Die menschliche Arbeitskraft [Reprint 2019 ed.] 9783486723649, 9783486723632


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German Pages 542 [544] Year 1878

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Table of contents :
Inhalt
1. Vorbemerkung
2. Stoffwechsel der lebendigen Substanz
3. Allgemeines über den Krästewechs
4. Quelle der Lebenskräfte
5. Die Reizung
6. Der Erregungsvorgang
7. Der elementare Arbeitsmechanismus
8. Der Gesammtmechanismus
9. Der Ernährungsmechanismus
10. Speise und Trank
11. Die Athmungsluft
12. Der Athmungsmechanismus
13. Blut und Lymphe
14. Der Kreislaufmechanismus
15. Absonderung und Ausscheidung
16. Allgemeines über den Arbeitsmechanismus
17. Die Bewegungsmechanismen
18. Der Seelenmechanismus
19. Die Sinnesmechanismen
20. Die willkürliche Thätigkeit
21. Ermüdung und Erholung
22. Erkältung
23. Erhitzung
24. Wuchs und Haltung
25. Uebung und Gewöhnung
26. Abhärtung
27. Abwechslung
28. Die Berufsarbeit
29. Das Turnen
30. Das Militärwesen
31. Die äußeren Schädlichkeiten
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Die menschliche Arbeitskraft [Reprint 2019 ed.]
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Aaturkräfte. 26. und 27. Band.

Die

menschliche Arbeitskraft. Von

Dr. Gustav Jäger, Professor der Zoologie, Physiologie nnb Anthropologie in Stuttgart.

Mlt 12 HolzsLnitten.

München. Druck und Verlag von R. Oldenbourg.

1878.

Uebersetzungsrechl Vorbehalten.

Anhalt. Seite

1. Vorbemerkung..............................................................................

1

2. Stoffwechsel der lebendigen Substanz..................................

4

3. Allgemeines über den Krästewechsel.............................................. 27 4. Quelle der Lebenskräfte.....................................................................49 5. Die Reizung ................................................................................57 6. Der Errcgungsvorgang....................................... ... 73

7. Der elementare Arbeitsmechanismus.

.

85

8. Der Gcsammtmechanismus............................................................... 99

9. Der Ernährungsmechanismns ..................................................105 10. Speise und Trank........................................................................ 117

11. Die Athmungsluft............................................................................. 142 12. Der Athmungsmechanismus........................................................148 13. Blut und Lymphe........................................................................ 167

14. Der Kreislaufmechanismus............................................................. 181 15. Absonderung und Ausscheidung............................ 205 16. Allgemeines über den Arbeitsmechanismus............................223 17. Die Bewcgungsmechanismen....................................................... 227 18. Der Seelenmechanismus ...................................................................236 19. Die Sinnesmechanismen.................................................................. 251 20. Die willkürliche Thätigkeit............................................................. 259 21. Ermüdung und Erholung............................................................. 274

22. Erkältung.........................................................................................292

23. Erhitzung.............................................................................................. 303 24. Wuchs und Haltung........................................................................ 315 25. Uebung und Gewöhnung............................................................. 324

VI

Inhalt. Seite

26. Abhärtung . ............................................................ 348 27. Abwechslung................................................................................ 364 a) Beschäftigungswechsel................................................................ 367 b) Nahrungswechsel..................................................................... 379 c) Luftwechsel................................................................................ 386 d) Blutwcchsel................................................................................ 399 28. Berufsarbeit..................................................................................... 406 29. Das Turnen................................................................................ 424 30. Das Militärwesen................................ ... . 467 a) Die Kaserne................................................................................ 470 b) Die militärischeErziehung . . 482 31. Die äußeren Schädlichkeiten...........................................................514

Vorbemerkung.

Man war früher der Ansicht, daß die chemischen und Physikalischen Vorgänge, auf welchen der Wechsel von Stoffen und Kräften in lebendigen Körpern besteht, wesentlich anderer Natur seien als die iit den leblosen Körpern, namentlich daß- sie unter dem Einfluß einer eigentlichen sogenannten „Lebenskraft" vor sich gehen. Die Forschung hat diese Annahme von Schritt zu Schritt eingeengt, indem sie einen Vorgang um den andern als die Wirkung der auch in der unorganischen Natur thätigen Kräfte erkannte. Nur für die spezifische Formung des Körpers und die spezifischen Triebe der Organismen muß sie sich gegenwärtig mit der sogenannten „Vererbungskraft" begnügen, für welche bis jetzt noch kaum eine solide Fühlung mit den bekannten Naturkräften gefunden werden ist. Ein ähnlicher Rest unaufgelöster und somit unverständlicher Kräfte ist auf dem Gebiet der Seelenthätigkeiten übrig geblieben, obwohl ein großer Theil der­ selben ohne Zwang auf die bekannten Naturkrüfte zurück­ geführt werden kann. Bei unserer Schilderung lassen wir die eben genannten dunkeln Gebiete bei Seite liegen und beschränken uns auf das, was sicher ermittelt ist, indem schon aus diesem allein sich ein hinreichendes Verständniß für das Wesen und die Bedingungen der menschlichen Arbeitskräfte gewinnen läßt. Jäger, die menschliche Arbeitskraft. 1

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1. Vorbemerkung.

Man hat den Leib des Menschen mit Rücksicht darauf, daß von ihm Kraftleistungen ausgehen, vielfach mit einer Maschine verglichen und ihn eine Kraftmaschine genannt. Dieser Vergleich ist ein sehr nützlicher, das Verständniß er­ leichternder und wir werden im Folgenden gleichfalls von ihm Gebrauch machen, allein wir müssen gleich von vornherein auch auf die wesentlichen Umstände aufmerksam machen, durch welche sich der Menschenleib von einer Maschine unterscheidet. Beide, Menschenleib und Maschine, haben das gemein, daß sie aus einer großen Zahl einzelner Theile zusammen­ gesetzt sind, welche ihre Bewegungen ans einander übertragen und welche im Verhältniß der Leistung und Gegenleistung zu einander stehen. Aber der wesentliche Unterschied besteht darin: Die einzelnen Stücke einer Maschine sind todte Gebilde, welche nichts anderes zu leisten vermögen, als eine ihnen von außen zngesührte Bewegung fortzulciten und auf andere Theile zu übertragen, und in der ganzen Maschine gibt es nur einen einzigen Theil, der wirklich Kräfte erzeugt d. h. freie Bewegungen entbindet: z. B. bei einer Dampfmaschine der Dampfkessel mit seiner Feuerung. Beim Thierkörper gehen nun wohl in den Aufbau der Maschine auch todte oder wenigstens solche Theile ein, welche als todt betrachtet werden können, aber das sind nur sehr wenige und untergeordnete, die meisten Bestandtheile der Körpermaschine sind lebendig d. h. erzeugen in sich neue lebendige freie Bewegungen, so daß wir zu einem andern Vergleich hingedrängt werden, nämlich zu dem mit einem Staatswesen, in welchem ja auch jeder einzelne Theil für sich selbst lebendig ist und Kräfte erzeugt und wo die Gesammtarbeit nur das Resultat der Einzelnthätigkeiten ist, die nach den Prinzipien der Arbeitstheilung und Cooperation zusammenwirken. Der Körper eines höheren Geschöpfes, wie

1. Vorbemerkung.

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cs der Mensch ist, ist nicht eine Maschine sondern ein Staats­ wesen aus Maschinen, ein Maschinenstaat. Daraus folgt, daß die Grundlage eines richtigen Einbticks in das Getriebe des Menschenleibs eine Kenntniß der­ jenigen Lebensvorgänge ist, welche sich in jedem einzelnen Theil des großen Maschinencomplexes abwickeln. Bei dem Wort Theil darf man aber nicht au die groben mit bloßem Auge sichtbaren Stücke, wie Muskeln, Gesäße, Drüsen re. denken, sondern ail die sogenannten Elementarorganismen oder Elementarmaschinen, die so klein sind, daß die meisten derselben denl bloßen Auge gar llicht oder nut’ als Pünktchen oder feinste Fäserchen sichtbar sind. Denn erst aus diesen werden die größeren Formbestandtbeile allfgebaut und ihrer persön­ lichen Lebensthätigkeit verdanken die letzteren, daß sie einer Leistung fähig sind. Diese Elemenlarorganismen sind nicht alle einander gleich, die einen haben die Form von Kügelchen, Scheibchen, vielcckigcn Körpern, Cylindern ?c., die andern die Form von langen Fasern und Bändern, und auch in den: innern Bau und der chemischen Zusammensetzung sind sie sehr mannigfach verschieden; gemeinschaftlich ist ihnen aber allen, daß sie aus einer Substanz bestehen, die wir „lebendig" nennen müssen. Ueber den Bau der lebendigen Substanz läßt sich das Folgende sagen: So verschieden sie bei den vcrschiedcnartigeil Elementarorganismen aussieht, immer besteht sie mehr oder weniger deutlich aus einer sestweichen zusammenhängenden Grundmasse'und seinen unzusammenhängenden Körnchen, die bald regelmäßig bald unregelmäßig gelagert, bald großer bald kleiner, bald kuglich bald eckig gesonnt sind. Diese Substanz, die man auch Protoplaslna nennt, ist der Träger des Lebens, und der Versuch das Leben mit seinen Kräften, Erscheinungen und Bedingungen zu erklären, hat sich zu allererst an sie zu halten.

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1. Vorbemerkung.

Fassen wir die an jeder lebendigen Substanz zu be­ obachtenden Erscheinungen kurz zusammen. Während die todten Naturkörper in chemischer und physi­ kalischer Beziehung ein stabiles Gleichgewicht haben, d. h. den chemischen und • physikalischen Existenzbedingungen sich zwar anbequemen, allein nach gewonnener Anbequemung im Gleichgewicht verharren, zeigt die lebendige Substanz ein auffallend labiles, rhythmischen Störungen unterworfenes Gleichgewicht in chemischer und physikalischer Beziehung, d. h. sie ändert bei gleichbleibenden äußeren Umständen ihre chemische Zusammensetzung durch rhythmische Aufnahme, Umwandlung und Absonderung von Stoffen (Stoffwechsel), und ihren physikalischen Zustand durch rhythmische Aus­ nahme, Umwandlung und Absonderung von Bewegungen und Spannkräften (Kraftwechsel). Das ist wie der Leser sieht eine ganze Reihenfolge ziemlich verwickelter Borgänge, und es ist unerläßlich, jeden derselben zunächst für sich allein der Betrachtung zu unter­ werfen und dann zu sehen, in welchen Beziehungen sie zu einander stehen.

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz. Wie schon angedeutet, besteht derselbe darin, daß in die lebendige Substanz Stoffe eindringen, dort chemisch umge­ wandelt werden und nun in veränderter Zusammensetzung wieder austreten. Dieser Vorgang setzt gewisse Beschaffen­ heiten und Fähigkeiten der lebendigen Substanz und gewisse äußere Umstände voraus, ohne die derselbe nicht möglich ist: wir nennen das erstere die Stoffwechselfähigkeit, und das letztere die Stoffwechselbedingungen.

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz

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Um mit letzteren zu beginnen, so bestehen dieselben der Hauptsache nach darin, daß die lebendige Substanz von einer tropfbaren Flüssigkeit umgeben ist, an welche folgende Anforderungen zu stellen sind. Die Flüssigkeit muß eine wässrige sein, denn in keiner andern tropfbaren Flüssigkeit (Alkohol, Aether, Oelen rc.) kann die lebendige Substanz arbeiten. Andererseits aber darf dieselbe auch kein chemisch reines, destillirtes Wasser sein und zwar aus mehrfachen Gründen: 1. entzieht chemisch reines Wasser der lebendigen Sub­ stanz gewisse für ihre Thätigkeit unentbehrliche Bestandtheile z. B. ihre Salze; 2. ruft es eine so ^hochgradige Quelluug hervor, daß die Regulativusverrichtuugen, von denen der Rhythmus der Lebensthätigkeit abhängig ist, schon mechanisch zerstört werden und Lösungen fester Theile erfolgen, die nothwendig zur Junktiou sind; 3. fehlen dem chemisch reinen Wasser die unten zu er­ wähnenden Stoffe, die das Protoplasma unausgesetzt haben muß, wenn es funktioniren soll. Das destillirte Wasser ist demgemäß als Gift und zwar als ein sehr heftiges zu bezeichueu. Unter den Stoffen, welche das Wasser enthalten muß, wenn es das Leben ermöglichen soll, muß in erster Linie als absolut unerläßlich freier d. h. auspumpbarer Sauer­ stoff genannt werden. In jedem sauerstofflosen Wasser erlischt das Leben des Protoplasmas in verhältnißmäßig kurzer Zeit, wie begreiflich ist, wenn wir wissen, daß die Lebenserscheinungen auf Oxydationen im Innern des Proto­ plasmas beruhen. So sicher das Feuer erstickt, wenn ihm nicht stets freier Sauerstoff zugeführt wird, erlischt auch das Leben ohne steten Nachschub dieses Elementes.

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

In zweiter Linie stehen gelöste feste Stoffe, über die etwas ausführlicher gesprochen werden muß. Wie wir später sehen werden, ist einer der wichtigsten Faktoren nicht blos für das Leben überhaupt, sondern für die Eigenartigkeit des Lebens verschiedener Gewebe und die Energie dieses Lebens ein für jede Protoplasma-Art bestimmter Quellungs­ grad. Jedes Stückchen Protoplasma hat einen eigenen Mechanisnms, von dessen Unversehrtheit seine rhythmischen Funktionen abhängig sind und dieser Mechanismus ist einem bestimmten Volumen des Protoplasma's angepaßt (wovon später). Sobald durch höhere Quellung das Volumen über ein gewisses Maß hinaus vergrößert wird, zerreißt dieser Mechanismus. Wir müssen uns das Protoplasma dabei etwa vorstellcn wie ein Uhrlüerk, das in eine Hülle von Gnmmi festgemacht ist; blasen wir die Hülle über ein gewisses Volumen auf oder pressen wir sie zusammen, so wird der Mechanisnms zerstört. Die umspülende Flüssigkeit inuß also so zusammengesetzt sein, daß sie diese Quellung nicht hervorbringt, eine Eigenschaft, lvelche der Physiologe als Indifferenz bezeichnet. Fest steht, daß Zusatz einer bestimmten Menge von Kochsalz zum Wasser demselben die Eigenschaft der In­ differenz verleiht und dasselbe gilt auch von den andern neutralen Natronsalzen, und es wird uns jetzt begreiflich, warum alle zur Ernährung der Gewebe bestimmten Körper­ säfte Kochsalz und nebstbei andere neutrale Natronsalze ent­ halten. In letzteren betheiligt sich übrigens an der Herstellung der Indifferenz auch noch ein Theil der Stoffe, deren her­ vorragendere Bedeutung darin besteht, daß sie die Nahrung für die lebendige Substanz sind. Es gibt — und zwar auch im menschlichen Körper — Elementarorganismen, welche in stofflicher Beziehung an die

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

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umspülende Flüssigkeit keine anderen Anforderungen als die obengenannten stellen, weil sie im Stande sind, körperliche Gebilde zu verschlingen und sich so Nahrung zu verschaffen. Dessen sind aber die meisten und wichtigsten Elementar­ organismen des Menschenleibs nicht fähig, sie können nur Flüssigkeiten in sich eindringen lassen und für diese ist nun erforderlich, daß die umspülende Flüssigkeit außer den Salzen noch andere feste Stoffe in Lösung enthält, welche die Rolle von Nahrungsstoffen spielen können und zwar darum: Das Leben besteht darin, daß von der lebendigen Sub­ stanz fortwährend Leistungen ausgchen in Form von stoff­ lichen Absonderungen und freien Bewegungen, ohne daß die Substanz selbst weniger wird. Da aus Nichts auch Nichts wird, so erfordert die Produktion der Leistungen einen steten Materialnachschub und in dem Stück vergleicht sich die lebendige Substanz mit dem Dampfkessel einer Maschine, der ebensowenig Leistungen erzeugen kann, wenn ihm nicht fort­ während neues Heizmaterial zugeführt wird. Man kann die Nothwendigkeit der Zufuhr auch von anderem Standpunkt aus begründen. 1. Bewirkt der aus dem umspülenden Medium ein­ dringende Sauerstoff eine fortdauernde oxydative Zerstörung der die lebendige Substanz bildenden Stoffe (Gewebsbildner), und dieser Abgang muß ersetzt werden. 2. Bedarf das Protoplasma gegen die zerstörende Ein­ wirkung des Sauerstoffes auf seine Gewebsbildner eines gewissen Schutzes, der dadurch geleistet wird, daß demselben stets Stoffe zugeführt werden, welche leichter oxydirbar sind als die Gewebsbildner und deshalb den Sauerstoff (natürlich nicht allen) neutralisiren (Brennstoffe). 3. Werden bei dem Vorgang der Absonderung nicht nur die Zerfallprodukte der Gewebsbildner und Brennstoffe fortgeführt, sondern mit ihnen auch gewisse Stoffe, ins-

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

besondere Salze, welche ersetzt werden müssen, weil sie für die Aufrechterhaltung des Mischungszustandes der Quellungs­ flüssigkeit des Protoplasmas und der Mechanik und Chemik des Protoplasmas erforderlich sind. Im einzelnen handelt es sich bei diesem Nachschub um folgende Stoffe: 1. Eiweißstoffe (Albuminate) oder eiweißühnliche Stoffe (Albuminoide), die man auch zusammenfassend stick­ stoffhaltige Nährstoffe nennt, weil in ihrem Molekular­ aufbau der Stickstoff eine grundlegende Rolle spielt. Ihre Zufuhr ist hauptsächlich erforderlich, weil die festen mechanisch arbeitenden Bestandtheile der lebendigen Substanz Eiweiß­ stoffe sind (Organ-Eiweiß). 2. Kohlenhydrate und zwar die löslichen Formen derselben, die wir Zucker arten nennen. Als sehr leicht verbrennbare Substanzen sind sie besonders bestimmt die Icbciibtgc Substanz vor den zu heftigen Einwirkungen des Sauerstoffs zu beschützen und eine andere Seite derselben ist, daß sie bei ihrer Verbrennung große Mengen lebendiger Kräfte entwickeln, also in hohem Maße zu den Kraftleistungen beisteuern, welche von der lebendigen Substanz ausgchen. 3. Neutralfettc oder deren Seifen. Ihre Bedeutung ist eine ähnliche wie die der Kohlenhydrates sie haben eine große Verwandtschaft zum Sauerstoff und entbinden bei ihrer Oxydation bedeutende Mengen von freien Kräften, bethei­ ligen sich also sowohl an der Erzeugung der Kraftleistungen als an der Beschützung der Gewebsbildner vor den zer­ störenden Einwirkungen des Sauerstoffs. Sie unterscheiden sich aber von den Kohlenhydraten darin: einmal geht ihre Oxydation viel langsamer von Statten, sie leisten mithin viel nachhaltigere Dienste als die rasch verpuffenden Zuckerarten. Dann entbinden sie fast 1,7 mal so viel Kräfte als letztere, wodurch die Langsamkeit der Verbrennung reich-

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

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lief) ersetzt wird. Endlich haben sie den Vorzug, daß ihre Verbrennungsprodukte die Erregbarkeit der lebendigen Sub­ stanz nicht so stark beeinträchtigen, wie es die aus dem Zucker in erster Linie entstehende Milchsäure thut. Insofern aber steht das Fett in seiner Bedeutung den Zuckerarten nach, als es nicht so rasch und in solcher Menge in die lebendige Substanz eindringen kann, wie die leicht diffundirbaren Zuckerarten und daß es deshalb weder bei der Abstumpfung des Sauerstoffs noch bei der Krafterzeugung so prompt wirkt. Diese Umstände bedingen, daß Zucker und Fett als Nahrung für die lebendige Substanz sich zwar eine Zeit lang vertreten können, aber nicht für die Dauer und nicht unter allen Verhältnissen. Soll die umspülende Flüssigkeit allen An­ forderungen des Lebens entsprechen, so muß sie beide Stoffe enthalten und das ist auch bei den Gewebssäften der Fall.

4. Betreffs der Salze haben wir schon früher solche erwähnt, die der Indifferenz halb in der Flüssigkeit enthalten sein müssen (Kochsalz und andere Natronsalze); hinzu kommen noch gewisse Salze, die man als Nähr salze zu bezeichnen hat, weil sie eine nicht unwichtige später zu beschreibende Rolle zu spielen haben, es sind das insbesondere die Kalisalze. 5. Eine weitere Stoffgruppe, die dem umspülenden Medium nicht abgehen darf, sind gewisse spezifische d. h. für die verschiedenen Thierarten verschiedene, chemisch reizende organische Stoffe, die man als Schmeck- oder Riechstoffe be­ zeichnen kann, weil sie auf die beiden chemischen Sinne ganz besonders einwirken. Welche Bedeutung ihnen zukommt, dafür Näheres bei der Mechanik der Stoffaufnahme. Haben wir im bisherigen kurz aufgeführt, was die Flüssigkeit an Stoffen enthalten muß, wenn sie das Leben der lebendigen Substanz erhalten soll können, so muß nun auch kurz gesagt werden, was sie nicht enthalten darf. Das

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

ist nun zwar sehr mannigerlei, allein doch läßt es sich unter einige Gesichtspunkte bringen.

1. Darf die umspülende Flüssigkeit von denjenigen Stoffen, welche in der lebendigen Substanz durch den chemi­ schen Umsatz der Nahrungsstoffe und des Sauerstoffes ge­ bildet werden, also von den sog. Exkretstoffen nur sehr geringe Mengen enthalten, denn dieselben sind nicht nur nicht int Stande das Leben zu erhalten, sondern sie wirken theils geradezu giftig, theils wenigstens lähmend oder einmüdend. Diese Stoffe sind Kohlensäure, verschiedene or­ ganische Säuren und zwar theils flüchtige (riechende, sog. Ausdünstungsstoffe) theils fixe wie die Milchsäure, saure Salze, insbesondere saures phosphorsaures Kali und von stickstoffhaltigen Verbindungen insbesondere der Harnstoff. Sobald diese Stoffe sich in größerem Betrag in der Er­ nährungsflüssigkeit aufhäufen, so nimmt die Energie der Lebenserscheinungen ab und hört schließlich ganz aus. 2. Muß die Flüssigkeit frei sein von gewissen Stoffen, die man wegen ihrer verderblichen Wirkungen auf die leben­ dige Substanz Gifte nennt. Ihre Aufzählung würde uns hier zu weit führen. Endlich ist für die stoffliche Zusammensetzung der Flüssigkeit auch die Menge, *in welche die Stoffe in ihr gelöst sind, ihr Concentrationsgrad von großer Wichtig­ keit, denn auch von ihm hängt es ab, ob sie die Eigenschaft der Indifferenz besitzt oder nicht. Außer den genannten stofflichen Erfordernissen sind auch einige physikalische anzuführen. 1. Muß die umspülende Flüssigkeit einen gewissen Wärmegrad besitzen, welcher beim Menschen und den sog. warmblütigen Thieren einen sehr engen Spielraum besitzt. Nach den gemachten Versuchen stirbt ein warmblütiges Thier, wenn seine Temperatur auf -f-15° 0/gefallen oder auf

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

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+ 45° C. gestiegen ist. Die zuträglichste Wärme ist 37,5° C.f die wir denn auch im gesunden Zustand überall im mensch­ lichen Körper finden mit der Ausnahme, daß die Oberfläche etwas kühler ist. 2. Muß die Flüssigkeit unter so großem Druck stehen^ daß sie den absolut nöthigen Sauerstoff festhalten faniu Deshalb hat das Leben eine Grenze in Bezug auf die Meereshöhe, und bei Versuchen sich über diese zu erheben^ erlischt das Leben. 3. Ein entschieden wichtiger Faktor ist der Bewegungs­ zustand des umspülenden Mediums. Absolute Ruhe des­ selben scheint für alle lebendigen Substanzen auf die Dauer verhängnißvoll zu sein und zwar aus verschiedenen Gründen: a) weil die chemischen Verbindungen, die das Proto­ plasma in seinem Innern erzeugt und an das umspülende Medium abgibt, ohne Bewegung dieses Mediums nicht rasch genug durch bloße Diffusion weggeführt werden können, und die Abfuhr ist nöthig, weil diesen Stoffen die Eigenschaft der Indifferenz nicht zukommt, sie sind, wie schon oben gesagt, Gifte oder Ermüdungsstoffe; b) weil dasProtoplasma dem umspülenden Medium den freien Sauer­ stoff entzieht und die Diffusionsgeschwindigkeit des letzteren nicht groß genug ist, um bei absoluter Stagnation den nöthigen Nachschub zu liefern; c) weil die lebendige Sub­ stanz der Flüssigkeit auch die Nährstoffe nach und nach ent­ zieht und diese ebenfalls auf dem Wege der Diffusion allein nicht in genügender Menge herangeschafst werden können. Aus diesen Gründen ist es nöthig, daß stets neue Portionen des Mediums mit dem Protoplasma in Berührung kommen, was allerdings- auf zweifache Weise geschehen kann: wenn das Protoplasma ruht, so muß sich das Medium be­ wegen, oder wenn letzteres ruht, so muß das Protoplasma in ihm sich fortbewegen.

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz

Für die Elementarorganismen, welche den menschlichen Leib aufbauen, ist die eben geschilderte Flüssigkeit das Blut, -sowie der aus ihm durch Abfiltration gebildete Gewebssaft und die Lymphe, aber mit der Einschränkung, daß das Blut Lils Vermittler zwischen den verschiedenartigen Bedürfnissen aller den Körper belebenden Elementarorganismen noch einige andere Erfordernisse erfüllen muß, die wir erst dann be­ sprechen werden, wenn wir an die Wechselbeziehungen der Körpertheile kommen. Fassen wir das Gesagte kurz zusammen, so ist die Auf-rechterhaltung der Lebensthätigkeit der lebendigen Substanz Nation abhängig, daß dieselbe in einem fortgesetzten Stoff­ verkehr mit einer sie umspülenden wässrigen Flüssigkeit stehen tonn, die ihr alle Stoffe, welche sie braucht, liefert und alle Stoffe, die sie durch ihren Chemismus gebildet, auch wieder abnimmt. Diese Stoffe sind theils Gase theils fixe in Lösung befindliche chemische Verbindungen. Den Stoff­ wechsel der Gase nennt man die Athmung und zwar speziell die Gewebsathmung (im Gegensatz zu der Blutathmung und äußeren Athmung, die beide sociologische später zu schil­ dernde Vorgänge sind). Beim Stoffwechsel der festen Stoffe unterscheidet man die Aufnahme als Ernährung von der Abgabe, die man Absonderung nennt. Wie aus dem Vorigen ersichtlich, beruht der Stoffwechsel auf dem Verkehr der lebendigen Substanz mit einer wässe­ rigen Flüssigkeit beziehungsweise den in derselben gelösten Stoffen. Dieser Verkehr ist nur verständlich, wenn wir die­ jenigen Gesetze kennen, von denen der Stoffverkehr auch außerhalb des Körpers beherrscht wird. Die wichtigsten derselben sind die Gesetze der Diffu­ sion, die eine Consequenz der allgemeinen Anziehung sind, welche alle Stoffe auf einander ausüben und sich in folgen­ den Erscheinungen äußern:

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

ir

1. Zwei Flüssigkeiten (tropfbare ober gasförmige) durchdringen sich, vorausgesetzt, daß sie überhaupt mischungs­ fähig sind, auch ohne Vermittelung der chemischen Verlpandtschaft und mechanischer Erschütterung und ohne daß dabei eine chemische Verbindung vor sich geht, gegenseitig so innig, daß schließlich der ursprünglich nur von einer derselben ein­ genommene Raum von einer gleichmäßigen Mischung beider erfüllt wird: Diffusion im engeren Sinne des Wortes2. Bei den Beziehungen zwischen einer Flüssigkeit und einem festen Körper sind zwei Fälle aus einander zu halten: a) Ueberwiegt die Adhäsion der Moleküle der Flüssigkeit an die des festen Stosses über die Cohäsion, mit welchem sich die Moleküle des festen Körpers festhalten, so diffundirt der feste Körper in die Flüssigkeit: Lösung. b) Ist der Körper in der Flüssigkeit nicht löslich, so ist zweierlei möglich: entweder verhalten sie sich ganz indifferent, oder es findet ein einseitiger Austausch statt, d. h. es dringt Flüssigkeit zwischen die Moleküle des festen Körpers, so daß dieser sein Volumen vergrößert: Quellung. Wir müssen uns diese dreierlei Diffusionsvorgänge — die Diffusion im engeren Sinn, die Lösung und die Quel­ lung — noch im einzelnen besprechen. Bei der ersteren sind zwei Fälle zu unterscheiden: a) ent­ weder sind beide Flüssigkeiten im tropfbaren Zustand: den Verkehr solcher heißt man die Hydrodiffussion; b) ober die eine Flüssigkeit ist im tropfbaren Zustand, die andere int gasförmigen. Hier bezeichnet man das Eindringen bc& Gases in die Flüssigkeit als Gasabsorption, den Wieder­ austritt als Gasaushauchung, während der Uebertritt von Wasser in das Gas als Verdunstung bezeichnet wirdFür die Gasabsorption gilt Folgendes: Jede tropf­ bare Flüssigkeit nimmt unter sonst gleichen Verhältnissen von

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

jedem Gase, mit dem sie in Berührung steht, ein ganz be­ stimmtes Volumen auf. Allein dieses ist je nach der Natur -es Gases oder der Flüssigkeit verschieden groß und für ein und dasselbe Paar von Gas und Flüssigkeit nimmt die absorbirte Menge mit steigender Temperatur ab, mit steigendem Drucke zu. Hat eine Flüssigkeit unter bestimmten Verhält­ nissen Gase absorbirt und ändert sich Druck und Temperatur derart, daß unter diesen Verhältnissen nur ein geringeres Gasquantum absorbirt werden könnte, so entweicht dieser Neberschuß aus der tropfbaren Flüssigkeit in die darüber­ stehende Gasschicht: Gasaushauchung. Da mit dem Druck das Volumen eines Gases in geradem Verhältniß steht, so kann man den Satz auch so formuliren: Bei gleicher Temperatur nimmt eine bestimmte Flüssigkeit von einer be­

stimmten darüber stehenden Gasart stets gleiche Volumina auf und die Ziffer, welche dieses Verhältniß bezeichnet, wird der Absorptionseoefficicnl genannt. Z. B. der Abforptionscoeffizient für Wasser und Kohlensäure ist bei 0° Temperatur 1,7967, bei 20° Temperatur 0,9; für Wasser und Sauerstoff bei 00 0,041, bei 200 0,02838. Sobald eine Flüssigkeit die ihrem Absorptionscoefficienten und der ge­ gebenen Temperatur entsprechende Gasmengc ausgenommen hat, heißt sie gesättigt. Diese Sättigung ist sofort auf­ gehoben, sobald ein Theil des Gases in der Flüssigkeit chemisch gebunden wird; sie nimmt dann für jedes gebundene Volum ein neues auf, sofern nicht durch die neu entstandene chemische Verbindung der Absorptionscoefficient der Flüssig­ keit verändert worden ist. Die' Gasabsorption und Gasaus­ hauchung ,spielt bei der äußeren Athmung des Gesammtkörpers eine wichtige Rolle; bei der Gewebsathmung dagegen komnrt das Gesetz in Betracht, daß zwei sich berührende Flüssigkeiten ihre Gase gegen einander austauschen. Sobald in der Flüssigkeit a die Gasmenge geringer wird als in b,

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

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diffundirt Gas von b in a; steigt dagegen in a die Gas­ menge höher, als sie in b ist, so diffundirt Gas von a in b. Die Diffusion tropfbarer Flüssigkeiten in Gasarten heißt Verdunstung. Der Betrag derselben, der für ein und dasselbe Paar von Gas und Flüssigkeit unter gleichen Um­ stünden gleich, für verschiedene Gas- und Flüssigkeitscombi­ nationen verschieden ist, nimmt bei einer und derselben Combination mit der Temperatur zu und ab mit zunehmen­ dem Sättigungsgrade des Gases mit Dampf, so daß dieser Betrag in einem bestimmten Punkte gleich Null wird: Sät­ tigungspunkt. Man sagt jetzt auch: die Dampfspan­ nung, die durch den Druck einer Quecksilbersäule gemessen werden kann, habe ihr Maximum erreicht. Jede Flüssigkeit besitzt eine bestimmte Dampfspannug, von der es abhängt, wie viel Flüssigkeit nöthig ist, um eine bestimmte Gasart bei bestimmter Temperatur mit Dampf zu sättigen. Der Druck, unter dem die Gasart selbst steht, wirkt in so fern auf die Verdunstung, als deren Geschwindigkeit bei steigen­ dem Druck abnimmt. Bei der Verdunstung wird Wärme gebunden. Der Verdunstung ist der Körper des Menschen im ganzen zwar nicht immer aber doch meistens ausgesetzt, da die ihn umgebende Luft in der Regel nicht mit Wasscrdanlpf gesättigt ist. Unter Lösung versteht man die Diffusion fester Stoffe in tropfbare Flüssigkeiten, wobei der feste Körper zergeht, seine Moleküle sich von einander entfernen und sich zwischen die Moleküle der Flüssigkeit lagern. Lösung tritt ein, wenn die Cohäsion der Moleküle des festen Körpers von der Ad­ häsion derselben an die Flüssigkeitsmoleküle übertroffen wird. Die Lösung erfolgt ebenfalls in bestimmten Verhältnissen, welche mit der Natur der Flüssigkeit und des festen Stoffes wechseln. Von weiterem Einfluß ist die Temperatur, indem

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

im allgemeinen mit steigender Temperatur die Löslichkeit eines bestimmten festen Körpers steigt; manche Stoffe da­

gegen lösen sich bei allen Temperaturen in gleichen Mengen, manche andere sind sogar bei niedriger Temperatur löslicher als bei höherer. Bei jeder Lösung wird Wärme gebunden und zwar mehr als bei der Schmelzung des festen Stoffes, und um so mehr, je größer die Verdünnung ist. Da das spezifische Gewicht einer Lösung stets höher ist als das aus der Flüssigkeit und dem festen Stoff berechnete mittlere, und da der Gefrierpunkt und Siedepunkt der Flüssigkeit erniedrigt beziehungsweise erhöht wird, so hat man es mit einer inni­ geren Bindung zwischen den Molekülen des Lösungsmittels und des gelösten Stoffes zu thun. Die Löslichkeit eines Stoffes in einer Flüssigkeit wird bald erhöht bald erniedrigt, wenn in der letzteren bereits ein anderer Stoff gelöst ist; sie kann aber auch unverändert

bleiben. Ein Mittelding zwischen Lösung und Quellung zeigen die sogenannten colloiden Stoffe, zu denen die wichtigsten organischen Verbindungen (Albuminate :c.) gehören; hier ist die Cohäsion der Moleküle des festen Stoffes nicht völlig überwunden. Die Stoffe, welche echte Lösungen geben, nennt man im Gegensatze hiezu Krystalloide. Diffusion von Flüssigkeiten in feste Stoffe heißt Quellung, Imbibition, und es ist eine charakteristische Eigenschaft aller die thierischen und pflanzlichen Gewebe bildenden Stoffe, daß sie besonders quellungsfähig sind. Jeder quellungsfähige Stoff nimmt aus einer bestimmtcu Flüssigkeit eine endliche Menge in sich auf (Quellungsmaximum), wodurch ein bestimmtes Quellungsv erhältniß gegeben ist. Dieses Quellungsverhältniß wechselt je nach der Natur der Flüssigkeit und des quellbaren Stoffes, ferner mit der Temperatur und dem Grade, sowie der Dauer

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

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der Austrocknung, in der der feste Stoff' vor dem Beginn der Quellung sich befand.

Quellungssähige Körper sind auch hygroskopisch, d. h. sie ziehen den in der Luft vorhandenen Wasserdampf an und verwenden ihn zur Quellung. Alle thierischen Stoffe sind in hohem Grade hygroskopisch.

Von der Quellungsflüssigkeit kann ein Theil durch Druck leicht ausgepreßt werden, ein anderer widersteht den kräftig­ sten Druckwirkungen. Dasselbe Verhalten besteht gegenüber der Entwässerung durch Wärme: Ein Theil entweicht sehr leicht schon bei gewöhnlicher Temperatur, während ein an­ derer erst bei hoher Temperatur verdrängt werden kann.

Wenn die Quellungsflüssigkeit eine Lösung ist, so ändern sich die Quellungsmaxima sowohl mit der Natur als mit dem Prozentgehalt des gelösten Stoffes. Z. B. wenn trockene Harnblase von Wasser 3,1 Theile aufnimmt, so nimmt sie von einer 9 /o gen Kochsalzlösung 2,88 und von einer 13,5 % gen nur 2,35 Theile auf; getrockneter Herzbeutel nimmt von einer 5,5 % gen Kochsalzlösung 1,35, von einer eben solchen Glau­ bersalzlösung 1,15 Theile auf.

Weiter zeigt sich, daß der in den gequollenen Körper aufgenommene Theil der Lösung stets eine geringere Con­ centration besitzt als die zurückbleibende, umspülende Flüssig­ keit; zwar ist dieses Verhältniß entweder ein constantes, oder es wechselt mit dem Prozentgehalt der Lösung. Dies gilt jedoch nur von demjenigen Theil der aufgenommenen Lösung, welcher sich durch Auspressen nicht entfernen läßt; der aus­ preßbare Theil hat den gleichen Prozentgehalt wie die um­ spülende Flüssigkeit. Diffundiren gleichzeitig zwei Lösungen in einen quell­ baren Körper, so werden die Quellungsverhältnisse der einen durch die der andern alterirt, wenn beide Lösungen mischbar Jäger, die menschliche Arbeitskraft.

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

sind. Sind dagegen zwei Lösungen oder Flüssigkeiten nicht mischbar, so ist zweierlei möglich: a) die zuerst eingedrungene Flüssigkeit verhindert die andere am Eindringen, z. B. ein wässrig imbibirter Stoff verhindert die Imbibition durch Oel und umgekehrt; b) es wird die zuerst imbibirte Flüssigkeit durch eine nachfolgende verdrängt, z. B. Alkohol durch ätherische Oele (wovon man in der Conservirungstechnik Gebrauch macht).

Unter Hydrodiffusion versteht man die gegenseitige Diffusion zweier tropfbarer Flüssigkeiten oder Lösungen üi einander, unabhängig von Erschütterung, spezifischem Ge­ wicht re. Der Endeffekt, der eine völlige Ausgleichung der Unterschiede ist, hängt in seiner Geschwindigkeit ab: 1. von der Natur des gelösten Stoffes und der bezüg­ lichen Flüssigkeiten, 2. von der Temperatur, indem die Geschwindigkeit mit der Temperatur steigt.

Der einfachste Fall ist Diffusion einer wässrigen Lösung in Wasser. Hier ist die Geschwindigkeit einmal abhängig von der Natur des gelösten Stoffes. In dieser Beziehung besteht ein höchst bemerkenswerther Gegensatz zwischen den sogenannten colloiden und krystalloiden Substanzen, indem die ersteren eine viel geringere Diffusions­ geschwindigkeit haben als die letzteren. Z. B. wenn die des colloiden Eiweißes gleich 1 gesetzt wird, so ist die von dem ebenfalls noch colloiden Gummi = 4,30, die des krystalloiden Rohrzuckers = 8,68, die des krystalloiden Kochsalzes —19,05. Concentrirtere Lösungen diffundiren rascher als verdünntere.

Aus einem Lösungsgemenge diffundirt jeder Stoff für sich, d. h. als wäre er für sich allein gelöst.

Die für die Lebensvorgänge wichtigste Hydrodiffusion ist die Osmose, d. h. die Diffusion zweier Lösungen oder

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Flüssigkeiten, die durch eine Membran geschieden sind, in der nur intramolekulare Poren Vorkommen. Bedingung der Osmose ist: a) daß die beiden Flüssig­ keiten verschiedenartig sind, b) daß dieselben die Membran imbibiren können; c) für die Osmose eines gelösten Stoffes ist Bedingung, daß jenseits der Membran eine ihn lösende Flüssigkeit sich befindet, die eine Anziehung auf ihn ausübt und daß seine Moleküle nicht größer sind als die Poren der Membran. Hierbei fand Traube, daß die Poren einer Membran stets etwas kleiner sind als die Moleküle des Mem­ branbildners; daß die Größe des Moleküls eines Körpers in geradem Verhältniß steht zu seinem Atomgewicht; daß also kein Stoff durch eine Membran diffundirt, der ein gleiches oder höheres Atomgewicht hat als der Membran­ bildner; daß der Membranbildner durch die von ihm selbst gebildete Membran nicht diffundiren kann; daß endlich ein Stoff um so leichter diffundirt, je kleiner seine Moleküle im Verhältniß zu denen des Membranbildners sind. Da die thierischen Membranen aus colloiden Verbindungen bestehen, so diffundiren colloide Lösungen schwer oder gar nicht, da­ gegen die niederatomigen Krystalloide leicht. Hierauf beruht

die Scheidung beider aus Lösungsgemischen mittelst der Dialyse. Sind die Bedingungen zur Osmose vorhanden, so sind die Erscheinungen folgende: 1. Die beiden Flüssigkeiten mischen sich durch die Mem­ bran hindurch ganz unabhängig von hydrostatischem Druck, ja sogar gegen denselben, bis zu völliger Gleichheit vermittelst sich kreuzender Ströme. 2. Die sich kreuzenden Ströme sind in ihrer Stärke meist nicht gleich. Hat man z. B. einerseits eine Lösung eines festen Stoffes, andrerseits nur dessen Lösungsmittel, so sind die Mengen, welche von dem.Stoff in das Lösungs-

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz,

mittel und von diesem zurück in die Lösung gehen, nicht gleich und das Gewichtsverhältniß wird das endosmotische Aequivalent des betreffenden gelösten Stoffes genannt. 3. Das endosmotische Aequivalent ist um so größer, je größer die Differenz im Atomgewicht zwischen Membran­ bildner und gelöstem Stoff und je größer die Anziehung ist, welche zwischen Lösungsmittel und gelöstem Stoff besteht. 4. Die Zeit, welche bis zu völliger Ausgleichung beider Ströme verstreicht, steigt mit der Dicke der Membran und verkürzt sich mit steigender Temperatur und steigendem endosmotischen Aequivalent. ‘ 5. Die Geschwindigkeit der Diffusionsströme ist um so größer, je größer die quantitative chemische Differenz ist; dieselbe nimmt also im Verlauf der Osmose gradatim ab. Außerdem ist sie um so größer, je größer das endosmotische Aequivalent. Die osmotischen Erscheinungen spielen eine äußerst wichtige Rolle beim Stoffwechsel der Organismen, sind aber, wie wir später sehen werden, beim lebenden Protoplasma ganz erheblich modifieirt. Membranen, welche außer den intramolekularen Poren auch noch gröbere, sogenannte Strukturporen besitzen (und die meisten thierischen Membranen sind solche), zeigen außer der Osmose noch die Erscheinungen der Filtration," d. h. sie lassen eine Flüssigkeit auch dann durch, wenn auf der andern Seite kein anziehend wirkendes Lösungsmittel sich befindet, vorausgesetzt, daß die Flüssigkeit unter einem gewissen Druck sich befindet, der nicht durch Gegendruck völlig aufgehoben ist. Die Menge der filtrirenden Flüssigkeit steigt a) mit der Größe des Spannungsunterschiedes, was natürlich sowohl durch Steigerung des inneren Druckes als durch Minderung des Gegendruckes hervorgebracht wird,

b) mit der Porosität der Membran.

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

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Echte Lösungen (als solche sind die von krystalloiden Stoffen zu betrachten) gehen in der Regel unverändert durch die Membran; bei unechten Lösungen (als solche sind die von colloiden Stoffen zu betrachten) filtrirten entweder, bei geringem Druck, nur das Lösungsmittel und die etwa bei­ gemischten krystalloiden Stoffe, während von dem colloiden Stoffe gar nichts durchgeht; oder, bei stärkerem Druck, ein der Drucksteigerung parallel gehendes Quantum des colloiden Stoffes, allein so, daß die zurückbleibende Lösung stets ge­ sättigter ist als die filtrirte. So läßt die Blutgefäßwand bei schwächerem Druck nur das Wasser und die Krystalloide (Salze, Extraktivstoffe rc.) des Blutes durch, und erst bei höherem geringe Mengen von Eiweis, Fibrinogen rc. Nach diesen Vorbemerkungen können wir an die Be­ trachtung der Stoffwechselmechanik der lebendigen Substanz gehen, bei welcher die obigen Gesetze mitwirken, aber man­ nigfach verändert durch die eigenthümlichen Fähigkeiten der lebendigen Substanz. Besprechen wir zuerst die Athmung. Gegenstand der Gasaufnahme ist, wie schon früher ge­ sagt, der Sauerstoff. Nach den Gesetzen der Gasabsorp­ tion muß überall da Sauerstoff eindringen, wo keiner oder zu wenig ist, und da die lebendige Substanz den Sauerstoff, der in sie eingedrungen ist, als solchen verschwinden läßt, indem sie ihn zu Oxydationen verwendet, so muß stets Sauer­ stoff nachdringen. Allein das ist nur zum geringsten Theil das Motiv der Sauerstoffaufnahme, das weit stärkere ist, daß die lebendige Substanz eine von den gewöhnlichen Absorp­ tionsgesetzen unabhängige sehr starke Anziehungskraft für den freien Sauerstoff hat und zwar so, daß es der umspülenden Flüssigkeit auch den letzten Rest davon zu entziehen vermag. Bei der Gewebsathmung sind dafür zwei Etappen ge­ geben: die gefärbten Blutzellen besitzen bereits diese starke Anziehungskraft, die einem bestimmten Bestandtheil derselben,

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

dem rothen Farbstoff (Hämoglobin), zukommt, und damit ent­ ziehen sie der Athemluft den Sauerstoff. Die lebendige Sub­ stanz der Gewebe übertrifft aber das Blutroth an Anziehungs­ kraft und nimmt ihm den Sauerstoff zu eigenen Gunsten ab. Derselbe wird jedoch hier nicht sofort völlig verbraucht, sondern es stndet, namentlich wenn die Substanz im Zustand der Ruhe bleibt, eine Aufspeicherung des Sauerstoffes statt. Im Gegensatz zu der Aktivität der lebendigen Sub­ stanz gegenüber dem Sauerstoff steht die Passivität desselben gegenüber der Kohlensäure; diese unterliegt deshalb völlig den oben erörterten Gesetzen der Gasdiffusion: Da in der lebendigen Substanz fortwährend Kohlensäure ent­ steht, so wird anhaltend solche an das umgebende Medium abgegeben, sofern in diesem der Druck der Kohlensäure ge­ ringer ist als in der lebendigen Substanz (Ausathmung). Bei dem Verkehr der f e st e n S t o f f e, den die lebendige Substanz der Körpergewebe mit den nährstoffhaltigen Flüssig­ keiten des Körpers unterhält, wird die Stoffaufnahme, auf der die Gewebsernährung beruht, Aufsaugung (Resorp­ tion) genannt. Hiebei denkt man natürlich zunächst an die oben beschriebenen Vorgänge der Osmose und Quellung. Diese sind deshalb möglich, weil das Protoplasma eine poröse, von wässriger Lösung imbibirte Membran ist, also in sich eine Quellungsflüssigkeit enthält, deren Zunahme durch endosmotischen Verkehr mit dem umspülenden Medium nichts im Wege zu stehen scheint. Der Versuch lehrt jedoch sogleich, daß dieser Verkehr sich im lebenden Protoplasma völlig anders gestaltet als in todten Membranen: I. Ranke hat nachgewiesen, daß das Protoplasma nur dann durch Quellung gelöste Stoffe in sich aufnimmt, wenn seine Lebensenergie geschwächt oder ganz vernichtet ist. Hierbei ist es nach ihm gleichgültig, ob diese Schwächung

2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

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der Lebensenergie durch- die zur Imbibition dargebotenen, von außen eindringenden Stoffe erzeugt wird, oder ob innere physiologische Zustände die Lebensenergie alteriren. (I. Rankens Jmbibitionsgesetz.) Die erste Art der Jmbibitionsursachen ist also eine be­ stimmte Beschaffenheit des umspülenden Mediums. Wir ver­ langten von demselben früher Indifferenz. Dies muß nun des Näheren dahin erläutert werden: Sobald diese In­ differenz durch Beimengung von Stoffen, welche die Lebens­ energie des Protoplasma's herabsetzen, vermindert wird, tritt Resorption ein. Solche Beimengungen sind alle, welche einen schwachen sauren oder einen stärkeren alkalischen Zustand des Mediums veranlassen, ferner die Kalisalze, und wahrschein­ lich gehören auch dahin die zahlreichen Geschmacks- und Ge­ ruchstoffe, die ein Nahrungsmittel enthalten muß, wenn es von einem Thiere ausgenommen werden soll, obwohl bei diesen noch die Wirkung auf die Absonderung der Verdau­

ungssäfte hinzukommt (wovon später). Die zweite Art der Aufsaugungsursachen, die inneren, sind vor allem die durch die Lebensreize erzeugten Stoff­ wechselvorgänge, die, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, das Auftreten von schwachen Säuren und sauren Salzen im Innern der Protoplasma's zur Folge haben. Ihre Anwesen­ heit vermehrt sofort die Quellbarkeit des Protoplasmas's, so daß dasselbe jetzt auch aus einer indifferenten Flüssigkeit neue Mengen aufnimmt. Daraus erhellt die absolute Noth­ wendigkeit der rhythmischen Einwirkung der Lebensreize für die Stoffwechselvorgänge, wovon später gesprochen werden soll. Die Kehrseite dieser Stoffaufnahme durch Quelluug in Folge einer Schwächung der Lebensenergie des Protoplasma's ist die parallel damit gehende Stoffabgabe oder Abson­ derung. Die Stoffe, deren Entfernung aus dem Proto­ plasma stattfinden muß, wenn es weiter funktioniren soll,

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz,

sind eben diejenigen, deren Anwesenheit seine Lebensenergie schwächt und es in den Zustand der Ermüdung versetzt, also die bei der Protoplasma-Arbeit entstehenden Säuren und sauren Salzen, die I. Ranke deshalb als Ermüdungs­ stoffe bezeichnet. Indem sie jenen der Aufsaugung günstigen Zustand des Protoplasma's herbeiführen, entwickeln sie zu­ gleich einen lebhafteren osmotischen Verkehr, durch welchen die Ermüdungspoffe nach außen in das umspülende Medium austreten. Hierdurch wird die Lebensenergie wieder herge­ stellt und kehrt das Protoplasma in den Zustand der In­ differenz gegen das umspülende Medium zurück. Bei der Absonderung kommt jedoch nicht nur die Dif­ fusion während des Zustandes gelähmter Lebensenergie in Betracht, sondern auch, daß mit der Wiederkehr der Lebens­ energie eine Zusammenziehung des Protoplasma's unter Auspressung einer gewissen Flüssigkeitsmenge erfolgt. Hieraus ergibt 'fid;, daß das Protoplasma in Bezug auf seine Stoffwechselfähigkeit zweierlei Zustände zeigt: 1. den Sättigungszustand, in welchem es weder auf­ nimmt noch abgibt, 2. den Hungerzustand, in welchem es leicht aufnimmt und abgibt. Weiter ergibt sich daraus, daß der Stoffwechsel des Protoplasma's ein rhyth­ mischer ist, indem dieses abwechselnd aus dem Sättigungs­ zustand in den Hungerzustand und umgekehrt übergeht. Die Ursache, daß das Protoplasma nicht in einem dieser Zustände dauernd verharrt, ist wohl in folgenden Verhält­ nissen zu suchen: Das Protoplasma besteht aus leicht oxydablen chemischen Verbindungen und hat ein großes Absorptionsvermögen für Sauerstoff. Zugleich steht es fortwährend unter dem Ein­ fluß der chemischen und physikalischen Lebensreize, welche das auslösende' Moment für die Oxydation bilden. Als letzteres wirken sie jedoch, gleiche Reizstärke vorausgesetzt,

nur unter zwei Umständen: 1. wenn genügend freier Sauer­ stoff im Protoplasma aufgespeichert ist, 2. wenn in dem Protoplasma keine Stoffe enthalten sind, welche die Wirkung des Sauerstoffs auf die oxydablen Theile beeinträchtigen; solche Stoffe sind die Ermüdungsstoffe. Befindet sich das Protoplasma im Zustande der Sät­ tigung und Ruhe, so findet während dessen kein Ver­ brauch von Sauerstoff und doch eine stete Zufuhr, also eine Sauerstofsaufspeicherung statt. Sobald diese die Höhe er­ reicht hat, welche nöthig ist, damit die stets vorhandenen Lebensreize wirken können, gelangt das Protoplasma in den Zustand der Thätigkeit durch Entbindung freier Kräfte, während Sauerstoff verbraucht wird und ermüdend wirkende Oxydationsprodukte auftreten. Durch den Einfluß der letz­ teren hören die Lebensreize, trotzdem daß sie möglicherweise in ungestörter Stärke vorhanden sind, aus zu wirken, das Protoplasma tritt in einen neuen Ruhezustand, der aber nicht der der Sättigung sondern der des Hungers ist. Während dieses Zustands findet der oben geschilderte Stoff­ austausch mit dem umspülenden Medium statt. Das Er­ gebniß des letzteren ist die Aufnahme neuer gelöster Nähr­ stoffe und die Absonderung der Ermüdungsstoffe. Das Protoplasma kehrt somit in den Zustand der Sättigung d. h. der Beladung mit neuen Nährstoffen zurück. Dieser Zustand ist zuerst ein Ruhezustand, weil während der Thätigkeitsperiode der freie Sauerstoff zu Oxydationen ver­ braucht, also verloren gegangen ist. Erst wenn die Sauer­ stoffaufspeicherung, die allmählich vor sich geht, die genügende Höhe erreicht hat, fangen die Lebensreize wieder an zu wirken und dem Zustande der Ruhe folgt der der Thätigkeit. Es ist klar, daß diese Rhythmik des Stoffwechsels einen Mechanismus im Protoplasma voraussetzt, welchem die Fähigkeit einer Art von Selbststeuerung zukommt.

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2. Der Stoffwechsel der lebendigen Substanz.

I. Ranke gibt von demselben (S. 117 seines Lehrbuches) folgende Vorstellung: Man muß von der Voraussetzung ausgehen, das die Oberfläche des Protoplasmas von Poren senkrecht durchsetzt ist und daß es eine Struktur aus contraktilen Theilen besitzt, die das Protoplasmastück so durch­ setzen, daß sie alle Punkte der Grenzschicht diametral mit einander in Verbindung bringen und so einen Zug auf die peripherischen Theile in der Richtung des Centrums aus­ üben können. Von der Stärke dieses Zuges muß nothwendig die Durchgängigkeit der Poren der Oberfläche abhängen. Der Sättigungszustand des Protoplasmas wäre der, bei welchem der Zug so stark ist, daß die Poren völlig ver­ schlossen sind. Jede Verminderung der Lebensenergie des Protoplasmas vermindert diesen Zug, die Poren öffnen sich und der Diffusions- und Jmbibitionsverkehr findet statt. Hebt sich die Lebensenergie, so gewinnt der Zug seine ursprüng­ liche Stärke, der Porenverschluß kehrt zurück. Hierbei haben wir es begreiflicherweise auch mit Schwankungen des Volumens zu thun. Das Aufhören des Porenverschlusses führt zu einer Volumzunahme durch Quellung. Die Rückkehr desselben ist von einer vorgängigen Volumverminderung abhängig und diese wird dadurch be­ wirkt, daß der verstärkte Zug der contraktilen Theile einen Theil der eingedrungenen Flüssigkeit wieder auspreßt. Findet keine Rückkehr zum normalen Leben statt, wenn z. B. die aufgenommene Flüssigkeit das Protoplasma tödtet, so wird so lange Flüssigkeit in die Zelle eintreten können, als der dadurch in der Zelle steigende Druck noch die Widerstand leistenden Theile des Protoplasmas zu dehnen vermag, was je nach der Elasticität dieser Gebilde verschieden sein. wird. Fassen wir das Gesagte kurz zusammen, so sehen wir, daß die eigenthümlichen Erscheinungen eines rhythmischen Stoffwechsels hauptsächlich zurückzuführen sind auf die große

3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

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Labilität des chemischen und physikalischen Gleichgewichts des Protoplasmas und seine Absorptionsfähigkeit für den freien Sauerstoff. Sobald die Sauerstoffaufspeicherung eine gewisse Höhe erreicht hat, bewirken die stets vorhandenen Lebens­ reize eine Störung des chemischen Gleichgewichts, indem sie Oxydationen auslösen. Dieser Vorgang stört das Physik kalische Gleichgewicht, d. h. vermindert die Elastizität der festen Protoplasmatheile und in Folge davon wird auch das Diffussions- und Filtrationsgleichgewicht zwischen Proto­ plasma und umspülendem Medium gestört. Die Folge dieser letzteren Störung ist eine Veränderung der Mischungsver­ hältnisse des Protoplasmas, in Folge deren es zu dem ursprünglichen chemischen und physikalischen Gleichgewichts­ zustand zurückkehrt. Als der eigentliche Störenfried ist also von chemischer Seite der Sauerstoff, von physikalischer Seite das zu be­ zeichnen, was wir Lebensreize nennen und bei der Be­ sprechung der Kraftwechselvorgänge seine Schilderung finden wird.

3. Allgemeines über den Aräftewechsel. Wenn wir uns über die Erzeugung der menschlichen Arbeitskraft klar werden wollen, so ist eine Orientirung über die Kräfte, ihre verschiedenen Formen und den zwischen ihnen stattfindenden Wechsel unerläßlich und ich fasse deshalb in Folgendem das nöthigste aus der allgemeinen Physik und Chemie kurz zusammen.

Bei den Vorgängen des Kraftwechsels kommt zuerst das Verhältniß von Spannkraft und freier Bewegung

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3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

(lebendiger Kraft) in Betracht. Ursache der betreffenden -Erscheinungen sind die Anziehungsverhältnisse, welche zwischen den Stoffen bestehen und die wir allgemein als Centralkräfte bezeichnen. Diese Anziehungen befinden sich entweder in gesättigtem oder ungesättigtem Zustand, letzteres sobald die im Anziehungsverhältniß bestehenden Stoffe sich nicht vereinigt haben, weil ein Hinderniß dieser Vereinigung ent-gegensteht. Ungesättigten Zustand einer Anziehung nennt man Spannkraft, auch verfügbare Arbeit. Dieselbe -geht in eine freie Bewegung, lebendige Kraft oder Arbeit, über, sobald das Hinderniß, welches sich der Ver­ einigung der im Anziehungsverhältniß stehenden Körper entgegenstellt, beseitigt wird. Die Wegräumung des Hinder­ nisses nennt man die Auslösung der Spannkraft. Das Resultat der Auslösung ist, daß die im Anziehungsverhältniß stehenden Körper diesem folgen und mit einer bestimmten Kraft und Geschwindigkeit gegen einander stürzen,

was ein zu Tage Treten freier Bewegung im Gegensatz zu der vorhergehenden Ruhe ist. Diese freien Bewegungen äußern sich in verschiedener Weise (wovon später) und haben die Eigenthümlichkeit, daß sie sich auf ihre Umgebung fort­ pflanzen d. h. von dem Ort, wo sie entstanden sind, fort*

geleitet werden. Das Ergebniß der Fortleitung für die Körper, welche die freie Bewegung erzeugt haben, ist, daß sie zur Ruhe kommen, d. h. sie befinden sich jetzt im Zustand gesättigter Anziehung. Wir können also sagen: Spannkraft ist der Zustand ungesättigter Anziehung zwischen verschiedenen Körpern, und freie Bewegung (lebendige Kraft) entsteht, während sie in den Zustand der ganz oder relativ gesättigten Anziehung übergehen. Die Menge freier Be­ wegung, die erscheint, steht in mathematisch genauem Ver­ hältniß zur Stärke der Anziehung, die im ungesättigten Zustand vorhanden war.

3. Allgemeines über den Krästewechsel.

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Betrachten wir nun die verschiedenen Anziehungsver­ hältnisse, deren es dreierlei gibt: -Anziehung der Masse Anziehung der Moleküle, Anziehung der Atome. Die Masseanziehung tritt in zwei Formen, einer polarisirten und unpolarisirten, auf. In letzterer wird sie Schwere oder Schwerkraft geheißen und ist dadurch charakterisirt, daß sie nach allen Richtungen des Raumes wirkt. Die polarisirte Masseanziehung ist die magnetische Kraft, sie wirkt nur in Einer Richtung des Raumes, in der entgegengesetzten Richtung abstoßend. Da die magnetische Kraft nur eine Eigenschaft eines uns hier in dem Stück nicht interessirenden Körpers, des Magneteisens, ist, so ignoriren wir sie im Folgenden.

Das Charakteristische der Masseanziehung ist, daß ihr eine Fern Wirkung zukommt und zwar im umgekehrten Quadrat der Entfernung. Sie befindet sich im ungesättigten Zustand, solange sich die im Anziehungsverhältniß stehenden Körper nicht berühren. Im latenten, Zustand d. h. als Spann­ kraft äußert sie sich durch einen mittelst Gewichtseinheiten zu bestimmenden Druck auf die Körper, welche die Sättigung der Anziehung hindern, als Druckkraft oder Gewicht. Beim Uebergang aus dem ungesättigten in den ganz oder rela­ tiv gesättigten äußert sie sich als mechanische Bewegung^ Massebewegung oder mechanische Arbeit. Sie wird gemessen nach dem Gewicht der sich bewegenden Masse unddem Weg, den sie in der Zeiteinheit (Sekunde) zurücklegt: der Geschwindigkeit. Mit andern Worten: die Krafteinheit, ist das halbe Produkt aus den Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit. Als große Krafteinheit bezeichnet man dem Kilogrammmeter, als kleine den Grammmeter.

Will man die Masseanziehung aus dem gesättigten Zu--stand in den der Spannkraft überführen, also die sich an--.

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3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

flehenden Körper von einander entfernen, so ist die Anwen­ dung einer der Masseanziehung entgegen wirkenden freien Bewegung, einer mechanischen Arbeit, erforderlich, die hierbei verschwindet d. h. in eine Spannkraft übergeht, die bei ihrer Auslösung gerade so viel mechanische Arbeit verrichtet, als zu ihrer Erzeugung verwendet wurde. Bei der Anziehung der Moleküle eines Körpers hat man zu unterscheiden: a) die Cohäsion, die Anziehung gleichartiger Moleküle, und b) die Adhäsion, die Anziehung verschiedenartiger Moleküle. Diese beiden Centralkräfte haben keine Fernwirkung, sondern wirken nur innerhalb kurzer Distanzen. Hier ist die Sache etwas complicirter. Im ge­ sättigten Zustand befindet sich die Cohäsion nur, wenn die Moleküle vollkommen ruhen; das ist zugleich der Zustand, in welchem der Körper den denkbar kleinsten Raum einnimmt. In den ungesättigten Zustand geht sie über, sobald die Moleküle in die nachher zu schildernden molekularen Be­ wegungen gerathen, weil diese distanzirend auf die Moleküle, also der Cohäsion entgegen wirken.

Bei dieser Distanzirung sind zweierlei Phasen zu unter­ scheiden:

Ueberschreitet dieselbe die Wirkungssphäre der Cohäsion nicht, so hat der Körper eine endliche Ausdehnung und es nimmt mit der Distanzirung das Volum des Körpers zu und seine Festigkeit ab; wird die Wirkungssphäre über­ schritten, so hört die Cohäsion auf und die Moleküle fallen aus einander, der Körper hat keine endliche Ausdehnung mehr. Den ersteren Fall nennt man die Lockerung der Cohäsion, den letzteren ihre Aufhebung. Die Distanzirung der Moleküle erfordert, ebenso wie die Distanzirung bei der Masseanziehung, Kraftaufwand d. h. Arbeit und zwar in Form der sogenannten molekularen Bewegungen, als

3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

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deren wichtigste und allgemeinste die Wärme fungirt (mole­ kulare Arbeit)*). Diese Wärme verschwindet bei der Distanzirung, wird latent, während sie wieder frei wird, sobald die Distanzirung ganz oder theilweise aufgehoben wird. Eine Distanzirung, bei der Wärme latent wird, ist jede Ausdehnung eines Körpers, erfolge sie mit oder ohne Aenderung des Aggregatzustandes (Schmelzung, Ver­ dampfung, Lösung). Aufhebung bezw. Verminderung der Distanzirung, die mit Freiwerden von latenter Wärme ver­ läuft, ist jede Volumabnahme, erfolge sie mit oder ohne Aenderung des Aggregatzustandes (Dampfcondensirung, Er­ starrung, Auskrystallisirung aus Lösungen). Aehnliche Verhältnisse walten bei der Adhäsion ob, und wo, wie bei Lösung und Auskrystallisirung, ein Kampf zwischen Adhäsion und Cohüsion stattfindet, ergeben sich complicirtere Verhältnisse, deren Erörterung uns hier zu weit führen würde. Die chemische Affinität ist das auch nur in sehr kurzer Distanz wirksame Anziehungsverhältniß, in welchem die Atome zu einander stehen und das sie veranlaßt, sich zu Molekülen zu vereinigen. Hierbei ist gerade so wie bei der molekularen Anziehung die Affinität gleichartiger Atome (chemische Cohäsion) und die verschieden­ artiger Atome (chemische Adhäsion) zu unterscheiden. Auf der absoluten und relativen Stärke dieser beiderlei Affinitäten beruhen die chemischen Eigenschaften eines Kör­ pers. Ueberwiegt die chemische Cohäsion über die chemische Adhäsion, so wird ein solcher Körper schwer chemische Ver­ bindungen eingehen und bestehende werden leicht zerfallen. Umgekehrt: Ist die chemische Adhäsion stärker entwickelt als *) Ueber das Maß für diese Arbeit und die Natur der Wärme­

bewegung siehe unten.

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3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

die Cohäsion, so werden solche Stoffe leicht chemische Ver­ bindungen eingehen und diese werden sehr dauerhaft sein. In praxi unterscheidet man diese beiderlei Affinitäten vorläufig nicht, sondern versteht unter chemischer Affinität nur die nach außen d. h. anderartigen Atomen gegenüber wirksame chemische Adhäsion, die natürlich gleich ist der Differenz zwischen der Cohäsion und wirklichen Adhäsion. Das Eigenthümliche der chemischen Affinität ist: 1. daß es sich hierbei um bestimmte Gewichtseinheiten handelt, die wir gleich näher bezeichnen werden; 2. daß sie nicht nach allen Richtungen des Raumes, son­ dern nur nach einer oder einigen bestimmten Richtungen des Raumes thätig ist. Aus diesen Gründen kommen folgende technische Aus­ drücke in Betracht: a) Unter Atom versteht man die kleinste Gewichtsmenge eines Körpers, welche in einer chemischen Verbindung vorkommt. Ein Atom kann nicht für sich allein bestehen, sondern tritt immer mit einem oder mehreren an­ deren (gleichartigen oder verschiedenen) zu einem Molekül zusammen, b) Ein chemisches Molekül ist eine Ver­ einigung von (gleichartigen oder differenten) Atomen und ist die kleinste Gewichtsmenge eines Körpers, welche im freien Zu­ stand existiren kann und in Dampfform bei 00 und 760 mm Barometerstand den Raum von 2 Atomen Wasserstoff ein­ nimmt. c) Das chemische Aequivalent ist diejenige Menge eines Körpers, welche eine bestimmte Gewichtsmenge eines andern in einer chemischen Verbindung zu ersetzen vermag, d) Chemische Valenz ist diejenige Gewichts­ menge eines Körpers, welche ein Atom Wasserstoff in einer chemischen Verbindung zu ersetzen vermag. Wie viel valent oder wie viel werthig ein Utom eines Körpers sei, ergibt sich aus der Zahl von Wasserstoffatomen, welche dasselbe unter den möglichst günstigen Bedingungen zu

3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

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binden im Stande ist. Wir unterscheiden deshalb 1, 2, 3, 4 und 5werthige Atome, sowohl bei. chemischen Elementen (d. h. Körpern, welche mit den heutigen, Hilfsmitteln der Chemie nicht weiter in verschiedenartige Bestandtheile zerlegt werden können), als auch bei chemisch ungesättigten Verbin­ dungen, sogenannten Radikalen (b. h. Atomeomplexen, welche sich ähnlich den Element-Atomen unverändert von einer chemischen Verbindung in eine andere überschieben lassen und dort vermöge der Valenzen, welche noch ungesättigt in ihnen vorhanden sind, haften). Aus dem über die chemische Valenz Gesagten ergibt sich, daß die chemische Anziehung nicht wie die Schwere nach allen Richtungen des Raumes wirkt, sondern nach einer oder mehreren bestimmten d. h. nach so vielen, als der Körper Valenzen hat; deshalb kommen den Molekülen be­ stimmte Formen zu. Ein weiterer Punkt bei der chemischen Affinität ist, daß die Stärke der Anziehung zwischen den Atomen (oder Radi­ kalen)^ mit der chemischen Natur der Stoffe wechselt, so daß wir zwischen stärkeren und schwächeren Affinitäten zu unterscheiden haben. ' Die wichtigsten Affinitäten, mit denen es die Physiologie zu thun hat, sind die, welche zwischen Sauerstoff (2 werthig), Stickstoff (3 oder 5 werthig), Kohlenstoff (4 werthig) und Wasserstoff (1 werthig) bestehen. Starke Affinitäten firtb die

zwischen Sauerstoff einerseits, Kohlenstoff und Wasserstoff andrerseits; schwächer sind die Affinitäten zwischen Kohlen­ stoff einerseits, Wasserstoff und Stickstoff andrerseits, sowie' die Affinität zwischen Stickstoff und Wasserstoff; am- schwäch­ sten ist die zwischen Kohlenstoff und Stickstoff.

Der Uebergang einer chemischen Affinität aus dem un­ gesättigten in den gesättigten Zustand heißt chemische Ver­ bindung (bei Sauerstoff speziell Oxydation). Der Effekt Jäger, die menschliche Arbeitskraft. 3

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3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

der Bewegung, mit welcher die Atome Zusammenstürzen, ist eine eigenartige freie d. h. leitbare Bewegung des so ent­ standenen Moleküls, also eine Molekularbewegung, die sich entweder nur als Wärme, oder auch noch als Licht äußert. Tritt außer Wärme noch Licht auf, so nennen wir den Prozeß Verbrennung und die entstandene Wärme Verbren nungswärme. Hat sich eine chemische Affinität gesättigt, so ist jetzt umgekehrt auch ihre Ueberführung in den ungesättigten Zustand durch Trennung der im Anziehungsverhältniß stehen­ den Atome möglich. Diesen Vorgang nennt man die chemische Zersetzung (wo es sich um den Sauerstoff handelt, Des­ oxydation). Genau so wie bei der Masseanziehung und der molekularen Anziehung ist auch hier zur Trennung ein Aufwand freier Kraft oder die Einsetzung einer stärkeren Centralkraft d. h. einer stärkeren Affinität nöthig. Wenn

man es mit der stärksten Affinität zu thun hat, z. B. der zwischen Sauerstoff und Wasserstoff oder der zwischen Sauer­ stoff und Kohlenstoff, so gelingt die Zersetzung nur durch Aufwand einer freien Kraft und zwar einer Molekular­ bewegung (besonders Wärme, auch Licht), die hiebei latent wird. Will man eine schwächere Affinität aus dem gesättig­ ten Zustand in den ungesättigten überführen, so kann man hiezu außer einer Molekulararbeit auch eine stärkere Affi­ nität anwenden (z. B. um eine Verbindung von Kohlenstoff und Wasserstoff zu zersetzen, die des Sauerstoffs zu den ge­ nannten Elementen), indem jetzt die schwächere durch die stärkere ersetzt wird. Hiebei tritt eine Molekularbewegung auf (Wärme re. wird frei); aber da ein Theil der mit der stärkeren Affinität gegebenen Kraft zur Lösung der schwächeren Affinität verbraucht wird, also verschwinde:, so ist die frei­ werdende Molekularbewegung nur der unverbrauchte Rest der in der stärkeren Affinität enthaltenen Kraft.

3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

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Fassen wir kurz zusammen, bei welchen durch die chemische Affinität beherrschten Vorgängen freie Vewegung entsteht resp, verschwindet. 1. Freie Bewegung entsteht unter Verschwinden von Spannkraft: a) wenn eine ungesättigte Affinität gesättigt wird; b) wenn eine schwächere Affinität durch eine stärkere ersetzt wird; c) wenn eine Verbindung, in welcher nur ein Theil der Valenzen gesättigt ist, die übrigen sättigt, d) Eine allmähliche Entbindung freier Bewegung, die in der Physio­ logie eine so große Rolle spielt, findet statt, wenn hochatomige Verbindungen, welche durch schwache Affinitäten verhängt sind, successive in niederatomige und zwar solche, bei denen stärkere Affinitäten gesättigt sind, übergehen. 2. Umgekehrt verschwindet freie Bewegung und entsteht Spannkraft: a) wenn eine chemische Verbindung völlig zersetzt wird; b) wenn aus einer durch starke Affinität zusammengehaltenen chemischen Verbindung eine solche ge­ macht wird, in der nur schwächere Affinitäten gesättigt sind; c) wenn aus einer chemischen Verbindung, in welcher alle Affinitäten gesättigt sind, eine solche wird, in der nicht alle gesättigt sind, d) Ein allmähliches Verschwinden freier Bewegung tritt dann ein, wenn eine niederatomige Ver­ bindung, in der starke Affinitäten gesättigt sind, allmählich in eine hochatomige, in der schwache Affinitäten herrschen, übergeführt wird; dieser Vorgang spielt eine große Rolle bei der Assimilationsthätigkeit der Pflanzen. Nachdem wir das Verhältniß von freier Bewegung und Spannkraft an den wichtigsten Fällen besprochen, müssen wir

uns noch mit den freien Bewegungen gesondert beschäftigen. Wie theilweise aus dem obigen schon ersichtlich, handelt es sich um mehrere Arten von Bewegung: 1. Mechanische Bewegung oder Massebewegung, wobei sich ein Körper im Ganzen durch den Raum bewegt, ohne daß dabei noth3*

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3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

wendig die einzelnen Moleküle des Körpers ihre Stellung zu einander verändern, z. B. die Bewegung eines fallenden

Steines, eines sich drehenden Rades re. Diese Bewegung ist schon S. 29 zur Genüge besprochen worden. 2. Mole­ kulare Bewegungen, d. h. Bewegungen, bei denen die ein­ zelnen Moleküle eines Körpers innerhalb desselben durch Veränderung ihrer Stellung sich gegen einander bewegen. Da sie zum Theil ganz verschieden auf unsere Sinne wirken, müssen sie unten speziell erläutert werden. 3. Intramole­ kulare Bewegungen, d. h. solche, welche die Moleküle um ihre eigene Achse ausführen. Auch diese erfordern eingehendere Besprechung. Die molekularen Bewegungen sind nur verständlich, wenn man annimmt, jeder Körper bestehe aus stofflichen Theilen und dazwischen befindlichen leeren Räumen, so daß sich die stofflichen Theile innerhalb des Körpers gegen einander bewegen können. Solcher Molekularbewegungen gibt es nun zweierlei resp, dreierlei, die gleichzeitig möglich sind: 1. Bewegungen, die jedes Molekül für sich, unab­ hängig von seinen Nachbarn, ausführt. Diese äußern sich als „geleitete Wärme" und von ihrer Stärke und Form hängt die Temperatur, der Aggregatzustand und die Ausdehnung des gesummten Körpers ab. Wir können uns die Erscheinungen, welche diese Molekularbewegung hervor­ bringt, am besten erklären, wenn wir annehmen, sie gleiche der Bahnbewegung der Himmelskörper im Weltenraum, repräsentire also eine kreisende Bewegung um einen Schwer­ punkt, die mit einer gewissen Centrifugalkraft erfolgt, also der Cohäsion der Moleküle entgegen d. h. di stanz irend wirkt (stehe S. 30). Gehen wir hiebei vom festen Aggregat­ zustand aus und nehmen wir an, die genannte Moletularbewegung erst stillstehen würde, wenn man einen festen Körper auf 2730 unter seinen Gefrierpunkt abkühlen könnte.

3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

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Von hier an aufwärts beginnt die kreisende Bewegung, und man kann sich jetzt die Erscheinungen bei steigender Tempe­ ratur so vorstellen, als wirke die Erwärmung gleich einem tangentialen Stoß auf das rotirende Molekül, wodurch dessen Centrifugalkraft gesteigert wird. Das Resultat ist eine Ver­ größerung des Bahndurchmessers, was zu Gesammtausdehnung des Körpers und, mit der Entfernung der Schwer­ punkte der Moleküle von einander, zu einer Lockerung des Zu­ sammenhalts führt (Lockerung der Cohäsion durch Erwärmung). Nimmt man an, die Bewegung sei ursprünglich kreis­ förmig, so werden fortgesetzte Tangentialstöße, die stets aus einer Richtung kommen, die Bahn allmählich in eine elliptische von immer größerer Streckung verwandeln. Die elliptische Bahn und die Lockerung des Zusammenhalts durch größere Entfernung der Bahnmittelpunkte führt zur ersten Aenderung des Aggregatzustandes, nämlich zu Uebergang aus dem festen Aggregatzustand in den flüssigen. Im ersteren behaupteten die Schwerpunkte der Molekülbahnen ihre Winkel­ stellung zu einander und so behauptete der Gesammtkörper eine bestimmte, von der Einwirkung der Massen­ anziehung (Schwerkraft) unabhängige Gestalt. So­ bald nun die Distanz der Schwerpunkte groß und die Ellipse der Bahn gestreckt genüg geworden ist, hat sich die Ver­ schieblichkeit der kreisenden Moleküle so weit gesteigert, daß die Schwerkraft über die Cohäsion überwiegt und die Moleküle der ersteren folgen, so daß der Körper keine bestimmte Ge­ stalt mehr besitzt; das ist der flüssige Aggregatzu st and. Suspendirt man in einer Flüssigkeit sehr feinvertheilte feste Stoffe, z. B. Tusche, so gibt das unter dem Namen Brownsche Molekularbewegung bekannte Phänomen ein Bild der molekularen Wärmebewegung: die Moleküle be­ wegen sich rotirend um einen fortschreitenden Mittelpunkt. Bei steigender Temperatur wird diese Bewegung immer heftiger.

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3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

Zur Erklärung des dritten Aggregatzustandes, des gas­ förmigen, kann man Folgendes annehmen: Im festen unt> flüssigen Aggregatzustand bewegen sich die Moleküle in ge­ schlossenen Bahnen, was zur Folge hat, daß der Gesammtkörper eine endliche Größe d. h. ein bestimmtes Volumen besitzt, über welches hinaus er bei gleichbleibender Temperatur sich nicht auszudehnen strebt, weil die Cohäsion noch wirksam ist. Dem gegenüber ist der gasförmige Zustand durch das unendliche Ausdehnungsbestreben charakterisirt, d. h. der Kör­ per hat kein bestimmtes Volumen mehr, die Cohäsion hat aufgehört zu wirken. Dies läßt sich so erklären: Durch die mit der steigenden Erwärmung gegebenen, fortgesetzten, in einer Richtung erfolgenden Tangentialstöße ist die Bahn zu­ erst zu einer immer gestreckteren Ellipse geworden und hat sich endlich, bei noch größerer Steigerung der Centrifugalkraft, in eine Parabel oder Hyperbel geöffnet; das Kreisen ist also zu einer ins Unendliche fortschreitenden Bewegung geworden. Um die Wärmebewegungen zu messen, bedienen wir uns der durch sie bewirkten Ausdehnung der Körper, indem wir graduirte Thermometer anwenden, und nennen eine Wärme­ einheit (Calorie) diejenige Wärmemenge, welche nöthig ist, um ein bestimmtes Volumen destillirten Wassers von 0° C. um einen Thermometergrad zu erwärmen. Bei der großen Calorie ist das Volumen ein Kilogramm, bei der kleinen ein Grammy also ist eine große Calorie gleich 1000 kleinen Calorien. Nach ihrer Herkunft unterscheidet man hauptsächlich Reibungswärme, welche durch Hemmung von Massen­ bewegung entsteht, und Verbrennungswärme, die bei Sättigung chemischer Affinitäten entsteht. 2. Die zweite Art molekularer Bewegungen sind solche, bei denen die Moleküle gemeinschaftliche, schichtweise über­ einstimmende Lageveränderungen ausführen, und zwar oscil-

3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

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Irrende, d. h. Schwingungen, die sich von einer Stelle geradlinig nach allen Richtungen des Raumes hin fort­ pflanzen. Die Bewegung der Moleküle erfolgt entweder senkrecht zur Achse der Fortpflanzung: stehende oder transversale Schwingungen, auch Strahlen ge­ nannt, oder in der Richtung der Achse: Verdichtungs­ oder longitudinale Wellen. Schwingungen von geringer Schwingungszahl (zwischen 16 und 38000 pro Se­ kunde, mithin etwa 11 Oktaven) rufen die Empfindung von Schall in uns hervor. Schwingungen von höherer Schwingungszahl machen auf unsere Empfindungswerkzeuge zunächst einen ähnlichen Eindruck wie die oben geschilderten Wärmebewegungen und werden deshalb als Wärmestrahlen bezeichnet. Erst wenn die Zahl der Schwingungen in der Sekunde etwa 400 Billionen geworden, fangen sie an Licht­ empfindung (zuerst rothes Licht) hervorzurufen: Licht­ strahlen. Die Lichtempfindung hält an bis zu der

Schwingungszahl von 7—800 Billionen pro Sekunde. Noch schnellere Schwingungen wirken auf unsere Sinnesorgane nicht mehr, verrathen sich aber dadurch, daß sie noch chemische Zersetzungen Hervorrufen: chemische Strahlen. Abge­ sehen von den Schallschwingungen haben also diejenigen Strahlen, welche blos Wärmewirkung äußern, die niedrigsten Schwingungszahlen (38 000—400 Billionen), die, welche blos chemisch wirken, die höchsten (von 7—800 Billionen auf­ wärts); die Strahlen, die in der Mitte liegen, haben combinirte Wirkung. Schallschwingungen d. h. Schwingungen von einer ge­ ringeren Schwingungszahl als 38000 pro Sekunde können nur Stoffe ausführen, welche eine gewisse Dichtigkeit haben; die rascheren, immer transversal erfolgenden Schwingungen, die wir als Wärmestrahlen, Lichtstrahlen und chemische Strahlen unterscheiden, setzen eine geringe Dichtigkeit des

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3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

des Stoffes voraus und werden, da sie selbst noch bei der äußersten uns möglichen Verdünnung der wägbaren Materie fortdauern, als Schwingungen eines ^hypothetischen Stoffes, der alle wägbare Materie durchdringen soll und Aether genannt wird, betrachtet. 3. Eine eigenthümliche Art von molekularer Bewegung ist die elektrische. Sie ist weder eine kreisende noch eine oscillirende, sondern eine geradlinig fortschreitende, fließende (elektrischer Strom), bei welcher zwei entgegengesetzt (Polar) sich verhaltende Richtungen, die negative, von welcher der Strom sich entfernt, und die positive, gegen welchen er sich bewegt, zu unterscheiden sind. Diese Bewegung kann natürlich nur dann eine continuirliche sein, wenn ein Kreis­ lauf möglich ist (d. h. in einer geschlossenen Kette), andern­ falls ähnelt sie einem geradlinigen Stoß. Ob die Moleküle des Leiters diese Bewegung selbst ausführen oder ob dies, nach der bisherigen Annahme, seitens eines eigenen (imponderablen) elektrischen Fluidums geschieht, wird erst die Zukunft, voraussichtlich aber im Sinne der ersteren Alternative, entscheiden. Hier ist noch ergänzend hinzuzufügen, daß diese Art von Bewegung nicht nur als freie Bewegung (elektrischer Strom), sondern auch als Spannkraft (elektrische Spannung) auftreten kann. Nach ihrer Entstehüngsursache unterscheiden, wir Rei­

bungselektricität, die durch Hemmung von Masse­ bewegung entsteht, Thermoelektricität, die durch Hemmung von Wärmebewegung sich bildet, und den gal­ vanischen Strom, der entsteht, wenn zwischen zwei im sog. elektromotorischen Spannungsverhältniß stehenden Kör­ pern (Elektromotoren) eine doppelte (Kreis-) Leitung so her­ gestellt ist, daß die eine dieser Verbindungen die Möglichkeit einer Sättigung chemischer Affinität d. h. einer Entbindung

3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

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chemischer Spannkräfte bietet; man könnte sie deshalb auch chemische.Elektricität nennen. Letztere Art von elek­ trischer Bewegung ist die für die Physiologie wichtigste. Jnduktionselektricität ist die, welche durch einen Strom in einem benachbarten Leiter hervorgerufen wird, Magnet­ elektricität die, welche ein magnetischer Körper in einem benachbarten Leiter erzeugt.

Die letzte Art von Bewegungen, die ich oben als intramolekulare bezeichnet habe, können wir uns am bequemsten wieder als Rotation denken, und zwar weil auch hier ein Gegensatz zwischen einer centripetalen Anziehung und einer distanzirenden Centrifugalkraft in Erscheinung tritt. Zugleich wird erst hierdurch die Analogie zwischen den Be­ wegungen der Himmelskörper und der Moleküle vollständig. Wie erstere außer ihrer Zirkelbewegung um den Central­ körper (Bahnbewegung) noch eine Rotation um ihre eigene Achse haben, so werden die genannten intramolekularen Be­ wegungen eine Rotation des Moleküls um seine eigene Achse sein. Die Annahme einer solchen Bewegung, die mit der S. 36 geschilderten fortschreitenden Bahnbewegung in innigen Jntensitätszusammenhang steht, erklärt uns die Erscheinungen der Dissociation von chemischen Verbindungen, bei denen also das Molekül ein Compositum aus verschiedenartigen

Atomen ist, die durch eine central wirkende Anziehungskraft, die chemische Affinität, zusammengehalten werden. Denken wir uns diese rotirend um einen gemeinschaftlichen Schwer­ punkt, so haben wir in der Rotationsgeschwindigkeit jene der chemischen Affinität entgegenwirkende Centrifugalkraft, welche, wenn sie stark genug geworden ist, die Affinität über­ windet und die Dissociation herbeiführt. Nehmen wir an, daß bei der steigenden Erwärmung eines Körpers nicht blos die Rotation des Moleküls auf seiner Bahn um einen Schwerpunkt (siehe oben) an Geschwindigkeit zunimmt, son-

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3. Allgemeines über den Krästewechsel.

dern auch die Rotation des Moleküls um seine eigene Achse, so erklärt sich hieraus, daß bei fortschreitender Erwärmung die Kraft, mit der sich die verschiedenartigen Atome im Molekül einer chemischen Verbindung festhalten, abnimmt, und der Moment der Dissociation, in welchem die Atome auseinanderfahren, wäre dann ähnlich aufzufassen, wie der Uebergang der elliptischen Bahnbewegung in die parabolische oder hyperbolische bei dem Uebergang eines Körpers aus dem flüssigen Aggregatzustand in den gasförmigen. Mithin wären diese intramolekularen Bewegungen nur eine Theilerscheinung der auf S. 36 geschilderten Wärmebewegung und zwar so: Erwärmen wir einen Körper auf irgend eine Weise (durch Zuleitung von Wärme, Reibung, Verbrennung re.), so vermehren wir sowohl die Geschwindigkeit der Bahn­ bewegung, als die der Rotationsbewegung des Moleküls. Nun reagirt von diesen beiden Bewegungen auf unsere Wärmemesser nur die erstere, die letztere nicht, des­ halb ist letztere der latent werdende Theil der zugeführten Wärme. Da nun das Verhältniß, in welchem die zugeführte Wärmebewegung sich in diese beiderlei Bewegungsarten des Moleküls (die für Meßinstrumente wahrnehmbare Bahn­ bewegung und die unmerkliche Achsendrehung) theilt, mit der chemischen Natur des Körpers wechselt, so ist die Wärme­ menge, die man einem Körper zuführen muß, um ihn von 0° auf 1° zu erwärmen, nicht für alle Stoffe gleich groß. Daraus ergibt sich für jeden Körper eine sogenannte spe­ zifische Wärme. Alle freien Bewegungen können nicht nur in Spann­ kräfte übergeführt werden, sondern es läßt sich auch die eine in die andere umwandeln, und beides geschieht nach dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft in stets sich gleich­ bleibenden mathematischen Verhältnissen, sogen. Aequivalenten. Das wichtigste der bis jetzt festgestellten Aequi-

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valente ist das zwischen der Wärme (einer molekularen Bewegung) und der mechanischen Bewegung (Massebewegung): das mechanische Aequivalent der Wärme. Dasselbe ist gegeben durch die Zahl 424, d. h. eine große Wärme­ einheit (gr. Calorie) ist —424 Kilogrammmeter, die kleine — 424 Grammmeter. Das besagt: Wenn eine Wärmebe­ wegung in mechanische Bewegung umgewandelt wird, so gibt die große Calorie 424 Kilogrammmeter, und umgekehrt, wenn mechanische Bewegung in Wärmebewegung umgewandelt wird, so geben je 424 Kilogrammmeter eine große Wärme­ einheit, d. h. so viel Wärme, als nöthig ist, um 1 Kilogramm Wasser von 0° auf 1°C. zu erwärmen. Für das Licht hat man gefunden: Wenn die Sonnen­ strahlen eine Minute lang auf einen Quadratdecimeter irdi­ scher absorbirender Oberfläche fallen, so werden ungefähr 0,4 Wärmeeinheiten erzeugt. Für elektrische Bewegung ist das Aequivalent noch nicht genau festgestellt. Die Umwandlung einer freien Bewegung in eine andere bedingt, daß die erste als solche verschwindet; wenn z. B. Licht in Wärme umgewandelt wird, so hat es aufgehört, Licht zu sein, und wenn mechanische Bewegung in Wärme umgewandelt wird, so ist die Massebewegung ver­ schwunden. Die Umwandlung einer freien Bewegung in eine andere oder in Spannkraft ist selten eine totale, sondern meist nur eine theilweise; dabei verschwindet von der ersteren Bewegung nur derjenige Theil, der umgewandelt worden ist. Die Ursache, wodurch eine freie Bewegung in eine andere umgewandelt wird, ist allgemein das Auftauchen eines Hindernisses, welches sich dem Fortschreiten der ersteren entgegenstellt. Wenn z. B. Licht auf einen undurchsichtigen Körper trifft (der es nicht reflektirt, wovon nachher), so

wird es, weil es an seinem Fortschreiten gehindert ist, sich

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3. Allgemeines über den Krästewechsel.

in Wärme umwandeln. Wenn ein fallender Körper an seiner Fortbewegung durch den Erdboden gehindert wird, so verwandelt sich die Massebewegung in Wärmebewegung. Wenn die Moleküle des Dampfes in einem Dampfkessel an der Ausführung ihrer Wärmebewegung gehindert werden, so verwandelt sich die Wärmebewegung in eine mechanische Bewegung des Dampfkolbens. Wenn wir der Massebewegung -eines sich drehenden Rades ein Hinderniß entgegenstellen, so verwandelt sich dieselbe in Wärmebewegung (Reibungswärme). Das Hinderniß, das die Umwandlung erzwingt, geht von den wägbaren Stoffen, die -außerhalb der sich bewegen­ den Stoffe liegen und ihn begrenzen, den begrenzenden Medien aus, so daß wir sagen können, eine Umwandlung

finde statt, wenn eine freie Bewegung aus einem Medium in ein anderes übergeht, jedoch nicht mit Nothwendigkeit, rmd zwar aus folgenden Gründen: Ein Medium kann sich den freien Bewegungen eines -angrenzenden Mediums gegenüber in dreifach verschie­

dener Weise Verhalten: 1. Die Bewegung wird an dem -Eindringen in das Medium verhindert, also zurückgeworfen, reflektirt. Ob geschieht, hängt von der Natur und der Beschaffenheit -der Oberfläche des getroffenen Mediums, der Art der freien Bewegung, um die es sich handelt, und dem Winkel, unter welchem die Bewegung die Oberfläche trifft, ab. Diese Eigenschaft eines Mediums nennen wir dessen Reflexions­ fähigkeit, z. B. -für Licht, Schallwellen rc. 2. Das Medium gestattet der freien Bewegung einzu­ dringen, ohne sie umzuwandeln. Die Bewegung schreitet jetzt in dem neuen Medium als solche fort, wird

geleitet. Diese Eigenschaft nennen wir die Leitungs­ fähigkeit eines Mediums, z. B. für Wärme, Elektricität, Licht rc.

