organisation. An Stelle des alten hala- Systems rissen neue Unterabteilungen der Klans, die mokun, die Funktionen der hala einschließlich der territorialen, an sich. Die Eigennamen beziehen sich jedoch nur auf die hala, nicht auf die mokun. Die hala können Abzweigungen haben, gargan genannt, die häufig mit den neuen Einheiten, den mokun, zusammenfallen. Diese gargan hatten früher wahrscheinlich die gleichen Funktionen wie die heutigen mokun. Der Gjoro-hala, dem die kaiserliche Familie der Mandschu-Dynastie angehört, und der heute im allgemeinen in Mukden lebt, schließt vier Zweige, gargan, ein, die nach verschiedenen F a r b e n benannt sind, und die sich wahrscheinlich erhielten, während sich die Mandschu mit ihrer militärischen Organisation, die acht, mit bestimmten Gebieten zusammenhängende Korps bildet, über das Gebiet von China ausbreiteten. In der Gegend von Aigun gibt es zwei oder drei gargan von diesem hala; gewöhnlich übergehen die Mandschu jedoch die gargan-Namen. Das Wesentliche dieser Gruppierung besteht in dem Gefühl der Zusammengehörigkeit der Personen gleicher Abstammung, die sich auf einem bestimmten Territorium festgesetzt haben. Sie bilden gleichzeitig die exogamen und religiösen Verbände. Das exogame Tabu hängt jedoch in erster Linie von der Zugehörigkeit zum Gebiet ab. Aus diesem Grunde wirkt dieser geographische Gesichtspunkt vielfach fördernd auf die Zerteilung der Klans, manchmal allerdings auch auf ihre Vereinigung. Ein hala kann also drei, vier oder mehr exogame Einheiten innerhalb eines Landstriches und weitere wieder irgendwo anders besitzen. E s ist somit wahrscheinlich, daß ursprünglich ein mit einem Eigennamen ausgestatteter hala ein bestimmtes Gebiet besetzt hielt. Bei der Ausdehnung über die weiten Räume bildeten die Mandschu n e u e exogame Einheiten, die zwar nicht mit besonderen Namen bezeichnet wurden, sondern den alten hala-Namen bewahrten ihm jedoch noch die Farbe der Flagge ihres militärischen Korps, des Distriktes, in dem sie beheimatet waren, hinzufügten. So zerbrach ein hala zu neuen exogamen Einheiten, zu Zweigen, gargan. Nachdem sich dieser neue Unterscheidungs-Gesichtspunkt verloren hatte, wurden die Einheiten noch einmal gemischt, und so entstanden die mokun. Da die Zweige keine Eigennamen führten, gerieten sie teilweiße bald in Vergessenheit, und selbst dort, wo sie erhalten blieben, verloren sie ihre soziale Bedeutung. Auch für die neue exogame Einheit mokun wurden keine Eigennamen angewendet. — Gegenwärtig kann eine hala sehr viele mokun haben, mitunter aber auch nur einen; letzteres nämlich dann, wenn die Angehörigen des Klans nicht über sehr weite Gebiete verstreut sind. Der größte Teil der Klans, nämlich 27, rechnet sich heute zu den sogenannten alten Mandschu, 6 Klans zu den modernen, 3 Klans zu den amalgamierten Fremden und 6, genauer 5, zu den mongolischen Mandschu. Außerdem gibt es noch eine Zahl ausgestorbener Klans. Einige Mandschu-Klans sind chinesisch geworden, während umgekehrt chinesische mandschurisch wurden. Vor etwa 100 Jahren mag wohl dieselbe Zahl von 45 Klans bestanden haben, sie war jedoch, wie aus den angedeuteten Ver-
106
Politische
Gefüge
Schiebungen hervorgeht, aus a n d e r e n e t h n i s c h e n E l e m e n t e n zusammengesetzt. Bemerkt muß werden, daß nicht alle Mandschu-Klans ihre Äquivalente in dem chinesischen Buch ihrer Familiennamen (i-baj-sin) besitzen. Ein Teil dieser Klan-Namen stellt geographische Bezeichnungen von Örtlichkeiten dar, ein anderer Tiernamen und ein dritter Bezeichnungen verschiedener Gegenstände, wie Bogen, Fischhaken usw. Die Klans sind heute von sehr verschiedener Mitgliederzahl und haben manchmal in weit entfernten Gegenden Gruppen von Angehörigen. Die Mandschu des AigunGebietes umfassen ungefähr 20—25 000 Seelen. In diese teilen sich 30 Klans mit einer ungefähren Mitgliederzahl von je 700—800 Personen (Shirok. [24] 11 ff). — Wächst ein mokun rasch, so kann sich von diesem ein neuer mokun abspalten. Dann nimmt dieser neue „Geister" an und beginnt eine eigene Klan-Liste. Jedoch darf sich ein neuer mokun nicht verselbständigen, wenn der Vater-mofeww nicht länger als wenigstens fünf Generationen lang selbständig bestanden hat. Der mokun erstreckt sich auf Heiratsangelegenheiten, die Gerichtsbarkeit, auf häusliche Dinge, Verwaltungs- und Wirtschaftsfragen sowie auf die Beziehungen unter den mokun. Während der Mandschu-Dynastie war auch Militärisches mit eingeschlossen. Gewöhnlich einmal im Jahre, aber nicht seltener als alle drei Jahre, versammeln sich alle mofcwn-Angehörigen zu einer gemeinsamen Versammlung. Abwesenheit von dieser kann nicht entschuldigt werden außer im Falle von Krankheit oder besonders weiter Entfernung. Hält man den Grund für die Abwesenheit eines Mitgliedes für nicht genügend, so wird der Schuldige von dem mofcun-Haupt dazu verurteilt, mit Stöcken geschlagen zu werden. Anwesend sind bei den Versammlungen alte Leute von 60—70 bis herunter zu Knaben von 5—6 Jahren. Die Männer treten getrennt von den Frauen zusammen, die gleichzeitig ihre eigene Klan-Versammlung abhalten. Eine Abstimmung wird nicht vorgenommen, sondern die Fragen werden durch Akklamation erledigt. Man bedient sich der Mandschu-Sprache, jedoch ohne irgendwelche schriftlichen Dokumente. Die Versammlung beginnt mit einem Opfer, das am ersten Tage den Ahnen und den Klan-Geistern dargebracht wird und in Tieren besteht, die gemäß dem Klan-Ritus geschlachtet werden. Eine besondere Persönlichkeit wacht über die richtige Ausführung der Zeremonien. Am zweiten Tage findet die Wahl des Klan-Hauptes, mokunda = großes Haupt, statt. Der mokunda wird aus den Leuten gewählt, die in der öffentlichen Meinung für weise, wohlerzogen, ehrenhaft, taktvoll und als geschickt für dieses schwierige soziale Amt gehalten werden. Die soziale Stellung und der persönliche Besitz des Kandidaten ist von verhältnismäßig geringer Bedeutung; es kommt also nur auf die persönlichen Qualitäten an. Gewöhnlich ist der mokunda ein junger Mann, jedoch von nicht weniger als 25 Jahren, er wird für eine unbegrenzte Zeitdauer gewählt. Seine Macht ist, wie die Mandschu sagen, gleich der eines Generalgouverneurs der Mandschurei, einschließlich des Rechtes zur Verhängung der Todesstrafe, und seine Befehle können nicht durch irgendeine andere Autorität annulliert oder revidiert werden. Nach dem Sturz der Mandschu-Dynastie ist heute die Macht dieser Klan-Häupter geringer geworden. Der mokunda ist Vorsitzender der Klan-Versammlung,
Politische
Entwicklung
107
oberster Richter und entscheidet alle Angelegenheiten, die den Klan betreffen, er nimmt die Klan-Riten, insbesondere bei Heirat und Tod, vor, achtet auf die Moralität im Leben des Klans und der Privatleute, erteilt Erlaubnis für Heiraten, Erbgang, Teilung von Familien, führt die Klan-Liste und erteilt geschäftliche Ratschläge an die Mitglieder des Klans, ist überhaupt der bevollmächtigte Vertreter der Klan-Versammlung. Während der Mandschu-Dynastie führte er auch die Rekrutierungslisten. — Manchmal bleibt ein mokunda 20 und mehr Jahre in seiner Stellung, und sein Sohn folgt ihm darin. Verstößt seine Tätigkeit gegen die Gesetze, und wird sie von der Klan-Versammlung nicht gebilligt, so kann er Entlassung von dieser fordern. Diese braucht sie nicht zu genehmigen, sondern kann sich mit dem Ausspruch eines Tadels gegen ihn begnügen. Der mokunda bezieht keinerlei Gehalt, sondern hilft, wenn er ein bemittelter Mann ist, häufig armen KlanMitgliedern. Gewöhnlich muß der vorgeschlagene Kandidat gebeten werden, das sehr anstrengende Amt anzunehmen. Doch ist es eine Ehre für den, den die Wahl trifft. Erhebt jemand gegen den Gewählten Widerspruch, oder wird dem Erkürten nicht einstimmig zugejubelt, so nimmt der Kandidat in der Regel die Wahl nicht an. Die Macht des mokunda ist im Klan nahezu unbeschränkt, und alle Mitglieder des Klans werden ohne Ausnahme in bezug auf die Klan-Organisation g l e i c h m ä ß i g behandelt. — Die Organisation d e r F r a u e n ist ähnlich der der Männer. Wünschen sie etwas, so können sie sich an die Klan-Versammlung der Männer nur durch den mokunda wenden. An der Frauenversammlung nehmen alle unverheirateten Weiber teil, die in diesem Klan geboren wurden, und diejenigen, die durch diesen Klan als Gattinnen der Klan-Männer Aufnahme fanden. Die Frauen wählen ein weibliches Klan-Haupt, hehe-mokunda, das analoge Rechte wie der männliche mokunda besitzt. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die Frauen nicht auf die Beine geschlagen werden, sondern auf die Handteller. Männer dürfen bei diesen Frauenversammlungen mit Ausnahme des männlichen mokunda, des haha-mokunda, nicht anwesend sein. Angelegenheiten, die sowohl Männer wie Frauen betreffen, werden in einer besonderen Versammlung beider Geschlechter erörtert. Hat ein Mann eine Beschwerde gegen eine Frau, so trägt er sie der hehe-mokunda, dem Frauenhaupt, vor. Indessen hat die weibliche Versammlung nicht die gleiche Bedeutung wie die männliche, der vor allem militärische und politische sowie Verwaltungsfragen zufallen. Auch Jagd und Feldbauangelegenheiten blieben Angelegenheiten der Männer. In den Frauenversammlungen handelt es sich hauptsächlich um Haushalt, Geburt und Erziehung der Kinder (Shirok. [24] 50ff). Politisches Gefüge im Verhältnis zur sozialen und wirtschaftlichen Gestaltung. — Die Anhäufung verschiedener ethnischer Gruppen führt dazu, daß unter ihnen auch verschiedene Prinzipien das soziale, wirtschaftliche und politische Gebiet beherrschen. Bei den südafrikanischen b a - i l a gibt es drei nebeneinanderstehende soziale Gruppen: die patriarchalische Familie, den mutterrechtlichen Klan und die Häuptlingsgemeinde, die territorialen Charakter trägt. Das ganze Ua-Land besteht aus ungefähr 80 solcher Gemeinden, die an Größe und Volks-
108
Politische
Geßige
zahl zwischen 100 und 3000 Seelen schwanken. Eine solche Gemeinde kann aus einem großen Dorf und mehreren kleinen oder aus einer Anzahl gleich großer Dörfer zusammengesetzt sein. Das Land ist unter den Gemeinden scharf abgetrennt. Die Bewohner einer solchen Gemeinde (Chishi) sind Freie und Sklaven; die ersteren sind die eigentlichen Ba-ila, die letzteren werden bazhike = die Begrabenen benannt. Doch gibt es keine ganz feste ethnische Grenzlinie zwischen diesen beiden Schichten, weil die Freien in Sklaverei verfallen können und die Sklaven Freiheit erringen und sogar die Häuptlingschaft erlangen können. Die Herrschaft in den Gemeinden befindet sich in den Händen der Häuptlinge (bami). Es gibt zweierlei Klassen unter diesen, die sich jedoch tatsächlich nur wenig voneinander unterscheiden. Der Häuptling ist der primus inter pares. Jede Gemeinde hat ihren Häuptling (Schulzen) und jeder Dorfteil wieder ein besonderes Oberhaupt. Der Schulze bildet mit diesen Oberhäuptern zusammen einen R a t , der die Streitigkeiten ordnet und Recht spricht. Früher scheint die Häuptlingschaft in den Gemeinden stärker entwickelt gewesen zu sein. Heute ist ihre Autorität jedoch gesunken. Jede Gemeinde ist völlig unabhängig. — Die Schulzen und Oberhäupter wählen nach dem Tode eines aus ihren Reihen Verstorbenen dessen Nachfolger aus der Zahl seiner Kinder und Neffen, und zwar denjenigen, der ihnen am geeignetsten erscheint. Ein Häuptling braucht nicht reich zu sein, wenn er gewählt wird, jedoch ist sein Besitz, wenn auch in zweiter Linie, nicht unwichtig (ähnlich wie bei den Mandschu). Durch die Strafen, die er über den Klan und die Gemeinde verhängt, durch Geschenke und Abgaben, insbesondere von Fremden, ist er jedoch in der Lage, gewisse Reichtümer zu erwerben (Smith u. D. [20] 1 298ff). Münz. ([83] 316) betont den Unterschied in der Art der politischen Abhängigkeit bei verschiedenen abessinischen Stämmen, namentlich auch im Vergleich mit der wirtschaftlichen. Bei den Bogos unterwirft sich der Schwache dem Starken, auf daß er ihn beschütze; bei den Beni-amer dagegen ist der Unterworfene Lehensmann. Der Herr überläßt sein in Vieh bestehendes Vermögen dem Hirten, von dem er einen bestimmten Unterhalt als „Leibrente" bezieht. Zusammen mit dem Vermögen wird auch die Unterhaltungspflicht des Viehpächters weitervererbt. Der Adlige ist nur insofern Herr seines Untertanen, als er ihn zu seinem Pächter gemacht hat. Bei den Marea besteht andeutungsweise ein ähnliches Verhältnis. Mit den größeren Rechten sind jedoch auch größere Pflichten verbunden, die sich namentlich auf ein bestimmtes Verhalten der Herren beziehen. Jedem Herrn ist daran gelegen, guten Ruf zu besitzen, und er muß seine Untertanen schon deswegen schonen, weil er von ihnen lebt und sie sich seiner Botmäßigkeit entziehen können. So tief daher die Unterworfenen rangieren, so familiär stehen sie zu ihrem Herrn. Da sie Pächter auf ewige Zeiten sind und der Reichtum des Landes sich tatsächlich in ihren Händen befindet, o haben sie bei jeder öffentlichen Beratung die wichtigste Stimme. Sie setzen die Weiden fest und den Ort, wo das Lager aufgeschlagen werden soll. Man darf sich also nicht vorstellen, betont Munzinger (317), daß die Unterworfenen sich unglücklich fühlen, solange ihre Stellung auf der alten Basis ruht. Anders, meinte Munzinger in
Politische
Entwicklung
109
den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, könnte das Verhältnis werden, wenn die Türken, die damals ihre Macht in diesen Gegenden ausübten, sich mit dem Adel verbinden würden, um die Gemeinen mit roher Gewalt zu unterdrücken. Amalgamierung niedriger politischer Formen durch höhere. — Ein Zusammenprallen verschiedener, stark und schwach organisierter Gruppen führt zu einer Anpassung an die politische Organisation der Stärkeren. Die Überschichtung eines älteren Klansystems durch ein heiliges Fürstentum tritt im ostafrikanischen R u a n d a besonders deutlich in Erscheinung. Die Klans stehen dort im Vordergründe, wo der Batutsi-Staat noch nicht genügend Fuß gefaßt hat, wie das z. B. in Bugoye und vor allem in Mulera der Fall ist. In der Nduga dagegen haben die Klans eine geringe politische Bedeutung. Im Norden besiedeln die Angehörigen der einzelnen Klans größere, geschlossene Gebiete. Diese autonomen territorialen Gemeinden können manchmal dank ihrer inneren Solidarität und der häufig recht bedeutenden Kopfstärke bei den nicht besonders stramm organisierten politischen Verhältnissen eine sehr bedeutende Rolle spielen. In der Nduga dagegen wurden die Klans durch die Staatsgewalt gesprengt, zerstreut und der Möglichkeit, sich in politische territoriale Klanverbände zusammenzuschließen, beraubt. Die Vertreter der verschiedenen, sich gegenseitig bekämpfenden Gruppen wurden hier in territoriale Gemeinden zusammengefaßt und den vom Staate eingesetzten Häuptlingen unterstellt. Wenn man von Mulera über Bugoye nach Nduga geht, so kann man nacheinander, wie Czekn. ([17] 246) sagt, die einzelnen Phasen der Staatsgewalt beobachten. Man sieht hier, wie die unabhängigen, undifferenzierten Klans zunächst in den Bereich der mannigfaltigen Abhängigkeitsverhältnisse hineingezogen und dann allmählich absorbiert werden. Die Angehörigen desselben Klans haben sich bei der Besitzergreifung von Bogoye in verschiedenen Stämmen festgesetzt. Infolgedessen stellt auch das ganze Land ein Mosaik von Gebieten dar, in dem verschiedene, räumlich voneinander g e t r e n n t e T e i l e ders e l b e n K l a n s wohnen und sich immer noch ihres historischen Zusammenhangs bewußt sind. Das kommt am schärfsten in der Institution der B l u t r a c h e wie auch in den Eß- und H e i r a t s v e r b o t e n zum Ausdruck. Dieses Bewußtsein reicht jedoch nicht aus zur Bildung von selbständigen, größeren, wohldisziplinierten Verbänden. Schon j e d e e i n z e l n e N i e d e r l a s s u n g bildet eine ganz u n a b h ä n g i g e G e m e i n d e m i t i h r e m A l t e s t e n an der S p i t z e . Der Häuptling oder „Schulze" besitzt in den durch Eroberer unbeeinflußten Klan-Gemeinden eine nur geringe Autorität. Er vertritt die Klan-Gemeinde nach außen und schlichtet die inneren Streitigkeiten. Diese bilden eine der wichtigsten Ursachen für die L o s t r e n n u n g und A u s w a n d e r u n g von Klan-Genossen. Die Stellung dieses Häuptlings ( m u g a b o ) ist erblich und geht gewöhnlich auf den ältesten Sohn über. — Durch die Unterwerfung des Klan unter fremde Eroberer wird die Stellung des Häuptlings verschoben: er muß hauptsächlich Steuern einziehen, um diese den Beamten des Fürsten auszuliefern. Stellt er sich mit der neuen Macht gut, so kann er es zu einer Großhäuptlingschaft bringen, die auch wieder auf seinen Sohn
110
Politische
Gefüge
vererbt wird. Die Häuptlingschaft der Baraschi unter Lukara-lwa-Bishingwe stellt einen Klan-Verband dar, dessen Altester durch den Einfluß der Batutsi zu einem Häuptling nach den Begriffen der Eroberer e r h o b e n wurde. Der alte Bishingwe war ein geschickter Jäger und hat verstanden, sich eine Batwa-Gruppe dienstbar zu machen. Für das viele Elfenbein, das er dem Lwabugiri, dem König von Ruanda, geliefert hatte, begünstigte ihn dieser derart, daß er ihn wie seinen unmittelbaren Vasallen ( m u g a r a g u ) behandelte und ihm die Häuptlingschaft über seinen eigenen Klan überließ, in dem er angeblich auch früher die Stelle eines mugabo eingenommen hatte. — Diese Erhebung eines Klan-Altesten zum Häuptling wurde durch die Klan-Genossen nicht anerkannt, und bei ihnen besaß Lukara, der Sohn des Bishingwe, zur Zeit von Czekanowskis Reise eine nur geringe Machtfülle. Um diesem Übelstande abzuhelfen, suchte Lukara, fremde Elemente aus zersprengten Klans und ausgestoßenes Gesindel anzulocken und diese auf dem freien Boden anzusiedeln. Aus dieser unorganisierten, als Fremde jedem preisgegebenen Gruppe, die nur von Lukara Schutz erwarten durfte, bildete er seine Anhänger, und mit diesen hielt er seine Klan-Genossen im Zaume. Diese drängten wieder die Fremden durch ihren Haß zu ihm hin, und in dieser Weise entstand jenes geschlossene, straff organisierte Gebilde, das Lukara seinen Gegnern so gefährlich machte. So gut diszipliniertes Gefolge wie Lukara besaß sein Hauptgegner, der Muttsi Luhanga, nicht. (Bei der Schilderung von der Entstehung dieses Staatswesens könnte man an die des alten Rom mit seinen Patriziern und Plebejern erinnert werden.) Trotz der Reibungen zwischen dem Klan-Ältesten und den Klan-Genossen halten die Baraschi an Lukara fest. Sie wissen, daß sein Sturz ihre Unterwerfung durch Fremde bedeutet. Deshalb ist auch Lukara so stark seinen Gegnern gegenüber, obgleich er nicht soviel Leute in das Feld bringen kann. Seine BatutsiGegner müssen sich auf die Bahutu stützen, die durchaus kein so großes Interesse an ihren Erfolgen haben. Ja, Lukara, dessen Vater erst durch Lwabugiri zum mugaragu gemacht wurde, gibt sich jetzt stets für einen Mututsi, also für einen Angehörigen der Batutsi, aus. Das gleiche behaupten seine Gefolgsleute. Seine Klan-Genossen sagen allerdings nur, daß er seine Angehörigen wie ein Fremder, ein Mutitsi, durch zugezogene Ansiedler bei Gelegenheit zu drücken versucht. — Auf diese Weise verschmilzt der aus den Klan-Altesten gebildete Bauernadel mit den Batutsi. Daran schließt sich weiter die Frage, ob diese allmählich durch das Vergessen der ursprünglichen Herkunft besiegelte N o b i l i t i e r u n g die Hauptursache des Vorkommens der Bahutu-Klannamen bei den Batutsi bildet. — Auch in den autonomen Klan-Gemeinden, die manchmal gegen 100 Köpfe, in einzelnen Fällen sogar mehrere 1000 betragen, finden sichFremde, die sich alsKlienten (bagaragu) bei den Klan-Genossen niederlassen (s. Hörige A), ihnen Dienste erweisen, wofür sie verpflegt und von Zeit zu Zeit mit einem Stück Kleinvieh belohnt werden. Diese Leute verschaffen sich so Mittel zum Ankauf einer Frau; in den stark besiedelten Gegenden, wo es an freiem Land fehlt, pachten sie Acker und besitzen auf dem g e p a c h t e t e n Boden eigene Häuser. Andere pachten nur soviel Land, wie für die Hütte und den kleinen Hof
Politische
Entwicklung
111
nötig ist, und erwerben sich ihren Unterhalt als T a g e l ö h n e r . — Diese Niederlassungen auf dem Boden eines fremden Klans zeigen schon eine P a z i f i z i e r u n g und Stabilisierung der Verhältnisse an und wirken natürlich z e r s e t z e n d auf die K l a n - G e m e i n d e . In den primitiveren Zuständen blühender Klan-Organisation kommen solche Verhältnisse selten vor. Das Wohnen unter den Fremden ist dort zu gefährlich. Es fehlt nämlich die Gewähr, daß es nicht zur Fehde zwischen dem Klan der Gastgeber und dem des Ansiedlers kommt, und dann fällt der Isolierte als das erste Opfer, das man am leichtesten erreichen kann. — Diese Klienten ( b a g a r a g u ) , die aus der Ferne kommen und sich den Besitzenden anschließen, um ihnen Dienste zu leisten, für die sie verpflegt und versorgt werden, spielen für das Königtum von Ruanda eine wichtige Rolle. Den König umgeben als Klienten einflußreiche Leute, die ein zahlreiches Gefolge besitzen, und deren Klienten wieder Klienten unter sich haben. In dieser Weise stellt der Ruanda-Staat eine Pyramide mit dem König an der Spitze und der freien Bauernbevölkerung ohne Bodenbesitz als Basis dar. Zwischen diese schieben sich die großen Häuptlinge mit ihren Unterhäuptlingen als organisierendes Element ein, das die Bevölkerung im Zaume hält. Es ist eine Organisation, die an die des altägyptischen Reiches wenigstens zu gewissen Zeiten seiner politischen Entwicklung erinnert (s. T. [02] 702ff). — Der König ist der Besitzer des ganzen Bodens und der sämtlichen K ü h e des Landes. Durch das Verleihen und Zurückziehen dieser Güter übt er seine Macht aus. In dieser Weise setzt der König die Beamten ein, die in dieser Stellung als vorübergehende Großgrundbesitzer zu betrachten sind. In der Bevölkerung des RuandaStaates sind v i e r S t ä n d e zu unterscheiden. Den ersten bilden die königlichen Beamten; es sind die Lehenträger des Königs, ihre Unterhäuptlinge samt dem Gefolge wie auch die übrigen Würdenträger am Hofe des Königs. Dieser privilegierte Stand besteht ethnisch fast ausschließlich aus Batutsi. In der Zahl der niedrigsten Beamten, zu denen die Gemeindevorsteher gehören, gibt es vor allem in Bogoye recht viele Bahutu. In Mulera und in Bgisha treten Bahutu sogar als Hofherren des Königs auf. Diese Beamten werden allgemein als batware bezeichnet. — Den zweiten Stand bilden die Krieger (ngabo). Sie sind besonderen Häuptlingen unterstellt und haben keine Arbeiten auf den Feldern der Häuptlinge zu leisten, sie sitzen auf eigenem Boden, der vor Generationen von ihren Ahnen in Besitz genommen und gerodet worden ist. Bei der Eroberung des Landes durch die Batutsi wurden sie nicht verjagt, und der König anerkennt ihre Freiheiten. Sie haben dafür nur die gewöhnlichen Steuern zu zahlen, müssen aber immer zum Kriege bereit sein. Die ngabo tragen als Abzeichen das kigomero, den hölzernen Ring zum Auffangen der beim Abschießen zurückschnellenden Bogensehne. Im Innern des Landes, z. B. in der Nduga, sind die ngabo weniger zahlreich und sitzen zwischen der übrigen Bevölkerung auf den Hügeln verstreut. In den Grenzmarken, wie z. B. in Mulera, bilden sie fast die ganze Bevölkerung. — Den dritten Stand bilden die biletwa, freie Bauern ohne Grundbesitz. Sie bebauen den Boden des Königs und entrichten dem Häuptling einen zwei- bis dreitägigen Frondienst während der fünf- bis sechs-
112
Politische
Gefüge
tägigen Woche, außerdem müssen sie noch Steuern bezahlen. — Den vierten Stand bildet der Paria-Stamm der batwa. Es sind Jäger, Töpfer, Regenmacher. Aus ihnen besteht die Polizei. Sie geben auch die Henker ab. — Außerdem gibt es noch S k l a v e n in Ruanda; jedoch spielt die Sklaverei keine große Rolle, obgleich die Zahl der Sklaven in Bugoye und bei den Batutsi von Nduga recht bedeutend sein soll. Sklaven sind hier vorwiegend Frauen, die als kleine Kinder während der nicht seltenen Hungerszeiten von ihren Eltern gegen Lebensmittel eingetauscht werden (Czekanowski 245ff, 252ff). § 2. S c h i c h t u n g und S t a f f e l u n g Wenn auch innerhalb der niedrigen Gesellschaften von Jägern und Sammlern persönliche Unterschiede des Ansehens nicht fehlen, ja selbst ausgezeichnete Familien sich geltend machen, so kann man von einer Schichtung doch erst dort sprechen, wo ein rangmäßiger Unterschied zur Grundlage des Gesellschaftsbaues geworden ist. Die Voraussetzung dafür scheint aber in der Regel das Zusammentreffen verschiedener ethnischer Gruppen zu sein, also von Völkern verschiedener Rassenzusammensetzung und Kultur. Allein auch ohne solche ethnischen Verzahnungen können Rangunterschiede entstehen. Allerdings muß die Frage offen bleiben, ob sie dann nicht die Nachwirkungen von früherene thnischen Überlagerungen darstellen, ob nicht solche Tatsachen später nach einem ethnischen Ausgleich, nach einer „Wiederdemokratisierung" Anlaß zu „ständischen" Bevorzugungen oder Benachteiligungen bieten. Jedenfalls wird im Falle der ethnischen Verzahnung in einem politischen Gefüge hier von „ S c h i c h t u n g " gesprochen, bei Rangunterschieden innerhalb einer ethnisch einheitlichen Gesellschaft dagegen von „ S t a f f e l u n g " . Hierbei kann man sehr verschiedene Formen unterscheiden: 1. eine Schichtung verschiedener Familien, die als solche nebeneinander siedeln; 2. das Bestehen einer Gruppe von ausgezeichneten Häuptlingsfamilien; 3. das Vorhandensein von Hörigen oder Sklaven; 4. persönliche Auszeichnung, die an ein Rangsystem mit familialer Bevorzugung angeschlossen ist; 5. die Verbindung von Adel und Rang mit Besitz und anderen Gesichtspunkten. Obwohl Besitz und Reichtum einerseits zur Komplizierung und Ausgestaltung der Rangunterschiede beitragen, wirken sie doch andererseits umgestaltend und sogar teilweise auflösend auf die sippenmäßige Schichtung. Finden keine neuen Überlagerungen statt, so verfällt, wie in vielen Teilen des nordwestlichen Amerika, die starke Betonung der abstammungsmäßigen Auszeichnung. Staffelungen bei Wildbeutern. — Selbst niedrige Jäger- und Sammlerstämme, wie die Bergdama, anerkennen, wie erwähnt, gewisse Unterschiede, die teils mit Altersstufen, teils aber auch mit persönlichen Auszeichnungen verbunden sind. Jedoch nicht das allein, sondern auch gewisse Ämter, wie das des Speisemeisters, des Beschmeckers der Speisen, heben Einzelne aus der Masse der übrigen heraus. Diesem Speisemeister z. B . fällt auch die Be-
Schichtung und
Staffelung
113
Stellung von Botschaften an andere Klans zu, sowie die Behandlung der Kranken. Man könnte ihn als „ K o c h " und „Arzt" bezeichnen (Yedd. 19). Daneben steht noch der Loswerfer oder Zauberer, der „Priester", der durch seine Künste einen besonderen Einfluß ausübt, und dessen Fertigkeit nicht selten vom Vater auf den Sohn vererbt wird (112ff). Bei genauerer Untersuchung stellt sich überdies heraus, daß es eine Zahl von angesehenen Familien innerhalb der Bergdama gibt, die einen besonderen Einfluß auf die übrigen ausüben (3, 173ff). Nebeneinandersiedeln verschiedener Familien und Sippen. — Eine Auszeichnung gewisser Familien tritt z. B. bei den berühmten jährlichen Seeexpeditionen der Motu Neu-Guineas nach dem Papua-Golf hervor. Die Führer dieser Reisen gehören nämlich bestimmten Sippen an (Slgm. [10] lOOff). — Bezüglich der Sippen-Spezialisierung der Mailu-Töpfer und KanuBauer vgl. Sav. [26] 119, 141. Einer Schichtung, die sich in der Angehörigkeit zu bestimmten Häuptlingsfamilien äußert, begegnen wir in Buin auf Bougainville (Salomo-Inseln, Südsee). Hier reicht die Uberlagerung durch eingewanderte Erobererstämme in eine verhältnismäßig kurze Vergangenheit zurück. Das Sklaventum ist nur in Gestalt von persönlicher Dienerschaft in sehr milder Form ausgebildet (T. [10] 314ff). Ausgezeichnete Häuptlingsfamilien, insbesondere bei Hirten. — Von besonderer Bedeutung f ü r die Herbeiführung einer abstammungsmäßigen Schichtung sind die H i r t e n s t ä m m e . Das Halten von Vieh bedingte eine, im Verhältnis sowohl zu Jägern und Fängern als auch zu Feldbebauern bequeme Lebensweise, die sich auf die Auswirkung technischer Verbesserungen stützt, auf intelligente Leistungen, die Gemeingut der Gruppe geworden sind. Die Viehhaltung läßt Muße zum Kampf und zieht nicht davon a b wie der schwere körperliche Arbeit erfordernde Ackerbau. Das Vieh ist als Trag- oder Lasttier, als Milchtier ein Gebrauchsgut, während der Jäger in ihm nur ein Verbrauchsgut sieht und die Früchte der Grabstockgärtnerin auch f ü r den unmittelbaren Verbrauch bestimmt sind. Auf die Viehhaltung gründet sich darum die Wertung beweglichen Besitzes, damit aber auch die Verleitung zum Raub. Die Nutzung der Menschenkraft nach Analogie des Verfahrens mit Tieren wurde von großer Bedeutung in Gestalt des Haltens von Menschen als Hörige oder Sklaven. Vor allem aber legte die Viehhaltung die Grundlage, auf welcher der wirtschaftliche Gedanke von einem fruchtbringenden Kapital sich entwickeln konnte. Teils deuten diese Faktoren auf eine gegebene intellektuelle Überlegenheit der Hirten, die durch Auslese innerhalb ihres Kreises zweifellos verstärkt wurde, teils förderten die erwähnten Auswirkungen ihrerseits Stämme, die Viehzucht trieben. Durch das eine wie durch das andere wurde das Uberlegenheitsgefühl der Hirten gehoben; es fand auch Anerkennung, und damit wurde die wichtige Voraussetzung für die Schichtung überhaupt geschaffen. Einer solchen Überschichtung durch ausgezeichnete Familien begegnen wir z. B. auch bei südarabischen Hirtenstämmen. Die Regierung der Wahabys S
T h u r n w a l d IV.