3. Allgemeines über den Kräftcwcchsel.

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3. Das Medium gestattet der Bewegung, in dasselbe einzudringen, aber nur indem es dieselbe in eine ander­ artige um wandelt, nicht als solche fortleitet. Diese Eigenschaft nenne ich die Empfindlichkeit. Es ist klar, daß die drei genannten Eigenschaften eines Mediums oder sagen wir jetzt Körpers gegenüber freien Bewegungen in dem angrenzenden Medium im Verhält­ niß der zwar nicht absoluten, aber relativen Ausschließung zu einander stehen, was folgende Er­ wägung zeigt. Ein Körper, der eine Bewegung stark und leicht reflektirt, wird ein schlechter Leiter und natürlich auch wenig empfindlich sein. Andrerseits: Ein Körper, der eine Be­ wegung in sich eindringen läßt, sie absorbirt, wird sie nicht reflektiren. In ebensolchem Verhältniß der Ausschlie­ ßung steht Leitungsfähigkeit und Empfindlichkeit: Ein guter Leiter wird die Bewegung nicht umwandeln, und einer, der sie umwandelt, wird sie schlecht leiten. Betrachten wir einige der wichtigsten Bewegungen in diesem dreifachen Ver­ halten der Medien zu ihnen, weil dies für das Verständniß, der Lebenserscheinungen von großer Wichtigkeit ist: 1. Das Licht. Ein Körper, der das Licht als solches leitet d. h. ohne Umwandlung, ist durchsichtig (diaphan). Ein durchsichtiger Körper ist nun ein schlechterer Reflektor als ein undurchsichtiger und wird Licht schlecht in Wärme umwandeln, also wenig gegen Licht empfindlich sein. Ist ein Körper undurchsichtig, ein schlechter Lichtleiter, so wird er, was auf seine Oberflächenbeschaffenheit ankommt, ent­ weder gut reflektiren oder das Licht gut absorbiren d. h. in Wärme oder chemische Bewegung umsetzen, empfindlich gegen Licht sein. Wollen wir z. B. einen Thermometer empfindlich für Licht machen, so überziehen wir ihn mit einer matten, nicht

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3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

reflektirenden und undurchsichtigen Schicht, z. B. Ruß. Durch­ sichtige Stösse, welche Lichtbewegung leicht in Dissociationsbewegung (intramolekulare) umwandeln, also besonders empfindlich gegen die sog. chemisch wirkenden Lichtstrahlen sind, verlieren in demselben Moment ihre Durchsichtigkeit. (Photographie.) Das Umgekehrte ist beim Sehroth der Fall. 2. Wärme. Ein guter Wärmeleiter wird wenig em­ pfindlich gegen Wärme sein, d. h. er wird, weil er die Wärme nicht in sich aufhäuft, schwer schmelzen, und weil er sie nicht in Dissotiationsbewegung umwandelt, schwer ver­ brennen. Umgekehrt, ein schlechter Wärmeleiter wird, weil er dieselbe in sich aufhäust und leicht in Dissociationsbewegung umwandelt, leicht schmelzen und leicht verbrennen. 3. Elektricität. Ein guter Leiter für Elektricität wird unter ihrem Einfluß sich weder stark erwärmen, noch sich leicht zersetzen. Setzen wir dagegen dem elektrischen Strom ein Hinderniß in Gestalt eines schlechten Leiters entgegen, so wird sich eine starke Umwandlung in Wärme oder Dissociationsbewegung vollziehen oder elektrische Span­ nung entstehen. 4. Mechanische Bewegung. Bei ihr handelt es sich um zweierlei Verhältnisse: 1. um die Eigenschaften des Körpers, den eine mechanische Bewegung trifft, d. h. um die -Cohäsionsverhältnisse seiner Massetheilchen; 2. um Las Maß seiner Verschieblichkeit als Ganzes. Hiedurch wird die Sache ziemlich complicirt. Fassen wir das Maß seiner Verschieblichkeit als Ganzes für sich allein ins Auge, so wird er um so vollständiger den mechanischen Stoß Treflektiren können, je weniger er geeignet ist ihn zu leiten, oder je weniger er sich durch ihn verschieben läßt, und umgekehrt wird er um so schlechter reflektiren, je besser «er die Bewegung leitet, oder je leichter er sich verschieben Läßt.

3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

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Setzen wir seine Verschieblichkeit als Ganzes gleich Null, so kommt nur die Cohäsion seiner Massetheile in Betracht. Diese zeigt sich in zweierlei Eigenschaften: 1. in seiner Festigkeit, d. h. dem Widerstand, welche die Massetheilchen einer gegenseitigen Lageveränderung entgegensetzen; wir unterscheiden danach weiche und feste Körper; 2. in seiner Elasticität: Diese besitzt ein Körper, wenn seine Massetheilchen, aus ihrer ursprünglichen gegenseitigen Lage gerückt, wieder in dieselbe zurückzukehren streben. In dieser Be­ ziehung unterscheidet man eine vollkommene Elasticität, bei welcher die Massetheilchen nach Aufhören der mechani­ schen Einwirkung wieder vollkommen in ihre ursprüngliche Lagerung zurückkehren, von einer unvollkommenen, in welcher diese Rückkehr entweder gar nicht oder nur in sehr geringem Grade stattfindet. Diese beiden Eigenschaften können sich in folgender Weise combiniren: 1. Ein Körper kann sehr fest sein, der Verschiebung seiner Theile einen großen Widerstand entgegen­ setzen, allein dabei eine unvollkommene Elasticität besitzen, d. h. die Theile kehren nach der Verschiebung nicht oder nur wenig in ihre alte Lage zurück. 2. Ein Körper hat eine geringe Festigkeit, er leistet der Verschiebung seiner Masse­ theilchen einen geringen Widerstand, aber seine Elasticität ist sehr vollkommen, d. h. sie kehren nach Aufhören der ver­ schiebenden mechanischen Kraft vollkommen in die alte Lage zurück; dahin gehört im allgemeinen die lebendige Substanz. 3. Ein Körper ist sehr fest und besitzt eine vollkommene Elasticität; dahin gehören z. B. die meisten Hartgebilde des thierischen Körpers, wie die Knochen. 4. Die Festigkeit ist gering und die Elasticität sehr unvollkommen; dahin gehören die Substanzen, die wir teigig und flüssig nennen. Betrachten wir nun das Verhalten dieser verschiedenen Eigenschaften gegenüber einer mechanischen Bewegung, z. B.

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3. Allgemeines über den Kräftewechsel.

einem Mechanischen Stoß: so besteht die Reflexionssähigteit darin, daß derselbe zurückgeworfen wird; die Leitungs­ fähigkeit darin, daß kein Zurückwerfen, sondern eine Ver­ schiebung der Massetheilchen des getroffenen Körpers erfolgt, die nach Maß, Masse und Geschwindigkeit möglichst der des stoßenden Körpers gleicht; die Empfindlichkeit darin, daß die mechanische Bewegung in eine molekulare, z. B. Wärme, umgewandelt wird. Das Verhältniß der Ausschließung zwischen den drei genannten Eigenschaften zeigt sich in folgender Weise: Ein fester Körper, vorausgesetzt daß er sich als Ganzes nicht verschieben läßt, ist ein schlechter Leiter für mechanische Bewegung, weil er der Verschiebung seiner Massetheilchen großen Widerstand entgegensetzt; er wird also, gleiche Elasticität vorausgesetzt, besser reflektiren, einen Stoß zurück­ werfen, als ein weicher, der die mechanische Bewegung leicht in eine mechanische Verschiebung seiner Massetheilchen über­ führt d. h. mechanische Bewegung weiter leitet. Ein vollkommen elastischer Körper wird besser einen mechanischen Stoß reflektiren als ein unvollkommen elastischer, weil seine Fähigkeit zur mechanischen Verschiebung der Masse­ theilchen d. h. zur Leitung einer mechanischen Bewegung in hohem Grade dadurch beeinträchtigt ist, daß die Theilchen nach ihrer Verschiebung mit einer der verschiebenden Kraft ebenbürtigen die alte Lage einzunehmen streben. Wir ver­ wenden deshalb überall da, wo es sich um Verhinderung der Fortleitung, also um die möglichst vollständige Reflexion einer mechanischen Bewegung, namentlich des mechanischen Stoßes handelt, Stoffe, die eine vollkommene Elasticität besitzen; die gleiche Rolle spielen die vollkommen elastischen Substanzen in der Mechanik des Thierkörpers. Das Verhältniß der Ausschließung zwischen Empfind­ lichkeit einerseits, Leitungs- und Reflexionsfähigkeit andrer-

4. Quelle der Lebenskräfte.

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seits zeigt sich bei der mechanischen Bewegung in folgenden:: Ein fester Körper, der eine Bewegung schlecht leitet, wird sich stärker erwärmen d. h. einen größeren Theil der ihn treffenden mechanischen Bewegung in Wärme umwandeln als ein weicher, der die mechanische Bewegung leicht leitet. Ein eine mechanische Bewegung gut reflektirender oder voll­ kommen elastischer Körper wird sich nicht so leicht erwärmen als einer, der sie schlecht resiektirt. Combiniren wir beides, so wird ein Körper von geringer Festigkeit, aber voll­ kommener Elasticität (und dahin gehören viele Stoffe des Thierkörpers) am wenigsten empfindlich gegen mechanische Bewegung sein d. h. am wenigsten Reibungswärme erzeugen, während feste und sehr unvollkommen elastische Körper am empfindlichsten sind. Diese Verhältnisse sind für das Verständniß der Physio­ logie von entscheidender Bedeutung, da die lebendige Sub­ stanz und die von ihr gebildeten Gerüstsubstanzen sich von den leblosen Stoffen dadurch unterscheiden, daß sie mole­ kulare Bewegungen schlecht leiten und reflektiren und dem­ gemäß gegen sie in hohem Grade empfindlich sind, während sie umgekehrt gegen mechanische Bewegung in ausgesprochenem Maße wenig empfindlich sind d. h. sie leicht leiten oder

reflektiren und wenig Reibungswärme produciren.

4. Quelle der Lebenskräfte. Haben wir im vorigen Kapitel die allgemeinen Ver­ hältnisse des Kraftwechsels kennen gelernt, so erhebt sich jetzt

die Frage: Welcher Art sind die Kraftwechselvorgänge in der lebendigen Substanz? Die zusammenfassende Antwort lautet: Sie nimmt Kräfte und zwar sehr ansehnliche in der Jäger, die menschliche Arbeitskraft. 4

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4. Quelle der Lebenskräfte.

Form von Spannkräften in sich auf und die freien Be­ wegungen, welche unaufhörlich die ganze Natur durchziehen, wirken wegen der großen Empfindlichkeit der Substanz als Reize auslösend auf die im Innern befindlichen Spannkräfte, d. h. setzev sie in freie lebendige Kräfte um. Wir müssen uns das jedoch genauer besehen.

Wir sagten früher, unter die festen Stoffe, welche eine zur Ernährung der lebendigen Substanz taugliche Flüs­ sigkeit enthalten müsse, gehören Eiweißkörper, Zuckerarten und Neutralfette oder deren Seifen. Betrachtet man nun deren chemische Zusammensetzung, so1 ergibt sich, daß in dem Molekül aller dieser Stoffe sehr wenig Sauerstoff ent­ halten ist, der Zusammenhang der Atome somit nur auf der Sättigung der schwachen Affinitäten zwischen Kohlenstoff einerseits und Wasserstoff oder Stickstoff andrerseits beruht. Nehmen mit ein Beispiel:

In einem der bekanntesten Neutralfette, dem Stearin, enthält die Stearinsäure 18 Atome Kohlenstoff, 36 Atome Wasserstoff und nur 2 Atome Sauerstoff. Nun reichen die letzteren nur zur Sättigung der Affinitäten eines einzigen Atoms von Kohlenstoff aus; es bleiben mithin 17 Atome Kohlenstoff und 36 Atome Wasserstoff übrig, die stets bereit sind, die schwache Affinität, die zwischen^ diesen beiden Ele­ menten besteht, durch die starke Affinität zwischen Sauerstoff einerseits, Kohlenstoff und Wasserstoff andrerseits zu ver­ tauschen und so zu Kohlensäure und Wasser zu verbrennen, wozu die 17 Kohlenstoffatome 34 Atome Sauerstoff, die

36 Wasserstoffatome 18 Sauerstoffatome gebrauchen. . Auch das mit der Stearinsäure verbundene Glycerin hat nur 3 Sauerstoffatome auf 3 Atome Kohlenstoff und 8 Atome Wasserstoff, so daß es ebenfalls noch 7 Atome Sauerstoff aufzunehmen vermag.'

4. Quelle der Lebenskräfte.

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Wir haben nun im vorigen Abschnitt gesehen, daß jedes­ mal lebendige Kräfte frei werden, wenn eine schwache chemische Affinität durch eine starke ersetzt wird. Wenn also das in die lebendige Substanz eingedrungene Fett in ihr zu Kohlen­ säure und Wasser verbrannt wird, so müssen ganz bedeutende lebendige Kräfte entstehen. Daß diese Verbrennung wirklich stattfindet, ist durch die Versuche außer allen Zweifel gesetzt, und ganz dasselbe gilt auch für die Zuckerarten und die Eiweißstoffe. Bei den letzteren erscheint, da sie stickstoffhaltig sind, als Verbrennungsprodukt neben Kohlensäure und Wasser noch Harnstoff. Man kann nun die Kräfte, welche bei der Verbrennung der genannten Stoffe frei werden, theils durch Rechnung bestimmen, theils durch direkten Versuch, indem man be­ stimmt, wie viele Wärmeeinheiten sich bilden, wenn ein be­ stimmtes Gewicht (ein Gramm) derselben mit chlorsaurem Kali und Manganüberoxyd verpufft wird. Frankland, der diese Versuche anstellte, fand für ein Gramm Zucker rund 3300, für ein Gramm Eiweiß rund 5000 und für ein Gramm Ochsenfett rund 9000 Wärmeeinheiten, woraus sich ergibt, daß es sich hiebei um höchst bedeutende Kraftmengen handelt und daß von den drei genannten Stoffen das Fett als Krafterzeuger die zwei andern weitaus übertrifft; übrigens drücken die obigen Ziffern das Verhältniß von Fett und Kohlenhydraten nicht richtig aus, sie verhalten sich wie 17:10. Berechnet man aus diesen Ziffern, wie viel Kräfte durch die Nahrungsmenge, die ein erwachsener Mensch durchschnitt­ lich pro Tag zu sich nimmt, dem Körper zugeführt und dort auch wirklich entbunden werden, so gelangt man zu der er­ staunlichen Ziffer von 2,3 — 2,7 Millionen kleinen Wärme­ einheiten. Da nach dem früheren eine kleine Wärmeeinheit einer mechanischen Arbeit von 424 Grammmetern gleich 4*

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4. Quelle der Lebenskräfte.

kommt, so entspricht obiger Summe von Wärmeeinheiten eine mechanische Arbeit, welche in 24 Stunden ein Gewicht von 1 Kilo auf rund 1,15 Millionen Meter Höhe oder — das Körpergewicht eines Menschen zu 75 Kilo gesetzt — einen Menschen auf eine Höhe von 15333 Meter, also etwa doppelt so hoch als der höchste Berggipfel der Erde er­ heben könnte, natürlich vorausgesetzt, daß alle diese Ver­ brennungswärme in mechanische Arbeit umgesetzt werden könnte, was natürlich nie möglich ist, denn weitaus der größte Theil derselben wird als Wärme an die Luft durch Leitung, Strahlung und Verdunstung abgegeben. Um sich zu vergewissern, ob die Quelle der menschlichen Arbeitskraft wirklich nur die im Körper stattfindende Ver­ brennung der Nahrungsstoffe ist, hat man zwei sich controlirende Wege einzuschlagen: Einerseits hat man sie aus der Menge der aufgenommenen Nahrung berechnet und andrer­ seits hat man sie unmittelbar gemessen,' indem man die Größe der pro Tag geleisteten mechanischen Arbeit und die Menge der in dieser Zeit abgegebenen Wärme bestimmte. Das Ergebniß der Rechnung und das der Messung stimmen in so hohem Grade mit einander überein, daß die frühere An­ nahme, es gäbe für die menschliche Arbeitskraft noch eine andere Quelle als die obige, völlig unhaltbar geworden ist. Nachdem das unzweifelhaft festgestellt war, hat sich die Wissenschaft daran gemacht, zu bestimmen, welchen Antheil an der Krafterzeugung jede der drei schon mehrfach ge­ nannten Stoffgruppen nehme, da diese Frage von hohem praktischen Werth für die Frage nach der zweckmäßigsten Ernährung ist. Der langjährige Streit, den die namhaftesten Gelehrten darüber führten, hat bis jetzt das folgende kaum mehr anfechtbare Ergebniß gehabt. An der Erzeugung der Arbeitskräfte der lebendigen Substanz betheiligen sich stets alle drei Stoffgruppen,

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aber nicht in ganz gleicher Weise. Diese Verschiedenheit bezieht sich zunächst auf die quantitative Betheiligung: Es ist durch Versuche völlig sicher gestellt, daß bei Erhöhung der Leistungen der lebendigen Substanz der Verbrauch der stickstofflosen Substanzen (Zucker und Fett) eine sehr be­ trächtliche Steigerung erfährt, während der Verbrauch von Eiweißstoffen zwar nicht, wie man eine Zeit lang annahm, gar nicht, sondern nur um einen überraschend geringen Be­ trag gesteigert wird. Ties ist wohl einfach so zu verstehen, daß eben die Fette und die Zuckerarien wegen ihrer viel leichteren Oxydirbarkeit bei einer Steigerung der Verbren­ nungsvorgänge in der lebendigen Substanz in hervorragen­ dem Maße angegriffen werden, während die Eiweißkörper eben dadurch vor der Zerstörung beschützt sind, daß der Sauerstoff sich stets auf die leichter oxydirbaren Stoffe wirft. Die Rolle, welche die Eiweißstoffe bei der Arbeits­ leistung spielen, ist eine mehrfache: 1. Sind sie es, welche für die Herbeischaffung des Sauer­ stoffs sorgen; denn darüber lassen die Versuche kaum einen Zweifel, daß die Sauerstoffaufspeicherung das Werk der Ei­ weißstoffe ist und daß diese nm so reichlicher ausfällt, je reicher an Eiweiß die lebendige Substanz ist. Wir werden auf diesen für die menschliche Arbeitskraft so wichtigen Punkt noch später zurückkommen. 2. Hängt von der Menge des Eiweißes ab, wie viel Don den bei der Oxydation frei werdenden Kraftmengen in mechanische Arbeit umgesetzt wird; denn die Zug- und Druckkräfte, die von der lebendigen Substanz geleistet werden, Zehen von den festen Theilen derselben aus und diese sind Eiweißstoffe. Ich will ein zwar nicht ganz treffendes aber doch anschauliches Beispiel heben: Wenn wir Schießpulver offen an der Luft abbrennen, so wird damit sehr wenig mechanische Arbeit geleistet; es verpufft unter vorzugsweiser

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4. Quelle der Lebenskräfte.

Entwicklung von Wärme. Schließen wir es dagegen in eine feste Hülle ein, welche Widerstand zu leisten vermag, so wird ein großer Theil der frei werdenden Kraft in mecha­ nische Triebkraft umgesetzt. Deshalb ergibt sich auch von dieser Seite der Satz: Je reicher an Eiweißstoffen, ins­ besondere an festem Eiweiß oder, wie es andere nennen, Organeiweiß eine lebendige Substanz ist, um so höhere mechanische Kräfte kann sie entwickeln. 3. Die zwei eben erwähnten Verrichtungen der Ei­ weißstoffe haben eine gewisse Abnützung zur Folge, die eine Oxydation derselben ist, und insofern auch hiebei, wie oben gezeigt wird, Spannkräfte frei gemacht werden, spielt das Eiweiß dieselbe Rolle wie die stickstofflosen Nährstoffe. Dieser Abnützungsbetrag hält sich jedoch in sehr mäßigen, auch durch angestrengtere Arbeit nicht erheblich gesteigerten Grenzen, solange noch genügender Vorrath von leicht oxydirbaren Stoffen (Fett und Zucker) vorhan­ den ist. Ist jedoch dieser aufgebraucht, dann greift der Sauerstoff auch das Eiweiß an, das jetzt völlig die Rolle der stickstofffreien Stoffe übernimmt, aber zum Schaden für die lebendige Substanz, deren Struktur dabei nothleidet. Darauf beruht der nachtheilige Einfluß der Ueberarbeitung. Bei einem Dampfkessel wäre das allenfalls so, wie wenn man, falls das Holz zur Feuerung ausgegangen ist, das die Kessel­ wände bildende Eisen zur Heizung verwenden würde, wobei diese natürlich bleibenden Schaden nehmen. Ueber den Unterschied in der Krafterzeugung zwischen Zucker und Fett wurde schon gesprochen, es soll aber hier die Sache noch genauer präzisirt werden. Als Heizmaterial verhalten sich Zucker und Fett etwa wie Stroh und Holz. Der rasch und leicht verbrennbare Zucker ist vorzüglich zum Anheizen der Arbeitsmaschine, das schwerer verbrennbare

4. Quelle der Lebenskräfte.

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und fast doppelt so viel Wärme liefernde Fett eignet sich zur andauernden intensiven Inganghaltung der Maschine. Auch in dem Stück trifft der Vergleich zu: Wie man auch in schlecht ventilirtem Ofen Stroh verbrennen kann, so genügt für die Erzeugung von Arbeit aus Zucker auch eine mäßigere Sauerstoffzufuhr, also, da diese von der Eiweißmenge ab­ hängt, auch eine an Eiweiß ärmere lebendige Substanz und eine geringere Einwirkung der Lebensreize. Das schwerer oxydirbare Fett verlangt aber gleich dem schwerer brenn­ baren dichten. Holz lebhafte Ventilation, einen gut ziehenden Ofen d. h. eine sehr eiweißreiche, viel Sauerstoff herbei­ führende lebendige Substanz und eine lebhaftere Einwirkung der Lebensreize. Dem entspricht auch wirklich der Gebrauch, den der Mensch von diesen beiderlei Nahrungsstoffen macht. Das Fett bevorzugen Leute, die schwer und angestrengt arbeiten müssen, und dann ziehen wir es im Winter und im kalten Klima vor, weil hier die größere Luftdichtigkeit eine energischere Sauerstoffzufuhr zur Folge hat. Im heißen Klima dagegen und im Sommer sowie bei sitzender Lebensweise besteht eine durchaus sachlich begründete und zweckentsprechende Abneignng gegen das Fett, während unter diesen Verhältnissen gerade der Zucker bevorzugt wird. Knüpfen wir daran noch eine rückläufige Erörterung, um die menschliche Arbeitskraft bis in ihre letzte Quelle zu verfolgen. Die mit Spannkraft geladenen und deshalb Kräfte ent­ bindenden Nahrungsstoffe. verdanken ihre Entstehung der Assimilationsthätigkeit der Pflanzen. Diese nehmen ihrerseits als Nahrung Kohlensäure, Wasser und Ammoniak, also drei Stoffe auf, in welchen die stärksten Affinitäten, die zwischen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff bestehen, vollständig gesättigt, mithin lediglich keine Spann-

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4. Quelle der Lebenskräfte.

käste vorhanden sind. Die Aufgabe der Pflanze ist, diese starken Affinitäten successive zu lösen und durch die schwächeren Affinitäten zu ersetzen, welche zwischen Kohlen­ stoff und Wasserstoff sowie zwischen Kohlenstoff und Stickstoff

bestehen. Das geschieht, indem die Pflanze dem Wasser und der Kohlensäure successive Sauerstoff entzieht. Thut man

das, so verbinden sich der restirende Wasserstoff und der restirende Kohlenstoff zu Kohlenwasserstoffen, die noch freie Affinitäten haben (CH2 oder CH3), und indem diese an schon vorhandene Atomketten sich außen- anschließen (wenn sie nur noch eine Affinität frei haben) oder in sie sich ein­ schalten (wenn noch zwei Affinitäten frei sind) und indem das fort und fort geschieht, bilden sich allmählich immer complicirtere und successive sauerstoffärmere Verbindungen, zuerst die bekannten Pflanzensäuren, dann die Fett­ säuren und endlich die Kohlenhydrate (Stärke, Zucker, Holzfaser) und Neutralfette. Fassen wir z. B. die auf­ steigenden Reihen ins Auge, deren eine mit der Oxalsäure, deren andere mit der Essigsäure beginnt, so besteht die fort­ schreitende Complicirung und Ladung mit Spannkräften darin , daß Zug um Zug die weitere Atomgruppe CH2 in das Molekül eintritt. Die Bildung der Eiweißstoffe können wir zwar noch so wenig übersehen, als wir ihre Molekularstruktur kennen; allein so viel ist gewiß, daß der Ausgangspunkt für sie das Ammoniak ist und daß es sich hier um die Ersetzung der starken Affinität zwischen Stickstoff und Wasserstoff durch die schwache Affinität zwischen -Stickstoff und Kohlenstoff handelt. Wir sahen im vorigen Kapitel, daß zur Ersetzung starker Affinitäten durch schwache ein Kraftaufwand gehört, also die Anwendung freier Kräfte, die dabei verschwinden. Das ist in der That der Fall; die Pflanze besitzt aber nicht selbst

5. Die Reizung.

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diese Kräfte, sondern die arbeitende Kraft ist, wie Versuche auf das unwiderleglichste dargethan haben, das Sonnen­ licht, das von den grünen Pflanzentheilen zu diesem Zweck absorbirt wird. Wenn also schon gesagt worden, die Stein­ kohle, das Brennholz, kurz alle unsere Heizmaterialien seien eigentlich kondensirter Sonnenschein, so gilt das gleiche von unseren Nahrungsmitteln: die menschliche Arbeitskraft ent­ stammt in letzter Instanz der Sonne.

5. Die Reizung. Wir haben schon im vorigen Abschnitt erfahren, daß die Umwandlung der Spannkräfte in freie lebendige Kraft nicht blos von der Anwesenheit der nöthigen Materialien, also im vorliegenden Fall der Nahrungsstoffe und des Sauer­ stoffs abhängt, sondern daß hiezu noch das sogenannte aus­ lösende Moment gehört, das also dem Funken gleicht, der das Pulver entzündet. Diese Rolle übernehmen bei der lebendigen Substanz zweierlei Dinge: 1. die freien Bewegungen, welche die Umgebung der Thierkörper und diese selbst bald vorübergehend bald mehr oder weniger stetig durchziehen oder treffen, also mecha­ nische Stöße und die verschiedenen molekularen und intramolekularen Bewegungen, die wir im letzten Abschnitt geschildert haben: die Licht- und Schall­ schwingungen, die elektrischen Ströme. 2. Spielen eine Reihe chemischer Stoffe die Rolle des auslösenden Momentes und zwar theils solche, welche diese Wirkung ihrer Beimischung zur Nahrung verdanken (Ge­ schmackstoffe), theils solche, welche der Luft beigemischt sind (Riechstoffe).

58

5 Die Reizung.

Mit Rücksicht auf diese Rolle nennen wir alle die an­ gegebenen Dinge Reize und unterscheiden die ersteren als physikalische Reize von den letzteren, die wir chemische nennen. Für ihre Wirkung sind mehrere Umstände maß­ gebend. Einmal handelt es sich dabei um bestimmte Quali­ täten und Quantitäten der Bewegungen der Stoffe, wenn sie als Reize wirken sollen, und dann auch um bestimmte Qualitäten der lebendigen Substanz. Besprechen wir zu­ vörderst das erstere. Als allgemeinster und erster Satz gilt hier: Als Reize dienen alle diejenigen Einwirkungen, welche eine plötzliche Störung des chemischen oder physikalischen Gleichgewichtes im Aufbau der lebendigen Substanz Hervorrufen. Solche Störungen sind: a) chemische Zersetzungen, insbesondere Oxy­ dationen; d) Störungen des Aggregatzustandes, also Gerin­ nung flüssiger Stoffe und Verflüssigung fester; c) Störung des mechanischen Gleichgewichts durch Druck, Zerrung, Quel­ lung oder Schrumpfung; d) Störung des elektrischen Gleich­ gewichts, worüber Näheres bei Schilderung der thierischen Elektricität. Aus der Thatsache, daß die Erregung die Störung einer Gleichgewichtslage ist und daß jede Störung einer solchen mit der Annahme einer neuen Gleichgewichtslage endet, die Ruhe ist, geht hervor, daß stetige d. h. in ihrer In­ tensität sich gleichbleibende Einwirkungen nur im Moment ihres Auftreffens erregend einwirken, diese Eigenschaft aber sofort verlieren, sobald die neue Gleichgewichtslage ge­ funden ist. Daraus folgt, daß die Erregung nur durch ein­ zelne Stöße zu Stande kommt, welche gegen das labile chemisch-physikalische Gebäude des Protoplasmas geführt wer­ den. Für die einzelnen Reize ergibt sich demnach folgendes: Massenbewegungen wirken nur, insofern sie Stöße oder Truckschwankungen sind. Von den molekularen

5. Die Reizung.

5fr

Bewegungen wirken am nachhaltigsten die, welche ausSchwingungen bestehen, weil jeder Schwingung ein Stoß, entspricht; dahin gehören die Schall-, Licht-und Wärme­ schwingungen. Die elektrische Bewegung, welche keineOscillation, sondern eine stetig fließende ist, wirkt nur bei ihrem Eintritt in das Protoplasma (Schließungsreiz), bei. ihrem Aufhören (Oeffnungsreiz) und dann, wenn und so­ oft der elektrische Strom Dichtigkeitsschwankungen ausführt. Weiter ist für alle diese als Reiz wirkende Stöße erforderlich, daß sie mit einer gewissen Plötzlichkeit d. h. ruckweise erfolgen; langsam sich vollziehende Zustandsveränderungen, wirken nicht erregend. Von den chemischen Reizen gilt dasselbe: Als Reize wirken nur solche, welche plötzliche Gleichgewichtsstörungen und zwar Störungen des chemischen Gleichgewichts, Störungen, des Aggregatzustandes oder Störungen des mechanischen Gleich­ gewichtes Hervorrufen. Dahin gehören vor allem Säuren^ organische wie unorganische, viele Metallsalze, unter diesen besonders die Kalisalze, die Natronsalze erst in hoher Con­ centration, dann alle Stoffe, die dem Protoplasma rasch Wasser entziehen (z. B. Kochsalz in fester Form, Alkohols heiße Körper rc.) oder rasch stärkere Quellung Hervorrufen^ wie destillirtes Wasser. Ein weiterer Punkt sind die quantitativen Verhält­ nisse der Reize. Hier ist zuerst zu sagen, daß ein Reiz, um eine Erregung zu erzeugen, eine gewisse Stärke haben muß. Dieses Minimalmaß bezeichnet man als'den Schwellen­ werth des Reizes, von der Vorstellung ausgehend, daß ein Reiz, wenn er Erregung Hervorrufen soll, in das Proto­ plasma eindringen, über die Schwelle desselben treten muß. Dieser Schwellenwerth richtet sich natürlich nicht blos nach der Natur des Reizes, sondern auch nach dem Grad ber

60

5. Die Reizung.

Erregbarkeit des Protoplasmas: er muß bei geringer Erreg­ barkeit größer sein als bei hoher. Von dem Schwellenwerth angefangen steigt mit dem Zunehmen der Reizstärke die Stärke der Erregung bis zu einem Maximum, über das hinaus keine Steigerung der Erregung, sondern eine totale Zerstörung der Protoplasmas eintritt: Todeswerth des Reizes. Innerhalb dieser Werthgrenzen ist jedoch noch ein Unter­ schied zu machen. Reizstärken des unteren Theils der Skala rufen bei dem hochdifferenzirten, leitenden Protoplasma der Nerven Empfindung, die Stärken des oberen Theils der Skala Schmerz hervor. Die Reizstärke, bei welcher die Empfindung in Schmerz übergeht, wird Schmerzwerth Les Reizes genannt. Das Eintreten des Schmerzes fällt wohl mit dem Eintritt der Zerstörung des Organeiweißes zusammen. Nähere Untersuchungen hierüber fehlen aber noch. Ob eine Erregung zu Stande kommt, hängt übrigens nicht allein von der Beschaffenheit und Stärke des Reizes, sondern auch von einem gewissen Rhythmus desselben ab. Die lebendige Substanz besitzt allen Arten von Reizen gegen­ über (freilich nur innerhalb gewisser Grenzen) die Fähigkeit der Gewöhnung. Mit der großen Labilität ihres Gleich­ gewichts ist nämlich eine hohe Fähigkeit verbunden, neue Gleichgewichtslagen anzunehmen, also mit solcher Einflüssen, die sonst das Gleichgewicht stören, sich ins Gleichgewicht zu setzen. Dies hat natürlich zur Folge, daß die Erregung durch anhaltende, gleichmäßig wirkende Reize zunächst an Stärke abnimmt und schließlich ganz aus­ bleibt. Derartige Beobachtungen lassen sich an Gehör-, Ge­ sicht- und Tastsinn machen: z. B. monotone Geräusche wirken schließlich nicht mehr als Reiz, wohl aber plötzliches Auf­ hören oder Stärkeschwankung. Das gleiche gilt von' einem lange Zeit gleichbleibenden Lichtreiz und von Tastreizen mit

5. Die Reizung.

61

monotonem Rhythmus, z. B. dem Pulsschlag. Bei der ge­ leiteten Wärme liegt die Gewöhnung klar zu Tage: sie besteht hier darin, daß das Protoplasma die gleiche Tempe­ ratur wie das Medium annimmt, d. h. daß jetzt die Mole­ küle des Protoplasmas denselben Wärmebewegungs­ rhythmus annehmen, den die des umgebenden Mediums haben. Aehnlich haben wir uns dann wohl auch die Ge­ wöhnung an Schallschwingungen, Lichtschwingungen re. als Annahme eines synchronen Rhythmus seitens der molekularen Bewegungen des Protoplasmas zu denken. Wir müssen dann die Lehre von der Reizwirkung dahin ergänzen, daß wir sagen: Als Reize wirken rhythmisch schwan­ kende Bewegungen nur so lange, als ihr Rhyth­ mus mit dem Rhythmus der Eigenbewegungen des Protoplasmas nicht synchron ist; die Syn­ chronie tritt aber bei gleichbleibendem Reiz­ rhythmus (innerhalb gewisser Grenzen) mit der Zeit ein, in Folge einer Fähigkeit des Protoplasmas, die wir Anpassungsfähigkeit oder Gewöhnungsfähigkeit neunen. Daß es auch den chemischen Reizen gegenüber eine An­ passungsfähigkeit gibt, zeigen die Erfahrungen des Geruchs­ und Geschmackssinnes : z. B. heftige Gerüche wirken schließ­ lich nicht mehr als Reiz, wenn sie lange Zeit in gleich bleibender Stärke einwirken oder sie verlieren wenigstens bedeutend an Reizungsfähigkeit. Die Physiologen haben die Erscheinung der Gewöhnung, die im praktischen Leben eine so wichtige Rolle spielt unt> für die wissenschaftliche Zoologie von größtem Interesse ist, bisher theils gar nicht beachtet, theils für Wirkung der nach­ her zu besprechenden Ermüdung gehalten. Allein schon eine oberflächliche Erwägung lehrt, daß zwischen Ermüdung und Gewöhnung scharf unterschieden werden muß: die

62

5. Die Reizung.

physikalische Gewöhnung ist ein Akt der Anpassung des Rhythmus und beruht sicher nicht auf Bildung von Er­ müdungsstoffen. Die chemische Gewöhnung ist noch völlig dunkel. Gehen wir nun zu den Bedingungen über, welche seitens t)er lebendigen Substanz vorliegen müssen, wenn ein Reiz Line Arbeitsauslösung hervorbringen soll. Man bezeichnet diese Eigenschaft als Erregbarkeit und es handelt sich hiebei um ziemlich verwickelte Verhältnisse, von denen ich zuerst die quantitativen nenne. Als Maßstab für die Er­ regbarkeit benützen wir nämlich: 1. die Zeit, welche zwischen der Reizung und dem Eintritt der Erregung verstreicht: Dauer der latenten Reizung;

2. die Dauer des Erregungszustandes an der vom Reiz getroffenen Stelle des Protoplasmas: Erregungsdauer;

3. die Geschwindigkeit, mit welcher der Erregungs­ vorgang von der getroffenen Stelle über zusammenhängende Protoplasmamassen sich fortpflanzt: Erregungsleitung; 4. die Höhe der minimalen Reizstärke, die eben noch hinreicht, eine Erregung hervorzubringen und die man den Schwellenwerth des Reizes nennt, ist ein Maßstab für die Leichtigkeit der Erregung; 5. die Ausgiebigkeit des Erregungsvorgangs einer und derselben Reizstärke: Erregungsstärke;

bei

6. die Länge der Zeit, während welcher das Proto­ plasma bei Fortdauer der Reizung seine Erregbarkeit be­ wahrt, ohne in den Zustand der Müdigkeit zu verfallen:

Ermüdbarkeit. Die allgemeinen chemischen Bedingungen der Er­

regbarkeit sind folgende:

5. Die Reizung.

63

1. Die Größe und Ausgiebigkeit derselben steht in ge­ radem Verhältniß zu der Menge des in dem Protoplasma vorhandenen d. h. locker gebundenen Sauerstoffs. 2. Je reicher (innerhalb gewisser Grenzen) das Proto­ plasma an Albuminaten ist und zwar an Organeiweiß, und je ärmer (natürlich wieder innerhalb gewisser Grenzen) an Wasser und Fett, desto erregbarer ist es. Wie bereits an­ gegeben, hat dies seinen Grund darin, daß nach Henne­ bergs Untersuchungen die Sauerstoffaufspeicherung vom Eiweiß ausgeht, sowie darin, daß offenbar die elektromotorisch wirksamen Theile aus Albuminaten bestehen. 3. Die Rolle des Fettgehaltes bei der Erregbarkeit kann kurz dahin präzisirt werden: Mit der Menge des verfüg­ baren Fettes nimmt die Ermüdbarkeit des Protoplasmas ab; allein die Einlagerung des Fettes in das Protoplasma setzt die Erregungsstärke offenbar herab und zwar um so mehr, je weniger fein es darin vertheilt ist (siehe auch später). 4. Die Erregbarkeit ist an einen bestimmten mittleren Wassergehalt gebunden; eine Aenderung desselben nach beiden Richtungen alterirt sie erheblich. Bei Vermehrung des Wasser­ gehaltes nimmt die Erregbarkeit zu, aber die Leitungsfähig­ keit für den Erregungsvorgang nimmt ab. 5. Die Erregbarkeit steht im umgekehrten Verhältniß zur Anwesenheit einer Gruppe von Stoffen, die man aus diesem Grunde als Ermüdungsstoffe bezeichnet. Festgestellt ist diese Beziehung (hauptsächlich durch I. Ranke) für die Milchsäure und das saure phosphorsaure Kali, in gewissem Sinn auch für die Kohlensäure. Ueber das Verhalten der übrigen Protoplasmastoffe zur Erregbarkeit ist noch wenig bekannt. Von den Kohlenhydraten weiß man, daß dieselben ein wichtiges Material für die Entbindung freier Kräfte sind, also eine ähnliche Rolle spielen wie das Fett. Von den rückgebildeten Stoffen und Aus-

64

5. Die Reizung.

wurfstoffen besitzt man einige Anhaltspunkte dafür, daß sie als Ermüdungsstoffe wirken, d. h. daß sie die Erregbarkeit vermindern und schließlich vernichten. Ueber die allgemeinen physikalischen Bedingungen der Erregbarkeit ist folgendes bekannt: 1. Dieselbe ist an eine bestimmte Temperatur in der Weise gebunden, daß eine Abweichung von derselben sowohl nach abwärts als nach aufwärts die Erregbarkeit herabsetzt. 2. Die Erregbarkeit ist nach Qualität und Quantität abhängig von dem physikalischen Bau. Darauf beruht die große Verschiedenheit im funktionellen Verhalten der ver­ schiedenen Protoplasma-Arten, deren jede ihre spezifische Er­ regbarkeit besitzt. Wir werden im folgenden Gelegenheit haben, hierauf näher einzugehen. 3. Die Erregbarkeit ist an einen bestimmten Aggregat­ zustand der Albuminate geknüpft, von denen gewisse im flüs­ sigen, andere im festen Aggregatzustand sich befinden. Wenn die ersteren faserig gerinnen, so ist die Erregbarkeit vernichtet. 4. Die Erregbarkeit ist von bestimmten elekromotorischen Eigenschaften des Protoplasma's abhängig, welche in dem Kapitel von der thierischen Elektricität näher geschildert wer­ den sollen. Eine weitere Eigenthümlichkeit der Erregbarkeit ist, daß sie rhythmischen Schwankungen unterliegt, und die Consequenz davon ist, daß der ganze Kraftwechsel der lebendigen Sub­ stanz ein rhythmischer ist, wie wir das auch für den Stoffwechsel gefunden haben. Der Grund hiefür ist, daß der Erregungsakt die Erregbarkeit herabmindert, ja bei genügender Stärke sogar vernichtet und zwar in Folge von zweierlei Umständen: 1. besteht der Erregungsakt in einer oxydativen Zer­ störung gewisser Bestandtheile der lebendigen Substanz, also einmal in einer Abnahme des aufgespeicherten Sauerstoffes

5. Die Reizung.

65

und dann einer Abnahme beziehungsweise Veränderung ge­ wisser fester Theile, was sich auch in einer Abnahme ihrer elastischen Kräfte äußert;

2. ist das Produkt der oxydativen Zerstörung eine Gruppe von chemischen Stoffen, welche, wie schon oben an­ gedeutet, die Erregbarkeit direkt herabmindern und zwar, wie man annimmt, weil sie der ferneren Oxydation der kraft­ erzeugenden Stoffe hinderlich in den Weg treten, wenigstens ist dies für die bei der Erregung stets auftretende Milch­ säure mit ziemlicher Sicherheit nachgewiesen. Ueber die andern oben angeführten Ermüdungsstosse haben die Un­ tersuchungen noch nicht die wünschenswerthe Klarheit gebracht. Den Vorgang selbst, d. h. die durch den Erregungsakt er­ zeugte Herabminderung der Erregbarkeit nennt man Er­ müdung. Dieselbe ist jedoch keine plötzliche Erscheinung, sie fängt ganz allmählich an und ihre Tiefe nimmt mit der Zahl der Erregungsakte successive zu. Je tiefer sie ist, um so geringer werden die durch die Erregungen erzeugten Arbeitsgrößen und um so stärkerer Reiz ist erforderlich, um

noch eine Erregung zu bewerkstelligen, bis schließlich die ge­ wöhnliche Reizstärke gar nicht mehr ausreicht, um eine Er­ regung zu Stande zu bringen: die lebendige Substanz ver­ harrt im Zustand der Ermüdungsruhe. Bei der Tiefe der Ermüdung ist eine Grenze, die Ueber müdungsgrenze, festzustellen und zwar auf Grund folgen­ der Erfahrung: Wird diese Grenze nicht überschritten, so erfolgt. in der jetzt eingetretenen Ruhepause die sogenannte Erholung, die wir gleich danach besprechen wollen; hat dagegen die Ermüdung einen zu tiefen Stand erreicht, sö bleibt die Erholung aus, d. h. die Erregbarkeit bleibt ent­ weder definitiv vernichtet, oder sie stellt sich zwar wieder ein, allein krankhaft verändert und sehr verspätet. Die Uebermüdung kann ebensogut durch zu heftige Reizung als durch Jäger, die menschliche Arbeitskraft.

5

66

5. Die Reizung.

zu lange fortgesetzte Thätigkeit herbeigeführt werden. Auf welchen chemisch-physikalischen Veränderungen sie beruht, ist noch nicht erforscht. Als Erholung bezeichnen wir den Vorgang, welcher der lebendigen Substanz das ursprüngliche Maß der Erreg­ barkeit wieder verschafft. Gleich der Ermüdung besteht sie aus einem positiven und einem negativen Theil. Der letztere ist die Entfernung der Ermüdungsstoffe theils auf physikali­ schem, theils auf chemischem Wege. Der physikalische Weg ist die Auswaschung der Ermüdungsstoffe durch das um­ spülende Medium, was durch die mit der Ermüdung ein­ tretende Oeffnung des Porenverschlusses erleichtert wird. Der chemische Akt beruht darauf, daß die wesentlichsten Ermüdungs­ stoffe Säuren und saure Salze sind, die ihre ermüdende Wirkung verlieren, sobald sie neutralisirt sind. Eine solche Neutralisirung findet statt, wenn alkalisch reagirende Stoffe vorhanden sind. Solche sind, wie wir später sehen werden, 1. innerhalb des Protoplasma's, das im müßigen Zustand eine schwach alkalische Reaktion zeigt, gegeben, so daß letzteres bis zu einem gewissen Grade aus eigenem Vorrath der Er­ müdung entgegenwirkt. Ist jedoch der Vorrath von Alkalescenz erschöpft, was sich darin zeigt, daß das Protoplasma im ganzen eine saure Reaktion angenommen hat, so kann 2. die chemische Erholung von dem umspülenden Medium ausgehen, sofern dieses verfügbare Alkalien in Lösung enthält. Dies gilt von Blut und Lymphe, deren Alkalinität mithin eine sehr wesentliche Eigenschaft für die Erfüllung der diesen Flüssigkeiten obliegenden sociologischen Funktionen ist. Dieser Umstand ist auch der Grund, warum für freies Protoplasma eine leichte Alkalescenz des umspülenden Mediums der Er­ haltung der Erregbarkeit günstiger ist als das Gegentheil; dies läßt sich z. B. bei Flimmerzellen und Samenfäden sehr deutlich experimentell zeigen.

5. Die Reizung.

67

Die positive Seite der Erholung ist die Zufuhr der Stoffe, die während des Erregungsvorganges zerstört worden sind, wobei es sich um den Sauerstoff und die fixen Proto­ plasmabestandtheile handelt. Für die Aufnahme der letzteren unterliegt es nach den Versuchen über den Unterschied in der Quellungsfähigkeit zwischen müßigem und ermüdetem Protoplasma kaum einem Zweifel, daß diese am energischesten im ermüdeten Zustand stattfindet, während im müßigen Zu­ stande die Absorptionskraft wenn nicht gleich Null, so doch bedeutend geschwächt ist. Auch in Bezug auf die Aufspeiche­ rung des Sauerstoffs findet ein Jntensitätsunterschied zwischen dem ermüdeten und dem müßigen Zustand statt, denn Voit und Pettenkofer fanden, daß die während des Schlafes stattfindende Sauerstoffaufspeicherung nach einem ermüdenden Arbeitstage stärker ist als nach einem Ruhetag. Diese positive Seite der Erholung bedingt nun einen Zusammenhang zwischen dem Rhythmus des Kraftwechsels und dem früher geschilderten des Stoffwechsels, dem wir eine besondere Beachtung schenken müssen. Stellen wir jedoch zuvörderst die Phasen des Kraft­

wechselrhythmus noch einmal kurz fest:

Wir sehen die lebendige Substanz in Folge dieses Rhyth­ mus einmal hin- und herschwanken zwischen einem Zustand der Thätigkeit oder Arbeit oder Erregtheit und einem Zustand der äußeren Ruhe. Der letztere begreift selbst wieder zwei erheblich verschiedene Zustände in sich: 1. den eben geschilderten Zustand der Ermüdungsruhe, in welchem die lebendige Substanz unfähig zur Arbeit ist; 2. den Zustand der Müßigkeit. In diesem ist die Er­ müdung beseitigt, die Arbeitsfähigkeit wieder hergestellt; allein es wird Ruhe beobachtet, weil der Anstoß zur Thätig­ keit, der nöthige Reiz fehlt. Tritt dieser hinzu, dann beginnt

5. Die Reizung.

68

der Cyclus von neuem mit dem Uebergang

in den thätigen

Zustand. Fragen wir nun: In welchem Zusammenhang steht dieser Kraftwechselrhythmus mit dem früher geschilderten aus einer Abwechslung zwischen Hungerzustand und Sättigungszustand bestehenden Rhythmus des Stoffwechsels?

Die Antwort ist

folgende: Der Zustand des Satt seins fällt zusammen mit dem Zustand der Müßigkeit.

Mit dem Eintritt in den Zu­

stand der Thätigkeit oder Arbeit beginnt ein lebhafter Stoff­

wechsel, der aber vorwaltend negativer Art ist, d. h. es überwiegt die Stoffabgabe über die Aufnahme.

der Anfang für den geben,

der in

Damit ist

Eintritt des H u n g e r Zustandes

seinem

mit dem

Höhepunkt

Müdigkeit zusammenfällt.

Zustand

ge­ der

Mit der Stillung des Hungers

(der Sättigung) und der Beseitigung der Müdigkeit (der Er­

holung) tritt das Protoplasma in den gesättigten und müßi­

gen Zustand zurück. Für das Verständniß des Lebens und der praktischen

Aufgaben der Lebenserhaltung und Erhaltung der Arbeits­ fähigkeit ist es von größter Wichtigkeit, zu wissen,

daß sich

Kraft- und Stoffwechsel auch in ihrem Rhythmus bedingen

und zwar nicht nur einseitig, sondern gegenseitig.

ist nämlich

sehr geneigt,

als

das

Man

wichtigste Moment der

Lebenserhaltung die Ernährung zu betrachten und den in der Arbeit gegebenen

Faktor

weniger

als

Bedingung,

sondern mehr als die Folge der Ernährung anzusehen. Daß das nicht nichtig ist,

daß wir es vielmehr mit gegenseitiger

Bedingung zu thun haben,

läßt sich aus dem bisherigen in

folgender Weise ableiten.

Der Prozeß der Ernährung

oder Sättigung,

welcher

den müßigen d. h. arbeitsfähigen gesättigten Zustand herbei­

führt, fällt nicht in den Zustand der Arbeit, sondern in den

5 Die Reizung.

69

des Hungers und der Müdigkeit, und beide, Hunger und Müdigkeit, werden nur durch die im folgenden Kapitel zu schildernden mechanischen und chemischen Vorgänge herbei­ geführt, aus denen sich die Arbeit des Protoplasma's zu­ sammensetzt. Aus dem Gesagten ergibt sich mit Nothwendigkeit: 1. daß die Arbeit durch Ruhepausen unterbrochen sein muß, wenn die Arbeitsfähigkeit nicht völlig verloren gehen soll, und daß diese lang genug sein müssen, um die Auf­ nahme des Nöthigen Ersatzes für das während der Arbeit verloren gegangene Material zu ermöglichen; 2. daß die Arbeit bis zum Eintritt stärkerer Müdigkeits­ grade fortgesetzt werden soll, um den Stoffwechsel, der zur Erholung führt, die nöthige Energie zu geben. Bei der praktischen Wichtigkeit der Sache sollen im folgenden zwei nach entgegengesetzten Seiten von der Mittel­ norm- abweichende Fälle in ihren Folgen besprochen werden. Unter äußeren Bedingungen, welche in Rücksicht auf die Ernährung möglichst günstig sind, dagegen möglichst un­ günstig in Bezug auf Kraftwechsel, also z. B. in dem Zustand, welchen wir bei unserem Mastvieh absichtlich herbeiführen und der beim Menschen bei 'ungenügender Bewegung und reichlicher Ernährung entsteht, tritt allmählich eine Verän­ derung in der Zusammensetzung des Protoplasma's ein, die wir als fettige Degeneration bezeichnen. Sie besteht in einer Zunahme des Fettgehaltes und entsprechen­ der Abnahme des Gehaltes an Eiweiß. Da das Eiweiß der den Sauerstoff anziehende und aufspeichernde Theil des Protoplasma's ist, so ist mit der Abnahme des Eiweißes eine wesentliche Bedingung der Erregbarkeit vermindert. Da ferner das Fett in Form kleiner, regellos im Protoplasma zerstreuter Körner auftritt, so wird dasselbe zu einer Hemmung für den linear fortschreitenden Erregungs-

70

5. Die Reizung.

Vorgang, und das ist wieder eine Beeinträchtigung der Er­ regbarkeit. So wird in dem Maße, als die Fettaufspeicherung und Verarmung an Albuminaten zunimmt, die Erregbar­ keit successive sinken, bis sie schließlich ganz erlischt und damit das Leben überhaupt.

Eine weitere Veränderung der Mischungsverhältnisse, die bei ungenügendem Kraftwechsel in der lebendigen Sub­ stanz eintritt, ist neben der Zunahme des Fettes auch eine Zunahme des Wassergehaltes zwar nicht im ganzen, sondern so: wenn man das Fett abrechnet, so ist das Mengenverhältniß von Eiweiß und Wasser zu Gunsten des letzteren verschoben. Damit ist nun zwar in einer Richtung ein Gegengewicht gegen die Fettvermehrung gegeben. Wäh­ rend die Zunahme des Fettes die Erregbarkeit herabmindert, wird sie durch Erhöhung des Wassergehaltes vermehrt; allein in zwei anderen Richtungen ist der Einfluß einnachtheiliger: die Fortleitung der Erregung ist beeinträchtigt und dies erschwert eine prompte Kraftentbindung, und weiter ist die bei der mechanischen Arbeitsleistung so wichtige Festigkeit der lebendigen Substanz und ihre elastische Kraft beeinträchtigt, was um so schwerer ins Gewicht fällt, als auch die Fettein­ lagerung in der gleichen Richtung benachtheiligend eingewirkt . hat. Fette Menschen sind deshalb zu keiner starken Kraft­

leistung fähig. Hiezu kommt ein weiterer Uebelstand, der der Fettan­ häufung entspringt. Wir sahen oben, daß das Fett unter allen Nahrungsstoffen die größte Verbrennungswärme besitzt; wenn nun eine mit Fett überladende lebendige Substanz zu arbeiten versucht, so wird durch die jetzt beginnende Fett­ verbrennung eine so große Wärmemenge entbunden, daß

abnorme Wärmesteigerung eintritt und die Arbeit unter­ brochen werden muß. (Fette Leute echauffiren sich leicht.)

5. Die Neizung.

71

Warum bei fortdauernder reichlicher Nahrungszufuhr und zu geringer Arbeit die oben genannten Veränderungen dep Mischung eintreten, läßt sich vielleicht so erklären: Wie wir gehört, besteht'im gesättigten Zustand ein Porenverschluß des Protoplasmas, der erst im Hungerzu­ stand einer Oeffnung der Poren weicht. Da bei der Mästung in Folge des geringen Bewegungsmaßes nur spärliche Mengen von Ermüdungsstoffen gebildet werden, so ist die Poren­ öffnung eine geringere, und daß das gerade die Aufnahme der Eiweißkörper beeinträchtigen muß, ergibt sich daraus, daß sie unter allen Stoffen die geringste Diffusibilität und Filtrationsfähigkeit haben. Während so der Nachschub von Eiweiß in das Protoplasma gehemmt ist, dauert im Organ­ eiweiß eine langsame Zersetzung fort, die darin besteht, daß aus demselben Fest wird; während bei genügend starker Er­ regung das aus dem Eiweiß durch Abspaltung entstehende Fett gewissermaßen in statu nascenti sofort weiter oxydirt und zur Arbeitsleistung verwendet wird, sammelt es sich bei der Mästung an. Bezüglich der Vermehrung des Wassergehaltes ist fol­ gende Auffassung zulässig: Wir haben früher gehört, daß am Schluß der Hungerperiode des Stoffwechselrhythnms ein Porenverschluß stattfindet, der mit einer gewissen Kraft er­ folgt und einen Filtrationsdruck auf die Quellungsflüssigkeit der lebendigen Substanz ausübt. Dies hat den Wiederaus­ tritt eines Theils der in der Hungerperiode aufgesaugten Flüssigkeit zur Folge, bei welchem jedoch die schwerer filtrirbaren colloiden Stoffe zurückgehalten und mehr nur das Wasser ausgetrieben wird. Da nun die Kraft, mit welcher der Porenverschluß herbeigeführt wird, von dem Gehalt an Eiweiß ausgeht, so hat eine Eiweißverarmung eine Schwächung dieses Mechanismus zur Folge und die Auspressung des überschüssig aufgenommenen Wassers

72

5. Die Reizung.

wird geringer. So wird es uns begreiflich, daß fette Menschen schon bei geringen Kraftanstrengungen große Mengen von Schweiß vergießen und umgekehrt, daß reich­ liche Eiweißnahrung den Wassergehalt der lebendigen Sub­ stanz rasch herabsetzt. Wir haben schon früher davon gesprochen, daß bei un­ genügender Menge von Zucker und Fetten in der lebendigen Substanz der Sauerstoff die Eiweißstoffe, also das aktive arbeitende Material angreift und daß das zum Ruin des Protoplasmas führt. Wir haben nun hier insofern daraus zurückzukommen, als dieser Fall dann eintritt, wenn das der Mästung entgegengesetzte Mißverhältniß zwischen Kraftund Stoffwechsel eintritt, nämlich übermäßige Arbeit bei quantitativ ungenügend er Ernährung. Aller­ dings tritt zunächst der regulirende Faktor dazwischen, daß die hiebei entstehenden Ermüdungsstoffe den Mechanismus vor weiterer Zerstörung schützen, weil sie die Erregbarkeit aufheben; allein da sie als leicht diffundirbare Stoffe rascher ausgewaschen werden, als die schwer diffundirbaren, den Er­ satz bildenden Eiweißkörper nachdrmgen können, so muß es successive zur Zerstörung des Protoplasmas kommen, wenn der Kraftwechsel in dem Momente wieder ausgenommen wird, in welchem mit der Auswaschung der Ermüdungsstoffe' und der ebenfalls rasch wieder erfolgenden Ladung des Protoplasmas mit Sauerstoff die Erregbarkeit wieder her­ gestellt ist. Das äußere Symptom dieser Zerstörung ist eine Volumabnahme (Consumption) und wahrscheinlich zuletzt eine Zerstörung des Mechanismus im Protoplasma mit definitiver Vernichtung der Erregbarkeit, worüber allerdings noch nähere Untersuchungen angestellt werden müssen. Im ganzen scheinen die Vorgänge dieselben zu bleiben, ob man dem Protoplasma die Nahrungszufuhr gänzlich ab­ schneidet (es aushungert), oder ob man seinen Soll-

6. Der Erregungsvorgang.

73

bestand durch übermäßige Steigerung des Kräftewechsels in der oben angegebenen Weise schädigt. Aus dem bisherigen erhellt weiter, daß es sich nicht blos um einen Zusammenhang des Rhythmus überhaupt, sondern auch um eine Beeinflussung der Dauer der ein­ zelnen Perioden handelt. Da die Höhe der Arbeitsleistung von der Masse des vorhandenen, Kraft erzeugenden Materials abhängt, diese aber, gleiche Energie vorausgesetzt, von der Dauer des Auf­ nahmevorgangs, so müssen die zwischen den einzelnen Arbeits­ perioden liegenden Ruhepausen eine bestimmte Dauer haben. Hiebei kommt ein regulirend wirkender Faktor in Betracht: War die der Pause vorausgehende Arbeit mit einem starken Stoffverbrauch verbunden, so hat sie auch große Ermüdung und Hunger erzeugt; bannt ist die Resorptionsfähigkeit des Protoplasmas gesteigert worden, und das ist gleichbedeutend mit einer Abkürzung der zur Sättigung erforderlichen Zeit­ dauer. Umgekehrt: War die vorhergehende Arbeit gering, so wird zwar ein geringeres Maß von Nachschub nöthig sein, allein da Hunger und Ermüdung nicht den hohen Grad erreicht haben, so ist eben auch die Resorptionsfähigkeit des Protoplasmas geringer. Dieser regulirende Vorgang hat zur Folge, daß (natürlich innerhalb gewisser Grenzen) starke Arbeitsleistungen keine längeren Ruhepansen erfordern als schwache.

6. Der Lrregungsvorgang. An den durch die Reizung hervorgerufenen Erregungs­ erscheinungen ist das auffälligste das quantitative Mißver­ hältniß zwischen dem äußeren Anstoß und dem Effekt. Der

74

6. Der Erregungsvorgang.

Reiz repräsentirt meist eine verschwindend kleine Kraftmenge, während der Erfolg der Reizung eine ganz beträchtliche Kraftentbindung sein kann. Dies erklärt sich daraus, daß

die müßige lebendige Substanz gewissermaßen einer mit Spannkräften geladenen Feuerwaffe gleicht, bei der ein Funken genügt, um das Pulver zu entzünden. Freilich be­ steht der große Unterschied zwischen beiden, daß die lebendige Substanz ihr Pulver nicht auf einmal verschießt. Jeder Reizung entspricht ein ziemlich rasch verlaufender Erregungs­ akt, der sich vielmals hinter einander wiederholen kann, ehe die vorhandenen Spannkräfte so weit aufgebraucht werden, daß Ermüdung eintritt.

Daraus erhellt, daß die mit dem Erregungsakt ver­ bundene oxydative Zerstörung quantitativ beschränkt ist, was ein Seitenstück zu der Thatsache ist, daß sie auch qualitativ beschränkt ist, und zwar insofern, als nicht alle Bestandtheile der lebendigen Substanz in gleicher Stärke zerstört werden, sondern die leichter oxydirbaren stärker und früher als die schwerer oxydirbaren. Eine weitere Eigenthümlichkeit bezieht sich auf die räumlichen Verhältnisse: Die Erregung bleibt nicht auf die vom Reiz getroffene Stelle beschränkt, sondern sie erstreckt sich von da aus gleich einer Welle über das ganze Stück fort mit einer Geschwindigkeit, die je nach der spezifischen Natur der lebendigen Substanz und je nach deren Erreg­ barkeilsverhältnissen verschieden ausfällt, worauf wir später noch zurückkommen werden. Da der Erregungsakt etwas von der Natur des Reizes gänzlich verschiedenes ist, so geht daraus hervor, daß das Fortschreiten der Erregung von der getroffenen Stelle keine unmittelbare Folge der Reizung ist, sondern daß die Er­ regung des zuerst getroffenen Querschnittes die Rolle des

75

6. Der Erregungsvorgang.

Reizes für den nächst anstoßenden Querschnitt übernimmt,

und dies setzt sich von Querschnitt zu Querschnitt fort.

Weiter ist der Erregungsakt ein zeitlich begränzterVorgang, d. h. er hat eine bestimmte Dauer, und in dieser

Zeit schwillt die Erregung zuerst an und dann wieder ab.

Die Dauer dieses Vorgangs ist wieder verschieden je nach der Natur der verschiedenen Gewebe und je nach den Zu­

ständen der Erregbarkeit überhaupt.

Jedem Reizstoß ent­

Ein weiterer Punkt ist folgender:

spricht Ein Erregun'gsakt;

folgen sich mehrere Reizstöße-

so schnell, daß der Erregungsakt noch nicht abgelaufen ist,

ehe der neue Stoß kommt, so kann eine derartige Summirung, der einzelnen Erregungsakte eintreten, daß dieselben in einen anhaltenden Thätigkeitszustand zusammenfließen,

Tetanus heißt.

den

man

Genauere Untersuchung weist jedoch nach,

daß diese Continuirlichkeit keine vollständige ist, sondern es

lassen sich

auch

regungsakte

nocy

erkennen

im Tetanus ebensoviel einzelne Er­ als Reizstöße stattfinden,

und

nur

gewisse Effekte z. B. die Zusammenziehungen nehmen dabei

den Charakter der Continuirlichkeit an. Nachdem

wir

im

Ganzes betrachtet haben,

Theile.zerlegen,

bisherigen

den

Erregungsakt

als

müssen wir ihn in seine einzelnen

denn es handelt sich dabei um complicirte

chemische und physikalische Geschehnisse. Bezüglich

der chemischen Vorgänge

herigen das nöthigste gesagt worden:

ist schon

im bis­

Es sind Dissociations-

bewegungen, die zur Oxydation bestimmter Stoffe des Protoplasma's führen, und der Effekt ist die Bildung von neuen chemischen Verbindungen, welche aus der lebendigen Substanz

austreten und dem umgebenden Medium beigemengt werden; diese Seite des Erfolgs nennt man Absonderung (sekre­ torischer Effekt).

Hiebei ist

jedoch zu bemerken, daß die

76

6. Der Erregungsvorgang.

Absonderung durch den Erregungsvorgang nur gesteigert wird, eine minimale Absonderung findet auch ohne ihn statt.

Die zweite Gruppe von Vorgängen sind die kinetischen. Die bei der Oxydation frei werdenden Spannkräfte nehmen nicht blos einerlei Form von freier Bewegung an, sondern wir sehen Wärmebewegung (thierischeWärme), elektrische Bewegung (thierische Elektricität) und —aber nicht immer — mechanische Bewegung (thierische Contraktilität) auf­ treten. Von diesen dreierlei Bewegungsformen dauern die Hwei ersten continuirlich, wenn auch nicht stets in gleicher Stärke fort: die lebendige Substanz erzeugt fortwährend Wärme und ist fortwährend auch im Ruhezustand von elek­ trischen Strömungen durchzogen, und zwar gilt dies, soweit bis jetzt theils wirklich ermittelt, theils mit Grund geschlossen werden darf, von allen lebendigen Geweben des Körpers. Das Auftreten von mechanischen Bewegungen hat man lange nur für eine Eigenthümlichkeit der lebendigen Substanz der Muskeln gehalten; jetzt weiß man, daß es wahrscheinlich allen Gewebssorten mit Ausnahme der Nervensubstanz zu­ kommt und der Muskel vor andern Gewebselementen nur das voraus hat, daß die Bewegungen bei ihm am auffällig­ sten und energischesten auftreten. Wenden wir uns nun zur Einzelnbetrachtung der genannten Bewegungserscheinungen. sDie elektrischen Bewegungen sind bis jetzt experimentell an der lebendigen Substanz der Muskeln, oer Nerven und der Drüsen, am vollständigsten an den zwei ersteren Gewebssorten studirt worden, weil sie hier der eigenthüm­ lichen Struktur dieser Gewebe wegen am stärksten auftreten. Es würde hier zu weit führen, auf alle die elektrischen Vor­ gänge einzugehen, die sich beobachten laffen; ich will nur das allernöthigste mittheilen, bezüglich des näheren muß ich auf die Handbücher der Physiologie verweisen.

6. Der Erregungsvorgang.

77

Zuerst ist zu sagen, daß die elektrischen Bewegungen zwar, wie schon oben gesagt, während des Lebens continuirlich anhalten, daß sie aber im ruhenden Zustand anders­ verlaufen als im erregten, thätigen. Untersucht man ein lebendiges aber im Ruhezustand befindliches Stück eines Muskels oder eines Nerven unter Einhaltung der genügenden Vorsichtsmaßregeln mit einem stromprüfenden Apparat, so verhält sich dasselbe wie ein Körper in dessen Achse ein doppelter Elektromotor, bzw. zwei mit ihren positiven Seiten einander zugewendete Elektromotoren liegen. Wir können uns ein Modell davon machen, wenn wir (siehe Fig. 1) einen Cylinder aus dem positiv-elektrischen Zink an beiden Enden mit einer Platte

Fig. 1 Ein peripolareS Element in einem flüssigen Leiter. Die Bogen geben die verschie­ denen AnlegungSweisen eines stromprüfenden Apparates: die punltirten Bogen sind die Anordnungen, bei denen man keinen Strom erhält (unwirksame); die schwamIiingen Bogen zeigen die Anordnungen, bei denen man schwache Ströme bekommt^ die kräftig gezeichneten geben die Anordnungen, bei welchen man starke Ströme er­ hält. L Längsschnitt, Q Querschnitt, ab elektrischer Aequator.

des negativ elektrischen Kupfers belegen und ihn in eine­ leitende Substanz versenken. Genau wie.an einem solchen Modell ist an Muskel und Nerv der Längsschnitt d. h. den Mantel des Cylinders positiv gegen die beiden Querschnitte^ die negativ elektrisch sind, und es laufen somit von einem»

78

6. Der Erregungsvorgang.

Aequator aus nach beiden Seiten Stromschleifen vom Längs­ schnitt zum Querschnitt. Man überzeugt sich hievon mittelst eines stromprüfenden Apparates in der in Figur 1 ange­ gebenen Weise. Legt man die beiden Pole eines solchen so an, wie es die punktirten Linien vorzeichnen, so erhält man keine Wirkung auf die Magnetnadel des Stromprüfers, weil entweder gar kein Strom in den Kreis tritt oder zwei gleich starke, aber, weil entgegengesetzt, sich aufhebende. Werden dagegen die Pole des Stromprüfers so angelegt, wie es die ausgezogenen Linien der Figur angeben, so gibt l)ie Magnetnadel einen Ausschlag, weil entweder nur Ein durchgehender Strom eintritt (starkwirksame Anordnung) oder zwar zwei entgegengesetzte eintreten, aber der eine stärker ist als der andere (schwachwirksame Anordnung). Da jedes, auch das kleinste noch untersuchbare Muskelund Nervenstückchen das gleiche Verhalten zeigt, so muß an­ genommen werden, daß nicht etwa ein einziger solcher doppelter (oder peripolarer) Elektromotor in einem Muskel oder Nerv vorhanden ist, sondern zahlreiche kleinste derartige, so wie es Figur 2. A versinnlicht. Es sind auch jetzt ge­ nügende Versuchsergebnisse vorhanden, um zu sagen, daß 'diese Elektromotoren in linearer Anordnung in den Muskelund Nervenfasern liegen müssen. Dadurch wird man ohne weiteres auf das Ergebniß der mikroskopischen Untersuchung der willkürlichen Muskeln hingeführt, welche eine völlig regelmäßige lineare Anordnung von zweierlei in ihrem op­ tischen und chemischen Verhalten verschiedenen Substanzen

enthalten, nämlich zahllose Reihen von Muskelprismen aus doppeltbrechender Substanz mit je einem Scheibchen oder, wie neuere Untersuchungen wollen, mit je zwei Scheibchen eines das Licht einfach brechenden Stoffes dazwischen. Diese Struktur ist also genau so, wie es das elektrische Verhalten Les Gesammtmuskels erwarten läßt, und so liegt die An-

6. Der Erreg unqsvorgang.

79

nähme sehr nahe, das Muskelprisma mit seinen beiden End­ scheibchen aus Zwischensubstanz sei jenes von der Theorie verlangte peripolare elektromotorische Doppelelement, in welchem das Muskelprisma dem positiv elektrischen Zink, die beiden Scheibchen der Zwischensubstanz, den beiden negativ elektrischen Zinkplatten entsprechen. Im Nerv ist es bis jetzt blos gelungen, zu sehen, daß die Struktur ebenfalls eine lineargeordnete ist; dagegen sind die Strukturelemente so klein, daß sie bis dato einer weiteren Auflösung getrotzt haben. Das im obigen geschilderte elektrische Strömungsver­ hältniß, das Nerv und Muskel im Ruhezustand zeigen, ist von seinem Entdecker der „ruhende Nerven- und Mus­ kel ström" genannt worden. Ich möchte ihn den „Müßigkeitsström" nennen, da er nicht blos den ruhenden Zustand an und für sich charakterisirt, sondern im müßigen Zustand stärker ist als im ermüdeten, also gerade den ersteren be­ sonders charakterisirt. Hat man einen lebenden Muskel mit einem strom­ prüfenden Apparat so in Verbindung gesetzt, daß eine ab­ geleitete Schleife des Müßigkeitsstroms die Magnetnadel von dem Nullpunkt abgelenkt hat, und veranlaßt nun den Muskel durch Reizung zu einer Zuckung, so sieht man die Magnetnadel eine Rückschwankung gegen den Nullpunkt, eine „negativ elektrische Stromesschwankung", ausführen. Dieselbe Erscheinung zeigt der Nerv, wenn er erregt wird. Untersucht man nun weiter, so ergibt sich, daß während der Erregung der elektrische Gleichgewichtszustand, der in der

Ruhe vorhanden war, gestört ist und zwar so: Der Müßigkeitsstrom besteht so wie er oben geschildert wurde noch fort, aber er ist bedeutend geschwächt, daneben aber ist eine zweite Strömung, ,,der Thätigkeitsstrom" vorhanden, der von der gereizten Stelle aus nach, beiden

BO

6. Der Erregungsvorgang.

Seiten geradlinig von Querschnitt zu Querschnitt, also so Ivie in einer Voltaischen Säule fortschreitet, deren eines Ende positiv, deren anderes Ende negativ elektrisch ist. Dies Verhalten weist auf eine veränderte Stellung der elektromotorischen Elemente oder wenigstens eines Theils derselben, nämlich auf eine dipolare Anordnung hin, wie sie entsteht, wenn man (siehe Figur 2. C) lauter einfache Elemente linear so ordnet, daß sich alle ihre ungleichnamigen Seiten zuwenden, während bei der peripolaren Anordnung das Doppelelemcnt dadurch entsteht, daß je zwei einfache Elemente sich ihre gleichnamigen Seiten zuwenden (siehe Figur 2. B).

Rifl. 2. Schema dcS elektrischen Verhaltens deS ProtoplaSma'S: A Reihe einfacher peri­ polarer Elemente; B dipolar- Elemente in paarweiser peripolarer Anordnung; C dipolare Elemente in dipolarer d. h. säulenartig polarisirter Anordnung.

Hiedurch kommen wir zu folgendem Vergleich vom elek­ trischen Bau von Muskel und Nerv: derselbe gleicht einer Reihe von winzigen Magnetnadeln, die sich mit ihren An­ ziehungen ins Gleichgewicht gesetzt haben; verrücken wir den letzten Magnet aus seiner Stellung, so muß eine Magnetnadel uni die andere eine Störung ihrer Gleichgewichtslage erfahren und so wird eine um die andere ihre Stellung ändern, es wird eine Störungswelle von einem Ende der Reihe zum

andern hinlausen.

6. Der Erregungsvorgang.

81

Weiter ist durch die sorgfältigsten Untersuchungen fest­ gestellt, daß die durch das Einbrechen des Thätigkeitsstromes hervorgerufene Störung des elektrischen Verhaltens durchaus in allen Beziehungen, in Bezug auf Stärke, An- und Ab­ schwellen, zeitlichen Beginn und Ende und Geschwindigkeit des Fortschreitens vollständig mit den übrigen Erscheinungen des Erregungsaktes zusammenfällt, und so besteht wohl kein Zweifel mehr darüber, .daß die genannte Störung ein integrirender Bestandtheil des Erregungsaktes, ja beim Nerven geradezu der Erregungsakt selbst ist, da bei diesem alle an­ dern Erscheinungen mangeln. Außer an Muskel und Nerv sind elektrische Erscheinungen bisher nur an den einfach gebauten Drüsen nachgewiesen worden, indem bei ihnen das blinde Ende positiv, das Mün­ dungsende negativ elektrisch ist. Wenn man bei den zu­ sammengesetzten Drüsen und an andern lebendigen Geweben des Körpers bisher keine elektrischen Erscheinungen wahr­ nehmen konnte, so darf dies durchaus nicht so gedeutet werden, als sei die Elektricität ein Privilegium von Muskel und Nerv und höchstens noch der Drüse. Der innige Zu­ sammenhang, der bei letzteren zwischen den Erregungs­ erscheinungen und den elektrischen Störungen besteht, berechtigt uns zu der Annahme, daß bei allen Geweben, an denen Erregungsvorgänge in Form von Massebewegungen, also Contraktilitätserscheinungen, beobachtet werden können — und dazu gehören fast alle lebendigen Gewebe —, auch elektrische Verhältnisse mitspielen und daß wahrscheinlich überall die letzten Strukturelenrente der ^lebendigen Substanz elektro­ motorische Elemente .sind und die Erregung stets darauf hinausläuft, daß sie in erster Linie eine Störung der Elektri­ schen Gleichgewichtslage ist. Der Unterschied zwischen Muskel und Nerv einerseits, und den übrigen Geweben andrerseits bestände dann nur darin: in den ersteren liegen die elektroI L g e r, die menschliche Arbeitskraft. 6 '

82

6. Der Erregungsdorgang

motorischen Elemente derart regelmäßig geordnet, daß es zu einer für unsere Instrumente wahrnehmbaren Gesammt-. Wirkung kommt, während sie in der lebendigen Substanz anderer Gewebe so regellos liegen, daß nach außen hin die Wirkungen sich aufheben. Damit stimmt denn auch, daß bei den letzteren die sichtbaren Strukturelemente durchaus regellos angeordnct sind. Ein Vergleich wird diese Anschauung klar stellen: Ein Stück weichen Eisens zeigt lediglich keine magneti­ schen Eigenschaften, und wie wir einen elektrischen Strom an demselben vorbei führen, treten solche in der aus­ gesprochensten Weise zum Vorschein, um nach Aufhören des elektrischen Stromes sofort wieder zu verschwinden. Das ist doch wohl nur so zu erklären: Das weiche Eisen besteht aus lauter kleinsten Magneten, die aber in ihm — wofür auch die ganz regellose Struktur spricht — so regellos liegen, daß sich die Wirkungen gegenseitig aufheben; der elektrische Strom besitzt nun eine Richtkraft, welche sie zwingt, alle so Front zu machen, daß sie sämmtlich ihre gleichnamigen Pole nach der gleichen Seite wenden und jetzt ein Total­ effekt erscheint. Ein zweiter Bestandtheil des Erregungsdorgangs sind die mechanischen Bewegungen oder, wie man sie auch nennt, Contraktilitätserscheinungen. Hiebei müssen wir etwas specialisiren. Bei der ungeordneten lebendigen Substanz, bei welcher die sichtbaren Strukturtheile regellos in der Grundmasse vertheilt sind, bestehen die.Contraktilitätserscheinungen in regellosen Verschiebungen der Massetheilchen gegen einander, eine Bewegung, welche man nach der Jnfusoriengattung Amöba, bei welcher sie zuerst 'entdeckt und studirt wurden, amöborde Bewegung nennt. Diese zeigt wiederum zwei Modifikationen:

6 Der. Erregungsvorgang

83

Ist die lebendige Substanz in eine starre unnachgiebige Kapsel eingeschlossen, so mangelt der Effekt nach außen, die Bewegung ist eine kreisende Verschiebung der Massetheilchen, die man Saftcirculation nennt. Man kennt sie von der lebendigen Substanz der Pflanzenzellen und bei den Thieren von den Zellen des Knorpelgewebes. Ist dagegen die lebendige Substanz frei und nicht durch eine starre Umhüllung beschränkt, so führen die Ver­ schiebungen der Massetheilchen gegen einander zu Verände­ rungen der Contur, zum Auftreten von Berg und Ahal in wechselndem Spiel und die Berge werden häufig zu langen fädigen Fortsätzen sog. Scheinfüßchen verlängert. Diese Bewegungsform wird im engern Sinne die amöboide genannt. Hiebei ist noch zu bemerken, daß wir zweierlei Conturveränderungen zu unterscheiden haben, die centrifugalen, bei welchen die Oberfläche sich faltet und Schein­ füßchen auftreten, und die bei starker Reizung erfolgenden centripetalen, bei welcher die Fortsätze alle eingezogen werden und die Contur auf die einer Kugel zurückgeführt wird (allgemeines Kuglungsbestreben). Die zweite Bewegungsform der lebendigen Substanz ist die Flimmerbewegung. Hiebei handelt es sich um haarartige feine Fortsätze lebendiger Substanz, die auf der Oberfläche von lebendigen Zellen stehen und rhythmisch nickende Bewegungen ausführen. Diese Bewegungen haben mit den ^vorigen das gemein, daß sie unmüßige Be­ wegungen sind, d. h. daß sie nur durch'Ermüdung unter­

brochen werden, ohne dieselbe aber anhaltend fortdauern,, und daß sie bei starker Reizung stille stehen. Diesen unmüßigen Bewegungen stehen die Zuckungs­ bewegungen gegenüber, die wir an der lebendigen Sub­ stanz der Muskeln wahrnehmen. Hier fällt die Un müßigkeit fort, d. h. Bewegungen treten nur in einem ganz bestimmten .6*

L4

6. Der Erregungsvorgang

Fall, nämlich in Folge einer Reizung ein und die Bewegungen sind nicht partielle centrifugale Verschiebungen der Masse, sondern bestehen in einem allgemeinen centripetalen Kuglungsbestreben, bei welchem die langen Durchmesser verkürzt und die kurzen queren Durchmesser vergrößert werden. Diese Form der Bewegung ist die, welche die intensivsten Wir­ kungen nach außen hin zu entfalten vermag, indem bei derselben ausgiebige lastbewegende Kräfte zur Geltung kommen und zwar in folgender Weise: Ist ein derartiges Gewebsstück an den beiden Enden seines langen Durchmessers mit andern Körpertheilen in feste Verbindung gebracht, so wird die bei dem allgemeinen Kuglungsbestreben eintretende Verkürzung dieses Durch­ messers in eine Zugkraft umgesetzt, welche die durch die contraktile Substanz verbundenen Körpertheile einander zu nähern sucht. Wir werden später bei der Betrachtung des Muskels auf die näheren Verhältnisse hiebei einzugehen haben, hier sei nur so viel gesagt, daß jedem Reizanfall eine sogen, elementare Muskelzuckung entspricht, die ganz genau der elektrischen Stromesschwankung parallel geht. Daß die lebendige Substanz der Nerven weder Zuckungs­ erscheinungen noch unmüßige Masseverschiebungen, kurz nichts von mechanischen Bewegung zeigt, wurde schon oben erwähnt. Mit der dritten kinetischen Erscheinung, der Wärmebildung, verhält es sich folgendermaßen: Dieselbe findet während des Lebens continuirlich statt, geradeso wie auch die elektrischen Beilegungen continuirlich sind, und in Folge davon besitzen alle Thiere, 'auch die sogen. Kaltblüter eine Eigenwärme, die bei den Warmblütern auf einer sehr constanten Höhe, beim Menschen durchschnittlich auf 37,5° 0., sich erhält. Der Erregungsakt berstärkt nur die Wärmebildung. Beim Nerven kann dies nicht nachgewiesen werden, dagegen

7. Der elementare Arbeitsmcchanismus.

85

sehr leicht bei Muskeln und Drüsen. Am Froschmuskel fand Haidenhain auf dem Wege thermoelektrischer Messung für eine elementare Zuckung eine Wärmesteigerung von Viooo bis Viooo0 C., für die Tetanische Zusammenziehung eine solche von "/ ino 0 C., und für die Speicheldrüse ermittelte Ludwig während der ' Thätigkeit eine Wärmezunahme

um V- o C.

Der elementare Arb'eitsnrechanismus. Der Leib des Menschen ist ein sehr zusammengesetzter Mechanismus. Eine ungeheuere, nach Milliarden zu be­ rechnende Zahl von einzelnen Stückchen lebendiger Substanz, sog. Zellen, deren jedes seinen privaten Lebensprozeß hat, sind hier zu einem enggeschlossenen Gemeinwesen zusammengetreten, zu einer- nach den Gesetzen der Arbeitstheilung, der Nebenordnung, Ueber- und Unterordnung geregelten und organisirten Cooperativgenossenschaft, deren oberster Arbeitszweck ihre Selbsterhaltung ist. Nachdem wir in den voranstehenden Kapiteln die privaten Lebenserscheinungen des einzelnen Stückchens, der einzelnen Zelle kennen gelernt haben, erwächst uns jetzt die Aufgabe, die Verhältnisse der Cooperation und Arbeitstheilung näher zu untersuchen.

Der erste Gegenstand dieser Untersuchung muß der elementare Arbeitsmechanismus sein, der sich überall im ganzen Körper unzählige Male wiederholt und von dessen Thätigkeit alle und jede Arbeit, die nach außen gerichtete sowie die innere, abhängt. Diese Mechanismen bestehen aus der systematischen Ver­ einigung von mehreren in ihrer Befähigung verschiedenen

86

7. Der elementare Arbeitsmechanismus

Stücken lebendiger Substanz, und es gibt deren folgende Hauptsorten: 1. Der Reflexmechanismus. In seiner einfach­ sten Form setzt er sich zusammen a) aus zweierlei peripheri­ schen d. h. die Endpunkte des Mechanismus bilden den Zellen, nämlich einerseits einer Sinneszelle, andrerseits einer Arbei iszelle; b) jede dieser Zellen ist durch einen Nerven

mit einer Ganglienzelle in Verbindung gesetzt und diese beiderlei Ganglienzellen sind direkt oder indirekt durch Nerven­ fasern verbunden. Je nach der Natur der Arbeitszellen unter­ scheidet man den sekretorischen Reflexmechanismus — wenn die arbeitende Zelle eine Drüsenzelle ist — und den kinetischen Reflexmechanismus, wenn die Arbeitszelle ein Muskelfaden ist. . 2. Ueber die zweite Sorte von Elementarmechanismeu, die sog. automatischen ist man noch nicht genügend auf­ geklärt. Die Erscheinungen, die sie bieten, weisen nur darauf hin, daß es sich bei ihnen um die Verbindung von Arbeits­ zellen mit Ganglienzellen durch Vermittlung von Nerven­ fasern handelt, während eine Verbindung der Ganglienzelle mit einer Sinneszelle hier entweder fehlt oder nur sehr mittelbar stattfindet, also wenig evident ist.

Um die Leistung dieser Elementarmechanismen zu ver­ stehen, müssen wir zuerst die besonderen Fähigkeiten seiner einzelnen Bestandtheile kennen lernen. Wir beginnen mit den die Einheit herstellenden Nerven. Die eigenartige Befähigung dieser Gewebssorte besteht darin, den Erregungsakt mit einer ganz besonderen Ge­ schwindigkeit fortzuleiten. Nach den angestellten Versuchen schwankt die Geschwindigkeit der Leitung unter gewöhnlichen Verhältnissen von 24 bis 30 Meter in der Sekunde. Auf die Höhe der Leitungsfähigkeit, welche von größtem Einfluß

7. Der elementare Arbeitsmechanismus.

87

auf die Arbeitsfähigkeit und Widerstandskraft gegen schädliche Einflüsse ist, wirken mehrere Umstände bestimmend ein. Einmal wird durch die Uebung die Leitungsfähigkeit erheblich gefördert, wofür wir später das nähere Beweis­ material herbeibringen werden. Fürs zweite' ist die Tem­ peratur von Einfluß: steigt dieselbe über das Maß der gewöhnlichen Körperwärme, so nimmt die Leitungsfähigkeit zuerst zu, dann aber rasch ab; sinkt sie unter die Körper­ wärme, so nimmt die Leitungsfähigkeit stufenweise ab. Wir können dies an uns sehr leicht daran feststellen, daß bei großer Kälte die Tastempfindung und 'die Bewegungs­ impulse verlangsamt werden.' Ein dritter Punkt bezieht sich auf die Mischungsverhältnisse. Das wichtigste ist hier, daß Zunahme des Wassergehaltes der Nervensubstanz die Leitungs­ fähigkeit herabmindert unter gleichzeitiger Erhöhung der Erregbarkeit. Dadurch erklärt sich der Zustand der sogen. „Nervosität", den man bei schwächlichen Personen findet. Bezüglich der Leitung ist weiter zu sagen, daß dieselbe eine isolirte oder wenigstens so gut wie isolirte ist, so daß der Erregungsakt sich nur auf diejenige Arbeitszelle fortpflanzt, mit welcher sie selbst in substanzieller Verbin­ dung ist. Ein letzter Punkt ist das lawinenartige Anschwellen des Erregungsaktes im Nerven. Als ein solcher deutete man die experimentelle Thatsache, daß an einem mit dem Nerven verbundenen Muskel die Zuckung um so stärker aushält, je weiter entfernt vom Muskel die Reizung des Nerven vorgenommen wird. Man hat dies dahin gedeutet, daß beim Fortleiten des Erregungsaktes diesem von Quer­ schnitt zu Querschnitt neue Kräfte hinzugefügt werden. Neuerdings wird diese Erscheinung als eine erst durch das Experiment hervorgerüfene und deshalb anders zu deutende aufgefaßt.

88

7. Der elementare Arbeitsmechanismus.

Wenden wir uns zu den Details des NervenerregungSaktes, so besteht der negative Theil darin, daß derselbe von keinerlei Masseverschiebungen und auch nicht von wahrnehm­ barer Verstärkung der Wärmebildung begleitet ist, er besteht vielmehr rein nur in der früher geschilderten StiKungswelle des elektrischen Gleichgewichts und in der eigenthümlichen Befähigung, in den Zustand des Elektrotonus übergehen, unter Einstuß eines constanten elektrischen Stroms die oben beschriebene dipolare Stellung der elektromotorischen Elenrente, die im Muskel nur rhythmisch möglich ist, dauernd annehmen zu können, wodurch eine beträchtliche Veränderung der Erregbarkeit in den verschiedenen Querschnitten, nämlich eine Steigerung derselben am negativen und eine Vermin­ derung am positiven Pol des elektrotonisirenden constanten Stromes eintritt. Dies sowie die oben angeführten Eigen­ thümlichkeiten des Nervenerregungsaktes lassen die Annahme zu, die spezifische Befähigung der Nervensubstanz bestehe in einer größeren Beweglichkeit seiner elektromotorischen Moleküle. Wenden wir uns nun zu den andern Bestandtheilen der Elementarmechanismen. Die Sinneszelle, welche den Anfang des Mechanismus bildet, stimmt im allgemeinen mit dem Verhalten des leitenden Nerven insofern überein, als ihre Erregung nicht von mechanischen Bewegungen begleitet, d. h. daß dieselbe ebensowenig'contraktil ist wie der Nerv, unterscheidet sich aber von ihm durch Quantum und Quäle der Erregbarkeit. Ersteres zeigt sich darin, daß von der Sinneszelle aus der Elementarmechanismus offenbar leichter in Erregung versetzt werden kann als von dem leitenden Nerven aus. Das Quäle besteht in der spezifischen Erreg­ barkeit der Sinneszelle, d.ch. sie besitzt die Befähigung, durch ganz besondere Reizsorten sich ganz besonders leicht erregen zu lassen und zwar zum Theil durch solche, welche auf den

7. Der elementare Arbeitsmechanismus.

89

betreffenden leitenden Nerven gar keinen. Eindruck machen. So sind z. B. die Sinneszellen der Sehhaut des Anges in hohem Grade empfindlich gegen Lichtstrahlen, während die­ selben den Sehnerven selbst nicht zu erregen im Stande sind. Bei den Sinneszellen tritt also ein Gegensatz zwischen adäquatem und inadäquatem Reiz ein: Für die Seh­ zellen sind Lichtstrahlen der adäquate Reiz, für die Hörzellen Schallwellen, für die Tastzellen Druck­ schwankungen und Wärmeschwankungen, für die Geschmackszellen und Geruchszellen chemische Reize. Begeben wir uns zum entgegengesetzten Ende des Elementarmechanismus, zu seiner Erfolgs- oder Vollzugsseite, so haben wir es dort mit zweierlei verschiedenen Zellsorten zu thun; bei den kinetischen Elementarmechanismen mit Muskelzellen, bei den sekretorischen mit Drüsen­ zellen.

Besprechen wir zuerst die Muskeln und zwar ein­ gehender.

Die Muskeln des Körpers werden beim gewöhnlichen Zustand der Dinge nie von den früher beschriebenen Reizen direkt getroffen, sondern erst indirekt durch die Erregungs­ welle des mit ihnen verbundenen Nerven. Eine Zeit lang glaubte man, daß eine direkte Reizung derselben überhaupt un­ möglich sei, allein diese schon theoretisch höchst unwahrschein­ liche Annahme ist jetzt wohl auch durch das Experiment dahin widerlegt: der Muskel beantwortet so ziemlich alle die Reize, die auch den leitenden Nerven erregen, gleichfalls mit Erregungserscheinungen, und nur seiner Lage, welche ihn vor direkter Reizung durch freie Bewegungen der Außenwelt und chemische Reize schützt, hat er es zu" verdanken, daß er bei unverletztem Körper nur indirekt durch Nerbenerregungen

gereizt wird.

90

7. Der elementare Arbeitsmechanismus.

Ein weiterer Unterschied gegenüber dem Nerv besteht in folgendem. Während der Nerv beim natürlichen Verlauf der Dinge von dem Reiz in der Richtung seiner Längsachse d. h. an seinem einen Ende getroffen wird und die Erregungswelle ihn von diesem Ende zum andern durchzieht, setzt sich der Nerv an den Muskelfaden seitlich so an, daß letzterer in­ mitten seines Laufes unter rechtem Winkel zu seiner Längs­ achse vom Nervenreiz getroffen wird und die Erregungswelle jetzt nach beiden Enden über ihn hinzieht. Allerdings haben Versuche dargethan, daß auch der Nerv in seinem Verlauf gereizt werden kann, und daß dann ebenfalls die Erregungs­ welle von der getroffenen Stelle nach beiden Enden abläuft, und ebenso kann auch der Muskel von einem Ende aus er­ regt werden, allein so wie der natürliche Verlauf im unver­ sehrten Körper ist, besteht obiger Unterschied, der für die mechanische Leistung des Muskelfadens von großem Vor­ theil ist, da so die auf die verschiedenen Querschnitte vertheilten mechanischen Kräfte gleichzeitiger in Aktion treten können. Bezüglich des Erregungsaktes ist zuerst der Unterschied zwischen den dem Willen gehorsamen quergestreiften Muskelfasern und den glatten, die dem Willenseinfluß entzogen sind, hervorzuheben: bei den ersteren dauert die Pause vom Reizauffall bis zum Eintritt der Erregung (Latenz) nur etwa Vioo Sekunde und der Erregungsakt läuft sehr rasch in Bruchtheilen einer Sekunde ab; beiden glatten Muskelfasern beträgt die Latenzdauer mehrere Sekunden und der Erregungsakt dauert ebenfalls viele Sekunden an. Der quantitative Unterschied zwischen der Erregung des Muskelfadens und der des Nerven besteht in der ge­ ringeren Geschwindigkeit der Erregungsleitung. Dieselbe beträgt beim Muskelfaden nach der niedrigsten Angabe 1 Meter, nach der höchsten 3 Meter in der Sekunde. Be-

7. Der elementare Arbeilsmechanismus.

9t

einflußt wird auch hier die Leitungsfähigkeit durch die Uebung^ durch die Temperatur und die chemische Mischung. Die qualitativen Unterschiede beziehen sich auf mehrere Punkte. Bezüglich des elektrischen Verhaltens mangelt dem Muskel die Fähigkeit der Elektrotonisirung, was zusammen mit der geringeren Leitungsfähigkeil auf eine geringere Be­ weglichkeit der elektromotorischen Elemente hinweist. Ein zweiter wichtiger Unterschied ist, daß die Erregung, des Muskels mit mechanischen Leistungen verbunden ist: derselbe beantwortet jede Erregung mit einer einzigen Zuckung, die man elementare Muskelzuckung nennt. Trifft den Muskel eine Reihe von Reizen in sehr kurzen Zwischenräumen, so hat derselbe zwischen je zwei derselben nicht Zeit sich wieder auszudehnen, sondern verharrt in der verkürzten Form mit einer gewissen Kraft. Diesen Zustand' des Muskels nennt man den Tetanus, und es tritt hiebei noch eine neue Bewegungsart auf: eine Schallschwingung, deren Tonhöhe nach Helmholtz genau übereinstimmt mit der Zahl der Reize, die in einer Sekunde den Muskel treffen. Man nennt diese Erscheinung den Muskelton oder das Muskelgeräusch. Diese Helmholtz'sch? Be­ obachtung erlaubt nun einen Schluß auf eine bisher noch nicht besprochene Qualität des Erregungsvorgangs im Nerven zu machen. Behorcht man den Muskelton mit dem Hörrohr an dem willkürlich angespannten Muskel eines lebenden Menschen, so lassen sich 19,5 Schwingungen in der Sekunde­ erkennen und daraus dürfen wir schließen, daß auch der Er­ regungsvorgang im Bewegungsnerven ein rhythmischer d. h. aus einzelnen Anstößen bestehender ist, derart, daß ber Muskel in der Sekunde 19,5 Erregungswellen vom Nerven erhält. Die Zuckung ist eine Formveränderung des Muskels, eine Verkürzung der Längsachse und Verdickung im Quer-

7. Der elementare Arbeilsmechanismus.

"92

schnitt. Energie,

Diese Gestaltsveränderung erfolgt mit einer gewissen die selbst bedeutende der Verkürzung sich in den

Weg stellende Hindernisse überwinden kann, und diese Energie

ist die Grundlage aller mechanischen Arbeit, die der mensch­ liche Körper auszuüben vermag.

Indem nämlich der Muskel

mit seinen beiden Enden an andere Körpertheile festgewachsen ist, bewegt er die letzteren gegen einander und hebt so eine

Last mit einer Kraft, die ausgedrückt wird durch das Produkt der gehobenen Last und der Höhe,

auf welche dieselbe ge-

-hoben wird (Hubhöhe).

Die hiebei entfaltete Kraft hängt von einer Reihe von Umständen ab, von denen einige * direkt ermittelt sind, andere aber erschlossen werden können.

1. Hängt die Größe der bewältigbaren Last nicht ab von der Länge des Muskels,

uerschnitt;

sondern von dessen

dagegen ist die Hubhöhe eines langen Muskels größer als

die eines kurzen.

Da die Arbeit ein Produkt aus der ge­

hobenen Last und der Hubhöhe ist,

so steht sie im geraden

Verhältniß zum Volumen des Muskels. 2. Die Arbeit ist um so größer, je stärker die Reizung

'ist.

Hieraus folgt

3. daß die geleistete Arbeit

um

so

größer

ausfallen

kann,' je erregungsfähiger der betreffende Nerv ist, weil hie-

«von die Stärke des Nervenreizes abhängt, und 4. daß sie um so größer werden kann,

je erregungs­

fähiger der Muskel selbst ist, je rascher also die Contraktions­

welle über ihn abläuft und je größer der Verkürzungsgrad ist. Eine besondere Besprechung verlangt das Verhalten.

elastische

Der lebende Muskel besitzt eine zwar geringe

allein sehr vollkommene Elasticität,

d. h. er setzt der Aus­

dehnung durch Zug keinen großen aber einen stetig wachsen­ den Widerstand entgegen, und er zieht sich nach der Dehnung zuerst rasch, dann langsam aber immer vollkommen auf seine

7. Der elementare Arbeitsrnechanismus.

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ursprüngliche Länge zusammen. Auf diesen Elasticitäts­ verhältnissen beruht die Tragfähigkeit des Muskels, und wir können die Arbeitsleistung auch so ansehen: bei der Con­ traktion nimmt der Muskel eine neue verkürzte Gestalt an, er übt nun auf Lasten, die ihn an der Annahme dieser. Ge­ stalt hindern, einen Zug aus, wie ein elastischer Körper, der auf die betreffende Länge gedehnt worden ist. Die Sachewird aber dadurch complicirt, daß der Erregungsvorgang mit einer Schwächung der Tragfähigkeit d. h. mit einer Zu­ nahme der Dehnbarkeit verbunden ist, was begreiflich ist,, wenn wir uns erinnern, daß die Erregung mit einer oxy­ dativen Zerstörung von Bestandtheilen der lebendigen Sub­ stanz verläuft. Daraus erklärt sich die Erscheinung der Ueberlastung, die in folgendem besteht. Belastet man einen lebenden Muskel successive mit Gewichten und läßt ihn Zuckungen ausführen, so wird mit der wachsenden Beschwerung die Hubhöhe immer geringer werden, bis zu einem Punkt, in welchem sie Null wird, d. h. der Muskel ist jetzt nicht mehr im Stande das Gewicht zu heben. Fügen wir nun eine neue Gewichtsportion hinzu, so ist der Muskel nun zwar im Stande ihn zu halten, aber wie durch eine Erregung die Tragkraft des Muskels ge­ mindert wird, so tritt statt einer Hebung des Gewichts eine Dehnung des Muskels ein. Darauf beruht das eigenthüm­ liche lähmungsartige Gefühl, das uns überkommt, wenn wir eine zu schwere Last heben wollen. Die Ueberlastungsgrenze wird natürlich durch den Ermüdungsgrad sehr wesentlich beeinflußt. Man ist nun dahin übereingekommen, für das Maxi­ mum der lebendigen Kraft,' welche ein Muskel bei höchster Erregbarkeit und der größten Reizstärke frei zu machen vermag, die Benennung „absolute Muskelkraft" einzu­ führen und darunter das Gewicht zu verstehen, welches dem

-94

7. Der elementare Arbeitsmechanismus.

der Verkürzung zustrebenden Muskel das Gleichgewicht hält, d. h. ihn völlig an der Verkürzung verhindert, allein ihn auch nicht überlastet d. h. zu dehnen vermag. Bei diesen übrigens sehr difficilen Versuchen hat man sehr verschiedene Größen gefunden, die sich von 2800—8000 Gramm für einen Quadratcentimeter des Querschnitts berechnen. Ein weiterer für das Verständniß der Muskelarbeit wichtiger Punkt ist die durch Versuche festgestellte Thatsache, daß die Arbeitsleistung bei der Verkürzung eine größere ivird, wenn das zu hebende Gewicht während des Diese Erfahrung -Hebens allmählich leichter wird. klärt uns über die Zweck­ mäßigkeit des Verbandes von Muskeln und Knochen auf; diese ist nämlich der­ art, daß die Hebelverhält­ nisse sich in dem Maße zum Vortheil des Muskels ändern, als die Verkür­ zung des letzteren zunimmt, was einer that­ sächlichen allmählichen Verminderung des Ge­ wichts gleichkommt. Dies wird aus der beistehenden Abbildung deutlich. Ge­ setzt, ad sei der Oberarm­ knochen, dc der mit einem Gewicht an seinem Ende belastete Vorderarm. Der Muskel, welcher das Gervicht in der Richtung cg heben soll, geht von a nach d. Da cx sich unter dem schiefen Winkel ade an den Oberarm ansetzt,

7. Der elementare Arbeitsmechanismus.

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so bewirkt der Muskel zweierlei: mit einem Theil seiner Kraft preßt er die bei d zusammenstoßenden Knochen vom Ober­ erm und Vorderarm an einander, und nur mit dem Rest 1)er Kraft wirkt er hebend auf den Punkt d. Das Verhältniß dieser beiden Kräfte wird durch die Construktion des Parallelo­ gramms derselben, afde gefunden; es verhält sich der das Gelenk zusammenpressende Theil der Kraft zu dem die Last bewegenden wie die Linie fd zur Linie de. Bringen wir Oberarm und Vorderarm in die Stellung, welche sie ein­ nehmen, wenn das Gewicht eine Strecke gehoben ist, d. h. so, daß der stumpfe Winkel ade der Figur spitzer wird, und construiren jetzt das Kräfteparallelogramm abdh, so sehen wir, daß die Linie dh, welche die Hubkraft repräseutirt, im Verhältniß zur Linie bd, welche die Gelenkpressung aus­ übt, um so größer wird, je spitzer der Winkel ade wird. Ein weiterer Punkt in der Arbeitsleistung sind die Hebelverhältnisse, die in Betracht kommen, wenn die Muskeln mit Knochen verbunden sind. Ohne auf das Detail ^inzugehen, beschränken wir uns hier auf die Angabe, daß das Knochengerüst hauptsächlich aus ein- und zweiarmigen Geschwindigkeitshebeln zusammengesetzt ist, was damit stimmt, daß für die Geschäfte der Lebenserhaltung die Ge­ schwindigkeit eine wichtigere Rolle spielt als die Kraft; was der praktischen Lebensregel entspricht: „Zeit ist Geld"^ Bei den sekretorischen Elementarmechanismen hängen an dckr-Vollzugsseite Drüsenzellen. Hier muß jedoch sogleich bemerkt werden, daß nicht alle sekretorischen Zellen des Leibes mit Elementarmechanismen in Verbindung stehen, sondern daß eine große Zahl derselben spontan thätig ist. Am besten nachgewiese-r ist ihre Betheiligung an Elementarmechanismen in den Mundspeicheldrüsen. Der müßige Zustand einer solchen Drüsenzelle ist aus­ gezeichnet durch eine beträchtliche meist einseitig gelagerte

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7. Der elementare Arbeitsmechanismus.

Ansammlung einer schleimig entarteten Masse, die das lebende Protoplasma zur Seite drängt; dabei ist die Zelle erheblich vergrößert: man sagt, die Zelle sei geladen. Erfolgt nuu eine Erregung, so wird die schleimige Jnhaltsmasse durch Contraktionsvorgänge in der seitlich verdrängten lebendigen Substanz allmählich ausgepreßt, und gleichzeitig steigert sich die Durchlässigkeit der Drüsenzelle. für den aus dem Blut abfiltrirten Gewebssaft. Dies dauert so lange fort, als noch „Ladung" vorhanden ist; sobald aber diese aufge­ braucht, so tritt auch hier Ermüdung ein, so daß weitere Reizung keinen Effekt mehr hervorruft. Auch hier ist der Erregungsvorgang mit der Entstehung von Wärme verbun­ den und zwar wie schon früher bemerkt mit recht erheblicher Steigerung derselben. Daß der Erregungsakt auch von Störungen des elektrischen Gleichgewichts begleitet wird, ist höchst wahrscheinlich; aber wir verfügen noch über kein Mittel, um das durch den Versuch zu bestätigen. Gehen wir nun zum letzten Stück der Elementarmecha­ nismen, zu den Ganglienzellen über, die das Centrum des ganzen Apparates bilden, so müssen wir gestehen, daß wir direkt von ihrer Befähigung sehr wenig wissen, eigentlich nur, daß keine Contraktionserscheinungen an ihnen zu be­ obachten sind; indirekt aber wissen wir, daß sie bei den Reflexmechanismen ^den vom Sinnesnerven an sie heran­ kommenden Erregungsvorgang durch sich hindurch auf den Bewegungsnerven und durch ihn auf daS Erfolgsorgan weiter leiten und daß sie ihn hiebei quantitativ beein­ flussen. Im allgemeinen ist diese Beeinflussung eine gewisse Verzögerung, die sich bis zu völliger Hemmung steigern zu können scheint. Der Grad dieser Hemmung hängt natürlich von der eigenen Leitungsfähigkeit ab; diese ist aber — und das ist einer der wichtigsten Punkte dieses Maschinentheils — einer Beeinflussung von außen zugänglich. Die Ganglien

7. Der elementare Arbeitsmechanismus.

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sind nämlich die Punkte, an welchen die Elementarmecha­ nismen mit dem Gesammtmechanismus des Körpers bzw. den denselben herstellenden Mechanismen höherer Ordnung so Zusammenhängen, daß Erregungen in den letzteren hier­ in den Elementarmechanismus einbrechen und die sonst selb­ ständige Erregungscirculation in den letzteren beeinflussen können und zwar sowohl hemmend als auch beschleu­ nigend. In einem solchen Reflexmechanismus ist der regelmäßige Verlauf der Dinge, daß ein Reiz- die Sinneszelle oder das sonstwie einer Sinneszelle entsprechende Ende des Apparates trifft und die von ihm hervorgernfene Störungswelle des elektrischen Gleichgewichts auf dem Sinnesnerven zur Gang­ lienzelle und von dieser nach sehr mäßiger Verzögerung durch den Vollzugsyerven zum Vollzugsorgan fortschreitet, in diesem eine mechanische oder sekretorische Arbeit aus­ lösend. Diesen Vorgang heißt man einen Reflex oder eine Reflexthätigkeit. Tritt durch Beeinflussung der Ganglien­ zellen in dem Verlauf des Reflexes, eine erhebliche Ver­ langsamung oder gar eine völlige Unterdrückung ein, so nennen wir das eine Reflexhemmunlg. Ein solcher Reflexmechanismus kann aber auch von anderer Seite her in Thätigkeit versetzt werden, nämlich durch Erregung der Ganglienzelle. Diese erfolgt wohl sehr selteü durch direkten Einbruch eines äußeren Reizes, es ist sogar für viele Ganglien außer Zweifel, daß sie für äußere Reizung unempfindlich sind; dagegen ist eine Erregung durch die Nervenfasern möglich, mit denen die Ganglienzelle mit Centren Höherer Ordnung verbunden ist, auf diese Weise

kann eine Reihe von Reflexmechanismen durch den Willens­

anstoß in Bewegung gesetzt werden. Die automatischen Elementarmechanismen sind in manchen Stücken noch dunkel. Wenn es in der That solche Jäger, die menM'che Arbeitskraft.

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7. Der elementare Arbeitsmechanismus

gibt, so besteht der Unterschied vom Reftexinechanismus darin, daß der sensitive Theil fehlt und mithin die Erregung stets von der Ganglienzelle ausgeht, d. h. daß diese das primär erregte ist. Wahre Automatik wäre es aber erst, wenn die Erregung in dem Gangliencentrum ohne jede Beein­ flussung von außen entstünde. Ob es eine solche gibt, ist sehr fraglich. Scheinbare Automatie ist es, wenn die Er­ regung nur von der Beschaffenheit des Blutes ausgeht, und solche automatische Mechanismen gibt es zweifellos, z. B. das Athmungscentrum und die im Herzen gelegenen Centra der Herzbewegung. Von der automatischen Thätigkeit gibt es zweierlei Formen. Tonische Automatie nennen wir eine solche, durch welche in dem Vollzugsorgan eine gleichmäßig an­ haltende d. h. nur in langen Zwischenräumen einer Steige­ rung oder Verminderung unterworfene Thätigkeit unterhalten wird. Hieher gehört z. B. die anhaltende Spannung der Muskeln in der Wand der Schlagadern. Rhythmische Automatie nennen wir eine solche, bei welcher im Voll­ zugsorgan eine rhythmische durch Erschlaffungspausen unter­ brochene Arbeitsleistung stattftndet. Beispiele hiefür sind die rhythmischen Bewegungen des Herzens und des Athmungsapparates. Auch die automatischen Centra sind einer Beeinflussung von Seite solcher Nerven unterworfen, welche sie mit Centren höherer Ordnung verbinden, und der Einfluß ist theils eine Hemmung, theils eine Beschleunigung (Automatichemmung und Automatiebeschleunigung); so kennen wir Nerven, welche die automatische Thätigkeit des Herzens verlangsamen, ja vollständig hemmen, und andere, welche sie beschleunigen; gleiches gilt für die Athmungs- und Darmbewegungen und die tonische Automatie der Blutgefäßmuskeln.

8 Der Gesnmmtmcchanismus

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8. Der Gesammtmechanismus. Der Leib des Menschen als eine Arbeitsmaschine be­ frachtet ist eine methodische Zusammenstellung von zahl­ reichen Elementarmechanismen, zwischen welche aber eine beträchtliche Zahl von lebendigen und todten Zellen einge-. lagert sind, die nicht in direktem d. h. durch Nerven vermit­ telten Verband mit den Elementarmechanismen stehen, aber erhebliche Dienste bei der Gesammtarbeit leisten; wir unter­ scheiden von letztern nach Leistung und Einfügungsart die Wanderzellen und die Gerüst- und Deckzellen Ein weiterer Bestandtheil des Körpers, der gleichfalls noch nicht genannt wurde, sind die nicht aus lebendiger Substanz gebildeten, also direkt nicht erregbaren Theile, die bei der Arbeit eine passive Rolle spielen. Dahin gehören einmal Flüssigkeiten, deren wichtigste die flüssige Grund­ lage des Blutes und der Lymphe ist, und feste Substanzen von mehrerlei Art: die steife, eine große Tragfähigkeit besitzende Knochensubstanz, die minder steife Knorpelsubstanz und die weichen biegsamen, aber mitunter mit bedeutender Festigkeit und hoher Elasticität ausgerüsteten Bindesubstanzen, aus denen Sehnen, Häute, Hüllen und Aüsfüllungsgewebe ge­ fertigt sind. Obwohl diese Stoffe nicht selbst lebendig sind, so sind sie doch durch eine vollständige Durchspickung mit lebendigen Zellen in innigste Beziehung zu den Lebensvor­ gängen gebracht und ihre Eigenschaften sowohl als ihre Mengenverhältnisse spielen eine wichtige Rolle bei der Thä­ tigkeit der lebendigen Mechanismen, indem sie bje passiv be­ wegten Theile sind. Wir können sie deshalb zusammenfassend als passiven Arbeitsmechanismus dem aktiven oder lebendigen Arbeilsmechanismus gegenüber stellen. Wenden wir uns zu dem letzteren, so zeigt er uns" eine methodische Zusammenstellung von Elementarmechanismen 7*

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8. Der Gesammtmechamsmus.

zu Mechanismen höherer und höchster Ordnung in mehrfacher Abstufung nach dem Princip der Beiordnung und Uebcrordnung. Beginnen wir von oben herab, so besteht der Körper aus zweierlei erheblich verschiedenen obersten Mechanismen: 1. Der willkürliche Mechanismus. Die Grund­ lage desselben ist eine große Zahl von elementaren Reflex­ mechanismen, deren Centraltheile zur Bildung von Rückenmark und Gehitnbasis sich vereinigt haben, während die Vollzugsorgane mit einander die Muskeln des Kopses, Rumpfes und der Gliedmaßen, die sogenannten willkürlichen Muskeln bilden. Die Sinneszellen dieser Elementarmecha­ nismen liegen theils zerstreut in der Haut (als Tastorgane), theils sind sie gruppenweise zur Bildung der höheren Sinnes­ organe (Gesicht, Gehör, Geruch und Geschmack) zusammen­ getreten. Die Verknüpfungen dieser Elementarmechanismen zu solchen höherer Ordnung liegen alle im Gehirn und Rückenmark und sie alle zusammen bilden den physischen Theil des willkürlichen Mechanismus, worüber weiter unten das nähere. Dieser physische Theil ist nun in geordnete Ver­ bindung mit dem psychischen Mechanismus gesetzt, dessen Theile das große Gehirn bilden und gänzlich aus leitenden Nervenfasern und Ganglienzellen bestehen. Letzteres ist der Sitz der Empfindung, des Gedächtnisses und des Willens, worüber weiter unten gleichfalls noch einiges nähere gesagt werden soll. Der willkürliche Mechanismus verrichtet alle nach außen hin gerichtete Thätigkeit, er ist der äußere Arbeitsm«chaniS mus. 2. Die unwillkürlichen Mechanismen, die man, von der Ansicht ausgehend, daß der willkürliche Mechanismus ter wesentliche, weil allein nach außen hin arbeitende Theil der ganzen Maschine,ist, als Hilfsmechanismen be­ zeichnen kann. Sie haben alle das gemein, daß ihre Thälig-

8. Der Gesamrntrnechanismus.

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feit dem Willenseinfluß mehr oder weniger entzogen ist, daß bei ihnen die automatischen Elementarmechanismen eine Haupt­ rolle spielen. Solcher Hilfsmechanismen besitzt der Körper

folgende: die Mechanismen der Athmung und der Ernäh­ rung, mehrere Ausscheidungsmechanismen und den Kreis­ laufmechanismus. Der Verband der Hilfsmechanismen unter einander und mit dem Arbeitsmechanismus wird gleichfalls durch Nerven bewerkstelligt. Am innigsten ist die Verbindung des Athmungsmechanismus mit dem Arbeitsmechanismus, in dem zur Athmungsmechanik der Hauptsache nach willkürliche Muskeln herangezogen sind. Weniger innig ist die Verbin­ dung des Kreislaufmechanismus mit dem willkürlichen Apparat. Die Vollzugsorgane sind hier eigener Art und bestehen aus unwillkürlichen Muskeln; dagegen ist derselbe sowohl vom Centrum des willkürlichen Apparates als auch reflektorisch von den Sinneszellen aus beeinflußbar. Der größten Unabhängigkeit erfreut sich der Ernährungsmechanismus, der nur in den ersten und letzten Wegen reflektorisch von den Sinneswerkzeugen und von dem Willen beeinflußt werden kann, in seinen mittleren Abschnitten fast nur einer indirekten Beeinfluffung zugänglich ist. Das gleiche gilt auch von den Ausscheidungsmechanismen. In den nächsten Kapiteln wollen wir uns nun zuerst mit der Leistung der genannten Hilfsmaschinen beschäftigen, hier aber zuvor noch die Frage erörtern, warum und wozu überhaupt die Aufstellung solcher Hilfsmaschinen im Körper des Menschen nöthig ist. Der eine Grund ist der, daß jeder kleinste Theil des Körpers einer steten Ab- und Zufuhr von Stoffen und Kräften bedarf, wenn er nicht der Selvstzersetzung anheim­ fallen und seine Funktionsfähigkeit einbüßen soll.' Während das einzellige Jnsilsorium einen direkten Stoffwechsel mit

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8. Der Gesammtmechanismus.

den umgebenden Medien unterhält, sind die Zellen des menschlichen Leibes für Stoffzu- und -abfuhr auf eine, man könnte sagen, künstliche Ernährungsflüssigkeit (Blut und Lymphe) angewiesen, welche die Vermittlerrolle zwischen ihnen und denjenigen Körperflächen zu übernehmen hat, welche in der Lage sind, den Stoffbedarf aus der Außenwelt zu beziehen und die Abfuhr nach außen zu besorgen. Dies ist die Aufgabe eines besonderen Mechanismus, des Kreis­ laufapparates. Ein darmloser Eingeweidewurm, der in einer alle Gebrauchsstoffe enthaltenden Körperflüssigkeit seines Wirthes lebt, entnimmt dieser einfach durch die Aufsaugethätigkeit der ganzen Körperoberfläche seinen Bedarf und gibt ebenda die Umwandlungsprodukte seines Körpers an sie wieder ab. Der Mensch dagegen kann aus der ihn umgebenden Luft mittelst seiner Körperoberfläche blos einen seiner Verbrauchs­ stoffe, den Sauerstoff der Luft und auch von diesem nur einen Minimaltheil seines Bedarfs beziehen (Hautathmung). Von Abgaben durch die Haut ist außer Wärme, Wasser­ dampf und einem Minimaltheil von Kohlensäure nichts er­ hebliches zu berichten, denn Hauttalg, Hautabschuppung und die Salze und Riechstoffe des Schweißes sind nur ein win­ ziger Bruchtheil der fixen Körperausgaben. Diese Geringfügigkeit des Stoffwechsels durch die all­ gemeine Körperoberfläche hat, abgesehen davon, daß die Luft eben nur einen einzigen Bedarfsstoff, den Sauerstoff, liefern kann, wesentlich darin ihren Grund, daß das Verhältniß von Oberfläche 'und Körpervolum ein äußerst ungünstiges ist, wenn wir z. B. den Menschen mit einem Infusorium vergleichen, dessen Körperdurchmesser nur* nach Hunderttheilen eines Millimeters berechnet werden kann. Der zweite Grund der Unzulänglichkeit liegt in der Beschaffenheit der Körper­

oberfläche.

Diese ist wegen ihrer geringen Durchfeuchtung

8. Der Gesammtmechanismus.

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und aus sonstigen nicht näher bekannten Ursachen von ge­ ringer Durchgängigkeit, namentlich für in Lösung befindliche fixe Stoffe. So haben Versuche mit unsern Mineralwassern dargethan, daß die 'Aufsaugefähigkeit der Haut für gelöste

Mineralstoffe wahrscheinlich gleich Null ist. Zur Deckung des Stoffwechselbedarfs ist deshalb der menschliche Körper auf innere Oberflächen angewiesen, deren höherer Durchfeuchtungsgrad und sonstige Beschaffenheit eine höhere Durchgängigkeit bedingen. Dasselbe gilt für die Stoffabgabe, und daraus ergibt sich die Nothwendigkeit, die Bedarfsstoffe jenen inneren Oberflächen zuzuführen, bzw. die dorthin ergossenen Abfuhrstosfe wieder von ihnen zu ent­ fernen. Eine weitere Complikation der menschlichen Arbeits­ maschine ist darauf zurückzuführen, daß für sie in der Außen­ welt die Bedarfsstoffe nicht in der Mischung und Zubereitung, in der sie gebraucht werden, ungefähr so parat liegen, wie bei einem im Speisebrei seines Wirthes lebenden Eingeweide­ wurm. Diese Mischung muß sich der Körper erst machen, und namentlich zerfällt sein Bedarf in zwei durchaus ver­ schiedene Theile, in die fixen Nährmittel, die er im flüssigen oder festen Zustand als Speise und Trank zu sich nimmt, und den gasförmigen Sauerstoff, den er einathmet. Es zerfällt mithin das Geschäft der Stoffaufnahme in die Athmungsarbeit und Ernährungsarbeit. Zu dieser Arbeitstheilung im Bereich der Stoffauf­ nahme gesellt sich der weitere Umstand, daß die Stoff­ abgabe nur zum Theil mit der ersteren zusammenfällt. Betrachten wir das im Einzelnen. Ein fast vollständiges Zusammenfallen ^von Aufnahme und Abgabe findet bezüglich der gasförmigen Stoffe statt. Die Abgabe der Kohlensäure und die Aufnahme des Sauer­ stoffs erfolgen fürs erste auf den selben Flächen, der inneren

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8. Der Gesammtmechanisrnns.

Lungenoberfläche und der äußeren Hautfläche, durch wechsel­ seitigen Austausch. Fürs zweite ist der Bewegungsapparat der Lunge derart, daß der gleiche Mechanismus in rhythmi­ schem Spiele Aufnahme und Abgabe besorgt, also Einathmung und Ausathmung im gleichen Verhältniß zu einander stehen, wie Anspannung und Erschlaffung eines'und desselben Theiles. Bezüglich der fixen Ausgaben findet keine so vollständige Deckung statt. Die am Munde beginnende, durch den Darm sich fortsetzende und mit der Kothentleerung endende Er­ nährungsarbeit schafft von den fixen Abfuhrstoffen nur circa 14% aus dem Körper hinaus (circa 200 g), was noch un­ bedeutender ausfällt, wenn wir von der Kothmenge die un­ verdauten Bestandtheile der Nahrungsmittel abrechnen. Für die Hauptmasse der auszuscheidenden Stoffe ist in den Harn­ werkzeugen ein eigener Ausscheidungsapparat gegeben, der circa 86% der fixen Ausgaben (circa 1500 g) in der Form von Harn aus dem Körper entfernt. Ueber das Verhältniß von fixen und gasförmigen Aus­ scheidungen ergaben die Versuche von Valentin, daß 42,6% in Gasform den Körper verlassen. Eine dritte Arbeitstheilung bezieht sich auf den Kräfte­ wechsel. Die Kraftaufnahme fällt zwar (die Sinnesreize abgerechnet) mit der Ernährung und Athmung zusammen, indem die Nährstoffe verfügbare Spannkräfte enthalten und der eingeathmete Sauerstoff das Mittel zu ihrer Freimachung ist; allein die Kräfteabsondecung fällt nur zum Theil mit den genannten Stoffwechselarbeiten zusammen, nämlich nur insofern es sich um die Wärmeabgabe handelt. Jedoch auch bei ihr erfolgt der Hauptaustritt aus dem Körper zum großen Theil unabhängig von den übrigen Ausscheidungs­ thätigkeiten, und nur der innere Wärmetransport bedient sich des gleichen Apparates 'wie der Stofftransport, nämlich

9. Der Ernührungsmechanismus.

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des Kreislaufapparates. Da wir diejenige Kräfteabsonderung, welche in Gestalt von Massenbewegungen erfolgt, als äußere Arbeit erst beim Arbeitsmechanismus behandeln, so gibt sie uns hier keinen Anlaß zu weiteren Bemerkungen. Aus dem bisherigen ergibt sich, daß die innere Arbeit in zwei Sektionen zerfällt. Die erste Sektion besteht aus Athmung, Ernährung und Ausscheidung und kann die direkte genannt werden, weil sie den direkten Verkehr des Körpers nach außen unterhält. Die zweite Sektion wird einzig von der Kreislaufarbeit gebildet, die wir deshalb auch die indirekte oder noch besser die intermediäre Arbeit nennen können. Wir besprechen nun in den folgenden Kapiteln diese' Arbeiten der Reihe nach insoweit, als es für unsere Zwecke erforderlich ist.

9« Der Ernährungsmechanismus. Im strengen Sinne des Wortes ist eigentlich der gesammte Körper „ein Ernährungsmechanismus", denn in letzter Instanz arbeiten fast alle Körpertheile, mit einziger Ausnahme der Fortpflanzungsorgane, im Dienste der Er­ nährung, namentlich ist ja der erste Zweck aller äußeren Arbeit die Sicherung der leiblichen Existenz durch den Nahrungserwerb. Wenn wir aber das obige Wort im engeren Sinne nehmen, so verstehen wir darunter eine Drei­ einigkeit von zwei dem Willenseinfluß gehorchenden periferischen Apparaten, nämlich Mundwerkzeugen und Kothentleerungsapparat und einem centralen dem Willenseinfluß entzogenen Theil," dem VerdauungSapparat.

Bei der Aufnahme der Nahrung und Entleerung" des Koches handelt es sich nur um mechanische Vorgänge, während

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9. Dcr Ernährungsnuchanismlis.

bei der Arbeit der Verdauungsorgane zu der mechanischen Thätigkeit noch eine chemische kommt. Die Aufgabe, welche den Mundwerkzeugen gestellt ist, besteht in dem Ergreifen der Nahrung, beni Kaugeschäst, falls die Nahrung nicht direkt verschlingbar ist, der Bildung des Bissens und endlich dem Abschlingen des letztern. Dieser Apparat ist beim Menschen äußerst complicirt. Die Kiefer mit den Zähnen und Kaumuskeln, die Lippen, bie Zunge mit ihren Muskeln und Geschmacksorganen, die beweglichen Wände des Rachens und das Gaumensegel besorgen die mechanischen Arbeiten; kleine Schleimdrüschen liefern den zähen Schleim,, der die Speisen beschmieret und schlüpfrig macht, und mehrere Paare von Drüsen bereiten den Speichel, der theils zur Durchfeuchtung der Speisen dient, theils eine verdauende Wirkung besitzt, indem er das Stärkemehl der Nahrung zuerst in Dextrin und dann in Traubenzucker ver­ wandelt. Wir wollen uns nicht mit der Einzelbeschreibung der Thätigkeit der Mundwerkzeuge befassen, die ja jeder leicht an sich selbst beobachten kann, sondern nur einiges praktisch wichtigere daraus hervorheben. Das wichtigste Geschäft der Nahrungsaufnahme ist das Kauen. Es wäre irrig zu glauben, daß dessen einziger Zweck die Zerkleinerung und Schlingbarmachung der Speise wäre ; dasselbe ist vielmehr ein für den Erfolg der Magenverdau­ ung wichtiges Vorbereitungsmittel, weil von ihm die ge­ nügende Beimischung des Speichels zur Nahrung wesentlich abhängt. Durch das Kauen wird derselbe nicht etwa blos in innigere Verbindung mit der Nahrung gesetzt, sondern die Kaubewegungen und der von den Speisen im Mund ausgehende chemische und mechanische Reiz spornen die Speicheldrüsen zu vermehrter Absonderung an. Da von beni Speichel die Ueberführung des unlöslichen Stärkemehls

9. Der ErnährungsmechaniSmus.

TOT

in löslichen Zucker während der Magenverdauung abhängig so ist es besonders für die stärkmehlhaltigen Speisen wichtige daß sie dem Menschen in einer Form geboten werden, welche seine Kauwerkzeuge in Bewegung setzt; es ist also die Brei­ form namentlich bei Mehlspeisen zu verwerfen. Wenn wir trotzdem den kleinen Kindern Brei zu essen geben, so geschieht es, weil sie eben noch nicht kauen und feste Bissen abschlingen können; allein wir dürfen nie vergessen, daß deshalb auch die Kinder bei Breinahrung sehr leicht Verdauungsstörungen aus­ gesetzt sind. Man eifert von ärztlicher Seite zwar mit einem gewissen Recht gegen die Lutschbeutet, allein den Nutzen haben sie doch, daß durch das Lutschen eine große Menge Speichel erzeugt wird, der der Stärkemehlverdauung zu gute fomint Derselbe ist deshalb bei reiner Milchnahrung überflüssig, allein bei Breinahrung an und für sich zweckmäßig und mir deshalb bedenklich, weil bei nachlässiger Handhabung sein Inhalt in.Gührung übergeht. Wo man davor nicht sicher ist, gebe man dem Kinde leere Lutschbentel aus Kautschuk. Für den Erwachsenen und namentlich für jeden, der eine schwache Verdauung besitzt, muß daran festgehalten werden, daß er stärkemehlhaltige Nahrung, möglichst nur in solcher Beschaffenheit genießt, welche zuni Kauen zwingt, und daß er möglichst lange daran kaut. Bekanntlich haben die Sprech­ bewegungen einen ähnlichen befördernden Einfluß auf die Speichelabsonderung wie die Kaubewegungen, und es spielt deshalb das Tischgespräch eine wichtigere Rolle, als man gemeinhin annimmt. * Bei der Leistungsfähigkeit der Kauwerkzeuge steht die Beschaffenheit des Gebisses obenan. Sobald dasselbe lücken­ haft ist und namentlich die Backzähne fehlen oder dienst­ untauglich sind, leidet die Kauarbeit. Die Leute kauen un­ vollständig, und das hat den doppelten Nachtheil, daß zu wenig Speichel erzeugt wird und feste Speisen in einem

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9. Der Ernährungsmechanismus.

zu gröblichen, deshalb weniger verdauungsfähigen Zustande verschluckt werden. Bei Personen mit schlechtem Gebiß sind .deshalb Verdauungsstörungen häufiger, und deshalb ist nicht nur die Pflege der Zähne, sondern auch das Einsetzen künst­ licher Zähne eine wichtige Pflicht der Selbsterhaltung. Nur bemerke ich mit Bezug auf letzteres, daß die wichtigsten Zähne die Backenzähne sind; die Schneidezähne können wir viel leichter entbehren. Das Schlechtwerden der Zähne hat zweierlei Ursachen: 1. Entweder sind sie schlecht entwickelt. Hier fehlte es an der richtigen Behandlung der Kinder zur Zeit der' Zahn­ bildung und des Zahnwechsels. Um diese Zeit soll dem Kinde Gelegenheit zum kräftigen Beißen gegeben werden durch Verabreichung von harten Gegenständen, hartem Brot :c, an denen es nagen kann und muß. Dann ist der Reis ein Nahrungsmittel, welches durch seinen großen Gehalt an Fluorcalcium sich besonders als Nahrung in diesem Alter empfiehlt, denn die Härte und chemische Widerstandsfähigkeit der Zähne steht in geradem Verhältniß zu ihrem Gehalt an diesem Mineral. In Gegenden, wo der Reis die Haupt­ nahrung ist, sind kranke Zähne äußerst selten. 2. Uebermäßiger Genuß von sauren Speisen oder von Speisen, welche Säure- und Pilzbildung in der Mundhöhle verursachen (Zucker), ruiniren die Zähne, sobald man die Stoffe zu lange auf die Zähne einwirken läßt. Deshalb ist das Reini­ gen des Mundes von Speiseresten jedesmal nach der Mahl­ zeit aufs dringendste zu empfehlen. Wir haben schon oben gesehen, daß der Antrieb zur Thätigkeit der Mundwerkzeuge vom Willen ausgeht. Hinter diesem aber stehen als Triebfedern zwei Gemeingefühle, der Hunger und der Durst, worüber einige Worte. Das Hungergefühl ist eine drückende nagende Empfin­ dung im Magen und schließlich auch im Darm, bei der ohne

9. Der Ernährungsmechanismus.

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Zweifel die Abnahme des in den Darmwandungen cireulirenden Blutes eine, wenn auch nicht die alleinige Rolle spielt. Die Blutfülle des Darms ist nun einerseits abhängig von der gesummten Blutmenge, deren Herabminderung mit­ hin das Hungergefühl veranlassen kann. Andrerseits ist sie aber auch von der Blutvertheilung abhängig, und die bekannte Thatsache, daß bei Körperarbeit der Hunger bälder eintritt, als wenn wir uns ruhig verhalten, hängt sicher nicht allein von der durch die Arbeit herbeigeführten Verminderung der Blutmenge, sondern auch davon ab, daß die Körpermuskeln während der Arbeit einen größeren Antheil der Gesammtblutmasse für sich in Anspruch nehmen, so daß für den Darm weniger übrig bleibt. Dafür spricht auch die Thatsache, daß schon die Aufnahme von unverdaulichen Gegenständen in den Biagen das Hungergefühl vorübergehend aufhebt, weil der von ihnen ausgehende mechanische Reiz den Magen in Arbeit

versetzt und mit ihr eine gewisse Blutfülle der Wandungen wiederkehrt, allerdings nur vorübergehend. Der Zeitpunkt, in welchem der Hunger eintritt, wird rascher herbeigeführt und der Hunger stärker durch jegliche äußere Arbeit und um so mehr, je größer die Summe der dabei beseitigten Körpertheile ist. Er tritt früher ein und ist stärker bei kalter Luft, weil hiebei der Stoffverbrauch im Körper größer ist, und bei trockener Luft, weil hier die Blutmenge durch Verdunstung rascher vermindert wird. Der Durst ist eine örtliche Empfindung von Trockenheit und Brennen im Schlund und Mund, welche von dem Trocken­ werden der betreffenden Schleimhautstellen herrührt, weil sie dem trocknenden Einfluß des Athmungsstromes mehr aus­ gesetzt sind als die meisten übrigen Flächen des Körpers,

sobald entweder die Athmungsluft einen zu geringen Feuch­ tigkeitsgehalt besitzt oder der Wassergehalt des Blutes zu gering geworden ist, oder endlich die Gesammtblutmasse ab-

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9 Der Ernährungsmechanismus

genommen hat. Trockene Luft wirkt mithin doppelt durst­ erzeugend, einmal weil dann die Wasserverluste des Gesammtblutes größer sind, und zweitens, weil sie die genannten Schleimhautstellen rascher austrocknet. Der Durst kann des­ halb auch auf zweierlei Weise gestillt werden, einmal, aber nur vorübergehend, durch Befeuchtung der genannten Schleim­ häute und dann durch direkte oder indirekte Wasseraufnahme in das Blut. Unter den Anstößen zur Thätigkeit der Mundwerkzeuge sind noch zwei Reflexe zu nennen. Wir wissen, doß schon der Geruch einer Speise, ja sogar schon das Denken an eine solche „das Wasser im Munde zusammenlaufen macht" d. h. die Speichelabsonderung befördert, und bie gleiche Reflex­ erscheinung rufen die schmeckenden Bestandtheile in der Mund­ höhle hervor. Wir werden auf diesen Umstand im nächsten Kapitel zurückkommen.

Wenden wir uns jetzt zu dem Herdauungsapparat. Derselbe ist gleichfalls von außerordentlicher Complieirtheit. Die Hauptsache an demselben ist das Verdauungsrohr, an dem wir die Speiseröhre, den Magen, den Dünndarm, Dick­ darm und Mastdarm als aufeinanderfolgende Abschnitte unterscheiden. Dasselbe ist ein Muskelrohr, das innen mit meiner drüsenhaltigen Schleimhaut überzogen ist. Von Drüsen finden sich in der Speiseröhre nur zerstreute Schleimdrüschen; der Magen und alle folgenden Abschnitte sind dagegen'mit -einer zusammenhängenden Schichte schlauchförmiger Verdauungssaftdrüsen belegt, und in dem Dünndarm stehen zwischen den Drüsenausmündungen noch feine schlanke Zotten oder Zäpfchen, die sogenannten Darmzotten, deren Thätigkeit die Aufsaugung der verdauten Theile des Speisedreies ist. Hiezu kommen zwei große Drüsen, die Leber und die Bauchspeicheldrüse, deren jede einen eigenen Bcrdannngssaft

9. Der Ernährungsmechanismus.

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in den Anfang des Dünndarmes liefert — Galle und Bauch­ speichel. Die mechanische Leistung dieses Apparates besteht in der geeigneten Weiterbeförderung der Speisen vom Mund bis in den Mastdarm, wobei sie zu einem Brei zerrieben und mit den Verdauungssäften gemischt werden. Diese Be­ wegung entzieht sich von dem Augenblick, wo der Bissen der Nachenenge zum Abschlingen übergeben ist, unserer unmittel­ baren Kenntnißnahme und unserem Willen und vollzieht sich nur unter Einwirkung der Nahrung selbst, wobei es haupt­ sächlich auf deren Beschaffenheit und Menge ankommt, ob diese Vorgänge in einer für die gesummte Arbeitsfähigkeit .des Körpers gedeihlichen Weise vor sich gehen oder nickt. Diese Bewegungen gehen von einer Muskelhaut aus, die den Darm vollkommen einscheidet, aus glatten Muskelfasern ge­ bildet ist und sich in eine innere Schicht mit ringförmigem Faserverlauf und eine äußere mit längsgerichtetem Faserverlauf scheidet. Am Magen kommen hiezu schief laufende Fasernzüge. Die Wirkungsweise dieser Muskelhaut ist folgende:

Wenn sich die Ringfaserschicht verkürzt, so wird der Querschnitt des Rohres verengert und das geht so weit, daß es zu völligem Verschluß des Rohres kommt. Indem nun die Zusammenziehung der Ringfaserschicht von Querschnitt zu Querschnitt fortschreitet, wird der Darminhalt in gleicher Richtung verschoben.

Die Wirkung der Längsfaserschicht ist die gleiche: Ist durch Zusammenziehung einer Partie der Ringfaserschicht an einer Stelle die Darmlichtung geschlossen und zieht sich jetzt die Längsfaserschicht zusammen, wodurch das Darmrohr verkürzt wird, so gelangt dadurch der Speisebrei, der nicht comprimirbar ist, in weiter abwärts liegende Theile: diese werden gewissermaßen über den Speisedrei hergestülpt.

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9 Der Erntthrungsmechanisrnus.

Im Normalzustand sind diese Bewegungen sehr langsam und werden durch den mechanischen und chemischen Reiz des Speisedreies direkt ausgelöst. Es ist aber ermittelt, daß außerdem dreierlei Umstände auf sie einwirken können. Ein­ mal beschleunigt der Nerv, welcher die Herzbewegung hemmt (der neunte Hirnnerv) die Darmbewegungen, ist also die Bahn, auf welcher gewisse Gemüthsbewegungen (z. B. Angst) den Darm in Bewegung setzen. Auf der andern. Seite kennt man in einem Eingeweidenerven (N. splanchnicus) einen Hemmuugsnerven für die Darmbewegungen. Der dritte Um­ stand ist, daß Zunahme der Kohlensäure im Blut die Darm­ bewegungen anspornt. Wir machen hievon bei der Kothentleerung unwillkürlich Gebrauch: indem wir bei Anwendung der Bauchpresse den Athem anhalten, vermehren wir den Kohlensäuregehalt des Blutes und steigern so die Darm­ bewegungen. Der Effekt der genannten Bewegungen ist in der- Speise­ röhre das Hinabgleiten des Bissens in den Magen. In diesem bewirken sie eine kreisende Bewegung des Inhalts, wodurch stets neue Partieen des Speisedreies mit der Mageuwand und dem von ihr ergossenen Magensaft in Berührung kommen und schließlich eine innige Durchmischung der aufgenommenen Speisen mit vem Verdauungssast erfolgt. Bei dem längeren Verweilen der Speisen im Magen spielt der Umstand eine Rolle, daß ein Muskelring an der Austrittsöffnung, der sogenannte Pförtner, durch den Reiz der Speisen zur Zusammenziehung gereizt, den Magen ver­ schließt und daß dieser Verschluß erst nachläßt, wenn der Mageninhalt durch die fortschreitende Verdauung seine chemische und mechanische Reizungsfähigkeit verloren hat und der Muskelring ermüdet ist. In dem Darme läuft die mechanische Arbeit auf ein langsames durch zeitweilige »rückläufige Bewegungen unter-

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9. Der Ernährungsmechanismus.

brochenes Fortschieben des portionweise in ihn eintretenden Speisedreies hinaus, wobei noch die zahlreichen Darmzotten bei der Bewegung nach Art einer Bürste oder eines Pinsels fein vertheilend auf die einzelnen Bestandtheile wirken. Letzteres ist namentlich für das Fett des Speise­ dreies von Wichtigkeit, da dessen Aufsaugbarkeit weniger von einer chemischen Umänderung als von einer feinen mechani­ schen Bertheilung, einer sog. Emulgirung, abhängig ist. Ein passives Moment in der Darmmechanik ist die 'Blinddarmklappe. Sie bewirkt, daß aus dem Dickdarm unter normalen Verhältnissen kein Rückläufigwerden des Inhalts .in den Dickdarm möglich ist. Knüpfen wir sogleich die Betrachtung der mechanischen Vorgänge bei der Kothentleerung an. Dieselbe erfolgt unter Zuhilfenahme der durch Athemverhaltung gesteigerten un­ willkürlichen Darmbewegungen durch die dem Willen unter­ worfene Anwendung der Bauchpresse: eine Einathmung ver­ größert das Volum der Lunge; dann schließt sich die Stimm­ ritze, um die Luft am Entweichen zu verhindern, und nun werden alle Muskeln gespannt, welche eine Volumsverminderung der Eingeweidehöhle anstreben, wodurch der After­ verschluß aufgehoben wird. Nun einige Worte über den Chemismus der Ver­ dauung. Derselbe besteht darin, daß durch den Einfluß der erhöhten Wärme und der von den Drüsen gelieferten Ver­ dauungssäfte die Speisen verdaut, d. h. die an und für sich löslichen Stoffe aufgelöst, andere Stoffe, die an und für sich nicht löslich sind, entweder chemisch so verändert werden, daß sie löslich sind, oder so fein mechanisch zer­ kleinert, daß sie durch die Poren der Darmzotten passiren können. Einer eigentlichen Verdauung bedürftig sind folgende Bestandtheile der Speisen: a) das Stärkemehl. Es muß Jäger, die menschliche Arbeitskraft.

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9. Der Ernährungsmechanismus.

in Dextrin und Zucker übergeführt werden, und das geschieht unter Einwirkung eines Fermentes im Mundspeichel und eines ähnlichen im Bauchspeichel, b) Das Fett muß theils verseift, zum größeren Theil aber fein emulgirt werden; auf die Verseifung nimmt die Galle einen ganz besonderen Ein­ fluß, auf die Emulgirung Galle, Bauchspeichel und der Darmschleim, c) Die Eiweißstoffe. Sie werden in sog. Pepton, einen leicht diffundirbaren Stoff, umgewandelt, woran sich mit Ausnahme des Mundsheichels wahrscheinlich alle Verdauungssäfte, hervorragend der Magensaft und der Bauchspeichel, betheiligen. Der Fortgang des Berdauungsgeschäftes hängt ab von der genügenden Menge und Qualität der Verdauungssäfte, von der Zeit, die der Einwirkung derselben vergönnt ist, von der Beschaffenheit der Nahrung, wie wir im folgenden Kapitel näher erläutern wollen, und von der Leistungsfähig­ keit des Verdaunngsrohrs, über welche hier etwas gesagt

werden soll. Die Leistungsfähigkeit des Verdauungsrohrs ist einmal ein Bestandtheil der gesammten Körperconstitution. Je blut­ reicher, je reicher an arbeitenden Eiweißstoffen ein Mensch ist, um so kräftiger ist in der Regel auch seine Verdauung, während sie bei blutarmen, schwächlichen und auf der andern Seite bei fettsüchtigen Personen sehr häufig darniederliegt. Von großer Wichtigkeit scheint der Tonus der Blutgefäße und der Muskelwand zu sein. Schlachtet man ein gesundes Thier, so sind die leeren Partieen des Darmrohrs fest, voll­ ständig zusammengezogen und dabei blutarm, während bei Individuen, die unter Erscheinung von Darmleiden gestorben sind, der Darmkanal schlaff, nicht vollständig zusammengezogen und seine Blutgefäße noch gefüllt sind. Nehmen wir hinzu, daß nach angestrengterer Körperarbeit nicht blos der Appetit stärker, sondern auch die Verdauungsthätigkeit energischer ist,

9. Der Ernährungsmechanismus.

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so gewinnen wir folgende Einsicht in die Bedingungen der Leistungsfähigkeit. Einmal ist sie ein Produkt der Uebung des Ver­ dauungsapparates. Anhaltender Genuß von Nahrungs­ mitteln, welche zu leicht verdaulich sind, wirken verweich­ lichend, leistungsherabsetzend auf den Darmkanal, weil dessen Muskulatur nicht genügend geübt wird. Es soll die Nahrung eine gewisse Menge unverdaulicher, mechanisch reizender Theile enthalten, wenn die Leistungsfähigkeit des Darmes erhalten und entwickelt werden soll. Es ist Thatsache, daß Leute, die sog. „rauhe" Kost genießen, eine kräftigere Verdauung besitzen. Damit ist aber nicht gesagt, daß man stets rauhe Kost genießen soll, das taugt nur, wo auch die nachher zu erwähnende Bedingung zutrifft; aber man soll von Zeit zu Zeit rauhe Kost' genießen, um den Darm in Uebung zu erhalten und auch bei der gewöhnlichen Kost in der Richtung der Verdaulichkeit der Speisen nicht zu weit gehen. Z. B. Thiere, denen man in Gefangenschaft die rauhen, schwer ver­ daulichen Theile ihrer Nahrung vorenthält, z. B. dem Fleisch­ fresser Knochen, und Federn, dem Fischfresser die harten Gräten, dem Insektenfresser die harten Jnsektenpanzer, büßen an Verdauungsfähigkeit ein. Der andere Punkt wurzelt in dem Wechselverhältniß, das bezüglich der Blutvertheilung zwischen dem Darm einer­ seits und dem Arbeitsmechanismus andrerseits besteht. So­ bald wir einen Körpertheil in Arbeit versetzen, so erschlaffen seine Blutgefäße und er zieht hiedurch ein bedeutendes Plus von Blut in sich herein (bis zu 80 % gegenüber dem Ruhe­ zustand). Dieses Plus wird andern Körpertheilen entzogen. Setzen wir die willkürlichen Muskeln des Körpers in aus­ giebige Arbeit, so ist das gleichbedeutend mit einer bedeuten­ den Blutentziehung aus dem Darm, und eben dieser regel­ mäßigen, hochgradigen Blutentziehung scheint derselbe zu be8*

hülfen, um von einer Mahlzeit zur andern sich völlig zu erholen, die Drüsen mit Verdauungsfermenten und die Mus­ keln mit neuen Spannkräften zu laden. Daraus erklärt sich, daß Leute, die hart arbeiten müssen, auch sehr gute Esser sind, die selbst die schwerste Nahrung leicht verdauen, während Leute mit sitzender Lebensweise schwerer Nahrung gegenüber häufig erliegen. Diesem Wechselverhältniß in der Blutvertheilung müssen wir übrigens noch nach einer andern Seite hin eine Be­ achtung schenken. So gewiß die Körpermuskeln mehr Blut auf sich ziehen und brauchen, wenn sie arbeiten, bedarf der Darm einer reichlicheren Durchblutung während des Verdauungsgeschäftes, und indem er dabei den andern Körpertheilen Blut entzieht, mindert er zeitweilig deren Arbeitsfähigkeit herab, d. h. so lange als die Verdauungsarbeit dauert. Dieser Wechsel in der Blutvertheilung während der Verdauung äußert sich, für jedermann wahrnehmbar, kurz nach der Mahlzeit in einem Blässerwerden der Haut und mitunter leichtem Frösteln, das den gegenseitigen Erschei­ nungen erst weicht, wenn durch die Aufsaügung aus dem Speisebrei die Gefammtmasse des Blutes zunimmt. Weiter äußert sich die Blutschwankung darin, daß nach genommener Mahlzeit zunächst die Arbeitsfähigkeit des Körpers sich herabmindert, das Bedürfniß nach Ver­ dauungsruhe sich einstellt und daß umgekehrt Vornahme starker körperlicher Arbeit während der Verdauung die letztere beeinträchtigt, indem die arbeitenden Muskeln und Nerven ihrerseits das Blut anziehen, also den Blutgehalt des Darms beeinträchtigen; es ist deshalb das Einhalten der Ver­ dauungsruhe ein diätetisches Gebot, dem sich kein wildes Thier entzieht und auch der Mensch sich nicht entziehen sollte.

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Auch zu den andern Hilfsmaschinen des Körpers besteht eine Beziehung, die sich aus den Räumlichkeitsverhältnissen der Eingeweidehöhle ergibt. Da in ihr auch der Athmungsund Kreislaufmechanismus aufgestellt sind, so wirkt die Nah­ rungsaufnahme raum beeng end auf diese beiden Hilfs­ mechanismen und setzt der Thätigkeit derselben Hindernisse entgegen, eine Erscheinung, die jeder nach genossener Mahl­ zeit an sich selbst beobachten kann. Da von der Leistungs­ fähigkeit des Athmungs- und Kreislaufapparates die Fähigkeit des willkürlichen Mechanismus abhängt, so kommt auch diese Raumbeengung einer vorübergehenden Herabminderung der Gesammtarbeitsfähigkeit'gleich, die in dem Maße ab­ nimmt, als Magen- und Darminhalt durch Aufsaugung und Kothentleerung ihr Volumen vermindern. . Daraus geht weiter klar hervor, daß Nahrungsmittel, die viel unverdauliche Reste enthalten, weil die Ernährung durch dieselben größere Massen erfordert, die Arbeitsfähigkeit des Menschen mehr und bei schwacher Verdauungskraft nament­ lich länger beeinträchtigen. Deshalb bedürfen Leute, die rauhe Nahrung genießen, der Verdauungsruhe viel nöthiger als Leute, die nur Leichtes und deshalb wenig essen.

JO. Speise und Trank. Es ist nicht meine Aufgabe, hier alle die verwickelten Verhältnisse erschöpfend zu erörtern, die bei der Auswahl und Zubereitung der Nahrungsmittel in Betracht kommen. Ich will aus dem reichen Stoffe nur das hervorheben, was in näherer Beziehung zu der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit und Gesundheit des Körpers steht und, verweise den Leser

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10. Speise und Trank.

bezüglich des übrigen aus die von I. Ranke in einem Band dieser Bibliothek gegebene Darstellung der Ernährung. Der erste Punkt, der ausführlicher besprochen werden soll, ist das Verhalten der verschiedenen Nahrungsmittel gegenüber den Verdauungsmechanismen, das wir als Ver­ daulichkeit bezeichnen. In dieser Beziehung stehen die völlig flüssigen Stoffe, sofern dieselben nicht wie die Milch im Magen eine Gerinnung erfahren, obenan. Sie werden ohne weiteres aufgesaugt und dem Blute zugeführt. Anders ist dies bei den festen Nahrungsmitteln, die erst durch die Verdauung verflüssigt werden müssen, und diese bedürfen deshalb eingehenderer Erörterung. Ich beginne mit bem diesbezüglichen Unterschied zwischen den pflanzlichen und thierischen Nahrungsmitteln. Bei den thierischen, treten die in ihnen enthaltenen Nährstoffe in direkte Berührung mit den Verdauungssäften, oder sie sind in leicht verdauliche Hüllen eingeschlossen; bei den pflanzlichen Nährmitteln dagegen befindet sich die verdauliche Substanz innerhalb der aus Holzfaserstoff (Cellu­ lose) bestehenden Membran der Pflanzenzellen eingeschlossen. Der Holzfaserstoff ist für die menschlichen Verdauungssäfte entweder gar nicht oder nur in einem sehr geringen Grade verdaulich; der Mensch kann deshalb bei unverletzter Zell­ hülle den Inhalt nur dadurch sich aneignen, daß die Ver­ dauungssäfte die letztere durchdringen und die eingekapselten Nährstoffe lösen, so daß sie auf osmotischem Wege aus der Kapsel heraus können, ein Prozeß, dessen Leichtigkeit wesent­ lich von der Dicke der Kapselwand abhängt. Aus diesem Grunde ist Fleischnahrung im allgemeinen leich­ ter verdaulich als Pflanzennahrung, und unter den Pflanzen selbst sind wieder junge und weiche Theile mit dünnen Zellkapseln leichter verdaulich als verholzte mit dicken Zellwänden., Der Mensch hat es bis zu einem gewissen

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Grade in seiner Gewalt, die Verdaulichkeit der von ber Natur gebotenen Pflanzennahrung durch die Zubereitungsweise zu erhöhen, worüber kurz folgendes gilt: Wenn derselbe die Pflanze zu Brei verkocht, so hat er damit die einzelnen Zellen aus ihrem Verbände gelöst, so daß diese rundum dem Angriffe der Verdauungssäfte preisgegeben sind und leicht ausgesogen werden können. Enthält das pflanzliche Nahrungsmittel Stärkemehl, so bietet letzteres einen weiteren Angriffspunkt, um die Ver­ daulichkeit zu erhöhen. Die in den Zellen eingeschlossenen Stärkekörner quellen beim Kochen auf, indem sie sich in Kleister verwandeln. Hiebei zersprengen sie die Zellkapseln oder verdünnen dieselben durch bedeutende Dehnung, wo­ durch sie das Verdauungshinderniß entweder ganz hinweg­ räumen oder auf ein Minimunl reduciren; es ist also nicht blos der Umstand, daß Stärkemehl leicht in Zucker, also einen werthvollen Nährstoff, umgewandelt werden kann, son­ dern auch die auf schließend e Wirkung der aufquellenden Stärkekörner, welche den stärkemehlhaltigen Pflanzenstoffen ihre hohe Bedeutung als menschliches Nahrungsmittel sichert. Eine weitere Erleichterung für die Verdaulichkeit der Pflanzennahrung ist das Mahlen unserer Getreidearten, indem hiebei die Zellkapseln, in denen der Kleber und das Stärkemehl sitzt, auseinanderfallen und zum Theil mechanisch zersprengt werden. Bei allen Nahrungsstoffen, bei denen es sich nicht blos um einfache Auflösung, sondern um chemische Umwandlung handelt, hängt die Raschheit der Verdauung von der Menge der ergossenen Verdauungssäfte ab. Versuche haben gezeigt, daß im nüchternen Zustande so gut wie keine Ver­ dauungssäfte abgesondert werden, daß dieser Prozeß vielmehr erst Wirkung der Speisen ist: unter sonst gleichen Verhält­ nissen werden also Speisen, die reizender wirken, reichlichere

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Säftemengen den Drüsen des Verdauungsrohrs entlocken als reizlosere. Die betreffende Eigenschaft der Speisen Hängt nun theils von der chemischen, theils von der physikalischen Qualität ab.

Bezüglich der chemischen Qualität gilt, daß eine Reihe der wichtigsten Nahrungsstoffe, wie das Stärkemehl, die Eiweißstoffe, die neutralen Fette, zu den chemisch reizlosen, weil indifferenten, gehören. Mithin beruht von dieser Seite die Verdaulichkeit eines Nahrungsmittels darauf, ob in dem­ selben neben den eigentlichen Nährstoffen noch solche Stoffe vorhanden sind, welche einen Absonderungsreiz auf die Ver­ dauungsdrüsen ausüben. Hier handelt es sich um folgende Stoffe: 1. Die Riechstoffe. Wir haben bereits im vorigen Kapitel bemerkt, daß schon der Geruch einer Speise, wenn er ein angenehmer ist, das „Wasser im Mund zusammeulaufen macht" d. h. die Speichelabsonderung erhöht, was durch eine Reflexerregung vom Geruchsorgan auf die Speicheldrüsen hervorgebracht wird, und wissen weiter, daß dieser Reflex­ mechanismus auch von dem psychischen Mechanismus aus erregt werden kann; denn schon die Vorstellung einer Speise wirkt ebenso. Bei einem Hunde, dem wir eine Magenfiftel angelegt haben, erfahren wir weiter, daß dieser Reflexreiz sich sogar auf die Magensaftdrüsen erstreckt: der Magen geifert, sobald das Thier eine Speise riecht. Daraus ist klar, daß eine appetitlich riechende Speise leichter verdaulich ist als eine geruchlose oder schlecht riechende, sonst ganz gleich beschaffene.

2. Die Geschmack stosse.

Von ihnen gilt das gleiche

wie von den Riechstoffen; sie wirken als Absonderungsreiz auf Speichel- und Magendrüsen, woraus sich der Satz ergibt, daß eine wohlschmeckende Speise leichter verdau-

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lich ist als eine geschmacklose oder schlecht schm eck ende. Daraus ergeben sich folgende praktische Regeln: Verwendet man Nahrungsmittel, welche schon von Natur mit angenehmen Riech- und Geschmackstoffen versehen sind, so ist es Aufgabe der etwa nöthigen Zubereitung, dieselben nicht verloren gehen zu lassen, wogegen sehr häufig gesündigt wird, z. B. durch Kochen in unbedeckten Gefäßen,

durch das zu starke Abwaschen der Gemüse oder dadurch, daß man das erste Siedwasser von Gemüsen weggießt. Der­ lei Manipulationen sind nur da vorzunehmen, wo es sich nm Beseitigung eines widrigen, die Absonderung heminenden oder gar giftigen Schmeck- oder Riechstoffes handelt. Hat man es mit einem geruch- und geschmacklosen Nahrungs­ nüttel zu thun, so ist es Aufgabe der Kochkunst, diesem Uebelstaude abzuhelfen. Häufig läßt sich Wohlgeruch und Wohlgeschmack ohne weiteres aus der Speise selbst durch Kochen oder Braten entwickeln, das ist z. B. beim Fleisch der Fall (Gesuch und Geschmack von Bouillon und Braten), oder man bedient sich der sogenannten Gewürze, wobei man aber immer zweierlei vor Augen haben muß, daß es sich nicht blos um Herstellung von Wohlgeschmack, son­ dern auch um die von Wohlgeruch handelt. Von den eigentlichen Nährstoffen kommt nur einem ein­ zigen Wohlgeschmack zu, nämlich dem Zucker, der somit auch eine Rolle als Würze spielt; die übrigen Würzen zerfallen in zwei Gruppen. Die erste wird von scharfen, sauren oder aromatischen Pflanzenstoffen gebildet, deren uns die Natur eine Menge darbietet. Den Gebrauch solcher finden wir bei allen Völkern der Erde, und es ist die adäquate Verwendung derselben ein Hauptpunkt in der Kochkunst. Die zweite Gruppe der Würzestoffe bilden gewisse Salze, unter denen das Kochsalz, von dem in den meisten

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Nahrungsmitteln zu wenig vorhanden ist, obenansteht. Die Mitwirkung des Kochsalzes bei der Verdauung bezieht sich je­

doch nicht blos auf die Beförderung der Drüsenabsonderung. Einmal kommt hinzu, daß das Salz den thierischen Schleim, der von allen Abtheilungen des Verdauungsrohrs abgesondert wird, dünnflüssiger macht, also die Mischbarkeit des Speise­ dreies erhöht. Der zweite Umstand ist, daß das Kochsalz die Durchgängigkeit der Darmwand für einige wichtige Nähr­ stoffe erhöht; dies gilt für das zur Blutbildung so wichtige Eisen, für phosphorsauren Kalk, aus dem die Knochen be­

stehen (weshalb das Salz am wenigsten in der Wachsthums­ periode fehlen darf), und soll auch gelten für die Aufsaugung des Stärkezuckers. Die zweite Salzgattung, an deren es einer Speise nicht fehlen darf, sind die Kalisalze, insbesondere die phosphor­ sauren. Sie gehören insofern auch unter die Kategorie der Gewürze, als sie eine erregende Wirkung auf den Kreislauf­ apparat haben und so durch Herbeiführung einer reichlicheren Duchblutung des Verdauungsapparates die Verdaungsthätigkeit nach mehreren Richtungen hin fördern, abgesehen davon^ daß sie überall im Körper als Reizmittel nöthig sind und es auch eines steten Nachschubs bedarf, weil der Körper sie fortwährend wieder verliert. Viele Nahrungsstoffe sind von Hause aus mit einer genügenden Menge von Kalisalzen ver­ sehen, und der Mensch bevorzugt diese schon lange, durch bloße Erfahrung geleitet. Solche kalisalzreiche Nahrungsmittel sind vor allem das Fleisch, die Getreidekörner und junges Gemüse. Manche Nahrungsmittel, worunter insbesondere die Kartoffel zu nennen ist, haben viel zu wenig Kalis alze und diese verlangen eine Nachhilfe durch eine an Kalisalzen reiche Würze. Eine solche ist der Fleischextrakt be­ ziehungsweise die Fleischbrühe. Man darf aber dabei, namentlich beim Fleischextrakt nie vergessen, daß die Kalisalze

nur in kleinen Mengen der Nahrung beigemischt sein dürfen; in größeren Mengen sind sie sogar ein durch Herzlähmung tödtendes Gift. Ueberhaupt muß von allen/ auch den pflanz­ lichen Gewürzen gesagt werden, daß ein übermäßiger Ge­ brauch derselben durch Ueberreiz schädlich wirkt. Selbstverständlich gilt das von der Würzung gesagte nicht blos von den Speisen, sondern auch von den Getränken. Es ist durchaus nicht richtig, daß das reine Wasser dasbeste Getränk sei. Soll es den Verdauungsapparat anregen, so muß es entweder kalt sein oder anregende Stoffe ent­ halten. Unter diesen verdient besonders die Kohlensäure als ein durchaus adäquater Magenreiz hervorgehoben zu werden. Ein kohlensäurereiches Wasser, ein kohlensäure­ reiches Bier, ein Schaumwein sind für den Verdauungs­ apparat stets zuträglicher als das gleiche Getränk ohne Kohlensäure; nur zu viel Kohlensäure wirkt durch Blähung, nachtheilig. Auch auf die Bouquete der alkoholischen Getränke muß hier aufmerksam gemacht werden. Sie sind bei der Wirkung dieser Getränke auf die Verdauungswege durchaus nicht zu ignoriren, und es ist kein Wahn, wenn wir einen wohlschmeckenden, duftenden Wein einem sonst ganz ähnlich beschaffenen unbedingt vorziehen. Der Alkohol wirkt zwar schon für sich allein reizend auf die Magenwände, allein dadurch, daß er die Eiweißsubstanzen des Speisebreies ge­ rinnen macht, braucht er Beifügungen, die diese nachtheilige Wirkung durch dauernde Anregung des Magens paralysiren, und das scheinen die Bouquete zu leisten. Auf der andern Seite darf die Zweckmäßigkeit des Genusses von alkoholischen Getränken zum Essen nicht angezweifelt werden, da die An­ spornung des Kreislaufsmechanismus der Energie der Ver­ dauungsarbeit erheblich zu Statten kommt. Aber diese Wirkung ist an Einhaltung eines gewissen Maßes geknüpft.

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Man soll pro Tag nicht mehr als 60 Gramm reinen Alko­ hols in Getränkform zu sich nehmen,' was etwa einem Liter Tischwein oder 2 Liter Bier entspricht. Ein weiterer Umstand, der bei der Verdaulichkeit einer Speise in Betracht kommt, ist deren physikalische Be­ schaffenheit, da auch von ihr das Maß der Verdauungs­ thätigkeit beeinflußt wird, indem die Schleimhaut auch auf mechanische Reize reagirt. Wie wirksam diese letzteren sind, kann man sich an dem freigelegten Magen eines soeben getodteten Thieres unmittelbar besehen: sobald man mit einer Federfahne leise über die Innenfläche hinstreicht, erfolgt eine Zusammenziehung der gereizten Partie unter Auspressung von Magensaft. Daraus geht hervor, daß Speisen, die einen völlig gleichartigen Brei bilden, den Magendrüsen nicht so viel Verdauungssaft entlocken können, als solche, welche aus einer mehr oder weniger flüssigen Grundmasse und darin schwimmenden kleinen Brocken festerer Stoffe bestehen, also die physikalische Beschaffenheit unserer meisten Suppen und Ge­ müse haben: Wenn bei den rotirenden Bewegungen, in welche der Magen seinen Inhalt versetzt, die Brocken an den Magenwänden vorbeistreifen, wirken sie wie im obigen Versuch die Federfahne. Daran müssen wir noch eine weitere Betrachtung an­ reihen. Untersucht man das Schicksal gewisser Speisen im Magen, so findet man, daß sie bei normaler Thätigkeit rasch unter Schwund der Brocken in einen gleichartigen, also mechanisch reizlosen Brei verwandelt werden. Da weiter viele chemisch reizende Stoffe sehr rasch ins Blut übergehen und auch chemische Gewöhnung eintritt, so kann auch die chemische Reizungsfähigkeit des Darminhaltes verschwinden, ehe die Magenverdauung ihre Schuldigkeit gethan hat. Durch

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den Nachgenuß einer zweiten Speise können wir diesen reiz-' losen Zustand des Mageninhaltes wieder aufheben und zwar in dreierlei Weise: wir können erstens durch Nachgenust eines gewürzhaften oder stärker gesalzenen Stoffes den nöthigen chemischen Neiz ausüben, zweitens durch Nach­ genuß von bröckligen Speisen oder durch einen Schluck Wein, der durch Gerinnung Brocken schafft, die physikalische Reizungsfähigkeit wieder herstellen, und drittens liegt, auch wenn eine mehr oder weniger indifferente Speise genossen wird, eine neue Reizung darin, daß die Gleichartigkeit des Speisedreies gestört wird. So lange die neue Speise mit dem früher vorhandenen Mageninhalt nicht eine gleichartige Mischung eingegangen hat, wird bei der Bewegung des Speisedreies an einer und derselben Stelle des Magens bald eine Partie des alten, bald eine des neuen Inhaltes anliegen und jeder derartige Wechsel ist ein Reizmoment. Daraus erklärt sich die bekannte Thatsache, daß von zusammengesetzten Mahlzeiten größere Quantitäten verdaut werden können als von einer einzelnen Speise, und es sagt uns selbst unsere eigene Empfindung darüber das nöthige: wenn wir bei einer Mahlzeit von einer Speise eine gewisse Menge genossen haben, so stellt sich eine Art von Sättigungs­ gefühl ein, das aber sofort neuem Appetit Platz macht, so­ bald wir zu einer zweiten Speise übergehen, welche neuer­ dings den Geschmack und Geruchssinn und nach dem Adschlingen die Magenwand reizt. Durch diesen Kunstgriff bewältigen Magen und Darmkanal bei reich zusammengesetzten Gastmahlen geradezu erstaunliche Speisemengen, wobei es freilich in hohem Grade auf die richtige Reihenfolge der ver­ schiedenartigen Speisen und Getränke ankommt. Hiebei ist auf folgendes zu achten: Eine nachfolgende Speise kann die Reizungsfähigkeit des Mageninhaltes erhöhen, aber dieselbe auch herabsetzen. In

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dieser Richtung spielt namentlich das Fett eine bedenkliche Rolle; indem es die bröcklichen Theile überzieht, vermindert es deren mechanische Reizungsfähigkeit und schützt sie auch bis zu einem gewissen Grade vor den Einwirkungen des Magensaftes, so daß nach zwei Richtungen hin die Verdau­ lichkeit des Speisebreies beeinträchtigt wird. Deshalb ist Ls ein völlig richtiger Instinkt, daß uns zu fette Speisen bald widerstehen, und bei einem Gastmahl sind deshalb fette Speisen nur mit großer Vorsicht zu verwenden. Wollen wir also einmal dem Verdauungskanal eine größere Arbeitsleistung zumuthen (über die Nützlichkeit derselben siehe später), so ergibt sich aus obigem noch folgende Regel: man warte mit der Aufnahme der nachfolgenden Speisen bis der aus der vorhergehenden Speise entstandene Mageninhalt seine Reizungsfähigkeit bis zu einem gewissen Grade verloren chat. Man hat nämlich mit folgendem Umstande zu rechnen: so lange der Speisebrei die Magenwände noch stärker reizt, bleibt die Ausgangsöffnung des Magens in den Darm, der sogen. Pförtner, geschlossen. Die Erschlaffung und mithin die ruckweise Entleerung des Magens in den Dünndarm erfolgt erst, wenn der Speisebrei eine reizlose gleichartige Masse geworden ist. Wenn wir also die neue Speise zu rasch nachschicken, so mangelt es nicht blos an Platz, sondern wir verhindern die Entleerung des Magens und erhalten ihn zu lange in unnatürlich gedehntem Zustande, was einen lähmenden. Einfluß auf die Muskeln der Magenwand und schließlich auch auf die Absonderung des Magensaftes ausübt, weil die Circulation des Blutes durch die Magenwände be­ einträchtigt wird. Die Folge einer solchen Lähmung ist eine doppelte: einmal entläßt der jetzt erschlaffende Pförtner un­ genügend vorbereiteten Speisebrei in den Dünndarm und der Nachlaß der rotirenden Bewegungen und der Saftabson­ derung verlangsamt und sistirt schließlich die Magenverdauung

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gänzlich, so daß selbst an und für sich leicht verdauliche Substanzen selbst nach 24 Stunden noch in ungelöstem Zu­ stande im Magen getroffen werden. Die Aufgabe, welche die Ernährungsarbeit den ver­ schiedenen Nahrungsmitteln gegenüber zu lösen hat, ist weiter davon abhängig, in welchem Verhältniß bei einem bestimmten Nahrungsmittel die verdaulichen und die unverdaulichen Nähr­ stoffe stehen, indem von der Menge der letzteren wesentlich die Masse des zu bewegenden Speisedreies und schließlich im Djckdarm der fortzubewegenden Kothmaffen abhängt. Im allgemeinen gilt, daß pflanzliche Nährmittel reicher an unverdaulichen Resten sind als thierische, weil sie den schon oben als unverdaulich bezeichneten Holzfascrstoff ent­ halten. Es ergibt sich also auch aus diesem, daß pflanzliche Nahrung an die Verdauung höhere Anforderungen stellt als die thierische, was morphologisch darin seinen Ausdruck findet, daß die Pflanzenfresser ein längeres und weiteres Verdauungsrohr haben als die Fleischfresser. Hier liegt aber eine jener so oft vorkommenden Regulirungserscheinungen vor: allerdings bedarf die pflanzliche Nahrung einer größeren Arbeit als die thierische, allein sie ruft auch eine energischere Verdauungsthätigkeit hervor und erhöht, wie das schon im vorigen Kapitel besprochen, die Leistungs­ fähigkeit des Berdauungsrohrs auf die Dauer. Be­ züglich des ersten Punktes erinnere ich an das, was oben von der mechanischen Reizung des Verdauungsrohrs durch die Nahrung gesagt wurde. Gerade der Gehalt der Pflanzen­ nahrung an unverdaulicher Rohfaser sichert dem Speisebrei dauernd seine mechanische Reizungsfähigkeit, und so entlockt sie den Magen- und Darmdrüsen weit größere Mengen von Verdauungssäften als die Fleischnahrung, die sehr bald in einen reizlosen Brei verwandelt wird. Daraus erklären sich manche Erscheinungen des täglichen Lebens, z. B. die That-

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fache, daß wir zum Fleisch mit besonderer Vorliebe Gemüse genießen und daß durch diesen Beisatz das Fleisch nicht blos leichter verdaut wird, sondern uns auch nicht so leicht wider­ steht, als wenn wir es allein genießen. Ein hübsches Ana­ logon ist, daß viele Raubthiere ihre Beuten mit Haaren und Federn verschlingen, welch' letztere durch ihre Unver­ daulichkeit dieselbe Rolle spielen wie die Rohfaser beim Pflanzenfresser. In den meisten Lehrbüchern der Physiologie finden sich Tabellen über die Verdaulichkeit der hauptsächlichsten Nahrungsmittel des Menschen, die theils an Menschen'mit natürlichen Magenfisteln, theils an solchen, die sich frei­ willig erbrechen konnten, gemacht wurden; allein aus den: oben gesagten geht hervor, daß die für die einzelnen Speisen angegebenen Verdauungszeiten durchaus nur relativ richtig sind, da bei allen diesen Versuchen die Wirkung des Bei­ futters auf die Verdaulichkeit unberücksichtigt geblieben ist: man reichte die Speisen jede für sich. Genauere Versuche für die Nahrung der Hausthi^re stellen gegenwärtig die landnnrthschaftlichcn Versuchsstationen an. Ich beschränke mich nun in folgendem auf die Angaben der relativen Ver­ daulichkeit einiger der wichtigsten Nahrungsmittel. 1. Animalische Stoffe. Unter den verschiedenen Fleischsorten kommt dem Fleische kastrirter Thiere die größte Verdaulichkeit zu. Das Fleisch von Ochsen, Hämmeln, Kapaunen und Poularden ist durchweg verdaulicher als das der unkastrirten Thiere gleicher Art. Unter den letzteren ist das der weiblichen Thiere verdaulicher als das der männ­ liche«. Weiter ist das Fleisch gemästeter Thiere verdaulicher als solcher, die in Arbeit, besonders angestrengter, stehen. Bezüglich des Alters gilt folgendes. Es ist falsch, wenn man glaubt, daß je jünger das Fleisch, um so verdaulicher es sei; im Gegentheil ist das Fleisch am verdaulichsten am

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Schluß der Wachsthumsperiode des Thieres. So ist Ochsen­ fleisch entschieden verdaulicher als Kalbfleisch, Hammelfleisch verdaulicher als Lammfleisch; erst mit weiterer Zunahme des Alters nimmt die Verdaulichkeit wieder ab. Unter den Haussäugethieren hat das Schwein das schwerverdaulichste Fleisch. Betreffs der Zubereitung gilt, daß vorheriges Gefrieren und ein gelinder Grad von Fäulnißgahrung (beim Wild gebräuch­ lich) die Verdaulichkeit erhöht; dann ist rohes Fleisch am leichtesten, gebratenes weniger leicht und gekochtes am schwer­ sten zu verdauen. Endlich Speck ist schwerer verdaulich als Fleisch. Die Eier sind am leichtesten verdaulich im rohen Zustande, am schwersten hartgesotten. 2. Von pflanzlichen Nahrungsmitteln sind leicht verdaulich junge Gemüse, namentlich Spargeln, Hopfen, Artischocken, weiße Rüben, von Mehlspeisen altes gut ausgebackeucs Wcizenbrot. Besonders schwer verdauliche Nahrungsniittel siud im allgemeinen Kartoffeln, frisches und schlecht ausgebackenes Brot, Hülsenfrüchte, Buttertcigbäckereien, überhaupt sehr fette Mehlspeisen. Eine weitere Eigenschaft der Speisen, die wir ins Auge fassen müssen, ist deren Ausnützbarkeit; diese hängt allerdings in erster Linie von der Verdaulichkeit ab: je leichter verdaulich eine Speise ist, uni so vollständiger wer­ den ihre nahrhaften Stoffe dem Blute zugesührt; allein doch kommt noch ein Punkt in Betracht.

Die völlige Ausnützung der Nahrung hängt nicht blos von der Intensität der Verdauungsthätigkeit, sondern auch von der Dauer derselben ab. Speisen, welche den Ver­ dauungskanal zu rasch durchwandern, werden deshalb, nament­ lich wenn sie zugleich schwer verdaulich sind, unvollständig ausgenützt. Dieser Vorwurf trifft insbesondere eine Nahrung, die zu reich an Stärkemehl ist; eine solche geht im Darm in saure Gährung über, und diese wirkt beschleunigend auf Jäger, die menschliche Arbeitskraft. 9

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die Darmbewegung. So gehen bei ausschließlicher Brot­ nahrung oder Kartoffelnahrung mindestens 40 % der darin enthaltenen Nährstoffe mit dem Koth ab. Daraus folgt, daß der Bedarf an stickstofflosen Nährstoffen nicht ausschließ­ lich mit Stärkemehl gedeckt werden darf, sondern noch das Fett und der Zucker herangezogen werden müssen. Bei der Frage nach der Nahrhaftigkeit einer Speise, von der das zur Erhaltung und Arbeitsleistung erforderliche Tagesquantum derselben abhängt, muß zuerst etwas über das Nährstoffverhältniß gesagt werden. Es ist durch zahlreiche Versuche sestgestellt, daß dem Menschen nicht blos überhaupt eine gewisse Menge von den auf S. 114 aufge­ führten Nährstoffen verabreicht werben muß, sondern daß hiebei die zwei Gruppen von Nährstoffen die stickstoffhaltigen (Eiweiß) und die stickstofflosen (Kohlenhydrate und Fette) in einem gewissen Mengeverhältniß zu einander stehen müssen. Voit verlangt für Ruhetage ein Verhältniß von 1 Theil Eiweiß auf 3,5 Kohlenhydrat, für Arbeitstage 1:4,7. Will man nun die Nahrhaftigkeit einer Speise feststellen, so muß sie nach zwei Richtungen, 1. nach ihrem Gehalt an Eiweiß, 2. nach ihrem Gehalt an stickstofflosen Nährstoffen taxirt werden. Voit hat eine solche Doppeltabelle geliefert. Er hat zuerst ermittelt, daß ein erwachsener arbeitender Mensch pro Tag 118 g trockenen Eiweißes und daneben 265 g Kohlen­ stoff in Form von Fetten oder Kohlenhydraten verzehren muß. Die eine Tabelle enthält nun die Angabe, wie viel von dem betreffenden Nahrungsmittel täglich verzehrt werden muß, um in ihnen 118 g Eiweiß zu erhalten. In der andern Tabelle gibt er an, wie viel der Speise erforderlich ist, um 328 g Kohlenstoff, d. h. die obigen 265 g plus den 63 g Kohlenstoff, die im Eiweiß enthalten sind, geliefert zu bekommen.

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Für 328 g Kohlenstoff

Für 118 g Eiweiß

Käse . . . g 272 Erbsen . . . 520 Mageres Fleisch 538 796 Weizenmehl Eier (18 Stück) 905 Mais . . . 989 Schwarzbrot 1430 Reis.... 1868 Milch . . . 2905 Kartoffel 4575 Weißkohl . . 7625 Weiße Rüben . 8714 Bier unendliche Menge, da es kein Eiweiß enthält.

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1 ! \ i 1 :

Mais.......................... g 801 824 Weizenmehl .... 896 ReiS............................... 919 Erbsen.......................... 1160 Käse............................... 1346 Schwarzbrot .... Eier (43 Stück) . . . 2231 Mageres Fleisch . . . 2620 Kartoffel . . . . 3124 4652 Milch.......................... Weißkohl..................... 9318 Weiße Rüben .... 10650 Bier............................... 13160

In dieser Tabelle ist noch anzumcrken, daß aus ihr auch beurtheilt werden kann, ob das Nährstoffverhältniß richtig ist oder nicht. Richtig ist cs bei den Stoffen, die wie Schwarzbrot und Weizenmehl in beiden Tabellen fast die gleiche Ziffer haben; falsch ist cs, wo sie bedeutend differiren. In diesem Fall ist das Nahrungsmittel für sich allein keine zweckmäßige Nahrung, sondern cs muß mit einem von ent­ gegengesetzter Beschaffenheit combinirt werden. Andernfalls, d. h. wenn man es als alleinige Nahrung benützt, greift nothwendigerweise eine Verschwendung Platz. Wenn wir A. B. uns blos von Käse nähmen wollten, so müßten wir, um den vollen Bedarf an Kohlenstoff zu decken, nach obiger Tabelle 1160 g genießen, während für die Deckung des Eiweißbedarfes 272 genügen, was eine beträchtliche EiwcißDerschwendung wäre. Beim Reis z. B. wäre die Sachlage umgekehrt.