114
Politische
Gefüge
bildete ein Rat der großen Scheichs. In Friedenszeiten wurden die Ulemas von Derayeh befragt, die zur Familie des Abd el Wahab gehörten und erheblichen Einfluß besaßen (Brckh. [1830b] 294, vgl. 169). Besonders charakteristisch für exklusive Hirten ist die Stellung von PariaStämmen, die mit ihnen zusammenleben. So dürfen z. B. in Südarabien die Achdarn (Diener, Tamburinspieler, Trommler, fahrende Sänger) wohl in die Moschee, aber nicht in die Häuser kommen. Den Schumr (Abdeckern) ist auch in die Moscheen zu kommen nicht erlaubt; man sagt von ihnen, daß sie Aas genießen, und hält die Berührung mit ihnen für verunreinigend. Sie wohnen auswärts der Stadt in abgeschlossenen Häusern. Beide Kasten haben weder connubium noch consortium mit den übrigen Arabern (von Mltz. [73] 349, vgl. a. 369). Hörige und Sklaven*. — Die Staffelung ist manchmal in nächster örtlicher Nachbarschaft sehr ungleichartig ausgeprägt, wie z. B. bei verschiedenen abessinischen Stämmen. Während z. B. die Barea und Kunama eine gerontokratische Demokratie besitzen, begegnen wir bei den Bogos einer aristokratischen Familienorganisation (Münz. [83] 476). Auch das Verhältnis zu den Sklaven ist sehr verschieden. Die Barea und Bazen besitzen nur ausnahmsweise Sklaven. Sie kommen in deren Besitz durch Beraubung feindlicher Stämme; meist werden die Sklaven aber von ihren Verwandten wieder ausgelöst oder, bevor sie sich eingewöhnt haben, weiter verkauft. Die Barea und die Bazen kaufen sich nie vom Ausland Sklaven (ebd. 483). Bei den Beni Amer dagegen bilden die Sklaven einen bedeutenden Teil der Bevölkerung und sind entweder vom Feinde geraubt oder aus dem Ausland gekauft. Diese Sklaven werden wieder in neu angekaufte und in eingeborene unterschieden. Der im Lande geborene Sklave erfreut sich einer verhältnismäßig freien Stellung; jedoch darf er sich nicht mit den Freien verheiraten. Doch werden Kinder einer freien Frau, deren Vater ein Sklave ist, nach mutterrechtlichen Gesichtspunkten frei (308ff). Außerdem gibt es noch Dörfer oder Dorfteile von Familien in besonderer Stellung, die Scheich genannt werden. Sie können, obwohl nicht zum Adel gehörig, doch dessen Töchter heiraten. Die meisten sind frei von Tributleistungen und haben eigene Jurisdiktion. Sie gelten als mit besonderer Wunderkraft ausgestattet; es scheint sich dabei um eine Art von Zauberfamilien zu handeln (315). Ausgebautes Rangsystem mit persönlichen Unterschieden. — Unter den Trobriandern auf den Inseln östlich von Neu-Guinea üben Häuptlinge aus hochstehender Sippe politische Macht aus und werden mit Respekt und Ehrfurcht betrachtet und behandelt. Nicht nur, daß sie Tribut von anderen Dörfern empfangen, sondern sie werden auch durch verschiedene Formalitäten, Verbeugungen und Meidungen geehrt. Der Glanz der Persönlichkeit eines Häuptlings strahlt auf sein Dorf und die ganze Landschaft aus. Die Häuptlinge unterscheiden sich untereinander wieder im Rang, so daß sich eine Staffelung unter den Häuptlingssippen ergibt. Außerdem gibt es PariaDörfer, die handwerkliche Tätigkeit ausüben, deren Angehörige sich tiefer *) Vgl. VIII (S. 202).
Schichtung
und
Staffelung
115
bücken müssen, wenn sie sonstigen Leuten begegnen, die andere Speiseverbote haben als die übrigen und darum verachtet werden, denen keine Heiratsgemeinschaft oder auch nur Liebeshändel mit den Nachbarn zugestanden werden. Das Handelsspiel des zeremoniellen Kula-Tausches vollzieht sich nur unter den Großhäuptlingen und den ausgezeichneten Sippen, nicht jedoch unter denen, die mit diesen nicht verwandt sind oder den unteren Rangstufen angehören. Dabei macht es natürlich nichts aus, daß sich die Würde mutterrechtlich vererbt. Eine Frau höheren Ranges, die mit einem niedrigeren Mann die Ehe eingegangen hat, behält den Status sogar ihrem Ehemann gegenüber und muß von diesem durch Verbeugungen und Zeremonien sowie durch Respektierung ihres Tabu entsprechend behandelt werden (Mal. [22] 54f, 63, 66f, 275, 279). Neben diesen rein sippenmäßigen Rangunterschieden gibt es noch solche, die mit der Ausübung von Ämtern, insbesondere des Zauberers und des priesterlichen Wirtschaftsleiters, jedoch auch erbmäßig, verbunden sind (ebd. 59). An der Loango-Küste des westlichen Zentralafrika besteht ein mutterrechtlicher Adel, der zwar keine konsequent ausgebildete Rangstaffelung durchgeführt hat, jedoch mit ausgeprägten Vorrechten ausgestattet ist. Dieser Adel, der sich zeremonieller Verehrung erfreut, tritt als Grundherrschaft auf. Ihm stehen Freie gegenüber, weiterhin Unfreie, sowie endlich Leibeigene (Pech.-L. [07] 175, 197, 199). Die Bedeutung von Besitz und anderen Gesichtspunkten. — Eine außerordentlich komplizierte soziale Organisation tritt uns gewöhnlich auf den mikronesischen und polynesischen Inseln entgegen. Beispielsweise sei hier die Insel Yap angeführt, auf der eine vielfach untergeteilte Rangstaffelung sich findet. Die Häuptlingschaft selbst ist dort rangmäßig geschichtet, derart, daß z. B. die Karolinen-Insel Yap von acht Oberhäuptlingen verschieden angesehener Familien regiert wird, von denen nicht nur ein Zahl Dorf häuptlinge abhängt, sondern diese Unterhäuptlinge unterscheiden sich voneinander wieder je nach dem Rang des Dorfes, dem sie vorstehen. Außerdem aber ist mit dem Besitz gewisser Grundstücke eine bestimmte Würde verbunden. Aus dieser Kombination von Abstammung und Familienangehörigkeit mit Besitz, zu der noch eine Staffelung nach Altersrang tritt, ergibt sich eines Menschen Einreihung in den Rang, der auf Yap yegürn genannt wird. Der Übergang von einem niedrigeren yegüm in das höhere ist mit Unkosten verbunden (Müll.-W. [17] 242ff), ähnlich wie bei dem Rangaufstieg in den Geheimen Gesellschaften z. B. der Neuen Hebriden (vgl. Speiser [23] 397ff). — Für K u s a e vgl. Sarf. [19—20] 2 299, 333ff. — Bezüglich Polynesiens vgl. Willms. [24] 3 61 ff, 137ff, 170ff. Einer Schichtung von Sippen begegnen wir auch bei den nordwestamerikanischen Tlingit-Indianern. Der Rang der höchststehenden fünf Sippen hing da mit der Größe der Siedlung zusammen, der sie angehörten, und weiterhin mit deren Lage zu den großen Handelsstraßen. Einige kleinere Gruppen galten als besonders niedrigstehend. Die Angehörigen der größeren Gruppen standen im Rang einander n i c h t gleich. Der Unterschied im Rang trat durch die Etikette und die moralische Bewertung in Erscheinung. Von 8*
116
Politische
Gefiige
einem Manne ausgezeichneter Herkunft verlangt man ein besonderes Verhalten. Entsprach er dem nicht, so verlor er an Ansehen (Swant. [08] 427). Eine ähnliche Überschichtung durch Hirtenvölker finden wir in Indien, wo nomadische Arier die ihnen an Kultur überlegene vorarische, ostmediterrane Stadtbevölkerung aus dem Punjab im 2. Jahrtausend v. Chr. vertrieben. Sie legten sich als herrschende Schicht über die Masse eines anscheinend weniger kriegerischen und weniger unternehmenden, aber verhältnismäßig arbeitsamen und kulturbegabten Volkes. Aus der Mischung beider entstand die heutige Kultur Indiens. Die Nachschübe nordindischer (arischer) Typen in die Gebiete vorwiegend ostmediterraner oder sogar mongolider Rassenelemente hat bis in die neueste Zeit fortgedauert (Rajputen, Thakuren, Rohillas, Gurkkas u . a . ) . (Eick. [27] 20/1).
§ 3. H ö r i g k e i t Der Begriff der „ H ö r i g k e i t " wird von den Spezialforschem bei der Erörterung konkreten, bunten Erscheinungsbilder, welche die Gesellschaftsordnungen verschiedener Kulturen zeigen, in ungleicher Weise angewendet. I n den sich bietenden Fällen des wirklichen Lebens ist die Abtrennung von der „ S k l a v e r e i " bei weniger ausgeprägter sozialer Staffelung in der T a t manchmal sch wierig. Die begriffliche Scheidung der Hörigkeit von der Sklaverei ist indessen ziemlich allgemein anerkannt. Denn unter Hörigkeit versteht man ein viel loseres und weniger individuell betontes Abhängigkeitsverhältnis einer ganzen S c h i c h t von einer anderen übergeordneten, von einem A d e l . Ein solches Abhängigkeitsverhältnis ist in der Regel mit der Verpflichtung zur Leistung von A b g a b e n oder D i e n s t e n verbunden, wie z. B . bei den griechischen Periöken oder früher vielfach bei unseren in verschiedenen Graden der Abhängigkeit stehenden Bauern. Die S t a f f e l u n g einer Gesellschaft in Schichten verschiedenen Ranges ist manchmal mit ähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen verbunden, wie sie die Hörigkeit mit sich bringt. Auch hier bestehen vielerlei Übergänge zwischen Schichten untergeordneten Ranges und Hörigkeit. Die S k l a v e r e i beschränkt man theoretisch hauptsächlich auf persönliche Dienstleistungen für einen bestimmten Herrn. Da aber die Hörigkeit mitunter auch der persönlichen Beziehungen zu gewissen Familien nicht entbehrt, so verschwimmen hier ebenfalls manchmal die Grenzen. I m allgemeinen kann man sagen, daß bei der Hörigkeit die Verpflichtung zur Leistung an w i r t s c h a f t l i c h e n Gütern in den Vordergrund tritt und diese Leistungen juristisch b e g r e n z t sind. Dort, wo die Sklaverei konsequent durchgeführt ist, ist die g a n z e P e r s o n dem Herrn verfallen und geht in dessen Wirtschaftseinheit auf, sie wird zu einer Produktionsmaschine, die ohne Rücksicht auf die Individualität Verwendung findet und juristisch r e c h t l o s ist. Allein diese extreme Auffassung wird in der P r a x i s gewöhnlich deshalb gemildert, weil die A u t o r i t ä t zu fehlen pflegt, durch welche die schärfsten Folgerungen gezogen werden könnten.
Hörigkeit
117
Der Unterschied der Hörigkeit gegenüber der Sklaverei zeigt sich auch darin, daß die Hörigkeit häufig einen größeren Prozentsatz der Bevölkerung ausmacht als die Sklaverei. Ihrem Ursprung nach geht sowohl die Hörigkeit wie die Sklaverei vielfach auf die K r i e g s g e f a n g e n s c h a f t zurück. Doch ist es nicht immer so; die Hörigkeit hat, wie die soziale Schichtung überhaupt, noch andere Wurzeln. Das Nebeneinander- und D a z w i s c h e n s i e d e l n verschiedener e t h n i s c h e r , d. h. rassischer und kultureller Gruppen, hat zu gewissen traditionellen Beziehungen geführt, die in gegenseitige Leistungen und Dienste, sowie in festgelegte gegenseitige Wertung ausmündeten. — Unter besonderen geschichtlichen Umständen, vor allem wohl bei weitgehender Mischung, hat sich wahrscheinlich das „Halbierungssystem" herausgebildet. Man kann sich vorstellen, daß die familiäre Spezialisierung, die wechselseitigen Leistungen und insbesondere die schon in dem Halbierungssystem zu Tage tretende Unterscheidung einer h ö h e r e n oder sich v o r n e h m e r dünkenden Hälfte den Keim zu einer Symbiose enthielten, welche die Unterschiede in den Bewertungen sowie die Leistungen und Dienste in schärfere Formen goß. Historisch dürfte den Hirtenvölkern hier eine besondere Wirksamkeit zugefallen sein. Das Domestizierungsprinzip scheinen sie auch auf die Menschen, mit denen sie zusammentrafen, angewendet zu haben. Daher wäre unter Umständen auch nicht ausgeschlossen, daß in peripher gelegenen Gegenden gewisse mildere Formen der Abhängigkeit historisch keineswegs als Frühformen, sondern als weniger ausgeprägte Nachahmungen aufzufassen sind. Da die Hörigkeit eine gewisse Schichtung der Bevölkerung voraussetzt, bildet sie ein Mittel für die Organisation politischer Gemeinwesen höherer Naturvölker und der Naturvölker gewisser Entwicklungsformen. Sie setzt im allgemeinen das Zusammentreffen heterogener ethnischer Gruppen voraus, namentlich oft das von Hirten mit seßhaften Feldbauern. Einige konkrete Beispiele sollen die verschiedenen Gestaltungen der Hörigkeit beleuchten. Hörige Bauern bei Hirten. — Die f e l d b a u e n d e Bevölkerung der ba-Nyankole am Viktoria-See in Ostafrika stellt offenbar die Nachkommenschaft einer ä l t e r e n Bewohnerschicht des Landes dar, die durch einwandernde Horden eines H i r t e n v o l k e s unterworfen wurde. Diese machten sie zu Hörigen, welche diejenigen Arbeiten zu verrichten hatten, die sie selber infolge ihrer vielfach zeremoniellen Hirtengebräuche nicht ausüben konnten. Diese Feldbauer waren keine Sklaven, sie konnten sich im Lande f r e i b e w e g e n , wie sie wollten, einen Herrn verlassen und sich einem anderen nach freiem Gutdünken anschließen. Sie waren auch im allgemeinen nicht an gewisse Bezirke gebunden, hatten indessen selbst gewöhnlich kein Verlangen von da wegzuziehen, wo sie sich einmal niedergelassen hatten. Sie kennzeichneten sich dadurch, daß sie Ziegen- oder Kalbfelle trugen, die bei den Männern an der rechten Schulter, bei den Frauen auf der linken Schulter festgehalten wurden. Land stand reichlich zur Verfügung, und ein Mann, der ein Stück Erde bearbeiten wollte, brauchte nur einen kleinen Graben zu ziehen oder ein paar Halme zu pflücken und die Erde heimzutragen oder
118
Politische
Gefüge
die Halme am First seines Daches zu befestigen, um seinen A n s p r u c h auf das Land geltend machen zu können. Nur bei Streitigkeiten über Landansprüche wendete der Mann sich an den G a u h ä u p t l i n g , welcher der Herrenschicht des Hirtenvolkes angehörte. Die Bestellung der Felder ging unter Beachtung verschiedener Zeremonien vor sich. Die Erntezeit war eine Periode von Freudenfesten, in der insbesondere Heiraten und Tänze veranstaltet wurden. Solange der Vorrat reichte, brachte der Bauer von Zeit zu Zeit dem Hirten-Herrn Getreide. Irgend eine vorgeschriebene Menge oder einen Anteilsatz gab es nicht, sondern jeder brachte von seinem Getreide-Überfluß so lange hin, bis er fand, daß sein Vorrat zu klein wurde. War dieser Zeitpunkt eingetreten, so kam der Bauer zum Schluß mit einen großen Korb voll, und dies galt als Zeichen für den Herrn, daß er die Lieferung in dieser Saison erhalten hatte (Rose. [23/b] 94ff). — Wir haben es hier mit einer friedlichen und freundschaftlichen S y m b i o s e zweier auf ganz verschiedene Lebensführung eingestellten Rassen zu tun. Die Stellung der anderen als „Hörige" wird nur erst schwach betont. — Aber auch S k l a v e n gab es, die wie Sachen gekauft und verkauft wurden. Die Kinder von Sklaven fielen dem Eigentümer zu. Es gab verschiedene D i e n s t g r a d e von Sklaven: Muhuku, ein gekaufter Sklave, der für häusliche Zwecke verwendet wurde; Mwambale: Diener zur persönlichen Aufwartung für ihren Herrn; Mwiru: Bauern, die bis zu einem gewissen Grade unabhängig waren, obgleich sie unter ihren Hirten-Herren standen; Musumba: Hirten, die molken und der Hirtenschicht zugehörten, Leute, die selbst oder deren Vorfahren ihre Herden verloren hatten; Bagalagwa: Persönliche Diener des Fürsten (Mugabe), die nach Beendigung ihrer Dienstzeit Kühe und Land erhalten hatten; ba-Nyiginya: die höchste Klasse von Dienern: Adlige, die in fürstliche Dienste getreten waren, und die der Mugabe als besondere Boten für Vertrauensangelegenheiten benutzte (ebd. 77ff). Ahnliche Zustände herrschten in Kitara. Doch scheint hier die Abhängigkeit der bäuerlichen Bevölkerung von den Hirten in mancher Beziehung ausgeprägter gewesen zu sein. Sie wurden von den Hirten nicht so sehr wegen ihrer Armut verachtet, als vielmehr wegen ihrer L e b e n s f ü h r u n g , weil in den Augen eines Kuhhirten ein jeder, der Pflanzennahrung genoß, das Land bebaute oder irgend eine handwerkende Tätigkeit trieb, die nicht mit der Pflege der Kühe zusammenhing, als gering galt. Doch waren auch hier diese Hörigen nicht Sklaven oder einem besonderen Häuptling Untertan, sondern konnten sich frei bewegen. Es war üblich, daß ein Bauer, der sich im Gebiete eines neuen Häuptlings niederließ, sich ihm vorstellte und seine Absicht, ihm zu dienen, mitteilte. Eines freundlichen Empfanges war er sicher, denn j e d e r Hörige b e d e u t e t e eine A r b e i t s k r a f t mehr und eine Verg r ö ß e r u n g d e s R e i c h t u m s s e i n e s H e r r n . Diese Hörigen hatten B a u t e n für die Hirten zu errichten, vielleicht auch noch Ziegen oder Schafherden ihrer Herrn zu h ü t e n , vor allem aber eine jährliche A b g a b e an Getreide und Bier zu entrichten, die auch hier nicht als zwangsweiser „Tribut" aufgefaßt wurde, sondern als f r e i w i l l i g e G a b e an den Häuptling dafür, daß er dem Bauern L a n d überließ. Hatte ein Häuptling einen Hörigen zum Hirten
Hörigkeit
119
über seine Ziegen und Schafe eingesetzt, so v e r g a l t er ihm die Tätigkeit mit einigen jungen Tieren der Herde. Irgend welche Beschränkungen in Bezug auf die Größe des Landes, das ein Bauer bearbeitete, gab es nicht, und er konnte auch zahlreiche Herden an Ziegen und Schafen ansammeln. Indessen durften früher die Bauern n i e m a l s Kühe halten, und wenn sie dies taten, so liefen sie Gefahr, ausgeplündert zu werden. Erst in den letzten Jahren unter europäischem Einfluß konnten sie es wagen, Kühe zu erwerben, die sie hauptsächlich zur Zahlung des B r a u t p r e i s e s verwendeten. — Außer den Bauern gehören auch die H a n d w e r k e r in Kitara der Hörigen-Schicht an. — Vor einigen Generationen führte ein König eine gewisse Änderung in den sozialen Verhältnissen dadurch ein, daß er einen n e u e n R a n g innerhalb der Ackerbauschicht schuf: ein Mann, der besondere Geschicklichkeit zeigte und dem König einen besonderen Dienst erwiesen hatte, wurde von ihm damit belohnt, daß er zum „freien Mann" ( M u n y o r o ) gemacht wurde. Damit erlangte der Betreffende das Recht, eine Frau aus der Hirten-Schicht zu heiraten. So entstand ein mittlerer Rang von wohlhabenden Ackerbauern in gehobener Stellung, eine Art „ D i e n s t a d e l " . Im Gefolge hatten diese Heiraten eine gewisse Entwertung der Hirten, die Vernachlässigung der Milchgebräuche und den Einbruch von Pflanzenkost unter die Hirtenbevölkerung. Die Kinder aus solchen Verbindungen konnten auch nach den höheren Rängen der Hirten-Schicht hin heiraten. — Von den hörigen Bauern müssen die eigentlichen „ S k l a v e n " unterschieden werden, die bei Raubzügen oder Kämpfen als Kriegsgefangene gemacht oder von reichen Leuten gekauft wurden. Haussklaven wurden höher bewertet als Arbeitsknechte (Rose. [23/a] 9ff). Hörige aus der Mischlingsschicht. — Unter den Kayan und Kenyah von Borneo sind d r e i s o z i a l e S c h i c h t e n deutlich erkennbar und in jedem Dorf auch ausdrücklich anerkannt. Die oberste Schicht stellt sich dar in der Familie der Häuptlinge und ihrer nächsten Anverwandten, ihrer Tanten und Onkel, ihrer Brüder, Schwestern, Vettern und Basen und deren Kinder. Dies sind auch die besitzenden Familien, die über Bronzegeräte, kostbare Perlen, Sklaven und andere Gegenstände besserer Qualität verfügen. Die mittlere Schicht umfaßt die Mehrheit des Volkes. Sie erfreut sich aller Formen von Eigentum, obgleich ihr Besitztum der Menge und dem Werte nach geringer ist. In den Angelegenheiten der Gemeinde haben ihre Stimmen schwächeren Einfluß. Indessen finden sich in dieser Klasse gewöhnlich einige Leute von a u ß e r o r d e n t l i c h e r Fähigkeit oder Erfahrung, auf deren Rat und Mitarbeit die Häuptlinge viel geben. Auch besondere e r b l i c h e P f l i c h t e n fallen einzelnen Leuten dieser Klasse zu, namentlich in Bezug auf gewisse Fertigkeiten, wie z. B. in der Bearbeitung des Eisens, der Herstellung von Booten, der Gewinnung von Kampfer, aber auch in der Bestimmung der Jahreszeiten oder im „Fang" der Seelen. Alle derartigen S p e z i a l i s i e r u n g e n bilden eine Quelle von Gewinn, doch entlasten sie den einzelnen nicht von der Anlage eigener Yams-Gärten. — Die u n t e r s t e Schicht besteht aus K r i e g s g e f a n g e n e n und ihrer Nachkommenschaft. Daher bietet sie Vertreter v e r s c h i e d e n e r s o m a t i s c h e r u n d k u l t u r e l l e r T y p e n . Ein
120
Politische
Gefüge
unverheirateter Höriger dieser Schicht lebt mit der Familie seines Herrn fast wie ein Mitglied derselben. E r ißt, mitunter schläft er auch im selben Raum wie die übrigen Familienangehörigen. Wenn diese Hörigen heiraten, fallen ihre Kinder dem Herrn zu. Einigen wird ein besonderer Raum im Hause zugestanden, und dadurch beginnen sie eine verhältnismäßig unabhängige Stellung zu erwerben, obgleich sie auch da noch als „Sklaven" gelten; doch werden sie dann als „mit einem besonderen R a u m ausgestattete" bezeichnet. Der Herr ist oft nicht imstande, über die Dienste dieser Personen in ausgedehnterem Maße zu verfügen, und verzichtet manchmal freiwillig auf seine Rechte. Nichtsdestoweniger verbleibt die Familie im untersten Rang. Die Angehörigen einer jeden dieser Schichten heiraten stets innerhalb ihrer eigenen Rangstufe. — I m allgemeinen ist die Lage dieser Hörigen eine günstige: sie werden mit Freundlichkeit und Achtung behandelt, und ein fähiger Mann kann der Vertraute und Begleiter seines Herrn werden und auf diese Weise zu nicht unerheblichem E i n f l u ß im Dorfe gelangen. Ein junger Sklave wird gewöhnlich von seinem Herrn und der Herrin als „mein K i n d " bezeichnet. Selten wird er geschlagen oder einer Strafe unterworfen, außer daß er gescholten werden mag. Andererseits ist er bereit, aus freien Stücken an der Arbeit der Familie teilzunehmen, wie er auch ihre Freuden und ihr glückliches oder unglückliches Schicksal teilt. Weder in Kleidung noch im Aussehen unterscheidet er sich von den übrigen Bewohnern des Dorfes (Hose u. McD. [12] 1 68ff). Das Verhältnis der Hörigkeit zu Grundeigentum und spezialisierter Tätigkeit. — Auf der Karolineninsel Y a p in der Südsee wird die freie Bevölkerung in ein kompliziertes R a n g s y s t e m gestaffelt, das teils auf Grund der Abstammung, teils durch Beruf und Grundbesitz bestimmt wird. Während alle F r e i e n Herren eines Stückes L a n d sind, gibt es eine Gruppe von Menschen, die keinen Grundbesitz haben und erwerben können: Hörige (Milingái), die in besonderen D ö r f e r n vereinigt wohnen und sich selbst unter einem e i g e n e n H ä u p t l i n g verwalten. Das Land, auf dem sie sitzen, gehört den Leuten in den Herrendörfern. Jede Hörigen-Siedlung ist abhängig von einem Herrn (süon) in einem Dorf der Freien, der aber nicht der Häuptling in dem freien Dorf zu sein braucht. Jedes einzelne Gehöft der Hörigen untersteht außerdem einem besonderen freien Herrn (süon). Die Hörigen sind zu gewissen F r o n a r b e i t e n verpflichtet: sie helfen beim Hausbau, decken das Dach, errichten Zäune und bauen Wege und Dämme. Dafür erhalten sie während ihrer Arbeitszeit Kokosnüsse zur V e r p f l e g u n g . Außerdem haben sie die T o t e n aus dem freien Dorf, von dem sie abhängen, wegzuschaffen und zu begraben. Im Kriege hatten sie früher G e f o l g s c h a f t zu leisten. Sie dürfen keinen H a a r k a m m tragen und keine S i t z u n t e r l a g e benutzen, noch T ä t o w i e r u n g s m u s t e r der höheren Dörfer verwenden. Auch sollen sie einen bestimmten Tanz nicht aufführen, und das von ihnen verwendete Steingeld darf nicht mehr als vier Spangen Durchmesserhaben. — E i n Höriger kann n i c h t an einen anderen Herrn verkauft werden, wohl aber der von ihm bewohnte Boden. Von diesem kann er jederzeit vertrieben werden, doch kann er ihn auch freiwillig verlassen. Für etwaigen Schaden,
Hörigkeit
121
den ein Höriger anrichtet, muß der Herr aufkommen. Einen Hörigen zu töten, hat jedoch nur der Herr des ganzen Dorfes das Recht, nicht der des Gehöfts. Die Arbeitsleistungen stehen durch Herkommen fest. Wenn die Partei, für welche die Hörigen zu kämpfen hatten, besiegt wurde, so erhielten die betreffenden Hörigen in den Siegern weitere Fronherren und hatten auch für diese Dienste zu leisten. — Es ist sicher kein Zufall, daß die Z e n t r a l k a r o l i n e r , die alljährlich für einige Monate die Insel Yap besuchen, als Milingäi, Hörige, betrachtet werden. Der Grund und Boden ihrer Inseln gehört gewissen Yap-Dörfern. Diese Zentralkaroliner dürfen auf Yap auch keine Kämme tragen, sie werden in den erwähnten drei Dörfern einquartiert, denen sie Kleidmatten, Schlafmatten, Segelmatten, Kokos-Taue, KokosSchnüre, Kokos-Öl und eine Speise aus Kokos-Saft und geraspelter Nuß zu b r i n g e n haben. Dafür erhalten sie als G e g e n g a b e Knollenfrüchte, Töpfe, Hibiskus-Bast und Kämme (Müll. W. [17] 249ff). Der Aufbau der Gesellschaft im alten Samoa war durch eine große Zahl von Rangstufen und Ämtern außerordentlich kompliziert. Abstammung und Besitz, aber auch persönliche Fähigkeit und besondere Familientraditionen verwickelten die Gesellschaftsordnung. Der H ä u p t l i n g s k a s t e (alVi) folgten dem Range nach die tulafale, die in manchen Gauen große Autorität besaßen. Sie waren Ratgeber der Häuptlinge, und die „Redner" wurden vielfach aus ihren Reihen genommen. Unbeliebte Häuptlinge konnten sie ihres Amtes entsetzen und verbannen. Sie stellten eine Gruppe von G r o ß g r u n d b e s i t z e r n dar und setzten sich stellenweise aus den führenden Familien zusammen. Jeder Häuptling hatte einen tulafale, der als sein Sprecher galt, und jede Siedlung besaß ihren führenden „Redner". — Den nächsten Rang nehmen die fale-upolu ein, die ebenfalls große L a n d b e s i t z e r waren und viel Einfluß hatten. Sie versorgten die Häuptlinge mit N a h r u n g , wofür sie Gegengaben empfingen. Sie sollen den Hauptbestandteil des Volkes ausgemacht haben. — Eine niedrigere Klasse wurde tangata-nu'u, „Landleute", genannt. Sie bestellten den Boden und fischten in Zeiten des Friedens, im Krieg trugen sie Waffen. Sie schlössen sich den Häuptlingen an, und ihre Zahl, über die ein Häuptling verfügte, entsprach seiner Macht und seinem Einfluß. — Sie waren also eine Art mit Grundbesitz ausgestatteter „Landsknechte". — Eine weitere niedrige Schicht hieß tangata-taua. Es waren Kriegsgefangene, deren Stellung von einigen Reisenden ( S t a i r ) als „Sklaverei" bezeichnet wurde. Sie waren verächtlicher Behandlung von ihren Herren ausgesetzt, wahrscheinlich stammten sie von Kriegsgefangenen minderen Ranges. — Eine eigentliche Haussklaverei gab es jedoch nicht, sondern die Hilfskräfte des Hauses wurden von Kindern und Verwandten gestellt. In den Häusern der großen Häuptlinge gab es auch andere Hilfskräfte außer den Verwandten. Diese Diener hießen angai, und ihr Amt war in gewissen vornehmen Familien erblich. Diese adligen Diener durften allein von den Speisen des Fürsten essen, der sonst alles in „Tabu" versetzte. Es gab verschiedene solcher Ämter, wie den songa, den Barbier, der auch Becherträger („Mundschenk"), Trompeter (auf der Tritons-Muschel) und Bote war. Er erfreute sich einer Reihe besonderer Vorrechte, insbesondere als Spaßmacher,