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Nun noch einige Worte über die Total menge beu täglichen Nahrung. Hinsichtlich dieser unterscheiden die Thier­ züchter dreierlei Verhältnisse: L Das Erhaltungsfutter, d. h. diejenige Menge, welche gerade hinrejcht, um den Körper im Status quo zu erhalten; 2. das Produktionsfutter welches entweder eine Vermehrung des Körpergewichts oder produktive Absonderungen (Wolle, Milch ?c.) zur Folge hat; 3. das Hungerfutter, welches nicht im Stande ist das Körpergewicht, wohl aber das Leben zu erhalten. Ter Unterschied zwischen diesen dreierlei Mengenverhältnissen ist so aufzufassen: sobald ein Mensch einige Zeit lang im produk­ tiven Ernährungsverhältniß steht, so steigt sein Körper­ gewicht bis zu dem Grad, auf welchem Nahrungsmenge und Körpermasse in dem Verhältniß des Erhaltungsfutters zu einander stehen; umgekehrt, setzt sich ein Mensch auf Hunger­ nahrung, so nimmt fein Körpergewicht ab bis zu dem Standpunkt, wo das Erhaltungsfutterverhältniß hergestellt ist. Daraus erhellt, daß das Erhaltungsfutterverhältniß das eigentliche Maß für das Nahrungsbedürfniß abgibt, und man berechnet es gewöhnlich pro Kilo Körpergewicht. Diese Zahl ist jedoch keineswegs eine eonstante; sie ist nach den haupt­ sächlich an Thieren angestettten Versuchen für kleine Thiere, also auch für kleine- Menschen größer als für große, weil bei ersteren der Stoffverbrauch größer ist. Dies rührt offenbar von den größeren Wärme- und Wasserverlusten her, denen ein kleinerer Körper ausgesetzt ist. Dieselben bilden Neize für Athmungs- und Kreislauforgane, die einerseits vermehrte Sauerstoffzufuhr, andrerseits stärkeren Bewegungs­ trieb zur Folge haben; denn es ist eine bekannte Thatsache, daß nicht blos Kinder lebhafter sind als Erwachsene, sondern auch kleine erwachsene lebhafter als große erwachsene Per­ sonen. Weiter ist klar, daß die Menge der Erhaltungs­ nahrung bei arbeitenden Personen größer sein muß als bei

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unthätigen, weil die Arbeit auf einem Stoffverbranch be­ ruht. Weiter ist die Temperatur der Luft von Einfluß: bei kalter Luft wird dem Körper mehr Sauerstoff zugeführt, Was gleichfalls stärkeren Stoffverbrauch, aber auch größere Wärmebildung zur Folge hat; deshalb muß man im Winter und in kaltem Klima ein größeres Nahrungsquantum und namentlich mehr Fett link Kohlenhydrate zu sich nehmen als im Sommer und in warmem Klima. Bezüglich der Nahrungsmenge gibt es ein Zuviel und ein Zuwenig und bas richtige Maß richtet sich einmal nach der Masse des Körpers und dem Maß der zu vollführenden Arbeit. Darunter darf man jedoch nicht blos die Muskelarbeit ver­ stehen, im Gegentheil ist durch eine Reihe von Versuchen nachgewiesen, daß der Gelehrte und der Künstler mehr Nahrung, namentlich mehr 'Eiweißstoffe bedarf als der Handwerker; insbesondere wurde diese Thatsache von meh­ reren Forschern durch die Zunahme des Harnstoffs bei lebhafter Geistesthätigkeit und Gemüthserregung eonstatirt. So theilt Benneke mit, daß Dr. Becker in Folge einer sehr freudigen Erregung in 24 Stunden 1159 g Körper­ gewicht verlor, daß die Menge der entleerten Harnbestand­ theile von 70 auf 87 g und die des Harnstoffs von 37 auf 40 g stieg. Im allgemeinen verläßt man sich in. Bezug auf das Maß der Nahrungsaufnahme zu sehr auf den Umstand, daß Hunger- und Sättigungsgefühl für die nothwendige Regulirung sorgen, und doch lehrt der tägliche Augenschein, daß nach beiden Richtungen hin ungemein häufig gesündigt Wird, namentlich bei den besseren Stünden in der Richtung des Zuviel. Hier ist die Wage das beste Controlirungsmittel, aber allerdings nur, wenn damit eine Messung der Körperumfänge verbunden wird: eine Steigerung des Körpergewichts bei Gleichbleiben der Umfänge ist ein günstiges Zeichen in Bezug

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auf Arbeitsfähigkeit und Gesundheit, worauf wir noch später zurückkommen werden; allein sobald mit dem Gewicht auch die Umfänge, namentlich der Bauchumfang steigt, so darf dies unter allen Umständen als eine nachtheilige Aenderung des Körperzustandes betrachtet werden. Es ist im allgemeinen viel zu wenig bekannt, namentlich in Süddeutschland, dein gelobten Lande der dicken Bäuche und des Stubenhockerthums, daß die Lebensversicherungsgesellschaften ein sorg­ fältiges Augenmerk auf dieses Verhältniß haben und daß alle Männer, bei denen der Bauchumfang den Brustumfang erreicht oder übertrifft, in eine schlechtere Versicherungsklasse rangirt werden. Auch hier geht Erkrankungsfähigkeit und Abnahme der Arbeitsfähigkeit Hand in Hand, ja die letztere erfährt durch das Fettleibigwerden eine erhebliche Abnahme lange, ehe sich eigentliche Krankheitsbeschwerden einstellen. Uebrigens ist die Gefahr einer Ueberernährung nicht in allen Lebensaltern gleich groß; man erkennt vielmehr ziemlich leicht zwei Perioden. Die eine fällt an den Schluß der Wachsthumsperiode und läßt sich in folgender Weise erklären. So lange der Körper Fleisch und Knochen zu bilden hat, bedarf er größerer Nahrungsmengen, als später, wo es sich nur um Erhaltung des Körpergewichts handelt. Bleibt nun jemand in Folge geringer Ausbildung des Hunger- und Sättigungsgefühls auch nach Vollendung des Wachsthums bei der gewöhnten Nahrungsmenge, so tritt Ueberernährung ein. Noch viel ausgesprochener ist die zweite Epoche, die etwa auf das vierzigste Lebensjahr fällt. Hier scheinen mehrere Umstünde zusammenzuwirken. Einmal nimmt in diesem Alter öfters der äußere Zwang zur Thätigkeit ab, wenn die Existenz an Sicherheit zugenommen und das Ringen um eine solche abgenommen hat. Ein weiterer

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Punkt ist, daß die geschlechtlichen Funktionen und damit ein Faktor des Stoff- und Kraftverbrauchs um diese Zeit nach­ lassen, schon weil sie den Reiz zu verlieren beginnen. Ob die in derselben Zeit zu bemerkende Abnahme des Temperaments eine primäre Erscheinung ist oder erst hervor­ gerufen wird durch die Ueberernährung, wird schwer zn ermitteln sein; um so gewisser ist, daß sie zur mitwirkenden Ursache wird. Die Ueberernährung besteht natürlich auch hier wieder darin, daß in Folge geringer Ausbildung des Hunger- und Sättigungsgefühls der Mensch bei seinem früheren Nahrungsguantum bleibt, anstatt es entsprechend der Herabminderung des Verbrauchs zu kürzen. Nach dem obigen ist in beiden Fällen die Trägheit der erwähnten Gemeingefühle in letzter Instanz schuld an der Ueberernährung, und wir fragen billig, woher es komme, daß sie nicht mehr ihre Schuldigkeit thun. Die Schuld liegt einfach in verkehrter Lebensweise." Wenn ein Mensch sich selten oder gar nie bis zum wirklichen Hungern bringt, wenn er durch Jahre hindurch eben nur aus Gewohnheit ißt oder aus Lüsternheit d. h. Bedürfniß nach Sinneskitzel, so mangelt es den das Hungergefühl vermittelnden Nerven und den dazu gehörigen Seelenorganen an der nöthigen Uebung und Unterscheidungsgabe, um ihr Wächteramt über das Nahrungs­ maß auszuüben. Dabei scheint ein eigenthümlicher Gegensatz zwischen Mann und Frau zu bestehen. Während bei ersterem mehr das Sättigungsgefühl seine Dienste versagt und Ueber­ ernährung herbeiführt, findet man bei Frauen sehr häufig das Gegentheil: es mangelt am Hungergefühl, und die Folge ist Unterernährug mit Blutarmuth. Wir haben zwar schon oben verschiedene wesentliche Punkte der Zusammensetzung der Nahrung abgehandelt, doch waren es nur die, welche die Verdaulichkeit betreffen und

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10 Speise und Trank.

das Nahrungsquantum bestimmen. Hiezu kommen nun einige Anforderungen an die Zusammensetzung der Nahrung, welche die Rücksicht auf den Totaleffekt der Ernährung diktirt. Einer dieser Punkte besteht darin, das; die richtige Körperbeschaffenheit eine stärkere Ansammlung von Wasser in den Geweben verbietet. Bezüglich des Essens verlangt dies die Maßregel, daß man unter Verhältnissen, welche für die Wasserabgabe nach außen ungünstig sind (sitzende Lebens­ weise, Aufenthalt in schlecht ventilirten Räumen) mehr solche Nahrungsmittel genießen soll, die der Wasseransammlung entgegen wirken. Hier steht Eiweiß oben an: je eiweißreicher die Nahrung, um so weniger kann Wasseraufstauung eiutreten; bekannt ist, daß der erste Erfolg der Bantingkur eine beträchtliche Verminderung des Gewebswassers ist. Bezüg­ lich des Trinkens fordert dieser Gesichtspunkt einmal eine gewisse Beschränkung in der Quantität, und in qualitativer Beziehung, daß den Getränken, namentlich solchen, die wir in größeren Mengen zu trinken pflegen, Harn- oder Schweiß­ treibende Stoffe beigefügt sind. Als solche kommen die schon aus andern Gründen wichtige Kohlensäure und der Alkohol in Betracht, und wir treffen deshalb bei allen Völkern der Erde alkoholische Getränke in Gebrauch, und für die zweckmäßigsten nicht blos für die Verdauung (siehe voriges Kapitel), sondern auch für den Gesammtköper sind die moussirenden alkoholischen Getränke zu erklären. Eine Nebenwirkung des Alkohols ist, daß er den Stoffwechsel verlangsamt, also eine Stoffersparniß ermöglicht, weshalb die Armuth sehr gern nach Schnaps greift. Auf der andern Seite schädigt ein Uebermaß von Alkohol, wie wir im vorigen Kapitel sahen, die Verdauung und ruinirt durch Ueberreiz das Nerven­ system. Die entschieden weniger zuträgliche Wirkung junger

Weine gegenüber alten soll darauf beruhen, daß in jungen Weinen aus den stickstoffhaltigen Bestandtheilen der Hefe

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ein Alkaloid sich zu entwickeln scheine, das besonders stark berauschend wirke, während es alten Weinen fehle. Die Güte des Bieres hängt natürlich einmal von der genügenden Menge von Kohlensäure und Alkohol ab, dann enthält es im Hopfenbitter einen Stoff, welcher der bei übermäßigem Genuß von Getränken leicht eintretendcn Magenerschlaffnng entgegentritt und die Wirkung des Alkohols auf das Nervensystem und den Kreislauf hemmt: es wirkt beruhigend. Der größte Theil der nachtheiligen Wirkungen scheint beim Biere vom Hefengehalt auszugehen, und weiter hat man neuerdings die Beobachtung gemacht, daß durch nachträglichen Wasserzusatz zu fertigem Biere der in dem Hopfen enthaltene narkotische Bitterstoff, der in Verbindung mit dem Malzzucker unschädlich ist, frei gemacht und so vorher gutes gesundes Bier in- eine schläfrig machende, bittere, ge­ sundheitsschädliche Flüssigkeit verwandelt wird. Noch sind einige Anforderungen an die richtige Zusammensetzung der Nahrung seitens der Blutbildung zu stellen. Voran ist es der Gehalt an Eisen, welches zur Bildung des Blutrothcs unerläßlich ist. Es ist interessant, daß wir hier einer fast völligen Uebereinstimmung zwischen Thiernnd Pflanzenkörper begegnen. Durch zahlreiche Unter­ suchungen ist festgestellt, daß zur Bildung des grünen Pflanzen­ farbstoffs das Eisen eben so unumgänglich nöthig ist, wie zur Herstellung des Blutroths im Menschen: sobald man einer Pflanze das Eisen entzieht, wird sie bleichsüchtig und geht schließlich zu Grunde. Die Bleichsucht schwindet aber sofort, wenn dix Eisenzufuhr wieder hergestellt ist, ja es genügt sogar das Benetzen eines bleichsüchtigen Blattes mit einer entsprechend verdünnten Eisenlösung, um es wieder ergrünen zu lassen. Dies entspricht der auch dem Laien bekannten Anwendung des Eisens als Heilmittel bei Bleichsucht des Menschen.

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10. Speise-und Trank.

Fragen wir nach der Ursache des Eisenmangels, so denkt mau natürlich sofort an einen ungenügenden Eisen­ gehalt der Nahrung; allein zahlreiche Untersuchungen haben festgestellt, daß die Sache durchaus nicht so einfach ist, daß viel­ mehr die complicirtesten Stoffwechselvorgänge hierauf einwirken. Es ergibt sich dies schon aus der einfachen Thatsache, daß der tägliche Bedarf an Eisen äußerst gering ist und daß fast alle zusammengesetzten Nahrungsmittel, die der Mensch ge­ nießt, des Eisens genug enthalten, um den Bedarf zu decken. Man wird somit in den meisten Fällen entweder auf eine Behindernng der Aufnahme des Eisens ins Blut, insbesondere durch Verdauungsstörungen veranlaßt, oder auf eine ver­ mehrte Abscheidung des Eisens Hinweisen müssen. Letztere wird bei allen Zuständen eintreten, welche mit lebhafterer Zerstörung der des Blutroth führenden gefärbten Blut­ körperchen verlaufen, und die Ursachen dieses, besonders in Leber und Milz sich abwickelnden Zersetzungsprozesses sind selbst wieder mancherlei Art. Zu der Bildung des Blutroths gehört außer dem Eisen noch eine erhebliche Menge von den Eiweißstoffeu, aus welchen die Blutkörperchen zusammengesetzt sind, und so muß natür­ lich jede Beeinträchtigung der Ernährung mittelst Eiweiß­ stoffen auch die Bildung der Blutfarbe hemmen, und damit sind wir auf das .reiche Gebiet der Ernährungsstörungen überhaupt verwiesen. Ein weiterer Blutbestandtheil, dessen Schwankungen die Arbeitsfähigkeit beeinflußt, ist das Kochsalz, von dem wir schon oben sahen, daß es bei der Verdauung einen wesent­ lich fördernden Einfluß ausübt.' Voran steht die Thatsache, daß Fleischfresser ein weit geringeres Bedürfniß nach Koch­ salzgenuß haben als Pflanzenfresser und daß der Mensch, insofern er beiderlei genießt, die Mitte hält. Ueber die Rolle des Kochsalzes im Blute wissen wir einmal, daß mit

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erhöhtem Salzgehalt eine sogenante Blutverdünnung d. h. eine Abnahme der Eiweißmenge und eine Zunahme des Wassergehaltes eintritt; fürs zweite nimmt die Lebhaftigkeit im Umsatz der Eiweißverbindungen zu, was sich aus einer Steigerung der täglichen Harnstoffmenge um V« bis V» und aus der Thatsache ergibt, daß man bei Mästung der Thiere durch Kochsalzzusatz zur Nahrung die Zunahme des Körpergewichts beeinträchtigen kann. Nicht minder gewiß ist, daß das durch anhaltenderen Kochsalzgenuß verdünnte Blut leichter die Gewebe durchdringt und so die Saftströ­ mung im Körper eine Steigerung erfahren muß. Das Ver­ hältniß, in welchem der Kochsalzgehalt des Blutes zu der Arbeisfähigkeit steht, ist meines Wissens bis jetzt noch nicht Gegenstand direkter Untersuchungen gewesen, und so läßt sich allenfalls darüber nur sagen, daß ein zu geringer Kochsalz­ gehalt durch die damit verbundene Verzögerung des Stoff­ wechsels (abgesehen davon, daß wir das Kochsalz zur Ver­ dauung bedürfen) die Arbeitsfähigkeit wird beeinträchtigen müssen, während andrerseits ein zu hoher Salzgehalt auch hinderlich sein muß, weil mit der Abnahme der EiweißTnemje einer der wichtigsten Faktoren in der Erzeugung der Arbeitskraft eine Herabminderung erfährt. Von unmittelbarerer und besser bekannter Bedeutung für die Arbeitsfähigkeit ist der Gehalt des Blutes an dem alkalisch reagirenden phosphorsauren Natron und zwar nach zwei Richtungen hin. Liebig hat nachgewiesen, daß eine wässerige Lösung desselben doppelt so viel Kohlensäure absorbirt als bloßes Wasser, ohne sie jedoch fest zu binden. Mithin scheint dieses Satz für die Abfuhr von Kohlensäure aus den Geweben und damit für die Beseitigung einer wichtigen Ermüdungs- und Echauffements-Ursache von hoher Bedeutung zu sein. Der zweite Punkt ist folgender: Bei der Arbeit wird im Muskel und Nerv Säure, insbesondere Milchsäure erzeugt, die nach

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10. Speise und Trank.

S. 63 ein Ermüdungsstoff ist und schließlich sogar zur Ge­ rinnung des Muskeleiweißes führt. Da nun die Neutralisirung und Unschädlichmachung der Muskelsäure vom alkalischen Blut ausgeht und der Grad der Blutalkalescenz hauptsächlich von der Anwesenheit des phosphorsauren Natrons abhängt, -so muß eine Herabminderung der Menge dieses Salzes einen früheren Eintritt der Ermüdung zur Folge haben. Neben dem phosphorsauren Natron findet sich im mensch­ lichen Körper noch das phosphorsaure Kali, von dem wir missen, daß es ein wesentlicher Bestandtheil der Blutkörper­ chen ist, und dasselbe gilt von dem phosphorsauren Kalk. Daraus erhellt, daß diese phosphorsauren Salze für die Blutbildung eine ähnliche Wichtigkeit haben ivie das eben besprochene Eisen und daß ein Mangel an ihnen ebenfalls die Erscheinungen der für die Arbeitsfähigkeit so schädlichen Blutarmuth Hervorrufen kann. Für das Verständniß der »genannten Salze ist es weiter wichtig, daß es saure und alkalisch reagirende phosphorsaure Salze gibt und daß nur die letzteren die oben genannten wichtigen Rollen im Blut zu spielen vermögen, die sauren dagegen nicht. Deshalb fonimen bei diesen Salzen zweierlei Verhältnisse in Betracht, einmal deren Menge an und für sich und dann der Grad ihrer Alkalescenz. Ueber den ersten Punkt d. h. über die Ursachen, welche eine Verarmung des Blutes an phosphorsaurem Natron herbeiführen können, wissen wir nur, daß gewisse Nahrungs­ stoffe, namentlich die als Massennahrung so üblichen Kar­ toffeln und der Reis zu arm an phosphorsauren Salzen sind, um den Bedarf des Körpers an Phosphorsäure zu decken. Am empfindlichsten macht sich dieser Uebelstand im wachsenden Alter geltend, wo der Bedarf an Phosphorsäure deshalb besonders groß ist, weil der Aufbau des Knochen­ systems eine große Menge phosphorsauren Kalks erfordert.

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Es ist deshalb wichtig zu wissen, daß das Fleisch und unsere Brotfrüchte die besten Lieferanten der phosphorsauren Salze sind, aber zugleich auch, daß das Schwarzbrot reicher daran ist als das Weißbrot. Ueber den Grad der Alkalescenz der phosphorsauren Salze entscheidet wesentlich der chemische Vorgang bei der Verdauung. Sobald hier zu viel Säure gebildet wird, gelangen mehr saure als alkalische Phosphorsalze in das Blut, und so erklärt es sich, warum Leute, die an der ge­ nannten Verdauungsstörung leiden, nicht blos in ihrer Er­ nährung und damit nicht nur indirekt, sondern auch direkt in ihrer Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt sind: sie erinüden leichter und echauffiren sich leichter. Hier muß noch einer andern Rolle, welche die Phos­ phorsäure spielt, gedacht werden, nämlich ihrer Beziehungen zum Nervensystem und der Gewebsbildung überhaupt, inso­ fern die Glycerinphosphorsüure ein Bestandtheil des Lecithins ist, einer der wichtigsten Stoffe des Nervengewebes, eine Thatsache, die in dem bekannten Ausspruch Moleschott's: „ohne Phosphor kein Gedanke" niedergetegt ist. Aus dieser Thatsache ergibt sich die Wichtigkeit eines ausreichenden Ge­ haltes der Nahrungsmittel an Phosphorsalzen einerseits im wachsenden Alter, andrerseits bei geistiger Arbeit, und da bei der Jugend unserer höheren Stände beides zusammen­ trifft, so kann nicht genug Vorsicht in dieser Richtung einpfohlen werden. Hiezu kommt noch folgender Umstand: B. Jones und Engelmann haben nachgewiesen, daß bei körperlicher Bewegung die Menge der im Harn zur Aus­ scheidung kommenden Phosphorsalze steigt. Da nun die Kinder nicht nur ein größeres Bewegungsbedürfniß haben als die Erwachsenen, sondern sich auch mehr Bewegung machen sollen, so ist auch in dieser Beziehung ihr Bedarf an Phosphorsalzen gesteigert.

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11. Athmungstuft.

Bei der Beschaffung der nöthigen Glycerinphosphorsäure kommt es jedoch, nicht blos auf die Zufuhr der Phosphor­ salze an, sondern auch darauf, daß bei der Verdauung aus den letztern die genügende Menge von Glycerinphosphorsäure gebildet wird. Dieses beruht auf zweierlei Umständen, ein­ mal auf der Abscheidung der Phosphorsüure aus den Phosphorsalzen der Nahrung, durch die Säure des Magensaftes und der Bildung des Glycerins aus den Fetten der Nahrung unter Einfluß des Bauchspeichels. Daraus ergibt sich, daß wir das Fett der Nahrung nicht, wie man eine Zeit lang geglaubt hat, durch die sogen. Fettbildner (Zucker rc.) ersetzen tonnen, namentlich nicht im wachsenden Alter, und daß alle Verdauungsstörungen, welche die Zerlegung der Fette beein­ trächtigen, auch die Bildung der Glycerinphosphorsäure schädigen. In dieser Beziehung kommen wir noch einmal auf die zu große Säurebildung im Darmkanal zurück, die auch hier störend einwirkt, gerade so wie auf die Alkalescenz der Phosphorsalze. Ein weiterer diätetischer Wink mit Bezug auf den Haushalt der Phosphorsalze ist die Entdeckung Bunge's, daß bei Genuß von Obst, das bekanntlich reich an pflanzen­ saurem Kali ist, die Menge der Phosphor-Ausscheidung durch den Harn abnimmt, so daß also derartige Nahrung eine Ersparung in dieser Richtung ergibt. Damit gewinnen wir eine Einsicht in die bekannte Zuträglichkeit mäßigen Obst­ genusses für die Kinder.

U» Athmungsluft. In stofflicher Beziehung unterscheidet sich die Athmung erheblich von der Ernährung, indem es sich hier nur um

11. Athmuiigslust.

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'bie Aufnahme eines einzigen Stoffes, des Sauerstoffs der Luft, handelt und bei der Abgabe nur um Kohlen­ säure, Wasserdampf und Wärme; allerdings enthält die .atmosphärische Luft nebstbei noch Stickstoff, allein dieser spielt nur die Rolle eines Verdünnungsmittels für den Sauer­ stoff und erscheint in der Ausathmungsluft unverändert wieder. Wir können uns deshalb bei der Besprechung der nothwendigen Qualität des Athmungsmittels kürzer fassen nls bei der der Nahrungsmittel. Zuerst ist die Thatsache anzuführen, daß der Mensch durch sein eigenes Athmen die Qualität der ihn umgebenden Lust verschlechtert, indem er sie ärmer an Sauerstoff und reicher an Kohlensäure macht. Noch wichtiger aber als diese Veränderung ist die Verderbniß, welche der Beimischung der mannigfachen und großentheils noch unbekannten Riechstoffe der Ausdünstung entspringt. Durch Versuche ist festgestellt, .daß wir der Luft bis zu 7 pro Mille Kohlensäure beimischen sönnen, ohne das geringste Unbehagen zu empfinden, sofern «es sich nur um chemisch reine Kohlensäure handelt. So habe ich im verflossenen Winter den Kohlensäuregehalt meines Studirzimmers durch 10 stündiges Brennen eines Gasofens, .der seine Verbrennungsgase in das Zimmer sendet, auf 6 pro Mille gesteigert, und trotzdem, daß hier neben der Kohlen­ säure noch andere für den Körper ziemlich empfindliche Gase z. B. Acetylen entwickelt wurden, war die Luft durchaus nicht beengend. Hat sich dagegen die Luft auf diesen Kohlensäuregehalt blos durch Athmu'Ngsthätigkeit von Menschen gesteigert, so ruft sie das lebhafteste Unbehagen und auf die Dauer unfehlbares Siechthum hervor, zum Beweis dafür, daß nicht die geruchlose Kohlensäure, sondern die riechenden Ausdün­ stungsstoffe es sind, welchen die notorischen schlimmen Folgen «einer solchen Luft zuzuschreiben sind. Um jedoch den Grad

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11. Athmimgsluft.

der durch Athmung und Ausdünstung bewirkten Luftverderbniß genauer zu messen, bedient man sich der quantitativen Bestimmung der Kohlensäure als des habbarsten dieser

Produkte. Den Untersuchungen Pettenkofer's über diese Materie seien folgende ziffermäßige Angaben entnommen.

Die freie atmosphärische Luft hat im Mittel 0,5 pro Mille Kohlensäure. Im geschlossenen Raum bringt eine Steigerung des Kohlensäuregehaltes durch menschlichen Auf­ enthalt auf 0,7 pro Mille noch keine Nachtheile, aber höher darf der Gehalt nicht steigen, wenn die Luft ihre Zuträg­ lichkeit behalten soll. Dies ist aber der Fall in allen ge­ schlossenen Räumen, falls sie nicht genügend ventilirt sind: man hat in Schulzimmeru bis zu 7,2 pro Mille gefunden! Dies wird begreiflich, wenn wir erfahren, daß die aus­ geathmete Luft 40 pro Mitte Kohlensaure enthält und ein Mensch pro Stunde etwa 300 Liter Luft braucht (ein ge­ wöhnlicher Athemzug ist nicht ganz V- Liter). Eine einfache Rechnung ergibt, daß in diesem Fall der Kohlensäuregehalt nur dann auf der Ziffer von 0,7 erhalten werden kann, wenn zu der Luft, in welcher ein Mensch athmet, fortdauernd die 200 fache Menge des Bedarfs der Lunge an Luft, das ist pro Stunde 60000 Liter — 60 Kubikmeter zugeführt wird und zwar für jeden Kopf, der sich im betreffenden Raum aufhält. 9tun findet zwar in unseren Wohnräumen ein stetiger Zu- und Abfluß von Luft statt, da weder die Thüren noch die Fenster hermetisch verschlossen sind, namentlich aber da auch die Mauerwände, sofern sie trocken sind, die Luft durchpassiren lassen. Aber diese natürliche Ventilation ist in den meisten Fällen ungenügend. Pettenkoser hat sie unter vier verschiedenen Verhältnissen bestimmt. Das Maximum war 95, das Minimum 22 Kubikmeter pro Stunde.

11. Nthinungslnst.

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Auf das Maß der natürlichen Ventilation nimmt die Temperaturdifferenz zwischen Zimmerluft und äußerer Luft sehr großen Einfluß. Beim obigen Maximum betrug der Unterschied 20° C., beim obigen Minimum 4°. Daraus erklärt sich, warum Winters der Aufenthalt in einem kalten Zimmer weit schädlicher ist als im Freien, wo die gleiche Temperatur herrscht. Weiter ist die Stärke und Richtung der Luftbewegung im Freien und die relative Größe der exponirten Außen­ wand des Wohnraumes von großem Einfluß auf das Maß der natürlichen Ventilation. Am empfindlichsten wird die natürliche Ventilation herabgesetzt, wenn die Mauern feucht werden,- denn dies hebt ihre Durchgängigkeit für Luft sofort völlig auf. Des­ halb tritt in solchen Zimmern die Luftverderbniß ganz be­ sonders rasch ein, und hat das Zimmer vollends die gleiche Temperatur wie die äußere Luft, so stagnirt die Ventilation völlig und der Raum muß in diesem Zustande geradezu für unbewohnbar erklärt werden. Aus dem vorigen erhellt, daß die bei uns herkömmliche Art zu wohnen weitaus die meisten Menschen in eine zur Erhaltung der vollen Arbeitskraft und Gesundheit ungenü­ gende Luft versetzt, falls nicht besondere Ventilationsvorrichtungen an den Wohnräumen angebracht sind. Unjer den von auswärts herrührenden gasartigen Verunreinigungen der Luft sind die empfindlichsten diejenigen, welche schon in geringen Quantitäten die Flimmer­ bewegung in Lunge und Luftröhre lähmen (Chlorgas). Sie reizen zu heftigem, störendem Husten; aher darin liegt eine genügende Warnung für den Menschen, Abhilfe zu treffen. Gefährlicher sind diejenigen Gase, welche keine unangenehmen Gemeingefühle Hervorrufen, aber ins Blut ausgenommen, giftig wirken (Kohlensäure, Leuchtgas, Kohlenoxydgas re.). Jäger, die menschliche Arbeitskraft.

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11. Athmungsluft.

Hier sei auch das Ozon erwähnt, jene eigenthümliche Modifikation des Sauerstoffs, die noch inanches räthselhafte darbietet. Nach allem scheint ein mäßiger Ozongehalt ber Luft für die Abwicklung des Athmungsgeschttftes günstig zu wirken und darauf zum Theil die größere Zuträglichkeit der ozonhaltigen Luft im Freien, namentlich in Nadelwaldungen, gegenüber der ozonarmen Zimmerluft zu beruhen. Die mechanischen Beimengungen, die wir mit dem Namen Staub belegen und die theils organischer, theils unorganischer Natur sind, werden, wenn wir durch die Nase athmen, meist in dieser von der feuchten Schleim­ haut arretirt und durch die Flimmerbewegung sammt dem Schleim wieder ausgestoßen. Bei heftigem Athmen und namentlich wenn wir d^rch den Mund athmen, gelangt jedoch vieles von dem Staub in die Luftröhre und Lunge, wo er krankheitserregend wirken sann; doch wird das meiste auch in dem Fall in Verbindung mit dem dann reichlicher ab­ gesonderten Schleim durch die gegen die Stimmritze gerichtete Flimmerbewegung der Lungenwege allmählich rückwärts be­ fördert und durch das Husten, das eine durch Reflex her­ vorgerufene heftige Ausathmung ist, hinausgeschleudert. Ueber den Wassergehalt der Luft gilt folgendes: Zu trockene Sijft wirkt reizend auf die Schleimhaut der Lunge, was sich leicht bis zu gesundheitswidrigem Grade steigert. Dieser Uebelstand fällt geringer aus, wenn wir durch die Nase athmen. Da deren Schleimhaut an und für sich feucht ist, hauptsächlich aber durch den steten Abfluß der Thränenflüssigkeit in den vordern Theil der Nasenhöhle feucht erhalten wird, so erhöht sich hiedurch die Feuchtigkeit der eingeathmeten Luft beträchtlich, ehe sie die Lunge er­ reicht. Mithin ist es auch von dieser Seite wichtig, stets durch die Nase und nicht durch den Mund zu athmen.

(Sprichwort: Geschlossener Mund erhält gesund).

11. Athmungsluft.

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Unigekehrt wirkt eine Lust, welche nicht nur vollständig mit Wasserdampf gesättigt, sondern auch noch körperwarm ist, so daß sie gar keine Wasserverdunstung auf der Lunge zu erzeugen im Stande ist, beeinträchtigend, namentlich dann, wenn es sich auch noch um vermehrte Absonderung von Wärme handelt, was ^bei jeder Arbeitsthätigkeit der Fall ist.

Ueber die Luftwärme gilt folgendes: Zu geringe Wärme wirkt schon als solche reizend auf die Lunge, noch mehr aber dadurch, daß die kalte Luft zugleich arm an Wasserdampf ist, also die Lunge stark austrocknet. Auch hier spielt die Vorwärmung der Luft in der Nase eine wichtige Rolle. Umgekehrt beeinträchtigt Luft, welche sich der Körper­ temperatur nähert oder sie gar übersteigt, das Athmungsgeschäft, namentlich wenn sie zugleich mit Wasserdampf ge­ sättigt ist. Hier wird die Wärmeabsonderung vollständig gehemmt, und da warme Lust einen größeren Raum ein­ nimmt als kalte, so ist auch die Sauerstoffaufnahme beein­ trächtigt, indem bei gleich tiefen Athemzügen weniger Sauer­ stoff ausgenommen wird, als wenn die Luft dichter wäre. Daraus ergibt sich, daß die warme feuchte Luft weniger leistungsfähig für die Athmungszwecke, aber auch weniger gefährdend ist und daß trockene kalte Luft zwar mehr leistet, aber auch die Gefahr der Beschädigung durch Ueberreizung näher legt. . Was endlich den Luftdruck betrifft, so ist klar, daß die Leistung der Luft für Athmungszwecke um so größer ist, je höher der Luftdruck, und um so geringer, je niedriger er steht und zwar einfach wegen der verschiedenen Gewichts­ mengen von Sauerstoff in der Volumeinheit. Das erklärt die bekannten Thatsachen, daß in der dünnen Luft auf hohen Bergen die Leistungsfähigkeit des Gesammtkörpers bedeutend herabgemindert ist, während umgekehrt an der Seeküste und noch mehr in künstlich comprimirter Luft selbst Lungen mit

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12. Der AthmungsmechanismuS.

fcebeutenb geschädigter Leistungsfähigkeit iwch ihre Dienste zu thun vermögen.

\2. Der Athmungsmechanismus.

Flg. 4. Luftröhre und ihre Theilung im Innern der Lunge. A Luftröhre. B linker Hauptast (Bronchus sinister). C rechter Hauptast (Bronchus dexter). D D die kleineren Bronchien,

Diese Hilfsmaschine besteht wiedep ups drei Theilen. Der Haupttheil ist die Lunge, hiezu tVstkN als zuleitende Theile die Nasengänge und eventuell Pje Mundhöhle und

12. Der Athm nngsmechanismus.

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als brittcS der aus Knochen und willkürlichen Muskeln be­ stehende aktive Apparat. Die ersten Luftwege spielen für gewöhnlich nur eine passive Rolle; erst bei gesteigertem Bedarf erweitern sie sich durch Muskelwirknng, und umgekehrt verengern wir sie unter Umständen. Den Hauptantbeil an der Athmungsmechanik haben die Lunge und die Athmungsmuskeln. Der Anstoß zur Athembewegung geht von einem automatischen Centrum aus, denr sog. Athmungscentrum, das im Genickmark liegt. Es ist durch genaue Versuche fest­ bestellt, daß die Erregung dieses Centrums vom Blute und zwar dessen Gasgehalt ausgeht und zwar so: Nimmt der Gehalt an Sauerstoff im Blute ab und der Lin Kohlensäure zu, so wird der Athmungsrhythmus be­ schleunigt, die Athmung immer heftiger, endlich tritt Athemnoth (Dyspnoe) ein mit Krämpfen, die fast alle Muskeln des Körpers ergreifen, bis Tod durch Erstickung erfolgt. Umgekehrt: wenn der Sauerstoffgehalt des Blutes steigt und der Kohlensäuregehalt abnimmt, so wird der Athmungs­ rhythmus langsamer, und durch künstliche Athmung kann man das bis zum völligen, aber natürlich nicht lange an­ haltenden Athmungsstillstand (Apnoe) bringen. Darin liegt natürlich eine Selbsteuerung des Athmens: Hat durch vermehrtes Athmen der Sauerstoff zu-, die Kohlen­ säure abgenommen, so wird das Athmen von selbst langsamer und umgekehrt, so daß das Athmen unter fernst gleichen Umständen stets denselben Rhythmus bewahrt, aber auch jeder Veränderung des Athmungsbedarfs sofort mit einem neuen Rhythmus sich anpaßt. Dieser automatische Mechanismus stehL jedoch mit dem 'Willensmechanismus in inniger Verbindung,, so daß wir das Athmen willkürlich zu beschleunigen oder zu hemmen vermögen.

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12. Der Athmungsmechanismus.

Bei der Mechanik des Athmens haben wir zwei Bor­ gänge, die Einathmung und die Ausathmung zu unterscheiden, von denen die erstere ein aktiver d. h. durch Muskelzusammenziehung erzeugter Akt, die letztere beim ge­ wöhnlichen Athmen ein lediglich passiver Akt ist, indem elastische Theile, deren Gleichgewichtslage durch die Einathmungsthätigkeit gestört ist, mit elastischen Kräften in dieselbe zurückkehren. Erst bei starkem Athembedürfniß wird die passive Ausathmung noch durch Muskelthätigkeit unter­ stützt. Zur Einathmung, um mit dieser zu beginnen, werden bei den verschiedenen Geschlechtern nicht die gleichen Muskeln benützt. Beim Manne wird sie nur mittelst des Zwerchfells hervorgebracht. Dieser hautartig ausgebreitete, Brust- und Bauchraum luftdicht gegen einander abschließende Muskel (Fig. 5 C) wird im schlaffen Zustande einerseits durch den nach aufwärts gehenden Druck der Baucheingeweide, andrerseits durch das elastische Zusammenziehungsbestreben der Lunge kuppelförmig in den Brustraum hinaufgewölbt. Zieht er sich zusammen, so flacht sich die Kuppel ab, wobei sich der Längsdurchmesser der Brusthöhle vergrößert und die Baucheingeweide nach abwärts gepreßt werden, was von einem Heben der Bauchdecken begleitet ist — man nennt des­ halb dieses Athmen auch Bauchathmung. Hiebei sind ins­ besondere die untern Partien der Lunge thätig, die Lungen­ spitzen fast unbetheiligt. Beim Weibe finden wir die Rippenathmung, zn welcher der Mann erst bei Athemnoth und Tiefathmung greift. Die Rippe wird hiebei in zweierlei Weise bewegt.

Man vergegenwärtige sich, daß dieselbe einen Halbbogen be­ schreibt^ der vorn beginnend nach abwärts und aufwärts zieht, uni nach rückwärts und aufwärts an der Wirbelsäule zu endigen. Verbindet man die Endpunkte des Bogens

durch eine Sehne, so wird deutlich, daß zweierlei Be­ wegungen nlöglich sind, einmal eine Veränderung der Neigungsebene des Bogens bei fest stehender Sehne und zweitens eine Veränderung des Winkels, welche die Bogen­ sehne mit der Wirbelsäule bildet.

F'g. 5.

Brust- und Bauchhöhle geöffnet. C Zwerchfell.

D Leber.

A Herz.

B die Lungen, etwas bei Seite gezogen.

E Gallenblase. F Magen. G Dünndarm. em Abschnitt des Dickdarms.

H Ouerdarm,

Die erste dieser Bewegungen ist eine Drehung des Rippell­ bogens nach aufwärts, die zweite eine Hebung am Brust­ beinende. Diese beiderlei Bewegungen stehen in folgendem Verhältniß zu einander: Tie erste ist die bei weitem aus-

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12. Der Mhmungsmechanismus.

giebigere, indem sie eine erhebliche Vergrößerung des Quer­ durchmessers der Brust herbeiführt; die IclV-cre fällt weniger ins Gewicht und vergrößert den Tiefedurchmesser. Die beiderlei Bewegungen werden nicht gleichmäßig ausgesührt. Für gewöhnlich begnügt man sich mit der Drehung der Nippe, und erst in letzter Instanz wird zu der £>ebnng ge­ schritten, indem das Brustbein im Ganzen gehaben wird. Zu diesen Bewegungen des Brustkorbes wirken in einem ge­ wissen Jnstanzenzug sehr viele Muskeln, in letzter Instanz bei höchster Athemnoth sogar noch die Schultermuskeln mit. In der Ruhe bewegt das Weib nur die oberen Rippen, so daß bei ihr hauptsächlich die Lungenspitze athmet. Der Unterschied im Athmen von Mann mit) Weib besteht jedoch nur für das gewöhnliche ruhige Athmen; bei der Tiefathmung fällt der Unterschied fort, hier athmen beide Geschlechter gleich und zwar fast nur mit den Rippen; doch gibt es, wie unten ersichtlich, Männer, die auch bei der Tiefathmung mehr das Zwerchfell benützen. Da die Tiefathmung sowohl in der Heilkunde als in der Gymnastik eine wichtige Rolle spielt, so dürfte es nicht unzweckmäßig sein, die Ergebnisse einiger Tiefathmungsuntersuchungen hier mitzutheilen, die ich selbst angestellt habe: Ueber den Antheil, welchen die Ausweitung des« Brust­ korbes an der Tiefathmung nimmt, belehrt am kürzesten eine Messung des Brustumfanges an einer bestimmten Stelle, z. B. der Höhe der Brustwarze, einmal im Zustande der größten Einathmung und dann im Zustande der tiefsten Ausathmung, indem der Unterschied zwischen beiden Maßen (Umfangs­ differenz) eine Vorstellung von der Ausgiebigkeit der Brust­ korbbewegung gibt. Mißt man nun gleichzeitig an derselben Person mittelst eines Athmungsmessers (Spirometer) die Menge der Luft, welche nach tiefster Einathmung ausgepreßt werden kann (man nennt dieses Luftquantum die vitale

12. Der' Athrnungsmechanismlls

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(Kapacität und,berechnet sie auf das Kilo Körpergewicht), so findet man zunächst, daß der Brustumfangsunterschied nicht, wie man irrthümlicherweise seitens mancher Aerzte annimmt, ^inen Maßstab für die Ausgiebigkeit der Tiefathmung abgibt; z. B. bei 25 gedienten Soldaten war der Umfangsunterschied im Mittel 8 cm und das Ergebniß der Tiefathmung pro Kilo Körpergewicht 60 ccm. Unter ihnen war ein Manu, der bei nur 3 cm Umfangsunterschied 55 ccm pro Kilo athmete, während ein anderer mit der bedeutenden Ziffer von 11 cm Umfangsunterschied nur 50 ccm Luft pro Kilo ergab. Ein 46 jähriger Mann, der den enormen Umfangs­ unterschied von 20 cm aufwies, ergab nur 54 ccm pro Kilo, und ein dritter, 20 jähriger Mensch blies mit dem mäßigen Umfangsunterschied von 10 cm die ungeheure Zahl von 80 ccm Luft pro Kilo.

Aus diesen Zahlen ergibt sich, daß wir bei der Einathmungsfähigkeit mit ganz verschiedenen Faktoren zu rechnen haben, und da eine unverkümmerte Leistungsfähigkeit des Athmungsorganismus ein hochbedeutsamer Faktor bei der menschlichen Arbeitskraft ist, so lohnt es sich, die verschieden­ artigen Hemmnisse, die sich der Tiefathmung entgegenstellen, genauer zu betrachten.

Das Erste Widerstand leistende Moment liegt in der Brustwand und zerfällt in die elastischen Kräfte, welche die Bewegung der Rippen in ihren Gelenken hemmen, und in die elastischen Kräfte derjenigen Muskeln, welche die Rippen in die der Einathmungsstellung entgegengesetzte zurückzuführen streben und die sehr zahlreich sind; denn es gehören hiezu nicht blos dir an der Brustwand selbst liegenden, sondern auch sämmtliche Muskeln der Bauchwand, die sich alle der Entfernung des unteren Brustrandes von bem Beckenrande mit elastischen Kräften widersetzen.

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12. Der At hmungsmechanisrnus.

Unter den Widerstand leistenden Muskeln besteht jedoch ein gewisser Antagonismus, aus dem wir Nutzen ziehen können. Die mächtigeren Muskeln sind die am Rücken liegenden, die schwächeren die am vordern Umfange des Bauches; wenn wir deshalb durch Zurückbeugung des Rumpfes die ersteren er­ schlaffen, so wird trotz der jetzt stärkeren Spannung der vordern Bauchmuskeln der Gesammtwiderstand geringer unb wir nehmen im Bedarfsfall unbewußt diese Stellung an, um die Athmungsarbeit zu erleichtern, z. B. beim Singen, Schreien rc. Ein weiteres Moment für die Beurtheilung derAthmungssähigkeit bezieht sich auf den langen Brustdurchmesser:' seine Vergrößerung hängt einmal von der Größe des Widerstandes ab, den das Zwerchfell bei seiner Abflachung seitens des Bauchhöhleninhaltes findet. Dieser Widerstand geht von mehreren Momenten aus: 1. von dem Volumen des Bauch­ höhleninhaltes. Dieses wechselt aus mehrfachem Grunde. Fürs erste bei wechselnder Füllung des Verdauungsrohres: es wurde bereits darauf hingewiesen, daß nach eingenommenen Mahlzeiten die Athmungsfähigkeit des Menschen herabge­ mindert ist. Dasselbe ist der Fall, wenn sich größere Mengen von Darmgasen entwickeln (blähende Speisen). Fürs zweite wechseln die Füllungsgrade der Harnblase, und bei dem weib­ lichen Geschlechte beeinträchtigt der Umfang der Leibesfrucht zeitweise die Athmungsfähigkeit. In dritter Linie steht die Menge des Gekrösfettes, weshalb fettleibige Personen be­ deutend weniger athmungsfähig sind als magere. Bei meinen Messungen fand ich an gleich alten Männern zwischen 40 und 50 Jahren bei fettleibigen pro Kilo Körpergewicht nur 26 ccm. Luftfassungsfähigkeit, gegen 42 bei L-uten mittleren Kalibers und 54 ccm bei mageren Leuten. Außer dem absoluten Aolum des Bauchhöhleninhalts

hängt der Widerstand, den das Zwerchfell findet,

von der

12. Der Athmungsmcchanismus.

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Geräumigkeit der Bauchhöhle im Verhältniß von dem zu fassenden Inhalt ab. Diese Geräumigkeit ist einmal abhängig von einer bestimmten Körperhaltung. Sobald wir nanu

lich den Rumpf hintenüberbeugen und das Becken an seinem vorder« Rande nach abwärts senken, so entfernt sich das untere Ende des Brustbeins von der Schamfuge und zwar bei mittleren Leuten um etwa 8 cm, was eine Verlängerung des langen Bauchdurchmessers am vorder« Umfange bei an­ näherndem Gleichbleiben der übrigen Durchmesser, also eine Erweiterung der Bauchhöhle ist; also die schon oben ange­ führte Rückbeugung des Rumpfes ist in doppelter Weise eine Erleichterung der Athmungsarbeit. Das zweite Moment, das auf die Geräumigkeit der Bauchhöhle Einfluß nimmt, liegt in der Beweglichkeit des Brustkorbes selbst, speziell in derjenigen Bewegung der Rippen, welche wir oben ihre Hebung genannt haben. Indem hiebei das Brustbein sammt dem vordern Theil des untern Brustrandes vom Beckenrande entfernt wird, wird gleichfalls der vordere lange Bauchdurch­ messer vergrößert, und bei Menschen von hoher Athmungsfähigkeit erreicht dies einen so hohen Grad, daß der Druck, den unter gewöhnlichen Verhältnissen die Baucheingeweide auf das Zwerchfell nach aufwärts ausüben, in das Gegeil­ theil, einen Zug nach abwärts, umschlägt. Diese Leute können die Hauptmasse der Baucheingeweide bis in die Brust hinauf­ ziehen. Ein ferneres Moment ist die Verschieblichkeit der Bauch­ eingeweide, weil von ihr bis zu einem gewissen Grade sowohl die Leichtigkeit der Zwerchfellbewegung als die der Brust­ korbbestandtheile abhängt. Ein weiterer sehr wichtiger Umstand für den Effekt dev Tiefathmung ist die Ausdehnungsfähigkeit der Lunge selbst, die, auch abgesehen von Erkrankungsfällen des Lungen­ gewebes, individuell sehr verschieden ist, worüber mich meine

156

12. Der Athmungsmechanismus.

-eigenen Messungen belehrt haben. Am deutlichsten sieht man es bei Leuten mit sehr beweglichem Brustkorb. Läßt man diese eine möglichste Tiefathmung vornehmen und fordert sie zugleich auf, ihren Brustumfang möglichst zu vergrößern, Io bemerkt man, wie nach Aufnahme einer bestimmten Luft­ menge unwillkürlich durch Schluß der Stimmritze die Luft­ aufnahme unterbrochen wird, noch ehe der Brustumfang sein Maximum erreicht hat, so daß die jetzt noch folgende Er­ weiterung der Brust keine Ausdehnung der Lunge, sondern das Hinaufsteigen der Baucheingeweide in den Brustraum zur Folge hat. Bei meinem Brustkorb tritt der Luftröhren­ verschluß ein, sobald derselbe 11 cm Umfaugsunterschied erreicht hat, und ich bin im Stande, jetzt noch die Brust um 3 cm zu erweitern. Bei einem andern Jndividium betrug die effektlose Erweiterung noch 2, bei einem andern sogar 7 cm. Der Verschluß der Luftröhre ist eine Reflexbewegung, hervorgerufen durch ein schmerzhaftes Gefühl, sobald die Lunge das Maximum ihrer Dehnungsfähigkeit erreicht hat. Wenden wir uns jetzt zur. Ausathmung. Schon ein­ gangs wurde gesagt, daß diese ein wesentlich passiver Akt ist, bedingt durch die Elasticität der Lunge. Oeffnen wir an der Leiche eines mit normaler Lunge versehenen Menschen die Brustwand, so stürzt unter pfeifendem. Geräusch Luft ein und die Lunge, die bisher durch den Luftdruck überall der

Innenfläche der Brustwand anlag, sinkt beträchtlich zusammen, zum Beweis, daß sie über ihr normales Volum gedehnt war. Di'e Kräfte, die diese Dehnung bewerkstelligen, sind die elastischen Kräfte des Brustkorbes, die sich der' Zusammen­ ziehung der Lunge widersetzen. Wenn nun eine Einathnrung erfolgt, so steigert sich diese*Ausspannung der Lunge, und sobald die einathmenden Kräfte erschlaffen, kehrt die Lunge mit elastischen Kräften auf das Volum zurück, das ihr der elastische Widerstand des Brustkorbes cinzunehmen gestattet.

12. Der Athmungsmechanismus

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Daß in Folge des gewaltsamen Dehnungszustandes der Lunge im Brustraum negativer Druck d. h. Saugdruck herrscht, sieht man auch daran, daß die Räume zwischen den Rippen und die Halsgrube eingezogen sind. Für die gewöhnliche Ausathmung genügt dieses elastische Zusammenziehungsbestreben der Lunge völlig. Daneben stehen aber in einer großen Anzahl von Muskeln nicht un­ bedeutende Kräfte parat, um die Lunge zusammenzupressen, falls ihr elastisches Bestreben nicht ausreicht. Hiebei zeigen aber die Erfahrungen bei dem sogenannten Lungenemphysem und Spirometerbeobachtungen am Gesunden, daß der Effekt der aktiven Auspressung ein sehr geringer ist, sofern er nicht durch das elastische Bestreben der Lunge unterstützt wird. Die Veränderung der Lunge beim Emphysem, auf das wir unten noch einmal zu sprechen kommen werden, besteht darin, daß die Lunge ihr Zusammenziehungsbestreben in hohem Grade verloren hat; sie bleibt in Einathmungsfüllung stehen, und es gelingt dem Emphysematiker selbst mit Aufgebot aller Kräfte nicht, sie auf ihr normales Volum zurückzuführen, was sich noch an seiner Leiche zeigt; denn wenn man die Brusthöhle öffnet, so quillt die Lunge noch aus der Schnitt­ wunde hervor, anstatt daß sie zusammensinkt. Am Spirometer äußert es sich darin, daß das Lust­ quantum, welches man durch aktive Ausathmung noch ge­ winnt, wenn die passive beendigt ist, gering ausfällt; bei mir beträgt sie nur 600 ccm bei einer absoluten Vitalcapacität von 3800, und dabei hat man zu bedenken, daß in dem Moment, wo die passive Ausathmung beendigt ist, die Lunge erst diejenige Volumensverminderung erfahren hat, welche die ihr entgegenstehenden elastischen Kräfte des Brust­ korbes zulassen, womit sie, wie der Versuch an der Leiche zeigt, noch lange nicht ihr kleinstes natürliches Volum er­ reicht hat. Somit sind die bei mir noch erzielten 600 ccm

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12. Der Athnuingsmcchanismus.

wahrscheinlich lediglich durch Bekämpfung des entgegenstehen­ den elastischen Ausdehnungsbestrebens des Brustkorbes und nicht durch Compression der Lunge erzielt. Es scheint mir bei einer normalen Lunge überhaupt nicht möglich, im Leben den negativen Druck in der Brusthöhle in -einen positiven zu verwandeln, sofern die Stimmritze ulcht geschlossen ist. Aus diesem Grunde ist der Be­ irag der Ausathmungsfähigkeit lediglich von der Höhe der elastischen Eigenschaften der Lunge abhängig. Nach dem obigen ist nun auch bei der Einathmung der Betrag der Tiefathmung weit weniger von der Beivegungsfähigkeit der Brust und der Verschieblichkeit der Ein­ geweide als von der Dehnungsfähigkeit der Lunge abhängig; denn die Thatsache, daß bei sehr beweglichem Brustkorb eher die Baucheingeweide gehoben werden, als die Lunge weiter gedehnt wird, spricht deutlich genug. Aus diesen Gründen halte ich' die elastischen Eigen­ schaften für den allerwichtigsten Faktor für die Tiefathmung überhaupt und eine Abnahme der elastischen Eigenschaften der Lunge für die schwerste Beeinträchtigung der Tiefathmungsfähigkeit. Hier möchte ich auf einen Irrthum aufmerksam machen. Gemeiniglich vermuthet man bei Personen mit hochgewölbter weiter Brust eine größere Athmungsfähigkeit als bei solchen mit schlankem Brustbau. Das ist nach meinen Messungen durchaus falsch. Ich habe 6 Personen gemessen, die sich

durch die enorme Athmungsfähigkeit von 70—80 ccm pro Kilo Köpergewicht (gegen 60 bei gedienten Soldaten) aus­ zeichneten. Diese hatten alle einen schlanken Brustkasten mit stark Hangender Rippenstellung, während die Personen, welche die geringsten Ergebnisse lieferten, alle hochbrustig waren mit

hoher Rippenstellung.

12 Der Athmungsinechanismus.

Im

folgenden

fasse

ich

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die wesentlichsten Ergebnisse

meiner Tiefathmungsmessung in einige Punkte zusammen. 1. Bei fettleibigen Menschen ist die Kapacität der Lunge erheblich geringer als bei mageren. Z. B. im Alter von 40 — 50 Jahren gaben erstere pro Kilo Körpergewicht

ca. 26 ccm Luft, letztere ca. 54. 2. Erwachsene Personen unterscheiden sich unter sonst gleichen Verhältnissen nach dem Alter. Bei 50 Soldaten von 20 — 24 Jahren fand ich im Mittel pro Kilo 60 ccm Lust; bei Leuten von 25 — 30 Jahren erhielt ich etwa 52, von 30 — 40 Jahren 46, über 40 Jahre im Mittel 42, bei Leuten über *50 nur noch 32 ccm. Klar trat auch der Altersunterschied in folgendem Vergleiche hervor: Bei 6 tur­ nerisch geschulten jungen Leuten von 20 — 23 Jahren betrug die Luft pro Kilo im Durchschnitt 73 ccm; bei deren ebenso trainirtem Lehrer, der 46 Jahre alt ist, waren nur 54 ccm. Luft pro Kilo zu gewinnen.

3. haben meine Messungen eine überraschende Steige­ rungsfähigkeit der Lungencapacität durch systematische Trainirungsarbeit während der Wachsthumsperiode ergeben. 6 derart trainirte Individuen hatten im Durchschnitt pro Kilo 73 ccm Luft gegen 25 hatten, also bei ersteren selbe Unterschied ergibt 46 jährigen Turnlehrer altrigen Leuten.

Rekruten, die im Mittel 59 ccm ein Mehr von 23 V- °/o. Fast der­ sich zwischen dem eben erwähnten mit 54 ccm gegen 42 bei gleich­

Daß übrigens auch noch im vorgerückteren Alter die Dehnungsfähigkeit der Lunge gesteigert werden kann, haben mich Versuche gelehrt, die ich mittelst Laufgymnastik an mir anstellte. Vor Beginn der Trainirung war meine Kapacität 42 ccm pro Kilo, nach zweimonatlicher wöchentlich 3 — 4 mal vorgenommener, jedesmal bis zur Gränze der Möglichkeit

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12. Der Athmungsmechcmismus.

getriebener Dauerlaufgymnastik war die Capacität auf 49 ccm pro Kilo gestiegen. Mein Alter betrug damals 42 Jahre. Betreffs der obigen Ziffern bemerke ich, daß dieselben alle etwas zu nieder sind, da die Leute im bekleideten Zu­ stande gewogen wurden. Da übrigens die meisten derselben Soldaten waren, so sind die Zahlen relativ brauchbar, da die Differenzen des Kleidergewichtes kaum in Betracht kommen. An das obige müssen wir noch eine weitere Betrachtung, über die Leistungsfähigkeit des Athmungsapparates in der Richtung knüpfen, daß wir feststellen, welche Veränderungen des Athmungsapparates benfesben am meisten beeinträchtigen, wodurch sie hervorgerufen werden und wie dem vorzubeugen. Hiebei ist aber vorauszusenden, daß für die Leistungsfähigkeit nicht blos die Luftfassungsfähigkeit der Lungen, sondern ebenso­ sehr auch die Durchgängigkeit ihrer Blutwege von Wichtigkeit ist; denn in dem Augenblick, in welchem die letztere beein­ trächtigt ist, leidet auch die Blutbewegung aufs empfindlichste. Beiderlei Leistungen, sowohl die Athmungsthätigkeit als die Blutbeförderung können durch eine Reihe von krankhaften Veränderungen herabgesetzt werden, einmal durch Wasserergüffe in die Brusthöhle, welche die Lunge zusammenpressen, dann durch wässerige oder gerinnende Ausschwitzungen in das Lungengewebe selbst oder in die Luftkanüle; Erschei­ nungen, welche stets den Charakter schwerer Erkrankung dar­ bieten. Eine andere Gruppe von Lungenveränderungen besteht in der Abnahme ihrer Elasticität und Verödung des Ge­ webes, und gerade diese Art der Veränderung ist es, deren mindere Grade noch unter dem Bilde völliger Gesund­ heit versteckt sein können und erst wenn sie höhere Grade erreichen, schwere Erkrankungen zur Folge haben. Ihre Ent­ stehung läßt sich auf folgendes zurückführen. Wenn man die Lunge stärker mit Luft füllt und jetzt den Athem anhält,.

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12. Der Athmungsmcchauismus.

wie es beispielsweise mit der Bauchpresse während der Stuhl­ entleerung oder während des Spielens von Blasinstrumenten oder dem Singen geschieht, so tritt eine Veränderung in der Vertheilung der Luft in den verschiedenen Abschnitten der Lunge ein. Man darf sich nämlich nicht vorstellen, als ob beim Einathmen alle Theile der Lunge gleichzeitig und gleich­ mäßig mit Luft gefüllt würden.' Wenn wir, wie das beim Manne die Regel ist, mit den» Zwerchfell athmen, so füllen sich die unteren Partieen der Lunge.rascher und stärker als die oberen, und wenn wir eben so rasch wieder ausathmen, so bleibt es dabei. Halten wir dagegen den Athem an, so bewirkt die selbstthätige Elasticität der Lunge eine Ausgleichung, indem die Luft von den stärker erfüllten unteren Theilen nach den Spitzen der Lunge hin verdrängt wird. Da nun diese letzteren beim ruhigen Athmen des Mannes fast gar nicht ge­ braucht werden, so ist, namentlich bei Leuten, die sich nie stärker erhitzen, ihre Elasticität von Hause aus geringer uub sie werden die beim Anhalten des Athems in sie eingepreßte Luft weniger leicht und vollständig entleeren. Geschieht dies wiederholt, so führt es zu bleibender Vergrößerung der Lungenbläschen unter gleichzeitiger Beeinträchtigung der Wegsamkeit der Blutgefäße und in Folge dessen zu Schwund des Gewebes; eine Veränderung, der man den Namen Emphysem gibt. Ein anderer Umstand, der zur Entwicklung des Emphy­ sems in der Lungenspitze führt, tff das Husten, indem bei der Heftigkeit des Ausathmens ein Theil der Luft -in die Lungenspitze getrieben wird. Mäßige Emphyseme der Lungen­ spitze sind namentlich im vorgerückteren Alter ungemein häufig und eine der gewöhnlichsten Ursachen, warum soweit Leuten bei' angestrengterem Arbeiten leichter der Athem aus­ geht, ohne daß sie sonst krank wären. Letzteres tritt erst ein, wenn die emphysematöse Aenderung sich über größere ParJLger, die men,chliche Arbeitskraft.

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12. Der Nthmungsmechamsmus.

tieen der Lunge erstreckt; dann werden aber die S.örungen um so schwerer, weil beides, die Luftbewegung und die Blutbewegung, beeinträchtigt, also einerseits die Athmung gehemmt ist, andrerseits eine «Stauung des Blntes in den Venen des ganzen Körpers zu wässerigem Erguß in alle Gewebe führt. Uebrigens auch abgesehen vom Emphysem scheint es Differenzen in den Elasticitätsverhältnissen der Lunge zu geben, die von Einfluß auf die Arbeitsfähigkeit sind. Bei den oben beschriebenen Spirometerversuchen an Soldaten habe ich die Beobachtung gemacht, daß bei den Rekruten die Ausathmung viel langsamer vor sich ging als bei den ge­ dienten Soldaten: jedenfalls war dieser Unterschied viel beträchtlicher, als der Unterschied in der Capacitüt erwarten und erklären läßt. Es weist dies unter allen Umstünden auf eine unvollkommenere Elasticität bei ungenügendem Ge­ brauch der Athmungswerkzeuge hin. Daß auch durch Verwachsungen der Lunge mit der Brustwand die Athmungsfähigkeit beeinträchtigt wird, ist klar; denn die Athmung setzt stets Verschiebung beider Theile gegen einander voraus. In den meisten Fällen sind die Ver­ wachsungen Folge früherer Erkrankungen; allein es dürfte kaum bezweifelt werden können, daß bei einer Lebensweise, welche der Lunge selten oder gar nie größere Leistungen zumuthet, bei der im Körper allgemein herrschenden, schon

früher erwähnten Verwachsungstendenz solche Verwachsungen auch ohne eigentliche Entzündungsvorgänge eintreten können, gerade so, wie in Gelenken, die wenig gebraucht werden. Aus all dem ergibt sich, daß die Leistungsfähigkeit des Athmungsapparates nur durch Uebung d. h. dadurch erhalten wird, daß man, wenn auch nicht regelmäßig, so doch in genügender Häufigkeit Maximalleistungen von ihm verlangt und zwar durch Vornahme von Arbeiten, wetche sowohl den

12. Der Athmungsmcchanismus.

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Lungenwegen als den Blutwegen Maximalausdehnungen rhythmischer Art d. h. solcher, bei denen auf starke Aus­ weitung prompt auch starke Zusammenziehung erfolgt, zumuthet, das sind kurz gesagt echauffirende, eine gesteigerte Lungen- und Herzthätigkeit erfordernde Arbeiten (Echauffementsgymnastik). Umgekehrt wird die Leistungsfähigkeit herabgesetzt bei Leuten, die stets nur seicht athmen, und bei solchen, welche Tiefathmungen ohne gleichzeitige Verstärkung der Herzarbeit und mit Verzögerung der Ansathmung vor­ nehmen (Sänger, Blasmusiker). Wenden wir uns jetzt zu dem Effekt der Athmungsthätigkeit und dem stofflichen Theil desselben. Der wichtigste Effekt ist der Gaswechsel des Körpers. Letzterer bedarf zur Entbindung der Spannkräfte in den Nährstoffen unbedingt des Sauerstoffes' und zwar sind für einen Erwachsenen im Mittel in 24 Stunden etwa 746 g (etwas über eine halbe Million Kubikcentimeter) oder genauer zwischen 10 und 11 g pro Kilo Körpergewicht Sauerstoff nöthig, und zwar kann die Zufuhr des Sauerstoffs ohne Er­ stickungsgefahr nur wenige Minuten entbehrt werden; der Bedarf an Sauerstoff wird gesteigert durch jegliche innere und äußere Arbeit, also namentlich ist er größer während der Verdauung und während Muskel- und Nervenarbeit; außerdem steigt er bei niederer äußerer Temperatur. Compensirt ist die Sauerstoffaufnahme durch die Kohlen­ säureabfuhr, die unter gewöhnlichen Umständen die gleiche Gewichtsmenge erreicht wie die Sauerstoffzufuhr, nämlich 10 bis 11 g pro Kilo, und deren Größe unter denselben Umständen steigt, wenn auch nicht ganz gleichzeitig, wie der Sauerstoffbedarf zunimmt, also namentlich bei Steigerung der innern und äußern Arbeit. Behinderung der Kohlensäureabfuhr ruft eine Reihe complicirter Erscheinungen hervor, worunter Verengerung 11*

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12. Der Athmmigc Mechanismus.

sämmtlicher feineren Schlagadern mit Zunahme des Blut­ drucks in den Hauptstämmen und dem Herzen, Athmnngsnoth, Betäubung und schließlich einen Theil derjenigen Er^ scheinungen, die zur Erstickung führen. Welcher Theil der; Erstickungserschcinung dem Kohlensäureüberschuß und welcher

dem Sauerstoffmangel zuzuschreiben ist, läßt sich bis jetzt nicht nachweisen, da diese beiden Prozesse stets Hand in Hand gehen. Beim Gaswechsel in der Lunge d. h. dem Gasaustausch zwischen Lungenluft und Lungenblut kommen in erster Linie die im Kapitel 2 erörterten Gesetze der Gasabsorption in Betracht; aber während diese für die Kohtensäureabgabe allein maßgebend sind, spielt bei der Sauerstoffaufnahme die chemische Anziehung, welche das Blutroth auf den Sauerstoff ausübt, eine sehr wichtige quantitative Rolle. Das Blutroth bemächtigt sich fortwährend jedes Sauerstoffatoms, um es lose chemisch zu binden, und deswegen muß der Nachschub von Sauerstoff ununterbrochen fortgehen, bis alles Blutroth gesättigt ist. Deshalb ist für die Verproviantirung des Körpers mit Sauerstoff der Gehalt an Blut überhaupt und der Gehalt des Blutes an Blutroth i>er maßgebende Faktor. Ein kräftiger, blutreicher Körper ist deshalb auch von dieser Seite her weit leistungsfähiger für jede Arbeit als ein blutarmer, bleichsüchtiger. Weiter ist noch anzuführen, daß das Blut seinen Sauerstoff an die Gewebe abgibt und derselbe von diesen zunächst nur auf­ gespeichert wirderst bei der Arbeit wird dieser auf­ gespeicherte Sauerstoff verbraucht. Der Betrag der Auf­ speicherung ist im Schlaf und in der Ruhe größer und fällt in der Nacht nach einem Tage angestrengter Arbeit weit beträchtlicher aus als nach einem Ruhetage. Außer dem Gaswechsel besorgt das Athmungsgeschäft noch einen Theil des Wasserwechsels. In der Regel ist

. 12. Der Athmuiigsmcchariismus.

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die eingeathmete Luft kälter als das Körperiunere und häufig auch für ihren Temperaturgrad nicht mit Wasserdampf ge­ sättigt. Da mit der Erwärmung der Luft ihre Capaeität für Wasserdampf zunimmt und bei der innigen Berührung der JL'uft mit der nassen Lungeninnenftäche dieselbe vollständig gesättigt wird, so können beträchtliche Mengen von Wasser­ dampf bei trockener, kalter Luft auf dem Wege der Athmung aus dem Körper entfernt werden, während bei warmer und feuchter Luft dieses Quantum geringer ausfällt; eine Selbst^egulirung findet hier nicht statt, sondern die Lunge steht in dieser Beziehung in regulatorischem Berhältniß zur Haut­ verdunstung und Harnbildung. Eine endliche Leistung der Athmungsarbeit ist die Wärmeabsonderung theils durch Erwärmung der Athinnngsluft, theils durch die mit der Wasserverdunstung verdundene Wärmebildung. Der größte Theil der Wärme wird jedoch durch die Haut abgegeben. Zum Schluß müssen wir nun noch die Frage stellen, welche Nachtheile in stofflicher Beziehung sich ergeben, wenn das Athmungsgeschäft entweder wegen zu geringer Leistungs­ fähigkeit der Athmungsorgane oder wegen ungenügenden Gebrauchs derselben nicht genügend ausgeübt wird. Diese Nachtheile sind mannigfacher Art. Einmal ist die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt, weil es an der ausgiebigen Kohlensäureabfuhr mangelt, und das hat zur Folge, daß bei angestrengter Arbeit leicht krampfhaftes, Echauffement führendes Athmen eintritt. Der zweite Uebelstand liegt in der ungenügenden Sauerstoffzufuhr. Einmal bedürfen wir derselben zur Entbindung der Arbeitsfröste; dann kommt folgendes in Betracht: Das Endergebniß des Umsatzes der stickstofffreien d. h. nur aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff bestehenden Verbindungen des Körpers ist deren Verbrennung zu Kohlen-

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12. Der Athrnungsmechanismus.

säure und Wasser. Mangelt es nun an ausgiebigem Sauer­ stoff, so erscheint eine Reihe niederer Oxydationsformen des Kohlenstoffes, insbesondere eine Reihe von Säuren (Milch­ säure, Buttersäure und andere Fettsäuren, Oxalsäure re.) im Blut und in den Ausscheidungen. Da ein Theil dieser Säuren flüchtig ist, so verrathen sich derartige ©töningcit schon dem Geruchssinn durch sauren Geruch des Schweißes und widrigen Geruch der Ausathmungsluft. In der Regel sind solche Leute bereits wirklich krank — so zeigen diese Erscheinungen besonders die Schwindsüchtigen —, aber oft genug wird derlei auch an sonst kräftigen Leuten bemerkt, namentlich in den sogen, besseren Ständen, wenn es an der nöthigen körperlichen Bewegung und frischer Luft fehlt und relativ zu viel Nahrung genossen wird. Welch großen Einfluß das Auftreten dieser Säuren im Blute auf die Arbeitsfähigkeit hat, geht daraus hervor, daß ein Theil derselben, namentlich die Milchsäure, bekannte Ermüdungsstoffe sind. Solche Leute haben nach Beneke über allgemeine Schwäche, Reizbarkeit des Nervensystems, Mattigkeit nach geringen Anstrengungen ?c, zu klagen. Eine besondere Bedeutung kommt unter diesen Säuren der Oxalsäure zu. Durch die Arbeiten Beneke's, Neubauers u. a. ist festgestellt, daß ein reichlicheres Auftreten von Oxalsäure im Blute dem Körper den nicht blos für die Knochen, sondern, wie man jetzt bestimmt weiß, für alle Gewebe wichtigen Kalk entzieht, um ihn als Oxalsäuren Kalk im Harn zur Ausscheidung zu bringen, und die genannten Forscher führen die Abmagerung skrophulöser Kinder, der Schwindsüchtigen und Hypochonder, welcher selbst reichliche Nahrungsaufnahme keinen Stillstand gebieten kann, auf diese Entkalkung des Körpers durch die Oxalsäure zurück. Eine noch mißlichere Bedeutung gewinnt die Oxalsäure, wenn es gleichzeitig in der Nahrung an der nöthigen Menge von

13. Blut und Lymphe.

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Phosphorsalzen gebricht: Neubauer hat gezeigt, daß der schwerlösliche oxalsaure Kalk nur durch das phosphorsaure Natron in Lösung erhalten wird. Sobald letzteres in uiigenügender Menge vorhanden ist, so fällt im Harn der oxalsaure Kalk aus, was Anlaß zur Bildung der schlimmsten Sorte von Harnsteinen gibt. — Das vorstehende ist einer der wichtigsten Krankheitscoinplexe, welche durch sitzende Lebensweise, Mangel an guter Luft und Bewegung, bei un­ geschickter oder ungenügender Ernährung, Kummer und Sorgen entstehen, und gegen welche eine Lebensweise das geeignetste Gegenmittel bildet, bei welchem das Athmungsgeschäst stets statt und ausgiebig von statten geht und dein Körper' stets reine Luft zugeführt wird.

15. Blut und Lymphe. Betrachten wir das Blut mit dem Vergrößerungsglase, so erkennen wir als flüssige Grundlage eine Helle Flüssigkeit, Blutplasma oder Blutsaft, in welcher eine ungeheure, Vs des Volums ausmachende Menge kleiner Körperchen, Blutzellen oder Blutkörperchen, schwimmen; 1 ccm Blut enthält nach Bierordt beim Manne etwa 5, beim Weibe etwa 4'/r Millionen solcher Gebilde, so daß bei einer durchschnitt­ lichen Blutmenge von 5 Kilo ein Mensch 25000 Milliarden Blutkörperchen besitzt. Deren sind es aber zweierlei Sorten: 1. rothe, scheibenförmige Gebilde von V»re mm, die der Hauptsache nach aus Hämoglobin (Blutroth), einer eiseil­ haltigen Eiweißsubstanz, bestehen und von einer äußerst empfindlichen Quellbarkeit sind, so daß sie jede, auch die geringste Schwankung des Wassergehaltes mit einer Ouellullg oder Schrumpfung beantworten, aber von sehr geringer Contraktilität.

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-3. Blut und Lymphe.

2. werße, etwas größere, körnig getrübte, von geringer Quellbarkeit aber großer amöboider Beweglichkeit, welche deshalb automatisch wie ein Infusorium in der Blutflüssigkeit umherzukriechen vermögen. Diese weißen Körperchen sind aber in bedeutender Minderzahl: im gewöhnlichen Blute kommt nur eines auf je 500 — 350 rothe; nur im Milz­ venenblut steigt ihre Menge auf %o der Gesammtzahl. Das Blutplasma besteht etwa aus 90% Wasser, in welchem mehrere Eiweißkörper in Lösung sich befinden, die die Hauptmasse der festen Bestandtheile ausmacheu (8 bis 10%). Hiezu treten in sehr geringen Mengen Harnstoff und einige verwandte stickstoffhaltige krystallisirbare Stoffe, schwankende Mengen von Traubenzucker, Fetten, Seifen und Fettsäuren, Salze (vorwiegend Kochsalz und kohlensaures Dicitron) und wechselnde Menge von Kohlensäure. Aus der Ader gelassen, gerinnt das Plasma, indem einige seiner Ei­ weißkörper zu Faserstoff erstarren; der flüssig bleibende, Serum-Eiweiß enthaltende Rest heißt Blutserum.

Die Lymphe unterscheidet sich vom Blute vor allem durch den Mangel an rothen Blutkörperchen; sie führt fast nur farblose, und dann ist ihr Zellenreichthum ein viel geringerer. Aus diesem Grunde stellt die Lymphe mit der unten zu be­ sprechenden Ausnahme eine fast durchsichtige farblose oder gelblichweiße, oder trüblich gelbliche Flüssigkeit dar; ihr Plasma enthält dieselben chemischen Bestandtheile wie das des Blutes, ist aber wässriger und auch in minderem Grade gerinnungsfähig. Ein abweichendes Verhalten hat die Lymphe, die während der Verdauung aus den Lymphkanälen des Darmkanals abfiießt, indem sie in Folge Beimischung des sliiS dem Darmkanal aufgesogenen fein verteilten Fettes milchig getrübt ist; man nennt sie deshalb auch Milchsaft (Chylus).

13.

Blut und Lymphe.

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Die vornehmste Aufgabe des Bültes und der Lymphe äst die Ernährung aller übrigen Gewebsbestandtheile des -Körpers, weshalb wir sie auch beide als Ernährungs­ flüssigkeiten bezeichnen; aber sie bringen den Geweben nicht blos alles was sie brauchen, sondern sie nehmen auch die untauglich gewordenen Stosiwechselprodukte und die eben­ falls eine Schlacke des Stoffwechsels bildende Wärme mit fort, um sie zu denjenigen Organen und Körpertheilen zu bringen, deren Aufgabe die Ausstoßung derselben ist. Die Bedingung für die Ausführung dieser Leistungen ist eine stetige Bewegung dieser Flüssigkeiten, deren Mechanik uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird. Wollen wir uns einen genaueren Einblick in die Leistungen der Ernährungsflüssigkeiten verschaffen, so wird dies am besten gelingen, wenn wir zuerst die Aufgabe der einzelnen Bestandtheile gesondert verfolgen. Das Blutplasma, das wir als eine ziemlich gesättigte Eiweißlösung mit einem geringen Zusatz von kristalloiden Stoffen betrachten können, führt mit Ausnahme des Sauer­ stoffs alle Stoffe, welche die lebenden Gewebe zur Erhaltung ihres Lebens bedürfen, in löslichem Zustande und ist befähigt, alle verbrauchten Stoffe, welche die lebendige Substanz ab­ gibt, in sich aufzunehmen. Während sich das Blut durch den Körper hindurch bewegt, tritt das Blutplasma fort­ dauernd mit allen Geweben, die es umspült, in osmotischen Verkehr, dessen Gesetze im Kapitel 2 besprochen wurden, der also wie wir wissen im erregten thätigen, namentlich aber im er­ müdeten Zustande am lebhaftesten ist. Dieser Verkehr ist so zu verstehen: Blutplasma und Quellungsflüssigkeil der lebendigen Sub­ stanz sind zwei gleichsam durch eine poröse Scheidewand ge­ trennte Flüssigkeiten; das Bestreben der Osmose ist, zwischen Liesen beiden Stoffen Mischungsgleichgewicht herzustellen.

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13. Blut und Lymphe.

Sobald deshalb in der einen Flüssigkeit die Menge eines Mischungsbestandtheils steigt, so beginnt ein Uebertritt des­ selben in die andere, und umgekehrt: sobald sich in der einen Flüssigkeit ein Bestandtheil vermindert, - so tritt Nachschub von der andern Seite ein. Die Lebensthätigkeit der Gewebe ist nur eine fortgesetzte Störung des Mischungsgleichgewichts zwischen der Quellungsflüssigkeit und dem Blutplasma, inbeni in ersterem die Nährstoffe vermindert, die Zerfallstoffe ver­ mehrt werden. Deshalb müssen erstere aus dem Blutplasma stets in die Gewebe und letztere stets aus den Geweben ins Plasma austreten, aber freilich nur unter der Voraussetzung, daß durch die Blutbewegung und die au andern Orten (Athmungsorgan, Verdauungsorgan und Absonderungsorgau) vor sich gehenden Veränderungen der Mischung der Plasma­ stoffe die Erreichung des Mischungsgleichgewichts zwischen Gewebssast und Plasma fortwährend verhindert wird. Deshalb hört auch mit Sistirung der Blutbewegung das Leben sehr rasch auf und beeinträchtigt jede Verlang­ samung der Kreislaufgeschwindigkeit die Energie des osmo­ tischen Verkehrs. Die Stoffe, die das Plasma an die Gewebe abgibt, sind Eiweißstoffe, Zucker, Fettseifeu und Salze; der Rück­ empfang besteht in Kohlensäure, Milchsäure, flüchtigen Säuren, sauren Salzen und stickstoffhaltigen Krystalloideu. Bei dem Rückempfange spielt außer den osmotischen Gesetzen noch folgender Umstand eine Rolle. Das Plasma ist alkalisch in Folge seines Gehaltes an alkalisch reagirenden Salzen; da unter den obigen Auswurfstoffen Säuren und saure Salze sind, so ist das Plasma im Stande, dieselben bis zu einem gewissen Grade chemisch zu binden, wodurch ihre osmotische Aufnahmsfähigkeit gesteigert und die ermübenbe Wirkung dieser Säuren und Salze nicht blos durch Abfuhr, sondern auch durch Neutralisation getilgt wird.

13. Blut und Lymphe.

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Das Blutplasma tritt jedoch durchaus nicht mit allen Stückchen lebendiger Substanz in direkten osmotischen Ver­ kehr, sondern eigentlich nur mit den Zellen, welche die Ge­ fäßwände auskleiden. In den Capillaren ist die Wand aller­ dings so dünn, daß die Osmose durch ^sie hindurch wirkt, allein die Leistung ist hier doch noch außerdem von der Filtration abhängig. Das Blut steht unter dem Druck des mit mächtigen Kräften ausgestatteten Herzens und dem elasti­ schen Druck der Schlagader^, was in dem sogenannten Blut­ druck zum Ausdruck kommt. Dieser Druck gestaltet sich in den feinen Haargefäßen zum Filtrationsdruck, der fort­ während gewisse Biengen des Plasma's durch die Wand hin­ durch in die Gewebsspalten treibt, so daß die Gewebe jetzt in unmittelbaren osmotischen Verkehr mit dem Filtrat treten können, wodurch die Osmose viel energischer wird. Dieses Fil­ trat ist jedoch nicht von gleicher Mischung wie das Plasma, da die in letzterem enthaltenen eolloiden Eiweißstoffe der Filtra­ tion einen großen Widerstand leisten. Mithin ist es ärmer an Eiweißstoffen, reicher an Wasser, während die krystalloiden Stoffe fast gleich sind. Dieses Filtrat leistet nun den Ge­ weben den gleichen Dienst wie das Plasma selbst und fließt nach Vollendung seiner Aufgabe als Lymphe in besondern Wegen ab, wovon später. Mithin ist eine der Lei­ stungen des Blutplasmas die Bildung der Lymphe,

die allerdings später dem Blute wieder gemischt wird. Dient nun auf der einen Seite das Blutplasma der Ernährung und der Neutralisation und Abfuhr der Er­ müdungsstoffe, so entlastet es sich andrerseits von den Ermüdungs- und Auswurfsstoffen in den Ausscheidungs­ organen. Hiebei handelt es sich entweder wieder um die Vorgänge der Osmose — so entläßt das Plasma die Kohlen­ säure durch die dünnen Gefäß- und Lungenbläschenwände an die Athnlungslust — oder um Filtration in den sogenannten

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13 Blut und Lymphe.

Filtrirdrüsen, deren wichtigste die Niere ist. In letzterer sind aber die Wandungen des Gefaßabschnittes, in welcher die Filtration stattfindet, so dicht, daß bei normalem Blut­ druck nicht wie bei der Lymphbildung auch colloide Stoffe durchfiltriren, sondern nur krystalloide. Da nun die wichtig­ sten Nährstoffe kolloider Natur sind, die Auswurfstoffe da­ gegen alle krystalloider, so ist die Abfuhr der letztern in die Filtrirdrüsen gesichert. Hiezu kommt noch, daß die anders ge­ artete lebendige Substanz der Absonderungsorgane auf manche dieser Auswurfsstoffe eine spezifische chemische Anziehung ausübt. Die dritte Bedeutung des Plasma's liegt in der Auf­ saugung der verwendbaren Theile aus dem Spcisebrei, wo­ durch die Verluste, die mit den Ausscheidungen gegeben sind, qualitativ und quantirativ gedeckt werden. An dieser Auf­ saugung betheiligt sich nicht blos das Plasma des Blutes, sondern auch das der Lymphe. In das Blutplasma treten im Bereich der Haargefäße der Darmschleimhaut, die nur durch eine dünne und sehr poröse Gewebsschicht vom Speisebrei getrennt sind, auf osmotischem Wege alle völlig gelösten und deshalb leicht diffundirbaren Stoffe sammt einer gehörigen Menge von Wasser ein, weil für letzteres die im Blut enthaltenen colloiden Stoffe eine mächtige Anziehungskraft haben. Die colloiden Stoffe des Speisedreies und das dort vorhandene, in feinste Körn­

chen getheilte Fett sind wenig geeignet, die Gefäßwand zu passiren, und hier tritt die Lymphbildung helfend ein, wobei es sich um folgenden Resorptionsmechanismus handelt. Die Innenfläche des Dünndarms ist mit Millionen winziger langer Zapfen, Darmzotten, besetzt. Wie Fig. 6 a zeigt, liegt in denselben dicht unter der Oberfläche ein reiches Blutcapillarnetz, in der Achse ein cylindrischer Hohl­ raum, die Chyluscisterne, die nichts anderes ist als der An-

13. Blut und Lymphe

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fang einer Lymphbahn. Zwischen Capillarnetz und Chyluscisterne liegen Muskeln, und die letztere steht durch äußerst zarte Porenkanäle, welche radiär die Zotte und die Deck­ zellen derselben durchsetzen, mit der Darmhöhle in Verbin­ dung. Dieser Mechanismus arbeitet in folgender Weise.

a Llutgefäßnetz einer Darmzotte,

Fig. e. b eine Tarmzotte im eontrahirten Zustand.

Die Wirkung des Blutdrucks ist eine Dehnung und Spannung des Blutcapillarnetzes, wodurch die Zotte gestreckt wird wie ein Schwellkörper. Gehen wir von dem Zustand

völliger Erektion und Steifung der Zotte aus, wobei die Chyluscisterne gefüllt ist: Ziehen sich nun die Muskeln der Zotte zusammen, so wird der Inhalt der Cisterne in die Lymphbahn gepreßt, weil der Weg dorthin offen ist, während gleichzeitig die Volumsverminderung der Zotte einen Der-

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13. Blut und Lymphe.

schluß der Poren gegen den Darminhlt hin herbeiführt. Erschlafft die Zottenmuskulatur, so füht der Blutdruck in dem Capillarnetz eine neue Erektion uS Ausdehnung her­ bei unter gleichzeitiger Oeffnung der zwiscen den sich dehnen­ den Capillarmaschen durchpassirenden ^orenkanäle. Wenn nun, wie dies der Fall ist, dem frühere! Inhalt des Chyluscisterne der Rückweg verlegt ist, so entstht in ihr ein Sauge­ druck wie in einem nach Ausdehnung strebnden Kautschukballe, und durch die Porenkanäle strömen Thcke des Speisedreies

in die Chyluseisterne ein. Wenden wir uns jetzt zur Betrachtng der Leistung der Blutkörperchen und zwar zunächst der rohell Blutscheideu.

Diese Gebilde gleichen in ihrer Form cnem Rührlöffel ohne Stiel, und wenn man sie bei Betrachtum'des Blutlaufes am lebenden Thiere unter dem Mikroskop in allem Gepurzel unter steten Drehungen hinwirdeln sieht, kann man sich der Ueber­ zeugung nicht verschließen, daß die sonerbare Form dieser Gebilde für die stetige innige, allseitig Durchmischung des Plasma's von außerordentlichem Erfolg ist, und daß eine gleich innige Mischung durch derartige uglich geformte Ge­ bilde nie und nimmer erreicht werden hinte. , Außerdem spielen sie eine mechanihe Rolle als Regu­ latoren der Fließgeschwindigkeit durch ihre Empfindlichkeit gegen Schwankungen des Wassergehaltes Sobald das Plasma durch vermehrten Wassergehalt leichtflüsger wird, so quellen sie auf und verlangsamen die Blutgeschllndigkeit; umgekehrt, wenn das Plasma durch Eindickung strngflüssiger wird, so ziehen sie sich zusammen, wodurch die vn ihnen ausgehenden Reibungswiderstände sich entsprechend rindern. Zu dieser mechanischen Leistung kommt eine ausge­ sprochene chemische Leistung, nämlich le Vermittlung des Sauerstofftransportes. Das Blutroth »esitzt, worauf schon früher hingewiesen, eine große Absorpbnskraft für Sauer-

13. Blut und Lymphe.

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stoss, wobei es sich) ildas hellrothe Oxyhämoglobin umwandelt .(das reine Hämoigloin ist schwarz), und die andere Seite ist, daß das Oxyhärmolobin seinen Sauerstoff leicht an die lebendige Substamz)er Gewebe, deren Anziehungskraft für Sauerstoff mächtiger ist, abgibt, wodurch die Gewebsathmung zu Stande kommtt. Aus dem Gcesaten erhellt, daß hie Ausgiebigkeit der Sauerstoffzufuhr, diser höchst wichtige Faktor bei der Arbeits­ fähigkeit in geraden Verhältniß zum Reichthum eines Men­ schen an rothen Kltscheiben steht. Blutarme Menschen und

solche, deren Blwt arm an rothen Blutscheiben ist, haben eine geringe Arbieitfähigkeit. Ob sie sonst ir Bezug auf den Stofftransport eine von der des Plasmas erschiedene Rolle spielen, ist nicht er­ mittelt, dagegen formen sie bei einer eigenartigen Abson­ derung, nämlich tbei der Galle, in hervorragendem Maße in Betracht und zwcar o: Wir haben tdierothen Blutscheiben als lebendig aufzu­ fassen, aber sie lhabn ein sehr zartes und hinfälliges und offenbar auch kurrze Leben und sterben fortwährend inner­ halb der Blutbachn n großen Mengen ab. Ein Hauptherd dieses Untergangces ist die Leber und wahrscheinlich auch die Milz. Dem Ddesstoß erhalten die in der Leber zur Auflösung gelangten en Blutscheiben wohl schon 'im Darm, wo der Eintritt ibei Speisebreibestandtheile energisch auf sie wirken muß; in de Leber werden sie dann aufgelöst, und

aus diesem Mateerit bereitet die Leber einerseits die Galle, deren Farbstoff miÄs anderes als umgewandeltes Blutroth ist, und andrerseiits Harnstoff. Die Galle tritt als wichtiger Berdauungssaft iin >en Darm, der Harnstoff bleibt im Blute und kommt in deer >?iere zur Abscheidung. Wenden wirr ms nun zu den farblosen Blut­ zellen. Deren este und wichtigste Obliegenheit ist die,

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13. Blut linb Lymphe.

den Ersatz für die absterbenden rothen Blutscheiben liefern, in die sie sich umwandeln. Sicher geschieht dies zum Theil überall in der Blutbahn, hauptsächlich aber sindals Orte dieser Umwandlung die Milz, die Leber und dasrothe Knochenmark erkannt, wo man alle llebergangsstufen von weißen zu rothen findet. Diese Thätigkeit setzt natürlich auf der andern Seite, eine Neubildung von weißen Blut­ zellen voraus, und eine solche, ist auch leicht nachzuweisen. Die Lymphe führt unmittelbar nach ihrer Abfiltrirung auä dem Blutplasma weder rothe noch weiße Blutzellen (einige weiße, die durch die Poren der Gefäßwand geschlüpft finbr kommen vor). Alle Lymphe passirt nun durch die sog. Lymphdrüsen. Das sind Nester aus Zellen, die fortwäh­ rend in starker Vermehrung begriffen sind, und diese Zellen, von denen die durchfließende Lymphe stets eine große Menge auswäscht, sind die weißen Blutkörperchen, die mit der sie führenden Lymphe in die-Blutbahn-gelangeu. Daß die weißen Blutzellen die Fähigkeit haben, die Wand der feinsten Blutgefäße zu durchbohren und in die Gewebszwischenräume zu kriechen, steht jetzt außer Zweifel. Schwerlich thun sie das jedoch regelmäßig, um dort besondere Aufgaben zu erfüllen; aber daß sie nicht blos die Fähigkeit haben, sich in rothe Blutzellen zu verwandeln, sondern daß sie gleichsam Embryonalzellen sind, die jeden Beruf, auch den einer andern Gewebszelle noch ergreifen können, falls sie in die genügende Situation gelangen, ist außer Zweifel, denn es steht fest, daß sie die Baumeister sind, welche die Wundheilung bewirken. Sobald in einer Wunde das Blut zu fließen aufgehört hat, weil die Oeffnungen der durchschnittenen Gefäße durch Pröpfe geronnenen Blutes verstopft wurden, bohren sich die geschmeidigen, einer selbständigen Orts­ bewegung fähigen weißen Blutkörperchen theils durch die Blutpröpfe, theils durch Wandungen der Gefäße auf die

13. Blut und Lymphe.

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freie Oberfläche der Wunde hindurch unter Mitnahme einer geringeren Menge flüssigen Gewebs- oder Blutsastes und stellen so das vor, was man den Wundeiter nennt. Ter größte Theil dieses Wundeitcrs geht durch Abfluß verloren, aber auf dem Grunde der Wunde bleibt ein Theil der aus­ getretenen Zellen sitzen, verwächst mit den dort noch vor­ handenen lebendigen Gewebszellen und dies dauert so lange fort, bis die klaffend^ Lücke ganz mit einem neuen aus diesen ausgewanderten Blutzellen gebildeten Gewebe, dem sog. Narbengewebe, ausgefüllt ist: man überzeugt sich durch Untersuchung dieses Gewebes, daß es alle die Elemente enthält, aus welchen der Körper auch sonst besteht, daß mithin die genannten Zellen die Fähigkeit besitzen, sich in alle erforderlichen Gewebssorten umzuwandeln. Auch bei der Entzündung spielen sie eine wichtige Rolle, indem sie massenhaft aus dem Blut ins Gewebe austreten und dort auch entweder Eiter oder bleibendes Gewebe bilden. Eine letzte Leistung, bei der sich jedoch alte Bestand­ theile von Blut und Lymphe, so viel bekannt, in gleicher Weise betheiligen, bezieht sich auf den Wärmehaushalt. In der einen Richtung wird sehr viel Wärme erzeugt, da alle lebendige Kraft der Blut- und Lymphbewegung durch den Reibungswiderstand der Wände in Wärme umgesetzt wird. Andrerseits wird der Wärmetransport nur vom Blute vermittelt; denn die Leitung spielt im Innern des Körpers eine äußerst geringe Rolle, da sämmtliche Bestand­ theile desselben schlechte Wärmeleiter sind. Wenn dem Techniker die Aufgabe gestellt ist, die Tem­ peraturverhältnisse größerer Massen zu beherrschen, so durch­ zieht er sie mit einem Rohrwerk, in welchem er nach Be­ lieben eine heiße oder warme Flüssigkeit circuliren lassen kann, den sog. Kühlschlangen und Wärmeschlangen. Den

gleichen Dienst thun unsere Blutgefäße in einem Grade, den Jäger, die menschliche ArbeilSfrast. 12

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13. Blut und Lymphe.

bie Technik nicht in entferntestem Maße erreichen kann, da sie gänzlich außer Stande ist, ein so feinmaschiges Rohrwerk herzustellen, wie das Capillarnetz in den Geweben des Kör­ pers. Bei der hier erzielten außerordentlich innigen Be­ rührung zwischen Blut und Gewebe wird jeder örtliche Wärmeüberschuß sofort von dem ersteren ausgenommen und eben so rasch und vollständig an die Orte hingebracht, wo in Folge äußerer Leitung und Strahlung und Wasserver­ dampfung ein Wärmemangel entstanden ist. Am deutlichsten zeigt sich diese Leistung des Kreislaufes in Erscheinungen, die unmittelbar nach dem Tode eintreten. Sobald das Herz stillsteht, erkaltet die Oberfläche der Leiche, während um­ gekehrt im Innern die Wärme steigt, weil dort die wärme­ bildenden Oxydationen noch längere Zeit fortdauern und der die Wärme abführende Blutstrom fehlt. Wenden wir nun noch einige Betrachtungen der Frage zu, welche Anforderungen an Blut und Lymphe im Interesse der Arbeitsfähigkeit zu stellen sind. Hier kommen zuerst die Mengeverhältnisse in Be­ tracht: Ein arbeitsfähiger Körper muß blutreich sein. Jede Abnahme der Blutmenge schwächt ihn. Hier ist ein sehr geläufiger Irrthum zu bekämpfen. Man nennt dicke Leute mit geröthetem Gesicht vollsaftig uud verbindet damit die Vorstellung, daß sie zu viel Blut haben. Hier ist gerade das Gegentheil wahr: jede Ansammlung von Körper­ fett ist mit einer Abnahme der Blutmenge verbunden. Ver­ suche von I. Ranke an Kaninchen haben ergeben, daß bei fetten Thieren die Blutmenge sich um 30 % gegenüber nor­ maler Körperbeschaffenheit vermindern kann; die notorisch geringere Leistungsfähigkeit und größere Erkrankungsfähigkeit fettleibiger Menschen gegenüber der notorischen Zähigkeit hagerer Personen findet somit auch von dieser Seite ihre völlige Erklärung. Was bei Fettleibigen Vollblütigkeit vor-

13. Blut und Lymphe.

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lauscht, ist, daß der durch das Körperfett gesteigerte Seiten­ druck auf die Gefäße das Blut an solche Orte verdrängt, wo die Gefäße steten erschlaffenden Einflüssen ausgesetzt sind, und das ist gerade die Gesichtshaut , denn an der übrigen Haut sind solche Personen weiß wie ein bleichsüchtiges Frauenzimmer. Ob überhaupt ein Zuviel von Blut Vor­ kommen kann, scheint mehr als zweifelhaft, während um­ gekehrt Blutarmuth ein äußerst häufiger Grund für ge­ schwächte Arbeisfähigkeit ist. Eine weitere quantitative Störung bezieht sich auf das Verhältniß zwischen Blutplasma und Blutkörperchen. In dieser Beziehung ist der Reichthum an rothen Blutscheiben ein ganz besonders wichtiger, schon im vorigen Kapitel zur Ge­ nüge besprochener Faktor, und bei vielen Fällen sogenannter Blutarmuth ist es weniger die Abnahme der Gesammtmenge des Blutes als die der rothen Blutscheiben. Sehr häufig wird die Abnahme der rothen Blutscheiben von einer Zunahme der weißen begleitet (Weißblütigkeit), wodurch aber kein genügender Ersatz geleistet wird, da die weißen sich an der Sauerstoffzufuhr nicht betheiligen können. Eine andere nachtheilige Aenderung der Blutbeschaffenheit, dw wir auch schon oben erwähnt haben, ist die Zunahme des Wassergehaltes. Wo das Blut zu wasserhaltig ist/ sind es auch die Gewebe, und wir haben bereits in früheren Kapiteln die Nachtheile einer solchen Veränderung der Ge­ websmischung kennen gelernt und werden noch später wieder­ holt auf sie zurückkommen müssen. Weiter hat es mit dem Blut dieselbe Bewandtniß wie mit der Luft: indem die Gewebe ihre Zerfallprodukte an das Blut abgeben, streben sie eine stete Blutverschlechterung an, die nur dann verhindert wird, wenn das Blut diese Gewebsschlacken stets prompt an die Außenwelt abgeben kann. Deshalb wird das Blut sehr rasch unfähig, die Lebens12*

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13. Blut und Lymphe.