122
Politische
Gefüge
etwa in der Art der Hofnarren. Der atamai-o-alVi, „der Geist der Weisheit des Fürsten", nahm die Stellung einer Art Großvezir oder Herold ein. Der fd'atama („Hausvater") besorgte die Verwaltung des fürstlichen Haushalts. Dem salelelisi („der schnelle Flieger") fiel die Rolle eines Hofnarren in ausgedehnterem Maße als dem songa zu. Die salelelisi kamen alle aus einem besonderen Dorf. Viele dieser fürstlichen Diener s t a m m t e n von Personen, die mit den Ahnen des betreffenden Oberhaupts v e r w a n d t waren und in dieser Eigenschaft ihnen Dienste geleistet hatten (Willms. [24] 2 366 ff). Ahnliche Zustände finden sich auch auf den anderen Polynesischen Inseln. Die unterste Klasse bildeten auf Tonga z. B. die tua. Sie machten das gemeine Volk aus, Feldbauer, die nicht mit in den Krieg genommen wurden. Ihre Stellung war verachtet. Von manchen Reisenden werden sie als „Sklaven" bezeichnet. Doch werden außer ihnen noch die bobula als besondere Sklaven genannt, Kriegsgefangene oder Leute, die sich ein Verbrechen haben zuschulden kommen lassen (ebd. 2 379, 381). Auch auf Tahiti stellten K r i e g s g e f a n g e n e eine Schicht dar, über die man willkürlich verfügte. Es waren Leute, die, im Kampf entwaffnet oder verwundet, sich unter den Schutz eines Häuptlings begeben hatten. Sie liefen besonders Gefahr, gelegentlich als Opfer geschlachtet zu werden (ebd. 2 392). In gleicher Weise wurden aus der Schicht der nohoua auf den MarquesasInseln die Menschenopfer von den Priestern entnommen. Jedoch scheint diese Schicht, welche das gemeine Volk ausmachte, dort zahlreicher vertreten gewesen zu sein. Sie hatten das Land zu bebauen, besaßen aber nicht Grund und Boden, sie waren auch nicht Krieger oder Hausbauer (ebd. 2 399). Kämpfe haben aber auch auf den polynesischen Inseln manchmal die Bevölkerung einer Insel von der einer a n d e r e n in A b h ä n g i g k e i t gebracht. Die Schicksale waren oft wechselnd. So hatte z. B. die Insel Anaa, eine von den nordwestlichen Inseln der Paumotu-Gruppe, die Tahiti am nächsten liegt, etwa Anfang des 19. Jahrhunderts Tribut an Tahiti zu zahlen, während sie in der späteren Zeit die Herrschaft über eine Reihe benachbarter Inseln erlangte (ebd. 1 337). Im allgemeinen kann von den zentralpolynesischen Gesellschaftsordnungen gesagt werden, daß die Bevölkerung gewöhnlich ungefähr in drei Kasten zerfällt, und zwar in einen Adel (Häuptlinge), eine Mittelschicht und das gemeine Volk. Priester und Zauberer pflegen keiner besonderen Schicht anzugehören, sondern kommen in allen vor, obgleich häufiger in der Oberschicht. Als „Sklaven" können nur Kriegsgefangene angesehen werden, doch bilden sie keine besondere Volksschicht. Zweifellos sind die verschiedenen Gesellschaftsschichten im Laufe der Zeit mehr oder minder vermischt worden und namentlich die Grenzen von einer Kaste zur anderen stark verwischt (ebd. 3 138). Hörigkeit in Verbindung mit dem Hervortreten wirtschaftlicher Gesichtspunkte. — In der alten mexikanischen und zentralamerikanischen Welt stand dem Adel gewöhnlich eine breite Volksschicht gegenüber. Doch fehlte
Hörigkeit
123
es nicht an einer Schicht, die als „Sklaven" oder „Hörige" zu bezeichnen ist. Im allgemeinen führte Kriegsgefangenschaft oder Verbrechen in eine persönliche Abhängigkeit. — In Mexiko konnte sich eine F a m i l i e verpflichten, einen oder mehrere Sklaven einem Herren für einige Jahre zu stellen, die nach dem Ablauf der bestimmten Zeit d u r c h a n d e r e e r s e t z t wurden. Aber Individuen konnten auch ganz in Sklaverei verkauft werden. Leute in großer Armut konnten sich selbst oder ihre Kinder verpfänden. Eine Hungersnot, die zwei Jahre dauerte, hatte während der Regierung des Montecuzoma viele Familien zu diesem Schritt gezwungen. Es wird jedoch berichtet, daß ein Sklave n i c h t ohne seine eigene Einwilligung verkauft werden durfte. Wenn eine Sklavin von einem freien Mann ein Kind bekam, so erhielt das den Stand des Vaters und galt als frei geboren. Im allgemeinen wurden Sklaven gut behandelt, sie liefen aber immer Gefahr, geopfert zu werden. Sie standen unter dem Schutze des Gottes Tezcatlipoca, bei dessen Jahresfest völlige Ungebundenheit herrschte wie bei den römischen Saturnalien (Joy. [14] 132f). Ähnlich war es bei den Maya-Völkern bestellt. Hatte einer gestohlen, so mußte er den Schaden ersetzen, und wenn er es nicht konnte, verfiel er der „Sklaverei". Da hauptsächlich Nahrungsmittel gestohlen wurden, so war die Zahl der so Verurteilten in Hungerjahren groß. Kriegsgefangene minderen Ranges wurden Sklaven, doch konnten sie jederzeit ausgelöst werden; in der Sklaverei geborene Kinder verblieben so lange Sklaven, bis an ihre Besitzer eine Entschädigung gezahlt wurde. Sklaven konnten auch verkauft werden, wenn aber einer bald nach seinem Erwerb starb oder entlief, so durfte ein Teil des Kaufpreises zurückgefordert werden (ebd. 283). Auch hier wurden Kriegsgefangene und Sklaven den Göttern geopfert (ebd. 293). Aus dem alten Nicaragua und Costa Rica wird berichtet, daß die Diebe so lange Sklaven des Bestohlenen blieben, bis Wiedergutmachung erfolgt war. Wenn diese zu lange auf sich warten ließ, wurde der Schuldige geopfert. Bei Entführung wurde der Entführer so lange als Sklave gehalten, bis er den Brautpreis gezahlt hatte. Auch hier konnten in Armut geratene Leute sich selbst oder ihre Kinder verpfänden; wenn sie in den Besitz von Mitteln gekommen waren, sich aber wieder frei kaufen (Joy. [16] 13). Daraus ersieht man, daß die „Hörigkeit" oder „Sklaverei" bei diesen Völkern im allgemeinen ein mehr v o r ü b e r g e h e n d e s A b h ä n g i g k e i t s v e r h ä l t n i s war, das namentlich durch w i r t s c h a f t l i c h e Leistungen beseitigt werden konnte, obgleich über den Betreffenden stets die Gefahr des Opfertodes schwebte. Die Bevölkerung unter den Kpelle Westafrikas wird in drei deutlich voneinander getrennte Schichten eingeteilt: 1. F r e i e ( W ö l o oder doi nälong; letzteres bedeutet „Landesmann", „im Lande aus altansässiger Familie geborener Mann"; ihm entsprechend doi nlni = freigeborene Frau). Diese Freien bilden das eigentliche Kpelle-Volk, dessen vollgültiges Mitglied der Jüngling durch die Zeremonien der Reifeweihe (im poro-Bund) wird. Nur sie wählen den Oberhäuptling und können in der Regel zu Ehrenstellungen in der politischen Gemeinde und in den Geheimbünden (poro) gelangen.
124
Politische
Gefüge
Ein Freier darf weder vom Oberhäuptling noch von einem Privatmann verkauft werden, es sei denn wegen eines schweren Vergehens. Doch kann das Sippenhaupt einen Freien in P f a n d s c h a f t geben. Zu den Freien gehören die Kinder von freien Eltern, aber auch die eines freien Mannes mit einer hörigen Frau oder einer Sklavin, sofern eine rechtsgültig geschlossene Ehe vorliegt. Doch wird ein Unterschied gemacht, indem Kinder von im Kriege gefangenen Frauen stets als Freie angesehen werden, während man die Nachkommenschaft gekaufter Sklavinnen zu den Sklaven rechnet. Wird ein Freier kriegsgefangen, so verfällt er allerdings der Sklaverei, kann sich aber durch Zahlung des geforderten Lösegeldes in seinen angeborenen Stamm zurückkaufen. Auch anderen Sklaven ist die Möglichkeit geboten, durch Kauf die Freiheit zu erlangen. — 2. H ö r i g e . Zu ihnen gehören: a) die K i n d e r v o n S k l a v e n , sofern sie im Hause des Herrn ihrer Eltern geboren sind und da verbleiben; b) deren Nachkommen in den folgenden Geschlechtern; c) Leute, die aus eigenem Antrieb Hörige geworden oder als Kinder von ihren Eltern oder vom Vormund einem reichen Mann, insbesondere dem Könige, g e s c h e n k t worden sind. Auch ihre Nachkommen bleiben Hörige. Ein Höriger kann so wenig wie ein Freier verkauft werden, ist aber dem Sklaven gegenüber insofern im Nachteil, daß er nicht freigekauft werden kann und auch seine Nachkommen in diesem Stande verbleiben. Jedoch herrscht die Sitte, Hörige oder deren Nachkommen als Belohnung für gutes Verhalten oder für besondere Verdienste die F r e i h e i t zu schenken. Doch gibt es auch Hörige, die in der dritten Generation schon demselben Stande angehörten. Einzelne unter ihnen gelangen zu einflußreichen Stellungen, z. B. am Hofe eines Oberhäuptlings, und zu Wohlstand. — Daraus geht hervor, daß sich im allgemeinen ein A u f s t e i g e n von der Schicht der Hörigen in die der Freien vollzieht, durch die namentlich auch das B l u t von f r e m d e n Kriegsgefangenen in die alte Freienschicht des Kpelle-Stammes übergeleitet wird. — Den Hörigen nahestehend sind die f r e m d e n S i e d l e r (nguiäya), die aus irgend einem Grunde, meist, um sich einer drohenden Verurteilung zu entziehen, ihr eigenes Stammesgebiet verlassen hatten, um bei einem fremden Oberhäuptling Zuflucht zu suchen. Letzterer pflegt ihnen außerhalb des Ortes einen Platz zum Wohnen und zum Anlegen ihrer Felder anzuweisen. Sie haben von den Erträgnissen des Feldbaus und der Jagd dem Oberhäuptling einen Teil a b z u l i e f e r n . Ihre Nachkommen werden ohne weiteres als Freie betrachtet. — 3. S k l a v e n (duö). Diese setzen sich überwiegend aus K r i e g s g e f a n g e n e n zusammen, die nicht innerhalb der gesetzten Frist von ihren Angehörigen eingelöst wurden. Geringer ist die Zahl derer, die durch V e r s c h u l d u n g oder infolge eines schweren V e r g e h e n s in Sklaverei geraten 6ind. Beim Einkauf von Sklaven hält man stets darauf, daß diese aus einem möglichst f e r n e n Gebiet stammen, weil bei solchen die Gefahr des Ausbrechens geringer ist. — Auch hierbei sehen wir, wenn wir in Betracht ziehen, daß ein Sklave sich freikaufen kann, einen Weg, auf dem fremdes Blut, sogar ferner Völker, in die Gemeinschaft der Freien des KpelleStammes Eingang finden konnte. Parallel mit dieser r a s s i s c h e n M i s c h u n g bringt aber der Zufluß von Kriegsgefangenen die Möglichkeit k u l t u r e l l e r
Hörigkeit
125
B e e i n f l u s s u n g und Ü b e r t r a g u n g sowohl von technischen Fertigkeiten als von religiösen und mythologischen Auffassungen und Gedankengängen. — Das Los der Sklaven ist kein hartes, doch stehen sie in der gesellschaftlichen Wertung niedriger als die Hörigen und unterscheiden sich von letzteren dadurch, daß sie nach Belieben ihres Besitzers v e r k a u f t oder v e r s c h e n k t werden können. Obgleich ihre Arbeitskraft dem Herrn gehört, überläßt er sowohl den Sklaven wie auch den Hörigen ein L a n d s t ü c k zu eigener Bebauung, gesteht ihnen einen Teil des im Dienst eines dritten gewonnenen A r b e i t s l o h n s zu und eröffnet ihnen dadurch die Möglichkeit, eigenes Vermögen zu erwerben (Westm. [21] 80f). — Obwohl hier der Machtstandpunkt durch wirtschaftliche Gedankengänge schärfer hervortritt, ermöglicht das Zurückweichen der aristokratischen Einstellung eine Loslösung aus der Gebundenheit der landlosen Schicht, und die Betonung wirtschaftlichen Geschicks eine Erleichterung dadurch, daß der Aufstieg in die Reihen der Freien durch Zahlungen gangbar wird. — Der Hauptbesitz des Königs besteht in seinen Weibern, Sklaven und Hörigen, deren Produktionskraft in Feldbau, Jagd, Fischfang, gewerblichen Arbeiten und Lastentragen (um Lohn) seinem persönlichen Vermögen zugute kommt (ebd. 96). — Sklaven und Hörige werden von ihren Herren verheiratet, ohne daß sie um ihre Zustimmung gefragt zu werden brauchen, wenn auch ausgesprochene Wünsche gelegentlich Berücksichtigung finden. In der Regel verheiratet der Besitzer seine eigenen Sklaven und Sklavinnen untereinander. Doch überläßt er die Sklavinnen als Ehefrauen auch an Dritte. Die Sklavin selbst wird durch Heirat mit einem Freien nicht befreit, doch sind ihre Kinder aus solcher Verbindung frei (ebd. 60). Obwohl bei den Barea- und Kunama-Stämmen Nord-Abessiniens im allgemeinen eine demokratische Gleichheit herrscht, Reichtum politisch ohne Bedeutung ist und dem Alter allein Vorrechte zustehen, findet sich doch eine Gliederung zwischen Herren und Untergebenen. Die Stellung der Letzteren ist verhältnismäßig günstig. Knechte und Mägde, Hirten oder dienende Bauern gibt es nicht viel; L o h n a r b e i t wird nur von gewissen Leuten, Kerai, verrichtet. Außer dem in Geld bezahlten Lohn wird dem Bauern (Kerai) das Recht zugestanden, seines Herrn Rinder zum Pflügen des kleinen bäuerlichen Feldes zu benutzen, und zwar etwa auf 8 Tage, einer Magd auf die Hälfte dieser Zeit. Oft wird ein Vertrag geschlossen, nach dem der Besitzer der Rinder zwei Tage für sich pflügt und am dritten die Benutzung der Tiere seinem Knechte erlaubt. Die Dienstzeit des Knechtes währt in der Regel von der Regenperiode bis nach der Ernte. Besteht aber gutes Einvernehmen zwischen Knecht und Herrn, so bleibt ersterer manchmal das ganze Jahr ohne weitere Entschädigung. Tötet ein Knecht als Hirt ein Stück der Herde, so hat der Herr kein Recht, eine Entschädigung zu fordern. Manchmal entfernt sich der Hirt von seiner Herde, um sich einem Raubzug anzuschließen. Die Beute davon gehört ihm allein, nichts fällt dem Herrn zu. Die Barea und die Bazen besitzen nur ausnahmsweise Sklaven, die sie durch Beraubung feindlicher Stämme erwerben. Eine andere Quelle der S k l a v e r e i ist der Kinderverkauf (Münz. [83] 481ff).
126
Politische
§4.
Gefüge
Kastenbildung
Ethnisch-politische Konstellationen. — Wenn man von Kaste spricht, so denkt man in erster Linie an die Staffelung der indischen Gesellschaft. Was kann als wesentliches Merkmal einer Kaste angesehen werden ? Vor allem gilt die B i n n e n h e i r a t innerhalb der Kaste als bezeichnender Zug. Der kulturelle und traditionelle Abschluß der Gruppe gegen außen in jeder Hinsicht wird weiterhin als charakteristisch betrachtet. Wenn wir diese begrifflichen Forderungen mit der Wirklichkeit vergleichen, so sieht letztere in ihrer bunten und veränderlichen Mannigfaltigkeit niemals so exakt aus, wie Lehrmeinungen dies verlangen. Selbst die indischen Kasten sind in der Praxis niemals völlig „wasserdicht" abgeschlossen gewesen. Die theoretischen Gebote von Gesetzen und Vorschriften weichen von dem tatsächlichen Leben auch in diesem Falle nicht unerheblich ab. Der Orient bietet noch zahlreiche andere Beispiele dafür, wie wenig die idealen Forderungen z. B . religiöser Natur mit der Wirklichkeit in Ubereinstimmung gebracht werden (vgl. die Vorschriften des Koran in Theorie und Praxis). Wie kam es indessen zur Bildung von Kasten ? Ein Blick auf die Gestaltungen des politischen und sozialen Lebens im Zustande geringerer Vergesellung klärt uns darüber sofort auf. I n den Kasten lebt die Überlieferung der Heiratsordnungen mit ihrem Halbierungssystem oder ihren totemistischen Gruppierungen als Grundlage der sozialen Ordnung teils als noch lebendige Macht, teils als wirksamer Bestandteil der Geistesverfassung weiter. Stämme mit solchen Überlieferungen wurden oft ohne weiteres in eine größere politische Gemeinschaft aufgenommen. Die Kaste knüpft aber an eine innere Schichtung der Gesellschaft an. Diese ist schon durch eine weitgehende S p e z i a l i s i e r u n g der Großfamilien oder Sippen, insbesondere bei höherer Technik, vorbereitet. Auch vielerlei persönliche Unterschiede tragen schon früh in die homogene Gesellschaft U n g l e i c h h e i t e n hinein. Entscheidend für eine Rangstaffelung ist aber erst das Zusammentreffen verschiedener ethnischer Gemeinwesen, solcher nämlich, unter denen sowohl rassische wie kulturelle Unterschiede in erheblichem Maße vorhanden sind, bei denen man also von einer starken „ e t h n i s c h e n S p a n n u n g " reden kann. In einem solchen Falle kann nicht ohne weiteres eine Beiordnung auftreten, sondern infolge einer stärkeren Begabung, reicherer Kenntnisse oder Fertigkeiten vollzieht sich notwendigerweise, namentlich wenn beide zu ähnlichen Wertungen gelangt sind, eine Schichtung, ein Über und Unter. Dabei darf man nicht vergessen, daß die Unterordnung vielfach freiwillig entgegengebracht und die andere Gruppe als F ü h r e r ohne weiteres anerkannt und angenommen wird. Es ist keineswegs immer nötig, daß sie kriegerisch erzwungen werden muß. Selbst in diesem Falle würde die Gewalt allein niemals imstande sein, auf die Dauer die Überlegenheit der einen Gruppe zu gewährleisten, wenn nicht reichere Kenntnisse, bessere Technik, vielseitigere Einsichten, also geistige Faktoren, die dauernde Anerkennung
Kastenbildung
127
verbürgen würden. Es ist kein Zufall, daß wir in nahezu allen alten Staaten des Orients, ebensogut wie bei den meisten unter den gestaffelten Gemeinwesen der Naturvölker, als erster Kaste den P r i e s t e r n begegnen, nicht den Kriegern. Die Abneigung gegen Vermischung ist vielfach kulturell bedingt und hängt mit einer bestimmten Lebensweise, mit Traditionen und Vorurteilen zusammen. Je mehr eine Schicht ethnisch g e b u n d e n bleibt, je mehr sie also ihre Ansichten, Techniken und Überlieferungen bewahrt, sich sowohl geistig wie physisch unvermischt erhält, desto mehr muß sie sich gegen alles Fremde und Neue abschließen. Gerade dies aber bildet ein ständiges Problem. Mischungen bedeuten nicht allein Änderungen in der Veranlagung, sondern auch neue Gedanken, und vielfach führen sie zu weiterer sippenmäßiger oder doch familialer Spezialisierung. So entstehen neue Schichten, die in traditioneller Weise gewöhnlich im Sinne der herrschenden Gedanken organisiert werden. Der Abschluß der einzelnen Gruppen gegeneinander erhält sich u m so mehr, je größer die rassischen und kulturellen Unterschiede sind. Darum, weil in Indien verhältnismäßig hochbegabte Einwanderer mit bereits ausgebildeter Technik, vielen Fertigkeiten und Kenntnissen, mit einer damals relativ niedrig stehenden „Urschicht" zusammentrafen, war die ethnische Spannung, und demgemäß das Bestreben, sich von den anderen abzuschließen, so groß, daß sie so nachhaltig wirkte und zu der scharfen Kastensonderung führte. Da alle Verhältnisse in jedem einzelnen historischen Gemeinwesen anders sind, so ist auch der Ablauf der gesamten Kastenbildung ungleich. Sind die ethnischen Unterschiede von vornherein geringer, so setzt sich die Tendenz zur Mischung unter den nachbarlich siedelnden und durch eine gemeinsame Regierung zusammengehaltenen Gruppen viel schneller durch als im entgegengesetzten Fall. Die Kasten sind zwar ein starker Hemmungsfaktor gegen rasche Vermischung, indessen können sie, wie das Beispiel von Indien lehrt, die Vermischung im Laufe der Jahrhunderte doch nicht völlig aufhalten. Eine Änderung in der Geistesverfassung, in der Bewertung stellt eine Macht dar, die auf die soziale Gestaltung wesentlich einzuwirken imstande ist, ohne daß sich etwa die wirtschaftlichen Zustände dabei sehr zu ändern brauchen. Dagegen sind politische Ereignisse oder Änderungen der Technik von größter Bedeutung, wie gerade der Verlauf der Dinge in Indien zeigt. Wir müssen daher f ü r die sozialen Vorgänge, wie sie sich im Kastenwesen niederschlagen, immer die Z u s a m m e n h ä n g e mit der g a n z e n L e b e n s f ü h r u n g und den h e r r s c h e n d e n G e d a n k e n g ä n g e n in Betracht ziehen. Für die Abschließung der Schichten mag die Ü b e r t r a g u n g gewisser Ansichten unter Umständen von nicht zu unterschätzendem Wert gewesen sein, aber im allgemeinen dürften solche fremden Faktoren doch nur sekundär in Betracht kommen. I n erster Linie brechen immer die Lebensnotwendigkeiten des Stammes durch oder wenigstens das, was dieser als solche empfindet.
128
Politische
Gefiige
I m folgenden sollen vor allem Gestaltungen vorgeführt werden, die auf dem Wege zur Kastenbildung liegen, um die Kräfte aufzuzeigen, die zu einer Sonderung der einzelnen Gruppen führen. Gleichzeitig sehen Wir aber auch andere Kräfte am Werk, die, aus den neuen Verhältnissen heraus, zu einem Teil im Sinne einer Auflösung der Kastenabsonderung wirksam werden. Trotz der individuell bedingten Vorgänge in jedem einzelnen Fall zeigen sich doch unverkennbar gemeinsame Züge, die zweifellos durch eine ä h n l i c h e s o z i a l e K o n s t e l l a t i o n bedingt sind. Ungleichheiten in einer „homogenen" Gesellschaft. — Gesellschaftliche U n g l e i c h h e i t e n machen sich schon innerhalb der Gesellschaften von Jägern und Sammlern geltend. So berichtet z. B . Hwtt. (185) von dem Dieri- Stamm Südostaustraliens, daß es ein Vorteil für einen Mann ist, möglichst viele Pirrauru-Frauen zu besitzen. Denn 1. braucht er sich während der Zeit, in der er über sie verfügen kann, nicht so sehr mit der Jagd anzustrengen, da die Frauen ihn dann mit einem Teil der von ihnen beschafften Nahrung versorgen müssen; 2. verschafft er sich durch gelegentliches Ausleihen der Frauen ein größeres Ansehen unter seinen Stammesgenossen; 3. erhält er für solche Dienste fortlaufend Geschenke von den jüngeren Männern, die zur Zeit über keine Pirrauru-Frauen verfügen, oder denen noch keine zugeteilt worden sind. Auf diesem Wege können einzelne in den Besitz beträchtlicher Mengen von Waffen, Schmucksachen usw. gelangen, die sie in der Regel wieder an hervorragende Männer, wie Totem- oder KlanVorsteher, verschenken, um auch bei diesen ihren Einfluß zu mehren. Diese Frauen werden für den Mann also zu einem Mittel persönlichen Ansehens und gesellschaftlichen Einflusses. Bei den Ovakuanjana und Ovandonga des südwestlichen Afrika gibt es bevorzugte Geschlechter, deren Auszeichnung hauptsächlich auf ihren Reichtum an Ochsen zurückzuführen ist (Krafft [14] 20). Selbst unter den Bergdama-Jägern desselben Lands hat, wie oben ausgeführt, der Besitz an Ziegen eine besondere Schicht herausentwickelt (Vedd. 3). Hirtenadel. — Bei dem zentralafrikanischen Bantu-Volk der b a - K i t a r a stehen zwei scharf voneinander geschiedene ethnische Gruppen einander gegenüber: eine nomadisierende herrschende Hirtenschicht, die von der Milch ihrer Rinderherden lebt, und Feldbauer. Die herrschende Schicht besteht nicht aus Negern, sondern aus mit Negern vermischten Hamiten, welche in früherer Zeit in das Land eingewandert waren, es erobert und die eingeborenen Neger-Klans unter ihre Oberhoheit gebracht hatten (Rose. [23/a] 6). Ihren Traditionen nach dürften diese Einwanderer zu den GalaStämmen gehören. Der Genuß yon vegetarischer Speise war diesen Milchtrinkern verboten. Nur im Falle äußersten Zwanges griff ein Mann dazu. Danach mußte er fasten und ein Purgativ einnehmen, bevor er wieder zum Milchtrinken überging. In ähnlicher Weise mußte er sich nach dem Genuß von Rindfleisch verhalten. Man fürchtete 6onst, daß der Milchertrag der Kühe dadurch litte. Von dem gleichen Gedanken getragen war auch das Heiratsverbot mit den Feldbauerstämmen des Landes. Erst in jüngerer Zeit, seitdem eine gewisse Schlaffheit in der Beobachtung der Milchsitten
Kastenbildung
129
eingerissen ist und die alten strengen Vorschriften nicht mehr so genau beobachtet werden, kommen auch häufiger Zwischenheiraten vor. Daraus geht hervor, wie die verschiedenen Sitten in einer bestimmten Geistesverfassung wurzeln. — Die Klans, aus denen sich die Hirtenbevölkerung zusammensetzt, waren totemistischer Natur. Sie verehrten Kühe besonderer Farbe •oder Gestalt oder Teile von Kühen oder Kühe während einer gewissen Periode oder unter besonderen Umständen, z. B. nachdem sie Salzwasser getrunken, oder während sie trächtig waren, oder nachdem sie ein Kalb geboren hatten usw. Die Angehörigen eines solchen Klans durften die Milch der betreffenden, ihnen heiligen Kuh nicht trinken oder deren Fleisch während dieser Zeit nicht genießen, bis die kritische Zeit vorbei war. Diese Hirten wurden von einem despotischen König beherrscht. — Die eingeborenen Feldbauer bildeten die ba-Hera. Sie gehören ethnisch einem niedrigeren Typ als die Einwanderer an und stellen nicht eine einheitliche Schicht dar wie die Hirten, sondern bestehen aus einer großen Zahl von unabhängigen Stämmen, die hauptsächlich Feldbau betreiben. Auch ihre Klans waren totemistisch mit einem exogamen Heiratssystem. Jedoch spielten die Ehen keine große Rolle als Band zwischen den verschiedenen Klans oder Stämmen. — Das Hirtenvolk, das sich über das Land ergoß, vereinigte alle diese zerstreuten Stämme und gestaltete daraus ein Reich unter einem Hirtenkönig. Die Feldbauer waren nicht nomadisch und bewegten sich selten aus ihrem Gau hinaus. Noch heute kann man die einzelnen Stämme unterscheiden, die sowohl im anthropologischen Typus wie in der Sprache verschieden sind. — Das Hirtenvolk betrachtete diese Feldbauer als seine Diener und Knechte, und ein Häuptling hatte viele von diesen, die sein Land bewohnten und für ihn arbeiteten. Sie errichteten Häuser, die viel dauerhafter waren als die der nomadischen Hirten, obgleich nicht so groß und so gut wie die der Häuptlinge. Von den Hirten wurden diese Feldbauer aus keinen anderen Gründen v e r a c h t e t als wegen der Art ihrer Lebensführung, weil sie nämlich vegetabilische Kost genossen und das Land bebauten. Denn alles andere als die Beschäftigung mit den Kühen war in den Augen der Hirten niedrig und gemein. — Wir sehen, wie schon oben gezeigt, eine in verschiedene Rangstufen gestaffelte Bevölkerung unter den ba-Kitara (Rose. [23/a] 7ff, 52ff). Auch in Ostafrika treffen wir ähnliche Verhältnisse an (Czekn. [17] 261 ff; Rehse [10] HOff; Meyer H. [16] 94; Merker [04] 16ff). Sippenorganisation und Geheime Gesellschaften. — Die Tendenz zu einer kastenmäßigen Sonderung, teils auf Grund der Abstammung, teils des Besitzes und teils des Berufs, finden wir auch in Westafrika ausgebildet. Wir müssen uns das im Zusammenhang mit der gesamten politischen und sozialen Gliederung des Volkes und seiner Geistesverfassung vor Augen führen. — Die Kpelle setzen sich aus Groß-Familien und Sippen (Tabu-Gemeinschaft) zusammen, denen der Genuß eines bestimmten Tieres, einer bestimmten Pflanze untersagt oder eine gewisse Handlung verboten ist. Die Tabu-Genossen sind einander zu uneingeschränkter Hilfe verpflichtet (Westermann 56f). Der Tabu-Genosse wird stets wie ein naher Verwandter behandelt und genießt beim anderen Gastrecht, Schutz und Beistand. Da die Zahl der 9
Thurnwald IV.