Vorgänge zu unterhalten, sobald es sich mit rückgebildeten Stoffen belastet. Eine solche Belastung findet aber nicht nur dann statt, wenn die Absonderungen nicht flott von Statten gehen, sondern auch danu, wenn der Stoffwechsel, wie das früher geschildert ist, gehemmt ist, und nun statt der letzten höchsten Oxydationsstufen (Kohlensäure, Wasser und Harnstoff) niedrigere, weniger leicht zur Absonderung geeignete Oxy­ dationsstufen, wie die dort genannten Säuren, gebildet werden. Ueber die Rolle, welche die Blutsalze bei der Arbeits­ fähigkeit spielen, haben wir S. 138 das nöthige erfahren, und so bleibt nur noch ein Wort übrig über die Bedingungen einer qualitativ und quantitativ richtigen Blutbildung. Hier steht natürlich eine ausgiebige und richtig zu­ sammengesetzte Nahrung, wie wir sie im zehnten Kapitel kennen lernten, obenan. Dazu gehört aber, wogegen so sehr häufig gefehlt wird, eine Lebensweise, welche durch genügende und von Zeit zu Zeit bis zur Maximalleistung des Gesammtkörpers gehende Thätigkeit einen energischen Stoffwechsel

unterhält, so daß die Zerfallprodukte stets völlig verbrannt, in den diffundirbarsten Zustand übergeführt und durch kräftige Bethätigung der Absonderungsorgane (Lunge, Haut und Niere) auch prompt nach außen entleert werden. Namentlich gehört dazu eine Lebensweise, welche Ansammlung von Körperfett und wässrige Anschwellung des Körpers unmög­ lich macht.

14. Der Kreislaufmcchanisinus.

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Der Ureislaufmechanismus.

Fig. 7. Senkrechter Schnitt durch da- Herz. A Rechte Sammer. B Linke Kammer. C Rechter Borhof. D Linker Borhof. E Oeffnung zwischen Borhof und Kammer rechkS. F Oeffnung zwischen Borhof und Kammer links. G Lungenschlagader mit «in paar Klappen. H Aorta mit Klappen. I Untere Hohlvene. K Obere Hohlvene. L Benen, in denen daS Blut zum Herzen auS den Lungen -urückströmt. (Lungenvenen.)

Um den Kreislauf zu verstehen, ist es unbedingt nöthig, sich mit der allgemeinen Anordnung des Röhrensystems be­ kannt zu machen, in welchem Blut und Lymphe sich bewegen. Das Blutgefäßsystem bildet ein in sich selbstzurück­ laufendes, also kreisförmig geschlossenes Röhrenwerk; an ihm ist das Herz das Centralorgan. Von ihm leiten starkwandige -Gefäße die Schlagadern, Pulsadern oder Arterien in die Peripherie, während dünn- und schlafwandigere Gefäße,

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14. Der Kreislausmechauismus.

die Venen oder Blutadern, es zum Herzen zurückbringen. Tie äußerst feinen Gefäßröhrchen, welche die Enden der Arterien mit den Anfängen der Venen verbinden, heißen wir Capillar- oder Haargefäße. Das Herz (siche Fig. 7) ist ein dickwandiger aus Muskel­ fleisch gebildeter Beutel, dessen Räumlichkeit durch eine Scheidewand völlig in zwei Hälften, das rechte und linke Herz, geschieden ist. Jede dieser Hälften ist in unvollstän­ diger Weise in zwei mit einander communicirende Räumen die Vorkammer und die Kammer, getheilt. In die erstere tritt das Blut aus den Venen ein, aus der zweiten gelangt e£ in die Arterien; an der Ceffiiung, tue von der Vorkammer nach der Kammer führt, und an der Austrittsöffnung aus der Kammer in den Schlagaderstamm sind Klappen ange­ bracht, welche das Rückläufigwcrden der Blutbewegung ver­ hindern und dem Herzen den Charakter einer Saug- undDruckpumpe verleihen. Die Schlagadern entspringen mit zwei starken Stämmen aus dem Herzen, einer aus der linken Kammer, der anderen aus der rechten, und ziehen nun unter fortwäh­ render, meist zweitheiliger Spaltung, einem sich verzweigenden Baume gleich, wobei die Aeste und Zweige immer enger werden, nach allen Theilen des Körpers, jedoch so, daß sich die aus dem rechten Herzen kommende Schlagader (Lungen­ schlagader) nur in der Lunge verzweigt, die linke sogen. Körperschlagader im gesammten übrigen Körper, mit' einigen feinen Zweigchen auch in der Lunge (Crnährungsgefäße der letzter»). Dem entsprechend zerfallen auch die Venen in zweierlei Gruppen; das durch die Lungenschlagader in die Lunge ge­ schickte Blut sammelt sich in vier Lungenvenen, die in den linken Vorhof ausmünden. Das von der Körperschlagader entsendete Blut sammelt sich allmählich in zwei starken

14. Der Kreislaufmechanismus.

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Stämmen in den beiden Hohladern, um in die rechte Vorfamuicr einzutreten. Während die Arterien sich nach Art eines sich verästelnden Baumes verzweigen, können wir für den Verlauf der Venen das Bild eines schließlich im Hauptstrome sich vereinigenden Flnjzsystems gebrauchen, jedoch mit der Modifikation, daß die Zufuhrkanäle vielfache Anastomosen nach Art eines Kanal­ netzes aufweisen und daß das Strombett im Benensystem um ein mehrfaches (2—3 faches) weiter ist als im Arteriensystem. Die Capillargefäße haben eine so enge Lichtung, daß in der Regel nur ein Blutkörperchen hinter dem andern dieselbe passiren kann, und zeigen die Anordnung eines Netz­

werkes. Die drei Sorten von Blutgefäßen unterscheiden sich weiter in Stärke und Ban ihrer Wandungen. Die Capillarröhrchen sind nur aus einer Lage plättchenförmiger Zellen, die randweise zusammengefügt und einer gewissen Contrak­ tion fähig sind, zusammengesetzt. Bei den Arterien und Venen wird die Wand durch das Hinzutreten von elastischen und muskulösen Hüllen verstärkt und zwar so, daß bei den Schlagadern diese Verstärkung viel beträchtlicher ist als bei den Venen, in Folge dessen die Schlagadern eine viel höhere Clasticität besitzen und auch durch Muskeleontraktion viel ausgiebigerer Veränderung ihrer Durchgängigkeit fähig sind als die schlaffen Venen. Aus dem, was oben über Aus- und Einmündung der Gefäße im Herzen gesagt wurde, ergibt sich, daß die Blut­ bahn in zwei erst im Herzen wieder zusammenhängende Kreisläufe zerfällt (siehe Figur 8). Der kleine oder Lungenkreislauf beginnt in der rechten Kainmer und endigt in der linken Vorkammer; der große oder Körper­ kreislauf beginnt in der linken Kammer und endigt in der rechten Vorkammer. Die Blutbahn läßt sich somit zwei

K !Flg. s.

Schema deS Gefäßsystems. H die beiden Herzhälften mit ihren klappenvornchtungen. a die Verästelung der großm Körperschlagader Aorta, c daS Tapillarnetz, daS in allen Organen des Körpers K durch diese- Hauptgefäß gefüllt wird, v die große Körpervene, a* die Lungenschlaqader, o' daS Tapillarnetz der Lunge. L v' die -ungenvene. Die Pfelle zeigen die Richtung des BlutstromS innerhalb deS GefäßzirlelS an.

14. Der Kreislaufmechanismus.

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zu einer Achterfigur vereinigten Stromschleifen vergleichen: die eine führt das Blut aus dem Herzen durch die Lunge zurück zum Herzen, die andere von da durch den Körper hindurch wieder zurück zunr Herzen. Während die Verhältnisse des kleinen Kreislaufes sehr einfache sind, treten im großen Kreislauf einige zu be­ sprechende Complikatiunen hinzu. Dieser spaltet sich nämlich in zwei Stromschleifen. Ueber die größere derselben, welche durch die Leibeswand und die Gliedmaßen zieht, bedarf es keiner weiteren Besprechung; sie setzt sich aus Arterienver­ zweigung, zahlreichen Capillarnetzen und rückläufigen Venen zusammen. Die zweite, kleinere Stromschleife, welche die Bancheingeweide durchzieht, zeigt die Eigenthümlichkeit, daß sie zweierlei Capillarnetze .besitzt: ein Anfangsnetz in der Wandung des Verdauungsrohres und ein Endnetz in der Leber; verbunden sind diese beiden Netze durch eine starke kurze, das gesammte Darmvenenblut sammelnde Blutader, die sog. Pfortader. Man nennt deshalb auch Pfortader, Lebercapillaren und die Sammelvenen der Leber zusammen­ fassend den Pfortaderkreislaus, eine freilich nicht ganz glückliche Bezeichnung, weil es kein geschlossener Kreislauf, sondern nur eine Stromschleife ist. Ergänzend ist noch an­ zufügen, daß an der eben geschilderten, durch die Eingeweide gehenden Stromschleife die Nieren sich nicht betheiligen; die sie durchziehende Stromschleife ist eine Abzweigung der Stromschleife der Leibeswand. Dagegen zeigt die Strom­ schleife der Nieren etwas ähnliches wie die Eingeweide­ stromschleife. Jedes einzelne Nierenschlagäderchen löst sich nämlich, wie Fig. 9 zeigt, pinselförmig in viele Aederchen auf, die sich nach kurzem Verlauf wieder zu einem gemein­ samen Stämmchen sammeln, um erst jetzt in der gewöhn­ lichen Weise in ein Capillarnetz sich aufzulösen. Die erste Sammlung und Spaltung des Blutnetzes heißt man ein

14. Der Kreisla ufinechanismus.

Wundernetz, unb die Niere ist von zahlreichen solcher Wundernetzchen (Malplghi'sche Knäuel gl) durchsetzt, über deren Be­ deutung wir später sprechen werden. Bei der Fortbewegung des Blutes foninit in erster Linie die Triebkraft des Herzens in Betrachts dasselbe zieht sich in rhythmischer Weise zusammen, seinen Inhalt mit großer Kraft in die Schlagadcrwurzeln schiebend, wobei der Verschluß der Vorhofklappcn das Ausweichen des Blutes

in entgegengesetzter Richtung verhindert. Auf diese Zusammenziehung (Systole) folgt eine Erschlaffung der Herzwand (Diastole) mit Erweiterung der Herzhöhle und Ein­ strömen des Blutes aus den Venen, da das Rückläufigwerden des bei der vorhergehenden Zusammenziehung in die Arterien getretenen Blutes durch Klappenverschluß verhindert wird;

die außerhalb des Herzens liegende ausweitende Kraft wer* den wir weiter unten kennen lernen. Die Menge von Blut, welche durch einen einzigen Hcrzakt in Bewegung gesetzt

14. Der Kreislausincchanismus.

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Wird, ist für jede Herzhälfte auf 150 bis 190 g, also zusammen auf den 27 sten Theil der gesammten Blutmasse, berechnet worden. Nimmt man 175 g pro Zusammenziehung und 75 Zusammenziehungen in der Minute an, so erhält man für die Gesammtarbeit des Herzens in 24 Stunden 75600 Kilogrammeter, für den einzelnem Akt der kräftigeren linken Herzhälfte 0,525 Kilogrammeter. Für die Weiterbewegung des aus dem Herzen entleerten Blutes in dem Röhrensystem kommt in erster Linie die hohe Elasticität der Schiagaderwandungen in Betracht, indem nur mittelst dieser die großen Widerstände überwunden, werden können, die mit der zunehmenden Verzweigung der Schlagadern stetig wachsen, da dcls Verhältniß zwischen Stromquerschnitt und widerstandleistender Wandfläche stetig zunimmt. Wären die Röhren starr, so hätte das Her.z, jedesmal die gestimmte Blntsüule zu heben und den gesammten Wandwiderstand in den Arterien- und Capillargefäßen zu überwinden. Da aber die Röhren elastisch sind, so ist nur ein Theil der Blutsäule zu heben und int übrigen nur der elastische Widerstand der nächst anliegenden Rohr­ strecken zu überwinden, indenl dieselben erweitert werden^ Sobald sich die Klappen an den. beiden Schlagaderwurzeln geschlossen haben, übernehmen die elastischen Kräfte der Schlagaderwände die Fortschiebung der neu angekommenen Blutmasse in die nächsten Abschnitte, wobei sich dieselben ebenfalls erweitern, und so schreitet eine aus Erweiterung und Wiederzusammenziehung bestehende Pulswelle von den Schlagaderwurzeln über alle Aeste, Zweige und Reiser der Arterienverzweigung mit einer Geschwindigkeit dahin, die E. H. Weber zu etwas über 8 Meter in bör Sekunde berechnet.

Je weiter sich die Pulswelle vom Herzen entfernt, um so schwächer wird sie, und endlich im Capillarnetz verwandelt

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14. Der Kreislaufmechamsmus.

sich das stoßweise Fließen des Blutes in ein continuirliches, offenbar, weil durch die netzförmige Verbindung die Stöße sich nothwendig begegnen und aufheben müssen. Bei dem Abfluß im Venensystem kommt einmal der Blutdruck im Capillarnetz als vis a tergo in Betracht, fürs zweite die Saugwirkung der Ausdehnung des Herzens, deren Motiv unten geschildert werden soll. Indem das Herz das Blut aus den großen Vcnenstämmen ausschöpft, vermindert es den daselbst bestehenden Blutdruck, während der Nachschub aus den Capillaren den Blutdruck in den Venenanfängen stetig erhöht, und so muß ein andauerndes Fließen des Blutes von den Orten mit erhöhtem Druck nach denen mit niedrigerem stattfinden. Bei der bedeutenderen Weite des Venenstrombettes ist die Fließgeschwindigkeit im Venensystem eine viel geringere als in den Arterien; nebstdem verhindern in den Venen von Strecke zu Strecke augebrachte Klappen einen Rückfluß, der bei der Schlaffheit der Venenwandungen durch Seitendruck leicht hervorgerufen werden könnte. Eine weitere, außerhalb des Gefäßsystems liegende Triebkraft bei der Blutbewegung liegt in folgendem eigenIhümlichem Zusammenhang von Athmungs- und Kreislauf­ geschäft. Das Herz liegt mit der Sunge zusammen in der nach oußen luftdicht abgeschlossenen Brusthöhle. Wir haben im zwölften Kapitel gehört, daß die Lunge auch im Zustand der tiefsten Ausathmung noch nicht ihr kleinstes natürliches Volumen angenommen hat, sondern mit elastischen Kräften sich noch mehr zu verkleinern strebt ■ deshalb besteht in der Brusthöhle negativer d. h. Saugdruck, und derselbe steigt bei der Einathmung ganz beträchtlich. So wre dieser Saugdruck die Weichtheile an der Halsgrube und die Zwischenrippen­ räume einzieht, muß er umgekehrt auf die Herzwand einen nach allen Richtungen ausdehnenden Zug ausüben.

14. Der Ärcislcmfmcchcmismus.

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Der systolischen Zusammenziehung des kräftigen Herz­ muskels gegenüber ist dieser Zug zwar machtlos, aber wie die Herzwand erschlafft, wirkt er und erweitert das Herz und zwar zuerst und am stärksten die dünnwandigen Vorhöfe, und so wird jetzt das Blut aus beit' anstoßenden großen Venen aufgesogen. Darin liegt das Motiv der sog. Diastole, die also seitens des Herzens ein durchaus passiver Akt ist, dessen Ausgiebigkeit lediglich von der Beschaffenheit der Lunge und nicht der des Herzens abhängt. Selbstverständlich haben wir es nicht mit einer ein­ seitigen Einwirkung der Athmung auf die Herzarbeit, sondern auch mit dem Umgekehrten zu thun. Jede Zusammenziehung des Herzens muß selbstverständlich mit einer Ausdehnung der Lunge zusammenfallen und einen Einathmungsakt her­ vorbringen. Da das Herz bei jedem Akt ca. 350 g Blut auf­ nimmt und wieder entleert, so ist der Werth dieser durch das Herz bewirkten Einathmung ein sehr erheblicher, nament­ lich wenn wir bedenken, daß ein gewöhnlicher Athemzug nur etwa 500 ccm Luft aus- und einbewegt. Dies hat zur Folge, daß selbst bei Stillstand der gewöhnlichen Ath-

mungsmechanik die Athmung doch noch fortdauert, solange das Herz schlägt. Es ist jedoch noch einiges über den Zusammenhang der Athmungs- und Circulations-Arbeit anzuführen und zwar in Angelegenheit des Lungen- und Körperkreislaufes. Wie wir oben sahen, muß durch die Lunge in der gleichen Zeit genau dieselbe Blutmenge fließen wie durch den gesammten übrigen Körper. Die Wegsamkeit im Lungenkreislauf ist mit­ hin ein höchst wichtiger Faktor bei der Herzarbeit, und diese steht aus folgenden Gründen in geradem Verhältniß zur Athmungsfähigkeit. Was wir oben für das Verhältniß der Lunge im Ganzen zum Herzen demonstrirt haben, gilt natür­ lich im Kleinen für das Verhalten des Lungengewebes zu

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14. DerKreiolaufmechaikismas

allen dasselbe durchziehende Gefäßröhrchen: cs wirkt über­ all ausweitend auf dieselben und zwar um so stärker, je tiefer die Einathmungen ausfallen. Begreiflicherweise muß diese Ausweitung zwar an den dünnwandigen Capillarnctzen und Benen stärker ausfallen als an den dickwandigen Arterien, allein da das eine Vergrößerung der Druckdifferenz zwischen Arterien und Venen ist, so kommt die Ausweitung doch dem gesummten Lungenkreislauf zu gute. Aus der Schwere der Circulationsstörungen, welche in Folge krankhafter Ab­ nahme der Lungenelasticität auftreten, können wir zu einer Werthschätzung ihrer Bedeutung für den Kreislauf kommen. Gin weiterer Faktor bei der Blutbcwegung sind die Bewegungen der die Gefäße umgebenden Weichtheile, insofern sie die Blutsäule verschieben. Auf die Arterien ist dies bei der Dickwandigkeit und Elasticität derselben von geringem Einfluß; am meisten kommt es den schlaffen Venen zu gute und zwar unter* Beihilfe der Venenklappen: indem diese daS Rückläufigwerden des Blutes verhindern, gestaltet sich jedes Fortschiebeu der Blutsäule durch Seitendruck zu einer Be­ wegung in der Richtung des Herzens.

Nachdem wir so die treibenden Kräfte der Circulation kennen gelernt haben, wenden wir uns zu den Punkten, welche auf die Leistungsfähigkeit des Kreislaufsapparates Einfluß nehmen. Hiebei kommen eine Menge anatomischer und funktio­ neller Verhältnisse in Betracht, von welchen allerdings mehr nur* diejenigen genauer studirt sind, welche die Bedeutung von eigentlichen Krankheitsursachen haben, während diejeni­ gen, welche sich zwar mit der Gesundheit im allgemeinen noch vertragen, dagegen von Einfluß auf das Maß der Arbeitsfähigkeit sind, noch sehr der wissenschaftlichen Auf­ klärung bedürfen.

14. Del Kreislausmechaniomus.

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Beim Herzen ist wie bei jeder Pumpe Hauptsache, daß die Klappen in Ordnung sind, und deshalb bilden die sogen. Klappenfehler einen Hauptdefekt des Kreislaufapparates. Dieselben können von zweierlei Art sein: entweder sind die Klappen nicht im Staude, sich vollständig zu schließen, so daß das Blut zum Theil rückläufig wird (Jnsusficienz), öder­ es handelt sich um eine Verengerung der Ausfluß Öffnung durch anatomische Veränderungen der Klappen oder ihrer Umgebung, so daß dem Fortschritt des Blutstromes ein Hinderniß gesetzt ist (Stenose). Sitzen diese Klappenfehler an den Ausnuindungsöffnungen, so wirken sie einmal direkt nachtheilig ans das Herz, indem sie dessen Arbeit vergrößern. Diesem Uebelstande wird zwar bis zu einem gewissen Grade dadurch abgeholfen, daß das Herz unter Einfluß des ge­ steigerten Gebrauchs gleich jedem andern Muskel an Masse und Kraft zunimmt und zugleich geräumiger nürd (Regulirung des Klappenfehlers), und bei mäßigen Klappenfehlern treten die Uebelstünde erst i)aiui hervor, wenn bei gesteigerter Arbeit Herzaufregung eintritt. Dazu kommt, daß bei Klappen­ fehlern das Herz viel leichter in Aufregung geräth, weil die Steigerung des arteriellen Blutdruckes, wie ihn die Arbeit mit sich bringt, noch direkter und stärker auf das Herz wirkt, als wenn die Klappen ihre Schuldigkeit thun. Solche Leute können äußerlich das Bild eines Gesunden darbieten, sind mid) zu leichteren Arbeiten befähigt, und erst bei schwerer Arbeit tritt der Defekt ihres Herzens in Wirkung: sie be­ kommen Herzklopfen, und der Eintritt des Echauffements setzt ihrer Arbeit ein frühzeitiges Ende. Bei hochgradigen Fehlern un den Vorhofklappen treten Erscheinungen der Rückstauung auf, entweder nach der Lunge hin, wodurch deren Verrichtung beeinträchtigt wird (Kurzatmigkeit), oder nach den Venen des großen Kreislaufes, was in letzter Instanz zu den Er­ scheinungen der Wassersucht führt. Eine weitere schwere

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14. Der Kreis! aufmcchanisrnus.

Störung der Leistungsfähigkeit des Herzens ist es, wenn derHerzmuskel vonFetteinlagerung befallen wird. Die damit gesetzte Vernlinderung der Herzkraft bedingt Trägheit des Kreislaufs und Versagen des Dienstes bei höheren Anforderungen. Bei den Gefäßen handelt es sich um die Weite des Strom­ bettes, da von ihm die Reibungswiderstände abhängen. Auf diesen Umstand sind mehrere Verhältnisse von Einfluß, ein­ mal die Beschaffenheit der Gesäßwandung, da die Röhren elastisch sind, bann der Druck der umgebenden Weichtheile und endlich die Zahl und die Weite der einzelnen verfügbaren Strombahnen. Was die allgemeine Weite der Biurbahnen betrifft, so hat erst in jüngster Zeit Beneke darauf arrfmerksam gemacht, daß die Lichtungsweite der Schlagadern großen individuellen Unterschieden unterworfen ist, und daß die Enge der Schlag­ adern mit gewissen Krankheiten, z. B. der Skrophulose und der Bleichsucht, sehr häufig vergesellschaftet ist. Dieser Forscher hat sicherlich recht, wenn er sagt, daß selbst die ungleiche Leistungs- und Widerstandsfähigkeit im ganzen für gesund erachteter Individuen möglicherweise mit diesen anatomischen Verhältnissen Zusammenhänge. Wir wissen aus früherem, daß ein arbeitender Körpertheil mehr Blut braucht einmal, um überhaupt arbeiten zu können, und dann, um sich die Ermüdungsstoffe möglichst ausgiebig vom Halse zu schaffen. Diesem Bedürfniß nach energischerer Durchblutung stellt natür­ lich allgemeine oder örtliche Enge der Schlagadern ein schweres Hinderniß entgegen, und solche Leute müssen sowohl der Ermüdung wie dem Echauffement viel rascher anheim­ fallen als Leute, deren Schlagadern die genügende Weite besitzen. Wenden wir uns nun zur Beschaffenheit der Gefäß­ wände. Hiebei handelt es sich um zweierlei wichtige Eigen­ schaften: die eine ist ihre Elasticität, die wesentlich von der

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14. Der Krcislaufmecham'smuS.

Beschaffenheit der sogenannten elastischen Gefäßhaut abhängt, und die Contraktilität, welche von der Muskelhant und mittelbar von den Gefäßnerven bestimmt wird. Wir haben oben gesehen, welch wichtige Rolle den elastischen Eigen­ schaften der Blutgefäße, insbesondere der Schlagadern zuge­ theilt ist. Nun ist es eine Eigenschaft elastischer Körper, auch lebloser, die namentlich gut an Gutta-Percha zu be­ obachten ist, daß Nichtgebrauch die Elasticität in der Rich­ tung der Starre und Brüchigkeit schwächt, und offenbar folgt auch das elastische Gewebe des Thierkörpers diesem gleichen Gesetz: bei Nichtgebraüch vermindert sich die Dehnbarkeit und dasselbe wird starrer und zugleich zerreißlicher; mithin hängt die Leistungsfähigkeit der Arterienwand von Häufigkeit und Ausgiebigkeit der Anspruchnahme ihrer Elasticität ab. Daraus ergibt sich die später noch ausführlicher zu be­ sprechende diätetische Forderung, den Kreislauf ebenso von Zeit zu Zeit zu stürmischer Thätigkeit anzuregen, wie für die Lunge zeitweise Tiefathniungen erforderlich sind. Bei den Venen ist die Aufgabe eine ganz andere, da die Parirung des Herzstoßes für sie vollkommen hinwegfällt. Bei ihnen handelt es sich hauptsächlich darum, daß da, wo das Blut gegen seine Schwere zu fließen hat, also in allen abwärts vom Herzen liegenden Körperabschnitten, der Blut­ säule das Gleichgewicht gehalten wird, d. h. daß es ihrem Drucke nicht gelingt, eine dauernde und übermäßige Erwei­ terung der Vene herbeizuführen. (Krampfadern, Hämorrhoiden beruhen auf einem Verlust der Venenelasticität.) Die aktive Contraktilität der Gefäßwand spielt wieder bei den Arterien, dann aber wahrscheinlich auch im Capillarnetz eine Rolle. Der Contraktionszustand der Blut­ gefäßmuskeln wird einmal durch zweierlei antagonistisch wirkende Nerven bestimmt. Das allgemeine Centralorgan der Gesäßnerven liegt im verlängerten Mark, bei dessen Jäger, d,e menschliche Arbeitskraft.

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9ieizung Verengung sämmtlicher feinen Arterien mit Er­ höhung des Blutdrucks in allen größeren Stämmen und im Herzen eintritt. Dieses Centralorgan ist in beständiger Aktion, so daß in den Schlagadern stets ein gewisser Span­ nungszustand (Tonus) unterhalten wird. Herabgesetzt oder aufgehoben wird dieser Tonus sowohl allgemein als örtlich auf restectorischem Wege: nämlich allge­ mein durch Reizung gewisser centripetaler Nerven, die man depressorische nennt und deren Verlauf von Cyon und Lud­ wig näher nachgewiesen ist. Oertlich wird der Tonus herab­ gesetzt durch die Reizung der Empfindungsnerven der be­ treffenden Körpergegend (örtlicher Hautreiz erzeugt Röthung durch Gefäßerweiterung). Antagonistisch zu diesen depressorischen Fasern verhalten sich die pressorischen, die den Tonus erhöhen, also die Ge­ fäße verengen. Während die ersteren der Hauptsache nach in Lungen-Magennerven verlaufen, ziehen die letzteren vorzugsweise im sympathischen Nerven. Eigenthümlicherweise wirkt auch die Reizung der Nasenschleimhaut pressorisch. Die Verwendung, welche der wechselnde Spannungs­ zustand der Gefäße in der Maschine des Körpers findet, be­ zieht sich auf die wechselnde Bertheilung der Blutmasse. Jeder Körpertheil bedarf während er arbeitet ein beträchtlich größeres Quantum von Blut als im Zustand der Ruhe (nach Ranke um 80% mehr), und diesem Bedürfniß kann nur genügt werden durch eine Erweiterung des zuführenden Schlagaderrohrs mittelst Erregung depressorischer Nerven; es wird somit für die Raschheit und Promptheit, womit sich ein Körpertheil in Arbeit versetzen läßt, die Raschheit im Eintritt der Tonus-Aenderung von großem Einfluß sein. Wir werden darauf noch später zurückkommen. Der zweite Faktor bei der Wegsamkeit der Blutbahn ist, wie wir oben erwähnten, der Seit en druck der umgebenden

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Weichtheile auf die Gefäßwand, welcher insbesondere für die Venen von Wichtigkeit ist, da die Schlagader mit Hilfe der Puls kraft diese Widerstände ziemlich leicht überwindet, während die schlaffe, mit geringer Triebkraft arbeitende Vene leichter durch Seitendruck an Wegsamkeit einbüßt. Von besonderem Einfluß ist der Druck der umgebenden Theile namentlich auf diejenigen Venen, in welchen das Blut gegen seine Schwere 311 fließen hat, also abwärts vom Herzen (und in den Armen). In erster Linie steht hier der Druck der Baucheingew^ide auf das in ihnen selbst eirculirende Blut und auf die großen Venenstämme, die das Blut aus der unteren Körperhälfte führen und die Bauchhöhle durchziehen. Hier kommen alle die Momente in Betracht, die wir schon früher als Hemmniß für Athmung und Verdauung angeführt haben, und es ist klar, daß durch fehlerhafte Körperhaltung, Ansammlung von Gekrösfett und VergrößeTiinij der Eingeweide durch unzweckmäßige Nahrung die Arbeitsfähigkeit in dreifacher Beziehung beeinträchtigt wird, indem die drei wichtigsten inneren Arbeiten, Athmung, Kreis­ lauf und Verdauung, Hemmungen erfahren. In den Gliedmaßen und den Körperwandungen handelt es sich im wesentlichen um das Körperfett, das sich an zwei Orten ansammelt: längs der Gefäßbündel und im Unterhautzellgewebe. Ueber das erstere ist folgendes zu bemerken: Die meisten größeren Schlagaderstämme werden von zwei Venen und einem Nervenstamme begleitet, einen Complex, den man Gefäßbündel nennt und der in weiches Bindegewebe eingebettet ist; dieses letztere ist sehr geneigt zur Fettablagerung und diese bedingt, da die Gefäßbündel zwischen andern Gewebstheilen ziehen, ein nachdrückliches Circulationshinderniß, namentlich, wenn durch Zusammen­ ziehung der begrenzenden Muskeln des. Körpers der Seitens druck auf das Gefüßbündel erhöht wird.

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Das unter der Haut sich ansammelnde Fett, Paniculus adiposus oder Unterhautfett, Speckschwarte genannt, bewirkt durch seine Ansammlung einen höheren Spannungsgrad der den Körper zusammenhaltenden Haut, was eine allgemeine Steigerung des Seitendrucks und somit ein allgemeines Kreislaufhemmniß ist ; fürs zweite wirkt er der Wegsamkeit ge­ wisser Blutbahnen speziell entgegen, worüber wir -etwas ausführlicher sprechen müssen. Während das mit der Herztriebkraft und mächtigen elastischen Kräften arbeitende Arteriensystem von dem Seiten­ druck der umgebenden Theile in hohem Grade unabhängig iftr ist im Venensystem eine besondere anatomische Einrichtung vorhanden, um die geregelte Abfuhr des Blutes aus den einzelnen Körpertheilen zu garantiren, und zwar durch das Vorhandensein von Collateral- oder Reserve-Bahnen. Der gewöhnliche Abfuhrweg sind die in den Gefäßbündeln die Schlagadern begleitenden Venenstämme; die Reservebahn besteht in einem weitmaschigen Retz größerer Vcnenstämme, die in und dicht unter der Haut verlaufen (Hautvenen­ system) und erst an bestimmten Stellen in die Tiefen dringen, um sich mit den Hauptstämmen zu vereinigen. Diese Reservebahn wird sofort in Anspruch genommen, wenn die tiefen Venen, d. h. die in den Gefäßbündeln ver­ laufenden, durch Seitendruck in ihrer Wegsamkeit beinträchtigt sind, oder wenn wie bei der Arbeit eines Körpertheiles sein Durchblutungsmaß steigt. Der Hautspeck hemmt nun die Communication nach dem Hautvenensystem hin und übt außerdem einen direkten Seitendruck auf dasselbe aus. Aus dem gesagten erklärt sich zur Genüge, warum bei fettleibigen Leuten jede Steigerung der Arbeit so rasch den Zustand der Körpererhitzung hervorruft. Es sind jedoch noch einige Worte über das Haut­ venensystem nöthig. Ein Blick auf Arm und Faust eines

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Armarbeiters oder das Bein eines Fußarbeiters im Ver­ gleich zu dem eines diese Körpertheile wenig gebrauchenden Menschen belehrt uns, daß die Querschnittentwickelung des Hautvenensystems beträchtlichen individuellen Schwankungen unterliegt, und zwar unter Einfluß des Gebrauches, der das­ selbe dauernd erweitert, und der Kenner hat nicht unrecht, wenn er die Querschichtentwickelung des Hautvenen­ systems als Maßstab für die Arbeitsfähigkeit der betreffenden Gliedmaßen benützt; es gilt dies nicht blos für die Beurtheilung der Leistungsfähigkeit der Pferde, wo dieses Merkmal in der Praxis längst benützt wird, son­ dern auch für die des Menschen, und zwar spricht das Ader­ netz auf der Faust des Schmiedes nicht deutlicher als das Adernetz auf der Stirn und Schläfe des Denkers. Wenden wir uns jetzt zum Effekt der Kreislauf­ mechanik. Die Geschwindigkeit der Blutbewegung wechselt einmal nach der Zahl der Herzstöße pro Minute, die be­ kanntlich unter verschiedenen Umständen sehr verschieden aussällt. Beim Fötus ist die Pulsfrequenz 184; bis zum 21. Lebensjahre sinkt sie im Mittel auf 72 pro Minute. Diese Pulszahlen schwanken, ganz abgesehen von Krankheitszuständen B. Fieber), besonders nach aufwärts von obiger Zahl beträchtlich, und zwar kommen hiebei folgende Momente in Betracht: Jede Erhöhung des Blutdrucks in den Schlagadern und im Herzen durch Erregung der pressorischen Nerven oder Vermehrung der Blutmenge vermehrt die Pulsfrequenz, Ab­ nahme desselben vermindert sie, so daß hier eine Art Selbstregulirung vorliegt; denn Erhöhung des Blutdrucks vermindert durch Erregung der depressorischen Nerven den Tonus in den Gefäßen, mithin die Widerstände in denselben. Gemüthsbewegungen sind bekanntlich von großem Einfluß

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auf die. Gefäßnerven. Daun erhöht die Wärme die Pulszahl Kälte vermindert sie. Weiter wird sie durch jede körperliche Arbeit vermehrt, sowohl durch äußere wie durch die innere; so ist sie namentlich während der Verdauung größer als in den Zwischenzeiten, ferner ist sie bei senkrechter Körper­ stellung größer als bei wagrechter. Endlich ist die Puls­ frequenz beim weiblichen Geschlecht und bei kleinen Personen größer als beim männlichen Geschlecht und' bei langen Per­ sonen. Die Stromgeschwindigkeit des Blutes .ist natürlich am größten an der Austrittstelle aus dem Herzen. Bei Thieren hat man sie in der Halsschlagader zu 300 mm in der Sekunde gefunden. Von da nimmt sie stetig ab bis in den Capillarbezirken, wo sie nur noch 0,8 mm pro Sekunde beträgt. Im Venensystem ist sie etwa halb so groß als in den Arterien, entsprechend der doppelt so großen Weite des Strombettes. Da die Blutbewegung eine Kreisbahn beschreibt, so hatman auch zu bestimmen gesucht, wie lange das Blut zur Zurück­ legung dieses Weges braucht, d. h. welche Zeit verstreicht, bis ein bestimmtes Bluttheilchen an seinem Ausgangspunkt wieder zurückgekehrt ist. Beim Menschen beträgt die Kreis­ laufzeit 23 Sekunden — der Dauer von 27 Pulsschlägen. Die Wirkung der Blutbewegung ist einmal eine äußerst vollständige Durchmischung der Blutmasse und so stetige Ausgleichung all der Differenzen, welche die verschiedenen Körpertheile dadurch stets anstreben, daß der eine diese, der andere jene Stoffe dem Blut entnimmt und an dasselbe ab­ gibt, und wir müssen hier zuerst diese Differenzen kurz be­ trachten. Die wichtigste Veränderung beziehungsweise Differenzirung des Blutes ist die, welche auf dem Gegensatz von Lungen- und Körperkreislauf beruht.

14 Der Kreislausmechanismus.

i;»s

Im Körperkreislauf wird das Blut sauerstoffarmer, kohlensäurereicher, dunkler, dickflüssiger und Wärmeraum 1°C.), und da dies so veränderte Blut in den Venen fließt, so heißt man es Venenblut. Umgekehrt wird in den Capillaren des Lungenkreislaufes das Blut ärmer an Kohlen­ säure, reicher an Sauerstoff, was seine Farbe in Hellroth umändert, und dann ist seine Temperatur durch Wärmeabgabe in der Lunge um 1° niedriger geworden: man nennt dies so veränderte Blut Arteri en blut. Von anderweitigen Veränderungen auffälliger Art sind noch folgende näher bekannt geworden: das aus dem Darm absließende Blut ist während der Verdauung reicher an Fetten, Eiweißverbindungen, Faserstoff und Salzen, Stoffe, die alle während des Durchfließens durch das Capillarnetz der Leber vermindert werden Dafür tritt in dem aus der Leber abfließenden Blute Zucker auf, und vermehrt sich die Zahl der farblosen Blutkörperchen, weil, wie schon früher erwähnt, ein massenhafter Untergang von rothen Blutkörper­ chen und Neubildung von jungen in der Leber stattfinde. Eine ähnliche Veränderung der Blutzellen erfährt das Blut bei seinem Durchgang durch die Milz, wo übrigens die Neubildung von farblosen Zellen zu überwiegen scheint, denn im Milzvenenblut bilden die weißen Vro der rothen, im übrigen Blut nur Vaoo — V350. Neuerdings hat man auch in dem Mark der Knochen die Neubildung von Blut­ körperchen nachgewiesen. Außerdem vermindert sich beim Durchgang durch die Milz der Faserstosfgehalt; daß weiter das Blut in der Niere durch die Ausscheidung des Harns erhebliche Veränderungen erleiden muß, liegt auf der Hand, da die Harnbestandtheile sämmtlich ihm entnommen werden. Ueber die Veränderung, welche das Körpervenenblut kurz vor seinem Eintritt in das Herz durch den Zufluß der Lymphe erfährt, werden wir unten 511 sprechen haben.

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14. Der Kreislaufmechanismus.

Ueber den Werth der durch die Blutbewegung bewirkten Ausgleichung der örtlichen Mischungsunterschiede belehrt uns einerseits die Thatsache, daß mit der Unterbrechung der Blutzufuhr zu einem Körpertheil dessen Funktionsfühigkeit in kürzester Frist vernichtet wird, weil, wie der vorige Abschnitt zeigte, sehr rasch osmotisches Gleichgewicht zwischen Blut und Gewebssaft eintritt und damit der Stoffwechsel aufhört. Daß dies nie eintritt, verdanken wir der ununter­ brochenen Blutbewegung und dem Umstande, daß das Blut auf seiner Kreisbahn immer wieder durch Organe hindurch­ geht, die seine Zusammensetzung in entgegengesetztem Sinne zu verändern bestrebt sind als die zuvor passirten, und die große Geschwindigkeit der Blutbewegung verhindert, daß die örtlichen Differenzen in der Blutmischung einen zu hohen Grad erreichen, was anderweitige Nachtheile zur Folge hätte. Außer dem Stofftransport betheiligt sich die Circulation, wie schon im vorigen Kapitel geschildert wurde, auch am

Wärmehaushalt, worüber noch folgendes nachzutragen ist: Da sämmtliche Bestandtheile des menschlichen Körpers schlechte Wärmeleiter sind, würden die Würmeverluste der Ober­ fläche und die Wärmebildung im Innern des Körpers, die bald da bald dort größer ist, große örtliche Temperaturunterschiede im Körper erzeugen, wenn nicht mit dem Blute die Wärme im Körper mit solcher Geschwindigkeit circulirte und so zur gleichmäßigen Bertheilung käme. Daß darauf auch die Ab­ gabe der Wärme nach außen beruht, haben wir ebenfalls schon früher gesehen. Daß ein Theil der Wärme mit der Athmungsluft entweicht, wissen wir. Bei der Abfuhr durch die Körperoberfläche spielt die wechselnde Weite der Hautcapillaren und die schon besprochene Entwickelung des Hautvenensystems eine nicht unbeträchtliche Rolle. Sobald nämlich durch vermehrte Körperarbeit die Wärmeproduktion im Innern steigt, benützt das Venenblut

in verstärktem

14. Der Krcislaufmechanismus.

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Maße die im Hauptvenensystem gebotene Reservebahn, und so gelangt eine größere Blutmasse zur Abgabe ihrer Wärme nach außen. Außer dem Stoff- und Krafttransport erfüllt die Blutcireulation noch mancherlei direkt mechanische Arbeiten. Ihre Betheiligung an der Mechanik der Darmzotten kennen wir aus dem vorigen Abschnitt. Von untergeordneter Bedeutung ist die Erfüllung der Schwellkörper der Begattungsorgane; weit bedeutungsvoller, aber freilich noch nicht näher studirt, ist die direkte mechanische Einwirkung auf die Gewebe des Gesammtkörpers: einmal läßt die Thatsache, daß Stillstand der Blutbewegung momentan die Thätigkeit gewisser Theile des Gehirns aufhebt d. h. einen Ohnmachtanfall erzeugt, darauf schließen, daß nicht blos die ernährende Thätigkeit des Blutes, sondern auch der mechanische Reiz der Blut­ bewegung von wesentlichem Einfluß auf die Funktion der Organe ist; fürs zweite weist die anatomische Thatsache, daß an der Spitze von Gefäßschlingen besondere Anhäufung orga­ nischer Masse stattfindet, darauf hin, daß der mechanische Anstoß an solchen Strömungskurven als Wachsthumsreiz wirkt, daß mithin die Energie der Herzthätigkeit nicht blos dem Totalwachsthum, sondern auch dem Lokalwachsthum d. h. der Entfaltung der einzelnen Organe des Körpers zu statten

kommt. Ueber die Bewegung der Lymphe ist folgendes zu sagen: Im Gegensatz zu der Kreisbewegung des Blutes bewegt sich die Lymphe nur linear. Sie beginnt überall in den Geweben des Körpers mit feinen Strömchen, die sich all­ mählich zu größeren Strömen sammeln und schließlich in die Blutbahn einmünden, so daß die Lymphe, die wie wir sahen von Hause aus ein Filtrat aus dem Blute ist, diesem wieder zugemischt wird. Die Einmündung geschieht kurz vor dem

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14. Der Krcislaufmechanismns.

Eintritt des Körpervenenblutes in das Herz, nämlich in die

Halsvenenstämme. Unter den Kräften, über welche die Lymphbewegung verfügt, kommt für die Wurzeln der Lymphgefäße die CapillarAttraktion dieser feinen Röhrchen in Betracht und der Filtra­ tionsdruck, der vom Blutgefäßsystem her wirkt. Eine zweite Kraft ist die Knetung der Gewebe durch die verschiedensten im Körper thätigen oder auf denselben von außen wirken­ den mechanischen Bewegungen, wobei die in den Lymphwurzeln befindliche Lymphe auf dem einzigen ihr offen stehenden Wege, nämlich nach den größeren Lymphgefäß­ stämmchen ausweicht. Dort befindet sich nun -in Gestalt zahlreicher Taschenklappen eine Vorrichtung, welche verhindert, daß bei Seitendrücken die Lymphe gegen die Capillaren hin rückläufig wird. Hiezu kommt ein weiterer anatomischer Umstand: Die Lymphstämmchen bilden durch zahlreiche Anastonosen ein Strömungsnetz, so daß bei Verschließung einer Strombahn durch Seitendruck dem Lymphstrome nach allen möglichen Richtungen hin Ersatzwege offen stehen, auf welchen übrigens überall die Klappen die gebundene Marschroute nach den

Hauptstämmen hin sichern. Zu den genannten Kräften gesellt sich der Umstand, daß in den Hauptstämmen der Lymphdruck stets niedriger ist als in den unter dem Filtrationsdruck des Blutes stehenden Wurzeln, indem erstere bei ihrem Eintritt in die Brusthöhle der S. 188 beschriebenen Aspirationswirkung der Lungenelasticität und der saugenden Wirkung des Herzens anheim­ fallen. Da in jedem Rohrsystem ein Fließen von dem Punkte höheren Drucks zu dem Punkte mit mebrigein Druck statt­ finden muß, so ist der Abfluß der Lymphe von den Wurzeln nach den Stämmen stets garantirt; allein da es ihm an einer regelmäßig wirkenden Triebkraft, wie sie der Blutstrom in

14. Der Kreislaufmechanismus.

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der Herzbewcgung hat, mangelt und derselbe in hohem Grade von den äußeren unregelmäßig erfolgenden Seitendrücken abhüngt, so kann bei der Lymphbewegung von keiner Regelnmßigkeit des Strömungsvorganges die Rede sein. Um so bedeutsamer sind aber eben deshalb die wechselnden Thätigkeitszustünde des Körpers, wie sie namentlich in der körper­ lichen Bewegung gegeben sind. Von ihr gehen alle Knetungen im Bereich des Rumpfes und der Gliedmaßen aus, und da die körperlichen Bewegungen auch in der Regel mit Pres­ sungen und Verschiebungen der Baucheingeweide verbunden sind, so spornen sie auch die Bewegungen der Darmlymphe an. Außer der körperlichen Bewegung spielt, wie wir oben sahen, auch die Athmungsbewegung eine Rolle beim Abfluß der Lymphe, und es kommt somit jede Steigerung der Athmungsfähigkeit des Menschen auch der Lymph-Circulationsfähigkeit zu gute. Bei der Lymphbewegung müssen wir auch noch den Einfluß der Lymphdrüsen erwähnen, die wir schon im vorigen Kapitel als die Bildungsherde von weißen Blut­ zellen kennen gelernt haben. In mechanischer Beziehung, können wir sie am besten mit den Filtrirkästen vergleichen, welche in den Lauf einer Wasserleitung eingelegt sind, und die Anordnung ist so, daß alle Lymphe, ehe sie in die centralen Stämnie eintritt, diese Filtrirapparate passiren muß. Selbst­ verständlich ist der Widerstand, den die Lymphe an ihnen findet, ein sehr beträchtlicher, so daß die Fließgeschwindigkeik der Lymphe eine geringe ist. Welchen Werth diese normale Hemmung des Lymphstroms hat, ist nur zum Theil bekannt; einmal weiß man, daß feste Partikelchen, die in den Lymphstrom eingedrungen sind, in ben Lymphdrüsen abfiltrirt wer­ den, und gilt dies auch für gewisse Krankheitsgifte (Siphylisgift, Pestgift 2C.). Damit ist aber noch keine Einsicht in den Werth der mechanischen Hemmung gegeben, und es läßt

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14. Der Äreislaufmechanismus.

sich nur Vermuthungsweise folgendes sagen: bei der Zufällig­ keit der den Lymphstrom treibenden Kräfte wäre der Zufluß der Lymphe ins Blut viel größeren zeitlichen Schwankungen unterworfen, wenn diese Sperrvorrichtung fehlen würde; durch sie wird der rückwärts liegende Abschnitt der Lymphröhreu in eine Art von Reservoir umgewandelt, aus welchem, minder abhängig von seiner wechselnden Erfüllung, so viel Lymphe dem Blut zufließt, als der Filtrationsfähigkeit der Lymphdrüseu entspricht. Bei dem zweiten Widerstand leistenden Faktor, dem constanten Seitendruck der umgebenden Weichtheile, spielt das Körpersett, namentlich das in den Gefäßbündeln angehäufte, pffenbar ganz dieselbe hemmende Rolle für die Lymphbewegung wie für die Bewegung des Venenblutes, so daß Fettleibigkeit auch diesen Theil der Circulationsarbeit be­ einträchtigt. Die hemmende Wirkung der Erdschwere kommt natür­ lich nur für die untere Körperhälfte in Betracht. An der bekannten Erscheinung, daß am Schluß des Tages, nament­ lich die Vorderfüße, aber auch die Hände ein fühlbar größeres Volumen haben (wie der populäre Ausdruck sagt: aufgelaufen sind) als morgens, betheiligt sich neben der Stauung des Venenblutes auch Stauung der Lymphe. Begünstigt wird diese Stauung durch allgemeine Schwäche des Kreislauf­ mechanismus. Entgegengewirkt wird ihr durch Bewegung der Beinmuskeln, am energischesten durch Beug- und Streckbewegungen, wie sie das Bergsteigen, Stiegensteigen re. er­ fordert, weil die dadurch in Kniekehle und Leiste eintretende Entleerung und Wiederfüllung der großen Venen und Lymph­

gefäßstämme die Wirkung einer Hubpumpe haben.

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J5- Absonderung und Ausscheidung.

Mit diesen Worten halten wir die Stoffabfuhr in innere Hohlräume (Absonderung) und die nach außen (Ausscheidung) aus einander. Das Produkt der ersteren nennen wir Sekret, das der letzteren Exkret. Im Erfolg unterscheiden sich diese beiderlei Stoffabgaben dadurch, daß die Sekrete noch nach ihrer Bildung wichtige Verrichtungen mechanischer oder chemischer Natur im Innern des Körpers zu erfüllen haben, während bei den Exkreten das nicht mehr der Fall ist, bei ihnen ist die Hauptsache, daß sie aus dein Körper ausge­ stoßen werden. Wie wir bei unseren früheren Betrachtungen gefunden haben, gibt jede lebendige Substanz unaufhörlich Stoffe ab, aber nicht jede liefert direkt Se- oder Exkrete, und das ist so: Die meisten Gewebe überantworten ihre Stoffabgaben dem Blut oder der Lymphe oder beiden, so z. B. die Mus­ keln und Nerven, Knochen rc. Absonderung in innere Höhlen und Ausscheidung nach außen ist die Aufgabe besonderer Mechanismen, denen wir den Namen Drüsen geben. Zuerst etwas über den Arbeitsmodus dieser Mechanismen. Wir können nach diesem die Drüsen in zwei Kategorien bringen, in die passivthätigen sogenannten Filtrirdrüsen und die aktivthätigen, die, wie nachher gezeigt werden soll, noch in einige Kategorien zerfallen. Bei den Filtrirdrüsen ist die Leistung weit weniger von der eigenen Thätigkeit der lebendigen Drüsensubstanz als von der Stärke des Blutdrucks in den Haargefäßen der Drüse abhängig, und der von ihnen gelieferte Saft ist der Hauptsache nach ein Filtrat aus dem Blutplasma. Die besten Beispiele für diese Sorte von Drüsen sind die Nieren und die Schweißdrüsen der Haut. Auch die Speichel-

SOG

15. Absonderung und Ausscheidung.

drüsen sind in ihrer Leistung außerordentlich abhängig von dem Blutdruck, doch ist ihre aktive Thätigkeit größer als bei den zwei erstgenannten. Bei den aktiven Drüsen ist zwar das Durchblutungs­ maß und der Blutdruck auch nicht ganz ohne Einfluß, allein Menge und Qualität sind vorwaltend von der eigenen Thätig­ keit der Drüsenzellen abhängig, für die das Blut nur mehr als Materiallieferant, als ernährende Flüssigkeit in Betracht kommt, wo also weniger die Filtration als der Diffussionsverkehr das mechanische Moment ist und die Produkte nicht bloße Blutbestandtheile, sondern spezifische erst in den Drüsen­ zellen selbst gebildete Stoffe enthalten. Die aktivsten ächten Drüsen sind wohl die Talgdrüsen der Haut, deren Thätigkeit im Gegensatz zu den nachbar­ lichen Schweißdrüsen in hohem Grade von Blutdruck unab­ hängig ist. Es versteht sich übrigens von selbst, daß es weder rein passive noch rein aktive Drüsen gibt. Bei der Leistung betheiligen sich stets beide Vorgänge, nur überwiegt bald der eine bald der andere. Bei den aktiven Drüsen haben wir es wieder mit zweierlei Sorten zu thun: 1. Einmal gibt es Drüsen, die aus dem vom Blut er­ haltenen Material neue chemische Verbindungen bereiten (chemisch-thätige Drüsen). Der Mechanismus besteht bei diesen entweder darin, daß die in den Drüsenzellen entstehenden Stoffe durch den vom Blutgefäßsystem a tergo geübten Druck in die Lichtung des Drüsenrohrs ausgewaschen, oder daß sie durch aktive Con­ traktionen des Zellprotaplasma's ausgepreßt werden. Letztere Thätigkeit kommt entschieden dann in Betracht, wenn die betreffenden Stoffe nicht im gelösten, sondern im krystallini­ schen oder sonst wie festen Aggregatzustand sich befinden.

15. Absonderung und Ausscheidung.

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2. Eine zweite Art aktiver Drüsen sind die, bei welchen 'die Thätigkeit der Drüsenzellen eine morphologische ist, indem sie sich auf dem Wege der Theilung unter steter Ab­ stoßung der reifen Zellen vermehren. Hiebei tritt wieder eine Differenzirung ein, je nach dem Schicksal der producirten Zellen. Wenn diese zerschmelzen, so haben wir Se­ kretion (oder Exkretion) durch Zelltod (Talgdrüsen der Haut, Milchdrüsen der Säugethiere), oder die Zellen ver­ kleben zu einem festen Gebilde, das auf längere Zeit in dem Drüfenschlauch stecken bleibt und oft weit über die Oberfläche des Körpers hervorragt (retrograde Organe). Derlei Ge­ bilde sind die Haare- das Drüsenrohr wird in diesem Falle Haarbalg genannt. Insofern als diese morphologischen Gebilde entweder zum Ausfallen bestimmt sind (Mauserung, Härung), oder der oberflächlichen Abnutzung mit Neuan­ lagerung an der Haftfläche ausgesetzt sind, liegt hier eben­ falls eine Stoffabsonderung vor; allein außerdem treten sie durch ihre physikalischen Eigenschaften in den Dienst des Kraftwechsels. Ob eine solche morphologisch thätige Drüse ein Sekret aus zerstörten Zellen oder ein bleibendes retrogrades Organ bildet, hängt von ihrem Verhältniß zum Blutgefäß­ system ab: Bildet dies nur ein die Drüse umspinnendes Capillarnetz, so tritt Sekretion durch Zellentod ein, stülpt sich aber in den Drüsengrund eine Papille d. h. ein zapfen­ artiger, mit einem reichen Blutgefäßnetz durchzogener Fort­ satz ein, so findet reichhaltiger Nahrungszufluß und eine gewisse Ernährung der abgesonderten Zellen statt, die sie vor der Einschmelzung bewahrt. Hierin liegt eine ähnliche Beziehung der Drüse zum Blutgefäßsystem, wie wir sie unter den passiven Drüsen bei der Niere in der Einstülpung des Malpighiffchen Gefäßknäules kennen lernten.

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15. Absonderung und Ausscheidung.

Betrachten wir nun nach dieser allgemeinen Einleitung die Stoffabgaben einzeln der Reihe nach und zwar zunächst die innerlichen Ausscheidungen, deren es folgende gibt: Der Schleim ist das Produkt zahlreicher kleiner Drüs­ chen, die im ganzen Verdauungsrohr und den untern Harnwegen Vorkommen, und ihm verdanken sie die schlüpfrige Beschaffen­ heit der Oberfläche und den Namen Schleimhäute; die Bil­ dung des Schleims ist wahrscheinlich auf den Verfall eines Theils der Drüsenzellensubstanz und Auspressung derselben zurückzuführen. Der Mundspeichel wird von dreierlei größeren Drüsen geliefert; er ist der Träger eines Fermentes, welches die gequollene Stärke (Kleister) in Dextrin und schließlich in Zucker verwandelt. Bei seiner Absonderung sind merkwürdige Nerveneinflüsse, die erst in neuerer Zeit genau studirt wur­ den, in Thätigkeit; es treten zweierlei sekretorische Nerven zu den Speicheldrüsen, welche zweierlei Arten von Speichel liefern: einen spärlichen zähen, fadenziehenden Speichel, der zu der Bezeichnung „Baumwollespucken" geführt hat, liefert die Reizung gewisser im Sympathicus verlaufenden Fasern (Sympathieus-Speichel); ein reichlicherer dünnflüssiger Spei­ chel (Trigeminus-Speichel) wird durch die Erregung von Nerven producirt, die von dem Antlitznerven stammen, aber in die Bahn des Trigeminus eintreten. Eine Reizung der letzteren erzeugt das bekannte „Wasserzusammenlaufen" im Munde. Angeregt wird die Speichelabsonderung, wie schon früher bemerkt, durch Geruch- und Geschmacksreize, durch die Kau- und Sprechbewegungen und durch die Vorstellung von Speisen. Die Menge ist schwankend und wird von den einzelnen Forschern pro Tag auf V- bis 2 Kilo angegeben. Das Entleeren des Speichels durch Ausspucken ist zu ver­ werfen, da es einer Verschwendung von Flüssigkeit und Ver­ dauungsferment für Stärkemehl gleichkommt.

15. Absonderung und Ausscheidung.

209

In den Magen wird durch zahllose kleine Drüsen der Magensaft als eine dünne klare, farblose, saure Flüssigkeit

abgesondert, die als wichtige Bestandtheile freie Salzsäure und ein eigenthümliches Ferment, das Pepsin, enthält.

Der

vereinigten Wirkung dieser beiden Elemente, von denen je­ doch die Salzsäure durch die bei der Verdauung regelmäßig sich bildende Milchsäure ersetzt werden kann,

die

Auflösung

verdanken wir

und Verdauung der Eiweißkörper in

den

Nahrungsmitteln; zugleich wirkt der Magensaft fäulnißwidrig.

Im nüchternen Zustand wird kein Magensaft abgesondert;

die Bildung erfolgt erst unter Einfluß der Reize,

die

vou

den eingeführten Nahrungsmitteln aus die Darmwand direkt ausgeübt werden,

und durch Reflex von Geruch- und Ge­

schmackssinn. In den ersten Abschnitt des Darms, der auf den Magen

folgt,

wird die Galle,

das Produkt der größten Drüse

des menschlichen Körpers, der Leber,

ergossen.

Dieselbe

ist eine meist dickflüssige bittere Masse von neutraler oder schwach alkalischer Reaktion und gelber, brauner oder grüner Farbe; ihre spezifischen Bestandtheile sind die Natronsalze

zweier spezifischer Gallensäuren, Gallenfett, Glycerin-Phos­ phorsäure, Cholin, Harnstoff und Gallenfarbstoff. Bildung der

Galle

durch

Zerfall rother

Ueber die

Blutscheiben ist

schon S. 175 gesprochen worden. Abweichend von den übrigen

Ausscheidungen in das Verdauungsrohr, führt sie kein eigent­ liches

Verdauungsferment,

dagegen

wird

die

Darrnivand

durch die Benetzung mit ihr durchgängig für das fein ver­

teilte Fett und ein Theil des Fettes wird durch Verseifung löslich.

Außerdem hindert sie die- faulige Zersetzung des

Darminhalts,

weshalb

bei

krankhafter

Behinderung

des

Gallenabflusses der Koth äußerst übelriechend wird. Die Bil­

dung der Galle geschieht fortwährend; ihr Maximum erreicht sie erst mehrere Stunden nach der Nahrungsaufnahme, und die Jäger, die menschliche Arbeitskraft. 14

210

15. Absonderung und Ausscheidung.

tägliche Menge schwankt zwischen 160 und 1200 g, was in hohem Grade von der Nahrung abhängt. Ihre Menge wird durch Wassertrinken, durch Fleischkost, weniger durch Pflanzen­ kost gesteigert und ist sehr gering beim Hungern. Ueber den Einfluß von Nerven auf die Sekretion der Galle ist nichts bekannt. Obwohl fortwährend Galle von der Leber gebildet wird, fließt sie doch nicht stätig in den Darm ab, sondern erst während der Verdauung; in der Zwischenzeit sammelt sie sich in der Gallenblase und den größeren Gallen­ gängen. Ueber das Schicksal der Galle im Darm ist man noch nicht ganz genau orientirt; positiv ist, daß Gallenstoffe in beträchtlichen Mengen theils unverändert, theils in Form ihrer Spaltungsprodukte in Koth gefunden werden, allein andere Umstände machen es gewiß, daß ein Theil derselben im Darm wieder aufgesaugt wird. Daß bei der Thätigkeit der Leber eine lebhafte Verbrennung stattfindet, beweist die hohe Temperatur der Drüse und des aus ihr abfließen­ den Blutes. Ueber die Harnstoff- und Zuckerbildung im Blute der Leber ist schon in einem früheren Kapitel ge­

sprochen worden. Dicht neben der Ausmündung des Gallenganges führt ein anderer Kanal den Bauchspeichel, ein Produkt der ziemlich großen Bauchspeicheldrüse, in das Darmrohr. Der­ selbe enthält dreierlei Fermente: a) ein dem Speichelferment ähnliches Kleister in Zucker umsetzendes, b) ein neutrale Fette emulgirendes und zersetzendes, c) ein geronnene Eiweiß­ körper ohne vorheriges Aufquellen lösendes und zersetzendes. Die Absonderung des Bauchspeichels scheint nie ganz unter­ brochen zu sein, nimmt aber während der Verdauung stark zu. Ueber di,e sekretorischen Nerven desselben ist man,nicht genau unterrichtet. Nach Ludwig soll die Absonderung in ähnlicher Weise reflektorisch durch Reizung von der Magenschleim-

15. Absonderung und Ausscheidung.

211

haut aus eingeleitet werden, wie die der Mundspeicheldrüsen von der Mundschleimhaut aus. Die tägliche Menge ist trotz mehrfacher Bemühungen für den Menschen auch nicht an­ nähernd ermittelt. Der Bauchspeichel wird wie Mundspeichel und Magensaft im Darm wahrscheinlich fast vollständig wieder aufgesogen. Der Darm saft, das Produkt zahlreicher im ganzen Darmkanal vorkommender kleiner Drüsenröhrchen, ist eine dünnflüssige hellgelbe, stark alkalische, eiweißhaltige Flüssigkeit und führt ein Ferment, welches nur geronnenen Faserstoff auflöst, andere geronnene Eiweiskörper dagegen nicht. Seine Absonderung scheint bei leerem Darm zu ruhen und erst durch die Reizung des Speisebreis veranlaßt zu werden, dann aber einer enormen Steigerung fähig zu sein. Bei diesbezüglichen Versuchen erhält man pro 100 qcm Darm­ fläche und Stunde 13 bis 18 g. Wahrscheinlich wird auch er im Verlauf der Ernährungsarbeit vom Darm wieder aufgesogen. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß von der gesammtew inneren Ausscheidung in das Verdauungsrohr weitaus der größte Theil wieder in das Blut ausgenommen wird, und nachweisbar nur die Galle, und auch diese nicht in ihrer Gesammtmenge, kommt als Theil des Kothes zu äußerer Ausscheidung. Von den nach außen erfolgenden Ausscheidungen (Exkreten) erwähnen. wir zuerst den Kot h. Da über die Mechanik der Ausstoßung schon in einem früheren Kapitel gehandelt wurde, so erübrigt nur noch einiges über ihn selbst. Ein wesentlicher Bestandtheil desselben sind Reste der Nahrung, aber durchaus nicht blos die unverdaulichen, sondern auch stets eine oft sehr beträchtliche Menge ver­ daulicher aber unverdauter, deren Menge nicht blos bei ge­ schwächter Berdauungsthätigkeit steigt, sondern auch, worauf 14*

212

15. Absonderung und Ausscheidung.

schon S. 130 hingewiesen wurde, dann, wenn die Beschaffen­ heit der Nahrung durch abnorme Säurebildung oder sonstige reizende Beschaffenheit die Darmbewegungen und damit die Durchpassirung des Speisebreis durch den Darm beschleunigt. Neben diesen Speiseresten erhält der Koth stets Schleim, bei Katarrhen des Darms oft große Mengen, dann zersetzte Gatlenstoffe, von denen die braune Färbung herrührt, flüch­ tige Fettsäuren, Salze, insbesondere Kalk- und Magnesiasalze neben Kali- und Natronsalzen, 75%» Wasser (im Mittel) undendlich abgestvßene Deckzellen der Darmwand, auf der eine ähnliche Zellabschuppung stattfindet, wie auf der äußeren

Haut. Ueber die Ausscheidung, welche bei der Athmungsthätigkeit stattfindet, haben wir uns bei dieser bereits orientirt. Es erübrigt hier nur noch, daß bei der Fort­ schaffung des Schleims und eingedrungener Staubtheile außer der Flimmerbewegung, die sie bis an die Stimmritze befördert, noch zwei Reflexeinrichtungen betheiligt sind, das Husten und das Niesen, beides explosive Ausathmungsbewegungen, durch welche der Schleim mit Gewalt aus den Luftwegen herausgeschleudert wird. Beim Husten handelt es sich um die explosive Sprengung der verschlossenen Stimmritze nach vorangegangener tiefer Einathmung, wodurch der Schleim aus' den Lungen- und Luftwegen herausgeschleudert wird,

beim Niesen um das Sprengen des Verschlusses zwischen Nachen- und Nasenhöhlen durch das vor den Naseneingang gelegte Gaumensegel, wodurch der Schleim aus der Nasen­ höhle herausgeworfen wird. Beide Bewegungen, Husten und Niesen, erfolgen gewöhnlich durch Reflexreiz, der für das Husten von jeder Stelle der Lungen- und Luft­ röhrenschleimhaut aus, besonders leicht und stark von der Theilungsstelle der Luftröhre und dem Kehlkopf aus wirft. Aas Niesen ist Folge reflektorischer Reizung der Nasen-

15. Absonderung und Ausscheidung.

213

schlcimhaut, kann aber auch durch Lichtreiz vom Auge aus auszelöst werden (blicken in die Sonne); der Wille kann auf den Husten hemmend und beschleunigend wirken, auf das Nie'en nur hemmend. Im Anschluß an die Ausscheidung aus den Luftwegen ist die Thränenabsonderung zu besprechen. Die Thränen sind das Produkt eines Drüsenpacketes, das mit mehreren Ausführungsgängen in den Spaltraum zwischen Augapfel und Augenlidern ergossen wird und nur 1% feste Stoffe, insbesondere Salze enthält; sie werden beständig in geringen Mengen abgesondert; verstärkt wird die Absonderung durch gewisse psychische Erregungen, ferner reflektorisch durch Neigung der Nasenschleimhaut, der Bindehaut des Auges und der Sehhaut. Die Thränen verbreiten sich, unterstützt durch den Lidschlag, über die vordere Fläche des Augapfels, dieselbe feucht und schlüpfrig erhaltend, und werden durch die Capillaranziehung der am inneren Augenwinkel ausmün­ denden Thränenkanälchen stetig aufgesogen, so daß nur bei starkem Thränenerguß dieselben direkt aus der Lidspalte hervorfließen. Im Normalzustand gelangen sie durch den Thrinengang in den Anfang der Nasengänge, werden durch den Einathmungsstrom verstäubt und verdunstet und tragen so wesentlich dazu bei, daß die Athmungsluft schon in der Nastnhöhle mit einem erhöhten Maß von Wasserdampf ver­ sehe! und die Oberfläche der Lungenwege vor zu starker Waferentziehung beschützt wird. Dadurch erklärt sich die bekannte Erscheinung, daß bei Behinderung des Thränenabflrsses in die Nase krankhafte Reizungen der Lunge leichter eintieten. Die Hautausscheidung ist eine ziemlich complicirte. Fürs erste handelt es sich hier um den Vorgang der Hautothnung. Dieselbe besteht in einer Aufnahme von Sauer­ stoff und einer Aushauchung von Kohlensäure, die freilich in

214

15. Absonderung und Ausscheidung.

quantitativer Beziehung weit hinter dem Gaswechsel her Lunge zurücksteht; sie wird auf den 400. Theil des Gesammtgaswechsels geschätzt. Fürs zweite ist die Haut der Sitz von zweierlei Drüsen, den Schweiß- und Talgdrüsen. Die ersteren liefern eine anscheinend farblose klare, sauer reagirende Flüssigkeit, die im allgemeinen dieselben Aus­ wurfstoffe führt wie der Harn, aber in 1000 Theilen nur 4,5 Theile feste Stoffe enthält, unter denen 2,5 Theile Salze, 0,04 Harnstoff und vielleicht noch andere stickstoffhaltige Kör­ per, sowie Fette und Fettsäuren Vorkommen. Unter gewöhn­ lichen Verhältnissen findet- keine Schweißbildung statt; die­ selbe tritt erst ein durch all die Umstände, die den Blutdruck in der Haut erhöhen, also bei Steigerung des allgemeinen Blutdrucks, z. B. durch reichliche Wasseraufnahme, dann bei Erhöhung der Körpertemperatur und namentlich bei Er­ höhung der Temperatur der umgebenden Luft, welche die Hautgefäße durch Erschlaffung ihrer Wandung erweiterte Endlich können gewisse psychische Erregungen durch Steige­ rung des Blutdrucks die Schweißsekretion hervorrufen (Angst­ schweiß). Die Quantitäten, welche in diesem Fall geliefert werden, sind unter Umständen sehr beträchtlich; so constatirte Favre Schweißproduktion von über 1600 g in der Stunde. Im wesentlichen kommt der Schweißabsonderung eine regu­ latorische Bedeutung zu und zwar in doppelter Weise. Einmal steht sie in Wechselbeziehung zur Harnabsonderung, indem sie dieselbe bis zu einem gewissen Betrag ersetzen kann; so ist z. B. im Sommer, wo mehr Schweiß gebildet wird, die gelieferte Harnmenge geringer, und bei Erkrankungen der Harnwerkzeuge kann durch schweißtreibende Mittel ein gewisser Ersatz für die Harnausscheidung geschaffen werden, während umgekehrt bei krankhafter Harnabsonderung die Schweißbildung ausbleibt. Eine ähnliche, wenn auch lange nicht so deutliche Wechselbeziehung besteht zwischen Schweiß-

15 Absonderung und Ausscheidung.

215

bildung und Wasserabscheidung durch die Darmentleerung. Endlich bricht sich ein Ueberschuß des Körpers an Wasser, der von der Niere nicht bewältigt werden kann, oft Bahn durch die Schweißdrüsen. Eine weitere regulatorische Be­ deutung hat die Schweißabsonderung für den Wärmehaus­ halt, indem durch die Verdunstung des Schweißes auf der Körperoberfläche dieser bedeutende Wärmemengen entzogen werden. Die Talgdrüsen liefern wahrscheinlich fortwährend durch fettige Entartung ihrer Zellen den Hauttalg; eine schmierige aus neutralen Fetten, Gallenfett, etwas Wasser, Salzen und einem Eiweißkörper bestehende Masse, deren Menge noch nicht bestimmt, jedenfalls aber eine unbedeutende ist. Der Werth derselben besteht vorzugsweise in der Erhaltung der Geschmeidigkeit der Haut und darin, daß die Einfettung die Haut vor dem Eindringen wäßriger Flüssigkeit bewahrt. Eine Modifikation des Hauttalgs ist die Milch der weiblichen Brustdrüsen; die letzteren sind eine Anhäufung riesiger Talgdrüsen, deren Zellen durch fettigen Zerfall die Butterkügelchen liefern, zu denen dann ein Transsudat aus dem Blute, das eiweißhaltige Serum, kommt. Die Thätigkeit der Milchdrüsen ist auf die sogenannte Laktationsperiode beschränkt, in. welcher die beiden Brüste in 24 Stunden bis zu 1350 g Milch liefern können. Die rudi­ mentären männlichen Brustdrüsen liefern nur ausnahmsweise eine milchähnliche Absonderung. Die Milchabsonderung ist mit einer erheblichen Wärmebildung in der Drüse verbunden. Daß die Haut bei der Absonderung der Wärme auch ohne vorhandene Schweißbildung eine sehr bedeutende Rolle spielt, wurde schon früher auseinandergesetzt; außerdem scheint die ganze Hautoberfläche, auch ohne daß die Schweißdrüsen

in Thätigkeit sind, stets Wasserdampf abzugeben. Endlich sondert sie stets flüchtige spezifische Fettsäuren ab, worauf

216

15. Absonderung unb Ausscheidmlg.

der Ausdünstungsgeruch beruht und es sind offenbar diese, welche die so schädliche Luftverderbniß in geschlossenen Räumen herbeiführen. Leider sind sie noch wenig studirt. In letzter Instanz steht die Hautabschuppung. Die verhornten Oberhautzellen, die im wesentlichen aus dem stickstoffhaltigen Keratin bestehen, blättern gruppenweise und in ununterbrochener Folge ab, besonders wahrnehmbar an den behaarten Körpertheilen; ein Verlust, der dadurch ersetzt wird, daß in den tieferen Schichten der Oberhaut eine stete Zellneubildung vor sich geht. Der Harn, das Produkt der Niere und eines der wichtigsten Exkrete des Körpers, ist eine höchst complicirte

Flüssigkeit, die aus 96 Theilen Wasser und 4 Theilen fixer Stoffe zusammengesetzt ist. Bon den letzteren bildet der Harnstoff mehr, als die Hälfte, etwas über ’/< ist Kochsalz, der Rest sind schwefelsaure, phosphorsaure und Harnsäure Salze und geringe Menge eines Farbstoffs, sowie Ammoniak. Als den wichtigsten Bestandtheil haben wir den Harnstoff anzusehen; er ist das Ergebniß der Umsetzung der stickstoff­ haltigen Körperbestandtheile, die bekanntlich die wichtigsten sind, und man kann annehmen, daß unter gewöhnlichen Ver­ hältnissen fast aller Stickstoff der Eiweißkörper im Harn den Leib verläßt. Gewiß ist, daß der Harnstoff nicht erst in der Niere gebildet wird, denn man findet ihn bereits im Blute und in verschiedenen Geweben des Körpers, namentlich auch der Leber (siehe S. 175). Dasselbe gilt von den meisten andern Bestandtheilen des Harns. Aus diesem Grunde be­ trachtet ein Theil der Physiologen mit Ludwig die Harn­ bildung in der Niere als eine Art Abfiltrirung des flüssigen Bestandtheiles vom Blute, von welchem nur die Eiweißstoffe (in der Regel) nicht in den Harn übergehen, und das Nieren­ parenchym soll sich nur in der Weise daran betheiligen, daß dasselbe für gewisse Blutbestandtheile, insbesondere den Harn-

15. Absonderung und Ausscheidung.

217

stoss und die Harnsäure, eine besondere Anziehungskraft übe. Andere Physiologen dagegen nehmen an, daß zu dem aus dem Blute austretenden Harnstoff noch neue in dem Nierenparenchym sich bildende Harnstoff- und Harnsäure­ mengen hinzutreten. Die Absonderung des Harns ist eine continuirliche, schwankt jedoch quantitativ bei erwachsenen Menschen unter normalen Verhältnissen zwischen 1 und 2 Kilo pro Tag. Die Einflüsse, welche die Harnmenge verändern, sind sehr mannig­ faltiger Art. Einmal steigt sie mit der Höhe des Blutdrucks in der Niere, der selbst wieder bestimmt wird von der Höhe des allgemeinen Blutdrucks d. h. erhöhter Füllung des Gefäß-

systems, z. B. bei reichlicher Wasseraufnahme, dann durch er­ höhten Blutdruck im Arteriensystem allein, hervorgebracht durch erhöhte Herzthätigkeit. Fiirs zweite hängt sie ab von dem Gehalt des Blutes an leicht diffundirbaren Stoffen, namentlich Wasser, Salzen, Zucker, Kohlensäure und den spezifischen Harnbestandtheilen, Harnstoff und Harnsäure. Wie zahlreiche Versuche nachgewiesen haben, hängt die Menge von Harnstoff und Harnsäure in sehr genauer Weise von der Menge der in der täglichen Nahrung enthaltenen stickstoffhaltigen Nährstoffe ab und zwar so, daß man von einem Stickstoffgleichgewicht spricht; sobald nämlich die Menge der stickstoffhaltigen Nährstoffe mehrere Tage hindurch dieselbe bleibt, so wird mittelst des Harns pro Tag genau so viel Stickstoff entleert als in der täglichen Nahrung ent­ halten ist; geht man zu reichlicherer Nahrung über, so ist für einige Tage das Gleichgewicht gestört, indem weniger Stickstoff durch den Harn entleert als in der Nahrung aus­ genommen wird, was durch einen entsprechenden Fleisch­ ansatz im Körper ausgeglichen wird; nach einigen Tagen tritt jedoch Stickstoffgleichgewicht ein. Wird umgekehrt die tägliche Menge der stickstoffhaltigen Nährstoffe vermindert,

15. Absonderung und Ausscheidung.

218

so tritt die entgegengesetzte Störung des Gleichgewichts ein;

es

wird

im

abgeschieden

mehr Stickstoff

Harn

als

die

Nahrung enthält,

und zwar auf Kosten des Körpers, der

hiebei

Ist der Abbruch

abmagert.

an täglicher Nahrung

nicht zu groß, so stellt sich wieder Stickstoffgleichgewicht her, andernfalls macht die Abmagerung des Körpers Fortschritte,

wobei die Menge des ausgeschiedenen Harnstoffs in geradem Verhältniß steht zur Abnahme der stickstoffhaltigen Körper­

bestandtheile.

Da die letzteren die lebenswichtigsten Theile

so ist die Harnabsonderung ein genauer

des Körpers sind,

Regulator für den Ersatz derselben.

Es ist jedoch noch beizufügen,

daß wir es nicht blos

mit Schwankungen der Gesammtmenge des Harns zu thun haben, sondern auch mit Schwankungen in der Prozentischen

Zusammensetzung

Aermer

desselben.

an

festen

Bestand­

theilen wird der Harn durch vermehrte Wasseraufnahme ins Blut und wenn die anderweitigen Abgaben des Körpers an Wasser beeinträchtigt sind.

So ist bekannt, daß der Winter­

harn weniger concentrirt ist als der Sommerharn,

weil im

Sommer das Blut durch Schweißbildung mehr Wasser ver­ liert als im Winter. tration des Harns,

In ähnlicher Weise steigt die Coneen-

wenn durch den Darm größere Flüssig­

keitsmengen entfernt werden. in welchen der wichtigste

Ueber die täglichen Mengen, Theil des Harns,

der Harnstoff,

gendes zu sagen.

entleert wird,

ist zwar

es ist aber noch kurz fol­

oben schon gesprochen worden;

Jede Vermehrung der Gesammtharnmenge

vermehrt auch die Menge des entleerten Harnstoffes, zweitens richtet er sich, wie oben spezificirt, nach der Menge der stick­

stoffhaltigen Bestandtheile

der

täglichen Nahrung.

Endlich

steigt er bei jeder Vermehrung des Umsatzes stickstoffhaltiger Substanzen im Körper,

verbunden ist.

wie er

mit jeder Arbeitsleistung

Zum Schluß sei noch angeführt, daß es eine

15. Minderung und Ausscheidung.

219*

Menge von Substanzen gibt, die harntreibend wirken. Unter den gewöhnlichen Nahrungsmitteln wirkt in dieser Richtung besonders das Bier, der Wein und die alkoholischen Getränke überhaupt, dann einige Gemüse und Gewürze, wie Spargeln, Meerrettich, Petersilie, Zwiebel, Senf rc. Wie früher gesagt, ist die Harnbildung ein continuirlicher Vorgang, die Ausstoßung dagegen erfolgt in längeren Zwischenräumen, während welcher sich der Harn in der Harnblase ansammelt; letztere steht unter Verschluß eines Schließmuskels so lange, bis die Spannung der ausgedehnten Blase diesen Verschluß überwindet und ein Harntropfen in den Anfang der Harnröhre tritt. Dieses Ereigniß ruft durch Reflexreiz den Drang zur Entleerung der Harnblase hervor, die jetzt beim Kinde und bei gewissen Krankheits­ zuständen unwillkürlich erfolgt, beim erwachsenen gesunden Menschen willkürlich gehemmt oder durch willkürliche Reizung der Blasenwandmuskeln ausgeführt werden kann. Die be­ treffenden Nerven wollen Budge in das Rückenmark, Kilian und Valentin bis in das Gehirn verfolgt haben. Die letzte Gruppe der Abscheidungen bilden die Ge­ schlechtswerkzeuge, bei welchen die männlichen und weib­ lichen gesondert zu behandeln sind. Tas spezifische Produkt der männlichen Geschlechtswerkzeuge, der Samen, ist ein Gemisch aus den Absonderungen des Hodens und einiger in die Ausfuhrwege einmündender Drüsen. Die eigentlich wirksamen Bestandtheile des Samens, die sog. Samenfäden, die im wesentlichen Geiselzellen sind, werden von den Zellen der Hodenkanälchen, unter Zerfall derselben, geliefert, und zu ihnen gesellt sich noch im Hoden eine gewisse Menge von Flüssigkeit. Diese Bildung geht beim Eintritt der Ge­ schlechtsreife wie es scheint continuirlich fort, und die so gebildete Hodenflüssigkeit sammelt sich in den Samenblasen, wobei sie durch die Absonderung traubiger Drüschen in der

2*20

15. Absonderung und Ausscheidung.

Wand des Samenleiters und von einem Sekret der Samen­ blase selbst vermehrt wird. Ein anderes Sekret fertigt die Vorsteherdrüse; dieses wird nur im Wolluststadium gebildet unb in die Harnröhre ergossen und mischt sich mit dem Samen erst bei der Ausstoßung, jedoch in unvollständiger Weise. Die Anfüllung der Samenblasen mit Samen wirkt reflektorisch auf das Centrum des Geschlechtstriebes und leitet auch reflektorisch die Schwellung des Begattungsgliedes ein, die im wesentlichen in Folge einer Hemmung des Blut­ abflusses unter gleichzeitiger Vermehrung des Blutzuflusses, also einer Blutstauung in den Schwellkörpern besteht. Durch die Schwellung wird die Wegsamkeil der Harnröhre in der Art verändert, daß der Abfluß des Harns verhindert, die des Samens erleichtert wird.

Die Ausstoßung des Samens geschieht zuerst durch darmartige Contraktion der Samenleiter und Samenblase in die Harnröhre und aus dieser durch rhythmische Contrak­ tion der Samenschwellmuskeln nach außen. Die Samen­ entleerung ist mit großer physischer und psychischer Aufregung fast des gestimmten Körpers verbunden. Ueber die näheren Vorgänge läßt sich im allgemeinen nur so viel sagen, daß sie mit nicht unerheblichem Stoffverbrauch verbunden sein müssen unter gleichzeitiger Wärmebildung, was schon aus der bekannten Thatsache erhellt, daß übermäßiger Geschlechts­ genuß consumirend wirkt.

Die Abscheidung aus den weiblichen Geschlechts­ apparaten beruht der Hauptsache nach auf der Ausstoßung der Eier und gestaltet sich sehr verschieden, je nachdem das Ei im unentwickelten oder entwickelten Zustand ausgestoßen wird.

Im ersten Fall hat man es nur mit Einem Akt zu thun, mit dem Austritt des Eis aus dem Eierstock durch

15. Absonderung und Ausscheidung.

221

die Eileiter in den Fruchthälter, dem sog. Menstruations­ vorgang, der vom Eintritt der Geschlechtsreife an bis zur sog. Involution in rhythmischer Weise d. h. im allgemeinen in Zwischenräumen gleich einem Mondsmonat erfolgt. Der Beginn der Menstruation ist das Platzen des Eifollikels, wobei das Ei herausgeschleudert wird. Die weiteren Vor­ gänge sind in nlancher Beziehung noch dunkel. Das trichter­ förmige Ende des Eileiters steht nicht in direkter Verbindung mit dem Eierstock, und thatsächlich, wie die sogen. Bauch­ schwangerschaften beweisen, gelangen nicht alle Eier in den Eileiter. Welcher Mechanismus nun dafür sorgt, daß die Eier doch in der Regel den richtigen Weg finden, ist noch nicht ganz aufgehellt. Gewisse Umstände machen es wahr­ scheinlich, daß durch Spannung der Blutgefäße der trichter­ förmige Anfang des Eileiters entfaltet und an den Eierstock angedrückt wird. Im Eileiter wird das Ei durch Flimmer­ bewegung nach dem Fruchthälter transportirt, um dort zu Grunde zu gehen für den Fall, als die Befruchtung aus­ bleibt. Mit der Entleerung des Eies ist eine eapillare Blütung aus der Fruchthälterhaut, die sog. Menstrualblutung, und eine mäßige Schleimabsonderung in den Geschlechtswegen verbunden. Dieser Blutabgang dauert mehrere Tage und nimmt oft beträchtliche Dimensionen an. Den ganzen Vor­ gang begleitet eine geringere oder größere psychische und physische Alteration des Gesammtkörpers, die im allgemeinen als eine Schwächung bezeichnet werden kann. Uebermäßige Menstrualblutung ist eine sehr häufige Ursache constitutioneller Schwächung beim Weibe. Wird das ausgetretene Ei befruchtet, so setzt es sich im Fruchthälter fest und entwickelt sich dort unter Benützung des mütterlichen Blutes als Nahrungsquelle, wobei der Fruchthälter durch interstitielles Wachsthum an Masse und Geräumigkeit zunimmt. Die Leistung des mütterlichen Orga-

222

15. Absonderung und Ausscheidung

nismus an die sich entwickelnde Frucht beruht auf dem osmotischen Verkehr des mütterlichen und kindlichen Blutes. Die Ausstoßung der Frucht erfolgt normal nach Ver­ lauf von 9 Menstruationsperioden: -durch den Druck der muskulösen Elemente der Fruchthälterwand und der früher beschriebenen Bauchpresse, wobei gewaltige Muskelkräfte ent­ faltet werden und der Gesammtkörper zu höchster Arbeits­ leistung angespannt wird. Die Höhe der Kraftentfaltung steht übrigens unter sonst gleichen Umständen in umgekehr­ tem Verhältniß zu der Durchgängigkeit der Geburtswege und in geradem Verhältniß zur Größe der Frucht. Die Fruchthältercontraktion erfolgt reflektorisch und unwillkürlich; die Bauchpresse ist eine willkürliche Bewegung. Die Aus­ stoßung der. Frucht erfolgt gewöhnlich in zwei Akten, in­ dem nach Durchreißung der Eihüllen zuerst das Kind aus­ tritt und erst in einem zweiten Akt die mit dem Kind durch den Nabelstrang verbundenen Fruchthüllen, die sog. Nach­ geburt. Dem Geburtsakt folgen noch mehrere Tage un­ willkürliche Contraktionen des Fruchthälters mit Abgang von schleimigem Blut, und gleichzeitig geht durch Gewebsauf­ saugung der vergrößerte Fruchthälter auf sein früheres Volumen zurück und findet eine Neubildung der ganzen Schleimhaut statt, da diese bei der Geburt völlig als äußerste Umhüllung der Nachgeburt verloren geht. Die Geschlechtsthätigkeit ist beim Weibe von weit grö­ ßerem Einfluß auf Gesundheit und Arbeitsfähigkeit als beim Manne.

16. Allgemeines über den Arbeitsmechanismus.

223

16. Allgemeines über den Arbeitsmechanismus. Ncchdem wir die Hilfsmechanismen kennen gelernt haben, wenden wir uns dem Mechanismus zu, von welchem die nach arßen gerichtete dem Willen unterworfene Arbeit aus­ geht. Dr Grundelemente dieses Apparates sind Reflexmeckanismen, wie wir sie im 7. Kapitel geschildert haben. Sie bilden in ihrer Gesammtheit die Sinnesorgane mit den empfindenden Nerven, die Muskeln mit den Bewegungs­ nerven und dem Skelet und den zwischen beiden eingelagerten Reflexcntren, die im Gehirn und Rückenmark liegen. Automatisäe Elementarmechanismen, wie wir sie bei den Hilfsmechanümen kennen gelernt haben, kommen hier nicht vor. Dieser von den Reflexmechanismen gebildete Theil des Apparats, den wir den physischen nennen können, ist nun dirch leitende Nervenfasern mit einem andern, dem psychischen oder seelischen Apparat in Verbindung gesetzt. Von ihn wissen wir durch Versuche aufs bestimmteste, daß er im tzehirn liegt und zwar in demjenigen Theile, welchen wir das Große Gehirn nennen. Fasen wir zuerst die Verknüpfung dieser zweierlei Mechanßmen ins Auge, weil eine Eigenthümlichkeit derselben uns in den Stand setzt, bis zu einem gewissen Grade zu unterschliden, welchen Antheil jeder dieser beiden Apparate an der mßeren Arbeit hat. Diese Eigenthümlichkeit besteht darin, mß der funktionelle Zusammenhang in rhythmischer Weise ehe völlige Unterbrechung erfährt. Der .dadurch herbeigefühte Zustand ist der Schlaf, während der Zustand des Wachsens dem ungestörten Zusammenhang beider entspricht. Wir weben weiter unten noch besonders über den Schlaf sprechen hier soll nur so weit von ihm die Rede sein, als

224

16. Allgemeines über den Arbeiwmechanismus.

er uns das Mittel gibt, zu bestimmen, was der körperliche Theil des Arbeitsmechanismus für sich allein leistet. Die Beobachtung eines schlafenden Menschen lehrt uns zuerst, daß der körperliche Theil seines Arbeitsmechanismus keine automatischen Mechanismen enthält. Während die auto­ matisch regierten Hilfsmechanismen (der Athmungsapparat, Kreislauf-, Ernährungs- und Absonderungsapparat) auch im Schlaf, wenn auch etwas langsamer als im wachen Zustand, fortarbeiten, herrscht im Arbeitsmechanismus völlige Ruhe. Daß das aber nicht etwa Folge einer Unfähigkeit zur Arbeit ist, falls nicht große Ermüdung mit dem Schlaf verbunden ist, lehrt folgendes. Wenn wir einen schlafenden Menschen an einer Körper­ stelle kitzeln oder sonstwie reizen, so erfolgt eine Bewegung und zwar jedesmal und auch immer die gleiche Bewegung: wir haben einen Reflexmechanismus in Be­ wegung gesetzt. Betrachten wir die Art dieser Bewegung, so erkennen wir, daß dieselbe eine durchaus zweckentsprechende und vom Ortssinne geleitete ist: das gezwickte Glied zieht sich zurück, nach einer gekitzelten Stelle greift die Hand und führt eine wischende oder kratzende Bewegung aus. Ja, noch complicirtere Bewegungen lassen sich durch geeignete Reize Hervorrufen; z. B. ein schlafender Säugling, dem wir den Finger oder die Saugftasche in den Mund stecken, greift

darnach und fängt zu saugen an. Die Physiologie nennt dies einen geordneten Reflex und hat durch den Controlversuch an enthirnten Thieren, insbesondere an Tauben, denen man das Große Gehirn ent­ fernt hat, was ohne großen Schaden für ihr Leben geschehen kann — sie leben unter Umständen noch über ein Jahr —,

festgestellt, daß wahrscheinlich alle Theile des Bewegungs­ apparates nach dem Gesetz des geordneten Reflexes d. h. auch ohne eine Antheilnahme des Bewußtseins, also ohne

16. Allgemeines über den Arbeitsmechanismus.

225

Vorstellung, Begriffe, Urtheile und Willensimpulse mit mechanischer Nothwendigkeit arbeiten können, sobald der nöthige Neftexreiz angebracht wird. Aber eben so gewiß ist auch, daß das, was man einen geordneten Reflex nennt, nur zum Theil etwas angeborenes ist, zum andern Theil sind die Bewegungen an einem enthirnten Thiere oder einem schlafenden Menschen erlernte Reflexe, wovon wir in einem nächsten Abschnitt sprechen werden.