130
Politische
Gefüge
Tabu-Tiere und -Pflanzen beschränkt ist, so tritt der Fall ein, daß auch Angehörige zweier verschiedener Stämme oder gar anderer Völker dasselbe Tabu haben. In diesem Falle hält man sich ebenfalls zu dem Verhalten verpflichtet, das ein gleiches Tabu mit sich bringt, denn die Tabu-Genossen betrachten sich stets als von dem gleichen Ahnherrn abstammend. Unter verschiedenen Tabu-Gemeinschaften bestehen manchmal traditionelle Freundschaftsverhältnisse und Verwandtschaftsbeziehungen. Das Tabu vererbt sich vom Vater auf die Kinder. Doch nehmen diese daneben auch das der Mutter an. Obwohl die Frau bei ihrer Verheiratung ihr eigenes Tabu bewahrt, fügt sie demselben manchmal das ihres Mannes hinzu (56f). — Diese Sippenorganisation ist überlagert von den Beziehungen zu den Geheimbünden. — Die Sippe wird von einem Altesten geleitet, trägt also durchaus den Charakter der primitivsten Gebilde. Die Einwohnerschaft eines Dorfes setzt sich in der Regel aus den Mitgliedern verschiedener Sippen zusammen, deren jede für sich siedelt. — Gründet eine Sippe ein neues Dorf, so nimmt der Sippenvorsteher die Stellung des Dorfhäuptlings ein, und seine Würde vererbt sich auf die folgenden Häupter der Sippe. Kommt eine weitere Familie hinzu, so unterstellt sie sich ohne weiteres dem regierenden Häuptling. Sind mehrere Sippen da, deren Rang an Alter und Ansehen gleich erscheint, so kann aus ihnen abwechselnd der Häuptling von der Ratsversammlung gewählt werden. Auf die Besetzung des Häuptlingspostens sucht gern der Oberhäuptling Einfluß zu gewinnen, wenngleich es selten ist, daß er einen seiner Söhne oder Verwandten oder sonst eine ihm genehme, aber nicht folgeberechtigte Person in ein solches Amt einsetzt. Möglich ist eine solche Willkür bei jungen oder von Hörigen und Sklaven des Oberhäuptlings gegründeten Niederlassungen, oder wenn der Machthaber ein Kriegskönig, also ein Eroberer, ist. — Eine Sonderstellung nehmen die Schmiede ein, die aus den Vertretern bestimmter Familien stammen, die ihre eigenen Traditionen pflegen (Westm. 35f, 197, 207). — Ahnlich liegen die Dinge auch bei den Aschanti und anderen westafrikanischen Stämmen. Bezüglich Angola vgl. Pech.-L. 146f-. Auf Abstammung begründete Gliederung, die durch fürstliche Autorität und Wertbesitz zersetzt zu werden beginnt. — Die Bevölkerung von Kusae (mikronesische Karolinen-Insel der Südsee) gliedert sich vor allem in zwei soziale Schichten, in den Adel (Zern) und in das übrige Volk (met SiSik). Letzterer Ausdruck bedeutet „geringe Leute". Die kleine Insel Lölö waj: der Wohnort des Adels, die Hauptinsel Uslang hingegen mit dem übrigen Nebenland galt als Heimat der met §i$ik. Auf der Hauptinsel nahm der Adel niemals dauernd Aufenthalt. Doch befanden sich auf Lölö auch „geringe Leute". Sie wohnten in den gegenwärtig nicht besiedelten Distrikten Safoirä und Lük, die ungünstig gelegen sind, weil sie vom Hafen weit entfernt sich befinden und dort nur schmale Strandstreifen am Nord- und Ostabhang eines steilen Berges übrigbleiben. — Die Angehörigen einer Totem-Sippe (Süf), nämlich der Süf NiaS, die von der Marshall-Insel zugewandert sein soll, gehörten ausschließlich den „geringen Leuten" an. Die übrigen Totem-Sippen verteilten sich indessen sowohl auf den Adel wie auf das gemeine Volk. — (Dies deutet
Kastenbildung
131
darauf hin, daß der eingewanderte Adel sich mit einer in Totem-Gruppen organisierten Bevölkerung vermischte und dabei in Beziehung zu diesen Totem-Gruppen gelangte.) — Früher soll es bei Besuchen von Bewohnern der Hauptinsel auf der Adelsinsel Lölö nicht selten bei Festen zu Streitigkeiten gekommen sein, bei denen die Bewohner der Hauptinsel es ihren TotemYerwandten absprachen, daß sie sich ihrer Geburt nach höher dünken dürften als sie selbst. Einzelne Leute der Hauptinsel behaupteten sogar, ihrer Geburt nach über den anderen zu stehen, weil sie von älteren Linien abstammten. Das Prinzip des A l t e r s v o r r a n g s , wie es in den Totem-Gruppen lebendig war, stand in Widerstreit zu dem Prinzip e t h n i s c h e r Überlegenheit, das die Überschichtung mit dem Adel in die Bevölkerung gebracht hatte. (Die örtliche Trennung ist wohl darauf zurückzuführen, daß Zuwanderer sich auf der kleinen Insel zunächst einmal niedergelassen hatten, und, als sie mit den Bewohnern der Hauptinsel in Beziehung traten, von dort her Dienerschaft bezogen, die in den besonderen Dörfern von Lölö angesiedelt wurde.) — Die R u i n e n auf Lölö rühren zweifellos von Bauten her, die zur Sicherung einer verhältnismäßig kleinen Einwandererschar errichtet worden waren. — Der Adel wurde durch die Familien der drei Totem (Süf) : Tön, Penmä und Lisnei gebildet. E r soll auf Abgeschlossenheit gehalten und prinzipiell Ehen mit Angehörigen des übrigen Volkes vermieden haben. — Wie aus den Totem(^ü/)-Sagen und anderen Erzählungen hervorgeht, kamen tatsächlich indessen auch Ehen des Adels mit Bewohnern der Hauptinsel vor. Auch wußte man über diese sagenhaften Beispiele hinaus allgemein zu erzählen, daß der Adel in früherer Zeit häufig von der Hauptinsel Frauen raubte, die jedoch nur die Stelle von N e b e n f r a u e n bekleideten. Die Abkömmlinge aus solchen Vermischungen wurden nicht als reine „lern" betrachtet, und man unterließ diesen Kindern gegenüber, wenn der Einfluß des Vaters geschwunden war, die Achtungsbezeugungen, die man sonst im allgemeinen dem Adel entgegenbrachte. Dieser Adel scheint übrigens nie sehr zahlreich gewesen zu sein und ist jetzt nahezu völlig ausgestorben. — Nicht immer ging die Adelsgemeinschaft wegen einer Heirat mit einer Frau aus dem Volke verloren, manchmal blieb sie trotzdem erhalten. Maßgebend erschien das Vorhandensein eines S t a a t s t i t e l s in der Familie. Die Belehnung mit einem solchen Titel, zumal mit einem hohen, verhalf auch dem nicht standesgemäßen Gatten in den Augen des Volkes zum Adel; umgekehrt h a t t e das Ausbleiben eines solchen ein soziales Sinken der Familie unter dem Verlust der Adelseigenschaft zur Folge. (Hierin liegt eine besondere Bedeutung des Fürstentumes und der Ansatz zu einem Dienstadel). Der Adel war ein Geburtsvorrecht, das aber durch Titelverleihung gehoben oder vermindert werden konnte. Titel konnten ursprünglich jedenfalls nur an Adlige verliehen werden; erst in aller jüngster Zeit finden sich Beispiele einer Verleihung auch an die „Gemeinen" (met SiSik). — I n einem Fall war sie z. B. der königliche Dank dafür, daß ein Priester zwei Monate lang die Anfertigung von Bananenfasern zu Webezwecken für den König beaufsichtigt hatte. — Sicher wird diese Erscheinung mit Recht auf einen Zerfall des Geburtsadels zurückgeführt. Trotzdem scheint es auch schon in alter Zeit, allerdings nur 9*
132
Politische
Gefiige
ganz ausnahmsweise, einem,,kleinen Mann" ( m e t SiSik) möglich gewesen zu sein, die Schranke zwischen Volk und Adel zu durchbrechen und sogar ein Titelhäuptling und damit Adliger schlechthin zu werden. — Zwischen Volk und Adligen herrschte im allgemeinen eine tiefe Kluft, die auch äußerlich, z. B. in den Grußformen, zum Ausdruck kam. Ein Gemeiner grüßte den Adligen, Mann, Frau, oder Kind, bei Begegnung auf dem Wege, indem er mit gebeugtem Oberkörper, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, an der Wegseite sich hinstellte und ihn vorübergehen ließ. Er betrat das Gehöft oder Haus eines Adligen nur, nachdem er aufgefordert worden war, und setzte sich dann schnell nieder. Er wartete, bis er in der Unterhaltung angeredet wurde, und diese selbst hatte er leise und zurückhaltend zu führen. Bei der Anrede mit dem Namen mußte er die Achtungsform gebrauchen und sich den Adligen gegenüber in der gehobenen Sprache ausdrücken. — Aus dem Zusammenwohnen der Gemeinen mit den Adligen auf der Insel Lölö ergab sich ein gewisses Abschleifen der Achtungsbezeugungen. So genügte für die Gemeinen von Lölö, daß sie bei Begegnung mit einem Adligen nur den Oberkörper beugten, während die Leute der Hauptinsel auch das Haupt senkten, wenn sie sich zur Seite des Wege niedersetzten. Die gehobene Sprache wurde von den Gemeinen der Hauptinsel auch ihren Standesgenossen gegenüber auf der Adelsinsel Lölö angewendet. Ja, die „kleinen Leute" der Adelsinsel wendeten sogar untereinander die gehobene Sprache in beschränktem Maße an und ahmten darin offenbar den Adel nach, der untereinander in dieser gehobenen Sprache verkehrte und sich mit der Achtungsform des Namens anredete. — Ihre reale Bedeutung erhielten die S t a a t s t i t e l , die vom König verliehen wurden, ehemals dadurch, daß mit ihnen zugleich die Oberhoheit über eine oder mehrere L a n d s c h a f t e n auf der Hauptinsel (Ualang) verbunden war. Jeder der vielen Gaue ( F ä l ) unterstand einem besonderen Titelhäuptling. Dabei war ein Titel n i c h t mit einer bestimmten Landschaft verbunden, sondern es stand dem König frei, die Landschaften den Titelhäuptlingen nach Belieben zuzuteilen ( s . L e h e n , König A). Unter den Titelhäuptlingen wurden wieder verschiedene R a n g s t u f e n eingehalten. Wie erwähnt, konnten Titelhäuptlinge nur Mitglieder der drei obersten Totem-Sippen (ßüf) werden, die untereinander auch wieder dem Rang nach gestaffelt waren. Als erste gilt die alte Fürsten-Sippe: Tön. In der neueren Geschichte hat jedoch die Sippe Penmä die Mehrzahl der Könige und anderen Würdenträger gestellt. Erst in der jüngsten Vergangenheit gewinnt die letzte der Adelssippen Lisnei an Bedeutung. Zweifellos verlor das Fürstentum gerade dadurch, daß es an die am wenigsten angesehene Adelssippe überging, selbst auch an Bedeutung. — Das Ansehen der hohen Titelhäuptlinge erstreckte sich auch auf ihre Frauen und andere Angehörige bis hinab auf die kleinsten Kinder. So durfte man den Kopf der letzteren nicht berühren, und daher mußten die Wärterinnen die Säuglinge in besonderer Weise auf dem Arme tragen. Auch unter dem Adel selbst herrschte ein strenges Zeremoniell: so nahte sich der 18—20 jährige Sohn des Fürsten Äoä Nelepäluk seinem Vater auf allen Vieren (Sarf. 351). Schon in den unerwachsenen männlichen Mitgliedern der Familie sah man künftige Titelhäuptlinge, und
Kastenbildung
133
ein solcher wurde mit dem ehrenden Präfix Se angeredet. Auch der Bruder darf den Kopf eines solchen Sprößlings nicht berühren. — Neben den Häuptlingen ersten Ranges gab es auch noch solche zweiten Ranges. Die Titelhäuptlinge lebten auf großem Fuße; sie ließen sich viermal täglich statt zweimal, wie es das Volk tat, den Erdofen herrichten und verschmähten bezeichnenderweise nicht, sich persönlich mit der Kunst der Bereitung gewisser Breiarten ( f ä f a ) aus Taro-Knollen, Bananen, Kokosmilch, Brotfrucht usw. zu befassen (365). Sie stillten ihren Durst mit Kokosnüssen oder mit Zuckerrohr statt mit Wasser, veranstalteten Kawa-Gelage, hielten sich mehrere Frauen, führten gelegentlich Wettkämpfe um Ehre und Ansehen, die mit großen Festlichkeiten verbunden waren, verbrachten einige Zeit im Jahre bei ihren Lehensleuten auf der Hauptinsel wie zur Sommerfrische, ergötzten sich an Wettkämpfen, die der Fürst zwischen den einzelnen Landschaften auf Lölö aufführen ließ, und legten großes Gewicht auf ihre äußere Erscheinung durch Sauberkeit, Schmuck, Kleidung und gute Formen. Sie unterschieden sich auch durch Helligkeit der Haut von den anderen. Zweifellos hat Lütke recht, der diese Unterschiede auf rassische Eigenarten zurückführt (Ltk. [1835—36] 4; vgl. Lss. [1839] 2 483ff; Sarf. [20] 2 333ff). — Bezügl. der Karolinen-Insel Yap s. Müll. — W. [17] 216ff; zu Nauru s. Hambr. [14—15] 184ff, bes. 187; zu Ponape s. Hahl [01]; bezügl. der Marshall-Inseln s. Erdl. [14] 99ff; für Tahiti Mühlm. [32] 13 ff, 23 ff, 25 ff. Die Tonganer (Polynesien, Südsee) wurden in4 Schichten geteilt: 1. Häuptlinge (Eiki); 2. landbesitzende Adlige ( M a t a b o l e ) , deren Leben eng mit dem der Häuptlinge verbunden war, und die als ihre Ratgeber und Beamten funktionierten, sie scheinen die Redner gewesen zu sein; 3. die Landbesitzer (Muo), welche die Adligen auf verschiedene Weise unterstützten, und 4. Bauer ( Tua ). In älterer Zeit scheinen keine Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Häuptlingen und den Adligen bestanden zu haben. Immerhin waren Adlige gelegentlich auch kleine Häuptlinge. — Auf Samoa scheinen die Dinge komplizierter gewesen zu sein. Jedenfalls sehen wir da im allgemeinen das auf Abstammung beruhende Adelssystem von anderen Gesichtspunkten mehr und mehr verdunkelt werden, und zwar teils von dem des Besitzes, teils von durch kriegerische und politische Verschiebungen erworbenen traditionellen Titeln und Machtstellungen (Willms. [24] 3 137ff, 170, 396). — Ahnliche Zustände bestanden auf der ganzen polynesischen Inselwelt. — Bezügl. Fiji s. Hoc. [13]. Feste Verbindung von Staffelung mit Wirtschaftsbau und politischem Gefüge. — In Amerika finden wir in den großen Kulturzentren ebenfalls streng abgeschlossene und für sich lebende Schichten, die in manchen Zügen an die indischen Kasten gemahnen. Der Adelsschicht, in deren Händen auch die Staatsämter und die Verwaltung der Provinzen lag, standen z. B. in Mexiko tributpflichtige Gruppen gegenüber, welche die verschiedensten Dinge, wie Mais, Baumwolle, Kakao, Gewebe, Kleidungsstücke, Honig, Hölzer, Salz, Kopal, Seemuscheln, Kupfer, Schwerter, Schilder, Pfeifenrohre, Bisam-Körner usw., als Abgaben zu entrichten hatten. Das Adelssystem war jedoch auch hier, ähnlich wie z. B. auf Kusae, von Titelaus-
134
Politische
Gefiige
Zeichnungen, die im Staatsdienst verliehen wurden, sowie auch von persönlichem Reichtum durchzogen (Joy. [14] 199ff; Ehrr. [97], bez. Kolumbien, Südamerika; ebenso Fraz. [10] 3 558f; Krickbg. [18—22] über die Totonaken). — Bez. der Tlingit-Indianer des Nordwesten vgl. Swant. [08] 427. Auflösungstendenzen von kastenmäßigen Ballungen durch individuelle Besitzunterschiede. — Die frühmalaiische Gesellschaft war in sehr verschiedene Schichten geteilt, unter denen verhältnismäßig wenig Berührung stattfand, wenn auch nicht zu leugnen ist, daß ein Übergang von einer Schicht in die andere möglich war. Vergleichen wir diese Zustände mit den sozialen und politischen Verhältnissen der Naturvölker, so ergibt sich daraus ohne weiteres, wie falsch und unhaltbar die Auffassung ist, welche die frühmalaiischen sozialen und politischen Lebensformen gewissermaßen als „die ursprünglichen" gelten lassen wollte. — Betrachten wir z. B. die a l t i r i s c h e Gesellschaft, wie sie nach den Brehon Latvs erscheint, so treten uns da fünf große Schichten entgegen, nicht unähnlich denen etwa im alten Samoa oder Tonga, nämlich: 1. die „Könige" (Fürsten) verschiedener Grade, 2. die Adligen, zu denen auch die Fürsten gerechnet werden, 3. die nichtadligen Freien mit Eigentum, 4. nichtadlige Freie ohne Eigentum oder mit nur geringem Besitz, 5. Unfreie. — Die ersten zwei Schichten sind privilegiert: sie zahlen keinerlei Abgaben an den König. Die Adligen besaßen das Land, das sie entweder durch Unfreie bestellten oder an Pächter weiter vergaben. Auch innerhalb des Adels bestehen wieder Rangunterschiede, und zwar auf Grund des Besitzes, nämlich nach der Größe des Landes und der Zahl der Männer, die einer für den Krieg stellte. — Die dritte Schicht der nichtedlen Freien besaßen wohl Grund und Boden, ihr Reichtum bestand jedoch hauptsächlich in Vieh, weshalb sie „Kuh-Häuptlinge" genannt wurden. Im Gegensatz zur zweiten Schicht zahlten sie Steuern. Auch sie verpachteten Land und Vieh. Hatten sie jedoch nicht genug Land, so pachteten sie solches von den Adligen und ließen darauf ihr Vieh weiden. Sie besaßen ihre eigenen O b r i g k e i t e n und besonderen H ä u p t l i n g e . — Die vierte Schicht zahlte ebenfalls Abgaben. Sie stellte die große Zahl von Bauern und verwaltete sich ebenfalls unter eigenen, vom König gestellten Obrigkeiten. — Die unterste Schicht zerfiel wieder in mehrere Gruppen: 1. in Hirten, Arbeiter und kleine Hausbesitzer auf fremdem Boden, die als zum S t a m m gehörig betrachtet wurden, 2. in solche, die für nicht zum Stamm gehörig galten, vom König jedoch das Recht erworben hatten, da zu leben, und jederzeit vertrieben werden konnten. Es waren zumeist Flüchtlinge aus anderen Stämmen. Unter diesen wurden abermals zwei Schichten unterschieden: diejenigen, die frei Besitz, besonders an Vieh, erwerben konnten, und tieferstehende, die wie Sklaven zu betrachten waren. Letztere waren vielfach entflohene Verbrecher, sie nahmen eine verachtete Stellung ein und wohnten in besonderen Siedlungen. — Durch Erwerb von Eigentum, insbesondere von Vieh, war es jedoch möglich, die an sich s t a r r e n Schranken zu durchbrechen und in eine höhere Kaste a u f z u s t e i g e n . Neben dieser rangmäßigen Schichtung der Gesellschaft besteht die Gruppierung zu Sippen und Klans fort, zu der eine weitere nach Siedlungen und Stämmen hinzugetreten ist
Kastenbildung
135
(vgl. Joy. P. W. [03] 1 154ff). — Bezügl. der alten dtsch. Zustände vgl. Hübn. [13] 83 ff. Kastenmäßige Isolierung infolge großer ethnischer Spannung. — Die indischen Kasten wurzeln in besonderen historischen Bedingungen. Zu Anfang des 1. vorchristlichen Jahrhunderts dürfen wir uns die höheren Schichten der von Iran her, vielleicht etwa ein Jahrhundert früher, eingewanderten arischen Inder nicht allzu tief durch Rassenmischung mit den dunklen dravidischen Urbewohnern des Landes vermengt vorstellen. Haben sich doch an vielen Orten Brahmanen von reinem oder annähernd reinem Typus erhalten. Ihren Ausgangspunkt hatte die Bewegung zur Ordnving der Kaste von den Brahmanen, den Trägern der alten Kultur, genommen (Oldbg. [97] 4). — Was jedoch wesentlich zur weiteren Gliederung der Gesellschaft beigetragen hat, waren die verschiedenen, in Familien gepflegten t e c h n i s c h e n F e r t i g k e i t e n , deren Kenntnis ja stets mit der Gloriole besonderer Kraft umgeben ist. — Die Kastenbildung in Indien knüpft an eine grundsätzliche Schichtung der Bevölkerung an, wie wir sie in ähnlicher Weise auch an vielen anderen Orten finden. So wie z. B. in P e r s i e n besteht die alte arische Gesellschaft der Inder aus Priestern (Brahmanen), Kriegern ( K s h a t r y a s ) , Händlern ( V a i s h y a s ) und halbblütigen Knechten und Bauern (Sudras). Das Unterscheidungsmerkmal war die Farbe. Dies deutet sofort auf eine rassenmäßige Verschiedenheit, die durch Mischungen im Laufe der Zeit vervielfältigt wurde. Die arischen Stämme hatten sich nach dem Ganges zu bewegt und waren später südlich auf der indischen Halbinsel vorgedrungen. Aus dem Zusammenstoß mit einer Bevölkerung, die rassisch und kulturell ganz verschieden war, ergab sich eine Mischung von Rassen, und daraus die Wurzel für die Kastenbildung. Die Verschiedenheiten zwischen den Arya-Varna und den DaSya-Varna, zwischen den Hellen und Dunklen, beherrschten bei den Mischungen das Kastensystem, das im Anfang keineswegs so stark war wie später und in der malaiischen Periode des Hindutums seinen Höhepunkt erreichte (Vinogd. [20] 1 229, 324). Aber nicht allein die Farbe war es, sondern es kamen im Laufe der Zeit noch verschiedene andere Unterschiede hinzu, die nun in ähnlicher Weise nach dem gleichen System behandelt wurden. Vor allem sind noch maßgebend, wie schon angedeutet, die Berufe und der Besitz. Später wurden noch andere Absonderungen nach demselben Schema behandelt, und so sehen wir z. B. die abgespaltene Sekte der Lingayat oder Virshaiv von Bombay und Südindien mit mehr als 2J/2 Millionen Menschen als besondere Kaste. Oder die Babhans von Bihar, die als ursprüngliche Brahmanen gelten, welche zum Ackerbau übergegangen sind, werden wegen des Wechsels ihres Berufes als Kaste betrachtet. Ebenso werden fremde Stämme, die den Hinduismus annahmen, wie die Koch in Assam, für sich als Kaste eingereiht. — Diese Kasten stellen also vielfach ethnische Gruppen dar, denen noch die Einrichtungen und die soziale Organisation von früher her anhaften. Demgemäß finden wir Halbierungen oder Spaltungen in verschiedene exogame totemistische Klans (vgl. Riv. [06] 498ff). Dabei wirkt aber die soziale Schichtung und das Rangsystem, welches in der indischen Gesellschaft Wurzel gefaßt hatte, dahin, daß ein allge-
136
Führerschaft
meiner „Zug nach oben" Platz griff, während das bestimmte Gedankenund Wertungssystem der führenden Lehre der Brahmanen entspringt (vgl. Desc. [12]). Wenn die Frau auch prinzipiell aus der eigenen Schicht genommen wird, so besteht doch eine starke Tendenz, die Tochter „hinauf"-heiraten zu lassen, ein Umstand, der gerade zur Vermischung der oberen Kasten beitrug. Während die älteste Zeit, in der die Arier mit verhältnismäßig wenig Frauen nach Indien kamen, der Vermischung nicht abgeneigt war, wurde das in späteren Perioden anders. Das indische Mittelalter stellt die Zeit des starren Kastensystems vor, während heute zersetzende Bestrebungen Boden gewinnen. Wie stark aber trotz allem die ethnisch verankerte Kastengliederung ist, zeigt der Umstand, daß auch andere Religionen in Indien, wie die Jaina, j a auch die Mohammedaner und sogar die römischen Katholiken, das Kastensystem in einem gewissen Maße sich zu eigen gemacht haben (Crooke [14], Rsly. [91], Oldbg. [97], Dlm. [99], Bgl. [08], Gaine [07]). Ahnliche Abschließungen der Schichten voneinander sehen wir auch in Japan bis zum Regime der neuen Ära, auf deD Riukiu-Inseln, z. T. in Tibet usw. V. FÜHRERSCHAFT ( H ä u p t l i n g , F ü r s t , K ö n i g , Despot) § 1. H ä u p t l i n g t u m Die Beziehungen unter Naturvölkern sind überwiegend persönlicher Natur und durch Gewohnheit ängstlich gebunden; sie werden selten durch kritisch rationalistische Erwägungen und durch ideale Vorstellungen, wie die Dinge sein sollten, beeinflußt. Daher hängt bei den niedrigen Naturvölkern in der politischen Führung alles von der P e r s ö n l i c h k e i t des Führers ab, nicht von feststehenden Einrichtungen oder Gesetzen. Wenn wir die Berichte vergleichen, so tritt uns mit großer Übereinstimmung aus allen Erdteilen die Tatsache hervor, daß bei Jägerstämmen, und auch bei Feldbauern ohne soziale Schichtung, die Häuptlingschaft n i e m a l s einen despotischen Charakter annimmt. Diese allgemein verbreitete Tatsache steht im schärfsten Gegensatz zu der noch immer in mehr oder minder wissenschaftlichen Schriften verbreiteten Legende Freuds ([13] 2 392), daß primitive Horden von einem seine Familiengruppe tyrannisierenden Despoten regiert worden seien, gegen den sich dann seine Söhne empörten und ihn ermordeten (der ,,ödipus-"Vorgang). Diese Legende beruht auf einer Hypothese Darwins, die dieser nach alten unsicheren Berichten vom Leben der Gorilla-Horden konstruierte. In der Tat entspricht aber das Leben der Gorilla-Horden nicht den „Wünschen" Freuds (vgl. z. B. Jenks [11] 56). In der Welt der h ö h e r stehenden Naturvölker dagegen, die durch die Verrichtungen und Werke der Hand zu tastenden und sprunghaft-zauberischen Gedankenkonstruktionen und Spekulationen über die Bedingungen des Vollbringens ufnd Geschehens angereizt werden, erscheint auch der Träger der Macht als Besitzer von Fähigkeiten, die in mystischer Weise:
Häuptlingtum
137
über das Menschenmaß hinausragen, und er gewinnt so einen Glanz, mit dem sonst die als Träger übermenschlicher Kräfte vorgestellten Wesen ausgestattet auftreten, j a er verschmilzt derart mit ihnen, daß er nicht nur als Symbol, sondern unmittelbar als Träger und Gefäß dieser übermenschlichen Mächte gilt, sogar mit ihnen identifiziert wird. Wir tun darum gut, verschiedene Arten von Häuptlingen zu unterscheiden, die mit der G e s t a l t u n g u n d A u s d e h n u n g d e r p o l i t i s c h e n G e m e i n s c h a f t e n zusammenhängen: 1. Das a u t o r i t ä t s l o s e Häuptlingtum einflußreicher Persönlichkeiten, wie es überall dort vorkommt, wo in homogenen Verbänden die Männer der Jagd nachgehen, mögen die Frauen Sammlerinnen oder Feldbauerinnen sein. Die Gemeinde wird hier vor allem durch die Bande des Bluts aufrechterhalten. 2. Das a u t o r i t ä r e Häuptlingtum, das gleichfalls in homogenen Verbänden vorkommt. Es ist nicht als eine ursprüngliche Bildung dieser Gemeinden aufzufassen, sondern als Wirkung einer B e e i n f l u s s u n g durch benachbarte höher organisierte politische Gruppen. Die Autorität kann entweder n a c h g e b i l d e t oder durch die E i n w i r k u n g von Persönlichkeiten höherer politischer Verbände beeinflußt worden sein. E s ist aber auch möglich, daß durch die Entstehung besonderer Werte der B e s i t z oder durch Aneignung von K e n n t n i s s e n diese zu besonderem Ansehen verhelfen. Auf diese Weise gewinnt das Häuptlingtum bald einen p l u t o k r a t i s c h e n , bald einen s a k r a l e n Charakter. Manchmal haben auch Mischungen mit Nachbarn stattgefunden, deren Überlegenheit anerkannt ist, und so erscheinen gewisse F a m i l i e n deswegen als ausgezeichnet. 3. Nicht selten tritt das Häuptlingtum in v e r d o p p e l t e r Gestalt auf. Eine solche Doppelhäuptlingschaft knüpft sich nicht selten a) an die H a l b i e r u n g des Klans oder des Stammes, wie sie in mutterrechtlichen Gebieten häufig ist; b) sie verschwimmt oft noch außerdem mit einer T e i l u n g d e r K o m p e t e n z e n , z. B . der wirtschaftlich-sakralen Tätigkeit und der kriegerisch-profanen. I n diesem Fall müssen wir annehmen, daß eine solche Teilung der Gewalten im Anschluß an die S p e z i a l i s i e r u n g g e w i s s e r F a m i l i e n für bestimmte Kenntnisse und Tätigkeiten bei einer Ausdehnung des politischen Gebietes des halbierten Stammes in den Vordergrund trat. 4. Das auf einer Überschichtung beruhende O b e r h ä u p t l i n g t u m . Der Oberhäuptling ist der primus inter pares innerhalb einer Adelskaste und nimmt vermöge seiner Angehörigkeit zu dieser eine überlegene Stellung einer Mehrheit von anderen Sippen gegenüber ein. Dadurch wird ein ausgedehnteres Friedensgebiet geschaffen. Diese Überlegenheit beruht keineswegs überwiegend auf der physischen Kraft, sondern ist im Gegenteil auf einer E h r f u r c h t vor der geistigen Überlegenheit, der größeren Geschicklichkeit und dem besseren Können aufgebaut und trägt in diesem Zusammenhang einen z a u b e r i s c h s a k r a l e n Charakter. Der Oberhäuptling übt mit seiner Adelsschicht eine verschieden ausgebildete Herrschaft über solche Unterhäuptlinge aus, wie sie in den vorigen Punkten gekennzeichnet wurden. 5. Ist die Überschichtung komplizierterer Natur, haben sich namentlich