Vergleicht man damit den wachen Zustand, man folgende Unterschiede:

so findet

1. Eine Reizung, welcher im Schlafzustaud jedesmal eine bestimmte Bewegung folgte, ruft sie jetzt das eine Mal hervor, das andere Mal nicht und ein drittes Mal vielleicht eine ganz andere, z. B., statt daß der Gekitzelte den Kitzel mit einer abwischenden Bewegung beantwortet, schlägt er nach dem Missethäter oder zankt ihn. Im einen Fall hat eine Reflexhemmung stattgefunden, im andern Fall ist die Reflexvertauschung eingetreten, d. h. der sensitive Theil des Reflexinechanismus ist aus der Verbindung mit dem motorischen Theile gelöst und mit einem andern verbunden worden, so wie in einer Telegraphenstation durch Verstellung eines Wechsels eine andere Verbindung gesetzt werden kann. 2. Man beobachtet, daß eine bestimmte Bewegung, z. B. das Kratzen an einer Hautstelle, das im Schlaf nur bei Kitzel an dieser Stelle eintrat, durch einen ganz andern Reiz, z. B. durch Erregung des Gesichtssinnes oder Gehör­ sinnes hervorgerufen werden kann. So ist es ein bekanntes Experiment, wenn man jemand von Flöhen oder Läusen spricht, so fängt er bald da bald dort zu kratzen an. Hier arbeitet der gleiche motorische Theil wie in dem geordneten Reflex im Schlaf, dagegen ist der sensitive Theil vertauscht: also wieder Verstellung der Leitungswege der Erregung. Jäger, die menschliche ArbettSkrast.

15

226

16. Allgemeines über den Arbeitsmechanismus.

3. sehen wir anderartige Bewegungszusammenstellungen auftreten, als wir sie im Schlaf reflektorisch Hervorrufen können: der Körper hat die Freiheit der Verknüpfung seiner Maschinentheile gewonnen. 4. Handlungen im wachen Zustand werden nicht blos bestimmt von gegenwärtig einwirkendcn Reizen, sondern ein neuer Faktor, nämlich früher stattgefundene Erregungen, sog. Erfahrungen üben einen bestimmenden Einfluß aus: an die Stelle des blos reflektorischen Handelns tritt er­ fahrungsgemäßes Handeln. Dies zeigt sich ins­ besondere darin, daß die Thätigkeit mit Vorstellungen ver­ knüpft ist, d. h. einen bestimmten Gegenstand der Außenwelt zum Ziel hat, und zwar auch dann, wenn von ihm momentan kein Sinnesreiz ausgeübt wird. Den Unterschied zeigt uns der Versuch mit der Taube: ein unverletztes Thier pickt nicht nur nach Futter, das ihm in die Augen fällt, sondern sucht auch nach abwesendem Futter. Ist es enthirnt, so pickt es zwar nach vorgelegten Körnern, allein es sucht nicht danach, weil ihm die aus der Erfahrung entspringende Vor­ stellung fehlt. 5. Einen weiteren Unterschied zwischen Wachen und Schlafen können wir nur durch Selbstbeobachtung ermitteln: die Auslösung eines geordneten Reflexes im Schlaf erfolgt, ohne daß wir eine Empfindung davon haben, während int wachen Zustand ein Gefühl zu Stande kommt, das mit einer Vorstellung d. h. mit der Erinnerung an einen uns er­ fahrungsgemäß bekannten Gegenstand der Außenwelt ver­ knüpft ist. Fassen wir das Gesagte kurz zusammen, so zeigt sich zwischen Schlaf und Wachen folgender Unterschied. Im Schlaf verhält sich die Arbeitsmaschine des Körpers nne ein Jndustrismus d. h. wie ein todter von Menschen­ hand erzeugter Mechanismus, in welchem die verschiedenen

17. Die Bewegungsmechanismen.

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Maschinentheile stets in der gleichen Weise in einander greisen und stets nur auf momentane Eingriffe reagiren. Jrn wachen Zustand gleicht sie einem Jndustrismus, in wel­ chem, fortwährend eine dritte Hand eingreift, da hemmend, dort durch Entbindung von neuen Kräften beschleunigend, hier Verbindungen knüpfend und dort solche losend. Diese von Gemeingefühlen, Empfindungen, Vorstellungen und Er­ fahrungen geleitete dritte Hand nennen wir den Willen und ihr Sitz — darüber besteht kein Zweifel — ist das Große Gehirn bezw. dessen Hemisphären, während die Vermitt­ lungswege der geordneten Reflexe alle in der Basis des Großhirns, den sog. Hirnganglien, dem kleinen Hirn und dem Rückenmark liegen. Nach diesem Ueberblick setzt sich der äußere Arbeits­ mechanismus eigentlich aus drei Theilen zusammen: 1. dem Bewegungsmechanismus, 2. dem Sinnesmechanismus und 3. dem Willensmechanismus. Diese drei stehen so mit ein­ ander in Verbindung, daß der erstere sowohl vom Sinnesmechanismus ans in Bewegung gesetzt werden kann als vom Willensmechanismus; das erstere ist ein geordneter Re­ flex, das letztere eine willkürliche Handlung. Betrachten wir nun diese drei Mechanismen gesondert.

\7. Die Bewegungsmechanismen. Bei der Erörterung dieses Theiles können wir uns des­ halb kurz fassen, weil in einem andern Bande dieser Samm­ lung^) eine erschöpfende Schilderung desselben enthalten istich,beschränke mich deshalb aus folgendes: *) Kollmann, die -Mechanik des Körpers.

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17. Die Bcwegungsmechanismen.

Im großen und ganzen zerfällt der dem Willen unter­ worfene Bewegungsapparat in einige Hauptmechanismen, die selbst wieder zusammengesetzter Natur sind: den Kauapparat, Sprechapparat, Greifapparat, Athmungsapparat, Bauchpreß­ apparat, Geh- und Stehapparat, wozu noch einige kleinere Hilfsmechanismen kommen, die im Dienste der Sinneswerk­ zeuge stehen. Den complieirtesten der Art besitzt das Auge, weniger eomplicirt ist der willkürliche Hilfsapparat für Ge­ ruch- und Gehörsinn. Jeder dieser Mechanismen besteht aus aktiv sich bewcgcndenTheilen, den Muskeln, linb passiv bewegten, den biegsamen Sehnen und Bändern, und den steifen Knoch en. Die Leistung der Muskeln besteht darin, daß sie bei ihrer Verkürzung die Theile, mit denen ihre beiden Enden ver­ bunden sind, mit elastischen Kräften zu nähern versuchen, wodurch die Stellung der festen Theile zu einander verändert und diese in die Situation von Hebeln gebracht werden (S. Kapitel 7.)

Bei diesen Stellungsveränderungen, handelt es sich stets um zwei einander entgegengesetzte Bewegungen, und deshalb setzt sich jeder solche Apparat aus zwei antagonistischen Motoren zusammen: Die Muskeln sind je in zwei Gruppen getheilt, die einander entgegen arbeiten; z. B. an einer Gliedmaße steht einer Gruppe von Streckmuskeln eine Gruppe von Beugemuskeln, einer Gruppe von Einwärtsrollern eine solche von Auswärtsrollern entgegen. Am Rumpf kommt zu dem Antagonismus zwischen Beugern und Streckern der Antagonismus zwischen Rechtsbeugern und Linksbeugern, an den Rippen zwischen Hebern und Senkern, an den Oeffnungen des Körpers zwischen Oeffnern und Schließern, und nur in manchen Fällen, wie z. B. beim untern Augenlied, ist der Antagonismus nur auf der einen Seite ein aktiver

17. Die Bewegungsmechanismen.

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Muskel, dem auf der andern die Schwere oder elastische Kräfte als passiver Antagonist gegenüberstehen. Im wesentlichen besteht nun jede Arbeit aus einer abmechselnden Thätigkeit der antagonistischen Muskelgruppen, aber mit geschickter Benützung des passiven Momentes d. h. "der Schwere und der Elasticität und des Trägheitsmomentes. Wenn z. B. eine Arbeit auf Abwechslung von Hebung und Senkung beruht, so benützen wir bei der Senkung die Schwere und sparen die Anwendung der die Senkung be­ schleunigenden Muskeln. Ein anderer Fall ist: wir versetzen ein Glied mit einer ruckweisen Bewegung in Vorwärts­ schwingung und überlassen der Schwere die Herbeiführung des Rückschwungs 2C. Weiter zeigten uns nun Beobachtung und Experiment, Daß den Antagonismen der Muskeln auch antagonistische Jnnervationscentren entsprechen, und außerdem noch, daß zwischen diesen beiden Centren das Verhältniß des steten Wettstreites besteht.

Um dies verständlich zu machen, sei es mir gestattet, darauf zurückzugreifen, daß wir auch bei den Hilfsmechanis­ men (Athmung, Kreislauf und Darmmechanik) antagonistische

Nervencentren, nämlich hemmende und beschleunigende, teiinen gelernt haben. Am besten und längsten kennt man die Sache beim Herz Die Grundlage dieser Maschine ist ein automatischer Ele­ mentarmechanismus, der auch noch fortarbeitet, wenn wir DaS Herz eines Thieres ausgeschnitten baben. Zu diesem Elementarmechanismus ziehen zweierlei auch von zweierlei Eentralorganen kommende Nervenfasern, die in antago­ nistischem Verhältniß stehen: ein Hemmungsnerv, der die Bewegung verlangsamt, und einer, der sie beschleunigt. Experi­ mentiren wir mit diesen Nerven, so ergibt sich unzweideutig,

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17. Die Bewegungsmechanismen.

daß sie stets erregt d. h. in stetem Wettkampf mit einander sind und der Erfolg ihrer Thätigkeit nur gleich der Differenz ihrer Thätigkeitsstärke ist: d. h. wenn sie gleich stark erregt sind, so ist der Effekt gleich Null, der automatische Elementar­ mechanismus arbeitet unbelästigt weiter, dagegen bringt jede Störung des Gleichgewichts eine Wirkung desjenigen Nerven zu Tage, der das Uebergewicht erlangt hat. Eine solche Gleichgewichtsstörung kann durch zweierlei Eingriffe erzeugt werden, entweder durch Reizung des einen Nerven, wodurch er der überlegene wird, oder durch Schwächung seines An­ tagonisten. Z. B. der Lungenmagennerv ist der Hem­ mungsnerv des Herzen, der Sympathicus der Beschleunigungs­ nerv desselben. Man kann nun eine Beschleunigung des Herzschlags entweder dadurch hervorbringen, daß man den Sympathicus reizt, wodurch er das Uebergewicht über den andern erlangt, oder dadurch, daß man den Vagus lähmt. Dabei ist noch auf einen Umstand aufmerksam zu machen. Ob ein Nerv durch einen Eingriff zu erhöhter Thätigkeit angespornt oder gelähmt wird, hängt nur von der Stärke dieses Eingreifens ab. Bei' einem solchen Apparat, wie es der Herzmechanismus ist, kann also ein- und derselbe Einflutz auf einen und denselben Nerven, je nach seiner Stärke, ganz entgegengesetzte Wirkungen hervorbringen. Reizen wir z. B. den Hemmungsnerven mäßig, so gewinnt er das Uebergewicht und das Herz geht langsamer; setzen wir dagegen einen Ueberreiz, so gewinnt sein Antagonist die Oberhand unb das Herz geht schneller. Dasselbe bringen wir auch durch Ermüdung hervor: Erregen wir den Herzhemmer mäßig, so gewinnt er zunächst das Uebergewicht; allein wenn die Rei­ zung fortdauert, so tritt allmählich Ermüdung ein, und so kommt ein Zeitpunkt, wo der nicht ermüdete Beschleuniger trotz der Fortdauer der Erregung des Hemmers das Ueber­

gewicht bekommt.

17. Die Bewegungsmcchanismen.

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Der natürliche und künstliche Versuch hat nun bewiesen, daß der gleiche Gegensatz wie zwischen Hemmungs- und Be­ schleunigungscentrum wahrscheinlich durch alle antagonistische Nervencentren des willkürlichen Mechanismus hindurchgeht, und zwar so: Jedem Bewegungscentrum steht ein Centrum gegenüber, das einen dem vorigen entgegengesetzt arbeitenden geordneten Reflex commandirt. Diese beiden Centra sind stets erregt, allein so verknüpft, daß sie sich bei gleichgewichtiger Thätig­ keit gegenseitig lahmlegen und der Effekt gleich Null ist, d. h. es kommt weder der eine noch der andere Reflex zum Vor­ schein: die Maschine ruht. Sowie aber das Gleichgewicht der beiden Centra gestört ist, so erscheint derjenige geordnete Reflex, dessen oberstes Centrum das Uebergewicht erlangt hat, mit einer gewissen mathematischen Nothwendigkeit und dauert so lange fort, bis wieder das Gleichgewicht hergestellt ist. Folgende Experimente machen dies deutlich. Wenn man am Gehirn einer lebenden Taube eine be­ stimmte Stelle auf einer Seite durch Gefrieren mittelst Aetherverstäubung lähmt, so dreht sie sich continuirlich wie ein todter aufgezogener Jndustrismus nach einer Seite im Kreise herum. Lähmt man die gleiche Stelle des Gehirns auf der entgegengesetzten Seite, so erfolgt diese Zwangs­ bewegung mechanisch ebenfalls nach der entgegengesetzten Richtung. Die Natur macht dieses Experiment bei unsern Hausthieren selbst in der Drehkrankheit. Ein solches Thier geht fortwährend im Kreise nach der gleichen Richtung herum und zwar völlig willenlos, bis Ermüdung die Bewegung unterbricht. Untersucht man es nach dem Tode, so findet man einen Eingeweidewurm einseitig im.Gehirn und zwar rechts, wenn sich das Thier nach links gedreht hat, links, wenn die Drehung rechts erfolgte. Der von dem Wurm ausgehende Druck hat das in der gleichen Hirnhülfte liegende

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17. Die Beweg ungsmechanismen.

Centrum seinem Antagonisten gegenüber dauernd in Nachtheil gebracht, und so trat bei der Thätigkeit die Wirkung des letzteren stets überwiegend zur Geltung. Durch das Experiment an Vögeln hat man auch noch einen Gegensatz zwischen einem Vorwärtslwwegungscentrum und einem Rückwärtsbewegungscentrum gefunden. Lähmt man das erstere durch Gefrieren, so arbeitet das letztere allein ohne Hemmung und das Thier geht mechanisch rückwärts, bis es erschöpft zusammenbricht, und umgekehrt. Diese Zwangsbewegungen beweisen, daß ein Verhalten des Arbeitsmechanismus, das wir gewöhnlich dem freien Willen zuschreiben, durchaus unfreiwillig ist. Wenn wir z. B. von der Seite her ein schwaches Geräusch vernehmen, so drehen wir unsern Kopf in der Richtung desselben; hören wir aber einen heftigen Knall auf der gleichen Seite so fahren wir unwillkürlich zurück und wenden uns ab. Das erklärt sich jetzt so: der schwache Reiz hat das eine der beiden antagonistischen Drehungscentren, z. B. das linke er­ regt und ihm das Uebergewicht verschafft, wir drehen uns links; der starke Knall dagegen hat es durch Ueberreiz ge­ schwächt, sein Antagonist ist jetzt im Vortheil und wir drehen uns entgegengesetzt. Beobachten wir nun unsere willkürliche Thätigkeit, so sehen wir überall diesen Antagonismus zwischen Zugreifen und Zurückschrecken, zwischen Angriff und Flucht, zwischen Thun und Lassen. Ich will noch ein Beispiel anführen. Es tritt uns ein physischer Feind entgegen. Ist der Ein­ druck auf uns ein mäßiger, so überwiegt das Kampfcentrum, wir richten uns hoch auf, athmen voll ein, das Gesicht röthet sich, die Nüstern öffnen sich und wir stürzen vorwärts zum Kampfe. Ist dagegen der Eindruck ein überwältigender, so geschieht von allem das entgegengesetzte, wir knicken zusammen, der Athem ist beklemmt, das Gesicht wird blaß und wir

17. Die Bewcgungsmcchanismen.

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wenden uns zur Flücht, und zwar warum? Das Kamps­ centrum ist durch Ueberreiz gelähmt und das Fluchtcentrum hat die Oberhand gewonnen. Anknüpfend an das Verhältniß des Antagonismus muß noch das Verhältniß der alternativen Ausschließung besprochen werden, das zwischen den verschiedenartigen Appa­ raten des Körpers, aber nicht unter allen Verhältnissen, be­ steht. Wenn nämlich ein Apparat arbeitet, so stehen die andern in der Regel still, und zwar um so sicherer, je inten­ siver die Arbeit ist. So halten wir z. B. den Athem an, wenn wir eine anstrengende oder besondere Genauigkeit er­ fordernde Arbeit oder wenn jemand im Gehen spricht, so unterbricht er ersteres, wenn er etwas besonders wichtiges sagen will; oder wer im Sprechen einen Entschluß zu einer Thätigkeit gefaßt hat, stellt plötzlich das Reden ein rc. Diesem Verhältniß der Ausschließung steht das der Mitbewegung gegenüber: so machen die Arme beim Gehen gänzlich nutzlose unwillkürliche Mitbewegungen, und wird das Sprechen begleitet von Mienenspiel und Gestikulationen der Hände re. Stellen wir nun die Frage nach den Bedingungen der Leistungsfähigkeit der Bewegungsapparate: Seitens der Knochen ist die erste Bedingung die ge­ nügende Festigkeit. Diese hängt einmal von der richtigen chemischen Mischung der Knochensubstanz ab. In dieser Richtung ist einmal eine Zunahme des Wassergehaltes, wie er bei schwächlichen Personen und Krankheitszuständen vorvorkommt, nachtheilig. Zweitens ist ein bestimmtes Verhält­ niß von Knochenerde und organischer Grundlage erforderlich; ein Ueberwiegen der ersteren macht den Knochen spröde, brüchig, ein zu geringes Quantum biegsam, also weniger tragfähig. Das zweite Moment ist die feine Struktur der Knochensubstanz, das Verhältniß von Markräumen und fester Masse und die

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17. Die Bewegungsmechanismen.

Anordnung derselben (siehe Kollmann, die Mechanik des Körpers), der grobe Aufbau der Knochen, so bei Röhren­ knochen die Wandstärke, bei schwammigen Knochen die Dicke der compakten Rindenschichte rc. Endlich kommt die Stärke des Querschnittes in Betracht. Ein weiterer Punkt bei den Knochen sind die Hebelverhältnisse: in dieser Beziehung kommt hauptsächlich die Länge des Knochens in Betracht; ein Mensch mit langen Knochen wird in der Richtung der Geschwindigkeit mehr leisten, während bei gedrungenen Figuren die Knochen als Krafthebel relativ mehr zu leisten vermögen. Weiter, bei gleicher Länge kommt die Lage des Muskelansatzes in Betracht: ist derselbe dem Lastpunkt näher gerückt, so gewinnt der Apparat an Kraft, ist er dem Unterstützungspunkt näher, so verliert er an Kraft, aber gewinnt an Geschwindigkeit. Die höchste Leistungsfähigkeit, nämlich eine Zunahme von Kraft ohne Be­ einträchtigung der Geschwindigkeit wird erreicht, wenn die Ansatzpunkte des Muskels beziehungsweise der Sehne sich weiter von der Längsachse des Knochens entfernen, da­ durch, daß sie sich als ein Knochenvorsprung erheben. Da­ durch wird der Knochen in einen Winkelhebel verwandelt, bei welchem weniger • Kraft durch Gelenkpressung verloren geht. Starke Entwicklung dieser Knochenvorsprünge ist deshalb ein sicheres Zeichen einer hohen Lei­ stungsfähigkeit des betreffenden Theiles. Ein weiterer Faktor der Arbeitsfähigkeit ist die Be­ weglichkeit der Knochen, die von der Beschaffenheit der Gelenke abhängt. Hier hindert jede Rauhigkeit der an einander schleifenden Gelenkknorpel oder zu geringe Dehn­ barkeit der Kapseln: sie consumiren Muskelkraft und erzeugen echauffirende Reibungswärme. Auf der andern Seite sollen die Gelenke auch die nöthige Sicherheit der Bewegung garantiren. Diese wird sofort beeinträchtigt, wenn die Zu-

17, Die Bewcgungsmechanisinen.

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sanimenpressung der Gelenkenden durch Schwächung oder Dehnung der Gelenkbänder oder durch wässrigen Erguß in die Gelenkhöhle, welche die Zusammenpressung durch den Luftdruck aufhebt, gemindert wird. Bei den Muskeln hängt die Leistungsfähigkeit in erster Linie von der Erregungsfähigkeit desselben ab: je größer diese ist, um so rascher und um so energischer ziehen sie sich zusammen, und darauf beruht die Schnellkraft des Mus­ kels. Wir wissen nun aus den Erläuterungen auf S. 63, daß Zunahme des Wasser- und Fettgehaltes die Erregbarkeit beeinträchtigt, Zunahme des Gehalts an Eiweiß sie erhöht, also je eiweißreicher ein Muskel, um so schnellkräftiger ist er. Der gleiche Umstand, nämlich hoher Eiweißreichthum, bedingt auch die Tragfähigkeit eines Muskels, die ein zweiter Faktor bei der Leistungsfähigkeit ist. Der Grad der Erregungsfähigkeit bestimmt noch in anderer Weise die Arbeitsfähigkeit. Wir haben oben gesehen, daß alle Arbeiten auf der abwechselnden Thätigkeit von antagonistischen Muskelgruppen beruhen. Der Rhythmus der Abwechslung hängt nun insofern von der Erregungs­ fähigkeit ab: da die Zusammenziehung der einen Muskel­ gruppe eine Dehnung der antagonistischen hervorruft, so muß sie, falls nicht Kraftverschwendung mit Erhitzung ein­ treten soll, warten, bis der Antagonist aus der Phase der Zusammenziehung in die der völligen Erschlaffung eingetreten ist, kurz, bis dessen Zuckung abgelaufen ist, und das bestimmt das natürliche Arbeitstempo. Da nun bei erhöhter Erregungsfähigkeit die Zuckung rascher abläuft als bei ge­ ringer, so ist das ein Gewinn für die Arbeitsgeschwindigkeit: das natürliche Arbeitstempo ist höher. Ein weiterer Punkt bei der Leistungsfähigkeit des Mus­ kels ist das Maß der äußeren Widerstände, die er bei der Zusammenziehung findet. Hiebei handelt es sich um

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18. Der Seelenmcchanismus.

zweierlei: 1. muß er frei von Hindernissen für die Ver­ kürzung d. h. gegen seine Nachbarn frei verschieblich sein, 2. da er sich bei der Verkürzung verdickt, so muß er mög­ lichst frei von Seitendruck sein. In dieser Beziehung ist das Zellgewebs- und Unterhautfett besonders nachtheilig, indem das den Seitendruck vermehrt. Auch die Beschaffenheit der Haut ist durchaus nicht ohne Einfluß: Ein Mensch mit prall gespannter und wenig verschieblicher Haut ist entschieden weniger leistungsfähig als ein solcher, bei dem die Haut schlaffer, dehnbarer und verschieblicher ist. Die Bedingungen der Ausdauer, mit welcher ein Be­ wegungsapparat arbeitet, sind noch so gut wie nicht studirt. Jedenfalls sind hier nicht blos die Erregungsverhältnisse der Mustelsubstanz und ihre Aktionsfrcihcit maßgebend, sondern auch noch die genügende Entwicklung und Funktionirung des Blutgefäßnetzes, weil von dem Durchblutungsmaß nicht blos der Stoffnachschub, sondern auch die Ausgiebigkeit der Aus­ waschung der Ermüdungsstoffe abhängt.

18. Der Seelenmechanismus. Dieser Theil des Thätigkeitsapparates, der nur von dem Großgehirn beziehungsweise dessen Hemisphären gebildet wird, ist ein reiner Molekularmechanismus und ge­ bildet von leitenden Nervenfasern und Ganglienzellen, ohne jede Betheiligung von contraktilen Gebilden. Er zeigt eine deutliche Zusammensetzung nach dem Prinzip des „tres faciunt collegium“, diesem obersten und vollkommensten Prinzip jeder Organisation, nämlich zwei gleichwerthigen d. h. coordinirten Theilen: 1. einem sensitiven, der sich an die Sinnesmecha­ nismen anschließt; 2. einem motorischen, bewegungsauslösen-

18. Dcr Seelcnmechanismus.

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ben, der in näherer Verbindung mit den Bewegungsapparaten steht, und d. einem den zwei vorhergehenden übergeordneten, die Thätigkeit und die Verknüpfung der beiden ersten beherr­ schenden und regulirenden, die Einheit des gesarnrnten will­ kürlichen Mechanismus repräsentirenden Theil, den wir das Bewußtsein nennen. Beschäftigen wir uns zuerst mit dem motorischen Theil und fragen zuerst nach dessen Inhalt. Hierauf gibt uns das physiologische Experiment am Objekt keine Antwort, wohl aber die Beobachtung am Subjekt d. h. die Selbst­ beobachtung, indem wir uns fragen: was geht dem will­ kürlichen Handeln stets voraus? Die Antwort ist: ein sogenanntes Gemeingefühl d. h. ein Gefühl, welches von dem später zu besprechenden Bewußtsein als eine Zu­ standsveränderung des eigenen Körpers gedeutet wird. Z. B. die Thätigkeit der Nahrungsaufnahme wird ausgelöst durch ein Gemeingefühl, das wir Hunger nennen, die Geschlechts­ thätigkeit veranlaßt durch das Wollustgefühl; die Flucht­ bewegung ist die Folge des Angstgefühls u. s w. Betrachten wir nun die verschiedenen Gemeingefühle, so zeigt sich auch hier der Antagonismus und zwar doppelt, einmal in der Wirkung auf das Bewußtsein und dann in der aus die motorischen Seelencentra. In ersterer Richtung theilen wir alle Gemeingefühle in Lustgefühle und Un­ lustgefühle, und hiebei liegt die Sache so, daß jedem be­ stimmten Lustgefühl ein bestimmtes Unlustgefühl als Anta­ gonist gegenübersteht: z. B. dem Hunger das Sättigungs­ gefühl, dem Müdigkeitsgefühl das Kraftgefühl, dem Ekelgefühl das Lüsternheits- oder Appetitgefühl, dem Angstgefühl das Muthgefühl, der Trauer die Freude, dem Haß die Liebe, der Antipathie die Sympathie re. In der Richtung des Bewegungsmechanismus knüpft der Antagonismus der Gemeingefühle unmittelbar an die

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18. Der Seelenmechanismus.

Antagonismen an, die wir in ersterem kennen gelernt haben, und zwar in zweierlei Weise: der eine Gegensatz ist der von Hemmung und Beschleunigung, d. h. während das eine Gefühl zur Thätigkeit anspornt, „excitirend" wirkt, ist der Einfluß seines Partners ein thätigkeitshemmender, „deprimirender". Im allgemeinen wirken die Lustgefühle thätigkeitsauslösend, die Unlustgefühle thätigkeitshemmend; doch ist es auch manchmal umgekehrt, z. B. das Unlustgefühl des Hungers wirkt thätigkeitsauslösend, das Sättigungsgefühl thätigkeitshemmend. Die andere Aeußerungsweise des Anta­ gonismus ist die, daß das eine Gemeingefühl eine bestimmte Bewegung z. B. das Ergreifen, sein Partner die entgegen­ gesetzte d. h. das Wegwerfen hervorruft. Namentlich wird hier häufig an den Antagonismus zwischen Beugemuskeln und Streckmuskeln angeknüpft; z. B. das Muthgefühl erregt die Streckmuskeln des Rumpfes, sein Antagonist, das Angst­ gefühl, die Beugemuskeln, ebenso der Ekel die Streckmuskeln („den Halsstrecken"), das Appetitgefühl die greifenden Beuge­ muskeln; die Trauer verschafft den Beuge- und Schließ­ muskeln die Oberhand, die Freude den Streck- und Oeffnungsmuskeln. Wenden wir uns jetzt zu der sensitiven Seite des Seelen­ mechanismus. Den Inhalt dieses Theils bilden die Empfin­ dungen und Erfahrungen. Der Unterschied zwischen den ersteren und den Gemeingefühlen besteht darin, daß wir die Ursache der Empfindungen in die Außenwelt verlegen d. h. mit einer Vorstellung verbinden, während wir die Ursache eines Gemeingefühls als eine Zustandsveränderung unserer selbst d. h. eines unserer Körpertheile oder des Gesammtkörpers auffassen. Ein zweiter Unterschied ist, daß die Empfindungen eine sehr feine Unterscheidbarkeitsseala besitzen, die Gemeingefühle eine ziemlich rohe.

18. Der Seelenmechanismus.

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Aus den Versuchen Weber's geht hervor, daß eine Empfindung nur eintritt, wenn die natürlichen peripherischen Enden eines Sinnesnerven gereizt werden, daß dagegen eine "Reizung des Nerven in seinem Verlauf nur ein von der betreffenden Sinnesempfindung gänzlich verschiedenes Ge­ meingefühl, den Schmerz, erzeugt, dessen Ursache wir aber an das natürliche Ende des Nerven hinausverlegen. Als Beispiel diene der folgende von Weber zuerst gemachte Versuch: Wenn wir unsern Ellbogen in eiskaltes Wasser tauchen, so entsteht zuerst an der vom Wasser berührten Hautstelle eine wahre Empfindung durch die Erregung der dort sich verbreitenden Hautnerven; nach einiger Zeit dringt die Kälte bis zu dem unter der Haut liegenden Nervenstamme, dessen Enden im Außenrand von Hand und Vorderarm sich ver­ breiten. Die Erregung dieses Nervenstammes durch die Kälte ruft Schmerz hervor, aber wir empfinden denselben nicht am Ellbogen, sondern am Außenrand von Hand und Unterarm. Dies ist derselbe Nerv, der bei einem unge­ schickten Anschlägen des Ellbogen getroffen werden kann, was gleichfalls nicht am Ellbogen, sondern am Außenrand der Hand als Schmerz empfunden wird: das sogenannte „Vorfahren des Mäuschens". Betrachten wir den Zusammenhang der Empfindungen mit dem motorischen Theil des Thätigkeitsmechanismus, so stoßen wir auf den gleichen Antagonismus wie bei den Gemeingesühlen, indem wir sie in angenehme und unangenehme scheiden. Die Sache ist aber hier so: Die Empfindung ist nicht an und für sich angenehm oder unangenehm, sie wird es erst dadurch, daß sich zu der ersteren ein Gemeingefühl vom Charakter des Lustgefühls, zu den letzteren ein Unlustgefühl gesellt, und daraus ergibt sich eine dritte Kategorie von Empfindungen, die indiffe-

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18. Der Seelenmcchanismus.

reuten: das sind solche, welche keinerlei Gemeingefühle Hervorrufen. Nach der entgegengesetzten Seite hin zerlegen sich die Empfindungen in Licht-, Schall-, Geruch-, Geschmack-, Druck- und Wärme-Empfindungen, räumliche Vorstel­ lungen und Muskelgesühle. Diese Sonderung ist darauf zurückzuführen, daß der Sinnesmechanismus in eine Reihe spezifischer Mechanismen, die Sinnesorgane, zerfällt, worüber wir weiter unten sprechen werden. Fragen wir nun nach der Construktion des Empfindungsmechanismus, so lehrt uns die Selbstbeobachtung — eine andere Untersuchungsmethode gibt es hier nicht —, daß die Enlpfindungscenträ in sehr mannigfacher Weise mit ein­ ander verknüpft sind und zwar nach den Prinzipien des Miteinander, des Nacheinander, der Aehnlichkeit und des Eon traft es. Diese Verknüpfung gibt sich darin kund, daß ein Sinnesreiz niemals nur die ihm adäquate Empfindung hervorruft, sondern stets noch eine Reihe ander­ artiger, die mit der primären ein Ensemble, eine Vorstel­ lung, bilden. Wir können das so ausdrücken. Die einzelnen Empfindungscentra sind durch leitende Fasern zu VorstellungsMechanismen verbunden. Dieser Mechanismus ist rein auf dem Wege der Erfahrung erzeugt, denn die Vorstellung entspricht einem Gegenstand der Außen­ welt und enthält alle die einzelnen Qualitäten, die wir mittelst unserer Sinneswerkzeuge an ihm im Laufe der Zelt kennen gelernt haben; z. B. wenn wir einen Pfiff hören, so wird damit nicht blos die Empfindung eines Tones von bestimmter Höhe, Stärke und Klangfarbe erzeugt, sondern

sofort die Vorstellung eines pfeifenden Gegenstandes ganz bestimmter Art, einer Lokomotive, eines Vogels, eines Menschen rc. Ja wenn es z. B. ein Vogel ist, so wird bei einem Vogelkenner eine Vorstellung erzeugt, welche einem

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18. Der Seelemnechanismus.

ganz bestimmten Vogel nach Größe, Form, Farbe, Zeich­ nung, Stimme und Namen entspricht. Solcher Vorstellungsmechanismen, die aus einer Gruppe verschiedenartiger Empfindungscentra zusammengesetzt sind, enthält der Empfindungsmechanismus eine staunenswerthe Zahl, nämlich ebensoviel als der betreffende Mensch Gegen­ stände der Außenwelt kennen und zu unterscheiden gelernt hat. Diese Vorstellungsmechanismen sind wieder mit einander zu Mechanismen höherer Ordnung verknüpft und zwar so, daß die Erregung eines bestimmten Vorstellungsmechanismus auf die mit ihm verknüpften übergehen d. h. auch sie er­ regen kann. Dieser Verband gehorcht 1. dem Prinzip des Nebeneinander (zeitlich und räumlich), z. B. wenn beim Betreten eines Zimmers der Duft einer Rose die Vorstellung einer Rose hervorruft, so entsteht auch die des Blumentopfes, des Blumentisches rc.; 2. dem Prinzip des Nacheinander, z. B. der Anblick einer Gewitterwolke ruft nicht blos die Vorstellung des Blitzes, sondern auch die des ihm folgenden Donners hervor; 3. dem Prinzip der Aehnlichkeit. Dieses spielt eine ungemein große Rolle. Einmal sind Vorstellungen, die einen ähnlichen Inhalt haben, zu Collektivmechanismen verknüpft. Die Vorstellungen Vogel, Baum, Strauch, Insekt, Stein entspringen der Erregung von Mechanismen, welche aus einer großen Menge von einzelnen Vorstellungs­ mechanismen gebildet sind. Bei der Art, wie sich die letzteren zu Collektivmechanismen verknüpfen, unterscheiden wir zweierlei: die associationsmäßige und und die begriffsmäßige. Die erste ist die einfachere, primäre, d. h. sie tritt beim Kind zuerst auf und spielt beim Ungebildeten oder in dem be­ treffenden Fach Ungeschulten die Hauptrolle. Bei ihr sind eben die einzelnen Vorstellungen coordinativ neben einander gestellt, bilden gewissermaßen eine Reihe. Bei der zweiten, der begriffsmäßigen Zusammenfassung, bilden sie ein Jager, die menschliche Arbeitskraft.

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18. Der Seelenmechanismus.

systematisches, nach dem Aehnlichkeitsgrade abgestuftes Ganze, bei welchem Begriffe niederer Ordnung wieder zu solchen höherer Ordnung und so fort zusammengefaßt sind. Neben dieser collektiven Zusammenfassung der Vorstellungs­ mechanismen sehen wir sie nach dem Prinzip der Ähnlichkeit auch noch mit den Abstraktionsmechanismen verknüpft; z. B. es gibt viele Objekte, die in der Farbe einander ähn­ lich z. B. grün sind, indem nun alle Grünempfindungscentra mit einander verknüpft sind, ist eine mechanische Verbindung aller Einzelnvorstellungen gegeben, in denen die Einzelnvor­ stellung des Grünen enthalten ist. Diese Art von Verbindung äußert sich in dem, was der Logiker ein Urtheil nennt. Z. B. der Baurn ist grün, der Hund bellt; wir können also einen solchen aus einem Concretum und einem Abstraktum zusammengesetzten Doppelmechanismus einen Urtheils­ mechanismus nennen, und ein Mechanismus noch höherer Ordnung, den mehrere Urtheilsmechanismen mit einander bilden, ist der Schlußmechanismus. 4. Das letzte Verknüpsnngsprinzip ist das des Contrastes; z. B. die Vor­ stellung von Schwarz ruft leicht auch die von Weiß hervor, und ebenso verhalten sich die Vorstellungen von Licht und Schatten, Tag und Nacht, Glück und Unglück rc.: Contrastmechanismen. Eine besondere Besprechung verdient bei der Verknüpfung der Vorstellungsmechanismen der für den Menschen durch­ aus charakteristische, den Thieren fehlende Inhalt des Seelen­

mechanismus: der Wortvorrath. Aus den Erscheinungen der als Aphasie bezeichneten Krankheit wissen wir, daß die Wortherde nicht in dem gleichen Gehirntheil liegen wie die Vorstellungsherde, und daß die sie verbindenden Fasern durch die linke sylvische Spalte gehen. Die psychologische Beobachtung lehrt uns nun, daß die Vorstellungsherde, und zwar sowohl die concreten als die

18 Der Seelcmnechanismus.

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abstrakten, und alle Mechanismen höherer Ordnung mit einem Wortcentrum verknüpft sein können, und daß, wenn dies der Fall ist, die Erregung dieser Mechanismen eine viel vollständigere, gleichmäßigere und schärfer begränzte ist, und daß eine erfahrungsgemäße Verknüpfung von Empfindungs­ herden auch viel dauerhafter ist, wenn sie mit einem Wort­ herd in Verbindung gebracht ist. Die Leitungsbahnen, welche die Vorstellungsherde und die Worthcrde mit einander verknüpfen, leiten wie alle solche Bahnen die Erregung nach beiden Richtungen, so daß von der Vorstellung aus der Wortherd und vom Wortherd aus die Vorstellung wachgerufen wird. Die Wortherde ihrerseits sind wieder in leitender Verbindung nach der sensi­ tiven Seite mit dem Gehörorgan und bei Leuten, die lesen können, auch mit dem Gesichtsorgan, nach der motorischen Seite mit dem Sprechapparat und Schreibapparat verbunden. Wir haben nun von dem Seelenmechanismus zwei Theile, seinen motorischen, die Gemeingefühle enthaltenden, und seinen sensitiven, die Empfindungen und Erfahrungen ber­ genden, kennen gelernt. Hiezu kommt als drittes, oberstes, als Spiritus rector des ganzen Mechanismus das Bewußt­ sein. Bei ihm handelt es sich nicht um ein Zusammen­ gesetztsein aus Mechanismen niederer Ordnung, wie bei den Empfindungs- und Gemeingefühlmechanismen, 'sondern um eine Einheit, aber um eine allgegenwärtige d. h. mit allen übrigen Seelenmechanismen in leitender Verbindung stehende, so daß der Bewußtseinsherd von jedem Seelenmechanisund umgekehrt jeder Seelenmechanismus von dem Bewußt­ sein aus beeinflußt werden kann. Den Erregungszustand des Bewußtseins nennen wir die Aufmerksamkeit. Das eigenartige dieser Funktion des Bewußtseins besteht nun darin, daß stets nur Ein Punkt desselben sich im Zustand der Aufmerksamkeit be­ iß*

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18. Der Seelemuechauismus.

findet. Dieser Punkt kann zwar seinen Ort wechseln und zwar mit großer Schnelligkeit, allein nie können zwei Stellen zugleich im Zustand der Aufmerksamkeit sich befinden, was jeder Leser leicht an sich beobachten kann: man ist nie im Stande, seine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf zwei Vorstel­ lungen oder Thätigkeiten zu richten. Beim Versuch hiezu wird man merken, daß man es nur zu einem raschen Hinund Herschwanken der Aufmerksamkeit von einem zum andern Punkt bringen kann. Den Zustand, in welchem das Bewußtsein nicht erregt ist, nennen wir den der Geistesabwesenheit. Da die Thä­ tigkeit des Aufmerkens stets auf einen Punkt beschränkt ist, so befinden sich die übrigen Theile des Bewußtseins im Zu­ stand der Geistesabwesenheit. Der Unterschied ist folgender: Wird ein Seelenmechanismus durch einen Sinnesreiz irr Erregung versetzt, während die Aufmerksamkeit nicht auf ihn gerichtet ist, so kommt die Erregung entweder gar nicht zum Bewußtsein, sie wird von ihm ignorirt, oder sehr ver­ spätet, und dann nur unvollkommen, wenn sich nämlich erst nachträglich, ehe die Erregung ausgeklungen hat, die Auf­ merksamkeit ihm zuwendet — „man meint etwas gehört odergesehen zu haben". Wird dagegen ein Seelenmechanismus erregt, während die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet ist, so kommt die Erregung voll, deutlich und rasch zum Bewußt­ sein. Eine weitere Erscheinung ist, daß die Concentrirung der Aufmerksamkeit auf einen Seelenmechanismus diesen, ohne daß es eines äußeren Anstoßes bedarf, in Erregung, versetzt; deshalb ist die Aufmerksamkeit stets von Vorstel­ lungen begleitet, weil überall wo sie ist sich auch ein Vor­ stellungsmechanismus befindet, den sie erregt. Umgekehrt wird das Bewußtsein auch durch die Empfiudungsmechanismen beeinflußt. Wird nämlich durch einen Sinnesreiz ein Vorstellungsmechanismus in Erregung ver-

18. Der Scelemnechcmismus.

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setzt,, so lenkt er die Aufmerksamkeit des Bewußtseins auf sich und zieht sie natürlich damit von dem Ort, wo sie früher war, ab, weil sie ja immer nur an Einem Punkt thätig sein kann. Bei diesen Verschiebungen der Aufmerksamkeit gilt folgende Regel: Das Bewußtsein ist dem früher erör­ terten Gesetz der Ermüdung und Erholung unterworfen. Durch anhaltende Bethätigung der Aufmerksamkeit an einem Punkt tritt hier Ermüdung ein, und das hat zur Folge, daß die Aufmerksamkeit hier erlahmt und mithin jetzt viel leichter an eine andere Stelle, die sich mittlerweile erholt hat, ver­ schoben werden kann. Andrerseits: je intensiver die Auf­ merksamkeit an einem Ort des Bewußtseins ist, um so größer ist die Geistesabwesenheit im übrigen Gebiet und um so schwieriger gelingt es, die Aufmerksamkeit von dem jeweiligen Punkt ab und auf einen anderen zu ziehen. Umgekehrt, wenn ein Mensch im Augenblick keine erhebliche Aufmerkkhätigkeit entfaltet, so gelingt es leicht, sie auf irgend welchem Punkt hervorzurufen. Fragen wir jetzt, wovon die Leistungsfähigkeit des seelischen Apparates abhängt, so stehen natürlich hier die Verhältnisse der Erregbarkeit der Nervenbahnen und Centralganglien obenan. Wir nennen einen Menschen eine torpide Natur, wenn die Erregung des Seelenapparates schwer zu Stande kommt, wenn es also kräftigerer Anstöße bedarf als bei den lebhaften, erregbareren Naturen. Weiter hängt davon die Ausdehnung ab, welche die Erregung an­ nimmt: Bei torpiden Naturen wird unter sonst gleichen Umständen eine geringere Zahl von Vorstellungs- und Denk­ mechanismen in Erregung gesetzt als bei erregbareren; die Denkoperationen sind beim ersteren dürftig, beim letzteren umfangreich. Nebelt der Extensität leidet durch mindere Erregbarkeit auch die Intensität: die Denkakte sind schwach. Nach der motorischen Seite hin fallen beim erreg-

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18. Der Seelenmechanismus.

bareren Menschen die Gemeingefühle lebhafter, die Hand­ lungen energischer aus und der Bewegungsreiz breitet sich auf eine größere Zahl von Bewegungsapparaten aus als beim torpiden Menschen. Dies zeigt sich namentlich darin, daß beim Erregbareren die unwillkürlichen Mitbewegungen viel häufiger Vorkommen und lebhafter sind. Ist mit der größeren Erregbarkeit auch eine größere Leitungsfähigkeit für den Erregungsvorgang verbunden, so gewinnt die Leistung des Apparates an Schnelligkeit, und das ist der höchste Zustand der Leistungsfähigkeit. Wir wissen nun aber (siehe S. 63), daß die Verbindung dieser beiden Seiten der Erregbarkeitsverhältnisse durchaus keine selbstverständliche ist; denn wir haben dort gesehen, daß Zunahme des Wassergehalts bei der Nervensub­ stanz die Erregbarkeit erhöht, dagegen die Leitungsfähigkeit für den Erregungsvorgang vermindert. Diese Veränderung äußert sich am Seelenapparat in sehr störender Weise, sie schafft den Zustand der krank­ haften Reizbarkeit oder Nervosität. Hierüber sei folgendes nähere angegeben. Es läßt sich am Seelenapparat gut beobachten, daß jede Hemmung der Erregungsleitung die Erregungsstärke ver­ mehrt: indem sie in der Entladung auf den vorgeschriebenen Bahnen gehemmt ist, bildet sich ein gewisser Spannungszu­ stand, der dann der Entladung den Charakter des Explo­ siven gibt. Bei den Explosionen erfolgen die Entladungen meist nicht blos in der beabsichtigten Richtung, sondern auch in anderen Richtungen, die nicht beabsichtigt sind; es treten zweckwidrige oder unnöthige Mitbewegungen ein. Besonders störend ist, daß die Antagonismen nicht mehr richtig und prompt zusammen arbeiten. Wo es sich um regulative Vor­ richtungen von Hemmung und Beschleunigung handelt, sehen wir unregelmäßige Störung ihres Gleichgewichtes. Ob-

18. Der Seelenmechamsmus.

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jektiv läßt sich das besonders deutlich an den Hilfsmechanismen, insbesondere dem Herzen beobachten, wo bald die Beschleunigung, bald die Hemmung überwiegt. Im Seelen­ apparat zeigt es sich an der Störung im Gleichgewicht der antagonistischen Gemeingefühle, es tritt ein unstäter Wechsel zwischen Lust- und Unlustgefühlen ein. Im Bewegungs­ apparat zeigt das Zittern und das Auftreten von Krämpfen,

daß die Hemmungscentra ihren Einfluß nicht mehr genügend zur Geltung bringen können, und plötzliche Schwächungen der Muskelkraft rühren von Hemmungen in den Beschleu­ nigungsnerven her. Besonders deutlich tritt der Zustand auch im Sprachmechanismus zu Tage: man findet für die Vorstellungen die zugehörigen Worte nicht, weil auf der leitenden Bahn eine Hemmung ist, und die der Hemmung folgenden explosiven Entladungen treffen dann oft das falsche Wort: der Fluß der Gedanken ist gehemmt; oder er schlägt bei der Entladung falsche Bahnen ein, und im Bewußtsein äußert es sich in den Störungen in der Aufmerkethätigkeit: die Verschie­ bungen des Aufmerksamkeitspunktes stoßen auf Hemmnisse rc: Da wir nun wissen, daß einfache Steigerung des Wasser­ gehaltes diesen eben geschilderten Zustand der Indisposition

und Nervosität hervorruft, so istWasseraufstauung imGewebe des Gehirns der größte Feind der geistigen Arbeit, und dies erklärt, warum alles, was die Wasseraufstau­ ung begünstigt, wie Behinderung der Hautausdünstung bei feuchter Witterung, unzweckmäßiger Kleidung, Aufenthalt in ge­ schlossenen Räumen, dann Behinderung der Wasserabgabe durch die Athmung, bei anhaltender Schwachathmung, übermäßiger Genuß von Getränken, namentlich solchen, welche nicht ge­ nügend auf den Harn treiben, die geistige Arbeitsfähigkeit empfindlich beeinträchtigt, während umgekehrt alles ihr förder­ lich ist, was der Wasseraufstauung entgegenwirkt, wie eiweiß­ reiche Nahrung, genügende Ventilation der Wohnräume,

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18. Der Seelenmechanismus.

Aufenthalt in freier, bewegter, trockener die Verdunstung fördernder Lust, Schwitzbäder, Beschäftigungen, welche Tiefathmungen und Schweißerguß Hervorrufen. Wie wir weiter wissen, ist der Gehalt an Sauerstoff ein Hauptsaktor der Erregbarkeit; wenn also mit Abnahme der Eiweißstoffe in der Nervensubstanz die Fähigkeit zur Sauerstoffaufspeicherung abnimmt, wenn durch Verarmung des. Blutes an rothen Blutkörperchen der Nachschub von Sauerstoff spärlicher wird, so leidet die geistige Arbeits­ fähigkeit sofort, namentlich an Energie und Ausdauer. Ein weiteres stoffliches Moment bildet die Zufuhr der spezifischen Nervina, d. h. von Stoffen, welche die Erreg­ barkeit der Nervensubstanz erhöhen. Hieher gehören namentlich gewisse Alkaloide, unter denen das im Thee und Kaffee vorkommende, längst von Praxis erprobte Caffe'in, und dann das Carnin des Fleischextraktes die zuträglichsten sind. Ihr Genuß steigert die Reflexerregbarkeit und die Erregbarkeit des Seelenapparates sehr beträchtlich; allerdings ist dann auch die nachfolgende Tiefe der Ermüdung größer. In hohem Grade ist die Arbeitsfähigkeit des Seelen­ apparates von der Kreislaufmechanik ubhängig, indem Ver­

änderungen des Blutdruckes sofort die Erregungsverhältnisse beeinträchtigen. Steigerung desselben bringt zunächst eine Erhöhung der Erregbarkeit und erhöhte Leistungsfähigkeit hervor, aber bei weiterer Steigerung sehen wir den Zu­ stand der Nervosität, wie er oben geschildert wurde, eintreten, nämlich Steigerung der Erregbarkeit mit Störung der Lei­ tungsfähigkeit gepaart, und zwar tritt die Hemmung um so stärker hervor, je höher der Blutdruck steigt, bis zu völliger Vernichtung der Leitungsfähigkeit also Bewußtlosigkeit. Bei Abnahme des Blutdruckes haben die Erscheinungen den Charakter der Lähmung: Vergehen der Sinne, Schwach­ werden der Muskelinnervatiou, Ohnmacht rc.

18. Der Seelenmechanismus.

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Weiter handelt es sich nicht blos um das absolute Maß -es Blutdruckes, sondern auch hauptsächlich um die Schwan­ kungen desselben, wobei sowohl die Geschwindigkeit als der Betrag der Schwankung wichtig ist: Schwankung nach auf­ wärts wirkt erregend, Schwankung nach abwärts lähmend, um so stärker, je rascher und bedeutender sie ist. Alle die Schwankungen sind störend für die seelischen Verrichtungen, namentlich für die Denkarbeit; diese verlangt möglichste Gleichmäßigkeit eines mäßigen Blutdruckes. Kaltblütige, ruhige Naturen, bei welchen solche Schwankungen selten vorkommen, haben deshalb unter sonst gleichen Verhältnissen eine größere geistige Arbeitsfähigkeit, namentlich in Bezug auf Ausdauer, als heißblütige, leidenschaftliche, weil letztere ihre Kräfte rasch und zum Theil auf effektlose Mit­ bewegungen ausgeben. Ob jemand eine ruhige oder eine leidenschaftliche Natur ist, hängt natürlich einmal von der Solidität der Herzregulirungscentra ab, namentlich prompter Leitungsfähigkeit derselben (richtiger Wassergehalt), dann aber auch von einem morphologischen Charakter, nämlich von dem relativen Mstand von Herz und Gehirn. Wir sehen nämlich, daß kleine Leute durchschnittlich heißblütiger und leidenschaftlicher sind als hochgewachsene, und derselbe Gegensatz besteht zwischen kurzhalsigen und langhalsigen. Da die Blutgefäße elastische Röhren sind, so ist klar, daß Druckschwankungen am Ende einer langen Leitung weniger energisch und weniger rasch ausfallen als in einer kurzen. Weiter ist von Einfluß eben die Elasticität der Gefäße: sind diese starr, schwer dehnbar, so pflanzen sich Schwan­ kungen des Herzdruckes sehr rasch und ausgiebig in die Peripherie fort, während bei größerer Dehnbarkeit die Er­

weiterung den Schwankungen entgegenwirkt. In derselben Weise arbeiten nämlich auch die vasomotorischen Regulirungs-

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18. Der Seclenmechanismus.

Vorrichtungen: ein Mensch, dessen Gefäße in beiden Rich­ tungen prompt arbeiten, wird seltener in leidenschaftliche Erregung verfallen als ein Mensch mit engen, starren, schlecht regulirten Schlagadern. Ein weiterer Faktor bei der Arbeitsfähigkeit des Seelen­ mechanismus ist der quantitative: je größer die Zahl der Vorstellungsherde und Wortherde, um so größer ist die Intelligenz, um so vielseitiger und um so zielbewußter und zweckmäßiger wird die Arbeit ausfallen. Da diese Mecha­ nismen einen bestimmten Raum einnehmen, so wächst die Leistungsfähigkeit des Seelenapparates mit der Masse des Großhirns; da weiter die Seelenmechanismen speziell in der Rinde des großen Gehirns liegen, so muß die Zahl der­ selben ganz besonders mit der Flächenentwicklung der Hirn­ rinde zunehmen, diese wächst nun zwar schon mit dem Hirn­ volum, aber noch ausgiebiger, wenn sie sich faltet; deshalb ist der Reichthum an Hirnwindungen ein charakteristisches Zeichen für ein leistungsfähiges Seelenorgan. In qualitativer Beziehung hängt die Leistung von der Sicherheit der Funktion der Seelenmechanismen ab, auf der die Qualitäten des Gedächtnisses beruhen. Je besser fixirt das Erregungsnachbild, d. h. je schärfer, treuer und zäher das Gedächtniß ist, um so klarer Wörden die Vorstellungen und um so schneller tauchen sie auf. Von großer Wichtigkeit ist die Leitungsfähigkeit der Verknüpfungsbahnen; auf ihr beruht die Sicherheit und Schnelligkeit der Geistesoperationen. Weiter handelt es sich um die Vielseitigkeit der Verknüpfungen, sowohl der coordinativen als der superordinativcn, und endlich um die Leich­ tigkeit, mit der sich neue Verknüpfungen bilden; von letzterem Umstand hängt hauptsächlich die Lernfähigkeit eines Menschen ab, die in der Jugend am größten ist und mit dem Alter successive abnimmt.

19. Die Simresmechamsmen.

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19* Die Sinnesmechanismen. Im allgemeinen wissen wir schon aus S. 240, daß es sich hier um mehrere in ihrer Leistung verschiedene Mecha­ nismen handelt, indem jeder dieser Apparate nur für eine bestimmte, die sogenannte adäquate Reizsorte zugänglich ist und von dieser erregt werden kann: so sind die adäquaten Reize für das Auge Lichtstrahlen, für das Ohr Schallwellen rc. Hiebei kommen also positive und negative Einrichtungen in Betracht. Die negativen bestehen darin, daß allen nicht adäquaten Reizen für gewöhnlich der Zutritt zum reizbaren Theil des Apparates verwehrt ist; z. B. die Sehhaut ist durch ihre Lage und besonderen Schutzapparate vor mechanischer und chemischer Reizung beschützt, ebensowenig kann sie von Schall­ wellen oder Wärmeschwankungen getroffen werden, und da­ durch, daß die durchsichtigen Augenmittel die strahlende Wärme absorbiren, ist sie auch vor ihnen beschützt. Der empfindliche Theil des Hörapparates ist für Lichtstrahlen, Wärmestrahlen, mechanische und chemische Reize ganz unzugänglich; den Ge­ ruchswerkzeugen sind alle Einwirkungen, mit Ausnahme der durch flüchtige der Athmungsluft beigemengte chemische Stoffe, entzogen. Die Geschmacksknospen sind so angebracht, daß sie mechanisch gar nicht, chemisch nur von Stoffen, die in der Mundhöhlenflüssigkeit löslich sind, getroffen werden können, und die Tastkörperchen erfreuen sich einer ähnlich beschützten Situation. Die positive Seite ist, daß Vorrichtungen vorhanden sind, welche den adäquaten Reiz mit Sicherheit zu den percipirenden Nervenenden leiten. So besitzt das Auge licht­ leitende d. h. durchsichtige Theile, das Ohr Schallwellen leitende rc. Die Leistungsfähigkeit eines Sinnesapparates

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19. Die Sinnesmechanismen.

wird sofort beeinträchtigt, wenn die Leitungsfähigkeit dieser Theile gemindert ist, wenn also z. B. die durchsichtigen Theile des Auges trübe werden oder die schallleitenden Theile des Ohres an Leitungsfähigkeit einbüßen, oder wenn durch Ver­ dickung und Verhärtung der Hornschicht der Haut die Fortpflanzung der Wärme und Druckschwankungen zu den Tastnerven erschwert wird, oder wenn die Vorrichtungen, welche einen Theil der Athmungsluft in die oberen von der Riechhaut ausgekleideten Nasengänge leiten, zerstört sind, oder wenn endlich durch Bedeckung der Riechhaut mit einer Wasserschicht oder durch Quellung des Epithels die Riech­ zellen von dem Strom der Athmungsluft nicht mehr getroffen werden können. Der percipirende Theil der Sinnesapparate wird von den sogenannten Sinneszellen (Sehzellen, Hörzellen, Riech­ zellen, Tastzellen ?c.) gebildet. Diese liegen beim Tastsinn auf der ganzen Haut zerstreut, aber so, daß sie an bestimmten Stellen des Körpers, z. B. Fingerspitze und Zungenspitze, ein Maximum von Dichtigkeit, an andern, wie z. B. an der Haut des Rückens, ein Minimum zeigen. Danach richtet sich die sensitive Leistungsfähigkeit der betreffenden Hautfläche: sie ist da am größten, wo die Sinneszellen am dichtesten stehen. Das bezieht sich nicht blos auf die Feinheit der Unterscheidung von gleichzeitigen räumlich getrennten Reiz­ stößen und die Feinheit der räumlichen Orientirung, sondern auch auf die quantitativen: ein Reiz ruft eine um so stärkere Empfindung hervor, je größer die Zahl der von ihm ge­ troffenen Sinneszellen ist. Stecken wir z. B. in das gleiche Gefäß mit warmem Wasser rechts die ganze Hand, links blos einen Finger, so kommt uns das Wasser rechts wärmer vor als links. Der adäquaten Reize für den Tastsinn sind es zweierlei: Wärmeschwankungen und Druckschwankungen. Temperaturen

19. Die Silmcsmechanisinen.

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unter der Hauttemperatur rufen die Empfindung von Kälte, solche, die höher sind, die von Wärme hervor; hohe Kälte­ grade und stärkere Hitzegrade dagegen erzeugen in gleicher Weise brennenden Schmerz. Mit dem Drucksinn messen wir die Ausdehnung des drückenden oder stoßenden Gegenstandes und unterscheiden die Zahl der Reizstöße, aber nur bis zu einer gewissen Geschwindigkeit der Stoßfolge; wird diese über­ schritten und sind die Stöße schwach, so entsteht das Gefühl des Kitzels. Aehnlich zerstreut über größere Flächen sind die RLech­ zet len, sie stehen vereinzelt zwischen gewöhnlichen Gränzzellen. Die Schärfe des Geruchsinnes wächst mit der Aus­ dehnung der Riechhaut d. h. der Zahl der Riechzellen. Wor­ aus die Feinheit des Unterscheidungsvermögens beruht, wissen wir nur in der Richtung, daß Uebung dieselbe erhöht. Beim Geruchsinn spielt der Athmungsapparat die Rolle eines Hilfs­ mechanismus, denn das Zustandekommen der Riechempfindung hängt davon ab, daß die Luft über hie Riechschleimhaut rasch hin und her bewegt wird (Schnüffelbewegung), was durch rasches seichtes Aus- und Einathmen bewerkstelligt wird. Sobald wir den Athem anhalten, findet keine Riechempfin­ dung mehr statt. Beim Geschmacksinn sind die percipirenden Theile die sogenannten Geschmacksknospen, deren jede ein Packet von Geschmackszellen ist. Diese Knospen liegen theils zerstreut, theils auf Geschmacksfeldern gehäuft neben einander, und der Hilfsapparat des Geschmacksorgans ist der Mechanismus der Zunge. Wir schmecken zwar auch ohne dessen Beihilfe, aber wenn der zu schmeckende Stoff auf der Zunge hin und her bewegt, in sie eingerieben wird, so ist die Empfindung deut­ licher und seiner. Bei der Feinheit der Leistung von Geschmack- und Ge­ ruchsinn spielt der Umstand eine wichtige Rolle, daß jeder

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19. Die Sinnesmechanismen.

Schmeck- und Riechstoff eine Nachwirkung hinterläßt, welche für einen nachher zur Perception dargebotenen entweder eine Erhöhung oder Verminderung der Erregbarkeit bildet. Be­ sonders ausgesprochen ist das beim Geschmacksinn. Ueber die Natur der spezifischen Unterschiede in den chemischen Empfindungen wissen wir nichts, dagegen ist bekannt, daß eine Seite des Erfolgs, nämlich ob die Empfindung eine angenehme oder unangenehme oder indifferente ist, individuell außerordentlich verschieden ist. Beim Gehörorgan sind die percipirenden Theile, die Hörzellen, dicht beisammen und bilden ein sogenanntes Hör­ feld. Die Unterscheidung der Töne beruht hier darauf, daß die Hörzellen in systematischer Ordnung mit einer Klaviatur von elastischen schwingungsfähigen, durch eine bestimmte Länge auf eine bestimmte Tonhöhe gestimmten Theilen (Hörsaiten) in Berührung sind. Da eine solche Hörsaite nur schwingt, wenn sie von ihrem Eigenton getroffen wird, so erregen ver­ schiedene Töne auch verschiedene Hörsaiten, mithin auch ver­ schiedene Hörzellen. Die Leistungsfähigkeit des Hörzellenapparates beruht einmal auf der Erregbarkeit der Hörzellen, dann auf der Schwingungsfreiheit der Hörsaiten, also namentlich darauf, ob jede Hörseite frei für sich zu schwingen vermag ohne von ihren Nachbarn gehemmt zu sein oder sie in Mitschwingung setzen zu müssen. Wir können also verstehen, warum Uebung das musikalische Gehör verbessert: es befreit die Hörsaiten, ihre selbständige Beweglichkeit nimmt zu. Helmholz hat gefunden, daß die Zahl der Töne, die wir zu unterscheiden vermögen, mit der Zahl der Hörsaiten in mathematischer Beziehung steht. Als Leitapparate des Gehörorgans sind zu nennen: die Ohrmuschel, welche die Schallwellen auffängt und zum Trommelfell leitet und durch den Besitz von Tastnerven die

19. Die Sinnesmechailismen.

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Entscheidung sichert, ob der Ton von vorn oder von hinten kommt; das Trommelfell, das die Schallwellen mit gleich­ gearteten Transversalschwingungen beantwortet; die Gehör­ knöchelchen, welche die Schwingungen des Trommelfells, mit dem sie verbunden sind, mitmachen und auf die Flüssigkeit übertragen, die über der Hörklaviatur steht: sie verwandelt sie in Wasserwellen, die über die Klaviatur hinstreichen und die Hörsaiten in Bewegung versetzen. Außerdem erfüllen die Gehörknöchelchen dadurch, daß sie gegen einander beweg­ lich sind, die Aufgabe, die Spannung des Trommelfells be­ liebig zu ändern und dadurch als Dämpfer zu wirken, indem vermehrte Spannung die Ausgiebigkeit der Transversal­ schwingungen des Trommelfells schwächt und damit die Wir­ kung stärkerer Schallwellen mindert. Bei der Leistungs­ fähigkeit des Trommelfells spielt noch die Freiheit der Luftcommunication zwischen der hinter dem Trommelfell liegenden Trommelhöhle mit der Lust der Nasengänge durch den Kanal (Ohrtrompete) eine wichtige Rolle, denn sobald diese Communikation unterbrochen ist, so bildet der elastische WiderstMid der in der Trommelhöhle eingeschlossenen Luft ein Hinderniß für die Schwingungen des Trommelfells, was so­ fort Schwerhörigkeit zur Folge hat. Die erregbaren Theile des Auges, die Sehstäbe und Sehzapfen, sind zu einem einzigen Sinnesepithel, der Seh­ haut, zusammengefaßt, die mithin eine Mosaik aus Sehzellen bildet. Die Erregung der Sehzellen ist nach den neuesten Forschungen in erster Instanz ein photochemischer Vorgang: in der an die Sehhaut anstoßenden, einen schwarzen Farb­ stoff enthaltenden Pigmenthaut wird ein rother Farbstoff, das Sehroth, erzeugt, das in die Sehzellen eindringt. Dieses Sehroth ist ein in hohem Grade lichtempfindlicher Stoff, der durch die Lichtstrahlen chemisch zersetzt wird, und zwar durch verschiedenfarbiges Licht auch in verschiedener Weise, auf

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19. Die Sinnesmcchcmisineu.

welch letzteren Umstand die Unterscheidung der verschiedenen Farben zurückzuführen ist. In der Dunkelheit beladen sich die Sehstäbe mit neuem Sehroth, so daß die Dunkelheits­ pausen, welche die Nacht und der Lidschlag herbeiführen, es sind, in denen sich die spezifische Empfindlichkeit der Seh­ stäbe für das Licht, die im Licht allmählich verloren geht, wiederherstellt. Jedem Sehstab entspricht eine Einzeln­ empfindung, und die Gesammtempfindung bei einem Schakt ist eine Mosaik aus Einzelnempfindungen, welche die gleichen Differenzen und zwar in gleicher Lagerung enthalten, wie sie der Theil des Horizontes birgt, dessen Licht- und Farben­ strahlen auf die Sehhaut gelangen. Die Leistungsfähigkeit des percipirenden Apparates ist in ihren Bedingungen noch sehr wenig gekannt, namentlich wissen wir noch durchaus nicht, worauf die großen individuellen Unterschiede in der Entwicklung des Farben- und Formen­ sinns zurückzuführen sind; wir wissen nur, daß Uebung beide verbessert. Nicht alle Theile der Sehhaut sind lichtempfindlich, son­ dern nur die, auf welchen sich Sehstäbe befinden; so ist die Stelle, wo die Sehnerven eintreten, blind (blinder Fleck). Auf der übrigen Fäche der Sehhaut ist die LichtempfindlichkeU gradweisen Unterschieden unterworfen, indem eine kleine um­ schriebene Stelle (gelber Fleck) das Maximum von Sehkraft besitzt und derselbe von hier aus concentrisch an Energie abnimmt. Bei dem Auge sind die leitenden d. h. durchsichtigen Theile von mehrfacher Wichtigkeit; es handelt sich hier nicht blos einfach darum, daß sie die Lichtstrahlen zur Sehhaut leiten^ sondern auch darum, wie sie das thun. Das Auge ist der Camera obscura eines photographischen Apparates zu ver­ gleichen, bei der den durchsichtigen Theilen die Aufgabe zu­ fällt, ein umgekehrtes Bildchen der Außenwelt haarscharf auf

19. Die Sinnesmechanismen.

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die sensitive Sehhaut zu entwerfen. Dieser Aufgabe ent­ sprechen die durchsichtigen Theile des Auges, indem ihnen allen mit einander die optische Leistung einer von kugliger sowie von farbiger Abweichung zwar nicht völlig aber ziem­ lich freien Sammellinse zukommt. Da diese Leistung nur bei mathematischer Reinheit der Krümmungsflächen stattfindet, so ruft jede unregelmäßig in der sphärischen Beschaffenheit eine Bildverzerrung hervor. Zu den bildentwerfenden Theilen des Auges gehört ferner ein motorischer Hilfsmechanismus, der Accomodationsapparat; aus folgenden Gründen. Mit der An­ näherung eines Gegenstandes an eine Sammellinse entfernt sich das von ihm hinter der Sammellinse entworfene Bild von der hinteren Fläche der Linse. Da nun deutliches Sehen nur möglich ist, wenn das Bild haarscharf auf die Sehhaut eingestellt wird, so verlangt das Sehen auf verschiedene Distanzen einen Bewegungsapparat, welcher die richtige Bild­ einstellung sichert. Dies geschieht durch einen Muskel, den Accomodationsmuskel, welcher bei Annäherung des zu be­ trachtenden Gegenstandes durch Pressung die Wölbung der Sammellinse verstärkt, wodurch das Bild, das hinter die Sehhaut zu gelangen droht, wieder auf sie hereinverschoben wird. Entfernt sich der zu betrachtende Gegenstand, so ver­ mindert der Accomodationsmuskel seine Spannung und da­ mit die Wölbung der Sammellinse, weil diese mit elastischen Kräften eine flachere Ruhelage anzunehmen strebt. Die Accomodation beruht also auf dem Antagonismus zwischen einem contraktilen und einem elastischen Theil, und die Leistungs­ fähigkeit des Accomodationsapparates hängt mithin von der ungeschwächten Elasticität der Sammellinse und der Gleich­ gewichtigkeit des contraktilen Theiles ab. Zu anhaltende Accomodationsthätigkeit, wie sie bei anhaltendem Nahesehen stattfindet, und das umgekehrte — anhaltendes Sehen in die Jäger, die menschliche Arbeitskraft.

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19. Die Sinnesmechanismen.

Ferne, wodurch die Aceomodation nicht geübt wird — beein­ trächtigt die Leistungsfähigkeit: im ersten Fall wird der Mensch kurzsichtig, er kann nur nahe Gegenstände scharf sehen; im zweiten Fall wird er fernsichtig, d. h. er kann nur Gegen­ stände scharf sehen, welche sich nicht über einen gewissen Ab­ stand herein dem Auge nähern. Normalsichtig bleibt ein Mensch nur, wenn er den genügenden Spielraum für seine Aceomodation hat. Wie das Ohr besitzt auch das Auge einen Dämpfungs­ apparat in der Regenbogenhaut, der von einem antagonisti­ schen Mechanismus beherrscht ist. Starker Lichtreiz ver­ engert reflektorisch das Sehlöch und blendet so ab; bei ge­ ringer Lichtstärke erweitert sich das Schloch, wodurch ein größeres Quantum von Lichtstrahlen ins Auge gelangen kann. Ein weiterer Theil des Sehapparates sind die Augen­ muskeln, welche die Aufgabe haben, das Auge so zu stellen, daß ein bestimmter Theil des Horizontes zur Abbildung auf der Stelle des deutlichsten Sehens gelangt, und die Sehachsen der beiden Augen so zu convergiren, daß sic sich auf dem Punkt schneiden, wo der der Betrachtung zu unterwerfende Gegenstand sich befindet. Nur die Gegenstände, welche in dem Convergenzpunkte liegen, werden einfach gesehen, die dagegen, welche näher oder entfernter liegen, doppelt, mithin undeutlich. Das diese Bewegungen begleitende Muskelgefühl ist für uns ein Maßstab für die Entfernung der Gegenstände: Nähere Gegenstände verlangen eine stärkere, entferntere eine schwächere Convergenz der Sehachsen, wenn sie scharf zur Wahrnehmung gelangen sollen. Zu den genannten Bestandtheilen des Sehapparates kommen noch die Schutzvorrichtungen: 1. die Thränendrüse, die durch ihr Produkt, die Thränenflüssigkeit, die vordere Fläche des Augapfels benetzt, um sie vor Vertrocknung, und abwäscht, um sie vor Beschmutzung, also vor Mißständen zu

20. Die willkürliche Thätigkeit.

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beschützen, welche sofort in den Gang der Lichtstrahlen störend eingreifen würden; 2. der Lidapparat, der durch seine Be­ wegungen einmal Dunkelheitspausen mit der S. 256 ange­ führten Wirkung herbeiführt, außerdem das Auge vor fremd­ artiger Reizung beschützt, die Vorderfläche des Augapfels abwischt, und zugleich die Thräncnflüssigkeit über sie gleich­ mäßig ausbreitet.

20. Die willkürliche Thätigkeit. Der erste und wichtigste Anlaß zur Willensthätigkeit liegt in dem Umstand, daß der Mensch das, was er zu seiner Lebenserhaltung bedarf, nur durch eine nach außenhin d. h. auf Objekte der Außenwelt gerichtete Thätigkeit erwerben kann. Nur einer seiner Bedarfstoffe, der Sauerstoff der Luft, bietet sich ihm an fast allen Orten von selbst, allerdings auch dieser nicht unter allen Umständen; dagegen setzt die Erlangung der festen und flüssigen Nahrungsmittel immer eine mit Vorstellung verknüpfte Thätigkeit voraus, sobald der Mensch den Leib der Mutter verlassen hat. Insofern die beiden Gemeingefühle Hunger und Durst den Menschen dazu antreiben, spricht man von dem Ernährungstrieb. Das zweite Motiv der Thätigkeit nach außen liegt in dem Umstand, daß der Mensch von seiner Geburt an steten äußeren Einwirkungen ausgesetzt ist, welche ihn schädigen und sein Leben mehr oder minder bedrohen, gegen die er sich mithin stets zu vertheidigen hat, sei es, daß er ihnen zu entgehen sucht, sei es, daß er bestrebt ist, die­ selben zu beseitigen. Die Gemeingefühle, die den Selbstvertheidigungstrieb bilden, sind der Schmerz und die U n lu st ge fühle in allen Formell und Abstufungen. 17*

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20. Die willkürliche Thätigkeit.

Ernährungs- und Vertheidigungstrieb zusammen bilden den Selbsterhaltungstrieb; zu ihm kommt im erwach­ senen Alter der von Lustgefühlen gebildete Fortpflan­ zungstrieb als bestimmender Faktor der nach außen ge­ richteten Thätigkeit. Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb sind die an­ geborenen Triebe; diesen gesellen sich in der Folge die anerzogenen moralischen und intellektuellen Triebe, von denen namentlich die moralischen, vom Pflicht­ gefühl und den Sympathiegefühlen regierten Triebe den an­ geboren „egoistischen" Trieben hemmend entgegentreten. Die anerzogenen Triebe sind im allgemeinen weniger kräftig als die angeborenen, und während bei letzteren das Zwingende, Unwiderstehliche klar zu Tage tritt, sind es gerade die schwächer entwickelten intellektuellen und moralischen Triebe, bei denen Effekt und Thätigkeitsrichtung sehr viel von der Art des äußeren Anstoßes abhängt und der unten zu be­ sprechende Wettstreit der antagonistischen Seelenapparate, ben wir Ueberlegung nennen, am häufigsten eintritt. Man streitet darüber, ob der Seelenapparat in letzterer Instanz ein automatischer d. h. ohne jeden Anstoß von außen arbeitender Mechanismus, also wahrhaftiger ureigener Initiative fähig ist, oder ob er nur eine Art von reflek­ torischem Mechanismus ist, der stets nur durch einen äußeren Reizanstoß in Erregung versetzt wird. Wenn man sich aufmerksam selbst beobachtet, so kommt man zu der letzteren Ueberzeugung, daß nämlich jede willkürliche Thätigkeit auf eine unmittelbar oder nur kurze Zeit zuvor stattgefundene äußere Anregung zurückzu­ führen ist. Dieselbe ist allerdings oft an und für sich so geringfügig, daß wir nachher Mühe haben, uns auf sie zu besinnen, namentlich dann, wenn verschiedenartige An­ regungen sich kreuzen und eine schwache Anregung durch

20. Die willkürliche Thätigkeit.

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eine gleichzeitige ober kurz darauf erfolgende stärkere ver­ hindert wird, sogleich zur Geltung zu kommen. Am hüb­ schesten läßt sich diese letztere Thatsache am Traume darthun. Wenn wir von demjenigen Theile der Träume absehen, welcher durch augenblickliche körperliche Zustände, namentlich durch die unvollkommene Unterbrechung der Empfindungs­ nerven hervorgerufen wird, so ist der Gegenstand der Träume entweder eine Fortsetzung der Erregungen, welche kurz vor dem Einschlafen das Seelenorgan durchzogen und gewisser­ maßen nicht zu Ende gekommen sind, oder sie entspringen einem im wachen Zustand erfolgten Anstoß, der deshalb zu­ nächst resultatlos blieb, weil er von anderen, stärkeren Er­ regungsvorgängen zunächst übertäubt wurde, der aber nach Ablauf der letzteren zur Geltung kommt. Nur so kann es erklärt werden, daß es uns oft ausführlich von Personen, Dingen und Ereignissen träumt, an die wir im' Lauf des Tages nur flüchtig und durchaus vorübergehend erinnert Wurden. Diese und ähnliche Beobachtungen lassen es in hohem Grade zweifelhaft erscheinen, ob, mit Ausnahme der sogen, niederen, thierischen Triebe, andere als äußere Anregungen den ersten Anstoß zur Thätigkeit bilden. Was der Thätigkeit des Menschen den Anstrich einer so hohen Freiheit und Selbständigkeit gibt im Vergleich zu einer leblosen Maschine, liegt zumeist darin, daß ein Sinnesreiz nicht blos die adäquate Empfindung, sondern dazu noch eine nach Qualität und Quantität außerordentlich wechselnde Menge von ander­ artigen Vorstellungen wachruft, von denen jede einen eben so bestimmenden Einfluß auf die Einleitung der äußeren Thä­ tigkeit ausübt als der erstere, von außen kommende Anstoß. Hierüber ist näher folgendes zu sagen. Je mehr der Mensch gelernt und erfahren hat, um so weniger leicht wird er sich einem von außen kommenden

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20. Die willkürliche Thätigkeit.

Anstoß zur Thätigkeit entziehen können, und zwar deshalb: Findet ein Anstoß, der durch die Sinneswerkzeuge von außen zur Seele geleitet wird, dort keine oder nur wenige adäquate Vorstellungen, die er in Erregung versetzen kann, so ist ihm die Möglichkeit benommen, eine Thätigkeit auszulösen: der Mensch bleibt gleichgiltig gegen den Eindruck, während er im andern Fall dessen Interesse wachruft, weil zahlreiche Vorstellungen'in ihm auftauchen. Je größer deren Summe ist und je leichter sie erregt werden können, um so sicherer erreicht der Erregungsvorgang die nöthige Starke, um auch Bewegungsapparate in Thätigkeit zu versetzen. Aus dem Gesagten ist aber auch klar, daß es mit dem Gelernt- und Erfahrenhaben allein noch nicht gethan ist, daß hiezu auch dir jedesmaligen äußeren Anregungen ge­ hören; denn wie wir wissen, nimmt die Erregbarkeit der Vorstellungs- und Denkmechanismen allmählich ab, wenn man sie nicht von Zeit zu Zeit in Erregung versetzt, die Erinnerung wieder aufgefrischt wird: wir erinnern uns schwerer und immer schwerer und vergessen das Gelernte schließlich ganz, wobei wahrscheinlich der Mechanismus ganz auseinanderfüllt. Aus diesem Grund ist es von entscheidenstem Einfluß auf die Thätigkeitssumme eines geistig fortge­ schrittenen Menschen, ob er in seiner Umgebung stets die nöthige vielseitige, seinem Seeleninhalt entsprechende Anregung findet, die sein Seelenorgan vor qualitativen Verlusten schützt; denn es ist eine allgemeine Erscheinung, daß bei dem sprich­ wörtlichen „Verbauern" gebildeter Leute, wenn sie lange der geistigen Anregung entbehren, mit dem Umfang des Seelen­ inhaltes auch die geistige Regsamkeit abnimmt (Abnahme der Leitungsfähigkeit durch Nichtgebrauch). Ein weiterer Punkt, der bei der Erregung zur Thätigkeit eine wichtige Rolle spielt, ist die Mannigfaltigkeit und Ab­ wechslung der Erregungen. Nicht blos die Sinnesorgane,

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sondern auch die Seelenorgane werden Anregungen gegenüber, die sich in einförmiger Häufigkeit wiederholen, stumpf und theilnahmlos, so daß solche Erregungen nicht mehr im Stande sind, eine Thätigkeit auszulösen, und das ist ein weiterer Umstand, der den großen Unterschied zwischen Stadt- und Landbewohnern in Bezug auf ihre Thätigkeitssummen hervorrust. Ueber den Verlauf des Thätigkeitsanstoßes wissen wir zunächst schon aus Kapitel 18, daß demselben zwei Wege geboten sind, entweder direkt durch die sog. Reflexeentra zum Bewegungsapparat, wo sie einen geordneten Reflex Hervorrufen und zwar prompt, oder es tritt die Erregung in den Seelenmechanismus ein und zwar zunächst in dessen sensitive Seite, wo die Vorstellungsherde sich befinden. Das was hier d. h. in dem sensitiven Abschnitt des Seelen­ organs vorgeht, nennen wir dieintellektuelleArbeit, dos Denken; sie besteht darin, daß von dem primär d. h. durch den Sinnesreiz zuerst getroffenen Vorstellungsherde aus der Reihe nach entweder nach dem Prinzip der Association oder nach dem Prinzip der logischen Verbindung die mit diesem verknüpften Seelenmechanismen in Erregung versetzt werden. Diese Erregung nimmt aber nur dann einen ergiebigen Fortschritt, wenn sie von entsprechenden Verschiebungen des Aufmerksamkeitscentrums begleitet wird, und vas ist der Vorgang, den wir speziell das Nachdenken nennen. Wenn die Erregung auf diesem Jnstanzenzug keinen Vorstellungsherd trifft, der mit einem Gemeingefühlsherd verbunden ist, so klingt der Vorgang des Nachdenkens aus

und erlischt namentlich rasch, wenn ein anderartiger neuer Anstoß kommt, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wird dagegen ein Vorstellungsherd erregt, der mit einem Gemein­ gefühlsherd leitend verbunden ist, so tritt damit die Erregung in die motorische Seite des Seelenapparatcs. Wird nur

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ein einziger Gemeingefühlsherd erregt, so ist die einfache Folge die Auslösung einer Bewegung, sobald die Erregung stark genug ist. Wir wissen nun aber aus Kapitel 18, daß jedes Gemeingefühl einen Antagonisten hat, und daß diese Antagonisten leitend verbunden, sind und zwar wahrscheinlich sowohl direkt (Contrastverknüpfung) als indirekt. Sobald nun die Erregung auf irgend einem Wege die beiden Anta­ gonisten trifft, dann beginnt eine innere Arbeit, die wir Ueberlegung nennen, und die nichts anderes ist als der Wettstreit der antagonistischen Centra; während sie dauert, verhalten sich die betreffenden Bewegungsapparate ruhig, der Erregungsfortgang ist gehemmt. Die Zeit, die hiebei verstreicht, nennen wir die Ueberlegungszeit. Sie kann sehr lang und sehr kurz sein; allein daß selbst die einfachste Ueberlegung eine Hemmung ist, läßt sich z. B. durch folgen­ den Versuch nachweisen. Man setzt mit einer telegraphischen Uhr ein telegraphi­ sches Läutwerk in Verbindung, so daß durch Fingerdruck beides, Uhrenzeiger und Glocke, zugleich in Gang gesetzt und durch Niederdrücken eines zweiten Tasters gleichzeitig zum Stillstehen gebracht werden können. Gibt man einer Person den Hemmungsdrücker mit der Weisung, ihn sofort zu ge­ brauchen, wenn die Glocke ertönt, was der Experimentator mit dem ersten Drücker bewerkstelligt, so erhält man eine Zeitangabe für den Ablauf der Erregungen in dem Körper und den elektrischen Leitungen der Apparate. Darauf ändert man den Versuch in der Weise, daß mit der Uhr mittelst Drehung einer Wippe das eine oder andere zweier Läut­ werke, das eine rechts das andere links, von der Versuchs­ person ohne Wiffen der letzteren in Verbindung gesetzt wer­ den kann, und daß die Versuchsperson in jeder Hand einen Hemmungsdrücker hat. Beauftragt man jetzt die Versuchs­ person, immer rechts zu drücken, wenn es rechts klingelt, und

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links, wenn die linke Glocke tönt, so verstreicht unabänderlich eine längere Zeit bis zum Zeigerstillstand, als bei dem ersten Versuch, wo die Unterscheidung zwischen rechts und links fortfiel. Durch einfache Subtraktion der beiderlei Zeitmaße findet man genau die Ueberlegungszeit. Weiter läßt sich an dem Versuch leicht zeigen, welche Rolle die Gemeingefühle beim Willen spielen. Auf der einen Seite steht die Vor­ stellung des Schamgefühls, das ein Mißgriff erregen würde, auf der andern die Vorstellung des Befriedigungsgefühls im Fall richtiger Wahl. Bekanntlich spricht man beim Willen von zweierlei, gradweis verschiedenen Qualitäten, der Freiheit und der Un­ freiheit desselben. Diese Eigenschaft läßt sich zurückführen auf das Kraftverhältniß, in welchen die beiden antagonisti­ schen Centren zu einander stehen. Die Erläuterung dieses Verhältnisses muß davon ausgehen, daß von Freiheit und Unfreiheit des Willens im allgemeinen nur in dem unten zu erläuternden Sinn gesprochen werden kann und nicht im allgemeinen; denn bei einer und derselben Person ist der Wille gegenüber einem bestimmten Anstoß zur Thätigkeit frei, gegenüber einem anderartigen Anstoß durchaus nicht: im erstern Fall kann er thun was er will, namentlich han­ deln oder nicht handeln; im andern Fall ist er innerlich ge­ zwungen, so und nicht anders zu handeln. Wenn man deshalb sagt, der Mensch unterscheide sich von dem Thiere durch den Besitz des freien Willens, so ist das nur in fol­ gendem Sinne richtig/ Das Thier ist weitaus den meisten, aber — namentlich bei geistig hoher stehenden Thieren — durch­ aus nicht allen Anstoßen zur Thätigkeit gegenüber unfrei, während umgekehrt der Mensch zwar den meisten, durchaus aber nicht allen Erregungen zur Thätigkeit gegenüber frei ist. Ob'der Wille in einem bestimmten Fall frei ist oder nicht, hängt davon ab, in welchem Verhältniß die 'beiden

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im Gegensatz zu einander stehenden Gemeingefühlsherde von der Erregung getroffen werden. Der Wille ist absolut unfrei und wir handeln gezwungen, wenn nur Ein Gemeingefühl erregt wird, und solche Handlungen bezeichnet der Sprachgebrauch ganz zutreffend als unfreiwillige. Frei wird der Wille erst, wenn beide Theile eines Antagonismus getroffen werden, so daß ein Wettstreit zwischen den Antagonisten entsteht. Dabei ist aber festzuhalten, daß das Verhältniß, in welchem die Erregung der beiden gegensätzlichen Centren steht, sehr ver­ schieden sein kann. Vollkommen frei ist der Wille nur, wenn die Erregung auf beiden Seiten gleich ausfällt, oder wenn einem momentanen Uebergcwicht auf der einen Seite rasch ein Uebergcwicht der andern folgt und so ein Balanciren der Erregungsstärken stattfindet, wodurch das Schwanken im Entschließen zu Stande kommt. Dagegen klebt dem Willen immer eine gewisse Unfreiheit an, wenn kein Gleichgewicht in den Erregungsstärken vorhanden ist, und zwar um so mehr, je mehr die Erregung auf der einen Seite überwiegt. Das Endergebniß der Ueberlegung ist der Entschluß, welcher immer mit einer Erregung von Bewegungsmittel­ punkten verbunden ist. Man kann wenigstens leicht an sich beobachten, daß selbst, wenn der Entschluß negativ d. h. hemmend ausfällt, Bewegungen erfolgen, wenn auch in noch so geringem Umfang, z. B. in Form eines Wortes oder einer Geberde. Auf den Effekt der Handlung und ihren zeitlichen Verlauf hat die Aufmerke thätig keit einen ganz erheblichen Einfluß, indem sie schon vor Fassung des Entschlusses auf die Bewegungsapparate einen die Erregbarkeit erhöhenden Einfluß ausübt, wovon sogar das Muskelgefühl Kenntniß nimmt. Außerdem arbeitet die Aufmerksamkeit öfter dem Entschluß mechanisch vor, wodurch das entsteht, was wir

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gespannte Aufmerksamkeit nennen: z. B. wenn beim Exerciren das erste, die Art der Handlung bezeichnende Kommandowort gefallen ist, spannen sich erstens die Muskeln, welche bei der auszuführenden Bewegung sich zusammen­ ziehen müssen, zweitens ihre Antagonisten, welche diese Be­ wegung hemmen. Die Bezeichnung „gespannte Aufmerksamkeit" ist mithin buchstäblich richtig; denn nicht nur im Bereich der Körpermuskeln, sondern auch in dem der Sinnes­ werkzeuge treten Spannungen eontraktiler und elastischer Theile ein. Dieser Umstand ist gleichfalls von großem Ein­ fluß auf die Beschleunigung, da das Moment des todten Ganges beseitigt ist: Ist Muskel und Sehne bereits gespannt, wenn der Ansführungsbefehl kommt, so wird die jetzt folgende Zusammenziehung sofort auf den Knochen be­ ziehungsweise die zu bewegende Last übertragen. Wenn dagegen Muskeln und Sehnen schlaff sind, so geht eine gewisse Zeit verloren, bis es zur Lastbewegung kommt; denn die tritt erst in dem Moment ein, in welchem die Spannung von Muskeln und Sehnen mit der Last ins Gleichgewicht gesetzt worden ist. Wir haben nun noch etwas über die Entladungs­ richtung, welche der Erregungsvorgang einschlägt, zu verhandeln; denn, wie wir früher sahen, ist eben das eigen­ thümliche der willkürlichen Handlung, daß ihr viele Wege offen stehen, und daß sie bald diesen, bald jenen einschlägt. Das Gesetz lautet hier: Die Erregung schlägt stets den Weg ein, welcher im gegebenen Moment der leitungsfähigste ist. Ob ein Weg leitungsfähiger ist als ein anderer, hängt 1. ab von angeborenen Eigenschaften, worauf die verschiedenen Anlagen, Talente, Gaben eines Menschen beruhen; z. B. bei einem musikalischen Menschen ist in dem Gehörapparat und den Gehörcentren die Erreg­ barkeit und Leitungsfähigkeit größer als auf andern Gebieten

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der Sinnesmechanik. 2. hängt es ab von dem Ergebniß der -Erfahrung; sie hat nicht blos Verknüpfungen geschaffen, son­ dern sie benützt und kultivirt dieselben auch, und solche tultivirte Bahnen, die wir gewohnheitsmäßige nennen, sind leitungsfähiger als wenig benützte, ungewohnte. -3. haben wir früher gesehen, daß die Aufmerksamkeit die Leitungsfähigkeit erhöht, und daß sie stets einseitig thätig ist, so daß sie also Ungleichheiten in der Leitungsfähigkeit her­ vorruft. Die Leitung, welcher die Aufmerksamkeit HUgewandt ist, ist stets die wegsamste. 4. Da Er­ müdung die Erregbarkeit und Leitungsfähigkeit vermindert, so schafft auch sie Ungleichheiten; die Erregung vermeidet die er­ müdeten Bahnen und benützt unter sonst gleichen Verhältnissen die erholten. Bei dieser Wahl zwischen verschiedenen Bahnen sollen hier namentlich noch einige der schon im Kapitel 17 kurz erwähnten Alternativen besprochen werden. Zuerst wenden wir uns zu der Alternative zwischen dem Sprechapp arat und den übrigen Bewegungsapparaten; denn sie ist es haupt­ sächlich, welche dem Thun und Lassen des Menschen einen so wesentlich anderen Stempel aufprägt als der Thätigkeit des Thieres, und dieser Unterschied ist um so größer, je ent­ wickelter die Intelligenz eines Menschen ist. Bei einem ge­ bildeten Menschen ist die Alternative zwischen Sprechen und Handeln nicht eine nebensächliche, untergeordnete, sondern das Sprechen steht dem Handeln fast gleichgewichtig gegenüber. Damit sind dem Erregungsvorgang vom Seelenorgane

Turnen noch nicht eingesührt war, zu ermitteln. War diese plötzliche erhebliche Abnahme der Schulversäumnisse beim Uebergang vom lOten zum Ilten Lebensjahr lediglich Alters­ erscheinung, so mußte sich auch bei den Mädchen ein solchem Fortschritt zeigen, wo nicht, so war der sanitäre Fortschritt bei den Knaben Folge des Turnens; denn daß andere Ur­ sachen ein derartig verschiedenes Verhalten der Geschlechter in diesem Atter herbeiführen können, liegt nicht im Bereich der Möglichkeit. Die Untersuchung fiel zu Gunsten des Turnens aus: die Absenzziffer der Mädchenklassen, welche der Quinta entsprechen, war in 5 jährigem d. h. dem des Realgymnasiums parallelen Durchschnitt 8,39 °/o und sank in der der Unterquarta entsprechenden Klasse auf 8,12, also nur um 4,4 °/o, was gegen das Sinken bei den Knaben im Betrag von 44% resp. 18% fast gleich Null ist. Die von mir gemachte Mittheilung dieses Befundes an das Rektorat der höheren Töchterschule beseitigte denn auch sehr rasch die letzten Hindernisse, welche hier der Einführung des Turnens entgegenstanden. Werfen wir nun noch einen Blick auf die Art und Weise,, wie das Turnen diese Minderung der Erkrankungsfähigkeit hervorbringt. Hiefür ist die Thatsache von größter Wich­ tigkeit, daß die Unterschiede zwischen den Absenzziffern der Klassen' meines Bruders und denen der übrigen Lehrer

durchaus nur durch die Intensität der gymnastischen Ar­ beit, nicht durch eine qualitativ andere Behandlung erzielt worden ist; denn es unterrichten alle Lehrer nach der von meinem Bruder begründeten Methode, die für alle höheren Schulen Württembergs obligatorisch gemacht ist (d. h. eswerden alle Uebungen auf militärisches Commando von allen Schülern zumal ausgeführt; das wesentlichste Turngeräth ist

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ein eiserner Stab, so daß die meisten Uebungen in Stand und Marsch ausgeführt werden, während die Uebungen im Hang mehr in den Hintergrund treten). Dies beweist, daß die stattgefundene Veränderung einfach als Abhärtung zu betrachten ist, herbeigeführt durch Entwässerung mittelst Körpererhitzung, wie es in Kapitel 26 geschildert wurde.