138
Führerschaft
verschiedene Gruppen von höheren ethnischen Verbänden zur Anerkennung eines gemeinsamen Oberhauptes zusammengefunden, ist also im Laufe der Zeit durch Wanderungen oder Verschiebungen in Besitz und Macht eine S t a f f e l u n g auch i n n e r h a l b der Oberschicht eingetreten, so begegnen wir einer Form von Oberhäuptlingtum, das sich auf eine ziemlich breite und in sich gestaffelte Adelsschicht stützt. Hier ist der Respekt vor dem großen Oberhaupt in ganz besonderer Weise ausgebildet, die Heiligkeit und die Scheu vor dem Symbol der Gemeinschaft derartig gewachsen, daß ein solcher „ F ü r s t " unmittelbar als Träger übermenschlicher und übersinnlicher Kräfte angesehen wird und das Vorbild zu dem abgibt, was man einen „Gott" nennt. 6. Der Unterschied gegenüber den im vorigen Punkt charakterisierten „Fürsten" liegt beim Königtum darin, daß es nicht mehr mit der vermöge ihrer Tradition und Abstammung hervorragenden ethnischen Schicht, dem Stammadel, innerlich verbunden ist und von ihm getragen wird, daß also seine Organe nicht mehr die selbständigen Adligen sind. Der König stützt sich auf f r e m d e D i e n e r s c h a f t und S k l a v e n . Die B e a m t e n , die er entsendet, haben kein traditionelles eigenes Recht, sondern sind von ihm w i l l k ü r l i c h ausgewählt, mögen sie Fremde sein oder Adlige, die in den Dienst des Königs traten. Von ihm empfangen alle Macht und Ansehen. Die sakrale Überlieferung des Fürstentums wird zwar nach Möglichkeit gewahrt, doch unterliegt sie beim König der r a t i o n a l i s t i s c h e n Nützung. Charakteristisch für das Königtum ist die i m p e r i a l i s t i s c h e Tendenz, das Streben, die Herrschaft auszudehnen, ein Gedanke, der dem Fürstentum noch fremd ist. Die O r g a n i s a t i o n , die aus Menschen geschaffen wird, deren Herkunft man nicht weiter in Frage zieht, ist bereits bewußt durchdacht. Andererseits stellt sich hier aber bereits eine K r i t i k ein, die auf einen S t u r z der P e r s ö n l i c h k e i t e n , nicht des S y s t e m s , gelegentlich ausgeht. Die Unterscheidungen, die hier gemacht wurden, sind natürlich zunächst logischer Natur, doch für eine klärende Übersicht über die Fülle von Herrschaftsformen unerläßlich. Wie überall in der Wirklichkeit, verwischen sich selbstverständlich oft die Grenzen. Das autoritätslose Häuptlingtum hervorragender Persönlichkeiten. — Um uns eine Vorstellung von dem niedrigen Häuptlingtum von Jägerstämmen zu machen, wollen wir die ausführlichen Ermittelungen von Rädel. Brown ([22] 44 ff) über die Zustände auf den Andamanen-Inseln vorausschicken. Er lehnt es ab, von „Autorität" der Häuptlinge dort zu sprechen, sondern möchte nur von einem „Einfluß" reden. Wenn nämlich jemand z. B. wagen würde, einem angesehenen „Häuptling" zu widersprechen, so würde er allerdings die Mehrheit der übrigen, auch seine eigenen Freunde, gegen sich haben. Doch trotzdem kann man von keiner „organisierten Regierung" oder irgendeinem regelrechten „Verfahren" in einer Angelegenheit sprechen. Ein Stamm besitzt keineswegs immer ein allgemein anerkanntes Oberhaupt, sondern es kann vorkommen, daß zwei oder drei solcher führenden Männer in verschiedenen Teilen eines Gaues vorhanden sind, ein jeder mit seiner
Häuptlingtum
139
b e s o n d e r e n G e f o l g s c h a f t . Der Einfluß eines Mannes beschränkt sich immer auf eine lokale Gruppe, und nur bei den jährlichen Zusammenkünften kommen Männer anderer lokaler Gruppen mit ihm in Berührung. I m allgemeinen werden die Angelegenheiten der Gemeinde durch die ä l t e r e n Männer und Frauen geregelt. Die jüngeren Mitglieder werden in Respekt vor den älteren erzogen. Wenn es sich um eine Verlegung des Lagers nach einem besseren Jagdgrund handelt, so entscheidet die Ansicht der älteren Männer, falls die jüngeren anderer Meinung sein sollten. Indessen sind die alten Männer keineswegs tyrannisch oder egoistisch. Die Ehrfurcht vor den Älteren zeigt sich auch in besonderen Titulaturen der Anrede. Solche Titel werden auch den legendarischen Vorfahren gegeben, wenn sie erwähnt werden, j a auch dem „Herrn Mond" und der „Frau Sonne". Neben diesen Respekt vor dem Alter tritt der vor bestimmten persönlichen Eigenschaften: Geschicklichkeit in der Jagd und im Kampf, Großmut und Freundlichkeit und Freisein von üblen Launen. Ein Mann, der solche Eigenschaften besitzt, erwirbt ganz gewiß eine einflußreiche Stellung in der Gemeinde. Seine Meinung fällt gewöhnlich stärker ins Gewicht, als die eines anderen oder sogar als die eines alten Mannes. Die jüngeren Leute schließen sich ihm gern an und bemühen sich, seine Gunst durch Geschenke zu erwerben oder dadurch zu erlangen, daß sie ihm beim Kanubau helfen, ihn auf einer Jagdunternehmung oder zum Schildkrötenfang begleiten. I n j e d e r L o k a l g r u p p e findet sich gewöhnlich ein Mann, der so vermöge seines Einflusses die übrigen lenkt. Unter solchen hervorragenden Männern m e h r e r e r b e f r e u n d e t e r Lokalgruppen geschieht es gewöhnlich, daß einer durch seine besonderen persönlichen Eigenschaften wiederum aus den übrigen hervorragt. Die j ü n g e r e n L e u t e streben danach, sich der Lokalgruppe zuzugesellen, der dieser führende Mann angehört. Eine solche Persönlichkeit wird bei den jährlichen Zusammenkünften der verschiedenen Gruppen sehr beachtet, und ihr Einfluß verbreitet sich dann außerhalb der Grenzen ihrer engen Gemeinde. Im allgemeinen gibt es kein Wort, um eine solche Persönlichkeit zu kennzeichnen. Im Norden werden solche Leute mit dem Ausdruck für „groß" benannt. Von einer organisierten Häuptlingschaft kann aber keine Rede sein. Durch weiße Regierungsbeamte ist — wie auch in anderen Schutzgebieten — ein Häuptlingssystem geschaffen worden, das aber mit dem eben beschriebenen nichts zu tun hat. Von den Beamten wurden vertrauenswürdige und intelligente Persönlichkeiten, die sie brauchen konnten, als Mittler zwischen ihnen und den Eingeborenen bestimmt. Solche Leute gewannen dadurch natürlich eine nicht geringe Bedeutung. Doch sind es nicht notwendigerweise immer die gleichen, welche vermöge anderer überlegener Qualitäten unter ihren Landsleuten eine hervorragende Stellung einnehmen. Auch einzelne F r a u e n üben neben den Männern auf ihr eigenes Geschlecht besonderen Einfluß aus. Von den beschriebenen Führern muß man die mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Z a u b e r e r unterscheiden. Nur manchmal trifft es sich, daß ein Häuptling zur gleichen Zeit auch „Medizinmann" ist. Irgendeine Bestrafung von Verbrechen und antisozialem Verhalten gibt es kaum. —
140
Führerschaft
Die Gemeinwesen der Punan, der Jägerstämme im Innern von Borneo, bestehen gewöhnlich aus 20—30 erwachsenen Männern und Frauen und einer ebenso großen Zahl von Kindern. Einer der älteren Männer gilt als Führer oder Häuptling ohne formell umschriebene Autorität und von sehr geringer Macht (Hose u. McD. [12] 2 182). Es ist dasselbe Bild, wie es uns bei den Kubu von Sumatra, bei den Andamanen-Leuten und bei den Australiern begegnet. Auch bei den Kayan ist der Einfluß der Klein-Häuptlinge im wesentlichen auf Überredung und kluge geistige Beeinflussung beschränkt (217).—Bei den Vedda von Ceylon fehlt gleicherweise jede wirkliche Häuptlingschaft (Slgm. [10] 10, 62). Vergegenwärtigen wir uns die Zustände bei einem afrikanischen Sammlerund Jägervolk, bei denBergdama von Südwestafrika. Die sogenannte „Werft", die zusammen lebende Sippe, besteht aus einem einzigen Verwandtschaftsverband, dessen Oberhaupt zugleich auch die politische Leitung der Gruppe ausübt. Dieses Oberhaupt wird nicht in formeller Weise gewählt, sondern die Würde fällt einem angesehenen Manne zu. Dieser trägt keinerlei Abzeichen, doch ist seine Fellkleidung gewöhnlich reinlicher, weicher und sorgfältiger gegerbt, als die der übrigen, denn er hat die Auswahl unter den eingebrachten Tierhäuten. Er übt keineswegs eine despotische Gewalt aus, sondern berät mit den ergrauten Männern seiner Verwandtschaft im Schatten des Werftbaumes, am heiligen Feuer sitzend, alle Unternehmungen. In das Leben der übrigen greift er sonst in keiner Weise ein, und auch die anderen fragen ihn nicht um das, was sie tun sollen, außer daß es sich um eine Racheunternehmung oder um einen räuberischen Uberfall oder um eine Verteidigung gegen gleiche Absichten der Nachbarn handelt. In neuerer Zeit haben die Verhältnisse dahin geführt, daß auch nicht nahe-verwandte Familien sich der einen oder anderen „Werft" anschlössen. In diesem Fall kümmert sich das Sippenhaupt nicht um die Angelegenheiten der Angehörigen fremder Familien. Obwohl diese Nichteinmischung der alten Tradition entspricht, hat sich doch der Versuch Einzelner geltend gemacht, auf Grund verschiedener Einflußmöglichkeiten eine überragende Autorität über die anderen Sippenhäupter zu gewinnen. Bald beriefen sie sich auf die Abstammung von einer ausgezeichneten Familie, bald suchten sie vermöge der Beziehungen zur Mission oder zur europäischen Regierung ihren Ehrgeiz zu befriedigen (Vedd. 17ff, 37f). Von den Auin-Buschmännern der Kalahari-Wüste in Südafrika wird berichtet, daß die Häuptlinge im Kriege eine Autorität als Führer besitzen, die nicht viel größer ist als im Frieden. Im allgemeinen ist der Einfluß des Häuptlings auf seine Leute, von denen er anerkannt wird, nur gering und mehr repräsentativer Natur. Die Häuptlingswürde wird im männlichen Stamm vererbt und kann erst ausgeübt werden, wenn der Anwärter in die Reihe der Alten eingetreten ist und die entsprechenden Bedingungen in der Altersweihe erfüllt hat. Oberhäuptlinge gibt es unter den Auin-Buschleuten nicht. Doch genießen einzelne alte Häuptlingsfamilien ein besonderes Ansehen (Kaufm. [10] 154). Auch bei den J ä g e r - und H i r t e n s t ä m m e n des nordöstlichen Asiens
Häuptlingtum
141
ist die Häuptlingschaft nichts fest Umschriebenes, sondern äußert sich nur in dem überragenden Einfluß einzelner Persönlichkeiten, zu der dann noch die Verehrung tritt, welche in diesen Gegenden in besonderem Ausmaß dem Alter entgegengebracht wird (was indessen nicht hindert, lästige Alte zu töten; Czap. [14] 159, 318). Bei den Tschuktschen bestand früher eine Klanorganisation von strafferer Organisation als das heutige varat. Ein solcher Klan umfaßte 10—15 verwandte Familien, die zusammen lebten und gemeinsam der Jagd und Fischerei oblagen, Rentiere hielten und stets bereit waren, für einander im Kampfe einzustehen. Die Besitzer von größeren Rentierherden standen nun in besonderem Ansehen, das ihnen bei den Russen die Bezeichnung „Häuptling" einbrachte. Aber der Verband dieser Klans war ebenso wie der der Familien verhältnismäßig lose. Männliche und selbst weibliche Familienmitglieder begaben sich nicht selten allein auf Wanderschaft (28). — Den ursprünglichen Gilyaken fehlte ebenso jede Autorität im Klan. Nur die alten Männer hatten etwas in den Angelegenheiten des Kults und der Traditionen zu sagen. Doch gab es daneben angesehene Männer, die als ,,yz" ( = Wirt) oder ,,urdla-nivukhi" ( = gut und reich) bezeichnet wurden, die entweder vermöge ihres Reichtums, ihrer körperlichen Tüchtigkeit oder ihrer Redegewandtheit eine ungewöhnliche Stellung in der Gemeinschaft einnahmen, obgleich diese Stellung in keiner Weise formell umschrieben war. In Zeiten der Not wendete man sich an diese Persönlichkeiten, namentlich auch, um sie nach den alten Bräuchen und dem richtigen Verhalten zu fragen (ebd. 49f). Das, was bei einem einzelnen Stamm auszeichnenden Wert hat und geeignet erscheint, die eine oder andere P e r s ö n l i c h k e i t hervortreten zu lassen, ist bei den anderen Stämmen durchaus nicht dasselbe und hängt von einer traditionellen, h i s t o r i s c h g e w o r d e n e n Konstellation auf sozialpsychologischem Gebiet ab. Manchmal sind es zauberische Künste, manchmal ist es die Fertigkeit, Geschicklichkeit oder List in der Überwältigung des Gegners, mitunter der Erwerb besonderer Besitztümer. Hier und dort wird Raub- und Schädeljagd ganz besonders geschätzt. Bei den Krähen-Indianern mußte ein geschickter Krieger z. B. ein Pferd vom feindlichen Lager stehlen können oder den Bogen oder die Flinte des Gegners ihm aus der Hand winden oder dem Feind mit einer Waffe oder mit der bloßen Hand einen Streich versetzen oder eine schwierige Kampfunternehmung leiten (Lowie [12] 230). Bei den Pueblo-Indianern von Neu-Mexiko sind die Häuptlinge nur Personen besonderen Einflusses oder großen Reichtums an Schafen, (Schoolc. [53/54] 4 277). Die Verteilungsgewalt der Häuptlinge. — Ganz ähnlichen Zügen begegnen wir im Häuptlingswesen der a u s t r a l i s c h e n Eingeborenen. Fast jede Gruppe hat eine Persönlichkeit, die sie nach außen hin vertritt, die Fehden mit den Nachbarn leitet, Zwistigkeiten im Innern gütlich zu schlichten versucht und Boten für die Übermittelung offizieller Nachrichten, Einladungen zu Märkten, Besuchen, Festlichkeiten, Zeremonien, Gerichtsverhandlungen, Kämpfen usw. abschickt. Insbesondere wacht dieser Mann auch über Sitte und Herkommen, namentlich gegenüber den jüngeren Mitgliedern seiner
142
Führerschaft
Gruppe. Er ist der Veranstalter und Leiter der Riten, der Jünglingsweihen, unter Umständen (im Zentralgebiete) auch Vorsteher der totemistischen Kultgemeinschaft. Diese Würde vererbt sich nicht ohne weiteres auf die Nachkommen, nämlich nur dann, wenn die vorhandenen Söhne oder jüngeren Brüder nach dem Urteil der Gruppe die nötige B e f ä h i g u n g für die Ausübung des Amtes aufweisen. Daher wird die Würde oft erst nach einer gewissen Probefrist vergeben, mitunter erst nach einem Zweikampf zwischen verschiedenen Anwärtern. Die Häuptlingschaft gründet sich also nicht auf Erbfolge oder sonstwie rechtlich normierte Ansprüche, sondern auf die i n d i v i d u e l l e n Vorzüge und F ä h i g k e i t e n . Als solche kommen sowohl p h y s i s c h e Vorzüge in Betracht: an Kraft, Wuchs und Gestalt, Tüchtigkeit in der Jagd und im Kampfe, als auch hervorragende geistige Fähigkeiten: größere Klugheit, Intelligenz und ein besseres Wissen. Aber auch ein gewisses Rednertalent, Schlagfertigkeit, sowie Geschicklichkeit auf dem Gebiete der zauberischen Künste sind unter Umständen von größter Wichtigkeit. Da sich die wirtschaftliche Ungleichheit bei den Australiern in sehr engen Grenzen bewegt, tritt der R e i c h t u m als Stütze der australischen Häuptlingsmacht nicht besonders hervor. Wenn dem Häuptling der Löwenanteil an der Beute oder sonst noch eine Reihe besonderer Geschenke zufällt, so darf man nicht vergessen, daß dies auch zu besonderen Geschenkleistungen verpflichtet, daß er also mit einer besonderen Vert e i l u n g s g e w a l t ausgestattet ist. Diese Verteilungsgewalt bildet das Rückgrat des Häuptlingtums, auch schon in den frühesten Anfängen, und diese von vornherein e i n g e r ä u m t e w i r t s c h a f t l i c h e V o r z u g s s t e l l u n g wird später in ganz bewußter Weise, vollends durch das Königtum, zur Stärkung und Mehrung der Macht benutzt. Alle diese Momente laufen darauf hinaus, daß der Umfang der Macht eines einzelnen Häuptlings durchaus von seiner Begabung und von seiner ganzen Persönlichkeit abhängt. Zu welcher überragenden Bedeutung ein kräftiger Führer gelangen kann, zeigt das Beispiel des berühmten Dieri-Häuptlings Jalina-piramurana, der seinen bedeutenden Vater noch überflügelte und außerordentliches Ansehen in weitem Umkreise erlangte (Knabh. [19] 163 ff). Die Funktion als V e r t e i l e r von Gütern kommt bei den kleinen Häuptlingen des kalifornischen Stammes der Meida in charakteristischer Weise zum Ausdruck. Die Häuptlingschaft war erblich, und wenn die Familie ausstarb, so wurde ein Neffe des verstorbenen Häuptlings von den alten Männern des Stammes gewählt. Der neue Häuptling erhielt von den verschiedenen Familien, die ihn besuchten, einen Sack Eicheln. Die Familie des Häuptlings mußte diese Gabe in Geschenken von Fleisch erwidern. Die Eicheln waren bereits enthülst, so daß sie gleich für das Fest gebraucht werden konnten. Dies geschah gewöhnlich im Frühling. Im Herbst erhielt der Häuptling abermals einen Sack mit Eicheln von denselben Familien, doch diesmal nicht geschält. Diese wurden dann aufgehoben, bis ein Fest veranstaltet wurde, zu dem die betreffenden Familien eine Einladung erhielten. Dann wurden der Häuptling und seine Leute wieder von den Familien
Häuptlingtum
143
eingeladen. Bei dieser Gelegenheit trug man ihn bei der Ankunft über eine Strecke von mehr als 100 m zu seinen Wirten. Dafür mußte er wieder die Leute, die ihn trugen, mit Glasperlen beschenken. Am anderen Morgen wurde warmes Wasser bereitet, mit dem sich der Häuptling das Gesicht wusch, „um besser zu sehen". Dasselbe geschah von seinen Angehörigen. Für alles das hatte er wieder Entgelt zu leisten. Außerdem kamen alte Frauen und verlangten unter Schmeicheleien von ihm Geschenke. Auf diese Weise wurden die Mittel des Häuptlings immer gleich erschöpft, doch halfen ihm andere Gewohnheiten, sie bald wieder aufzufrischen. Auch hier finden wir einen P a r t n e r oder Bevollmächtigten des Häuptlings, dessen Hauptaufgabe war, öffentlich zu sprechen. Diesem neugewählten und jungen Häuptling stand in den ersten 4—5 Jahren ein besonderer R a t von 3 oder 4 alten Leuten zur Seite, der aber später in den Hintergrund trat (Faye [23] 42). Die Eigenschaft des Häuptlings als Empfänger und Verteiler von Nahrung oder wirtschaftlich wichtigen Gegenständen tritt besonders bei Stämmen der Gazelle-Halbinsel auf Neu-Pommern (Bismarck-Archipel) hervor. Er heißt dort Ngala = der Große. Durch ihn wird namentlich das Muschelgeld aufbewahrt. Dieses Muschelgeld kann er zur Anlage großer Pflanzungen verwenden, insbesondere aber dient es zum Ankauf von Frauen für die Leute seiner Sippe. Die Nachfolge wird auf seinen Bruder- oder Schwestersohn vererbt. Bei schlechter Wirtschaftsführung kann er abgesetzt werden. Neben diesem Wirtschaftsleiter gibt es noch die Würde des Lululai, des Anführers im Kampf. Manchmal sind aber beide Funktionen in einer Person vereinigt. Nicht selten gelingt es einem Lululai, durch Erbeutung von Muschelgeld ein reicher Mann (Uviana) zu werden und so die Funktion eines Ngala zu übernehmen (Park. [07] 56ff). Autoritäres, an Besitz, Kenntnis oder Abstammung geknüpftes Häuptlingtum. — Auch die Häuptlinge der Kai-Leute im Hinterland vom FinschHafen an der Nordküste von Neu-Guinea, Jägerstämme, bei denen die Frauen den Feldbau angenommen haben, sind nichts weiter als die Vorstände von Großfamilien oder Sippen. Der alte Häuptling pflegt bei Lebzeiten gelegentlich eines Ngosa-Festes seinen Sohn oder, in Ermangelung dessen, seinen Enkel als Nachfolger zu ernennen, der aber erst nach dem Tode des Alten in seine vollen Rechte tritt. Wenn in einem Dorf auch mehrere Sippen wohnen, so finden sich ebenso viele „Häuptlinge" in ihm. Diese sind politische Führer des Sippenverbandes. Sie schließen Bündnisse ab und veranstalten kriegerische Unternehmungen im Auftrag ihrer Leute. Vor allem aber fällt dem Häuptling die Leitung der Wirtschaft zu. So kauft er die Schweine für seine Gruppe ein, leitet die Festlichkeiten und trifft die Anordnung beim Schlachten der Schweine. Sein Feld wird immer zuerst bestellt und ist das größte. Diesem Vorteil stehen Verpflichtungen gegenüber. Er hat fremde Gäste zu bewirten, und die Schweine, die er schlachtet, verteilt er unter seine Leute. Auch von seinen Feldfrüchten muß er reiche Mahlzeiten für seine Arbeiter zurichten lassen. Tabak und Betelnüsse soll er ebenfalls an sie abgeben und von Zeit zu Zeit Taro-Kuchen backen lassen. Der Häuptling kann Vergehen irgendwelcher Art weder verhindern noch
144
Führerschaft
bestrafen, und daher ist sein Einfluß sehr begrenzt. Doch darf er sich immerhin gewisse Übergriffe herausnehmen. So z. B . nahm ein Häuptling einmal einem jungen, unbedeutenden Manne seines Anhangs die Frau, nach der ihn gelüstete, weg. Das Recht zu einer solchen Gewalttat h a t t e er allerdings nicht, aber der Mann konnte mit seinem Protest gegenüber dem einflußreichen Oberhaupt der Sippe nicht aufkommen. E s kam auch einmal der Fall vor, daß ein Häuptling seinem eigenen erwachsenen Sohn die Frau wegnahm. Häuptlinge werden oft auch nach dem Tode eines b e n a c h b a r t e n und befreundeten Häuptlings, wenn dieser mit ihm in engerer Beziehung gestanden hat, bei der Erbschaftsverteilung bedacht (Keyss. [11] 100, 87, 93). B e i den Mafulu, einem Bergstamm im südlichen Neu-Guinea, steht an der Spitze eines jeden Klans der amidi, ein anerkannter und offizieller Häuptling. E r ist eine wichtige Persönlichkeit und wird mit entsprechendem Respekt behandelt. Ihm fällt die Leitung der öffentlichen Zeremonien zu, die er in seiner Siedlung in Verbindung mit Festen vollzieht. Aber auch bei Festen anderer Dörfer erscheint er. Oft besitzt er außer in seinem eigenen Dorf auch noch in anderen Siedlungen des Klans Häuser. Aber in seinem Residenzdorf befindet sich die F e s t h a l l e des Klans. I n jeder Siedlung des Klans lebt ein Dorfhäuptling, der em' u habe = Dorfvater genannt wird. I n seiner Stellung übt er alle sonstigen Funktionen eines Oberhaupts aus, nur nicht die Leitung des großen Festes. Die verschiedenen Dorfhäupter des Klans unterstützen den Klanhäuptling in allen zeremoniellen Funktionen, welche die ganze Gemeinschaft betreffen, insbesondere bei dem großen F e s t . Die Dorfhäupter sind gewöhnlich Verwandte des Klanhäuptlings (bilden also eine „ K a s t e " für sich), und sie besitzen ihrerseits kleine Festhallen in ihren Dörfern. Außer diesen örtlichen Oberhäuptlingen gibt es noch eine Reihe von akebaibe — „große Männer". Diese stellen die O b e r s c h i c h t , die Aris t o k r a t i e des Klans, dar. Unter diesen gibt es keine Rangunterschiede. Ihre Zahl ist verhältnismäßig groß im Vergleich zu den männlichen Einwohnern des Dorfes, j a mitunter beansprucht beinahe ein jedes Mitglied einer Siedlung, zu dieser Schicht zu gehören. Diese Leute haben kein Amt inne, sondern glauben nur, bei den festlichen Gelegenheiten sich mit besonderer Würde benehmen zu müssen. Doch ist ein jeder von ihnen berechtigt, eine Festhalle in seinem Dorf zu errichten, obgleich ihre große Zahl es beinahe verhindert und in der T a t in einem Dorf nicht mehr als zwei oder drei solcher Festhallen vorhanden sind. Die Berechtigung, Mitglied dieser Aristokratie zu werden, erwirbt man auf dem Wege der Vererbung. (Offenbar haben wir es hier mit M i s c h l i n g s n a c h k o m m e n einer eingewanderten, sich überlegen betrachtenden Schicht zu tun.) Das Amt des Häuptlings wird in der m ä n n l i c h e n Linie nach den Regeln der P r i m o g e n i t u r übertragen, nämlich an den ältesten Sohn oder an den ältesten Sohn dieses Sohnes, wenn der erstere gestorben ist, usw. Wenn solche Nachkommen nicht vorhanden sind, so kommt der Zweitälteste Sohn dran, usw. Der Häuptling besitzt sein Amt auf Lebenszeit, doch kann er zugunsten einer zur Nachfolge berechtigten Persönlichkeit auf seine Würde verzichten. Damit entsagt er aber auch seiner Stellung und kann
Häupüingtum
145
diese nicht mehr, etwa neben seinem Nachfolger, weiter ausüben, wie das z. B. bei dem benachbarten Mekeo-Stamm der Fall ist. Bei den Koita-Leuten folgt der Schwestersohn unter gewissen Bedingungen dem Häuptling nach (Slgm. [10] 52). Bei den Mafulu ist der Häuptling keinen besonderen Meidungsgeboten unterworfen. Doch kann kein Häuptling sein Amt ausüben oder eine Festhalle errichten, bis er v e r h e i r a t e t ist (Zeichen der „Großjährigkeit"). Die Erlangung der Würde nach dem Tode seines Vorläufers ist mit keiner Zeremonie verbunden; eine solche findet nur statt gelegentlich der Entsagung des Häuptlings bei seinen Lebzeiten zugunsten eines Nachfolgers. — Fälle sind vorgekommen, in denen ein Mann seine Stellung als Häuptling erzwungen hat, obgleich er vermöge seiner Abkunft nicht die Berechtigung dazu besaß. Auch von Nachkommen solcher Usurpatoren wurde dann die Häuptlingschaft in Anspruch genommen. Es ist auch vorgekommen, daß ein Häuptling von einem Dorfhaupt mehr oder weniger aus Macht oder Einfluß gedrängt wurde, ohne formell aus seiner Häuptlingschaft gestoßen oder bei der Ausführung seiner zeremoniellen Verpflichtungen ersetzt zu werden. Ein solches Vorgehen kann Anlaß für das Aufkommen eines profanen Häuptlingtums geben, das neben einem s a k r a l e n Boden faßt. — Erbt der Häuptling als Kind das Amt, oder ist er noch unverheiratet, so gilt er nichtsdestoweniger als Häuptling, doch treten andere Personen, nämlich die ältesten väterlichen Verwandten, z. B. der älteste der lebenden Brüder des früheren Häuptlings, als seine Beschützer auf und verrichten seine Funktionen, bis er die volle Qualifikation erreicht hat. Die genannten Regeln betreffen sowohl den Klanhäuptling wie auch die Oberhäupter der Dörfer und beziehen sich auch im allgemeinen auf die „großen Männer" ake-baibe (Willms. [12] 92ff). Auf den südlichen Inseln der Neuen Hebriden bestand die erbliche Häuptlingswürde. In dem Gau des Häuptlings gab es aber noch eine Zahl von untergeordneten Kleinhäuptlingen. Das Maß von Autorität der A d e l s h ä u p t l i n g e hing von ihrer Persönlichkeit ab. In ähnlicher Weise lagen die Dinge auch auf den benachbarten Inseln. Die Häuptlinge waren durch besondere Abzeichen von Muschelarmringen kenntlich. Anders im Norden mit dem Geheimbund der Suque. Diese Organisation hatte dort alle politischen Gruppierungen aufgesogen. In den Männerhäusern der Dörfer wurden die Angehörigen des Geheimbundes versammelt und in ihm auch die sozialen Rangabstufungen vergeben. In der Suque machte sich der Einfluß ehrgeiziger Persönlichkeiten geltend. Derartig hervortretende Männer wurden von den Weißen gewöhnlich als „Häuptlinge" bezeichnet. Je höher einer im Sugue-Rang stieg, desto mehr wuchs sein Ansehen. Jeder Sippe, jedem Dorf, jedem Gau, ja in manchen Fällen jeder Insel gehörte ein Mann vom höchsten Rang in der Suque an, und dieser übte dann tatsächlich einen Einfluß aus wie ein Häuptling. Seine Macht war nur dadurch begrenzt, daß andere gleichen R a n g e s neben ihm aufkommen oder im Range ihn übertreffen konnten. Dieses System begründete eine gewisse U n b e s t ä n d i g k e i t und wirkte einer bleibenden Organisation entgegen. Das einzig Dauernde bildet der Dorfverband. Aber auch da ist jedes Individuum selb10 Thnrnwald IV.
146
Führerschaft
ständig, so daß man die Dörfer als eine zufällige Ansammlung von Wohnstätten bezeichnen könnte, wenn nicht der Grund und Boden als Eigentum der Sippe zur Seßhaftigkeit zwänge (Speiser [23] 336ff). Der Eintritt in die Suque ist keine schwierige Angelegenheit, und der Vater oder Mutterbruder sorgt für die Aufnahme des Jungen. Der Eintritt wird durch Schweine-Essen und Zahlung von Muschel- und Mattengeld erkauft. Die weiteren Grade werden in ähnlicher Weise erworben. J e höher jemand steigt, desto schwerer werden die Bedingungen. Wenn jemand ohne ererbten Besitz zu höheren Graden aufsteigen will, muß er viel geschäftliche Begabimg und Verschlagenheit besitzen, denn er ist genötigt, sich von seinen Freunden die erforderlichen Werte, insbesondere die Schweine, zusammenzuborgen, ein Umstand, der zu einem ausgebildeten K r e d i t s y s t e m geführt hat. Die Mitglieder jeden Grades entscheiden darüber, ob ein Bewerber überhaupt zugelassen wird oder nicht. E r muß durch Geschenke und Dienstleistungen aller Art die Gunst der höheren Grade erwerben. Letztere verfügen daher stets über eine große Gefolgschaft, die ihnen in allem zu Willen ist. Erst wenn diese beiden Punkte überwunden sind, kann zu dem weitläufigen Opferfest beim Einkauf in den neuen Grad geschritten werden (ebd. 405ff). — Die Suque bildet also einen „ E r s a t z " für die fehlende politische Organisation. Der persönliche Einfluß und die Führerschaft sind, wie aus den angeführten Tatsachen hervorgeht, zu einem erheblichen Teil auf dem R e i c h t u m begründet. Mit dem Reichtum vererbt sich vor allem die Möglichkeit, die höheren Würden in der Suque zu erlangen. Diese werden fast überall in der mütterlichen Linie übertragen, während die Erbfolge bei der Häuptlingswürde im Süden das Überwiegen der väterlichen Erbfolge erkennen läßt. Dieses plutokratische System ermöglichte in den letzten Jahren jungen Leuten, mit dem Gelde, das sie bei Weißen erworben hatten, sich in hohe Grade der Suque einzukaufen; ein Umstand, der zum Verfalle dieser Einrichtung beitrug. In früheren Jahren pflegte der Neffe dem Onkel oder der Sohn dem Vater im Suque-Range zu folgen (338). Dieser Vorgang kennzeichnet den aristokratischen Ursprung und Gehalt der Suque. — Für die Arioi von Tahiti vgl. Mühlm. [32]. Auch bei den seßhaft gewordenen, mit Malayen vermischten K u b u von Sumatra stellt sich die Häuptlingschaft in ähnlicher Weise dar, wie etwa bei den Kai. Das Oberhaupt einer der meist beieinander wohnenden Mitglieder einer Großfamilie schlichtet die unter ihnen entstandenen Zwiste. Zwei oder drei solcher Großfamilien anerkennen noch überdies eine gemeinsame Respektperson, welche bei wichtigeren Dingen, wie bei Mord oder auch bei Ehebruch, ihr Wort zu sprechen hat. Die K u b u besitzen auch kein eigenes Wort, um solche Persönlichkeiten zu benennen, sondern haben die Bezeichnung dem Malayischen entlehnt. Von besonderem Einfluß sind unter den K u b u die Vertrauensleute benachbarter malayischer Stämme geworden, die vielfach Mischlinge zwischen den K u b u und den Malayen sind. Diese Vertrauensleute im Gütertausch (die Djenang) haben es vielfach verstanden, eine gewisse Herrschaft über ihre Schützlinge auszuüben und so entscheidenden Einfluß an verschiedenen Stellen zu gewinnen (Hag. [08] 155, 119). In ähnlicher
Häuptlingtum
147
Weise ist vielleicht die Entstehung von Großhäuptlingen etwa im mikronesischen oder hier und da im melanesischen Gebiet zu erklären. Unter den kleinen nomadisierenden Sippen der Wüsten und Steppen Kaliforniens fehlt ebenfalls jede Art wirklicher Häuptlingschaft. Bald trug die Abstammung von angesehenen Familien, bald ein gewisser Reichtum dazu bei, die eine oder andere Persönlichkeit aus den übrigen herauszuheben, ohne aber, daß ihnen in der Organisation ein offizieller Einfluß eingeräumt worden wäre. Anders dagegen unter den hackbauenden Miwok im Hinterland von S. Francisco und bei den Shoshonean-Stämmen im Süden von Kalifornien (Kroeb. [22] 286). Doppelhäuptlinge — a) Als Folge von Klan- oder Stammeshalbierung — Bei den Osaga-Indianern ist die Häuptlingschaft mit Sage und Ritus in traditioneller Weise verwoben. Wir finden dort an der Spitze der politischen Organisation zwei Männer, einen für jede H ä l f t e des Stammes, die den Titel Gahige ( = Häuptling) führen. Die Pflichten eines solchen Häuptlings werden von den Indianern in folgender Weise umschrieben: 1. wenn zwei Männer streiten und es zu einer Schlägerei kommt, soll der Häuptling dem Kami f Einhalt gebieten. — 2. Ist es zu einem Totschlag gekommen und der Verwandte des Erschlagenen droht, das Leben des Mörders zur Racbe zu nehmen, so soll der Häuptling den Rächer zu einem friedlichen Verhalten bewegen. — 3. Will der Rächer das Leben des Mörders trotzdem nehmen, so soll der Häuptling ihn aus dem Stamme vertreiben. — 4. Tötet der Rächer den Mörder, nachdem der Häuptling ihm die heilige Friedenspfeife zum Rauchen angeboten hat, so soll der Häuptling Befehl geben, den Rächer zu töten. — 5. Der Häuptling soll vom Mörder verlangen, an die Verwandten des Erschlagenen Gaben als Friedensopfer zu bringen. — 6. Verweigert der Mörder dies zu tun, so soll der Häuptling seine Leute auffordern, eine Friedensgabe darzubringen, aber dann den Mörder aus seinem Stamm vertreiben. — 7. Wenn das Leben eines Mannes durch einen anderen bedroht ist und er zum Hause des Häuptlings flieht, so soll dieser den Flüchtling beschützen. — 8. Wird ein Mörder von den Verwandten des Erschlagenen verfolgt und flieht er in das Haus des Häuptlings, so soll dieser ihn beschützen. — 9. Wenn ein Fremder, auch ein Mitglied eines feindlichen Stammes, das Haus des Häuptlings zu seiner Sicherheit aufsucht, so soll der Häuptling ihn beschützen. — 10. Kommt ein Trupp vom Kriege heim mit Gefangenen, so soll der Häuptling ihnen das Leben schenken und sie in den Stamm adoptieren. — (Aus diesem Grunde führen einige Häuptling-Genies den Namen „Lebenschenker"). — Bei der jährlichen Büffeljagd, die vom Stamm unternommen wurde, mußte der Häuptling den Weg bezeichnen, der zu nehmen war, und den Ort, auf dem man das Lager schlug. Dieser Befehl wurde durch einen Ausrufer bekanntgegeben. Die beiden Häuptlinge wechselten e i n e n T a g u m d e n a n d e r n bei der Leitung der Reise, sowohl auf dem Auszug, als auch auf dem Rückweg. Zur Durchführung ihrer Befehle wählten die beiden Häuptlinge zehn Helfer aus den verschiedenen Gentes aus. Diese führten den Titel Akida ( = Soldat) und wurden sowohl wegen ihrer militärischen Auszeichnung als auch aus persönlicher Freundschaft für den Häuptling 10*
148
Führerschaft
erwählt. Diese Beamten hatten ihre Häuser in der Nähe von dem ihres Häuptlings. Trotz des sonst herrschenden Mutterrechts wurde die Häuptlingswürde in der Reihe der männlichen Erben übertragen. Die Akida bildeten zusammen einen Rat, welcher im Falle, daß der Erbe geistig seiner Stellung nicht gewachsen war oder gegen die heiligen Überlieferungen des Volkes verstieß, auf den nächsten Verwandten des früheren Häuptlings diese Würde übertragen konnte. Die Häuptlinge wurden immer aus bestimmten Gentes (vaterrechtlichen Klans) genommen. Das Gesetz, das vom Häuptling forderte, den Mann zu beschützen, der zu ihm geflohen war, erstreckte sich auf alle Familienmitglieder seiner Gens. Auch das H a u s des H ä u p t l i n g s galt als heilig, und zwar deshalb, weil man von ihm sagte, daß es die zwei Leben spendenden Mächte darstellte: die Erde und die Sonne. Aus diesem Grunde mußte das Haus des Häuptlings auch zwei Tore haben, eines, das sich gegen die aufgehende Sonne, das andere, das sich gegen die untergehende Sonne öffnete. In der Mitte zwischen beiden befand sich das Feuer, das endloses Leben symbolisierte. Von diesem heiligen Feuer wurden die Hausbrände entnommen; denn es spendete Leben und Gesundheit. Die beiden Tore, welche den beständigen Lauf des Lebens darstellten, sollten geschlossen werden, wenn ein Mörder das Haus betrat. Eine Reihe komplizierter Riten wird bei der Übertragung der Häuptlingschaft vorgenommen (La Fl. [21] 67ff). Die in Amerika häufige H a l b i e r u n g d e r S t ä m m e (z. B . bei den Irokesen, Dakota, Nordweststämmen und Pueblo-Indianern) läßt auch die d o p p e l t e H ä u p t l i n g s c h a f t hervorteten (Lowie [12] 127, 133ff). Bei einem kleinen Stamm an der Nordwest-Küste von Amerika, in Oregon bei den Tillamook, besteht eine solche Verdoppelung der Häuptlinge wie auch unter den Alea. Einer dieser beiden Häuptlinge galt als der Führer. Nur die Häuptlinge durften Sklaven besitzen. Zur Verfügung der Häuptlinge standen als Boten arme Leute des Stammes, nicht Sklaven. Wenn man Krieg zu führen wünschte, so mußten die beiden Häuptlinge einig sein. Waren sie verschiedener Meinung, so kam das Unternehmen nicht zustande. Stimmten sie in ihrer Ansicht überein, so hatten die Leute ihnen zu gehorchen. Sie verteilten die Waffen, und man griff des Nachts an. Die Häuptlinge leiteten allerdings die Unternehmungen, doch kämpften sie selbst nicht mit. Die Feinde versuchten nicht, die Häuptlinge zu töten. Die Häuptlinge konnten ihre Krieger auch zu jeder Zeit zurückrufen. Wenn ein Häuptling Tribut von den Leuten eines anderen Flusses forderte und er ihm verweigert wurde, so ging man in den Kampf (Boas [23] 4 f ) . Bezüglich Mikronesiens (Insel Yap) vgl. Müller-W. [17]. b) Teilung der Gewalten im Zusammenhang mit familialer Spezialisierung. — Entsprechend der oben angedeuteten naturgegebenen Bereiche in der Betätigung führender Persönlichkeiten entstand dort, wo sich im Abschluß an die Überschichtung ein autoritäres Häuptlingtum herausgebildet hat, wie in dem polynesischen und mikronesischen Gebiete, eine I n t e r e s s e n - B e s c h r ä n k u n g d e r t r a d i t i o n e l l e n F ü h r e r f a m i l i e n . Vor allem tritt dabei die Spezialisierung für die Z a u b e r e i einerseits und für das p o l i t i s c h e Gebiet andererseits zutage. Mit dem Zauber verbindet sich nun oft
Häuptlingtum
149
die w i r t s c h a f t l i c h e Leitung, mit der politischen Führung die m i l i t ä r i s c h e Betätigung. Alle diese fachlichen Spezialisierungen wechseln in der Betonung außerordentlich von Ort zu Ort. Eine Fülle von Sagen und Familiengeschichten ranken sich außerdem um diese Ämter, die fast durchweg in bestimmten F a m i l i e n oder S i p p e n (und zwar trotz des vorherrschenden Mutterrechts in diesen Gebieten) zumeist vom Vater auf den Sohn vererbt werden. In Tonga war das Amt des geistlichen Oberhaupts (Tui-Tonga) geschieden von dem des weltlichen Fürsten oder Hau. Dabei scheint es, daß die geistliche Würde unangefochten in der alten Familie weiterleben konnte, während das Amt des Hau den Wechselfällen der Kriege und der Machtverschiebungen ausgesetzt war. Mit einer jeden dieser Würden war die Herrschaft über bestimmte Teile des Landes verknüpft. Doch ist der Einfluß der beiden Ämter im Laufe der Zeit mancherlei Veränderungen ausgesetzt gewesen. Eine ähnliche Teilung bestand auf Mangaia, vielleicht auch auf Rarotonga und auf anderen Inseln (Willms. [24] 418ff). Unter den politisch g e s c h i c h t e t e n Feldbauern an den Küsten der pazifischen Inseln ist die doppelte Häuptlingschaft, die an die Halbierung des Klans anknüpft, weit verbreitet. Hocart vermutet, daß der Titel gewisser Häuptlingsfamilien der Fiji-Inseln Tui Levuka mit dem alten Titel des japanischen Mikado „Tui" in Verbindung zu bringen sei. Sein Mitherrscher, der Shogun, führte den Titel ,,Saw". Der „ S a u " von Fiji ging wahrscheinlich nach den Tonga-Inseln. Um die Führung dieser Titel herrschte auf den Fiji-Inseln ein ähnlicher Kampf, wie einst unter den germanischen Stämmen um die Führung des Cäsaren-Namens, des Kaiser-Titels (Hoc. [19] 47). Oberhäuptlinge als Folge von ethnischer Schichtung. — Häuptlinge verschiedener Art und Einflusses finden wir auf den Trobriands-Inseln. Hier kommt deutlich das alte System des angesehenen Mannes neben dem F ü h r e r der A d e l s s c h i c h t zur Geltung. In jedem Dorfe gibt es einen Mann von anerkanntem Ansehen, der als primus inter pares unter den Dorfältesten zu betrachten ist, der hauptsächlich die traditionellen Zeremonien beaufsichtigt und als Redner innerhalb und außerhalb seiner Gemeinschaft auftritt. Persönlichkeiten gleichen Ranges, die der Adelsschicht angehören, sind den anderen, unteren Kasten gegenüber mit dem Glanz ihrer Stellung ausgestattet und vermögen dadurch in autoritärer Weise aufzutreten. Auf den Trobriands-Inseln bestehen 4 Kasten verschiedener Rangstufen, die wieder in eine Anzahl von Sippen zerfallen. Die Angehörigen solcher Sippen behaupten, von einer bestimmten Urahnin abzustammen, und jeder derselben wird eine besondere Rangstufe zugeteilt. Eine jede dieser Urahnen soll (ähnlich wie z. B . bei australischen Stämmen) an bestimmten Stellen aus einem Loch im Boden hervorgekommen sein. Diese örtlichkeiten, Wasserlöcher, kleine Höhlen und Grotten, werden gezeigt und heilig gehalten. — Die im Rang höchste Sippe ist die von Tabalu, die zu der Malasi-Kaste gehört. Der Häuptling dieser Sippe ist nun in erster Linie der Vorsteher seines eigenen Dorfes Omarakana. Aber sein Einfluß dehnt sich auch über die Dörfer aus, die ihm tributpflichtig und im Kriege seine Verbündeten sind. Sie leisten ihm auch Arbeit, wenn er eine solche braucht. Indessen hat er
150
Führerschaft
f ü r a l l e i h m g e l e i s t e t e n D i e n s t e z u z a h l e n , geradeso wie a u c h f ü r d i e T r i b u t e , die er empfängt. — Jedes der untergeordneten Dörfer muß ihm eine Frau stellen, deren Familie ihn nach den mutterrechtlichen Einrichtungen auf den Trobriands-Inseln mit großen Mengen von Feldfrüchten zu versehen hat. Diese Frau ist stets die Schwester oder Base des Vorstehers der untergeordneten Dorfschaft. Auf diese Weise hat beinahe die ganze Gemeinschaft für ihn zu arbeiten. In früherer Zeit besaß der Häuptling von Omarakana oft 40 Gattinnen und erhielt dadurch 30—50°/ 0 aller Gartenerzeugnisse seines Gaues Kiriwina. Obgleich er heute nur 16 Frauen hat, besitzt er doch ein ungeheures Lagerhaus, das nach jeder Ernte bis zum Dach voll von Yams ist. Diese bilden die Schätze, aus denen er die Dienste durch Veranstaltung großer Feste bezahlt. Einen Teil der erworbenen Nahrungsmittel verwendet er für die Veranstaltung von Expeditionen zur Erwerbung anderer Wertobjekte. — Außer auf diesem wirtschaftlichen Wege übt der Oberhäuptling seine Macht auf einem anderen indirekten Wege aus, nämlich durch Z a u b e r e i . Er hat immer die besten Zauberer seines Gaus bei der Hand, die er auch wieder für ihre Dienste zu entlohnen hat. Beleidigt ihn jemand, so läßt er gegen den Schuldigen öffentlich einen Zauber veranstalten, um ihn dadurch zu töten. Diese Tatsache genügt, um das Opfer in größte Angst zu versetzen. Nur im äußersten Fall greift der Oberhäuptling zu direkter Bestrafung. Dazu hat er zwei erbliche Henker; doch treten diese nur selten in Wirksamkeit Von den Häuptlingen niedrigeren Ranges wird ihm eine zeremonielle Verehrung in der Weise entgegengebracht, daß niemand wagt, aufrecht zu verbleiben, wenn der Oberhäuptling von Omarakana sich naht; denn er muß a u c h l e i b l i c h a l s der H ö c h s t e e r s c h e i n e n . Bei Festen wird für ihn eine große Plattform errichtet, damit die Anwesenden sich nicht immer bücken müssen. Diese Ehrenbezeugungen schließen aber keineswegs gute Kameradschaft und Freundlichkeit in den persönlichen Beziehungen zu seinen Begleitern und Vasallen aus. Sonst unterscheidet er sich nicht weiter von seinem Volk. Sie sitzen zusammen und plaudern, nur pflegt der Oberhäuptling seine Worte besser zu wägen und sich vorsichtiger auszudrücken. Er nimmt auch an den Tänzen und sogar an den Spielen teil. — Der ganze von ihm abhängige Gau Kiriwina ist stolz, der ersten Sippe des Landes, den Tabalu, anzugehören. Die Leute dieses Gaus beobachten auch die gleichen Tabus wie der Oberhäuptling Der nächste im Rang ist der Häuptling von Kabwaku und Herrscher des Gaus Tilataula. Er ist auch dem Häuptling von Omarakana untergeordnet. Doch herrscht zwischen den beiden eine traditionelle Feindschaft, und von Zeit zu Zeit pflegten die beiden Gaue miteinander Krieg zu führen. Diese Kriege waren indessen nie sehr blutig oder von langer Dauer, sondern mehr sportliche Unternehmungen, ähnlich wie sie auch von der Karolinen-Insel Y a p bekannt sind (Müll.-W. [17] 234). Ein anderer Oberhäuptling, der von Kuboma, besitzt 10 Dörfer im Binnenland, die verschiedene Handwerke betreiben. Die Bewohner dieser Handwerkerdörfer nehmen eine besonders untergeordnete Stellung ein und hatten in den früheren Tagen vor dem
Häuptlingtum
151
Häuptling sich tiefer zu bücken als alle anderen. Eine jüngere Linie der Sippe des Häuptlings von Omarakana herrscht in Olivilevi. Die Abzweigung fand nach einem unglücklichen Krieg des Gaues von Kiriwina statt, als damals viele Bewohner südwärts flohen. Der Hauptstamm kehrte zurück, ein Teil verblieb jedoch unter dem Bruder des damaligen Oberhäuptlings und gründete Olivilevi. — Auf der Insel Sinaketa gibt es im Norden Häuptlinge vom höchsten Rang. Gegen Süden jedoch verschwinden die Rangunterschiede und auch die Macht der Häuptlinge. Auf der Insel Vakuta fehlt das Rangsystem, und die Häuptlinge stellen so wie in den meisten papuo-melanesischen Gegenden nur die „angesehenen Personen" unter ihresgleichen dar (Mal. [22] 62 ff). In Buin auf den Salomo-Inseln gibt es ebenfalls eine g e s t a f f e l t e H ä u p t lings s c h a f t . Die Oberhäuptlinge sind dort Angehörige der Alu-MonoSalomonier, die sich seit nicht allzu langer Zeit an der Südspitze von Bougainville niedergelassen und mit den Einheimischen vermischt haben (T. [12] 3 48). Die mit voller Autorität ausgestattete Großhäuptlingschaft, der wir bei den Kayan und Kenyah von Borneo begegnen, beruht auf aristokratischer Grundlage. Die Genealogien der wichtigsten dieser Häuptlinge und die mit ihrem Leben verbundenen Ereignisse werden unter 15 Klans, deren jeder einen besonderen Namen führt, überliefert. Diese Häuptlinge üben, wenn auch in bestimmten Grenzen, eine wirkliche Autorität aus und verhängen nach einem gewissen Herkommen Strafen, obgleich natürlich die persönlichen Eigenschaften eines jeden Häuptlings von großer Bedeutung für den Erfolg seiner Macht sind. Insbesondere spielt der Häuptling häufig die Rolle des S c h i e d s r i c h t e r s und V e r m i t t l e r s , welcher der gekränkten Partei zu einer gewissen Entschädigung verhilft. Zum Amt des Richters reicht seine Autorität offenbar noch nicht aus. Der Häuptling ist namentlich für die richtige Beobachtung der verschiedenen Vorzeichen und für die Befolgung der zeremoniellen Meidungen verantwortlich (vgl. T. [R. L.] „Omen" A, „Tabu" B, „Meidung"). Er leitet auch die Zeremonien und Riten im Dorf und wird von den anderen für das Verhalten seiner Leute verantwortlich gemacht. Bei Kämpfen dirigiert er die Bewegungen seiner Leute. Seine Macht beruht auf dem allgemeinen Ansehen, das er besitzt. Der KayanHäuptling empfängt soviel wie nichts in Gestalt von materieller Vergütung, außer etwas Hilfe bei der Bestellung seines Feldes. Unter den verschiedenen Klans besteht keine formelle Verbindung, obgleich gegenüber Fremden ein Kayaa-Mann immer die Partei der Seinigen ergreifen wird. Jedes Dorf ist völlig unabhängig, doch sucht der Häuptling, wenn nötig, den Rat und auch die Hilfe des benachbarten Häuptlings, denn die H ä u p t l i n g s f a m i l i e n sind durch viele Bande von Heiraten u n t e r e i n a n d e r v e r w a n d t . Jedes Haus eines Kayan-Dorfes hat seinen Vorsteher, der die häuslichen Angelegenheiten ordnet. Aber alle Angelegenheiten der gemeinsamen Siedlung werden vor den Häuptling des Dorfes gebracht. Dieser gelangt in sein Amt allerdings mehr auf dem Wege der Wahl als durch den Erbgang, doch wird gewöhnlich der begabteste Sohn des letzten Häuptlings gewählt, so daß in
152
Führerschafl
der Regel dem Häuptling einer seiner Söhne folgt, die Wählbarkeit also beschränkt ist. — Sind die Leute eines Hauses oder eines Dorfes mit dem Verhalten ihres Häuptlings unzufrieden, so ziehen sie sich nach ihren Feldern zurück, errichten dort vorläufige Häuser, und wenn sich ihnen noch mehrere Leute anschließen, so entsteht dort auch eine Festhalle, für die dann ein neuer Häuptling gewählt wird, während der frühere in seinem bisherigen Hause sich selbst überlassen bleibt. So kann unter Umständen das ganze Dorf wegsiedeln und läßt den unbeliebten Häuptling mit ein paar seiner nächsten Anverwandten an seinem Ort zurück. Bei den Kenyah ist die Stellung des Häuptlings im Grunde ähnlich, nur von etwas größerer Autorität. Da die Vererbung der Würde hier stärker in den Vordergrund tritt, findet eine gewisse Erziehung dazu in der Weise statt, daß der Sohn oder Neffe eines Häuptlings mit Botschaften oder Erkundungen in der Nachbarschaft beauftragt wird, die er als Führer von Altersgenossen unternimmt. Sowohl unter den Kayan, als auch unter den Kenyah sind drei soziale S c h i c h t e n deutlich zu unterscheiden und werden auch in jedem Dorf von den Leuten selbst anerkannt. Die oberste besteht aus der Familie des Häuptlings und aus seinen nächsten Verwandten, den Tanten und Onkeln, aus seinen Brüdern, Schwestern und seiner Vetternschaft sowie deren Kindern. Diese Familien der Oberschicht sind wirtschaftlich dadurch im Vorteil, daß sie Bronze-Gegenstände besitzen, wertvolle alte Glasperlen, ferner Höhlen, in denen eine Schwalbenart eßbare Nester baut, vor allem Sklaven und Geräte, reicher an Zahl und überlegen an Qualität gegenüber denen der mittleren und unteren Schichten. Außer durch selbstbewußteres Benehmen, kostbarere Waffen und persönlichen Schmuck zeichnen sich insbesondere die Frauen des Adels durch eine reichere und feinere Tätowierung aus. Die Männer arbeiten auch in den Gärten, sie sind aber imstande, größere Flächen dank der Hilfe ihrer Sklaven zu bestellen. Die Arbeit der Häuptlingsfrauen in den Gärten und im Hause wird durch die Hilfe ihrer Dienerinnen verringert, obgleich auch sie beim Jäten der Gärten, bei der Ernte und bei der Bereitung der Nahrung selbst Hand anlegen (Hose u. McD. [12] 1 63ff). — Wenn ein Häuptling gestorben ist, so werden seine S k l a v e n getötet, um ihm im jenseitigen Leben dienen zu können. Insbesondere werden auch Schädeljagden veranstaltet und die erbeuteten Schädel am Grabe des verstorbenen Häuptlings niedergelegt. Die Vermutung besteht, daß die Schädelj a g d daraus entstanden ist, daß man vorzog, die Sklaven zu schonen, und an ihrer Stelle Fremde für den jenseitigen Dienst des Häuptlings darbrachte (ebd. 1 176, 189; 2 46, 104f). Trotz des großen Ansehens der führenden Häuptlingsschichten der Kayan, Kenyah und auch der Klemantan haben diese ihre Macht doch niemals zur Eroberung oder zum Raub angewendet. Ein Häuptling, der eine große Anhängerschaft gewonnen hatte, verwendete seinen Einfluß, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die Herstellung fester und friedlicherer Beziehungen unter den Stämmen. Dadurch unterscheiden sich diese Häuptlinge von den Erobererpersönlichkeiten, etwa afrikanischen Hirtenmischlingen, aber auch
Häuptlingtum
153
von den indianischen Fuhrern, welche z. B. den großen Bund der irokesischen Stämme aufrichteten. In Borneo begnügte man 6ich, durch den Einfluß zunächst eine Versöhnung f e i n d l i c h e r Gruppen und ein Vertrauen unter den Gemeinschaften verschiedener Zunge und Abstammung herzustellen. Ein solcher mächtiger Kenyah-Häuptling des Baram-Gaus: LakiAvit, hatte für eine derartige Wirksamkeit großen Ruhm geerntet. Er versuchte Zwischen-Heiraten unter den Familien der Häuptlinge und der oberen Schicht der verschiedenen Stämme zu vermitteln. Der große KenyahHäuptling Tama-Bulan desselben Gaus suchte in einer späteren Zeit freundschaftliche Z u s a m m e n k ü n f t e unter den Häuptlingen verschiedener Stämme zu veranstalten, um Frieden zu stiften und wechselseitige Verständigung herbeizuführen. Diese friedlichen Bestrebungen waren auch von Dauer, und die Eide, die bei diesen Gelegenheiten in zeremonieller Weise geschworen wurden, sind selbst noch von der folgenden Generation gehalten worden. In ähnlicher Weise betätigte sich auch um die letzte Jahrhundertwende Tama-Kuling unter den Kayan (ebd. 205f). Diese Häuptlinge sind unter den Einfluß malayischer Rajahs gekommen, die heute wieder in Verbindung mit dem holländischen Residenten deren Ernennung oder Bestätigung vornehmen (ebd. 2, 272 ff). In Ostafrika stehen den vordringenden Er ob er er Organisationen die a l t e n K l a n g e f ü g e gegenüber, wie etwa in Ruanda. Diese Fürstentümer, z. B. das der Batutsi in Ruanda, dehnen ihre Macht zusehends über kleinere unverbundene Stämme aus. Dort wo der Batutsi-Staat noch nicht genügend Fuß gefaßt hat, wie in Bugoye oder in Mulera, steht der Klan im Vordergrund. Die Häuptlinge dieser Klans besitzen eine nur geringe Autorität, sie vertreten die Klangemeinde nach außen und schlichten die inneren Streitigkeiten. Doch ist die Stellung dieses Häuptlings (Mugabo) erblich und geht gewöhnlich auf den ältesten Sohn über. Auch unter den Angehörigen der Klanverbände gibt es G r o ß h ä u p t l i n g e , wie z . B . Kakawandi im Njawarongo-Tale. Durch die Unterwerfung einer Klangemeinde von seiten fremder Eroberer verändert sich die Stellung des Klanhäuptlings {Mugabo). Seine Obliegenheit, Steuern einzuziehen und dem durch den König bestimmten Beamten abzuliefern, tritt in den Vordergrund. Diese Stellung verschafft ihm einen Einfluß, der wächst, wenn er ihn den fremden Eroberern dienstbar zu machen versteht. Denn auch das Privilegium, Steuern einzuziehen, bleibt, so wie sein Häuptlingtum, erblich. Durch Geschicklichkeit vermag er seine Stellung zu einer Großhäuptlings würde anwachsen zu lassen. Manchmal wird die Erhebung eines machtlosen Klanältesten zu einem autoritärem Häuptling durch die Klangenossen nicht anerkannt. — In einem Falle lockte z. B. ein solcher, namens Lukara, fremde Elemente aus zersprengten Klans und ausgestoßenes Gesindel herbei und siedelte sie auf dem freien Boden an. Aus dieser unorganisierten, als F r e m d e jedem preisgegebenen Gruppe, die nur von Lukara Schutz erwarten konnten, bildete er seine Anhänger und hielt mit diesen seine Klangenossen im Zaume. Diese drängten wieder die Fremden durch ihren Haß zu ihm hin, und in dieser Weise entstand jenes geschlossene, straff
154
Führerschaft