Zu der Zeit als ich das obige Resultat erhalten hatte, war mir allerdings nur erst die Beziehung des Wassergehaltes zu der Erkrankungsfähigkeit durch Erkältung bekannt, nicht aber die in einem späteren Kapitel zu schildernde, zur Erkrankungsfähigkeit an ansteckenden Krankheiten, so daß mich die außerordentliche Größe des Unterschiedes fast stutzig gemacht hätte. Jetzt aber, da ich weiß, daß auch die im jugendlichen Alter so häufigen ansteckenden Krankheiten durch Entwässerung des Körpers ihre Macht verlieren, ist das Ergebniß völlig klar.

- Daß es sich bei den Erfolgen der Gymnastik um Ent­ wässerung handle, lehrte mich damals auch noch folgendes Resultat. Ich fand lmnilid) eine eigenthümlich ungleiche Bertheilung der Schulversäumnisse über die verschiedenen Wintermonate. Ich habe allerdings in dieser Richtung nur 14 gleichaltrige Klassen (Unterquinta), die nicht turnen und 14 verschiedenen Jahrgängen (1852 bis 1865) angehören, geprüft und auch nur die absoluten Zahlen erhoben. Die Summe aller Schulversäumnisse in diesen 14 Klassen und Jahrgängen betrug im Oktbr. 320, Nvbr. 532, Dzbr. 527, Januar 682, Februar 896, März 812. Dies deute ich so: Der Winter führt eine allmähliche Zunahme des Wasser­ gehaltes der Körpergewebe herbei, weil aus verschiedenen Ursachen die Hautausdünstung darniederliegt und der ge­ zwungene Aufenthalt in den Häusern mehr zu sitzender Lebensweise führt. Diese winterliche Wasseraufstauung, die gleichbedeutend ist mit Zunahme der Erkrankungsfühigkeit,

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muß natürlich ihr Maximum am Schluß des Winters er­ reichen und der Wendepunkt auf den März fallen, der mit seinen trocknenden Winden der Wasseravfstauung im Körper entgegentritt und auch die Leute wieder mehr zu Bewegung in freier Luft treibt. Daraus, daß eigentlich nur in der Intensität der gym­ nastischen Arbeit die sanitäre Wirkung beruht, ergibt sich zunächst auch eine bestimmte Methode des Turnunterrichts, nämlich die Forderung der Mass en Übung. Bei dem Gerätheturnen, wobei je ein Knabe eine Uebung macht und die andern so lange ruhen, bis die Reihe an sie kommt, ist der für die Abhärtung nöthige Grad von Körpererhitzung nicht herbeizuführen, da man die Abtheilungen nicht zu klein machen kann. Bei Uebungen, an denen sich die ganze Ab­ theilung gleichmäßig betheiligt, steht dagegen kein Hinderniß entgegen, dieselben so lange fortzusetzen, bis bei allen Maximalathmung und maximale Kreislaufgeschwindigkeit er­ zwungen ist. Die Gränze, bis zu welcher in dieser Richtung gegangen werden muß, läßt sich physiologisch genau be­

stimmen: Die Gränze ist erreicht, sobald sich Un­ regelmäßigkeiten des Bewegungsrhythmus ein­ stellen: lange, tiefe Athemzüge wechselnd mit raschem Flachathmen, Unregelmäßigkeit des Pulses, abwechselndes Sichröthen und Erblassen des Gesichts und Schwankend­ werden der Muskelbewegungen. Diese Gränze ist jedoch nicht blos einzuhalten, sondern auch jedesmal zu er­ reichen, wenn eine Leistungssteigerung erzielt werden soll. Die Einzelnübungen ganz auszuschließen wäre jedoch ein Fehler. Sie haben einmal ihren eigenthümlichen Werth, wovon wir später einiges auffinden werden; dann abereignen sie sich sehr güt als Ausfüllung in der Pause, welche nothwendig zwischen zwei erhitzende Massenübungen einge­ schaltet werden muß, da nach Erreichung eines hohen Er-

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Hitzungsgrades nicht plötzlicher Uebergang zu völliger Ruhe stattfinden darf, sondern die hochgesteigerte Thätigkeit der Hilfsmaschinen langsam auf das Normalmaß zurückzuführen ist,, und zwar nicht in gerader Linie, sondern oscillirend. Dazu soll nicht blos der Jntensitätsunterschied der gymnastischen Arbeit, also z. B. der Unterschied zwischen dem erhitzenden Laufschritt und dem calmirenden Marschschritt benützt werden, sondern der Thätigkeitswechsel: auf den erhitzenden Laufschritt der Fußgymnastik sollen Einzelnübungen im Bereich der Armgymnastik treten, und zwar deshalb: der Blutüberschuß in den Beinen, der Folge der Fußgymnastik ist, soll in die Arm- und Schultermuskelnabgeladen werden, weil die Gymnastik unter anderem die Aufgabe hat, der Schlagaderenge in allen Theilen des Körpers entgegenzutreten. Bezüglich der Qualität der Gymnastik gilt folgen­ des. Die Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen äußere Schädlichkeiten beruht weniger auf der Qualität des aus Nerven und Muskeln bestehenden Arbeitsmechanismus, als vielmehr auf der Tüchtigkeit der inneren Hilfsmechanismen, und da gerade diese, wie Kapitel 28 zeigte, bei der Berufs­ arbeit vernachlässigt werden, so ist das Hauptobjekt der turnerischen Ausbildung nicht der Muskelapparat, sondern das Ensemble der inneren Hilfsmechanismen, Lunge, Gefäß­ apparat, Verdauungskanal und Absonderungsorgane. In dieser Beziehung sind die Anschauungen durchaus noch nicht allseitig abgeklärt und wird vielfach im Publikum Gymnastik für gleichbedeutend mit Athletik gehalten. Das Ziel des Athleten ist möglichste Steigerung der Muskel­ kräfte durch qualitative und quantitative Entwicklung seines Muskel- und Knochenapparates. Dieses Ziel hat weder für den Beruf noch für die Gesundheit besonderen Werth. Die Zahl der Berufsarten, bei welchen große Körperkraft einen Itiger, die menschliche Arbeitskraft. , 28

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besonderen Vortheil gibt, ist sehr klein; weitaus in den meisten Fällen ist die ausschlaggebende allgemeine Körper­ qualität weniger die Kraft als die Geschwindigkeit, und bei der letzteren spielt nicht der Muskel, sondern der Nerv die Hauptrolle, worauf wir später noch zurückkommen werden. Weiter geschieht die exeessive Entwicklung des Muskel­ apparates nur auf die Kosten der Qualität und Quantität der übrigen Organe des Körpers, namentlich der Hilfsmechanismen und des Nerven­ systems. Der Athlet zeichnet sich durchaus nicht durch feste Gesundheit aus. Die neuere Statistik gibt uns hier bei der Seltenheit der Athleten keinen Aufschluß, wohl aber besitzen wir darüber Angaben aus dem klassischen Alterthum. Alle alten Schriftsteller sind darüber einig, daß die Athleten eine hinfällige Constitution haben. Plato sagt: Siehst du nicht, daß diese Kämpfer ihr Leben lang schlafen und, wenn sie in einer Kleinigkeit die vorgeschriebene Lebensart über­ schreiten, in große und schwere Krankheit fallen? Aristo­ teles ist der Athletik entgegen, weil sie die gleichmäßige und hygienische Ausbildung des Leibes hindere, empfiehlt da­ gegen eine gemäßigte Gymnastik als ein vortreffliches Er­ ziehungsmittel. Petrus Taber, ein Schriftsteller des 16ten Jahrhunderts, beweist mit großer Gelehrsamkeit, daß die Leiber der Athleten, auch wenn diese noch so sorgfältig in Muskelübung und Diät sich verhielten, doch nicht normal und stets zu schweren Leiden disponirt seien. Ich erlaube mir darüber kurz folgendes zu sagen. Der Athlet muß sich an eine sehr genaue Diät binden. Um die großen Stoffverluste zu decken, hat er sich aus­ schließlich an leicht verdauliche, sehr nahrhafte Nahrungs­ mittel wie Fleisch und Käse zu halten und darf seinen Berdauungsapparat nie überladen; dabei verkümmert sein Darmkanal und wird wegen zu geringer Uebung leistungs-

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schwach. Damit ist die Disposition zu Krankheiten desselben gegeben. Auch die Lunge ist beim Athleten gefährdet, und zwar deshalb: bei großen Muskelanstrengungen wird der Athem angehalten, so die Lust in größerer Menge in die Lungen­ spitzen gedrückt und diese über ihr richtiges Maß ausgedehnt, so daß sie erlahmen. Bei der Maximalathmung im Zustand der Erhitzung folgt der starken Ausdehnung bei der Einathmung prompt die Zusammenziehung bei der Ausathmung, bei dem Anhalten des Athems in höchster Einathmungsstellung dagegen wird die Lunge unnatürlich lang gedehnt erhalten, und so erlahmt sie, es entwickelt sich Emphysem. Seitens des Kreislaufmechanismus gilt folgendes. Bei großen Kraftleistungen steigt der Blutdruck in abnormer Weise, wobei die Pressung der Brusteingeweide durch das Anhalten des Athmens und den Muskeldruck eine Hauptrolle spielt. Dadurch wird der Herzrhythmus gewaltsam gestört und die Grundlage zu Herzhypertrophien geschaffen. Es ist Thatsache, daß der Typhus, diese verbreitetste der gefährlichen Seuchen, muskelkräftige Leute schwerer be­ fällt als hagere, daß die Ansteckungsfähigkeit durch vorgängige starke Muskelanstrengungen gesteigert wird und daß Leute, welche nach einer Strapaze vom Typhus befallen werden, viel schwerer erkranken, als solche, die zuvor ein gemäch­ licheres Dasein führten. So ist der Kriegstyphus deshalb so besonders gefährlich, weil die strapazirten Leiber der Soldaten einen günstigen Boden füv den Ansteckungsstoff bilden. Die große Abmagerung der Muskeln bei Typhus, die große Muskelschwäche bei der Reconvalescenz nach Typhus und das häufige Auftreten von Lähmungen als Nachkrankheit, auch die sichtbaren anatomischen Veränderungen der Muskeln weisen außerdem darauf hin, daß unter den verschiedenen Organen und Geweben des Körpers gerade das Muskelgewebe

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der günstigste Boden für das Typhuscontagium bildet, daß also ein Mensch um so schwerer an dieser Seuche leidet, je größer sein prozentischer Besitz an Muskelgewebe ist. Aus all -dem geht hervor, daß der Athlet dieser Seuche mehr ausgesetzt ist als andere Menschen. Die Verkümmerung anderer Organe zu Gunsten der Muskelentwicklung springt am deutlichsten am Nervensystem zu Tage. Die Athleten sind durchaus geistesschwach und stumpfsinnig und stehen auf niederer Stufe der Intelligenz und meist auch auf niedriger Stufe der Moral. Mit dem obigen soll aber nicht gesagt sein, daß die Gymnastik von der Ausbildung des Muskelapparates ganz absehen soll; dies wäre wieder ein Fehler, und zwar darum: Die Muskeln machen bei einem Durchschnittsmenschen dem Gewicht nach ungefähr die Hälfte des ganzen Körpers aus, und damit sind dieselben von höchstem Einfluß auf die Beschaffenheit des Gesammtkörpers, wofü.r ich nur zwei Punkte Herausgreife. Ich habe früher geschildert, welch nachtheiligen Einfluß ein 'zu hoher Wassergehalt des Nerven­ systems auf die geistige Arbeitsfähigkeit hat, und daß auf ihm zugleich die Erkrankungsfähigkeit beruht. Ist nun ein Mensch mit schlaffen, wasserhaltigen Muskeln ausgestattet, so ist er nicht im Stande, den Wassergehalt der übrigen Körperorgane auf das richtige Maß zurückzuführen, weil das Blut stets sich bezüglich seines Wassergehaltes mit dem Muskelfleisch ins Gleichgewicht setzt und der Blutwassergehalt maßgebend ist für den Wassergehalt der übrigen Gewebe. Ein zweiter Punkt bezieht sich auf die Blutvertheilung und Blut­ menge. Hat ein Mensch ansehnliche Muskeln mit einem genügend entwickelten Blutgefäßnetz, so ist er im Besitz eines Blutreservoirs, das ihm erlaubt, größere Mengen pon Blut zum Verbrauch für das arbeitende Organ, z. B. bei geistigem Arbeit für das Gehirn, zu beherbergen, und das ihm außerdem

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erlaubt, große Mengen von Blut in ihm unterzubringen, wenn er in den andern Organen zum Zweck der Erholung den Blutdruck und das Durchblutungsmaß vermindern will. Die. Aufgabe der Gymnastik besteht also immerhin darin, den Muskelapparat zu entwickeln, nur nie aus Kosten der übrigen Organe, sondern stets harmonisch mit ihnen. Genauer gesagt: zweckmäßige gymnastische Uebungen sind solche, deren Ausführung zwar Kraftaufwand erfordert, aber gleichzeitig die Hilfsmechanismen, insbesondere Athmungs-, Kreislauf- und Absonderungsorgane zu erhöhter Thätigkeit anspornt und auch die nervösen Apparate nicht vernachlässigt. Aus diesem Grunde können wir die mit der Gymnastik verbundene Muskelübung mehr wie Mittel zum Zweck, anstatt als Selbstzweck betrachten. Die nächste Frage ist: Wenn die Muskeln Mittel zum Zweck sind, mit welchen der Hauptmuskelpartien des Körpers erreichen wir den vorgesteckten Zweck am besten? Hier handelt es sich hauptsächlich um den Gegensatz von Arm­ und Fußgymnastik, und den müssen wir uns genauer be­ sehen, weil er für die Turntechnik ganz besonders wichtig ist. Die Antwort kann keinen Augenblick zweifelhaft sein: das Hauptgewicht ist auf die Fußgymnastik zu legen, und zwar aus hygienischen und praktischen Gründen, deren wichtigste ich in folgendem gebe. Unter den hygienischen Gründen tritt obenan die Ver­ schiedenartigkeit der Beziehungen, in welchen Arme und Beine zu den inneren Hilfsmechanismen stehen: die Thätigkeit der Schulter- und Armmuskeln beeinflußt die Brusteingeweide ganz direkt, die der Beine nur indirekt. Wenn wir durch Uebungen im Hang die Schulter­ muskeln stärker entwickeln, so ist die Nächste Wirkung, daß wir deren Tonus d. h. ihre natürliche Spannung erhöhen. In der folgenden Figur ist die Zugsrichtung eines Theils der-

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selben schematisch dargestellt, und aus derselben geht hervor, daß sie alle Rippenheber sind. Damit ist klar, daß eine Vermehrung ihrer natürlichen Spannung eine dauernde Höher st ellung der Rippen und damit eine dauernde Ausdehnung der Lunge, d. h. Gewöhnung an eine Stellung zur Folge hat, welche sie andernfalls erst einnimmt, wenn sie einen gewissen Betrag der Einathmung vollzogen hat. Das ist eine Beeinträchtigung der Athmungsfähigleit. Die Ausgiebigkeit der Rippenathmung hängt von der Ausgiebigkeit der Rippenbewegung ab; je tiefer die Rippe steht, um so größer ist der ihr für die Hebung bleibende Spielraum. Neh­ men wir beispielsweise an, bei der höchst möglichen He­ bung bilde die Rippe einen Winkel von 80°; steht nun für gewöhnlich die Rippe in einem Winkel von 60°, so kann sie sich um 20° bewegen, steht sie aber für gewöhnlich auf 65, so beträgt der Spiel­ raum nur 15°. Es ist also ganz falsch, wenn man meint, der hochbusige Reck- und Barrenturner habe eine lei­ F'g. ii. stungsfähigere Lunge. Es Die Aufbeber deS Brustkorbes schematisch dargestellt. steht mir auch eine direkte 1 der zum Schädel 'aufsteigende Theil. Messung zu Gebot. 2 der kleine Brustmuskel. 3 der große Brustmuskel. 4 der vordere SägemuSkel. Unter einigen Berufs­ gymnastikern eines Cirkus, deren Athmungsfähigkeit ich maß, hatten zwei Reckturner, die erstaunliche Leistungen im Hang

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ausführten, pro Kubikdecimeter Körpervolum 33,77, pro Centimeter Körperhöhe 19,90, pro Centimeter mittleren Brust­ umfang 38,03 ccm; Vitalcapacität und der Umfangsunter­ schied der Brust zwischen tiefster Ausathmungs- und höchster Einathmungsstellung betrug bei ihnen im Durchschnitt 8 % cm. Bei einem dritten, der im Hoch- und Weitsprung sich aus­ gebildet, also Fußgymnastik getrieben hatte, betrug die Vital­ capacität pro Volumeinheit 39,73, also 4- 5,96 = 17,8 %, pro Centimeter Körperhöhe 25,25, also + 5,35 — 21 %, pro Centimeter Brustumfang 47,11, also >4 8,03 — 21 % und der Umfangsunterschied 11 cm, also 21/2 = 31%.

Hiezu kommt, daß die Armgymnastik nothwendig den Athmungsrhythmus stört, namentlich zu längerem Anhalten

des Athmens zwingt, mit den nachtheiligen Folgen, nament­ lich für die Lungenspitzen, die wir oben kennen lernten.

Diese Uebelstände fallen bei der Fußgymnastik fort, denn deren Ausübung hindert weder den Athmungsrhythmus, noch beeinflußt er die Rippenstellung nachtheilig. Hiezu kommt folgendes: Aus Kapitel 24 haben wir er­ fahren, daß ein gewisser Wuchs ein nothwendiges Erforderniß für die Leibestüchtigkeit ist, nämlich ein solcher, welcher die Wirbelsäule, insbesondere deren Lendenabschnitt, und die Beine verlängert. Dieser Art von Wuchs ist nur die Fuß­ gymnastik förderlich, und aus diesem Grunde muß sie beim Schulturnen im wachsenden Alter, wo allein eine Beein­ flussung des Wuchses möglich ist, unbedingt vorangestellt

werden. Von Armgymnastik soll das Schulturnen nur so viel erhalten, als zur Vermeidung der Eintönigkeit des Turnunterrichtes, zur Erzielung von Handfertigkeit und Er­ reichung von Torsionen der Wirbelsäule und zur Erlernung des Faustkampfes (siehe später) nöthig ist. Daß vollends bei dem weiblichen Geschlecht die Fußgymnastik mit Rücksicht

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auf die Erweiterung der Geburtswege fast ausschließlich zur Geltung kommen muß, haben wir schon früher gehört. Ein weiterer Grund, warum beim Knabenturnen die Fußgymnastik zu überwiegen hat, liegt in der Rücksicht auf die militärische Erziehung. Es steht in vollkommener Har­ monie mit den Anforderungen der Gesundheitspflege, daß jetzt die Marschirfähigkeit als eine der wichtigsten militäri­ schen Fähigkeiten angesehen wird, und dem hat die Turn­ schule vorzuarbeiten. Je schnellfüßiger und langfüßiger der Jüngling zum Militär kommt, um so rascher wird er zum kräftigen und gewandten Mann und Soldaten und später zum rüstigen Arbeiter werden. Hier kommt noch ein eigener Punkt in das Spiel, nämlich der Bau des Vorderfußes. Dieser ist im Gegensatz gegen die andern Körpertheile in seiner Entwick­ lung durch das ihn umfassende Kleidungsstück, den Schuh, in hohem Maße beeinflußt. Weil der harte Lederschuh dem Wachsthumsdruck nicht nachgibt, so ist das wachsende Kind der Gefahr der Verkrüpplung, seines Pedals ausgesetzt, und zwar in doppelter Weise. 1. Durch den Schnitt des Schuhes. Es ist ein all­ gemeiner Unfug, bei Kindern es für unnöthig zu halten, dem linken und rechten Schuh einen verschiedenen Schnitt zu geben. Die nothwendige Folge ist, daß die Zehen zur Annahme einer falschen Stellung gezwungen werden (siehe Figur 12). Zur Erklärung diene folgendes: Soll ein Schuh an beide Füße passen, so muß sein vorderes Ende symmetrisch gebildet sein, wie 2 der Figur. Da nun bei der natürlichen Zehenstellung, wie sie 1 der Figur zeigt, die große Zehe seitlich stärker vorspringt als die kleine, so ist sie zu einer Verschiebung gegen die Mittelachse des Fußes gezwungen, wie das in 2 der Figur angegeben ist. Jetzt ist die Achse der großen Zehe nicht mehr eine Verlängerung der Achse

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Les sie tragenden Mittelfußknochens, sondern bildet einen Winkel mit ihr. Der große Nachtheil dieser Stellungsver­ änderung liegt darin, daß die große Zehe, anstatt bei der Abwicklung des Trittes die Last vom Mittelfußknochen zu übernehmen und den letzten Abstoß zu geben, nicht blos das nicht thun kann, sondern bei jedem Tritt gegen die Mittellinie seitlich verschoben wird, was eine jedesmalige

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Fig. 12.

Zerrung des inneren Gelenkbandes und eine Reibung des Zehenrückens am Leder zur Folge hat; kurz gesagt: anstatt mitzuarbeiten, wird die große Zehe blos geschunden. Für die übrigen Zehen ergibt sich ähnliches. Entweder werden sie aus ihrer natürlichen Stellung verschoben, oder wenn sie nicht weichen, so schiebt sich die große Zehe über die nächste her, so daß letztere bei jedem Schritt von ersterer getreten wird. Dann kann man sich durch Versuch an den Fingern der Hand leicht von folgendem überzeugen.

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Wenn man die Finger in derselben Weise zu verschiebens sucht, wie es bei den Zehen auf 2 der Fig. 12 geschehen iftr so wird man finden, daß dies leichter gelingt, wenn ber kleine Finger und seine Nachbarn einen Katzenbuckel machen^ Das thun nun die Zehen von selbst, sie krallen sich zusam­ men, und die nothwendige Folge ist, daß die vorstehenden Höcker gegen das Oberleder drücken und Druckschäden (Hühner­ augen und Blasen) bekommen müssen. Wollen sie dem aus­ weichen, so kann dies nur durch Niederlegen des Bogens geschehen, wobei naturnothwendig jede Zehe mit ihrer Spitze unter ihre Nachbarin nach innen zu liegen kommt, also bei jedem Schritt getreten wird. Kurz auch hier: statt bei der Abwicklung des Trittes mitzuarbeiten und ihm Sicherheit und Elasticität zu geben, fallen auch diese Zehen dem Schund anheim. 2. Durch die Größe des Schuhes. Der Fuß des Kindes wächst, der Schuh nicht. Für den Querschnitt ist das nicht so sehr schlimm, hier schafft sich der Fuß durch Dehnung des Leders eher noch Raum, allein in der Länge geht es schlechter, hier sucht sich der Fuß durch Beugung der Zehen zu helfen, wodurch alle die Uebelstände eintreten, die wir in der vorigen Alinea anführten. Das Mißliche ist, daß diese Stellung eine dauernde wird, weil die Beuge­ sehnen der Zehen in ihrem Wachsthum sich der anhaltenden Beugestellung accomodiren und eine Streckung der Zehen jetzt gar nicht mehr möglich wird, auch wenn ein neuer genügend langer Schuh die äußere Möglichkeit dazu bieten würde. Der Eintritt dieser Fußverkrüpplung wird dadurch ganz besonders begünstigt, daß das Kind im schulpflichtigen Alter vorwiegend zum Sitzen gezwungen ist — nicht blos in der Schule, sondern auch zu Haus. Während des Sitzens ist die Belästigung des Fußes durch einen falschen und zu engen

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Schuh weit geringer als im Stehen und Gehen; namentlich können die Zehen sich zusammenkrümmen, da der Schund mit der Bewegung wegfällt. Das Kind hilft sich weiter beim Sitzen dadurch, daß es den Schuh halb oder ganz auszieht — selbst in der Schule thun die in den Hinteren Bänken sitzenden Knaben es oft genug. Für den kurzen Weg zwischen Schule und Haus fügt man sich schließlich in das Unvermeidliche des Schmerzens, und so schreitet die Verkrüpplung ruhig ihren Weg; ja sie wird deshalb so be­ deutend: der Unverstand der Eltern weigert sich, neue Schuhe machen zu lassen, ehe die alten zerrissen sind. Je mehr nun das Kind, durch das Schmerzen der Füße gezwungen, das Stehen, Gehen und Laufen unterläßt, desto mehr conservirt es seine Folterwerkzeuge. Der Fluch dieser Situation besteht nun nicht blos darin, daß der Vorderfuß immer mehr verkrüppelt, sondern auch noch darin, daß der ganze Körper den schädlichen Ein­ wirkungen der sitzenden Lebensweise und des Aufenhaltes in der Zimmerluft anheimsällt, und zwar nicht etwa blos zeit­ weilig: Leute, deren-Vorderfüße definitiv verkrüppelt sind, haben sich damit ein Gebrechen angeschafft, welches ihnen zeitlebens die für die Gesundheit so äußerst wichtige aus­ giebige Bewegung in freier Luft erschwert und verbittert und sie der Siechthum bewirkenden sitzenden Lebensweise definitiv überantwortet. Dieses Elend zu zermalmen, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Schulturnens, und auch darum muß sie den Schwerpunkt auf die Laufgymnastik legen. Armgymnastik leistet natürlich hier nichts. Wird dagegen das Kind zu energischer Laufgymnastik angehalten, so muß das Uebel weichen. Einmal treten die Schmerzen und Uebelstände greller zu Tage und das Kind wird dem Unverstand der Eltern energischer zu Leibe gehen, und um so mehr, als

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hinter ihm auch noch der Turnlehrer mit seiner Forderung steht. Weiter ist das Leder nicht absolut unnachgiebig; 'eine energische Laufgymnastik schafft dem Fuß Raum, indem es den Schuh ausweitet. Endlich verkürzt die Laufgymnastik das Leben des Schuhes: soll ein Kind sich richtig entwickeln, so muß es seine Schuhe total zerrissen haben, ehe sie ihm zu kurz werden. Die zwei letzten Punkte enthalten zugleich das Ver­ dammungsuriheil für den Mißbrauch, den Knaben den Ge­ brauch eigener Turnpantoffel und den Mädchen die Anwen­ dung besonderer Tanzschuhe zu gestatten. Diese Mode dient nur dazu, dem Alltagsschuh das Leben zu verlängern, und läßt die günstigste Gelegenheit versäumen, für Ausweitung des letzteren zu wirken. Die Sache ist um so lächerlicher, weil natürlich der Tanzschuh und Turnpantoffel auch mit der Zeit zu klein werden und bei der Seltenheit des Ge­ brauchs und bei dem Umstand, daß sie immer trocken und hart bleiben, ein zäheres Leben und eine geringere Dehn­ barkeit haben, also der Uebelstand, wegen dessen man sie erfand, erst recht nicht beseitigt wird. Schuhfrage und Turnfrage hängen übrigens auch noch mit einer andern Frage zusammen, mit der Schulbank. Wenn die Kinder in der Schule zum Stehen gezwungen wären, anstatt zum Sitzen, so würde die Schuhealamität viel bälder gehoben sein. Das Kind wäre außer Stand gesetzt, sich dem Schuhdruck zu entziehen, und so würde auf allen Seiten geholfen: der anhaltende Druck beim Stehen würde den Schuh stärker dehnen und derselbe würde stärker abgenützt, also bälder verbraucht. Weiter: wenn man das Kind an das Stehen gewöhnt, so wird ihm das zum Be­ dürfniß, und das ist das wirksamste Mittel gegen sitzende Lebensweise mit ihren nachtheiligen Folgen. Der Einwand, des Stehen sei ermüdender als das Sitzen und es werde

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dadurch den Kindern zu viel zugemuthet, ist total falsch. Der beste Beweis ist der: die Kinder sind, ehe sie in die Schule kommen, den ganzen Tag auf den Beinen; einem Knaben

von 4—5 Jahren kann man das Höchste versprechen, wenn er auch nur eine Minute ganz still sitze — er ist es absolut nicht im Stande. Das anhaltende Sitzen muß das Kind erst in der Schule lernen; die sitzende Lebens­ weise ist also ein Fluch der Schule, welche die Kinder an das Sitzen gewöhnt.

Dem gegenüber muß gesagt werden, daß das Stehen für die Gesundheit und für die Entwicklung des Körpers weit zweckmäßiger ist als das Sitzen. Es ist das schon an und für sich und dann noch deshalb, weil es die Vorschule für das Gehen und Laufen ist, dessen sanitären Werth wir nach allen Seiten hin erkannt haben. Warum das Stehen zuträglicher ist als das Sitzen, liegt in folgendem.

1. ist beim Sitzen durch die Beugung in der Leiste der Rückstuß des Blutes aus den Beinen gehemmt, während beim Stehen der Weg hiefür frei ist. 2. Das Sitzen ist immer mit einer nach vorn gekrümmten Haltung der Wirbelsäule verbunden, durch welche die Ein­ geweidehöhle zusammengepreßt wird, so daß der Blutumlauf in mehrfacher Weise gehemmt ist. Einmal stehen die großen Blutgefäße des Bauches unter stärkerem Seitendruck, so daß namentlich der Auftrieb des Blutes von unten her nothleidet. Dann ist eine Vermehrung des positiven Druckesin der Bauchhöhle gleichbedeutend mit einer Verminderung des von der Lunge ausgeübten Saugdrucks in der Brust­ höhle; damit leidet die Erweiterung des Herzens und ber Hohladern, so daß der Abfluß aus dem ganzen Venensystem gehemmt ist. All das fällt beim aufrechten Stand weg, weil er die Einziehung des Kreuzes als die für das Stehen

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commobere Haltung erzwingt und bei dieser die Bauchhöhle erweitert statt verengert wird. 3. Die Beeinträchtigung des Blutlaufes in und aus der unteren Körperhälfte disponirt schon an und für sich zu Stauungsleiden in den Unterleibsorganen. Hiezu kommt die abnorme Warmhaltung des Gesäßes und der Geschlechts­ theile beim Sitzen, wodurch deren Durchblutungsmaß erhöht wird. Bei verhockten, kurzbeinigen männlichen Personen fällt in der Regel die abnorme Größe ihres Begattungs­ gliedes auf, im Vergleich zu dem geringen Umfang, den dasselbe bei hochgewachsenen Personen hat. Vorzeitige Ge­ schlechtsreife mit den daran anschließenden physischen und moralischen Gebrechen gehören zu den schlimmsten Folgen der Schulbank, die mit der Einführung des Stehpultes sich sofort mindern werden: der Blutlaus wird sich mehr in die Beine als in die Beckenorgane entladen, und in dem Maße, als die Beine sich besser entwickeln, wird die Ent­ wicklung der Geschlechtstheile sich verzögern und in engeren Schranken bleiben. 4. Wie schon im vorigen Punkt angedeutet, gewinnt beim Stehen das Wachsthum der Beine, und wir wissen aus Kapitel 24, daß damit ein dauernder Vortheil geschaffen ist. Der Vorschub, den das Beinwachsthum durch das Stehen erhält, beruht einmal auf der größeren Freiheit der Blutcirkulation durch die Beine und dann darauf, daß das Längewachsthum der Knochen durch die mit der höheren Belastung verbundene Arbeitsvermehrung zunimmt. 5. Die in Nummer 2 geschilderte Beeinträchtigung des Blutumlaufes ist nachtheilig für die zum Lernen nöthige Geistesarbeit, indem sie gleichbedeutend ist mit einer venösen Stauung gegen das Gehirn. 6. Die so nachtheiligen seitlichen Verkrümmungen der Wirbelsäule treten llei anhaltendem Sitzen viel leichter ein

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«als im Stand. Beim Stehen ist man gezwungen, die Last Les Körpers bald auf das eine, bald auf das andere Bein zu verlegen, und das hat zur Folge, daß auch die Wirbel­ säule bald nach rechts, bald nach links ausgebogen wird und keine dieser Krümmungen auf die Dauer festzuhalten vermag. Angesichts dieser überwiegenden Vortheile des Stehens por dem Sitzen ist hoffentlich die Ersetzung der Schulbank durch das Stehpult nur eine Frage der Zeit, und wird es wohl gelingen, die Macht des Borurtheils zu brechen und die vergleichsweise sehr unbedeutenden disciplinarischen und technischen Bedenken in den Hintergrund zu drängen. Dies herbeizuführen ist aber in erster Linie die Turnlehrerschaft berufen. Sobald diese die klare Einsicht hat, daß die Seele des Schulturnens die Laufgymnastik ist, so wird sie immer schärfer an die Schule die Forderung stellen, mit der Schulbank ein Haupthinderniß für den Turnplatz zu be­ seitigen und durch die Einführung des Stehpultes den verhängnißvollen Antagonismus zwischen körperlicher und geistiger

Ausbildung auf sein richtiges Maß zurückzuführen. Auch an der Militärverwaltung wäre es mit Rücksicht auf ihre Zwecke, der Forderung der Turnlehrerschaft den Nachdruck zu geben, der dazu gehört, um mit zäh eingewurzelten In­ stitutionen, die von einem weit ausgedehnten einflußreichen Stand pietätvoll gehegt werden, aufzuräumen. Wenden wir uns nun zu einer anderen Forderung, die an das Turnen, insbesondere an das Schulturnen zu stellen ist; sie bezieht sich auf die Theilnahme des Nerven­ systems. Da auch in diesem Punkte Vorurtheile der rich­ tigen Praxis entgegenstehen, so will ich auch hier etwas ausführlicher sein. Unter den Erfordernissen der allgemeinen Arbeitsfähig­ keit steht nach dem Grundsatz „Zeit ist Geld" die Ge-

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schwindigkeit oben an, und sie hat ihren Schwerpunkt im Nervensystem und zwar nicht blos in einem Theil des­ selben, sondern in allen Abschnitten; denn bei der Arbeits­ geschwindigkeit kommt es nicht blos auf die rasche Ab­ wicklung der Bewegung an, sondern noch weit mehr auf die Raschheit, mit der der Arbeitsimpuls von den Sinnesorganen aufgefaßt und der Arbeitsentschluß im Seelenorgan reift. Diese Theile des Nervenapparates können nur auf Eine Weise, zu höherer Leistungsfähigkeit gebracht werden, nämlich durch

das Befehlsturnen. Die Freiübungen, bei welchen es dem Turnenden völlig überlassen ist, den Zeitpunkt der Aktion zu wählen wie er will, bilden keine Handhabe für Uebung der Entschlossenheit, und die Sinne sind vollends ganz außer Uebung, man braucht weder Auge noch Ohr dabei. Auch um eine Be­ schleunigung in der Abwicklung des ausführenden Theils herbeizuführen, sind die eigenem Entschluß entspringenden Uebungen durchaus ungeeignet: Es muß hinter dem Tur­ nenden eine beschleunigend wirkende, fremde Macht stehen, namentlich in der ersten Zeit, und die geeignetste ist die des commandirenden Lehrers, neben welcher, in Abwechs­ lung, als zweite der wetteifernde Genosse steht. Man hat dem Befehlsturnen den sonderbaren Vorwurf gemacht, es sei eine Nachäfferei des militärischen Exer­ citiums; als ob es eine Schande wäre, etwas zweckmäßiges nachzuahmen! Man hat ihm weiter vorgeworfen, es unter­ drücke die Individualität und strebe eine Uniformität an. Dieser Einwand ist kein Vorwurf: Wenn man beim Turnen den individuellen Neigungen freien Spielraum läßt, so wird gerade das nicht erreicht, was die oberste Aufgabe des Schul­ turnens ist, nämlich eine harmonische Entfaltung des Gesammtkörpers: das Turnen wird einseitig betrieben und dadurch der Körper einseitig entwickelt. Als Beispiel

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möge der Hinweis auf das über den Schuh Gesagte dienen: Wenn einen Jungen der Schuh drückt, so wird er sich frei­ lich mehr zu Reck und Barren als zu Sprung und Lauf hin­ gezogen fühlen. Nun ist der Junge aber gerade deshalb, weil ihn der Schuh drückt, der Gefahr ausgesetzt, seine Beine nicht ordentlich zu entwickeln, wenn der Turnlehrer nicht einschreitet. Kurzum, die individuellen Liebhabereien im Turnen, die sich bei dem Knaben einstellen, wenn sie Uebungsmaß und Art selbst bestimmen können, beruhen meist darauf, daß die Schwäche eines Körpertheils ihm gewisse Uebungen erschwert, die Stärke eines andern ihm andere Uebungen erleichtert. Wenn man diesen Liebhabereien nach­ gibt, so wird der Unterschied noch größer, jedenfalls der schwächere Theil nicht stärker. Noch mehr gilt aber das folgende: Wenn das Turnen nicht befehlsmäßige Massenübung ist, so tritt hauptsächlich eine quantitative Disserenzirung ein: die eifrigeren kommen vorwärts, aber an die faulen und trägen kommt nichts hin, sie bleiben was sie sind, nämlich Quark. Bei richtigem Befehlsturnen wird von den ersteren ebensoviel erzielt, ohne daß dies auf Kosten der schwächeren geschieht. Einen gesunden, kräftigen Körper braucht jeder Mensch, und durch die Mannigfaltigkeit, welche die Krüppel, Lahmen, Siechen, Faulen und Schwachen in die anthropolo­ gische Bildfläche bringen, wird die Welt weder schöner noch besser, und so weit wird es ohne Einführung des spartanischen Kindermordes doch nicht kommen, daß Mangel an abschrecken­ den Beispielen entstünde. Zur Herstellung eines gesund ent­ wickelten Leibes und Geistes gibt es eben nur Eine Methode, und daß diese uniformirend wirkt, ist kein Unglück. Di,e Wirkung des Befehlsturnens im Gegensatz zum freien, ungebundenen Turnen ist die Herstellung eines richtigen Ver­ hältnisses zwischen Nervensystem und Muskelapparat, nämlich Jäger,

die menschliche Arbeitskraft.

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das der Superiorität des ersteren über das letztere oder, um mich poetischer auszudrücken, die Etablirung der Herrschaft des Geistes über das Fleisch. Wahrend die Athle­ tik stumpfsinnige, geistesarme Fleischklötze erzeugt, hat die Gymnastik der Thatsache Rechnung zu tragen, daß des Menschen wichtigste Waffe im Kampf ums Dasein nicht seine Muskeln sind, sondern sein Nervensystem. So gewiß der Turnlehrer verlangen kann, daß ihm die Schule durch Ein­ führung des Stehpultes in die Hände arbeitet, so verlangen Schule und Leben, daß der Turnlehrer seinerseits diejenigen Qualitäten des Arbeitsmechanismus entwickelt, von denen die Lernfähigkeit und später die Erwerbsfähigkeit abhängt. Das Befehlsturnen räumt die Leitungshindernisse im ganzen Nervensystem hinweg, es schärft die Sinne, es putzt nach zwei Richtungen, wie das Sprichwort sagt, den Kopf aus, indem es die Urtheilsfähigkeit und die Energie der Willensorgane erhöht. Damit tritt eine Steigerung der Lernfähigkeit auch für die Aufgaben der Schule ein. Wem auf dem Turnplatz das Gehör geschärft worden ist, über­ hört auch in der Schule nicht mehr so leicht etwas. Wer auf dem Turnplatz in der Unterscheidung der verschiedenen Befehle geübt wird, unterscheidet auch leichter in der Schule und die Raschheit der Befehlsausführung sichert der Schule auch rasches Sprechen, rasches Schreiben, überhaupt rasches Arbeiten, aber nicht im Sinne des sogenannten Hudeln: Wenn der Turnlehrer den Knaben daran gewöhnt, die Befehle nicht blos rasch, sondern auch ganz genau auszuführen, so gewinnt damit auch die Präcision der Schularbeit. Die erhöhte Entwicklung des Nervensystems durch das Befehlsturnen ist jedoch nicht blos ein Vortheil in der Richtung der Lern- und Arbeitsfähigkeit, sondern a.uch ein sanitärer Gewinn. Die Rührigkeit und Lebendigkeit, die es erzeugt, wirkt beschleunigend auf den Stoffwechsel und tritt

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t)en nachteiligen Wirkungen der Berufsarbeit, die großen­ teils in der Richtung eines gehemmten Stoffwechsels liegen, auf die Dauer entgegen. Solche Leute sind selbst, wenn sie ihr Beruf zu sogenannter sitzender Lebensweise zwingt, besser daran, weil die Lebendigkeit ihres Geistes und ihrer Sinne (wie die Physiologie sich ausdrückt, der erhöhte Cerebro­ spinalreiz) einen gewissen Ersatz für die mangelnde Leibes­ bewegung bildet, abgesehen davon, daß er für sie ein Sporn ist, sich auch die nöthige Erholung mittelst ausgiebiger Körper­ bewegung angedeihen zu lassen, zu der Leute mit trägem Temperament und torpidem Nervensystem sich so schwer ent­ schließen. In letzterer Beziehung kommt noch in Betracht, daß die allgemeine Rührigkeit diesen Leuten die Berufsarbeit fördert, und ihnen deshalb auch Zeit genug für Erholungs­ arbeit übrig bleibt, während dem trägen mit der Lust auch die Zeit mangelt. Kurz gesagt: die durch das Befehlsturnen in der Jugend erzielte stärkere Entwicklung des Nervensystems ist ein dauernder Schutz gegen Geistes- und Leibesträgkeit mit ihren verderblichen Folgen für Gesundheit und Arbeits­ fähigkeit. Man wird vielleicht einwenden, daß schon die Schule für eine erhöhte Entwicklung des Nervensystems sorge, es somit hier der Beihilfe durch das Turnen nicht bedürfe, im Gegentheil: weil das Lernen vorzugsweise Nervenarbeit sei, so habe gerade das Turnen, um der einseitigen Aus­ bildung entgegen zu wirken, sich mit den andern Theilen des Körpers zu befassen. Dieser Einwand ist nicht zutreffend. Beim Lernen in der Schule handelt es sich vorwaltend um die Projektion der Sinneserregung in die Seelencentra und ihre dort er­ folgende gedächtnißmäßige Fixirung und verstandesmäßige Ver­ knüpfung, und hiebei wird nur ein Theil des Nervensystems, der perceptive, entwickelt, während die Transmissionen von 29*

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hier zu den Willenscentren und von diesen zu den Bewegungseentren vernachlässigt sind. Das bloße schulmäßige Lernen erzeugt deshalb vorwaltend contemplative Naturen, die ohne äußeren Zwang zur Anhäufung todten Wissens in ihrem Ingenium hinneigen und im übrigen unpraktische Na­ turen sind. Das Befehlsturnen hat nun den Werth, die Bahnen frei zu machen, auf welchen, um mich so auszu­ drücken, das Wissen in die Glieder fährt, d. h. zur Handlung führt, lebendig wird. Das ist ein großer Gewinn 1) für das betreffende In­ dividuum, weites dadurch erwerbsfähiger gemacht wird. Denn nur dasjenige Wissen trägt praktische Früchte für das Individuum, das nach außen hin den Nebenmenschen Vor­ theil bringt, und so ist dasselbe 2) auch ein Gewinn für die menschliche Gesellschaft. Warum müssen so viele Gelehrte, Dichter, verunglückte Genie's rc. zeitlebens am Hungertuch nagen, trotzdem daß sie vielleicht an Schulwissen ihre besser situirten Mitmenschen weit übertreffen und in der Schule stets obenan waren? Weil eben der Theil des Nervensystems nicht entwickelt wird, der das Wissen zum Können, die Wissen­ schaft zur Schaffensmacht werden läßt. Bei der großen Wich­ tigkeit der Sache will ich noch einige Worte zum Verständ­ niß hinzufügen. Wir sahen früher, daß der psychische Mechanismus aus lauter Antagonismen d. h. Hemmungs- und Beschleunigungs­ centren rc. zusammengesetzt ist. Von deren Wettstreit hängt es nicht blos ab, ob überhaupt etwas geschieht, sondern auch was geschieht, und sie bewirken außerdem, daß stets gewisser­ maßen nur das eine geschieht, das andere unterlassen wird; z. B.: Soll ein Mensch etwas gedächtnißmäßig erfassen, so muß die vom Sinnesorgan in den Seelenmechanismus ein­ tretende Erregung den Weg zu den Herden des Gedächtnisses einschlagen, und damit ist der Weg in die Glieder ausge-

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schlossen; denn geht sie wie ein Reflexreiz sofort in die Glieder, so haben die Gedächtnißherde nichts oder sehr wenig davon. Wie uns die Beobachtung des Thieres und des Kindes vor Beginn der Schulzeit zeigt, ist der natürlichere Weg für die Erregung der in die Glieder. In der Schule wird nun durch Kräftigung eines Hemmungscen­ trums dieser Weg gewissermaßen gesperrt und zwar im Interesse der intellektuellen Entwicklung. Wird nun dieses Hemmungscentrum durch fortdauernde Uebung immer weiter gekräftigt, so gewinnt es ein derartiges Uebergewicht, daß es zu einem bleibenden Hinderniß für die Ueberführung der seelischen Erregung in eine Hand­ lung wird. Eine harmonische Entwicklung des Menschen ver­ langt nun, daß der Antagonist dieses Hemmungscentrums d. h. ein Beschleunigungscentrum in ebenmäßiger Weise gekräftigt wird, und das ist nur möglich.durch Anstoß von den Sinnesorganen aus. Hieraus ergibt sich auch noch einmal die Forderung, daß das Turnen Geschwindigkeitsgymnastik, nicht Kraft­ gymnastik zu sein hat, denn die Kräftigung eines Beschleu­ nigungscentrums kann nur durch eine beschleunigende Methode erfolgen. Die Forderung der Befehlsmäßigkeit des Turnens er­ gibt sich auch noch mit Rücksicht auf die Entwicklung des Bewußtseinscentrums. Zum ganzen Mann gehört, daß er sich gewöhnt hat, all sein Thun und Lassen stets unter der Controle des Selbstbewußtseins und der Aufmerksamkeit zu haben. Dies ist nur durch Befehlsgymnastik, welche fortwährende Aufmerksamkeit auf das Commando und dessen Ausführung verlangt, zu erreichen. Sind dagegen die gym­ nastischen Bewegungen ganz dem Belieben des Schülers an­ heimgestellt, so verfällt er zu leicht in jene gedankenlose Pendelung, die uns in ihrer krassesten Form bei ein-

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gebauerten wilden Thieren (Bären, Eichhörnchen, Mardern) ic., oft genug aber auch — wenngleich weniger grell — beim Menschen entgegentritt (das gedankenlose Weinen, Hüpfen, Pfeifen rc. der Kinder, das Stricken der Frauen, monotone Fabriksbeschäftigungen u. s. f.). Das höchste Ziel der Ent­ wicklung des Menschen ist die Gewinnung möglichster Willens­ freiheit und Selbstbeherrschung. Wie nun der höchste Grad der Willensfreiheit darin besteht, daß die antagonistischen Willenseentra d. h. die Hemmungs- und Beschleunigungseentra möglichst genau balancirt sind, so wird die Selbst­ beherrschung nur dadurch erzielt, daß der Mensch während seiner Ausbildung zeitweilig unter die Herrschaft eines an­ dern gestellt wird, der mittelst Wink und Befehl den strengsten Contakt zwischen dem Befehlscentrum des Schülers d. h. seinem Selbstbewußtsein und den untergeordneten Centren seines Seelenmechanismus herstellt, entsprechend der sprich­ wörtlichen Sage, daß nur der befehlen kann, welcher zuerst strikte gehorchen gelernt hat. Weitere Gesichtspunkte für die Erziehungsgymnastik er­ geben sich aus den moralischen Bedingungen der Ar­ beitsfähigkeit. Eine solche ist der Muth zur Arbeit. Die Gymnastik hat den Knaben daran zu gewöhnen, Hinder­ nisse zu überwinden, ohne sich von den etwa damit ver­ bundenen Gefahren abhalten zu lassen; denn der physische Muth ist die Basis, auf welcher sich der moralische Muth und der Arbeitsmuth aufbaut, und legt auch den Grund zum Selbstvertrauen, ohne das Wissen und Können einem Messer' ohne Heft gleicht. Mangel an Muth und Selbstvertrauen ist auf allen Gebieten eines der schwersten moralischen und ökonomischen Gebrechen eines Menschen und stellt sich zu leicht ein, wenn eine einseitige intellektuelle Ausbildung sich mit Vernachlässigung der körperlichen Erziehung verbindet. Das Bewußtsein der physischen Schwäche lastet als hem-

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mentet Alb auf der ganzen Thätigkeitsfphäre eines solchen Men'chen. Zur Entfaltung von Muth und Selbstvertrauen ist es erforderlich, daß aus dem Betrieb der Gymnastik nicht alles Gefahr- und Schmerzbringende entfernt Wersen darf und daß sie nicht blos die Ueberwindung künstlicher Hindernisse, sondern auch die von natürlichen sich zur llufgabe zu stellen hat. Das was ich meine läßt sich am festen an einem bestimmten Beispiel darthun. Der Hochsprung wird auf unseren Turnplätzen an einem künstichen Geräthe erlernt, dessen zu überwindendes Hinder­ niß ein Seil ist, so angebracht, daß das Mißlingen des Sprrnges lediglich keine unangenehmen Folgen nach sich zieht, weil das Seil auf den geringsten Anstoß fällt. Daß ein solches Geräthe durchaus nicht im Stande ist, Muth zum Sprrng und Vertrauen auf die Sprungfähigkeit zu erzeugen, kann man leicht beweisen. Stellt man einem Knaben, der nur gewöhnt worden ist, über den Strick zu springen, einen UNNlchgiebigen Gegenstand, einen Balken, eine Mauer, einen spitzcn Staketenzaun als Objekt für den Hochsprung gegen­ über, so versagt ihm seine Kunst den Dienst selbst dann, wem die Höhe dieses Hindernisses oft kaum die Hälfte von der beträgt, die er am Sprungstrick mit Sicherheit bewältigt: es lat sich das Moment der Gefährlichkeit und des Unbewohnten hinzugesellt. Im Leben und bei der Berufsarbeit kommt es nun aber gercve darauf an, daß man sich die Ausübung seiner Handhmgm weder durch das Moment der Gefahr, noch durch das Aufauchen ungewohnter Hindernisse beeinflussen läßt, daß man gelernt hat, auch bei Eintritt solcher Vorkommnisse seine Pfliht nach bestem Wissen und Können zu thun. In dem oben genannten Fall beim Hochsprung sieht man deutlich, daß kein äußerer reeller Grund vorliegt, warum der Junge,

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der über ein Seil von einem Meter Höhe sicher und anstands­ los jedesmal wegspringt, nicht auch über einen eben so hohen spitzen Zaun sollte springen können. Die physische Leistung ist in beiden Fällen genau die gleiche, denn es kommt ledig­ lich darauf an, wie hoch er überhaupt springen kann. Tas eingetretene Arbeitshinderniß ist ein rein psychologisches, eingebildetes; aber darin liegt es gerade: die Gymnastik ist nicht Selbstzweck wie beim Berufsathleten, sondern Mittel zum Zweck. Sie soll alle in dem Menschen selbst liegenden Hindernisse für die Arbeitsausführung und zwar nicht blos die physischen, sondern, was noch viel wich­ tiger, auch die psychologischen Hemmnisse aus dem Wege räumen, denn diese sind gerade die erbärmlichsten; er­ bärmlich ist es ja, wenn ein Mensch die physische Fähigkeit zu einer Leistung vollkommen besitzt und nur die Feigheit ihn davon zurückhält. Seit jeher hat denn auch mit Recht die Feigheit sich der vollen Verachtung der öffentlichen Mei­ nung zu erfreuen gehabt. Ein feiger Mensch ist einem Werkzeug gleich zu achten, das stets dann seine Dienste ver­ sagt, wenn man sie am nöthigsten braucht, und das gilt nicht blos für seine Beziehungen zu andern Menschen, sondern auch für seinen eigenen Wirkungskreis. Aus dem genannten Grunde halte ich die ausschließliche Anwendung solcher Turngeräthe, bei welchen die Gefahr auf ein Minimum reducirt ist, für pädagogisch verwerflich. Der Hochsprung soll z. B. nur an festen Hindernissen erlernt werden, und in der Anbringung von Schutzvorrichtungen soll man nicht weiter gehen, als die Abwendung von Lebens­ gefahr und die Verhütung schwerer Verletzungen erfordert. Es handelt sich jedoch bei der Ausbildung der genannten Eigenschaft nicht blos um das Moment der Gefahr, sondern, worauf schon hingewiesen wurde, auch um das Moment des Gewohntseins, und in dieser Richtung ist an den künst-

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liehen Turngeräthschaften und Turnstätten eine Ausstellung ^u machen. Bleiben wir bei dem Beispiel vom Hochsprung.

Auf der Turnstätte ist ebener Boden, unter Umständen sogar liegt vor dem Hochsprunggeräthe ein Sprungbrett und auf der Aufsprungsstelle ist weicher Lohgrund. Hat sich ein Knabe an diese stereotypen Bedingungen gewöhnt, was sehr bald geschehen ist, so genirt ihn jede Veränderung derselben, z. B. die Abwesenheit des Sprungbrettes oder ein neues Sprungbrett oder die Aufforderung einen Hochsprung auf unebenem Boden rc. auszuführen, kurz jede Veränderung der Nebenumstände raubt ihm das Selbstvertrauen. Hat dagegen «in Junge den Hochsprung nicht blos auf der Turnstätte am Geräthe geübt, sondern an natürlichen Hindernissen in der freien Natur, an Hecken, Mauern, Zäunen rc., wo jedes­ mal die Nebenumstände für Anlauf, Absprung und Aufsprung wieder anders sind, so hat er mit der Gewandtheit seinen Sprung diesen wechselnden Verhältnissen anzupassen, auch das prompte Vertrauen gewonnen, den Sprung jedesmal,

mögen die Verhältnisse liegen, wie sie wollen, auszuführen. Die Arbeit im Beruf verhält sich nun gerade so wie der Hoch- oder Weitsprung im Freien, d. h. sie ist nicht immer von genau den gleichen, stereotypen Nebenumständen begleitet, sondern von wechselnden Verhältnissen, und sobald diese den Menschen stutzig machen, sobald er sich nicht unter allen diesen Verhältnissen zu bewegen und sich in sie zu finden versteht, so ist seine Thatkraft gelähmt. Solche'Ge­ wohnheitsmenschen kommen sofort aus dem Concept, wenn nrcht alles liegt, wie sie es gewöhnt sind oder wie sie es sich gedacht haben. Diesen Fehler, nämlich Gewohnheitsmenschm heranzubilden, hat die Erziehungsgymnastik sorg­ fältig zu vermeiden und zwar dadurch, daß sie das Turnen am der stereotypen Geräthschaften und auf der stereotypen

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Turnstätte wenn nicht ersetzt, so doch ergänzt durch des, was ich das Feldturnen nennen möchte. Ich selbst hatte das Glück vom meinem 13ten bis 14ten Lebensjahre in diese Turnweise eingeführt zu werden und habe sie eine Reihe von Jahren fortgesetzt. Nur die älteste Klasse durfte daran theilnehmen, und es bestand die Sache darin, daß wir außer den obligaten Uebungsstunden auf dem Turnplatz etwa alle 3—4 Wochen mit einer Spring­ stange bewaffnet vom Turnlehrer auf ein eoupirtes Terrain, das Hindernisse aller Art bot, geführt wurden und nun die Uebung im Nehmen der Hindernisse, theils mit Springstange, theils ohne solche, sowie theils mit, theils ohne Wettbewerb in Bezug auf Geschwindigkeit begann. Es wurden Gräben, Hecken, Feldmauern, Felsblöcke re. übersprungen oder er­ stürmt, Wettrennen über Hindernisse veranstaltet, Gefechte — Winters mit Schneeballen re. — aufgeführt. In besonders dankbarer Erinnerung als- Schule des Muthes bewahre ich unsere Methode des Gerwurfs: Statt der Reihe nach auf den todten Gerkopf zu werfen, theilte sich die Riege in zwei feindliche Theile, jeder hatte seinen Gegner und das Zielobjekt war der gegnerische Kopf, dessen Träger die Aufgabe hatte, sich nicht treffen zu lassen und zwar womöglich, ohne seinen Stand zu verlassen. Da die Gere aus Eschenholz waren und Eisenbeschläge hatten, so war die Sache ziemlich ernst; es kam aber nie eine ernstliche Beschädigung vor, und diese Uebung war uns eine der lieb­ sten. Allerdings durften an ihr auch nur die Angehörigen der ältesten Klasse theilnehmen. Dieses Gefahr- und Feldturnen entwickelte nicht blos unseren physischen Muth und physisches Selbstvertrauen, sondern die genannte Schule war im ganzen Land dadurch bekannt, daß bei den öffentlichen Prüfungen, an welchen Angehörige aller Schulen des Landes concurrirten, ihre

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Zöglinge zu den gefürchtetsten gehörten: wahrscheinlich nicht weil sie mehr wußten, sondern weil sie sich durch die un­ gewohnte Situation der Prüfung an fremdem Ort und durch fremde Examinatoren nicht aus der Fassung bringen ließen. Wenn ich mich selbst als armer Leute Kind per tot discrimina rerum so leidlich durchs Leben geschlagen habe, so glaube ich um so weniger fehl zu gehen, wenn ich jenem Turn­ unterricht einen großen Theil des gebührenden Dankes schulde, als auch meine Klassenkameraden von damals mit sehr wenig Ausnahmen sich in der Schule des Lebens be­ währt haben. Das Feldturnen im Gegensatz zum Schulturnen hat auch noch eine sanitäre Seite. Beim Turnen im geschlossenen Raum befinden sich die Leute selbst bei der sorgfältigsten Reinlichkeit unvermeidlich in einer durch Staubtheile verunreinigten Luft, und bei dem Umstand, als eine richtige Gymnastik Maximalathmung er­

zeugen muß, fällt diese Verunreinigung ganz besonders in däs Gewicht, weshalb das Turnen im Freien unbedingt dem

in Turnhallen vorgezogen werden muß. Aber auch das Turnen auf freien Turnplätzen schafft noch nicht die günstigsten Verhältnisse. Unsere Turnplätze sind allgemein viel zu klein, als daß auf ihnen eine Rasen­ decke entstehen und sich halten könnte. Ihr Boden producirt deshalb viel zu leicht ebenfalls Stäub, sobald, wie das seim muß, das Turnen vorwaltend Laufgymnastik ist. Hiezu kommt, daß bei Sonnenschein der nackte Boden sich viel stürkcr erwärmt als der beraste, und durch Rückstrahlung des Lichtes auch die Sehwerkzeuge übermäßig reizt, so daß in der heißen Jahreszeit die Benützung der Turnplätze sehr erschvert ist. Beschattung durch Bäume mindert zwar die Stach: bedeutend, allein da sie den Boden länger feucht erhä.lt, so schafft sie ein anderes Hinderniß, außerdem daß

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eine dichte Bestockung mit Bäumen Bewegungshindernisse für die Massenübungen bildet. Dem gegenüber muß gesagt werden, daß allen sanitären und technischen Anforderungen nur ein frei und luftig ge­ legener, dicht bewachsener Rasenplatz, dessen Pflanzenwuchs durch Weidevieh stets kurzgehalten wird, entspricht. Auf ihm kann selbst im Sonnenbrand geturnt werden, und der Regen kann ihn nur sehr vorübergehend unbenützbar machen. Am besten entsprechen die Schafweiden diesen Anforde­ rungen, und wo sich eine solche findet, ist sie, vorausgesetzt daß auch nur ein einigermaßen großer Theil derselben genügende Ebnung besitzt, das geeignetste Turnfeld und um so geeigneter, wenn ein Theil des Terrains Hindernisse bildet oder die Erstellung von Hindernissen, die den natür­ lichen entsprechen, gestattet. Ueberall da, wo solche Turnfelder nicht vorhanden sind, sollten im öffentlichen Interesse solche erstellt werden. Dem Einwand, daß hindurch größere Bodenflächen der Produktion entzogen werden, kann keck entgegnet werden, daß die Pro­ duktion von Arbeitskraft und Gesundheit weit mehr werth sei als das, was im günstigsten Fall auf diesem Boden wachsen könne. Wir werden übrigens sogleich noch zu einer andern Verwendung dieser Turnfelder kommen. Der Erziehungsgymnastik erwächst gerade auf deutschem Boden noch eine eigenartige sittliche Aufgabe. Der Lebensberuf stellt den Menschen nicht blos natürlichen Hindernissen gegenüber, sondern auch persönlichen. So gewiß es nun oberstes Gebot der Nächstenliebe ist, persön­ liche Conflikte zu vermeiden, auch es im nationalökonomischen Interesse liegt, auf dem Wege der Arbeitstheilung zusammen, anstatt gegen einander zu arbeiten, so ist eben so gewiß, daß das soziale Leben Conflikte persönlicher Art gebären muß, und jene Utopisten, welche von allgemeinem Weltfrieden,

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Abschaffung des Krieges und allen Uebels träumen, beweisen nur, daß selbst der höchste Bildungsgrad nicht vor Thorheit schützt, wenn eine Vernachlässigung des Naturstudiums den Menschen der Wirklichkeit so entrückt, daß er überall seine Wünsche an die Stelle der Thatsachen setzt, mit welchen der Mensch zu rechnen gezwungen ist. Der Prüfstein für den Sittlichkeitsgrad eines Menschen ist sein Verhalten in Confliktsfällen. Die Sittlichkeit verlangt von ihm unbedingt, daß er auch dem persönlichen Conflikt nicht aus dem Wege geht, wenn es gilt, das Gute gegen das Schlechte, das Recht gegen das Unrecht, die Schwachheit gegen die Gewalt zu vertheidigen. Wird aber der Kampf ausgenommen, so verlangt die Sitt­ lichkeit eine ganz bestimmte Kampfesmethode: Unbedingt zu

verwerfen ist ungezügelter Ausbruch der Leidenschaft, welche den Menschen über das zu erstrebende Ziel hinaus fortreißt. Das Ziel soll nie die Vernichtung des Gegners, sondern nur seine Zurückweisung und Züchtigung sein, und das soll so geschehen, daß der Gegner gleichfalls das Bewußtsein hat, daß es sich um nichts weiter handelt und daß ihn: für seine Vertheidigung die nöthigen Chancen gegeben sind; denn nur in diesem Fall wird auch bei ihm der Ausbruch gefähr­ licher Leidenschaft und Anwendung von Mitteln, die über das Ziel hinausschießen, vermieden werden. Das einzige Mittel hiezu ist der offene, ehrliche Zweikampf, sei es mit physischen Waffen, sei es mit geistigen. Mit Recht gilt es von jeher in gebildeten Kreisen als eine Gemeinheit, wenn ein Haufen einen einzelnen Gegner niederschreit, statt ihn im ehrlichen Wortzweikampf mit Gründen zu schlagen, und für eine Gemeinheit, wenn ein Haufen einen einzelnen Gegner zu Boden prügelt. Es widerspricht der Sittlichkeit, wenn ein so blindes, rein zu­ fälliges Moment wie die Ueberlegenheit der Zahl im Con-

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29. Das Turnen.

fliktsfall den Ausschlag gibt, und zwar deshalb, weil die Sittlichkeit verlangt, daß beim Kampf die Güte der Sache oder der Person entscheidet; denn nur so weicht das Schlechte dem Gutem; andernfalls hängt es nur vom Zufall ab, daß eben so gut auch das Schlechte, weil es im Moment die Zahl für sich hat, die Oberhand gewinnt. Liest man die Verhandlungen vor den Schwurgerichten, so entrollt sich in den meisten Gegenden Deutschlands das traurige Bild einer niedrigen Sittlichkeit unseres Volkes in diesem Stück. Statt des ehrlichen offenen höchstens blaue Male hinterlassenden Zweikampfes herrscht fast überall die gemeine Sitte der planlosen Massenschlägereien und des Mißbrauchs der Ueberzahl mit der naturgemäßen Consequenz, daß tödtliche Waffen gebraucht werden. Wären das blos Akte des Auswurfs der Bevölkerung, so könnte man es zwar beklagen, aber begreiflich finden; das Unbegreifliche und Beschämende ist aber, daß diese Vorkommnisse auf dem Boden des soliden Kerns der Bevölkerung, des Bauern-, Handwerker- und Arbeiterstandes, ja und selbst höher hinauf bis in studentische Kreise hinein beobachtet werden. Daß das nicht nothwendig so sein muß, zeigt uns ein Blick auf die betreffenden Verhältnisse in England. Dort ist nicht blos in den gebildeten Kreisen, sondern selbst bis in die tiefsten, den Auswurf der Gesellschaft bildenden Tiefen der Bevölkerung hinunter der Mißbrauch der Ueberzahl strengstens verpönt; selbst der Garotter bedient sich im Ver­ kehr mit seines gleichen im Confliktfall nur des Zweikampfes, und zwar nur des mit einer nicht tödtlichen Waffe, nämlich mit der Faust und unter strenger, jeden Ausbruch brutaler, blinder, kopfloser Leidenschaft oder unehrlicher Hinterlist verbietender Einhaltung genauer Kampfesregeln, deren Ver­ letzung kein Anwesender dulden würde. Wir beklagen mit Recht den geringen Respekt vor dem Gesetz unb dessen

29. Das Turnen.

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Wächtern auf deutschem Boden und bewundern den oft ans Komische grenzenden Gesetzesrespekt der Engländer. Meiner Ansicht zufolge ist letzterer hauptsächlich das Ergebniß dieser in England allgemeinen Volkssitte, welche den Menschen zwingt, auch in dem Falle höchster Erregung, im physischen Kampf, das Gesetz und den Gebrauch strengstens zu achten, während bei uns in solchen Fällen nichts gilt als die rohe, zügellose Leidenschaft. Dieser deutschen Unsitte kann auf gesetzlichem Wege nicht das Handwerk gelegt werden, sondern nur auf dem Wege der Jugenderziehung, und hiebei fällt dem Turnlehrer die Hauptaufgabe zu, indem er dem Zweikampf einen eben­ bürtigen Rang auf dem Turnplatz einräumt und an seine Schüler die kategorische Forderung stellt, sich auch im Fall ernstlichen Confliktes niemals einer andern Kampfesmethode als der. genau von ihm vorgezeichneten zu bedienen, bei schwerster Strafe. Bei privaten Conflikten appellirt nur derjenige an Stein, Prügel, Messer oder Revolver, welcher sich seiner natürlichen Waffe, der Faust, nicht zu bedienen weiß. Diesem Uebelstand kann nur der Turnlehrer abhelsen, ivenn jeder im Faustkampf geübt wird. Solange man den physischen Kampf nicht aus der Welt schaffen kann — und das wird nie möglich sein — ist es unter allen Umständen sittlicher, ihn unter den Bann des regelrechten Zweikampfes mit der Faust zu stellen, der im schlimmsten Fall ein ein­ geschlagenes Nasenbein oder ein paar Zahnlücken hinterläßt, als der tödtlichen Waffe noch länger zu gestatten, Menschen­ leben zu verderben und die Zuchthäuser zu füllen. Die Leute, welche behaupten, durch die Unterrichtung der Jugend im Zweikampf werde nur die Lust zu Kampf und Streit geweckt und die Rohheit vermehrt, können einer­ seits auf England verwiesen werden: In keinem Lande wird so viel Gewicht auf Anstand des Benehmens, auf Beherr-

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29. Das Turnen.

schung seiner Leidenschaft gelegt und, wie schon bemerkt, so­ sehr Gesetz, Herkommen und Gebrauch geachtet, und kein Volk ist so leicht zu regieren wie das englische, aus dem einfachen Grunde, well jeder von Jugend auf im Zweikampf gelernt hat sich selbst zu beherrschen und weil die Zahl keine Rolle spielt, sondern nur die individuelle Tüchtigkeit. Aber auch eine einfache Erwägung ergibt, daß diese Einführung der Sitte des Zweikampfes der Rohheit Abbruch thut. Die meisten Rohheiten entspringen dem Mißbrauch der Ueberzahl, und die meisten dieser Fälle würden nicht stattfinden, wenn jeder wüßte, daß er stets, unter allen Umständen, allein Mann gegen Mann zu fechten hat. Auch der Rauflustigste, Uebermüthigste überlegt sich das zweimal und mißt seinen Gegner, ehe er es wagt. Auf der andern Seite ist Mangel an Wehrhaftigkeit eine Verlockung für übermüthig und roh angelegte Naturen, und die fällt sofort weg, wenn jeder seine natürlichen Waffen geübt hat. Hierein maß meiner Ansicht nach der Schwerpunkt des Turnens in der Volksschule gelegt werden. Es hat die Axt an die Unsitten des Volkslebens zu legen und nebst der Zucht des Leibes und des Geistes auch Zucht und Ordnung in die bisher zuchtloseste Seite des Volkslebens zu bringen. Es genügt durchaus nicht, blos die gebildeteren Klassen denl sittigenden Einfluß der Zweikampfgymnastik zu unterwerfen. Der ihr entspringende Segen des Gesetzes­ und Nächstenrespektes und gesitteteren Betragens wird nur eintreten, wenn es gelingt, in die Wurzeln des Volkslebens mit dieser Sittenänderung einzudringen. Ein letzter Punkt bei der Erziehungsgymnastik, nament­ lich in ihrer Anwendung auf die unteren Volksklassen, ist die Pflege solcher gymnastischen Spiele, welche geeignet sind, auch die reifen Altersklassen und die Erwach­ senen zu fesseln. Wir haben im Kapitel 28 gesehen, wie

29. Das Turnen.

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fast alle Berufsarbeit der Ergänzung durch eine Erholungs­ arbeit bedürftig ist, um die Rüstigkeit und Widerstandsfähig­ keit des Körpers zu erhalten und zu pflegen. Für die höheren Klassen der menschlichen Gesellschaft eignet sich hiezu das, was der Engländer „Sport" nennt, am besten, und in den Schulen, welche die Kinder dieser Klassen besuchen, muß darauf gehalten werden, daß die Er­ ziehungsgymnastik Fühlung mit der Sportgymnastik gewinnt. Für die mittleren und unteren Schichten der Bevölkerung ist das gymnastische Spiel und zwar das gymnastische Wett­ spiel die geeignetste Form, unter der sich die Erholungsarbeit in die höheren Altersklassen hinein sortsetzen läßt. Ueberall da, wo das gymnastische Kampfspiel Volkssitte ist, wie das Rankeln in manchen deutschen Gebirgsgegenden, das Hosen­ lupfen und Steinstoßen in der Schweiz, der Schäferwettlauf in Schwaben, sehen wir als Frucht davon eine kernfeste, arbeitsfähige und widerstandskräftige Bevölkerung. Natürlich ist es sehr schwierig, solche Gebräuche volksthümlich zu machen; aber wenn es überhaupt gelingen soll,

so ist die Erziehungsgymnastik berufen, die Bahn zu brechen. Sie hat beim Knaben die Befähigung und die Lust dazu zu entwickeln und die Methode zu schaffen. Das schreibt der Erziehungsgymnastik wiederum vor, nicht die Uebungen an künstlichen Geräthen in den Vordergrund zu stellen, sondern die Elementargymnastik, den Wettlauf, Wettsprung, Wettwurf und Zweikampf und ein oder das andere gymnastische Massen­ spiel, wie beispielsweise das Cricketspiel der Engländer eines ist. Ich sagte schon früher, bei den alten Römern habe es geheißen, das Volk brauche panem et circenses; dieser Satz ist noch heute richtig, aber der Fortschritt gegen jene Zeit soll darin bestehen, daß die handelnden Personen bei den Circenses nicht Berufsgladiatoren sind, sondern das Jäger, die menschliche ArdettSlraft. 30

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30. Das Militärwesen.

Volk selbst, das sich durch diese Spiele stärkt zur Arbeit und erholt von der Arbeit. Es ist nicht zu leugnen, daß in dieser Richtung manche Anfänge zu verzeichnen sind, nämlich die Turnvereine mit ihren Turnfesten^ allein das, was hier getrieben wird, ist noch nicht überall urwüchsig und populär genug, um die Masse des Volkes zu ergreifen. Das künstliche Geräth und das Kunststück spielen noch eine viel zu große Rolle. Soll die Gymnastik national werden, so muß sie in der Abstreifung des Schnlmäßigen, Künstlichen und Geräthschaftlichen noch weiter gehen und reine Elemen­ targymnastik treiben, zu der nichts gehört als das freie Turnfeld, von dem wir oben sprachen und das darin eine neue segensreiche Verwendung finden wird, daß es der Ort für die Abhaltung der ländlichen circensischen Spiele ist, aus denen die nationale Arbeitskraft ihre besten Säfte ziehen wird. Es liegt natürlich nicht in der Aufgabe dieser Schrift, auf Grund der im bisherigen erhobenen allgemeinen physio­ logischen und psychologischen Anforderungen ein Turnsystem auszuführen, und ich kann es um so mehr unterlassen, als mein Bruder ein im allgemeinen diesen Anforderungen entsprechendes Turnsystem zusammengestellt nnd veröffent­ licht hat*).

30. Das Militärwesen. Seit das Soldatsein nicht mehr blos eine bestimmte Berufsart, sondern durch Einführung der allgemeinen Wehr­ pflicht wenn auch nicht für alle, so doch für den Kern der *) Prof. Dr. O. H. Jäger, Neue Turnschule. Stuttgart 1876.

30. Das Militärwesen.

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Bevölkerung zu einem Stück Erziehung geworden ist, wie die Schule, darf das Militärwesen nicht mehr blos vom Standpunkt der militärischen Interessen des Staates be­ urtheilt werden, sondern es muß allseitige Klarheit darüber herrschen, was im Heer für Hebung der menschlichen Arbeits­ kraft und Gesundheit geschieht, geschehen kann und anzu­ streben ist, ohne die Erreichung des militärischen Ziels zu zu schmälern. Daß diese allseitige Klarheit noch nicht besteht, darüber belehrt uns nicht blos die zeitungsbekannte Thatsache, daß den Lobrednern des Militärwesens fort und fort Stimmen und Parteien entgegentreten, welche das Militärwesen vom sanitären und nationalökonomischen Standpunkt als der Uebel größtes bezeichnen, man kann sogar diese Unklarheit bis in einzelne Köpfe hinein verfolgen, die über diese Frage gewissermaßen mit sich selbst im Hader liegen, wovon ich ein hübsches Beispiel meiner Schilderung voransenden will. In seinem im Jahre 1871 erschienenen „System der Hygieine" sagt E. Reich (S. 191) über die Gymnastik: „Wir müssen zurückgehen in das Alterthum, um die Wurzeln der Leibesübung zu erkennen, zu finden; wir müssen zu den alten Griechen uns begeben, um die Wirkung der Gymnastik auf die ganze Bevölkerung zu ermessen; wir müssen endlich das preußische Heer der Gegen­ wart betrachten, um zu ersehen, welche großartigen Wirkungen eine gut geleitete Trainirung ausübt." „Die Gymnastik, das ist: die systematische Uebung der Muskeln, gehört innerhalb des civilisirten Lebens zu den unerläßlichen Voraussetzungen gesundheitsgemäßer Entwick­ lung des Leibes. Vernachlässigung der Gymnastik hat nicht selten Siechthum und Leiden zur Folge. Es ist deshalb vortrefflich, die systematische Leibesübung zum Gegenstand

der Erziehung zu machen."

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30. Das Militärwescn.

In einem zweiten, 1877 erschienenen Werk des gleichen Verfassers „Die Ursachen der Krankheiten" liest man

nun S. 167 mit Erstaunen: „Der Stand der Soldaten ist ein sehr ungesunder. Im Frieden die Tagedieberei und das faule Lungern, verbunden mit dem ewigen Einerlei des geisttötenden Exereierens, im im Kriege die Strapazen, das Hungern, andrerseits die

Uebersättigung, ferner die Erkältungen, die Ueberanstrengung. der Kräfte rc. — dies alles bewirkt den schlechtesten Gesund­ heitszustand bei den stehenden Heeren." Auf S. 169 des gleichen Werkes folgt nun der Passus: „Ueber die Sterblichkeit und Todesursachen in ber preußischen Armee liegt eine Abhandlung von I. L. Casper (1876) vor. Wir entnehmen derselben, daß Krankheits- unb Sterblichkeitsverhältnisse in keiner Armee so günstig sind wie in der preußischen, und daß überhaupt jeues Kriegsheer, in welchem verhältnißmäßig die geringste Sterblichkeit herrscht, nicht nur die am besten mit Aerzten versehene, sondern die auch am besten diseiplinirte und verwaltete Armee ist." Man glaubt nun, der Verfasser werde wohl diese letztere Thatsache mit dem Hinweis auf den ausgiebigeren Betrieb der Gymnastik im preußischen Heere erklären und das Ver­ dammungsurtheil an der Spitze des Paragraphen seiner All­ gemeinheit entkleiden. Aber nein, er fährt auf S. 173 fort: „Von Freunden des Soldatenthums werden zuweilen statistische Belege in Form absoluter Zahlen beigebracht, um zu beweisen, daß die Kriegerprofession keine so gesundheits­ nachtheilige sei, als allgemein geglaubt wird. So finden wir bei Alexander Layet folgende Tabelle, geltend für Frankreich."

30. Das Militärwesen.

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Sterblichkeit pro Mille. Civil

Ä on „ „ „ „ ,,

Militär

17 - 19 Jahr en 7,41 . . 3,13 . . 20—24 „ 8,42 . . 5,73 . . 25-29 „ 9,21 . . 8,01 . . 30—34 „ 10,23 . . 12,26 . . 35- 19 „ 11,63 . . 16,35 . . 40-44 „ 13,35 . . 19,60 . .

4,28 zu Gunsten des Militärs 2,49...................... „ 1,20 „ 2,03 zn Gunsten des Zivils 4,72 „ 6,07 '' I I I

„Ueber die wir folgendes denken: Die Civilbevölkerung ohne weiteres enthält alle Gesunden, Halbgesunden, Kränk­ lichen, Kranken, Siechen, Krüppel, Wichte, Schelme, Unholde, mit einem Worte: allerhand gutes und elendes Gethier. Die Militärbevölkerung besteht aus sorgfältig auserlesenen Zweihändern von guter Constitution und größerem Widerstandsvermögen. Wenn der erste Theil jener Tabelle zu Ounsten des Militärs spricht, ist dies nur scheinbar; denn Sie Zahlen haben nicht absolute, sondern ausschließlich relative Bedeutung und weisen in dieser letzteren gerade auf das Gegentheil von Gesundheitsgemäßheil des Kriegerhand­

werks". Es fällt ihm also nicht bei, daß diese Tabelle sich auf Frankreich bezieht, ein Land, von dem er weiß, daß sein Heer weit ungünstigere Gesundheitsverhältnisse hat als das preußische, weil ganz andere Einrichtungen. (Für den Leser füge ich bei: Im Jahre 1867 betrug die Erkrankungshäufig­ keit pro Kopf und Jahr in Preußen 1,125, in Frankreich 2,120, war also fast doppelt so groß*).) Es fiel ihm auch folgen­

des nicht ein: Auch in Frankreich sind mit dem dreißigsten Lebensjahre die meisten Soldaten längst zum Civilstand zurückgekehrt; was nach diesem Alter beim Militär bleibt, sind außer dem *) Statistischer Sanitätsbericht über die kgl. preußische Armee für 1867 Berlin 1870. S. XV.

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30. Das Militärwefen.

Offizierstand jene Berufssoldaten, die durch Ehelosigkeit uab ausschweifenden Lebenswandel natürlich wenig Anspruch auf ein hohes Lebensalter sich erwerben, während weitaus die Mehrzahl der durch die soldatische Erziehung gekräftigten Männer innerhalb der Civilbevölkerung stecken, wodurch Seren Mortalitätsziffer günstiger werden muß. Auch folgenden Widerspruch merkt der Verfasser nicht: Während in dem Eingangspassus auf S. 167 von der Tage­ dieberei und dem faulen Lungern der Soldaten gesprochen ist, redet er S. 170 von der Ueberanstrengung durch Märsche, Exercitien rc. In diesen Widersprüchen spiegelt sich die Zerfahrenheit der öffentlichen Meinung getreu wider, und es sollen des­ halb in Folgendem die wichtigsten Punkte klargelegt werden, von denen die Beurtheilung auszugehen hat. Hiebei fint> zwei Dinge gesondert zu behandeln: die Kasernirung und die militärische Dressur. a) Die Kaserne. Ein Uebelstand beim Militärwesen ist die Zusammen­ häufung großer Menschenmassen auf kleinem Raum in den Kasernen, wodurch die Insassen der Verderbniß der Luft, des Bodens und des Trinkwassers besonders ausgesetzt sind. Es ist dies zwar der gleiche Uebelstand, an welchem auch die Schulen kranken, allein er fällt bei den Kasernen schwerer ins Gewicht, weil der Soldat länger, namentlich die ganze Nacht durch in der Kaserne ist. Das ist nun aber ein Uebelstand, welcher durchaus nicht in der Natur der Sache liegt, sondern gehoben werden kann. Gerade so wie man angefangen hat, an die Stelle von voll­ gepfropften Schulspelunken große, freie, luftige, gut ventilirte, kurz allen Anforderungen der Gesundheitspflege entsprechende Neubauten zu setzen, so muß man eben daran gehen, auch

30. Das Militärwesen.

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in den Kasernen die aus einer Verständnißlosen Zeit über­ kommenen, Uebelstände zu bekämpfen. Daß diese — nament­ lich in Kasernen aus älterer Zeit — groß sind, ist begreif­ lich. So lange die Heere nur durch Conscription aus den unteren Volksklassen sich rekrutirten, ja so lange sie nur ge­ worbene Söldner, also vorzugsweise gesellschaftlicher Aus­ wurf waren, machte man mit denselben wenig Federlesens und stellte die Kasernen in hygienischer Beziehung auf gleiche Stufe mit den Gefängnissen. Heute liegt die Sache anders: Wir überantworten den Kasernen die Blüthe und den Kern der Nation und damit ist es für diese, nicht blos Ehrensache, sondern Pflicht der Selbsterhaltung, keine Opfer zu scheuen, um die Kasernen auf den Rang von hygienischen Muster­ anstalten zu erheben. Daß in dieser Beziehung auf deutschem Boden Vieles geschehen ist, namentlich relativ zu den gebotenen Mitteln und zu dem zähen Widerstand, welchen die öffentliche Mei­

nung den Ausgaben für Militärzwecke entgegenstellt, unter­ liegt keinem Zweifel, und namentlich ist der allseitig an­ erkannte günstige Sanitätszustand der preußischen Armee ein Beweis, daß man dort nicht blos von Seite der Verwaltung, sondern allmählich auch von Seite des Volkes begriff, was noth thue. Ein Blick in den letzten, 1876 ausgegebenen Sa­ nitätsbericht der preußischen Armee gibt uns die angenehme Beruhigung, daß diese Armee, deren Gesundheitszustand schon früher der beste unter allen europäischen Heeren war, auch neuerdings in dieser Richtung gefördert worden ist. Es be­ trug nämlich in dem Zeitraum von 1846—63 die jährliche Sterblichkeit 9,49 pro Tausend, in dem Zeitraum von 1867 bis incl. 1872, aber mit Hinweglassung des Kriegsjahres vom 1. Juli 1870 bis 1. Juli 1871, nur 6,82 pro Tausend. Das ist ein Verhältniß wie 100: 71,8, also eine Besserung der Mortalität um 28,2 %! Ein Resultat, auf das die deutsche

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30. Das Militärwescn.

Armee stolz fein darf. Allein es gilt nicht nur auf dem eingeschlagenen Wege fortzufahren und die sanitären Ver­ hältnisse der Kasernen immer günstiger zu gestalten, sondern es scheint mir auch der Ueberlegung werth, ob nicht im Prinzip Verbesserungen zu schaffen wären, und hierüber mochte ich einige Worte sagen. Es mag manche pekuniäre und administrative Vortheile haben, möglichst viele Leute zusammenzudrängen und durch gemeinschaftliche Einrichtungen zu verknüpfen, allein dem stehen auch viele sanitäre und moralische Nachtheile gegen­ über, die meiner Ansicht nach viel schwerer wiegen. Wir haben bei den Krankenhäusern die Erfahrung gemacht, daß die Verhältnisse sich nni so günstiger gestalten, je weniger man die Leute zusammenhäuft; wir wissen, daß eine Dis­ semination der Kranken in zahlreiche kleinere Krankenhäuser günstiger ist als die Cumulirung in großen Krankenkasernen. Was für den Kranken gilt, gilt auch für den Gesunden; Beweis dafür ist, daß in den Ländern, wo die Civilbevölkerung in Miethkaserneu zusammengepfercht ist, die sanitären und moralischen Verhältnisse viel ungünstiger liegen als da, wo das Familienhaussystem herrscht (England, Holland rc.), worüber im folgenden Kapitel einiges gesagt werden soll. Vorläufig will ich nur anführen: In London, dieser Riesen­ stadt, wo sich alle möglichen gesundheitsschädlichen Umstände in einer Weise häufen wie in keiner andern europäischen Großstadt, sterben jährlich doch nur 24 vom Tausend, in dem im allgemeinen viel gesünder gelegenen und beschaffenen Paris 28, in dem viel kleineren, weit und luftig gebauten Berlin 25, in Petersburg 41 und endlich in Wien 47 vom Tausend. Ich möchte diesen großen Unterschied zumeist darin finden, daß in London auf ein Haus nur 8 Köpfe, in Berlin 32, in Paris 35, in Petersburg 52 und in Wien 55 Köpfe kommen.

30. Das Militärwesen.

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Zur Minderung dieser nachtheiligen Zusammenhäufung lassen sich natürlich verschiedene Wege einschlagen: einerseits die Vermehrung der Garnisonsorte, andrerseits die Ersetzung der Regiments- und Bataillonskasernen durch Compagnie­ häuser — da ja ohnedies die Compagnie die ökonomische Einheit erster Ordnung ist; endlich aber die Ersetzung der Kasernen durch Barackenquartiere mit noch weiterer Parzellirung in Korporalschastsbaracken. Bezüglich der Ba­ racken erinnere ich wieder daran, daß sich die Barackenspitale gegenüber den soliden, massiven Lazarethen ganz entschieden bewährt haben. Erinnern wir uns doch auch daran, daß die Zigeuner die gesündesten Menschen sind. Der Haupt­ nachtheil, der aus der Zusammenhäufung vieler Menschen in geschlossenem Raum entspringt, ist die Luftverderbniß, und die ist um so geringer, je größer die Porenventilation durch die Mauerwünde ist. In einem geschlossenen Raume', der rundum an die freie Luft stößt, ist diese Ventilation 5mal so groß als in einem Zimmer, das nur Eine Außenwand hat. Es ist eine bekannte Thatsache, daß epidemische Krank­

heiten oft mit großer Hartnäckigkeit in bestimmten Zimmern eines Hauses, ja sogar in bestimmten Ecken eines Zimmers auftreten, und ich kann zu letzterem ein Beispiel aus meinem eigenen Hause aufführen. Dasselbe wurde in diesem Frühjahr fertig und von meiner Familie am 15. April bezogen. Um das Haus trocken zu machen, wurde vor dem Beziehen desselben durch mehrere Monate fortwährend geheizt und zwar mit einer durch alle Stockwerke gehenden, eine lebhafte Ventilation erzeugenden Centralluftheizung. Dabei zeigte sich eine Ecke im Schlaf­ zimmer meiner Knaben da, wo das Haus an das benachbarte stieß, ganz besonders hartnäckig; das Zimmer konnte erst 4 Wochen nach den andern Zimmern des Stockwerks gemalt

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30. Das Milüärwescn.

werden, weil diese Ecke absolut nicht trocknen wollte. In diese Ecke kam später das Bett meines ältesten Sohnes zu stehen, der gewöhnt war Sommer und Winter neben dem geöffneten Fenster zu schlafen. Trotzdem daß nun nur 1,2 Meter davon das Fenster offen war, klagte er nach der ersten Nacht „er könne nicht athmen" und nach einigen Tagen erkrankte er richtig an einem hartnäckigen mit Gelbsucht sich verbindenden Gastroduodenalkatarrh. Als ich dann durch eine bauliche Veränderung die Ventilation dieser Zimmerecke er­ zwang, wurde der Knabe gesund und ist es seither geblieben. Solche insalubre Zimmer und Zimmerecken sind die Hauptkrankheitsherde der Kasernen und die fallen beim Ba­ rackensystem vollständig weg, weil alle Wände an die freie Atmosphäre stoßen. Ich erinnere weiter an die notorische Thatsache, daß der Krankenstand der Armee zu keiner Zeit geringer ist als während der Manöver. Um dem Laien diese dem Militär wohlbekannte Thatsache ziffermäßig vorzuführen, greife ich aus dem oben erwähnten Sanitätsbericht folgendes über die monatliche Krankenbewegung in der deutschen resp, preußi­ schen Armee heraus.