organisierte Gebilde, das Lukara seinen Gegnern so gefährlich machte. So gut diszipliniertes Gefolge wie Lukara besaß sein Hauptgegner, der Mututsi Luhanga, nicht (Czekni. [17] 245ff, 269). — Das geschilderte Verfahren ist durchaus das gleiche wie dort, wo sich der König auf eine zusammengewürfelte D i e n e r s c h a f t stützt, die er gegen die eigene Adelskaste ausspielt. Aus dem obigen Beispiel geht hervor, wie sich auch das H ä u p t l i n g t u m d u r c h E i n b e z i e h u n g i n die p o l i t i s c h e O r g a n i s a t i o n wandeln k a n n . Zweifellos wird man aber auch von einer gewissen F e r n w i r k u n g b e n a c h b a r t e r p o l i t i s c h e r O r g a n i s a t i o n e n sprechen können, welche zu einer gewissen Zusammenballung der kleineren Gemeinden zu Großhäuptlingtümern Anlaß gibt. Die in die Königreiche einbezogenen kleinen politischen Einheiten erfreuen sich indessen weitgehender Selbständigkeit, so lange sie ihre Steuern entrichten oder die verlangten Frondienste leisten. Die Niederlassung f r e m d e r Klanangehöriger, wie sie oben im Falle des Lukara erwähnt wurde, setzt schon verhältnismäßig w e i t g e h e n d e V e r g e s e l l s c h a f t u n g voraus. Sie reicht ihrem ganzen Geiste nach über die primitiven, im wesentlichen auf verwandtschaftlicher Organisation aufgebauten, politischen Verhältnisse hinaus und ist ein Zeichen für die a u s s t r a h l e n d e W i r k u n g anderer Kulturzentren (s. a. Czekn. 248, 268). Über die Stellung des autoritären Häuptlingtums bei dem Bantu-Stamm der wa-Dschagga in Ostafrika spricht sich der Missionar Gut. ([23] 242/3) auf Grund langjähriger Erfahrungen in der Weise aus: die Europäer hielten irrtümlicherweise den Häuptling für die Hauptbindekraft im Volke, „in Wahrheit aber ist er ein Gebundenes, in dem die Bindekräfte des Volkes sich zusammengezogen haben zur Verknotung des Volk- und Landbestandes". „Die Häuptlingschaft ist kein politisches Erstgebilde, wofür man es nahm, sondern das feinste Ausgleichsorgan, wie es sich aus der ursprünglichen Sippenzucht heraus gestaltete, als die alten Abstammungseinheiten sich fester an den Boden banden" . . . „So erscheint der Häuptling nicht als Selbstherrscher, sondern als Volkswirt, der, vom ganzen Volke ausgehalten, auch dem ganzen Volke Nahrung gibt. Die Bindekraft selber aber, die ihm zuströmt für den Stammerhalt, bildet sich noch heute und unersetzbar in den Bindungszellen afrikanischer Volkstümer, den Sippen. E r ist vertreten in der Lebenseinheit der Sippe gegenüber anderen Bluteinheiten". I n Wirklichkeit ist nicht der Häuptling Bodenherr, sondern die Waffen tragende, rechtsprechende Altersstufe. Folglich ist er z. B . nicht zur Verfügung über Grund und Boden berechtigt. — Veranschaulicht wurde die Macht des Häuptlings durch den „ S p r u c h r a s e n " (menge), einen großen, oft von schattigen Bäumen umstandenen, unkrautfrei gehaltenen Rasenplatz auf dem Gehöfte des Häuptlings oder vor ihm. Auf diesem Rasen werden die Rechtshändel unter den Landgenossen ausgetragen. Eifersüchtig hielt der Häuptling darauf, daß kein Vornehmer einen Versammlungsrasen im Lande pflegte, der die Männer anlocken könnte, sich dorthin zu ziehen. Von der Pflege eines solchen Rasens sagen sie idosa menge = den Versammlungsrasen erhöhen, d. h. zu Ansehen bringen. Zu Ansehen hilft dem Häuptling zweierlei: „gute", d . h . unbeeinflußte Rechtfindung und „gute", d . h . reichliche
Häuptlingtum
155
Bewirtung mit Fleisch und Bier; denn auf dem Rasen richtet der Häuptling auch die Spendefeste aus, die er seinen Kriegern von Zeit zu Zeit gibt. Der Spruchrasen ist die Veranschaulichung der Landeshoheit, des einheitlichen Bodenverbandes und gemeinsamen Rechtes an der besiedelten Erde. Diesen Spruchrasen besetzte die waffenfähige Altersklasse vom 25. —40. Jahre. Der Häuptling aber erscheint in solchem Zusammenhange als der Vertrauensmann der ganzen, das Landgeschick tragenden Altersklasse zusammen mit den Sippenführern. Der Rückhalt im Blutsverbande gibt dem Einzelführer die natürliche Würde, zu der er mit dem höheren, welterfahrenen Alter ausreift. Es ist oberstes Gesetz, daß der Häuptling nie allein gelassen werden darf. Die Rechtsgemeinde prüft, unbeeinflußt durch die Gegenwart des Häuptlings, die Sachlage, denn der Häuptling ist nur Vertrauensmann der Altersklasse. Die den Spruchrasen besetzt haltende Altersklasse steht in der Mitte zwischen der nachdrängenden Jugendstufe und der mäßigenden Greisenschicht (250ff). — Aus dem allen geht hervor, daß auch dieses autoritäre Häuptlingtum n i c h t im Sinne einer ungebundenen despotischen Herrschaft aufgefaßt werden darf. In den Klans der T u r k - S t ä m m e haben die Alten das entscheidende Wort zu sprechen. Die Tangnu Uriankhai zerfallen in 5 Stämme = ogurta. Unter diesen ist einer als amban vor den übrigen, die ihm untergeordnet sind, ausgezeichnet. Dieser wird so wie die andern von einem Oberhäuptling = Khoshun geleitet. Jeder Khoshun-Verband ist in 4 Sumyns ( = Klan) gespalten. An der Spitze dieser Klans stehen Häuptlinge. Doch werden alle Wirtschaftsund Gesetzesfragen durch einen R a t von Alten, von Familienvätern, Onkeln und älteren Brüdern entschieden. Wie gering der tatsächliche Einfluß dieser Klanhäupter ist, geht daraus hervor, daß ein Unrecht, das von einem Mitglied des Klans einem Genossen in dem eigenen Verband zugefügt wird, obgleich es nur selten der Fall ist, nicht bestraft wird. Nur die Tötung an dem Klangenossen wird durch eine Art Lynchjustiz vergolten (Czap. [14] 53ff). Für die Wahl zum Häuptling kommen bei den Mandschu Leute in Betracht, die wenigstens 25 Jahre alt, aber gut erzogen, ehrenhaft, taktvoll und fähig sind, zu führen. Sozialer Rang oder Reichtum wird dagegen zurückgestellt. Eine formelle Wahl mit Abstimmung findet nicht statt, sondern man begnügt sich mit Zuruf. Die übertragene Gewalt ist ohne Begrenzung. Erweist sich der Klanhäuptling als unfähig, so wird er zur Abdankung gezwungen. Doch manchmal währt seine Autorität 20 Jahre lang und sein Sohn folgt ihm. E r sitzt der Klanversammlung vor, ist oberster Richter, wacht über öffentliche und private Moral, erteilt die Erlaubnis für Ehen und gibt den Klanmitgliedern Anweisung für geschäftliche Angelegenheiten. Ist er geschickt, so ist seine Macht fast unbeschränkt. Frauen nehmen an den Versammlungen der Männer nicht teil [24]. Bei den nordwestamerikanischen Kwakiutl setzt sich das ganze Volk aus einer Reihe von Stämmen zusammen, die wieder in Klans und Familien zerfallen. Diese Klans überliefern bestimmte Geschichten von ihren Ahnen und zeichnen sich voreinander durch Beziehungen zu Tieren aus, die auf
156
Führerschaft
oder vor dem Haus des Häuptlings bildlich dargestellt werden. Über die Beziehungen zu den Tieren und sonstige Schicksale der einzelnen Familien sind eine große Anzahl von Familiengeschichten vorhanden (Boas [21] 2 795ff). Die Häuptlinge pflegen die Töchter ihrer jüngeren Brüder zu heiraten, und zwar deshalb, damit ihre ererbten Vorrechte innerhalb ihrer Familie bleiben. Aber es kommt auch ausnahmsweise vor, daß ein Häuptling seine Frau von außerhalb des Stammes nimmt (Boas 1 781). § 2. Der heilige F ü r s t - G o t t Das Fürstentum der polynesischen Inseln beruht auf der Angehörigkeit zu einer bestimmten höchsten Adelskaste und ist mit den Attributen höchster Heiligkeit ausgestattet. Dieser Umstand läßt darauf schließen, daß die Oberschicht ethnisch ursprünglich 6ehr verschieden von der Unterschicht war. Diese Spannung in Veranlagung und Kulturbesitz führte zu der Verherrlichung und zur außerordentlichen Respektierung der anfangs zweifellos weitaus überlegenen Herren. Diese Ehrerbietung wurde auch dann beibehalten, nachdem im wachsenden Maße eine rassische Mischung und kulturelle Durchdringung aller Schichten Tatsache geworden war. Eine Fülle von Bindungen, von Meidungen und Verhaltungsvorschriften, beherrscht das Leben der Fürsten. Eine außerordentliche Mannigfaltigkeit von Titeln überkreuzt sich mit dem Anspruch der Abstammung von vornehmen Familien, die einen bestimmten Vorrang vererbten. So gilt in Samoa die Bezeichnung Afionga als Titel für Häuptlinge, während das Wort Susunga, das früher einen Mann gleichen Ranges bezeichnete, später hauptsächlich für rednerische Führer gebraucht wurde. Es scheint ursprünglich also die Abstammung dafür entscheidend gewesen zu sein, ob Afionga oder Susunga auf einen Häuptling angewendet wurde (Sch.-Ew. [25] 48). Aber oft gab es auch eine Reihe von Leuten, die — ähnlich wie wir das schon von Borneo und Fiji hörten — zwar ihre Abstammung auf die Häuptlingskaste zurückführten und sich selbst zum Adel rechneten, dennoch aber nicht ein Häuptlingsamt ausübten (Turn. [84] 173ff). Die Familien der großen Häuptlinge pflegten in umfangreichen Stammbäumen ihre Herkunft von irgendwelchen göttlichen Ahnen herzuleiten. In einer Fülle von Sagen vermischten sich Mythus und Geschichte (Krämer [02/03] 1 167ff). Eine Gloriole von Heiligkeit umstrahlte das Fürstentum in Samoa. Der Fürst lebte in einem Hau6, das sich getrennt befand von der übrigen Bevölkerung, und das mit großer Würde gehalten wurde. Es galt als gefährlich, sich ibm zu nähern, wegen des tödlichen Einflusses, der angeblich von seinen Bewohnern ausstrahlte. Man fürchtete das Anschwellen des Körpers und den Tod der Person, die diesem Einfluß ausgesetzt war. Die Fürsten nahmen ihre Mahlzeiten besonders für sich ein, weil alles, was sie berührten, von ihrer Heiligkeit erfüllt wurde. Auch alle Speisen, die sie übriggelassen hatten, wurden abseits getragen und weggeworfen, weil man glaubte, daß, wenn ein Mensch von nicht gleichem Rang die Reste esse, sein
Der heilige
Fürst-Gott
157
Magen sofort erkranke und anschwelle, so daß er bald stürbe (Turn. [61] 121 ff). Der Körper des Fürsten durfte auch nicht berührt werden, niemand konnte ihm zur Seite sitzen, und der Platz neben ihm mußte stets frei bleiben. Aber es galt auch als ein Verbrechen, nicht zu gehorchen. Dem Fürsten wurden nicht die Attribute eines Königs zuteil, sondern die eines Gottes. Seine Anwesenheit machte einen Ort heilig. Ein Teil der Göttlichkeit hing auch an dem Titel. Der Blick eines Tuimanu'a war gefährlich, und wenn er reiste, hielt er den Kopf gesenkt, damit nicht die Früchte an den Bäumen verdarben. Leute sehr hohen Ranges und Kranke wurden in einer Sänfte getragen. Auch die Frauen des Fürsten galten als Tabu. Wenn der Fürst starb, so sagte man: „das Licht ist ausgegangen", oder „die Felsen sind zu Staub geworden", oder „der Himmel hat sich gespalten", oder „der Mond fällt herunter", „der Ort ist dunkel" usw. (Krämer 1 206ff, 2 109). Wenn eine besondere S p r a c h e für die Häuptlinge auf Samoa erwähnt wird, so ist darunter eine höfliche Redeweise von Niedrigen gegen einen Fürsten und zu den Angehörigen der obersten Kaste zu verstehen. Der Fürst selber dagegen bediente sich keiner besonderen Ausdrücke, wenn er mit Leuten niedrigeren Ranges redete. Diese feierliche Sprache gebrauchte man auch, wenn man sich an die Götter wendete. In einer anderen Hinsicht wird von einer besonderen „Sprache" der Häuptlinge von Tonga berichtet, die eine besondere Kunst des Ausdrucks entfalten und sich dadurch von den niedrigen Kasten unterscheiden. Von Tahiti wird eine besondere Sprache in den Gebeten und Gesängen der Priester angewendet, die auch von den Häuptlingen gebraucht wird, und ähnliches soll auch auf den Marquesasinseln der Fall sein. Außerdem galt es als unanständig, Bezeichnungen gewisser Tiere zu gebrauchen oder den Namen des H ä u p t l i n g s , mit dem man redete, auszusprechen, geradeso wie man nicht wagte, den Namen eines Gottes in Zusammenhang mit alltäglichen Angelegenheiten zu nennen; eine Gewohnheit, die von mehreren polynesischen Inseln bekannt ist (Willsm. [24] 3 89ff). Die M a c h t des Fürsten oder Häuptlings war k e i n e s w e g s g l e i c h , z. B. in allen Dörfern und Gauen von Samoa. An einigen Orten war sie hoch angesehen, an anderen weniger geachtet (Stüb. [96] 89, 107 u. Schultz-Ewerth 46). Dies hing wohl hauptsächlich mit der Stellung des Dorfhäuptlings zusammen, dessen Einfluß auf seine Leute und mit seinem Ansehen gegenüber dem Fürsten. Auch v e r ä n d e r t e sich die Stellung der einzelnen Fürsten untereinander innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit (Krämer 1 18, 377, 324). Wahrscheinlich ist die Macht der Fürsten früher größer als in den modernen Zeiten gewesen und ist mehr in die Hände der Tulafale, der Sprecher hinübergeglitten (Sch,-Ew. [25] 46). Bei alledem dürfen wir nie vergessen, daß, so heilig die Person des Fürsten war, er seine Macht auf allen Inseln mit einem R a t aus seiner Kaste oder mit dem eines Dorfes oder mit sonstigen angesehenen Personenteilte (Willms. [24] 3 114,118,123,125,128,130,132,134). Für die ganze Art der Herrschaft bleiben in den Grundzügen die Vorbilder, wie wir sie aus Borneo und von den Trobriands-Inseln kennengelernt haben, auch hier maßgebend. Krämer spricht mit Recht von einem „Familienstaat" (1 169; s. a. Sch.-Ew. [25] 45, 47).
158
Führerschaft
Auf der Karolinen-Insel Yap hängt das Wort für Häuptling (pilung) mit „sprechen" zusammen und bezeichnet den, der seine Meinung zum Ausdruck bringt und auch durchzusetzen versteht. Auch hier finden wir die Häuptlingschaft in inniger Verbindung mit einer e r b l i c h e n R a n g s c h i c h t u n g . Die Oberhäuptlinge üben ihre Macht vermöge der Angehörigkeit zu a d l i g e n F a m i l i e n aus. Die Insel Yap wird von 8 Oberhäuptlingen regiert, obgleich die Zahl der Landschaften 12 ist. Die einzelnen Oberhäuptlinge sind voneinander unabhängig und erkennen keine gemeinsame Leitung an. Die Abgrenzung ihrer Einflußsphäre hat sich in der historischen Entwicklung mit den Besitzverhältnissen verflochten. Das aristokratische Prinzip ist also m i t dem p l u t o k r a t i s c h e n g e p a a r t . Überdies haben häufige K r i e g e M a c h t v e r s c h i e b u n g e n mit sich gebracht. So ist z. B. das Dorf Gatsapär erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit Sitz eines Oberhäuptlings geworden und hat das jetzt verlassene Ru abgelöst. Ein unglücklicher Krieg bildete den Anlaß dazu. An der Spitze jedes Dorfes steht ein Unterhäuptling, der sich durch mindere Macht und geringeres Ansehen vom Oberhäuptling unterscheidet. Dem Dorfhäuptling, der die Wirtschaftsführung leitet, den Bau der Festhallen beaufsichtigt, Tanz- und Totenzeremonien veranstaltet, also eine wirtschaftlich-zauberische und priesterliche Funktion ausübt, steht noch ein Kriegshäuptling zur Seite. Der Kriegshäuptling konnte unabhängig vom Dorfhäuptling Kämpfe beginnen, die nicht selten räuberische oder erpresserische Zwecke verfolgten. Die Frau des Dorfhäuptlings besaß einen parallelen Einfluß über das weibliche Geschlecht der Siedlung. Die Häuptlingschaft ist wie jede andere Würde auf Yap mit dem Besitz eines gewissen G r u n d s t ü c k s verbunden und erblich. Das ist auch bei den Häuptlingen der niedrigen Dörfer der Fall. Die Familiengeschichten knüpfen sich vor allem an die Namen der männlichen Inhaber der Grundstücke. Doch reichen sie nicht so viele Generationen zurück wie bei den Polynesiern. In den Dörfern gibt es noch Quartiervorsteher, deren Amt ebenfalls erblich ist (Müll.-W. [17] 242ff). Bei den Natchez-Indianern knüpft das Häuptlingtum ebenfalls an eine S c h i c h t u n g der Bevölkerung an, die dort jedoch nicht kastenmäßig endogam abgeschlossen ist, sondern im Gegenteil, trotz der herrschenden Mischung nur in traditioneller Weise aufrechterhalten wird. In diesen mutterrechtlichen, aber patriarchischen Gemeinwesen erfreute sich der Häuptling einer außerordentlichen Verehrung wie ein „ F ü r s t " . Wenn er sprach, dankte man ihm für alles, was er sagte, sei es Gutes oder Böses, durch Kniebeugen und Geheul. Dieses Verhalten hatte eine religiöse Grundlage, da die Adelsschicht der Sonnenleute als Abkömmlinge der Sonne, der obersten Gottheit, galt und ihren Mitgliedern die Fähigkeit zugeschrieben wurde, Böses abzuwenden. Niemand, außer seiner Frau, durfte mit dem Fürsten zusammen essen, und wenn er die Reste seiner Speise seinen Brüdern überließ, so schob er sie ihnen mit den Füßen zu (Lowie [20] 352). Die O b e r h ä u p t l i n g s c h a f t als Ausdruck der Herrschaft einer a r i s t o k r a t i s c h e n Oberschicht tritt in eindeutiger Weise bei den zentralafrikanischen Banyankole in Erscheinung. Eine Bevölkerung von Feldbauern
Der heilige
Fürst-Gott
159
steht dort in Abhängigkeit von Hirten. Das Oberhaupt dieser Hirtenbevölkerung ist gleichzeitig auch das der von ihnen abhängigen Hörigen und Sklaven. Weiterhin hat hier der persönliche Besitz bereits eine große Rolle zu spielen begonnen. Den Wertmesser bilden die Rinderherden: die Unterhäupter nehmen ihren Platz zunächst dem O b e r h ä u p t l i n g oder „Fürsten", Mugabe, gestaffelt nach ihrem Reichtum, nach der Größe ihrer Herden, ein. Dem Mugabe oder „ F ü r s t " sind eine Reihe von Häuptlingen untergeordnet, außerdem teilt er seine Macht mit einer Art S t e l l v e r t r e t e r , der den Titel Nganzi = „Favorit" führt. Dieser Mann ist eine Art Oberrichter, an den von dem Häuptling appelliert werden kann. Doch sind dem Mugabe alle wichtigeren Angelegenheiten vorbehalten. Der Nganzi begleitet den Mugabe auf Reisen und in den Krieg, ist sein Vertrauensmann und Helfer und der einzige, der jederzeit, Tag oder Nacht, ohne weiteres vor dem Mugabe erscheinen darf. Der Nganzi ist stets ein reicher Mann, der Geschenke an Rindern und Land vom Mugabe zu erhalten pflegt. Das ganze Land war in ungefähr 16 Gaue geteilt, über deren jeden ein Häuptling, „Statthalter", von dem Mugabe gesetzt war. Diese Gau-Häuptlinge, Bakungu oder Abamangi, wurden vom Fürsten bei Antritt seines Amtes auserwählt. Starb einer dieser Häuptlinge, so ernannte der Mugabe seinen Nachfolger, und das war gewöhnlich, wenn auch nicht notwendigerweise, sein Erbe. Jeder dieser Gauhäuptlinge gehörte dem Adel an und führte einen besonderen Titel. Manche dieser Häuptlinge hatten um sich eine Zahl von Freunden und Gefolgsleuten, die dem Häuptling halfen, seine Stellung zu behaupten, und die wieder von diesem entlohnt wurden. Die Häuptlinge erhielten vom Fürsten gelegentlich persönliche Geschenke von etwa ein- bis dreihundert Kühen. Doch diese Kühe galten, wie überhaupt sämtliche Herden, als das persönliche Eigentum des Mugabe. Uberhaupt war es nicht erlaubt, ohne fürstliche Zustimmung Kühe außerhalb des Landes zu verkaufen. Man sagt, daß der Mugabe früher diese Verbotsgewalt nicht besaß und erst in späterer Zeit den Anspruch auf alle Kühe des Landes erhob. Die Autorität der Gauhäuptlinge war insofern beschränkt, als sie keine Macht über die Bewegungen der U n t e r h ä u p t l i n g e besaßen, die mit ihren Herden herumzogen. Denn die Hirtenbevölkerung verblieb an einem Platz selten länger als zwei oder drei Jahre, weil es als erforderlich galt, den Ort zu wechseln, um das Vieh vor Seuchen zu bewahren. Auch nach einem Todesfall im Kraal verblieben sie nicht mehr am gleichen Orte. Die Lebensart eines der Häuptlinge unterschied sich in keiner Weise von der eines anderen Kuhbesitzers. E r lebte in seinem Kraal mit einer Zahl seiner Kühe um sich herum, während der Rest seiner Herden im Lande unter der Aufsicht seiner Hirten umherwanderte. In jedem Gau gab es, wie schon angedeutet, noch Unterhäuptlinge, die dem Häuptling untergeordnet waren. Die feldbauende Bevölkerung stand durchaus im Verhältnis der Abhängigkeit gegenüber den Hirten und stellte keine Häuptlinge. Erst unter dem Einfluß europäischer Verwaltung gelangten Vertreter aus dieser Unterschicht zur Würde von Gauhäuptlingen. Doch kamen zur Häuptlingschaft auch Leute, die in persönlichen Diensten des Fürsten gestanden hatten und von diesem aus besonderer Dankbarkeit mit
160
Führerschaft
Häuptlingsposten belohnt wurden. Sie erhielten von ihm auch Kühe und Felder mit Bauern. Diese ausgedienten persönlichen Beamten, Bagalagwa, lebten untereinander für sich in den Gauen und unter einem der ihrigen als Häuptling. Der Oberste eines Kraals ( = „Unterhäuptling") ordnete alle Angelegenheiten selbst, außer wenn es sich um ernstliche Störungen handelte, die zu einem Kampf führten. In einem solchen Fall wandte er sich an den Gauhäuptling. Dessen Entscheidungen unterlagen der Korrektur durch den Fürsten oder seinen Vertrauten (Rose. [23/b] 12 ff). — Der Mugabe war in seinem Verhalten einer Reihe von Zeremonien, Meidungen, Geboten und Vorschriften unterworfen. Seine persönliche Dienerschaft, die Beamten des Hofes wurden aus den Söhnen der Gauhäuptlinge der einzelnen Klans entnommen. Sie hatten teils dem Mugabe aufzuwarten, insbesondere bei dem zeremoniellen Milchtrinken zu verschiedenen Tageszeiten, beim Waschen und Essen, bei den Gastereien, ihn auf die Jagd zu begleiten usw., teils auch sein richtiges Verhalten zu kontrollieren (40ff). — Der Mugabe durfte nicht alt und krank werden. Wenn seine geistigen oder physischen Kräfte zu erlahmen begannen, so wurde seinem Leben ein Ende gemacht. Fühlte er sich unwohl, so sandte man Botschaft an seinen vertrauten Vertreter (Nganzi), der ein Orakel zu stellen hatte. Bei geringem Übelbefinden wurden seine Fetische herangebracht, auf die er der Reihe nach spuckte. War er indessen ernstlich erkrankt, und erschien er nicht in der Öffentlichkeit, so hieß es, er ruhe sich aus, denn niemand wagte zu sagen, der Fürst sei krank. Fühlte er seine Kraft schwinden, so wußte er, daß es Zeit sei, sein Leben zu beenden. Er berief seine Häuptlinge und seine Söhne, die sonst nie, außer bei dieser Gelegenheit, vor ihm erschienen. Bei dieser Zusammenkunft sprach er nur von Staatsangelegenheiten, nichts von dem, was ihm bevorstand. Er setzte seinen Nachfolger ein, und zwar den Sohn, von dem er wünschte, daß er Mugabe werde. Dann rief er den Medizinmann und verlangte nach Gift. Dieses wurde stets in der Schale eines Krokodileis in Bereitschaft gehalten. Es bestand aus einem Pulver, das mit etwas Wasser oder Bier angerührt wurde. Wenn der Fürst davon trank, fiel er in wenigen Augenblicken tot hin. Der Tod wurde nicht öffentlich angezeigt, sondern die Bewohner des Kraals vollführten ein Geheul wie Schakale. Die Todesnachricht wurde im Land durch das Wort , , K u t a s y a " verbreitet, das „die Rückkehr der Rinder nach dem Kraal bei Einbruch der Nacht" bedeutet. Vielerlei Zeremonien folgen: der Leichnam wird in eine Kuhhaut gewickelt und ein Schaffell in Gestalt eines Sacks auf den Bauch gelegt, dann Milch ausgegossen, hierauf unter Beobachtung weiterer Riten bestattet, usw. Die Einweihung des neuen Fürsten findet gleichfalls unter Beobachtung vieler feierlicher Handlungen statt, bei denen die Kuhherden eine wichtige Rolle spielten. Manchmal kam es auch zum Kampf unter mehreren Anwärtern der Mugabeschaft. Eine der ersten Verrichtungen des neuen Fürsten war das Wiederanzünden des Feuers im Kraal. Der Mugabe beanspruchte für sich das Recht, irgendein Mädchen oder eine Frau nach Belieben für sich zu fordern. Die Eltern (oder ihr Bräutigam oder Gatte) erhielten dann eine Anzahl von Kühen als Ersatz für den ausfallenden Kaufpreis. Der Mugabe konnte Frauen
Thuriucald,
Tafel
Staat
5
Zwei M ä n n e r v o n d e n T r o b r i a n d - l n s c l n (östlich von _Neu-Guinea) m i t T r i d a c n a - A r m r i n g e n . an d e n e n B ä n d e r a n s g e t r o c k n e t e n P a i u l a i i u s - I i l ä t t e r n u n d G l a s p e r l e n b e f e s t i g t s i n d . Diese A r m r i n g e w e r d e n n u r bei f e s t l i c h e n G e l e g e n h e i t e n a n g e l e g t . Aus M a I i
Ii
o « s k i [22]
I af.
l'J.
Zwei F r a u e n v o n d e n T r o b r i a n d - I n s e l n m i t I l a l s g e h ä n g e n g e s c h m ü c k t , z e i g t d i e A r t w i e die S u l a v a - G e h ä i i g e g e t r a g e n w e r d e n . D a b e i ist b e m e r k e n s w e r t , d a ß d e r M ä n n e r s c h m u c k , d i e A r m r i n g e g e g e n d e n F r a u e n s c h m u c k , die I l a l s g e h ä n g e bei d e m H a n d e l s s p i e l ( K u l a ) u n t e r d e n Häuptlingen getauscht werden. A u s M a I i Ii o » « k i [ 2 2 ] 119, l a l ' .
19.
Tafel 6
Thurmrald,
Slaal
Ein I ntertan begrüßt den Häuptling der Mazinza im J a h r 1930 (südl. Ufer des V iktoria-Sees, Ostafrika).
Trommler des Sultans David i n B u k o b a , Zentralafrika, der jede Bewegung des Herrsehers außerhalb des Hauses dureh Trommeln ankündigt (1930).
Stier von der Insel U k a r a im Viktoria-See (Ostafrika), der bei den Stierkämpfen die anderen Tiere besiegte und besonders gepflegt wird (1930). (Aufnahmen Thurnwald)
Der heilige
Fürst-Gott
161
von dem Basambo- oder Bagahe-Klan und auch seine eigenen Schwestern zur Frau nehmen, obgleich letztere Verbindungen nicht anerkannt wurden. — Eine besondere Stellung nahmen die M u t t e r und die S c h w e s t e r des Fürsten ein. Die Mutter wohnte in einem Kraal. Auch sie durfte nicht krank werden, sonst erschien der Mugabe mit dem Medizinmann und gab ihr Gift. Nach ihrem Tode wurde eine andere Anverwandte desselben Klans zu ihrer Nachfolgerin vom Fürsten auserwählt. Sie erhielt den Titel und Reichtum einer Fürstenmutter, aber auch deren verhängnisvolle Verpflichtung, nicht zu erkranken. — Eine der Schwestern des Mugabe wurde von ihm formell als Fürstenschwester auserwählt und war als solche für seineWohlfahrt verantwortlich. Sie erhielt große Besitztümer, in denen ihre Macht unbeschränkt war. Sie war nicht Fürstin, aber die erste Frau des Landes. Ihr Kraal befand sich in der Nähe von dem des Mugabe, und sie stand immer in naher Berührung mit ihm. Während bei den anderen Hirtenstämmen diese Fürstenschwestern nur ihre Halbbrüder heiraten durften, stand der Schwester des Mugabe die Wahl völlig frei, und es ist üblich geworden, daß sie sich mit dem Fürsten eines Nachbarlandes vermählte, der mit ihr dann in Ankole lebte. In früheren Zeiten pflegte sie einen hervorragenden Häuptling ihres eigenen Landes zu heiraten. Die Schwester des Mugabe wurde aber, wenn sie in eine Krankheit verfiel, nicht vergiftet, doch mit königlichen Ehren bestattet, wenn sie starb. E s hieß, daß sie in Gestalt einer Python-Schlange in dem fürstlichen Wald wiedergeboren werde. Nach ihrem Tode wurde eine andere nahe Anverwandte des Mugabe zur Fürstenschwester bestimmt. Starb aber der Mugabe, so mußte die Hauptschwester sich mit einem Strick erwürgen oder konnte sich auch ins Privatleben zurückziehen. Als der Fürst Ntare starb, versammelte seine Hauptschwester ungefähr 20 seiner Frauen, wies sie an, in eine Hütte zu gehen, zerbrach dort Trommel und Speer ihres Bruders und hieß die Frauen, in der Hütte sich aufzuhängen, worauf sie dasselbe tat. Niemand widersprach, und es wurde als das richtige Verhalten angesehen (Rose. 50ff). — Alle diese Einrichtungen und Bräuche deuten darauf hin, daß sie als Ausstrahlungen von Sitten aufzufassen sind, die sich in peripheren Gebieten unter Verhältnissen erhalten haben, die in ihren Grundzügen denen gleichen, unter welchen sie sich ursprünglich ausgebildet hatten. Man wird an frühe Herrschaftsformen des alten Orient erinnert. Bei den Mongolen kam es zur f ö r m l i c h e n W a h l eines Oberhauptes durch die Alten des Stammes in einer Versammlung. Der Gewählte wurde auf einen Fellschild gehoben und hieß Koshma. Als Anwärter kamen nur Leute in Betracht, die ihre Abstammung von dem Klan des Djingis-Khan ableiteten. Die Abkömmlinge dieses bevorzugten Klans nennen sich „Weißknochen" im Gegensatz zu den übrigen, die als „Schwarzknochen" gelten; ihre Frauen werden als „Weißfleisch", die anderen Frauen mit „Schwarzfleisch" bezeichnet. Gegenwärtig wird das Haupt des Stammes nicht mehr gewählt, sondern diese Würde vom Vater auf den Sohn oder nächsten Verwandten in der männlichen Linie vererbt. Das Oberhaupt ist heute in der Ausübung seines Amtes beinahe unabhängig von irgendwelcher Überwachung, denn der Altenrat hat praktisch alle Bedeutung verloren — vermutlich eine 11
Thnrnwald IV.
162
Führerschaft
Nachahmung russischer Einrichtungen. Indessen verhindern die Traditionen doch die Ausübung eines unbeschränkten Despotismus durch das Stammeshaupt über die Angehörigen seines eigenen Stammes, nicht dagegen über die Sklaven (Czap. [14] 64). Hieraus ist ersichtlich, wie sehr die Organisation der Mongolen-Stämme von der ihrer nordöstlichen Nachbarn abweicht, wie auch schon aus dem Vorhandensein von Sklaven hervorgeht. Namentlich zeigt sich hier die Nachwirkung eines lange vergangenen Ereignisses, des Auftretens einer außerordentlichen Persönlichkeit, wie es der große Mongolenführer Djingis-Khan war. Weibliches Häuptlingtum. — Die Fälle von weiblichem Häuptlingtum wurden in einem anderen Zusammenhang, bei der Erörterung der Stellung der Frau, behandelt. Helfer. — Dem Häuptling standen auf Fiji Boten zur Hand (matanivanua). Es waren Leute aus der Adelskaste, die bei Festen Komplimente oder Entschuldigungen bei der Überreichung oder beim Empfang von Geschenken zu sagen hatten, die Kava-Bereitung überwachten, die Speisen verteilten und bei Mahlzeiten dem Häuptling aufwarteten. Ursprünglich waren diese „Herolde" oder Häuptlingshelfer (Vezier, Majordomus) Abkömmlinge von solchen Frauen fremder Sippen, die in der Sippe des Häuptlings verheiratet waren. Diese Leute konnte man ohne Gefahr zur Sippe ihrer Mutter schicken, auch wenn mit dieser Feindseligkeiten ausgebrochen waren (Hoc. [13] 109ff). Ein eigentümliches Vorrecht fiel dem Schwestersohn, insbesondere des Häuptlings auf Fiji, zu. Er durfte nämlich nach seines Onkels Tode dessen Verlassenschaft verwüsten: die Schweine töten und die Pflanzung plündern. An manchem Orte wurde er dabei vom Sohne des Onkels geschlagen. Es scheint mir entgegen Hoc.'s ([15] 641 ff) Annahme, daß es sich hier um eine Behauptung der mutterrechtlichen Erbansprüche des Schwestersohnes gegenüber den später erst geltend gemachten Forderungen des Sohnes handelt. Daß beim Tode des Häuptlings diese Ansprüche besonders energisch betont werden, ist wohl davon abzuleiten, daß die alten Sitten durch den Häuptling in erster Linie geschützt werden sollten. Die Beurteilung des Häuptlingtums. — In ähnlicher Weise, wie auf Borneo bei den Kenyahs, finden wir auch auf Fiji Dörfer (z. B. Mnau), die überwiegend aus Adligen ( = Turanga) zusammengesetzt sind. Diese Leute können nicht als „Häuptlinge" bezeichnet werden. Sie sind Abkömmlinge von irgendeinem Häuptling, und wenn Führerpersonen sich unter ihnen befinden, so sind sie als Häuptling wählbar, doch sind sie nicht von selbst ausübende Häuptlinge (Hoc. [13] 80). Das Häuptlingtum ist von den Weißen auch in Amerika, zweifellos unter dem Einfluß der Ideen des absoluten Königtums, seinerzeit verkannt worden. Auch dort hat sich herausgestellt, daß selbst die noch so heilig verehrten Oberhäuptlinge und Fürsten keineswegs selbstherrliche „Despoten" waren, sondern daß sie in Verbindung mit irgendwelchen Ratsversammlungen ihre Herrschaft ausübten (Lowie 384).
Despotismus
163
§ 3. D e s p o t i s m u s Wenn man von Despotie spricht, denkt man an eine rationalistische Nützung der Macht, wie sie namentlich in den archaischen politischen Gefügen in Erscheinung trat und die offenbar später erwacht ist als der Machtbesitz selbst. Begrifflich stellt sich die Despotie als ein Sonderfall der Monarchie dar. Wir verbinden mit dem Begriff der Despotie noch die Willkürlichkeit und das Stimmungshafte der Entschließungen. Ob der Despot die Herrschaft durch Angehörigkeit zu einer traditionell regierenden Familie (Dynastie), also auf „legalem" Wege, erlangt hat oder durch persönliche Usurpierung der Macht, durch „Tyrannis", wird in der Regel als nebensächlich betrachtet. Doch soll hier vor allem der erste Fall ins Auge gefaßt werden. Wenn wir die Gemeinwesen der niedrigsten Stämme betrachten, so fällt uns der Unterschied gegenüber anderen Naturvölkern auf. Die Gemeinwesen der niedrigsten Stämme sind durchweg auf demokratischer Grundlage aufgebaut. Welche Momente waren nun entscheidend für die Herausbildung einer Despotie ? Sie ist eine Erscheinung ausgehenden primitiven Lebens, die sich an ganz bestimmte Voraussetzungen knüpft. Wir müssen dem Begriffe des „Despoten" eine entsprechend scharfe Umrandung geben, damit er von „Häuptling", „Großhäuptling" und „ K ö n i g " unterschieden wird. Diese politischen Führer der Gemeinschaften sind stark sakral gebunden. Das gilt sowohl von den polynesischen Großhäuptlingen, z. B . in Fiji (Hoc. [15] 631ff), wie auch von den Königen des alten Yucatan (Roys [21] 472 ff), als auch selbst für die alten chinesischen Kaiser (Kuhn [17]). Beim Despoten, der seine Herrschaft schon, wie z. B . der Perserkönig, über sehr viel größere Gebiete und verschiedene ethnische Gruppen ausgedehnt hat (Herodot I 72, 3 n, 192 n, I I I 89 n, I V 37 n, V 52, 4 n), ist das Volk wohl auch noch von der Heiligkeit des Machtbesitzes durchdrungen, doch ist in ihm selbst das Bewußtsein zur Anwendung des Machtbesitzes erwacht (vgl. Htg. [23]). Zwei Marksteine stehen auf dem Wege zur Despotie: 1. die Überlagerung durch eine H e r r e n s c h i c h t , eine Erziehung zur Unterordnung. Dabei ist es Regel, daß der Despot der Herrenschicht entstammt. Gewöhnlich sind Rivalitätskämpfe unter den Häuptern der Adelsfamilien (Oligarchen) voraufgegangen, bei denen der Despot als Sieger sich durchsetzte, Vorgänge, deren wir wiederholt in den alten Staaten des Orients Zeuge sind. Dabei stützt sich der siegreiche Despot auf fremde Söldner, wie etwa im Ägypten des Neuen Reiches oder in den afrikanischen Despotien von heute oder im alten Rußland. 2. Die Gloriole der Heiligkeit, das T a b u , umstrahlt die Persönlichkeit des Herrschers als Tradition vom früheren religiösen Königtum. Diese TabuStimmung nützt der Despot in rationalistischer Weise. Die Herrscher der afrikanischen Reiche im Osten und Westen des Kontinents sind typische Vertreter der Despotie (Dpp. [1670] 359, 561). Vielleicht sind die assyrischen Könige das älteste Urbild dafür (Kohler-U. [13]). Aber auch die Könige der germanischen Völkerwanderung tragen vielfach, vielleicht in 11*
164
Staatsbildung
Nachahmung ost- und weströmischer Vorbilder, despotischen Charakter (Schmidt 291). Die einzelnen Despotien sind praktisch von kurzer Dauer, da sie auf der Eignung der Personen beruhen und bei den Rivalitätskämpfen nur die Gewandtesten und Rücksichtslosesten sich halten können. Gewöhnlich stellt sich die Despotie als Ausklang einer Adelsherrschaft dar, die durch Vermischung bereits in volle Auflösung übergegangen ist, wie das in der späteren römischen Kaiserzeit besonders deutlich in Erscheinung tritt (Schulz [19] 3f). Die Despotie hat den Vorteil einer starken Machtkonzentration und dadurch die Möglichkeit, Neuerungen durchzusetzen, wie das z. B. besonders schlagend in der Persönlichkeit des sogenannten Ketzerkönigs im Ägypten des neuen Reiches zutage tritt. Doch liegt der Nachteil darin, daß Unterwürfigkeit und Ungezügeltheit das Hochkommen tüchtiger und selbstbewußter Persönlichkeiten stört und so eine nachteilige Geistesverfassung hervorgerufen wird. Da die Despotie sich gegen die Adelsschicht richtet und sich auf fremde Söldlinge stützt, trägt sie zu einer allgemeinen Vermischung bei und ebnet demokratischen Auffassungen den Weg. Sie muß sich daher immer mehr auf militärische Gewaltfaktoren gründen. So wird eine neue Rassengestaltung der zusammengeschlossenen ethnischen Gruppen angebahnt. Durch Bruch mit den alten Traditionen wird aber auch die Tabu-Stimmung untergraben, auf der der Glanz der Despotie beruhte. Im allgemeinen sind die Dispositionen für die Entstehung der Despotie bei den einzelnen Völkern verschieden. Bei aktiven und nüchternen Völkern sind die Aussichten ungünstiger, dagegen wird die Entstehung einer Despotie durch einen passiven, mehr kontemplativen und phantastischen Charakter der Volksmassen begünstigt. VI. STAATSBILDUNG § 1. Der S t a a t a l s p o l i t i s c h e E r s c h e i n u n g s f o r m Wenn vom Staat die Rede ist, dürfte es angezeigt sein, sich erst darüber zu einigen, was unter „Staat" verstanden werden soll. Schon die heutigen Gemeinwesen der verschiedenen europäischen Länder haben die einzelnen Seiten staatlicher Funktion in sehr verschiedenartiger Weise entwickelt und verändern sie unter unseren Augen. Noch größer sind diese Unterschiede selbstverständlich im Vergleich zu früheren Zeiten, und müssen es sein, wenn man die ganz andersartige technische Bewältigung der Umwelt ins Auge faßt. Einen Zusammenschluß von Gruppen zum (selbstverständlich nicht notwendigerweise absichtlich oder bewußt ausgesprochenen) Zweck eines Schutzes nach außen und eines geordneten Zusammenlebens unter führenden Persönlichkeiten im Innern gibt es in jeder selbständigen, auf eigenen Nahrungserwerb gestellten Gruppe und hat es immer gegeben, wie schon oben dargelegt wurde. Doch kann die Frage aufgeworfen werden, ob wir auch diesen primitiven Gemeinwesen den Titel „Staat" zuerkennen sollen.
Der Staat als politische
Erscheinungsform
165
Die Auffassung darüber, was m a n unter „ S t a a t " verstehen soll, ist nicht gleich geblieben. Den Ausgangspunkt dafür bot nach dem egozentrischen Verfahren stets das eigene Gemeinwesen. I m alten Griechenland war es die 7t6Xu;, im alten Rom die civitas, nach deren Grundsätzen m a n sich die Frage vorlegte, ob m a n auf ein fremdes Gemeinwesen die gleiche, besonders gefühlsbetonte Bezeichnung anwenden sollte. Ahnlich war es in der Zeit unseres Klassizismus, der die Antike als Zentrum betrachtete und sich an die Auffassungen der Alten klammerte. J e mehr fremde und andersartige Gemeinwesen aber in unser Gesichtsfeld t r a t e n , desto eher wurden wir veranlaßt, nach objektiven Kriterien zu suchen. Denn es ist natürlich nicht zu leugnen, daß sehr bedeutende Unterschiede zwischen primitiven u n d höheren Gemeinwesen bestehen. Die moderne Staatslehre fordert f ü r die Anerkennung eines Gemeinwesens als „ S t a a t " folgende Merkmale: ein menschlicher Verband muß ein abgegrenztes Landgebiet besetzt halten u n d auf diesem eine planmäßig organisierte, oberste Herrschaft ausüben, die sich von außen unabhängig, „souverän" f ü h l t . Dies alles muß auch tatsächlich zur Durchführung gelangen. Solche modern juristische Formulierung ist sehr weit gefaßt und gestattet die Anwendung des Staatsbegriffs auf fast alle, selbst auf die primitiven, politischen Gebilde. I n der T a t kann man Gemeinwesen, wie sie hier etwa unter I I gekennzeichnet wurden, im angedeuteten Sinn als „ S t a a t e n " bezeichnen. Dennoch werden wir gut t u n , gewisse Unterscheidungen walten zu lassen. Das politische Leben, das sich auf die Ordnung der obersten Führerschaft bezieht, stellt n u r einen Teil des sozialen Lebens überhaupt dar. Das soziale Leben ergreift je nachdem die Ordnung der sexuellen Beziehungen, der Wirtschaft, des Krieges, des Rechts, der Religion sowie auch der Kunst, der Sprache und selbst der Schrift (s. T. [R. L.] „Schrift"). Die oberste Führerschaft muß aber notwendigerweise an dem allen in der einen oder anderen Weise teilhaben, k a n n sich den hier u n d dort auftretenden Strömungen nicht entziehen, sondern muß ihnen Rechnung tragen, wenn sie ihre Stellung bewahren will. J e nach Lage der Geistesverfassung und K u l t u r und nach dem gesellschaftlichen Bau erhält die institutionelle Führung des politischen Gemeinwesens bald einen mehr familialen, bald mehr religiösen, bald mehr wirtschaftlichen usw. Charakter. Das sind Züge, die besonders bei primitiveren Staatsformen scharf hervortreten. Solche Gemeinwesen sind schon vermöge der ärmeren Technik, welche mit der Raumüberwindung zu kämpfen h a t , verhältnismäßig klein. Doch mangelt es nicht an losen Zusammenschlüssen unter mehreren Einheiten, mögen es Sippen, Klans, gentes oder sogenannte Lokalgruppen, Dörfer oder Städte sein. Derartige Zusammenschlüsse vollziehen sich in verschiedener Weise und oft n u r auf Grund der einen oder anderen Seite des sozialen Lebens. Sie t r e t e n z. B. auf als sogenannte totemistische Verbände zur Regelung der Heirat, wie in Australien, womit aber auch noch gewisse wechselseitige oder gemeinsame religiöse Sitten und Zeremonien verbunden sein können; ferner als gelegentliche Bundesgenossenschaft bei K ä m p f e n ; weiter als wirtschaftliche Tauschgemeinschaften, z. B. zum Austausch von Pro-
166
Staatsbildung
dukten der Viehzucht oder der Jagd gegen solche des Gartenbaues oder des Handwerks. Gewöhnlich beruhen die Verbindungen auf Tradition, und die Angehörigen treten einander auf dem Boden der Gleichheit gegenüber. Es sind lose Agglomerationen ohne den Charakter einer abstrakten Losgelöstheit von den Personen und Sachen, d. h. ohne „Institution". Jedoch nicht immer. Die eine Gruppe ist vielleicht furchtsam und fühlt sich schwächer und unterlegen, die andere, umgekehrt, stärker, erfindungsreicher und überlegen. Daraus resultiert nicht selten eine Symbiose, die den eigentümlichen Charakter einer „Verzahnung" der beiden ineinander annimmt, den wir oft „Herrschaft" nennen, ohne daß sie es wirklich ist, und bei dem man richtiger nur von F ü h r e r s c h a f t sprechen sollte (Vgl. T. [26] [27]). Bezüglich des Territoriums, das man für den Staatsbegriff fordert, wurde früher gern die Frage erörtert, wie man etwa die Zusammenschlüsse von Nomadenstämmen bewerten soll. Solchen Kontroversen lag ungenügende Sachkenntnis zugrunde. Sie gingen nämlich davon aus, daß Nomaden in keiner festen Beziehung zum Boden ständen. Das ist jedoch keineswegs ganz richtig. Sowohl Jäger wie Hirten pflegen Anspruch auf gewisse Landgebiete, Gaue, für ihre Nutzung zu erheben. Somit wird man hier andere Erwägungen anstellen müssen. § 2. V o r s t a a t l i c h e G e f ü g e ; e t h n i s c h e B a l l u n g e n Zunächst mag es angezeigt sein, einige Formen v o r s t a a t l i c h e r Organisationen kennen zu lernen, wie sie besonders das nordwestliche Amerika bietet, wo die Männer gewöhnlich Jäger und Fänger, die Frauen Gärtnerinnen waren. Bei den Stämmen der nord-pazifischen Küste von Nordamerika finden wir ein gut ausgebildetes Kastensystem auf wirtschaftlicher Grundlage, während bei den anderen indianischen Stämmen Nordamerikas der Einfluß entweder auf Tapferkeit im Kampf, Weisheit im Rat, auf rednerischer, dichterischer oder künstlerischer Begabung und damit auf den diesen Vorzügen zugrundeliegenden physischen Kräften beruht. Bei den Salish-Stämmen im Innern von Britisch-Kolumbien z. B. gab es viele untereinander ziemlich unabhängige Dörfer, deren bürgerliche, militärische und religiöse Angelegenheiten durch Angehörige bestimmter Familien geleitet wurden. Die Persönlichkeiten wurden aus diesen Familien je nach ihrer Eignung gewählt. Für die Wahl eines Bürgerhauptes war Besitz der entscheidende Faktor (Hod. [10] 2 608ff). Die hauptsächlichste Funktion der meisten Bünde der Menomini-Indianer Nord-Amerikas bestand in der Veranstaltung von Tänzen mit einem religiösen Motiv. Sie führten zu großen öffentlichen Zusammenkünften, zu denen auch Nichtangehörige der Bünde erschienen, die sich mit den andern in nicht rituellen Tänzen, durch Spiele und Besuche vergnügten (Sk. [15] 171). _ Vgl. a. Mac K. [26].
Verhältnis der politischen Gruppen zu einander
167
§ 3 . V e r h ä l t n i s d e r p o l i t i s c h e n G r u p p e n zu e i n a n d e r Bei den Salish-Stämmen der nordwestamerikanischen Küste bestand eine Teilung des Volkes in Adel, Freie und Knechte; unter den letzteren standen die Kriegsgefangenen. Die Knechte waren entweder arme Verwandte der oberen Schichten oder Angehörige von früher unabhängigen Gruppen, die durch Krieg oder sonstwie in eine abhängige Stellung gedrängt worden waren. Die Häuptlingswürde lag bei bestimmten Familien, unter denen der Würdigste erwählt wurde. Sein Einfluß erstreckte sich hauptsächlich auf zeremonielle Angelegenheiten, nicht auf den Krieg. Einige der größeren Stämme der Salish anerkannten eine übergeordnete Autorität eines unter mehreren Gauhäuptern. Die Nutka-Stämme der Westküste von Vancouver zerfielen in verschiedene Sippen, die von einem Häuptling regiert wurden. Ein Rat aus diesen entschied über die Tätigkeit des Stammes, das Oberhaupt der Sippe gehörte einer ausgezeichneten Familie an. Verschieden von diesem System war das der den Nutka sprachlich verwandten Kwakiutl. Jeder Teil des Stammes der Kwakiutl leitete seine Herkunft von einem Ahnen ab, der sein Haus auf einem bestimmten Platz errichtet haben soll. Wahrscheinlich waren diese Abteilungen ähnlich den Sippen der Salish, obgleich jetzt einige davon sich in andere Stämme verbreitet haben (Hodge 608ff). Unter den Omaha-Indianern der großen Ebene herrschte ein kompliziertes soziales System. Der Stamm war aus zehn Sippen zusammengesetzt, die „Dörfer" genannt wurden. Jedes stand unter einem Häuptling. Sieben dieser Häuptlinge übten eine Art Oligarchie aus und zwei von ihnen, die den größten Reichtum repräsentierten, wieder eine überlegene Autorität. Die Funktion dieser Häupter war eine rein bürgerliche, sie erstreckte sich nie auf die Anführung von Kriegsunternehmungen. Unter ihnen standen zwei Arten von Kriegern, von denen die höhere als Polizei während der Büffeljagden funktionierte. Jede Sippe, und darin wieder jede Familie, hatte ihren bestimmten Rang und ihre Funktion. — Andere Stämme der Ebene, die der großen Gruppe der Sioux-Indianer angehörten, waren ähnlich organisiert. Die Delawaren bestanden aus drei Gruppen, die sich nach geographischen Namen der Gegend, die sie bewohnten, benannten und besondere Totems besaßen. Eine jede wurde durch ein Oberhaupt geleitet, das durch die Häuptlinge der anderen gewählt oder doch in sein Amt eingeführt worden sein soll. Das Oberhaupt der Onami soll an Würde den anderen vorangestanden haben. Diese Häupter wurden durch Räte unterstützt, die aus Oberhäuptern von reichen Familien und aus hervorragenden Kriegern zusammengesetzt waren; doch blieb ihre Autorität fast völlig auf bürgerliche Angelegenheiten beschränkt. Krieg wurde durch das Volk, auf Veranlassung der „Kriegsführer", erklärt, mutiger Männer, von was immer für einer Geburt oder Familie, die sich durch persönlichen Mut und besonders durch Erfolg bei den Plünderungen von Feinden ausgezeichnet hatten. Die Städte, aus denen der Bund der Creek-Indianer bestand, setzten sich aus Angehörigen verschiedener Klans zusammen; jeder wurde durch einen
168
Staatsbildung
bürgerlichen Häuptling oder miko geleitet, dem zwei Räte zur Seite standen. Der Oberhäuptling wurde auf Lebenszeit von einem besonderen Klan gewählt und ernannte den Kriegsoberhäuptling der Stadt. Der Stadtrat gab dem miko Anweisungen in bezug auf die Beziehungen zu anderen Stämmen und für die Ernennung von Unterbeamten, während der Rat der alten Männer sich mit den inneren Angelegenheiten befaßte, wie z. B. mit dem Maisbau. Unter diesen im Rang standen die „lieben Männer" und das gemeine Volk. Den „großen Kriegern" waren zwei Rangstufen von Kriegsführern untergeordnet. Angehörige des gleichen Klans sollen benachbarte Häuser bewohnt haben, und in den größeren Städten waren diese um einen mittleren Platz angeordnet, auf dem sich die Häuser der Häuptlinge, die Rathäuser und der Spielplatz befanden. Doch war der Bund so lose, daß die Entscheidung über Krieg und Frieden bei den einzelnen Städten lag. In Fällen, in denen eine größere Anzahl von Städten sich entschloß, in den Krieg zu ziehen, ernannte eine jede selbst ihren Kriegsherzog. Die am meisten entwickelte Organisation war wohl die der Irokesen, nördlich von dem Land der Pueblos: jeder Stamm setzte sich aus zwei oder drei Abteilungen zusammen, die wieder ein oder mehrere Klans umfaßten, welche nach verschiedenen Tieren oder Gegenständen benannt waren. Die einzelnen Klans bestanden aus einer oder mehreren Verwandtschaftsgruppen (ohwachira). Wenn die Stämme sich zu dem „Bund der fünf Nationen" vereinigten, traten sie in drei Abteilungen von je zwei, zwei und einem Stamm auf. Ursprünglich gab es 48 erbliche Häuptlingstümer in den 5 Stämmen; später stieg deren Zahl auf 50. Jede Häuptlingschaft bezog sich auf eine Großfamilie, eine ohwachira. Die Auswahl der Persönlichkeit, die eine solche Häuptlingsschaft bekleiden sollte, fiel den schwangeren Frauen der betreffenden Großsippe zu, die über die Häuptlingsschaft verfügte. Die Wahl mußte nachher durch den Stammes- und Bundesrat bestätigt werden. Mit jedem Häuptling wurde auch ein Vertreter gewählt, der zusammen mit dem Häuptling im Rate saß und in Kriegszeiten als Führer fungierte. Im Rate des Bundes saß jedoch nur der Häuptling (Hodge 611ff). Von großer Bedeutung sind Wanderungen und die A u s b r e i t u n g einzelner überlegener Völker. Obwohl sie nicht notwendig zu einer politischen Überschichtung unter einer politisch festgelegten Führerschaft Anlaß zu geben brauchen, bleibt doch die Anerkennung einer geistigen Überlegenheit bestehen, die Ansehen und Einfluß verbürgt, wie aus dem folgenden Beispiel hervorgeht. An der atlantischen Küste Südamerikas hatten im 16. Jahrhundert die Tupi-Guarani, oder Caraios(wie Church sagt,) vom nordöstlichen Küstenstrich in der Nachbarschaft von Uruguay bis weit nach Rio de Janeiro Besitz ergriffen. Sie drangen vom Süden her vor und bewegten sich von der Küste nach dem Innern, wo sie die wilderen und primitiveren eingeborenen Stämme der Tapuya vertrieben. Es scheint nicht, daß die Tupi-Guarani Land südlich von der Lagoa dos Patos besetzten. Hier kamen sie in Berührung mit einem großen nomadischen Volk, den Charruas, westlich breiteten sie sich bis an den Fuß der Anden aus, nördlich bis zum Amazonas selbst, an dessen Kata-
Der sakrale Staat mit eigenberechtigten
Adelshäuptern
169
rakten sie z. B . die K o l o n i e der Caraipunas begründeten. Die Besetzung dieser weiten Landstriche bedeutete jedoch nicht einen friedlichen Besitz, sondern im Gegenteil endlose Kämpfe, und zwar nicht allein gegen die primitiveren Völker, die Tapuya, sondern vor allem gegen die nachfolgenden Horden anderer Tupi-Guarani selbst. Unterwegs wurden verschiedene feste Niederlassungen gegründet, wie z. B . am unteren Rio Branco. Insbesondere wurden sie auch Herren der heutigen drei Gebiete von (Britisch-, Holländisch- und Französisch-) Guayana und des Küstenstrichs von dort bis zur Mündung des Amazonas-Stromes, so daß sie schließlich die ganze atlantische Küste von Südamerika vom Delta des Orinoko bis zum Rio de la Plata beherrschten. So durchdringend war ihr Einfluß, daß die Tupi-Sprache sogar an den Ufern des Amazonas weit hinauf gesprochen wird. Als Schiffervolk trieben sie aber Handel auch noch nach Venezuela, Kolumbien, nach den Inseln der karaibischen See, den Antillen und wahrscheinlich nach dem ganzen Golf von Mexiko einschließlich von Florida. Sie stellen die südamerikanischen Wikinger dar (Church [12] 39ff). — Bezüglich afrikanischer Wanderungen vgl. Mgd. [23], vgl. a. Dpp. [1670]; ferner Müller W . M. [03] über die alten Ägypter als Krieger und Eroberer in Asien. — Zur Ausbreitung der ursprünglich (ähnlich wie die Mongolen) militärisch organisierten Chinesen vgl Rsth. [28]. Bei längerem Zusammenleben, Mischungen und Verschiebungen innerhalb und zwischen den ethnischen Gruppen, die dann rangmäßig gestaffelt erscheinen, können die Bewertungen sich ebenfalls, wenigstens örtlich, verschieben. So erhält man ein Bild wie das nachfolgende. Jede Kaste hat z. B . in Indien ihre besondere Sprache mit mehreren Dialekten. Auch das Ansehen der einzelnen Kasten in den verschiedenen Gegenden ist ungleich: der Brahmane ist z. B. im Kanarese-Distrikt angesehener als in der Maratha-Gegend, er wird weniger in Gujerat geehrt und verliert seinen Einfluß im Sind. Der Baniya erhält mehr Ehre im Norden als im Süden. Den Rajput trifft man nicht in Kanara. In Gujerat und Kathiawar ist er nicht zahlreich und augenscheinlich nicht beliebt. In der Gegend von Maratha wird er nur gelobt. — Derartige Wertschätzungen drücken sich auch in den Sprichwörtern aus (Gupte [17] 1). — Vgl. a. Crooke [14], ferner Bg. [08]. § 4. D e r s a k r a l e S t a a t mit e i g e n b e r e c h t i g t e n A d e l s h ä u p t e r n . Ein Beispiel eines extrem sakralen Staates mit eigenberechtigten Häuptern von bevorzugten Familien (Adelshäuptern) sei hier angeführt. Bei den Zuni von Kalifornien liegt die oberste Autorität bei einem Rat, der aus den Regenpriestern der sechs Hauptweltrichtungen besteht, (Norden, Süden, Osten, Westen, Zenith und Nadir), der Priesterin der Fruchtbarkeit, dem Helfer des Priesters des Nordens und zwei Oberkriegspriestern. Der Priester des Nordens steht an der Spitze von ihnen und kann als der H o h e p r i e s t e r der Zuni betrachtet werden. Jeder der männlichen Priester außer dem des Zenith hat Gehilfen, die ihm gewöhnlich folgen. Obgleich die Ernennung eines Gehilfen tatsächlich bei dem einzelnen Priester liegt, wird dieser formell durch den R a t der Neun ernannt. Das Bürgerhaupt, sein Vertreter und die 4 Gehilfen eines jeden werden von den 6 Regenpriestern und den zwei Kriegspriestern er-
170
Staatsbildung
nannt, wenn sich auch manchmal ein Einfluß von außen für oder gegen einen Kandidaten geltend macht. Obschon das Bürgerhaupt mit den meisten zivilen Angelegenheiten befaßt ist, fungiert doch die ernennende Körperschaft der Priester als der entscheidende Gerichtshof in wichtigen Angelegenheiten. Seine Amtsdauer erstreckt sich nur auf ein Jahr, doch kann er wiedergewählt werden. Kriegszüge wurden durch die Kriegspriesterschaft geführt, unter der Kontrolle der zwei Oberkriegspriester (Hodge 610). Daß die führenden Persönlichkeiten vor allem im Umgang mit den transzendenten Mächten Bescheid wissen müssen, ist eine durchgehende Forderung in den frühstaatlichen Organisationen. Im antiken Hellas zeigt sich, wie auch anderwärts, vielfach ein Zustand, den wir als eine Verbindung von Religion und Staat bezeichnen (Nlss. [27]). Im 6. Jahrhundert v. Chr. erscheint der Staat gleichzeitig als Ausdruck einer höchsten Weltordnung, des u6(jlo^, der Richtung weisendes Symbol des gesamten Lebens ist, jedoch an den kleinen Raum der tc6Xi