Tabelle des monatlichen Krankenzuganges in der preußischen Armee.

Jahr 1867 1868 1869 1872 1868, 1869 und 1872 zusammen prozentisch

Januar Febr. | März i April 1 Mai

Juni

48661 41312 40956 32960 31675 31881 40388 . 36666 34661 35802 32045 31060 40784 37328 31113 30767 28521 29594

129833 115306 106730 99529 92241 92544 12,1 10,0 1 9,3 1 10,8 8,7 8,6

30. Das Militärwesen.

Jahr 1867 1868 1869 1872 1868, 1869 und 1872 zusammen prozenüsch

Juli

Augusts Septbr. Oktober Novbr.

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Dezbr.

15483 15240 34123 29628 19124 19180 23966 21026 30703 25738 17882 17575 21998 24576 31923 29340 19104 17405 21944 25993

i 96749 84706 56110| 54160. 67908 71595 9,0 7,9 5,2 | 5,0 | 6,3 1 6,7

Zur Erläuterung diene folgendes: Der September ist der Manövermonat, in welchem sich die Mannschaft im Freien aufhält, und wir sehen, wie in den drei Jahrgängen 1868, 67 und 72 der Krankenzugang gegenüber dem vorher­ gehenden Monat August sofort herunterschnellt: im Jahre 1868 und 72 von 29 auf 19 Tausend, im Jahre 1869 von 25 auf 17 Tausend, in der Summe aller drei Jahre von 84 auf 56 Tausend, das heißt genau um ein Drittel. Das belehrendste und jede andere Deutung dieser Zifferndifferenz abwehrende ist, daß im Jahre 1867 siehe oben, in welchem des vorangegangenen Kriegsjahres wegen die Manöver ausfielen, die Kranken­ ziffern dieser beiden Monate gleich sind. Wenn der Monat Oktober in Bezug auf den Krankenzugang dem Manöver­

monat gleich kommt, so liegt der Hauptgrund darin, daß im Oktober durch den Austritt des ältesten Jahrganges der Mannschaftstand beträchtlich niedriger wird und der zurück­ bleibende Rest noch von der durch die Manöver erzeugten Kräftigung zehrt. Da diese Zunahme des Gesundheitsstandes durch das Verlassen der Kasernen und den andauernden Aufenthalt in der freien Luft nicht blos für die militärische Frage inter­ essant ist, sondern auch den Werth der Luftveränderung, der Erholungsreisen und der freien Luft gegenüber der Wohnungs-

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30. Das Milüärwcsen.

lüft iHuftrirt, so lohnt es sich, einen Blick auf die Kranken­ register des Militärs zu thun, um zu sehen, welche Krank­ heitsgruppen durch diesen Aufenthalts- und Thätigkeitswechsel gemindert werden. Hier ist nun die Thatsache schlagend, daß dies gerade die Erkältungskrankheiten sind. Wenn man bedenkt, daß die Truppen während der Manöver oft gezwungen sind, irn schlechtesten Wetter zu biwakiren und der von feem Volksaberglauben so sehr gefürchteten Nachtluft sich auszu- setzen, so liegt darin ein neuer Beweis für meine früher gegebene Darlegung der Erkältung, daß es sich bei ihr weit mehr um eine schlechte Körperbeschaffenheit, als um eine äußere Schädlichkeit handle. Als ziffermäßigen Beleg gebe ich aus den betreffenden Sanitätsberichten folgendes: Während die Erkältungsfieber in dem manöver­ losen Jahre 1867 im August und September gleich zahlreich sind (546 und 542), gehen sie im Jahre 1868 von 871 im August auf 628 im September, im Jahrgang 1869 von 651 im August auf 503 im September, im Jahre 1872 von 691 im August auf 358 im September, in Summa von 2213 auf 1489, also um ein Drittel zurück. Bei den Katarrhen der Luftwege, die ja ebensalls der Hauptsache nach zu den Erkältungskrankheiten ge­ rechnet, aber auch durch Luftverunreinigung erzeugt werden, sehen wir in dem manöverlosen Jahre 1867 für die beiden Monate die Ziffern 1101 und 1005, in den Manöverjahren dagegen: 1868 1854 — 839; 1869 1496 — 845; 1872 1864—903; in Summa 4414—2587, ein Verhältniß etwa wie 11 : 6,3 also einen Rückgang auf fast die Hälfte.

Bei dem hitzigen Gliederweh (akutem Rheuma­ tismus) stellt sich die Sache so: 1867 (kein Manöver), 852 bis 802; 1868 1063—594; 1869 1107—649; 1872 1158

30. Das Militärwesen.

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bis 710; in Summa 3328—1953, also ein Verhältniß wie 11 : 6,2. Die einfachen Diarrhöen, die wir ebenfalls der Mehrzahl nach als Erkältungskrankheiten zu betrachten haben, nehmen im manöverlosen Jahre 1867 sogar vom August mit 911, im September mit 1274, also im Verhältniß tote 3 : 4 zu, was ganz damit harmonirt, daß der September mit seinen kühlen Nächten- und heißen Tagen leichter Erkältungen setzt als der warme August. Dagegen zeigen die Manöverjahre, troßdem daß der während der Manöver sicher reichlicher er­ folgende Genuß von Obst der Entstehung von Diarrhöen in diesem Monat entschieden günstiger ist, das Gegentheil: 1868 2922—967; 18691743—875; 18722788—1654; in Summa 7453—3496, also ein Rückgang von weit über die Hälfte. Ziemlich in dieselbe Kategorie gehört die katarrha­ lische Gelbsucht: die Gesammtziffern der drei Manöver­ jahre sind August 276, September 143, also Rückgang fast auf die Hälfte. Die Kräftigung des Verdauungsapparates durch die mit den Manövern gesetzte Luftveränderung und Abhärtung spricht sich nicht nur in den obigen Ziffern der Diarrhöen aus, sondern auch noch in den Ziffern des fieberlosen Magen­ katarrhes. Im manöverlosen Jahre 1867 sind die Ziffern 1189 und 1103, dagegen: 1868 2704—1488; 1869 2150—1120; 1872 2535—1324; Summa 7389—3932, ein Verhältniß etwa wie 41 : 21. Weiter belege ich das noch mit den Ziffern für die akuten Magen- und Darm­ krankheiten: Im manöverlosen Jahre 1867 146—176, also eine Zunahme von etwa 4 : 5; in den Manöverjahren dagegen: 1868 503—206; 1869 306 — 174; 1872 445 bis 231, Summa 1254—611, mithin Rückgang auf unter die Hälfte. Endlich füge ich die gastrisch-biliösen Fieber hier an: 1867 (kein Manöver) 383—394, dagegen 1868

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730—557; 1869 478—390; 1872 653—485; Summa 1861—1432, ein Rückgang im Verhältniß von 9 : 7. Interessant sind weiter die Ziffern des Wechselfiebers, bei dessen Entstehung man die Nachtluft sich besonders betheilt denken darf. Hier figurirt das manöverlose Jahr 1867 mit den Ziffern 346 und 246; das Manöverjahr 1868 mit 908 und 1005, also gegenüber dem Rückgang von 1867 eine beträchtliche Zunahme; allein dagegen stehen bas Jahr 1869 mit 1500 gegen 721 und das Jahr 1872 mit 1169 gegen 636, also beide Jahre zusammen mit 2769 gegen 1357, d. h. Mit einem Rückgang auf unter die Hälfte, so daß vielleicht nur eine nicht zweckmäßige Wahl der Manövrirterrains im Jahre 1868 ein scheinbar ungünstiges Resultat ergeben hat. Noch lohnt es sich, einen Blick auf diejenigen Krank­ heiten zu werfen, welche in den Sterblichkeitstabellen mit den höchsten Ziffern figuriren. 1. Typhus. Bei dieser Krankheit liegt die Sache natür­ lich so: Wenn in einer Kaserne eine Typhusepidemie aus­ bricht, so werden wenigstens seit den Jahren, um die es sich hier handelt, umfassende Maßregeln getroffen, um den An­ steckungsherd zu zerstören; bei der Civilbevölkerung geschieht dies im allgemeinen nicht, und deshalb sind dort überall Ansteckungsherde. Bei den Manövern steigert sich deshalb durch die vermehrte Berührung des Militärs mit der Civil­ bevölkerung die Ansteckungsgefahr. Dies kann bei dem einen Armeekorps zu einer Steigerung der Typhuserkrankung während des Manövermonates führen, während bei einem andern Armeekorps, das ungesunde Kasernen und ein ziem­ lich seuchenfreies Manöverterrain hat, das umgekehrte ein­ tritt. Dies zeigt uns nun auch die Krankentabelle der ein­ zelnen Armeekorps; z. B. im Jahre 1868 sanken die Typhus­ erkrankungen durch die Manöver bei dem Gardekorps von 102 auf 53, beim 8ten Armeekorps von 74 auf 20, beim 9ten

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Von 35 auf 19, während sie beim 1. Armeekorps von 18 auf 37, beim 2ten von 40 auf 58, beim 4ten von 28 auf 55 stiegen und bei den übrigen Armeekorps wenig und zwar bald auf bald ab sich änderten. Das gleiche zeigen auch die Jahre 1869 und 72. Faßt man die Gesammtziffern ins Auge, so ergibt sich deshalb wenig Unterschied. In den Manöverjahren finden wir die Ziffern: 1868 433—467; 1869 219—213; 1872 261—332, in Summa 913—1012, also fast genau dasselbe Verhältniß (9 : 10) wie in dem manöverlosen Jahre 1867, wo die Ziffern 171 und 195 stehen. Aber in so fern ist dies Ergebniß doch beachtenswerth, als es die Anschauung gründlich wider­ legt, daß die mit den Manövern verbundenen Strapazen die Widerstandsfähigkeit gegen die genannte Seuche vermindern. 2. Lungenentzündung. Bei dieser Krankheit fällt auf, daß sie nicht wie die obigen leichten Erkältungskrank­ heiten alle durch die Manöver gemindert, sondern entschieden etwas gesteigert wird, wie folgende Ziffern lehren: 1867 (ohne Manöver) 98—76; 1868 141—167; 1869 174—236; 1872 121—97; Summa der drei Manöverjahre 436—490 (wie 6,2 : 7). Bei der ganz verwandten Rippenfellentzündung, die man wohl als reine Erkältungskrankheit ansehen darf, .zeigt sich sogar ein fast völliges Gleichbleiben: 1868 57—54; 1869 68—61; 1872 72—65; Summa der drei Manöver­ jahre 197—180 (wie 6,6 : 6) gegen das Jahr 1867 mit 42—37 (wie 7 : 6,1). Vielleicht dürfen wir die Sache so an­ ansehen: Im August ist zwar die Erkältungsfähigkeit der Mannschaften größer als im September, aber die Gefahr sich stark zu erstärken ist im August wegen der größeren Wärme und des Schlafens im Schutz der Kaserne geringer als in den schon herbstlich kalten Septembernächten im Freien, und so dürfen wir immerhin die Thatsache, daß die Zahl

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der Brustentzündungen während der Manövermonate trotz, der entschieden gesteigerten Gefahr nur sehr rnbedeutend zunimmt, als Beweis dafür ansehrn, daß die Widerstandsfähigkeit der Mannschaft durch die Manöver gesteigert wird. Zu dieser Erklärung ist jedoch anzumerken, daß man neuerdings die Lungen­ entzündung im Verdacht hat, eine Infektionskrankheit zu srin. 3. Lungenschwindsucht. Auch die Ziffern dieserKrankheit sprechen entschieden für den günstigen Einfluß der Manöver. Die Ziffern sind: 1868 81—59; 1869 65—43; 1872 60—55; Summa der drei Manöverjahre 206—157, also ein Verhälmiß wie 4 : 3 gegen das manöverlose Jahr 1867 mit 44—69, also einem Verhältniß von 2:3, was einer Herabminderung des Erkrankungsverhältnisses auf die Hälfte entspricht! Ein sicher überraschendes Resultat gegen­ über der weitverbreiteten Ansicht von der Gefährlichkeit der Witterungswechsel bei dieser Krankheit, aber ganz in Uebercinstimmung mit der in Kapitel 28 entwickelten Ansicht der Lungentuberkulose als einer exquisiten Stubensitzerkrankheit. Dann muß bei der Schwindsucht noch hervorgehoben werden^ daß der vom Reinigen der Montur em stehende Staub in den vielzimmerigen Kasernen sich viel zäher hält als in den Manöverquartieren. 4. Die Ruhr. Für diese Krankheit, die im Sterbe­ register den 5ten Rang einnimmt und ihrer Natur nach neben dem Typhus steht, gilt natürlich bezüglich der Ansteckungs­ gefahr dasselbe, was von dem Typhus gesagt wurde. Ja die Tabellen zeigen, daß bei dieser Krankheit die Ansteckungs­

verhältnisse fast ganz allein maßgebend sind und die mit den Manövern gesetzte Veränderung des Körperregimes fast ganz ohne Einfluß ist. Bei der Wichtigkeit der Krankheit sei dies mit den betreffenden Ziffern belegt. In der Total­ summe des manöverlosen Jahres 1867 finden wir den kolos-

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salen Unterschied von 24 Erkrankungen im August gegen 237 gegen den September. Bei der Durchsicht der Tabellen der 12 einzelnen Armeekorps ergibt sich, daß fast alle Erkran­ kungen auf das 7te mit 13 und 193 und auf das 8te Armee­ korps mit 1—25 fallen, während 8 Armeekorps fast ganz ruhrfrei waren. Im Manöverjahr 1868 blieben nur 3 Armee­ korps fast ganz ruhrfrei, aber nur in 3 Armeekorps (dem Gardekorps mit 31—21, dem 7ten Armeekorps mit 18—10 und im lOten mit 39—70) kommen mäßige Epidemien vor, bei denen einmal der Manövermonat, zweimal der Kasernenmonat bedeutend überwiegt. Im Manöverjahr 1869 bleiben 3 Armee­ korps völlig ruhrfrei, 3 fast ganz; nur im 1. Armeekorps mit den Ziffern 3—14 und im lOten Armeekorps mit 20—8 finden wir kleine Epidemien, bei denen derselbe Gegensatz herrscht: das eine Mal überwiegt die Ziffer des Manöver­ monats bedeutend, das andere Mal die des Kasernenmonats. Im Manöverjahr 1872 sind stärker befallen das Gardekorps mit 36—18, das 3te Armeekorps mit 22—42, das 7te mit

25—66, das 8te mit 132—113, das 1Ote mit 146—141, die hessische Division mit 89—10, die würtembergische Division mit 36—92, also wieder mit durchaus keinem Anzeichen da­ für, daß das Manöverregime irgend einen Einfluß nimmt: bald fast völlige Gleichheit der Ziffern, bald Ueberwiegen des Manövermonats, bald Ueberwiegen des Kasernenmonats. Wenn also überhaupt hier aus den Ziffern etwas für unsere Frage sich ergibt, so ist es, daß im manöverlosen Jahr 1867 die Epidemie des 7ten Armeekorps durch Verbleiben in der Kaserne die höchste Ziffer aller beobachteten Epidemien er­ reicht, daß es also unstreitig sich empfiehlt, Kasernen, in denen eine Ruhrepidemie ausgebrochen ist, zu verlassen. Neuerdings ist der Plan gefaßt worden, für die deutsche Armee eine Anzahl größerer ständiger Lager zu bilden, auf welchen die Soldaten in Baracken untergebracht werden. Von Jäger, die menschliche Arbeitskraft. 31

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diesem Plan ist der eine Theil, die Barackirung, nach dem obigen unbedingt zu empfehlen, allein im Ganzen halte ich denselben doch nicht für richtig. Wollte man die Armee das ganze Jahr, Sommer und Winter, in diesen Lagern belassen, so wäre das ein Verzicht auf den belebenden und bildenden Verkehr der Soldaten mit der Civilbevölkerung, ein Verzicht, der sich namentlich in schlimmster Weise beim Offizierkorps geltend machen würde. Bei diesem ist ohnedies mehr als bei einem andern Beruf Hang und Gelegenheit vorhanden, sich abzusondern, und Ab­ sonderung ist für jeden Stand nachtheilig. Wäre aber der Plan so zu fassen, daß der Aufenthalt im Lager nur einige Sommermonate dauern soll, so wäre das zwar an und für sich eine ganz zweckmäßige hygienische Maßregel; allein für wichtiger halte ich die gänzliche Er­ setzung der Kasernen durch Baracken deshalb, weil die Nach­ theile der vielzimmerigen Kasernen gerade in der kalten Jahres­ zeit am intensivsten zu Tage treten. Kurz, das wichtigste ist die Aenderung des Winterquartiers, nicht die des Sommerquartiers. Es wäre meiner Ansicht nach nicht blos eine halbe, sondern eine Viertelsmaßregel, Baracken zu bauen, die den größsten Theil des Jahres leer stehen, während die Mannschaften in den ungesunden Kasernen bleiben. Will man das Geld, daß die Baracken kosten, mit vollem Nutzen ausgeben, so müssen die Baracken so situirt werden, daß die Kasernen dadurch überflüssig werden. Das hätte dann auch den Vortheil geringerer Kostspieligkeit, da die Kasernen zu andern Zwecken verwendet und zum Theil verkauft werden könnten. b)

Die militärische Erziehung.

Den wichtigsten Punkt bei der Beurtheilung des Militär­ wesens bilden die Veränderungen, welche die militärische

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Schulung bei den Soldaten erzeugt. Wird die Qualität des Menschen in Bezug auf Arbeitskraft und Widerstands­ fähigkeit des Körpers durch sie verschlechtert, so ist das Militärwesen allerdings ein Krebsschaden unserer Kultur­ staaten; wird sie dagegen erheblich verbessert, so ist es eine segensreiche Einrichtung, welcher bei der großen Ausdeh­ nung auf die Bevölkerung keine andere an die Seite gestellt werden kann. Rufen wir uns in das Gedächtniß zurück, was über den Einfluß der Berufsarbeit in Kapitel 28 gesagt worden ist, und andererseits das, was wir in Kapitel 26 über die Abhärtung und in Kapitel 29 über das Turnen erfuhren, so legt sich schon dadurch der Schluß nahe, daß die mili­ tärische Erziehung von vortheilhaftem Einfluß auf die mensch­ liche Arbeitskraft sein muß und zwar aus folgenden Gründen. Die militärische Erziehung ist zu einem sehr erheblichen Theil gleichbedeutend mit Gymnastik, und zwar entspricht die militärische Gymnastik den meisten Anforderungen, die wir

in Kapitel 28 für die Gymnastik aufstellten. In erster Linie ist sie Befehls- und Beschleuni­ gungsgymnastik und äußert deshalb einen günstigen Ein­ fluß auf das Nervensystem in Bezug auf Erregbarkeit und Leitungsgeschwindigkeit. Sie erhöht die Sinnesschärfe, die Entschlossenheit, Raschheit und Gewandtheit der Körper­ bewegungen, erhöht das Temperament und verhilft dem Nervensystem zu einer möglichsten Beherrschung des Gesammtkörpers, ja sie hat in dem Stück vor dem Schulturnen einiges voraus, worüber ein paar Worte am Platze sein dürften, da man gerade in dieser Richtung mißfällige Urtheile hört. Es werden nämlich eine Menge von Vorschriften und Gepflogenheiten beim Militär als unnöthige, ja geradezu lächerliche Pedanterien und Quälereien bezeichnet, während sie meiner Ansicht nach nothwendige Bestand31*

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theile der Nervengymnastik sind. Das Wesen jeder Gymnastik ist Uebung des betreffenden Theils durch fort­ gesetzte angestrengte, nur durch das zur Erholung absolut nöthige Maß von Ruhe unterbrochene Thätigkeit. Bei der Nervengymnastik ist nun der Centralpunkt, auf dessen Aus­ bildung es ankommt, das Centrum des ganzen nervösen Mechanismus, und das ist das Bewußtseinscentrum. Es genügt durchaus nicht, daß von dem Soldaten während der Uebungen gespannte Aufmerksamkeit und pünktlichste Ausführung aller Uebungsbefehle verlangt wird. Vielmehr sind Vorkehrungen zu treffen, daß er auch dann, wenn er sich selbst überlassen ist, niemals in Geistesabwesenheit zurück­ versinken darf, sondern seine Aufmerksamkeit unablässig in Spannung zu erhalten gezwungen ist. Denken wir uns z. B. den Dienst des Schildwachstehens im Frieden: nur dadurch, daß der Soldat angewiesen ist, vor allen Militärpersonen die ihnen gebührenden Ehrenbezeugungen abzugeben, daß man von ihm verlangt, sich ganz genau nur so und so viel Schritt von einem Posten seitwärts zu bewegen und was dergleichen vielleicht sachlich ganz gleichgültige Anweisungen sind, wird er gezwungen, den Blickpunkt seiner Aufmerksam­ keit in steter Bewegung zu erhalten, ihn von Punkt zu Punkt laufen zu lassen, sich der Bewegung seiner Glieder, der Hal­ tung seines Körpers, der Objekte, die in seinem Sehfeld auf­ tauchen, der Geräusche, die an sein Ohr schlagen, stets bewußt zu bleiben. Es ist ganz richtig, daß es für das Sachliche des Schild­ wachstehens vielleicht völlig gleichgültig ist, wie viel Abstand der Mann von seinem Posten nehmen kann, ob er eine jen­ seits der Straße passirende Militärperson übersieht und nicht salutirt; aber von der größten Wichtigkeit ist es nicht blos für ihn als Soldaten im Ernstfall des Krieges, sondern auch später bei der Berufsarbeit, daß er nie in gedankenloses

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Nichtsthun oder gedankenloses, mechanisches Arbeiten versinkt, sondern daß er bei allem Thun sich stets alles und jedes präsent hält, auf was es bei der Arbeit irgendwie ankommen kann. Hievon hängt nicht blos die Qualität und Quantität der Arbeit ab, sondern das ganze Thun und Lassen eines Menschen überhaupt: strikteste Ordnung, Pünktlichkeit, Rein­ lichkeit, sorgfältige Beachtung aller Umstände, promptes, ent­ schlossenes Handeln, klares Erfassen der Situation sind um so sicherer die Früchte einer Nervengymnastik, je chikanöser — um mich dieses Ausdrucks zu bedienen — sie ist. Allerdings eines ist richtig; wenn der militärische Er­ zieher sein einziges Augenmerk auf die kleinlichen Neben­ umstände richtet, nicht stets auch das ganze Verhalten des Mannes im Auge hat, wenn er zu böswilliger Chikane greift, d. h. das zur Strafe macht, was nur Erziehungsmittel sein soll, wenn er den Dienst zum inhaltslosen Formalismus herabdrückt, statt den Soldaten als ein Gefäß zu betrachten, das er mit Muth, Kraft, Selbstvertrauen, Ehr- und Pflicht­ gefühl, Diensteifer, Opferwilligkeit, Gemeingeist, Vaterlands­ liebe, kurz mit allen Tugenden zu füllen hat, wenn er durch Taktlosigkeit und Rücksichtslosigkeit den Soldaten von sich stößt und nur sklavischen Gehorsam erzwingt, anstatt ihm Anhänglichkeitsgehorsam und Achtung abzuringen, dann ist der Erfolg ein sehr unvollständiger. Aber selbst in diesem schlimmsten Fall hat die Petanderie die eine Wirkung: ner­ viger, temperamentöser, geistig regsamer, sinnestüchtiger und arbeitsfähiger ist der Mann doch geworden. Stellen wir hier einen Vergleich mit der Schule an. Mit der Annahme des Prinzips, daß die Aufgabe der Schule die Unterrichtung sei, die Erziehung dagegen den Eltern bleiben solle, hat die Schularbeit vollends den einseitigen Charakter einer Berufsarbeit angenommen, so daß für sie in Bezug auf die sanitäre Wirkung dasselbe gilt,

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was wir in Kapitel 28 von der Berufsarbeit sagen mußten. Man hat das auch erkannt und als Gegenmittel das Schul­ turnen eingeführt. Daß damit vieles gebessert wird, unter­ liegt keinem Zweifel, allein ich stehe nicht an zu behaupten, daß die militärische Erziehung bei irgendwie richtiger Handhabung in Bezug auf allgemeine Arbeitsfähigkeit und Constitutionskraft weit mehr zu erzielen vermag als die Schule sammt ihrem Schulturnen und zwar gerade deshalb, weil sie einen hervorragend erzieherischen Charakter hat. Die Erziehung verlangt unbedingt die stetige Unter­ ordnung unter einen Erzieher, der das ganze Thun und Lassen des Zöglings regelt und überwacht und über genügende Mittel verfügt, um seinen Anordnungen überall und jeder­ zeit Befolgung zu sichern. Diese Erziehung muß natürlich eine einheitliche, in einer Person gipfelnde sein. Diese Bedingungen fehlen in der Schule völlig: Hier sind 3—4 fast völlig von einander unabhängige Erzieher: der Schul­ lehrer, der Turnmeister, die Eltern und allenfalls der Polizei­ diener, deren Erziehungsgrundsätze sicher in den wenigsten Fällen harmoniren. Somit kann von einer einheitlichen Er­ ziehung lediglich keine Rede sein und damit überhaupt von keiner Erziehung, es sei denn, daß es den Eltern gelingt, einen dominirenden Einfluß zu gewinnen. Das wird aber meist nur auf Kosten der gesundheitlichen Ent­ wicklung gehen und zwar darum: Der Rayon des elterlichen Einflusses ist das Haus und läßt sich nur schwer Weiler ausdehnen. Damit ist eine Ver­ bannung des Zöglings in das Haus und damit eine un­ genügende Bewegung in freier Luft nahe gelegt, ja über­ haupt ein ungenügendes Bewegungsmaß, weil das Haus naturgemäß kein Tummelplatz ist. Dieser Fall ist um so nachtheiliger, weil die Schule in gleichem Maße bewegungs-

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einschränkend und einsperrend wirkt und dem sich nun auch der dritte im Bunde, der Polizeidiener, gesellt: auch er tritt dem Tummel der Jugend in freier Luft entgegen und treibt sie in Schule und Haus zurück. Dem Turnmeister endlich gestehen die übrigen, auf ihre Autorität eifersüchtigen Faktoren der Erziehung keinen Einfluß über die Schwelle des Turn­ platzes hinaus zu, und die Zeit, während welcher die Jungen ihm unterstellt sind, bildet einen kaum nennenswerthen Bruch­ theil der gesummten Thätigkeitszeit. Die Folge dieser Situation ist, daß die Produkte der Schule nur selten eine ebenmäßige körperliche und geistige Entwicklung zeigen. Speziell charakteristisch ist für sie der Mangel an Nervosität, der sich in dem Mangel an Haltung und Führung auf allen Gebieten zeigt, worüber ich kurz folgendes angeben will. Eine der sinnfälligsten Charaktere eines ungenügenden Cerebrospinalreizes ist die Haltung des Gesammtkörpers. Es ist falsch, wenn man glaubt, die stramme, aufrechte Haltung sei einfach Folge einer mechanischen Knochen- und Muskel­ dressur und Gewöhnung; im Gegentheil: sie ist das Pro­ dukt der Hirngymnastik. Um dies klar zu machen, erinnere ich an die bekannte Erscheinung, daß ein Mensch sofort aus gebückter, schlaffer Körperhaltung in stramme, aufrechte Stellung übergeht, wenn der Cerebrospinalreiz durch irgend einen Umstand verstärkt wird, sei es durch einen stärkeren Sinnesreiz, z. B. ein auffälliges Geräusch, eine Anregung des Sehorgans, sei es durch ein erhebendes Gefühl oder den belebenden Eindruck, den frische Luft auf den Tastsinn macht re. Wie leicht sieht man einem Schüler schon an der Haltung an, ob er aufmerkt! Ein Haupt­ symptom der Geistesabwesenheit und Gedankenlosigkeit ist Schlaffheit der Haltung, und wir sagen nicht umsonst „ge­ spannte Aufmerksamkeit", weil der in der Aufmerksamkeit

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gelegene Cerebrospinalreiz thatsächlich die Muskeln spornt, auch ohne daß eine Bewegung beabsichtigt wird. Immer fällt schlappe Körperhaltung und haltlose Be­ wegung zusammen mit geringer Entwicklung der Sinnes­ thätigkeit; es mangelt solchen Leuten an Auge und Ohr für das, was um sie her vorgeht. Entweder ziehen sie theilnahmlos ihres Weges, wenn keine lebhaftere Erregung ihr Inneres durchzieht, oder wenn sie erregt sind, verfallen sie in planloses und rücksichtsloses Tollen, bei welchem wieder klar zu Tage tritt, daß sie weder Auge noch Ohr für das haben, was außer ihnen ist. Wir sprechen in solchem Falle von läppischem, kindischem Wesen; genauer gesagt aber ist es die Folge der Stumpfsinnigkeit, welche einer ungenügen­ den Schulung des Gesammtnervensystems entspringt. Die mangelhafte Herrschaft der Seele über den Körper spricht sich dann auf allen möglichen anderen Gebieten aus: körperliche Ungeschicklichkeit, linkisches Wesen, Versagen von Rede und Antwort, einerseits Verzagtheit, andererseits un­ besonnenes Aufbrausen. Auf dem intellektuellen Gebiet sehen wir bei solchen Leuten dann dieselbe Haltlosigkeit: sie wissen nicht, was sie wollen, verfallen bald auf das, bald auf jenes und haben auch quantitativ keine Führung: ohne äußeren Zwang be­ wegen sie sich zwischen Extremen, zwischen absolutem Zeittodtschlagen, unterbrochen durch Anfälle von Arbeitswuth. Am ungetrübtesten tritt dieses keineswegs günstige Er­ gebniß unseres Schulwesens auf den Universitäten zu Tage, wo der Wegfall des Schulzwanges den Menschen so zeigt, wie ihn die bloße Erziehung durch die Schule macht; denn eine andere hat der angehende Student noch nicht genossen. Es sind deshalb auch längst dort durch den Zwang des Bedürf­ nisses in Form der studentischen Verbindungen Einrichtungen entstanden, welche durch die Stellung, die sie den sog.

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„Füchsen" anweisen, und durch den gleichfalls den Anstrich des Pedantischen tragenden „Comment" das gut zu machen suchen, was die Schule in der Regel vernachlässigt. Allein es liegt in der Natur der Sache, daß diese Einrichtungen, theils weil post festum kommend, theils weil der Eintritt in sie freiwillig ist, theils weil der Altersunterschied zwischen den Erziehern und den zu Erziehenden zu gering ist, theils aus andern Gründen nicht alle Nachtheile des früheren Zu­ standes aufzuheben vermögen; namentlich klebt ihnen allen der Makel der Einseitigkeit an und zwar in dem Stück: die sog. Corps pflegen mit ihrem Paukwesen mehr die körper­ liche Erziehung und die Ausbildung von Willenstugenden und neigen zur Vernachlässigung der intellektuellen Entwick­ lung, während bei den nichtpaukenden Verbindungen gewöhn­ lich die Entwicklung des Körpers und des savoir faire zu kurz kommt. Daß die energische aktive militärische Erziehung weit mehr leistet als die Erziehung durch die studentischen Ver­ bindungen, das zeigt sich in dem Unterschied zwischen den Studenten, die ihr Militärjahr hinter sich haben, und denen, welche der militärischen Erziehung nicht theilhaftig geworden sind, ganz auffallend, er fällt in jedem Stück zu Gunsten der ersteren aus, und auf den süddeutschen Hochschulen hat sich im ganzen Studentenleben eine Wendung zum Bessern eingestellt, seit durch Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die militärische Erziehung einen propädeutischen Einfluß auf die Hochschulangehörigen gewonnen hat. Es soll übrigens mit Vorstehendem nicht gesagt sein, daß damit das studentische Verbindungswesen gegenstandslos geworden sei; ich halte dasselbe auch jetzt noch für eine hoch­ wichtige erzieherische Einrichtung, die nur dadurch ge­ wonnen hat, daß der junge Nachschub in einem „gehobeneren" Zustand in sie eintritt und die Verbindungen so der Mühe

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enthoben sind, ihn erst ganz aus dem Rohen heraus ;u arbeiten. Auch noch eilt anderes Mißverständniß, das sich an das oben Gesagte knüpfen könnte, muß ich vermeiden. So wenig ich den Zustand der Erziehungslosigkeit bei der landläufigen Form des Schulwesens billige, eben so wenig halte ich die Kasernirung der Schuljugend in Instituten, Seminarien, Kadettenhäusern 2c., wobei sie dem Contakt mit dem Eltern­ hause fast ganz entzogen ist, für das Richtige, da hiedurch die Entwicklung des Gemüthslebens und damit eine der wichtigsten sozialen Eigenschaften des Menschen verkümmert und der Verbreitung jugendlicher Laster Thür und Thor geöffnet wird. Die Reform unseres Schulwesens hat meiner Ansicht nach dahin zu gehen, daß die erzieherischen Befugnisse und Verpflichtungen des Lehrpersonals erweitert und die Jugend einer einheitlicheren und harmonischeren d. h. weniger einseitigen Leitung unterstellt wird. Der Lehrer soll nicht blos die Arbeit, sondern auch die Erholungsthätigkeit der Jugend leiten und in der Lage sein, auf die ganze Führung und Haltung derselben einen maßgebenden Einfluß zu nehmen. Durch zweckmäßige Organisation der Ortsschul­ behörde läßt sich das sicher machen, ohne die Uebelstände eines Autokratenthums herbeizuführen und ohne dem Eltern­ recht mehr Abbruch zu thun, als nützlich und nöthig ist und

im eigensten Interesse der Eltern liegt. In den Kreisen, in welchen mit dem 14ten Lebensjahr an die Stelle der Schule die Berufsarbeit tritt, ist die Sache in einem Stück besser: die Leitung wird eine einheitlichere und die Befehls- und Geschwindigkeitsgymnastik läßt häufig und namentlich so lange der Lehrjunge als Mädchen für alles benützt wird, wenig zu wünschen übrig; allein mit dem Eintritt in die eigentliche selbständigere Berufsarbeit kommt die Einseitigkeit dieser immer mehr zur Geltung und drückt

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dem Körper und Geist den Stempel auf, der den Rekruten

fast durch die Bank im Vergleich zum fertigen Soldaten als' ein wenig gelungenes Ebenbild Gottes erscheinen läßt. Das Bild eines Rekrutenhaufens ist genau so kaleidoskop­ artig bunt als die Arbeitstheilung in die verschiedenen Berufsbranchen. Jede Berufsart drückt dem Menschen, der sich ihr noch im wachsenden Alter zugewandt hat, echten eigenartigen Charakter auf und zwar um so sicherer, je früher der Uebergang zum Beruf stattgefunden hat. Ein geübtes Auge erkennt ohne weiteres, welcher Berufsart ein Rekrut angehört.

Den Bauernburschen verräth die gesunde Gesichts­ farbe, der etwas stumpfsinnige, einfältige Gesichtsausdruck, die grobknochige Gestalt, die deshalb besonders hervortritt, weil die Muskelentwicklung in der Regel eine spärliche ist, die eckigen, namentlich wenn es sich um Drehungen handelt, höchst unbehilflichen Bewegungen. Die Zöglinge der Werkstatt kennt man an dem lebhafteren, intelligenteren Blick, der ungesunden Farbe, dem schmächtigeren Gliederbau, der verhockten Haltung, dem flinkeren, im allgemeinen an­ stelligeren Wesen. Aber wie mannigfaltig wird das Bild im einzelnen! Welche Unterschiede zwischen dem schmächtigen, schlanken aber doch meist ebenmäßig gewachsenen zarthändigen Schneider, dem kurzbeinigen, breitschultrigen, grobhändigen, buckligen Schuster, dem dürren, langarmigen Schreiner, dem kurzhalsigen, hochschultrigen, fast immer einseitigen, knochigen Schlosser, dem Schmied mit seinen vom Schauen ins Feuer veränderten eigenthümlichen Augenausdruck, den nervigen Armen und Fäusten und der meist ebenmäßigen schlanken, nicht ungeschmeidigen Gestalt und Haltung, dem fleischigen, plumpen, rothbackigen Metzger mit seiner in der Regel etwas forschen Haltung, dem gebückten vier-

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schrötigen, wohlgenährten aber bleichen Bäcker mit den Lurch das Teigkneten athletisch gewordenen Armen u. s. w. In seiner vollen Einseitigkeit kommt aber der Berufs­ habitus bei uns gar nicht mehr zur Entwicklung und zwar eben dank der militärischen Erziehung. Wenn man den­ selben in seiner ganzen Fratzenhaftigkeit sehen will, dann muß man die bildlichen Darstellungen aus dem Volksleben des Mittelalters zu Rathe ziehen, als es noch keine mili­ tärische Erziehung der Gesammtbevölkerung, sondern nur einen Soldatenstand gab, dem sich einer auf Lebenszeit widmete. Es sind nicht etwa absichtlich ins Lächerliche gezogene Figuren, die uns die Künstler jener Zeit als Repräsentanten der Zünfte und Gewerbe auf der Leinwand hinterließen, sondern die getreuen Abbilder des Zustandes, in welchen schließlich unausgesetzte, durch Generationen fort­ gesetzte Berufsarbeit den Menschen versetzt. Schon ein oberflächlicher Vergleich zwischen einer Ab­ theilung Rekruten und einer Abtheilung gedienter Soldaten lehrt uns, daß die militärische Erziehung der Einseitigkeit der physischen und psychischen Entwicklung durch die Berufs­ arbeit energisch entgegentritt: die Bildfläche ist bei den gedienten Soldaten eine viel weniger bunte, und die einge­ tretenen Veränderungen sind durchaus Vortheilhafte. Es herrscht durch die Bank eine gesunde, frische Hautfarbe vor. Von den Gesichtern ist der stumpfe Ausdruck des Bauern ebenso geschwunden wie der krankhaft nervöse Ausdruck im Gesicht gewisser Handwerker. Die bei den Rekruten fast allgemein vorhandene falsche Krümmung der Wirbelsäule, über deren Bedeutung wir schon früher das Nähere er­ fuhren, hat eben so allgemein der richtigen Platz gemacht. Die Gegensätze in dem Fleischansatz haben sich bedeutend gemindert. Der Bauernbursche und der Handwerker sind muskulöser geworden, und was der Metzger, der Bierbrauer,

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der Bäcker re. zu viel hatte, ist geschwunden. Alle mit einander haben an Rührigkeit, Schnelligkeit und Gewandt­ heit, kurz an allen Faktoren der allgemeinen Arbeitsfähigkeit gewonnen, auch an den mehr moralischen, der Ordnungs­ liebe, Pünktlichkeit und Willigkeit, weshalb in Preußen, too die militärische Erziehung schon länger sich im allgemeinen die richtigen Ziele gesteckt hat, ceteris paribus der gediente Soldat überall als Arbeiter dem nichtgedienten vorge­ zogen wird. Es wäre im höchsten Grade wünschenswerth, wenn man in größerem Umfang mittelst exakter, ziffermäßige Fixirung zulassender Methoden feststellen würde, welche Veränderungen diejenigen Eigenschaften und Fähigkeiten/ welche den ökonomischen Werth eines Menschen bilden, durch die militärische Erziehung erfahren. Nicht nur wäre es von hohem wissenschaftlichen Interesse für die Beurtheilung der Gebrauchswirkung, sondern es würde eine solche auch nach den verschiedensten Richtungen hin werthvoll sein. Füv den militärischen Instruktor würden sich die zu erreichenden Ziele qualitativ und quantitativ viel genauer bestimmen lassen und dadurch manche Mißgriffe verhindert werden. Bei der Civilbevölkerung würden ungerechtfertigte Borurtheile verschwinden, sobald eine klarere Einsicht ermöglicht ist, und endlich könnte die Heilkunde und die Diätetik aus solchen Untersuchungen werthvolle Anhaltspunkte gewinnen; ich habe selbst einige einschlägige Untersuchungen vorgenommen undwill darüber im folgenden einige Mittheilungen machen und einige Bemerkungen daran anknüpfen. Eine der von mir untersuchten Fähigkeiten ist die Athmungsfähigkeit. Ich habe zweimal, das erste Mal vor 3 Jahren, das zweite Mal vor einigen Wochen, eine Compagnie Soldaten spirometrisch untersucht und Rekruten und gediente Mannschaft gegen einander gestellt. Die erste

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Messung, die mit einem auf Blutwärme gebrachten Blech­

spirometer ausgeführt wurde, ergab einen geringen Unter­ schied zu Gunsten der gedienten Mannschaft, nämlich pro Liter Körperinhalt athmeten die Rekruten 38,11 ccm, die Gedienten 40,56, was einen Fortschritt von 6,4 % bedeutet. Es stellte sich mir jedoch bald auf Grund anderweitiger Erfahrungen Über die Steigerbarkeit der Athmungsfähigkeit die Ver­ muthung ein, die Geringfügigkeit des Unterschiedes rühre davon her, daß die Rekruten zur Zeit der Messung (Weih­ nachten) bereits einige Wochen in Dressur waren, also schon an Athmungsfähigkeit gewonnen hatten. Diese Vermuthung ist durch die diesjährige Messung, die mir durch die Beihilfe des Herrn Secondelieutenants Wundt diesmal rechtzeitig ermöglicht wurde, bestätigt. Eine absolute Vergleichung mit den Ziffern der ersten Messung ist nicht möglich, da ein Kautschukspirometer ohne Anwendung vom Warmwasser be­ nützt und zur Bestimmung des Volums statt des einzigen Brustumfanges 5 Umfänge genommen wurden. Bei 35 Rekruten betrug die Athmungsfähigkeit pro Liter Körpervolum 47,7 ccm, bei 30 Gedienten im Mittel 57,5 ccm, also ein Mehr von 19,6%. Nach der Körperhöhe allein berechnet kommen bei den Rekruten auf den Zentimeter 20,5, bei den Gedienten 23,15 ccm, also ein Fortschritt von 15%. Das darf als eine ganz erhebliche Steigerung der Leistungs­ fähigkeit eines der lebenswichtigsten Organe des Körpers

angesehen werden, und wir werden später sehen, daß sich das auch aus der Sterblichkeitsstatistik ergibt. Es ist weiter für die Beurtheilung wichtig, daß das leine Egalisirungserscheinung ist, d. h. blos dadurch herbeigeführt, daß nur die Brustschwachen sich gebessert, die mit -kräftiger Brust nichts gewonnen haben. Unter den Rekruten hatten 6 Mann eine Athmungsfähigkeit von weniger als .3000 ccm (absolut), unter den Gedienten nur ein einziger.

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Umgekehrt hatten bei den Rekruten nur 2 Mann 4000 und darüber und zwar mit im Mittel 4125, während bei den Gedienten 13 Mann mit 4238 im Mittel die Ziffer 4000 erreichten oder überschritten. Eine weitere Messung bezieht sich auf das spezifische Gewicht, dessen Bedeutung für die Arbeitsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit des Körpers wir an verschiedenen Stellen unserer bisherigen Erläuterungen zu würdigen in der Lage waren. Bei meiner ersten Messung, wobei für die Bestimmung des Körpervolums außer der Höhe nur noch ein einziger als Kreis gedachter Umfang (der Brustumfang) benützt wurde, also das Volum absolut bedeutend zu groß ausfiel, kamen bei den Rekruten auf das Liter Körpervolum 643 g Gewicht, bei den gedienten Soldaten 672, also eine spezifische Gewichtszunahme von 4,5%, oder bei gleichem Volum eine Gewichts­ zunahme von 3 Kilo pro Mann. Bei der zweiten Messung wurde als Grundlage der Botumberechnung das Mittel aus dem Kopf-, Schulter-, Brust-, Hüften-, Knie- und Wadenumfang genommen: Bei den Rekruten kamen auf das Liter Körpervolum 852,5 g, bei der gedienten Mannschaft 934,7 g, was einer Zunahme des spezifischen Gewichts um 9,9 %! entspricht, oder bei einem mittleren Volum von 69,2 Liter eine absolute Gewichts­ zunahme von 5688 g! Das Volumen geht nämlich pro Mann von 70,7 bei den Rekruten auf 67,3 bei den Gedienten zurück, und das Gewicht steigt von 60,78 Kilo auf 62,95 beim Gedienten.

Nicht uninteressant ist der Unterschied in den verschie­ denen Umfangsmaßen:

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Umsänge

Kopf....................... Schultern . . . Brust....................... Hüfte....................... Kniee....................... Waden ....

Rekruten

Gediente

Differenz

55,54 103,31 86,87 78,40 57,37 58,44

53,86 102,75 87,10 71,77 56,51 56,17

— 1,68 — 0,56 + 0,23 — 6,63 — 0,86 -2,27

Ueber diese Ziff ern ist folgen des zu sagen Die Abnahme von Kopf- und Knieumfang weist auf eine Abnahme des Unterhautfettes hin, da bei diesen Körpertheilen nur Haut und Knochen das Messungsergebniß bestimmen. Der bedeutende Unterschied im Kopfumfang kann allerdings möglicherweise zum Theil durch angeborene Unter­ schiede in den Schädelumfängen bedingt sein, allein der Um­ stand, daß die beiden Kategorien dem gleichen Rekrutirungsbezirk entstammen und es der Durchschnitt aus 35 resp. 30 Mann ist, sowie daß am Knie dieselbe Erscheinung eintritt, läßt keinen Widerspruch gegen die Auffassung der Verände­ rung als einer Gebrauchswirkung zu, und zwar als einer günstigen, denn das Unterhautfett bildet ein beträchtliches Kreislaufhinderniß, wie wir früher zu sehen Gelegenheit halten. Charakteristisch ist weiter die bedeutende Reducirung von Wade und Hüfte, d. h. Bauch. Hier handelt es sich nicht blos um die Abnahme des Unterhautfettes — dazu ist die Differenz zu groß, sondern auch um Abnahme des Zwischenmuskelfettes und Gekrösfettes und Verdich­ tung der Muskelsubstanz durch Entwässerung.

Eine ganz besondere Bedeutung gewinnt die Abnahme des Bauchumfanges durch den Schwund des Gekrösfettes, weil letzteres den störendsten Einfluß auf Kreislauf- und Athmungsmechanik ausübt. Jeder weiß, daß dickbäuchige Leute kurzathmig sind und Lungenkrankheiten sehr rasch er-

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liegen, und die Geschwindigkeit, mit welcher sie sich erhitzen und Kopfcongestionen sowie Krampfaderleiden bekommen, illustrirt die Hemmung, welche die Blutbewegung erfährt. Auch die Mechanik der Verdauungswerkzeuge leidet durch Ueberschuß von Gekrösfett und erhöhten Druck in der Ein­ geweidehöhle bedeutend. Weiter charakteristisch und in Uebereinstimmung mit den spirometrischen Ergebnissen ist, daß der mittlere Brust­ umfang der einzige Umfang ist, welcher, wenn auch nur um eine Kleinigkeit, zunimmt, während alle andern Umfänge abnehmen; diese Zunahme erscheint um so beträcht­ licher, wenn wir in Rechnung nehmen, daß die Abnahme des Unterhaut- und Zwischenmuskelfettes natürlich die Brust ebenso treffen muß wie den übrigen Körper; es deutet also dieses Messungsergebniß theils auf eine Verstärkung der Brustmuskeln, theils auf eine Querschnitterweiterung der Brusthöhle.

Eine weitere Bestätigung für die erhebliche Steigerung bei Athmungsfähigkeit bilden die Unterschiede der Brust­ umfänge zwischen tiefster Ausathmung und höchster Einathmung. Bei den Rekruten ist die Umfangsdifferenz 5,02, bei den Gedienten 5,83. Das ist eine Zunahme der Be­ weglichkeit des Brustkorbes um 16%. Eine vergleichende Messung der Muskelkräfte mittelst eines Stahlfederdynamometers ergab folgendes. Die Druckkraft der beiden Fäuste war bei den Rekruten 67,08, bei den Gedienten 75,97; somit fand eine Zunahme um 13,3o/o statt. Die Kraft der vorderen Brustmuskeln, mit der die beiden Fäuste gegeneinandergedrückt werden können, betrug bei den Rekruten 46,34, bei den Gedienten 51,20, also ein Mehr von 10,5%. Die Kraft der Rücken- bez. Lendenmuskeln ergab eine auf den ersten Blick auffällige Abnahme: bei den Rekruten betrug sie 140,9, bei den GeISger, die menschliche Arbeitskraft. 32

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dienten 133,9, also ein Minus von 5,2 %! Dieser Rückgang ist wohl so zu verstehen: Bei der vorgebückten Haltung, welche ein allgemeines Kennzeichen des Berufsarbeiters ist, ist den Rückenmuskeln fortwährend die Arbeit zugewiesen, den Oberkörper zu halten, damit er nicht vorn übersinkt. Bei der aufrechten militärischen Haltung mit der stärkeren Einziehung und Höhlung der Lendenwirbelsäule wird der Oberleib frei auf dem Kreuzbein balancirt, und hiebei sind die Lendenmuskeln ent­ lastet. Diese Verminderung ihrer Arbeit hat eine Abnahme ihrer Kräfte nach dem Gesetz des Mindergebrauchs zur Folge. Dazu kommt wohl, daß der Soldat im allgemeinen nicht dazu angehalten ist, schwere Lasten vom Boden aufzuheben, während dies bei vielen Berufsarten eine ziemliche Rolle spielt. Dies zeigt ein Blick in die Beschäftigungsliste bei den Rekruten. Die mindeste Rückenkraft hatten: ein Xylograph 106, ein Färber 115, ein Maurer 115, ein Taglöhner 115. Die höchste Ziffern hatten: ein Bauernknecht 185, ein Großuhrenmacher 180, ein Mechaniker 170, ein Gürtler 170, ein Bierbrauer 160, ein Gärtner 160. Bei letzterem kommt die anhaltend tiefgebeugte Stellung in Betracht. Weiter aufklärend ist folgendes. Scheidet man als Kreuzschwache in beiden Listen diejenigen aus, deren Kreuz­ kraft 120 und weniger beträgt, so sind das bei den Rekruten 10 Mann mit einer durchschnittlichen Kreuzkraft von 117, bei den Gedienten dagegen nur 5 Mann mit einer durch­ schnittlichen Kreuzkraft von 112; also liegt an der unteren Reihe der Kraftskala eine Besserung vor. Scheidet man als Kreuzstarke in beiden Listen diejenigen aus, welche 160 und mehr ausweisen, so sind das bei den Rekruten 7 Mann mit 169,2 im Mittel, bei den Gedienten ist nur noch einer mit 170 vorhanden.

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Darin sehen wir eine Egalisirung: Die Schwächlinge, welche ihr Kreuz wenig arbeiten lassen, haben gewonnen; die dagegen, deren Berufsarbeit ein kräftiges Kreuz ent­ wickelt, haben verloren. Die Egalisirung tritt auch in dem Abstand von Maximal- und Minimalziffer zu Tage. Bei den Rekruten ist das Minimum 106, das Maximum 185, also Differenz 79; bei den Gedienten ist das Minimum 110, das Maximum 170, also die Differenz 60. Wie sollen wir nun diese Veränderung vom Gesichts­ punkt der Arbeitsfähigkeit ansehen? Ich glaube, der Haupt­ sache nach ist sie günstig zu beurtheilen und zwar darum: Wenn der Mensch seinen Oberkörper so trägt, daß er Muskelkräfte aufzuwenden hat, um ihn zu halten, so ist das eine Verschwendung von Arbeitskraft, sofern er in der Lage ist, dasselbe ohne Aufwand von Muskelkraft durch günstige Verrückung des Schwerpunktes zu thun, ab­ gesehen von dem in Kapitel 24 geschilderten großen Gewinn aufrechter Haltung. Es gibt nun allerdings Berufsarten, be denen es ohne gebückte Haltung eben nicht zu machen ist; z. B. die Gärtnerei, allein das sind doch relativ nicht selr viele Berufsarten, und wenn nur so viel gewonnen wird, daß der Mann sich nur bückt, wenn er muß, im ülrigen aber, d. h. außerhalb der Arbeit und während der Arbeit, so weit es geht, sich aufrecht und mit eingezogenem Kieuze trägt, so hat er einen bleibenden Nutzen sowohl für feite Arbeitsfähigkeit — weil er bei ganz aufrechter Stellung völliger ruht als in gekrümmter —, als auch hauptsächlich für seine Gesundheit. Ich habe zwar schon in Kapitel 24 genauer dargelegt, welche Bedeutung die durch militärisch aufrechte Haltung hcrbeigeführte Vergrößerung des Eingeweideraumes hat, aber ic) möchte doch auch hier noch besonders betonen, daß meiner Aisicht zufolge diese Haltung vom sanitären Standpunkt als 32*

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eine der wichtigsten der durch die militärische Erziehung herbeigeführten Aenderungen ist. Wenn die preußische Armee schon vor ihrer Erweiterung zur deutschen Armee die günstigste Morbidität und Mortalität hatte, so schreibe ich dies nicht zum wenigsten dem Umstand zu, daß bei den preußischen Soldaten mit Einführung des Stechschrittes die aufrechteste Haltung zu Wege gebracht wor­ den ist. In allen Armeen, welche in der jüngsten Zeit von der preußischen Armee geschlagen wurden, war die Haltung eine weniger aufrechte. Besonders groß war der Contrast zwischen dem preußischen und den durch die Bank in Nacken und Kreuz sich bucklig haltenden Franzosen — die Haltung des französischen Soldaten darf geradezu als die eines Ouvrier bezeichnet werden; ob es jetzt besser ist, weiß ich nicht. Die österreichische Armee trägt sich entschieden besser als die französische, aber konnte sich im Jahre 1866 an aufrecht militärischer Haltung mit den Preußen nicht messen, und kann es nach einer Wahrnehmung im Jahre 1876 noch jetzt nicht; namentlich trägt der österreichische Soldat den Kopf lange nicht so hoch wie der deutsche, was die Athmungsfähiqkeit beeinträchtigt und in Bezug auf die Oekonomie der Muskelkräfte aus demselben Grunde unvortheilhaft ist wie die ungenügende Aufrichtung im Kreuz: Statt daß der Kopf ohne Aufwendung von Muskelkraft balancirt wird, muß er mittelst Muskelkraft gehalten werden. Auch gewinnt durch hohe Kopftracht die Circulationsfreiheit zwischen Rumpf und Kopf, was ein durchaus nicht unwichtiger sanitärer Umstand ist. Uebrigens muß bezüglich der Abnahme der Kreuzkraft doch noch folgendes gesagt werden. Dieselbe ist zwar eine natürliche Consequenz der Enlastung der Lendenmuskeln durch bessere Haltung, allein keine nothwendige: d. h. aufrechte Haltung und Kraft der Lenden können recht wohk

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neben einander bestehen, und da letztere doch immer etwas wünschenswerthes und durch zweckmäßige Gymnastik auch leicht erreichbares ist, so liegt in diesem Messungsergebniß, sofern es eine allgemeine Erscheinung und nicht blos eine zufällige, für diese spezielle Compagnie geltende ausdrückt, eine Auf­ forderung an die Turnmeister der Armee, der Entwicklung der Kreuzkraft durch Einschaltung entsprechender Turnübungen eine größere Aufmerksamkeit zuzuwenden als bisher. Einen weiteren Anhaltspunkt für den nationalökonomi­ schen Werth der militärischen Erziehung gibt uns die Sani­ tätsstatistik; aber freilich ist es ein mißlicher Umstand, daß in den von der deutschen resp, preußischen Armeever­ waltung bisher veröffentlichten Sanitätsberichten, die schon im vorigen Kapitel Erwähnung fanden, in den Erkrankungstabellen die verschiedenen Jahrgänge nicht auseinander­ gehalten sind, sondern nur in den Sterblichkeitstabellen; wir können somit für die Beurtheilung der Veränderungen, welche die militärische Erziehung an der Mannschaft hervor­ bringt, nur die letztere benützen, wobei aber folgende Reserven nöthig sind. Erstens können nur drei Altersklassen benützt werden, die höheren nicht, da die Unteroffiziere, um welche es sich bei den höheren Altersklassen fast allein handelt, unter ganz andern Bedingungen stehen als die Mannschaft. Zweitens erfordert die Verschiedenheit der Kopfzahl der einzelnen Jahrgänge eine Umrechnung der absoluten Ziffern der Tabellen; ich habe "als Grundlage hiefür den Mann­ schaftsstand des würtembergischen Armeekorps vom Frühjahr 1875 benützt. Hier zählte der erste Jahrgang 5908, der zweite 5776, der dritte 4117. Nach mündlichen Angaben dürfte das aus diesen Ziffern sich ergebende Stärkeverhältniß' der drei Jahrgänge in so fern nicht ganz genau das der ganzen

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deutschen Armee sein, als bei der preußischen Armee etwas mehr in den ersten Jahrgang eingestellt und dafür etwas mehr im letzten beurlaubt werden; doch dürfte der Unter­ schied nur gering sein. Drittens darf bei Beurtheilung der Ziffern nicht ver­ gessen werden, daß sich in den drei Jahren ein Reinigungs­ prozeß vollzieht, indem die schwächlichen theils wegsterben, theils wegen Schwächlichkeit und Dienstuntauglichkeit entlassen werden. Dem ersten Jahrgang fallen nun eben die schwäch­ lichen zur Last und machen seine Mortalitätsziffer ungünstig, während der zweite und dritte Jahrgang nur aus solchen Leuten besteht, welche von Hause aus widerstandsfähiger waren. Aus diesem Grunde wird auch ein größeres Gewicht auf den Unterschied in der Mortalität zwischen dem zweiten und dritten Jahrgang als aus den zwischen den zwei ersten Jahrgängen zu legen sein, da jedenfalls beim zweiten Jahr­ gang der Reinigungsprozeß der Hauptsache nach als ab­ geschlossen betrachtet werden kann. Um eine Vergleichung auch der einzelnen Krankheits­

sorten zu ermöglichen, habe ich die Mortalitätsziffern nicht blos auf den gleichen Mannschaftsstand, sondern auch prozentisch in der Weise berechnet, daß die Todesfallziffer des ersten Jahrganges gleich 100 gesetzt und die der andern Jahrgänge im gleichen Verhältniß umgerechnet ist. Das Totalergebniß aus den Jahren 1867—1873 (mit Ausschluß des Kriegsjahres vom 1. Juli 1870 bis 1. Juli 1871) sind absolut 3055 Todesfälle im ersten Jahrgang, 1916 im zweiten, 994 im dritten; Prozentisch umgerechnet auf gleichen Mannschaftsstand: erster Jahrgang 100, zweiter 64,1, dritter 42. Also im Sterblichkeitsrückgang vom ersten zum zweiten Jahr um 35,9%, vom zweiten auf den dritten 'um weitere 22%, oder wenn man die Ziffer des zweiten Jahrganges gleich 100 setzt, nochmals ein Rückgang um 33,8 %.

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Dies wirft ein höchst günstiges Licht auf den sanitären Werth der militärischen Erziehung, denn ein totaler Rück­ gang der Mortalitätsziffer um 58 % ist enorm. Weiter zeigen uns die Ziffern, daß die durch die militärische Er­ ziehung zu erzielende Besserung mit. zweijähriger Uebung noch lange nicht erreicht ist und daß also von dieser Seite durchaus keine Aufforderung vorliegt, die dreijährige Präsenz abzukürzen. Folgerichtig liegt aber dann auch keine Forderung nach Abkürzung der Präsenz vom nationalökonomischen Standpunkt vor, denn eine derartige Festigung der Gesundheit, wie sie sich in dem Rückgang der Mortalität um 33,8% vom zweiten zum dritten Jahrgang ausspricht, muß unbedingt eine Verlängerung der Lebensdauer um weit mehr als ein Jahr erzielen, so daß der aus der verlängerten Präsenz sich ergebende Zeitverlust reichlich ausgewogen wird. Diese Ansicht darf ein Fachmann in so lange unweigerlich festhalten, bis ihm nicht die Sta­ tistik das Gegentheil schwarz auf weiß bewiesen

hat. Ja ich gehe noch weiter und behaupte, daß der gesammte mit der Militärpräsenz verbundene Zeitverlust einfach durch die Verlängerung der Lebensdauer ausgewogen wird, also von einem nationalökonomischen Nachtheil des Militärwesens selbst dann keine Rede sein könnte, wenn die individuelle Arbeitsfähigkeit unverändert bliebe. Da aber diese letztere nach dem früher Gesagten auch zum Besseren sich ändert und zwar nach Kraft und Geschwindigkeit, so deckt das nicht blos die Kosten, sondern es bleibt ein effek­ tiver Gewinn. Es wäre von höchstem Interesse, wenn durch geeignete Aenderung der Mortalitätsstatistik der Civilbevölkerung die Frage ziffermäßig entschieden werden könnte, ob die mili-. tärische Erziehung die Lebensdauer erhöht. Allein leider ist

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dies ein sehr schwieriges statistisches Problem, da bei einer Scheidung der männlichen Bevölkerung in Gediente und Nicht­ gediente unter den ersteren die von Hause aus kräftigen und unter den letzteren die von Hause aus schwächlichen sich be­ finden. Man dürste zum Vergleich mit den Gedienten nur diejenigen heranziehen, welche nicht wegen Kränklichkeit und

Körperschwäche, sondern aus Familien- oder andern Rück­ sichten nicht zum Militärdienst ausgehoben wurden, und deren Ausscheidung dürfte vorerst nicht gelingen. Außer der Totalsumme der Todesfälle der Armee ver­ dienen aber auch noch die einzelnen Rubriken der tödtlichen Krankheiten näher ins Auge gefaßt zu werden; denn wir gelangen dadurch liiert blos zur näheren Einsicht, in welcher Weise die Festigung der Gesundheit erzielt wird, sondern diese Betrachtung ist geeignet, uns eine noch größere Hoch­ achtung vor der sanitären Wirkung der militärischen Er­ ziehung abzugewinnen und zwar darum. Es gibt einige Krankheiten, die den Soldaten nicht erst während seines Militärlebens befallen und tobten, sondern deren Keime er mit sich bringt und die ihn — wenn auch vielleicht nicht so rasch — getödtet hätten, auch wenn er nicht Soldat geworden wäre. Unter diesen Krankheiten steht die Lungenschwindsucht obenan, und sie verdient als eine der verderlichsten Krankheiten des Culturmenschen eine besondere Besprechung. Der sechste Theil aller Soldaten, die in dem angegebenen Zeitraum überhaupt starben, sind an der Lungenschwindsucht gestorben, nämlich 941 von 5965. Da diese Krankheit zu einem guten Theil eine angeborene ist, so wären diese Leute so wie so an ihr gestorben, und wenn auch angenommen werden darf, daß die militärischen Strapazen den tödlichen Ausgang dieser Krankheit etwas beschleunigen, so darf das eher als ein Vortheil denn als ein Nachtheil bezeichnet

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werden, weil die Krankheit sich von den Eltern auf die Nach­ kommen vererbt: die, welche als Soldaten sterben, sind ver­ hindert, die Krankheit auf ihre Kinder zu vererben, was auf eine freilich unvollständige Purifikation der Bevölkerung hinausläuft. Außerdem sehen wir, daß die Mortalitätsziffer dieser Krankheit bei den verschiedenen Jahrgängen nur wenig verschieden ist: setzen wir die Mortalität des ersten Jahr­ ganges an dieser Krankheit gleich 100, so ist die des zweiten gleich 91, die des dritten gleich 83,7; ein Unterschied, der rein nur als Purifikationswirkung betrachtet werden darf. Aehnliches wie von der Schwindsucht, nämlich daß die Krankheit schon vor dem Eintritt in das Militär erworben ist und so wie so zum Tode geführt hätte, gilt auch von den Herzkrankheiten (prozentische Jahrgangsziffer 100, 51 und 77). Nimmt man diese Krankheiten d. h. die Lungen­ schwindsucht, andere chronische Lungenkrankheiten und die Herzkrankheiten aus der Mortalitätstabelle heraus, so ge­ stalten sich die prozentischen Ziffern der drei Jahrgänge noch bedeutend besser, nämlich: erster Jahrgang 100, zweiter Jahrgang 57,4, dritter Jahrgang 32,2; das ist eine Besserung der Mortalität um 67,8 %! also ein Rückgang der Todes­ fälle unter Va, oder anders gesagt eine Erhöhung der Wider­ standsfähigkeit gegen Tödtung durch Krankheiten auf das Dreifache! Nach Abzug der Lungenschwindsucht, Herzkrankheiten rc. können wir füglich den Rest der tödtlichen Krankheiten, mit wenig Ausnahmen, in zwei Kategorien bringen: die Er­ kältungskrankheiten und die Infektionskrankheiten. Betrachten wir zuerst die Ziffern der Todesfälle durch Erkältungskrankheiten: Lungenentzündung (die übrigens von einigen neuerdings für eine Infektionskrankheit gehalten wird) 100, 54,8, 31; Brustfellentzündung (die allerdings nicht durchweg als Erkältungskrankheit an-

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gesehen werden darf) 100, 68,8, 48,41; Nierenentzün­ dung (auch nicht durchweg Erkältungskrankheit) 100, 81, 59; Katarrh und Entzündung der Luftwege 100, 60, 40; hitziges Gliederweh 100, 36,8, 41,6. Diese Ziffern constatiren ganz entschieden eine beträchtliche Abnahme der Erkältungsfähigkeit, die aber auch im Hinblick auf die oben constatirte Zunahme des spezifischen Gewichts völlig erklär­ lich ist. Wenden wir uns zu den Infektionskrankheiten: Unter diesen steht der Typhus oben an; ja nicht blos unter dieser Krankheitengruppe, sondern unter allen Krank­ heiten stellt er das größte Contingent der Todesfälle, näm­ lich ein volles Drittheil aller in diesem Zeitraum vorgekom­ menen (2031 von 5965). Die relativen Ziffern der Typhus­ todes fälle in den drei Jahrgängen sind nun 100, 62, 31; für die Ruhr 100, 25, 10! für Cholera 100, 51, 25; für Diphtheritis 100, 57, 14! für Eiterfieber 100, 50, 16! Diese Ziffern scheinen mir nach verschiedenen Seiten hin der höchsten Beachtung werth; sie werfen einmal ein glänzendes Licht auf die militärische Erziehung, geben zweitens einen hoch zu beherzigenden diätetischen Wink und drittens einen unerwarteten Aufschluß über das Verhältniß des menschlichen Körpers zu den Jnfektionsgiften. Bei der großen Wichtigkeit der Sache müssen wir hiebei einen Augen­ blick verweilen. Für den Typhus ist es bekannt, daß die Ansteckungs­ fähigkeit des Menschen während stärkerer körperlicher An­ strengungen bezw. im ermüdeten Zustand größer ist. Nun wissen wir auf das bestimmteste, daß während der Arbeit der Wassergehalt der Muskeln zunimmt. Damit stimmt nun obiger Befund beim Militär völlig überein, d. h. er liefert uns den umgekehrten Beweis, daß

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nämlich mit Abnahme des Wassergehaltes die Ansteckungs­ fähigkeit des Menschen für Typhus abnimmt. Es ist ja wohl darüber kein Zweifel möglich, daß die durch meine Messungen constatirte Zunahme des spezifischen Ge­ wichtes beim Soldaten neben einer Verminderung des spe­ zifisch leichteren Fettes auch eine Verminderung des Wasser­ gehaltes anzeigt. Sicher ist es erlaubt, mit dieser Thatsache eine andere in Verbindung zu bringen. Nägeli sagt in seinem epochemachenden Werk über „die niederen Pilze in ihren Beziehungen zu den Infektionskrankheiten und der Gesundheitspflege" Seite 29: „Auch alle Nährstoffe wirken, so weit sie im Ueberschuß d. h. über eine bestimmte Concentration hinaus vorhanden sind, nicht mehr als Nährstoffe, sondern schädlich. In den besten Nährlösungen kann man die Hefenwirksamkeit oder das Wachsthum der niederen Pilze durch hinreichenden Zu­ satz von Zucker unterbrechen." „Die Wirkung der nicht nährenden Stoffe erklärt uns die Erscheinungen, die wir beim theilweisen Eintrocknen einer organischen Masse beobachten. In einer nassen oder feuchten Substanz (Fleisch, Brod rc.) ist es die darin ent­ haltene Nährstofflösung, welche das Wachsthum der Pilze möglich macht. Läßt man die Substanz langsam eintrocknen, so wird die Lösung durch Verdunsten des Wassers concentrirter und es treten nach und nach solche Concentrations­

grade ein, bei denen die verschiedenen Funktionen der ver­ schiedenen Pilze aufhören. Frisches Fleisch fault durch Spaltpilze; trocknet man es bis auf einen gewissen Grad aus, so kann es blos noch schimmeln; dieser Zustand wird schon bei geringer Wasserentziehung erreicht, wenn man einen Theil der Fleischflüssigkeit durch Kochsalz ersetzt (Einsalzen)

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und bei noch geringerer, wenn man zu der Wirkung des Kochsalzes noch diejenige der Karbolsäure hinzufügt (Räuchern). Das theilweise oder vollständige Austrocknen hat für das Conserviren von Lebensmitteln und für die Desinfektion eine große Bedeutung. Eine genaue Kenntniß der Wirkung, welche Wasserentziehung im Substrat auf die niederen Pilze ausübt, erlaubt auch, uns eine Vorstellung über die Vor­ gänge zu''machen, welche in dem verunreinigten Boden vor

sich gehen." Seite 72 heißt es von den Jnfektionspilzen: „Diese Pilze bedürfen, um zu wachsen und sich zu vermehren, einer ausreichenden Wassermenge und zwar einer größeren als die Schimmelpilze. An einer trockenen Oberfläche (Wand, Mauer) oder einer trockenen, porösen Substanz (Erdboden, Mauerwerk) wachsen gar keine Pilze. Nimmt die Feuchtigkeit zu, so bilden sich zuerst Schimmelpilze, und erst wenn wirk­ liche Benetzung eintritt, so daß für Schimmelbildung zu viel Wasser vorhanden ist, entstehen Spaltpilze." Im weiteren Verlauf weist Nägeli darauf hin, daß Jauchegruben, Versitzgruben :c. viel weniger gefährlich seien als solche verdünnte Nährstofflösungen, wie sie uns in Form von Sümpfen entgegentreten. Für die Jnfektionspilze ist nach ihm wesentliche Bedingung, daß die Nährstofflösung ja nicht zu concentrirt werde, denn jede Vermehrung der Concentration lasse nur noch die (relativ) unschädlichen Fäulnißpilze gedeihen. Er weist darauf hin, daß Bauern­ dörfer, deren Boden völlig von Jauche durchdrungen sei, sich einer auffallenden Freiheit von Seuchen erfreuen, während Orte, wie München, in dessen Boden ein im Vergleich zu Jauche sehr verdünntes Grundwasser sich befinde, in hohem Maße von Infektionskrankheiten heimgesucht werden. Dadurch erweitert sich uns unsere in Kapitel 26 ent­ haltene Vorstellung von der sanitären Wirkung der Abhür-

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tung ganz bedeutend. Die mit der Verminderung des Gewebswassers verbundene Eindickung der Gewebssäfte be­ deutet den Jnfektionskeimen gegenüber eine ihrer Entwicklung schädliche Concentration der Nährstofflösung. Wir haben jetzt um so mehr Veranlassung, die Abhärtung, deren Be­ werkstelligung in Kapitel 26 geschildert worden ist, als eine der wichtigsten sanitären Maßregeln zu betrachten und nichts gering zu achten, was in dieser Richtung auf den Körper wirkt.

Weiter will ich als Beweis für die ausgedehnt sani­ täre Wirkung der militärischen Abhärtung die Ziffern einiger andern tödlichen Krankheiten anführen.

Die Häufigkeit des Todes durch Hitzschlag nimmt von 100 im ersten Dienstjahr auf 60 im zweiten und 16,7 im dritten Dienstjahr ab. Tod durch Lungenblutung von 100 auf 61 im zweiten und 52 im dritten Jahrgang; Ge­ hirnentzündung von 100 auf 70 und dann auf 31,5. Bei Gehirnschlagfluß sind die Ziffern 100, 39, 55; bei Leberkrankheiten 100, 70, 70. Neben diesen positiven Angaben der Statistik verdient auch noch die Thatsache Beachtung, daß keine einzige tödliche Krankheit in der Liste vorkommt, bei der die Mortalitätsziffer mit der Zunahme des Dienstalters steigen würde. Die ungünstigsten Ziffern hat die Lungenschwindsucht mit 100, 91 und 83; dann folgen die Herzkrankheiten mit 100 auf 77, Leberkrankheiten mit 100 auf 70. Ziehen wir nun das Facit, so erweist sich die mili­ tärische Erziehung während die Präsenzzeit als eine der großartigsten Sanirungsmaßregeln und zugleich als eine der wichtigsten Einrichtung für Produktion nationalökonomi­ scher Werthe; denn darüber wird kein Zweifel sein, daß

unter allen Dingen die menschliche Arbeitskraft das werth-

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vollste nationalökonomische Objekt ist, da sie alle andern Werthe erst schafft.

Bon diesem Standpunkt ist nur zu bedauern, daß nicht die gesammte männliche Bevölkerung der militäri­ schen Erziehung und Abhärtung unterworfen wird, und ich halte die Herbeiführung der absolut allgemeinen Wehr­ pflicht für noch viel wichtiger als die Durchführung der absolut allgemeinen Schulpflicht. Unter absolut allgemeiner Dienstpflicht meine ich nicht blos die Einziehung aller im bisherigen Sinne diensttauglicher männlicher Individuen. Es versteht sich zwar von selbst, daß man Krüppel, Kretinen, Blinde, Lahme und Taube nicht einstellen und unsere Heeresainrichtungen nicht zu einer orthopädischen Anstalt erweitern kann, allein zwischen dem evidenten Krüppel und den int gewöhnlichen Sinne Diensttauglichen liegt sehr viel Menschen­ material mitten inne, und zwar gerade ein Material, das eine erzieherische Sanirung noch in viel höherem Maße nöthig hätte als die Diensttauglichen. Natürlich ginge es nicht an, diese defekten Personen mit den absolut Dienst­ lauglichen in Reih und Glied zu stellen, da dies die Er­ ziehung nicht blos erschweren, sondern auch beeinträchtigen "würde. Sie müßten als eigene Truppenkörper gesondert «inexercirt und in besonderer Weise im Dienst der Armee nützlich gemacht werden. Vielleicht könnte man für sie eine sog. Landwehrpräsenz einführen und die Drillung der defekten Mannschaft den Landwehroffizieren überweisen.

Man könnte nun freilich sagen, so viel liege nicht an dem Sanitätszustand des einzelnen Menschen und in der menschlichen Gesellschaft gäbe es eine Menge Plätze, die auch von schwächlichen Personen nützlich ausgefüllt werden ikönnen, es genüge also, wenn nur ein hinreichend großer Bruchtheil durch militärische Erziehung constitutionskräftiger

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und arbeitsfähiger gemacht werde. Allein ich möchte dagegen einen weiteren Umstand geltend machen. Die Erhöhung der Constitutionskraft durch das Militär­ wesen hat nicht blos für das betreffende Individuum seine Bedeutung, sondern auch für die von ihm erzeugte Nachkommenschaft. Es ist schon im Kapitel 27 darauf aufmerksam gemacht worden, daß die militärische Schulung des Mannes die für die Constitutionskraft der Kinder so wichtige Differenzirung der Geschlechter steigert, daß sie den Werth einer Blutauffrischung besitzt, also die Rasse ver­ bessert. Damit haben wir einen weiteren beträchtlichen Nutzen des Militärwesens zu constatiren, der nicht hoch genug angeschlagen werden kann. Diesem rasseverbessernden Einfluß der gedienten Leute steht nun in den Nichtgedienten ein rasseverschlechternder Einfluß gegenüber, der bei der Natur der Sache nicht auf bestimmte Familien beschränkt bleibt, sondern überall den verbessernden Einfluß, der von den Gedienten ausgeht, wieder durchkreuzt und so die Krankheitsdispositionen gewissermaßen verewigt. Dem würde ein bedeutender Riegel vorgeschoben, wenn die Zahl der Nichtgedienten auf das mindest mögliche Maß zurückgeführt würde. Ich will das spartanische Prinzip, die Schwächlinge zu tödten, durchaus nicht als Muster aufstellen, ich würde cs sogar für einen Fehler halten, das schwächliche und kränk­ liche Element ganz aus der menschlichen Gesellschaft zu ver­ drängen, weil wenig Dinge so veredelnd auf den Menschen wirken als die Pflege des Elends und der Krankheit. Allein eben so sicher ist es ein öffentliches Interesse, jede irgend anwendbare Maßregel zu ergreifen, welche die Constitutions­ kraft, Arbeitskraft und Salubrität nicht blos einzelner Individuen, sondern der Gesammtbevölkerung zu heben im Stande ist, und daß es sich bei obigem um eine solche handelt, kann nach allen Erfahrungen der Biologie nicht

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blos auf menschlichem Gebiet, sondern auch an unseren Hausthieren ganz unmöglich bezweifelt werden. Zum Schluß muß noch auf einen weiteren günstig wirkenden Umstand bei dem Militärwesen hingewiesen werden, nämlich auf die zeitweilige Widereinberufung der bereits entlassenen Mannschaften zu den jährlichen Uebungen. Wir haben bereits früher auf die ungemein günstige Wirkung hingewiesen, welche die Manöver auf die präsente Mannschaft ausüben, indem sie die Erkrankungsfähigkeit um ein volles Drittel herabmindern. Nicht blos den gleichen, sondern einen noch um einiges stärkeren günstigen Einfluß muß die Einberufung zu den Manövern auf die unpräsenten Mann­ schaften ausüben und zwar deshalb, weil es eine Unter­ brechung der Berufsarbeit ist. Wenn schon der präsente Soldat, der unter dem günstigen Einfluß der militärischen Abhärtung steht, also in günstiger Condition sich befindet, durch die Manöver in seinem Befinden so hoch gehoben wird, wie viel mehr muß dies der Fall sein bei dem unter der sanitären Ungunst der Berufsarbeit stehenden! Bei ihm vertreten die Herbstmanöver vollständig die in ihrem sani­ tären und ökonomischen Werth längst, wenn auch noch nicht voll anerkannten Erholungs- und Badereisen der Civilbevölkerung. Das Militärwesen gewährt so eine Wohlthat, die sonst nur dem engen Kreis der Bemittelteren zu gute kommt, auch den Kreisen, welche sich sonst „einen derartigen

Luxus", wie man es fälschlicherweise nennt, nicht erlauben dürfen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß die körper­ liche und geistige Kräftigung der unpräsenten Mannschaften durch die Einberufung zu den Herbstübungen nicht blos den Individuen zu gute kommt, sondern auch rasseverbessernd wirkt und zwar darum: Die mehrwöchentliche Trennung der Ehegatten wirkt allein schon günstig auf das sexuelle Leben. Dazu kommt,

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daß die während der Manöver stattfindende Hebung der Constitutionskraft beim Manne gleichbedeutend mit einer stärkeren Differenzirung der Zeugungsstoffe ist, also den Werth einer rasseverbessernden Blutauffrischung für das nach der Wiedervereinigung der Ehegatten erzeugte Kind hat. Von diesem Standpunkt, d. h. von dem sanitären und volkswirthschaftlichen aus ist somit dieser Eingriff des Militär­ wesens in die Erwerbs- und Berufsthätigkeit nicht blos nicht zu beklagen — was Uneinsichtige so häufig thun —, sondern zu wünschen, daß die Einberufung zu den Herbstübungen auf alle Jahrgänge bis mindestens zum vierzigsten Lebensjahre ausgedehnt wird und jeden Gedienten jedes Jahr trifft. Die Befürchtung, als wären die im obigen vorgeschlagenen Erweiterungen des „Militarismus", um mich dieses Schlag­ wortes zu bedienen, gleichbedeutend mit einer Störung und Schmälerung des Erwerbslebens der Nation, ist meiner Ansicht nach durchaus ungerechtfertigt, im Gegentheil. In puncto Störung ist zu sagen: Je allgemeiner die Wehrpflicht wird, um so geringer wird die Störung, weil eben dann alle Einrichtungen des Erwerbslebens sich um so sicherer den Anforderungen der Wehrpflicht accomodiren. In puncto „Schmälerung" gilt: Wenn die Maßnahmen, worüber kaum ein Zweifel zulässig, die Arbeitsfähigkeit nicht nur des Individuums, sondern der ganzen Nation erhöhen, so ist nicht nur der Zeitverlust, sondern sind auch die Kosten gedeckt. In dieser Richtung wäre ein Einwand nur dann gestattet, wenn ein Staat, um mich so auszudrücken, allein auf der Welt und mit allem auf sich angewiesen wäre; dann könnte man sagen: Was nützt mich die erhöhte Arbeits­ fähigkeit, wenn sich nicht im gleichen Maße die Arbeits­ möglichkeit und der Absatz für die Produkte der Arbeit vergrößert? Dank der hohen Entwicklung der Verkehrsmittel und der Hand in Hand damit gehenden EntIäger, die menschliche Arbeitslast.

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31. Die äußeren Schädlichkeiten.

Wicklung des Handelsverkehrs ist der erhöhten Arbeitsfähig­ keit ein so unbegränztes Absatzgebiet eröffnet, daß die Gefahr, es möchte eine Ueberproduktion von menschlicher Arbeitskraft stattfinden, äußerst fern liegt. Es werden natürlich von Zeit zu Zeit Constellationen eintreten, wo die menschliche Arbeitskraft im Werthe sinkt, weil die Nachfrage nach ihr und ihren Produkten nachläßt; allein auch in dem Fall wird derjenige Staat am besten sich befinden, welcher über die intensivste Arbeitskraft verfügt, sie also am billigsten offeriren kann: er ist auch in solcher Situation der concurrenzfähigste. Endlich möchte ich darauf Hinweisen: die Entwicklung der Wehrkraft eines Staates ist nicht nur gleichbedeutend mit der Entwicklung seiner Arbeitskräfte, sondern sie ist einerseits ein Schutz für die Arbeit gegen die gefährlichste Störung der Arbeit, nämlich die durch den Krieg, und andrer­ seits eine Garantie für die Gewinnung des ausgedehntesten Wirkungsfeldcs für die Arbeit: Je kräftiger ein Staat, um so sicherer gelingt es ihm, von andern Staaten Concessionen für den Absatz seiner Arbeitsprodukte zu erhalten. Wehr­ kraft, politische Macht und nationalökonomische Kraft und Concurrenzfähigkeit stehen nicht im Verhältniß der Aus­ schließung, sondern in dem von Ursache und Wirkung.

31. Die äußeren Schädlichkeiten. In einer Schilderung der Umstände, von denen die menschliche Arbeitskraft abhängt, können die Einflüsse nicht unbesprochen bleiben, welche als Krankheitserzeuger der Arbeitsfähigkeit hemmend entgegentreten. Ehe wir sie aber im einzelnen ansehen, soll eine allgemeine Bemerkung über sie gemacht werden.

31. Die äußeren Schädlichkeiten.

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Ob durch eine äußere Schädlichkeit eine Krankheit er­ zeugt wird, hängt nicht blos von der Quantität und Qualität derselben ab, sondern mindestens eben so sehr von der Qualität des menschlichen Körpers, auf den sie einwirkt. Es gibt allerdings fast bei jeder äußeren Schädlichkeit einen Stärke­ grad, welcher kein menschlicher Organismus zu widerstehen vermag, allein auf der andern Seite gibt es keine, gegen welche sich der Mensch nicht bis zu einem gewißen Grade so zu

wappnen vermöchte oder ohne sein Wissen und Wollen so gewappnet ist, daß er Stärkegraden derselben zu trotzen vermag, denen gegenüber andere Menschen wehrlos sind.

Die tödlichsten Seuchengifte, wie die von Pest und Cholera, erweisen sich, wenn sie irgendwo auftreten, meist mehr als der Hälfte der Bevölkerung gegenüber absolut machtlos. Wenn in einer Stadt Pest oder Cholera wüthet, können wir uns nicht denken, daß irgend ein Mensch übrig bleibt, der nicht mit dem Seuchengist in Berührung gekom­ men wäre, und doch erkrankt selten auch nur die Hälfte. Bei der Choleradiarrhöe haben wir Leute vor uns, m die der Jnfektionskeim notorisch eingedrungen ist und die charak­ teristischen Darmentleerungen erzeugt, aber ihr sonstiges völliges Wohlbefinden beweist, daß es dem Gift nicht ge­ lungen ist, wie bei andern ins Blut einzudringen und den ganzen Organismus zu vergiften. Wir sehen Feuerarbeiter eine Widerstandsfähigkeit gegen Hitzegrade erlangen, die ans andere absolut zerstörend ein­ wirken: sie sind im Stande, flüssiges Metall anzugreifen und in Temperaturen zu arbeiten, in welchen andere in kurzem vom Hitzschlag tödlich getroffen würden. In Irkutsk sah der Leiter der russisch-amerikanischen Telegraphenexpe­ dition die Leute bei 36° Kälte in einer Kleidung aus Stiefeln, Hemd und kurzem Pelzrock, welche der Kälte zum 33*

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größten Theile der Beine freien Zutritt gestattete, sich voll­

kommen wohl befinden. Wir hören soeben von dem russisch-türkischen Kriegs­ schauplatz, daß bei den türkischen Soldaten Wunden der schwersten Art mit einer für andere Menschen unbegreif­ lichen Leichtigkeit heilen, und die chirurgische Casuistik ist überreich an Fällen, in denen Verletzungen, die für die meisten unbedingt tödlich sind, ohne weiteres heilen. Ich will nur einen solchen extremen Fall einführen. Einem Steinbrecher flog in Folge der Entladung eines Spreng­ schusses ein Brecheisen von 6 Fuß Länge und 1V® Zoll Stärke am dicken Ende, mit dem er den Schuß lud, von unten an der Kehle herein durch den ganzen Kopf und das Gehirn hindurch am Scheitel heraus: die Wunde heilte und der Mann lebte noch 16 Jahre. Wersen wir einen Blick auf die zahlreichen Dinge, die man als Schädlichkeiten kennen gelernt hat, und namentlich auf die große Schwierigkeit, ja bisweilen Unmöglichkeit, die Schädlichkeiten direkt zu bekämpfen und zu vermeiden, so ist es entschieden sehr tröstlich, zu wissen, daß es fast gegen alles einen Zustand des Körpers gibt, den man als Immunität bezeichnet und der darin besteht, allen diesen Schädlichkeiten Trotz bieten zu können. Selbstverständlich wäre es thöricht, wenn der Einzelne und die Gesellschaft es unterlassen wollte, äußere Schäd­ lichkeiten, wo sie sich finden, zu bekämpfen und dadurch die Gefahr, von ihnen verletzt und geschädigt zu werden, auf das mindeste Maß zurückzuführen. Auch wäre es thöricht, sich ohne Noth einer als solcher klar erkannten äußeren Schädlichkeit auszusetzen; aber noch thörichter wäre es, sich auf diese Bekämpfung und Vermeidung der Schädlichkeiten zu verlassen und darüber die Entwicklung und Steigerung der Immunität zu vernachlässigen. Leider wissen wir im

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einzelnen noch zu wenig genau, worauf die Immunität be­ ruht und wie sie herbeizuführen und festzuhallen ist; allein das, was wir wissen, ist doch schon ganz respektabel und gibt uns eine Reihe von Anhaltspunkten für die Praxis des Lebens, wovon im bisherigen Theil unserer Schilderungen schon vieles, berührt worden ist. Indem wir nun der Reihe nach die wichtigsten und allgemeinsten äußeren Schädlichkeiten Revue passiren lassen, soll nicht blos das äußerlich gegen sie Vorzukehrende, sondern auch das wesentlichste über die Gewinnung der Immunität kurz beigefügt bezw. auf das früher hierüber Gesagte hingewiesen werden. Die allgemeinsten äußeren Schädlichkeiten sind die Temperaturextreme, von denen wir zuerst die Kälte ins Auge fassen wollen. Gegen die Kälte haben wir fünferlei Waffen: die Kleidung, die Heizung, die Ernährung, die Körper­ bewegung und die Abhärtung. Von der Kleidung ist bereits früher das nöthigste gesagt worden. Wir haben dort gesehen, daß im Schutz durch Kleidung leicht des guten zu viel gethan werden kann, d. h. daß durch zu warme und namentlich durch eine Kleidung, welche das Entweichen des Hautwasserdampfes verhindert, die Immunität des Körpers geschädigt wird. In dieser Be­ ziehung will ich noch vor dem Gebrauch des Pelzwerkes warnen. Zu ihm soll man nur dann greifen, wenn die Kleiderluft ein ganz besonderes Bestreben zum Entweichen hat, also bei stark bewegter Luft, die einen, wie man sagt, „ausbläst", und dann bei sehr starker Kälte: bei dieser ist der Temperaturunterschied und damit auch der Unterschied im spezifischen Gewicht zwischen der äußeren Lust und der Kleiderluft so stark, daß die letztere auch schon durch die kleinsten Poren und Lücken der Bekleidung entweicht. Bei mäßiger Kälte und ruhiger Luft dagegen wirkt Pelzwerk

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verweichlichend. Nie verlasse man sich zum Schutz gegen Kälte auf die Kleidung allein, sondern sorge durch eine reichliche und zweckmäßig zusammengesetzte Nahrung für Steigerung der Wärmebildung, worüber früher das nöthigste gesagt wurde. Namentlich ist noch hervorzuheben, daß bei Kälte das Fett in der Nahrung vermehrt werden soll und daneben das Eiweiß, ersteres weil es die größte Wärme­ menge enthält, letzteres weil es als Sauerstoffanzieher den Verbrennungsprozeß im Körper steigert. Heiße und stärkere alkoholische Getränke sind sehr zweckmäßige Schutzmittel gegen Kälte; allein da sie keine Wärme bilden, sondern nur die Haut auf Kosten des Körperinnern wärmen, taugen sie nicht zu nachhaltiger Warmhaltung. Körperbewegung, namentlich eine solche, welche mit Frottirung der Haut verbunden ist, steigert die Wärmebil­ dung und vermehrt den Wärmezufluß aus der Tiefe des Körpers in die Haut und die Extremitäten, ist also, genügende Ernährung vorausgesetzt, ein treffliches Mittel, der Kälte Widerstand zu leisten. Für die der Kältewirkung am meisten ausgesetzten Extremitäten (Füße und Hände) sind namentlich außer der Frottirung schwingende und pendelnde Bewegungen von Vortheil, weil das Einströmen des wärmenden Blutes durch die centrifugirend'e Wirkung dieser Bewegungen unter­ stützt wird. Für Hände und Füße ist auch das Reiben mit Schnee ein probates Mittel, weil dieser Hautreiz mächtig zur Erweiterung der Blutbahnen und damit zur Herbei­ schaffung der Wärme aus dem Innern des Körpers beiträgt. Ueber die Abhärtung haben wir im früheren so aus­ führlich gesprochen, daß hier nichts weiter zu sagen erübrigt; dagegen muß über die bisher noch nicht besprochene Heizung das nöthigste angegeben werden. Bei dieser liegt die Sache ganz ähnlich wie bei der Kleidung: der durch sie geschaffene Schutz gegen Kälte wird

31. Die äußeren Schädlichkeiten.

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leicht dadurch illusorisch, daß sie verweichlichend wirkt, also die Immunität gefährdet. Zudem gesellt sich, da zu der Heizung der Natur der Sache nach der Aufenthalt in ab­ geschlossenen Räumen kommt, noch die Gefahr der Luftverderbniß, und zwar die durch die Verbrennungsgase und die durch die menschliche Ausdünstung. Zunächst gilt für die Heizung, daß die Temperatur für Wohnräume 18 Grad Celsius nicht übersteigen darf, wenn sie nicht verweichlichend wirken soll. Ist die Arbeit mit erheblicher Körperbewegung verbunden, so sollen die Arbeits­ räume nicht über 12—14° C. erwärmt werden. Offene Feuer sind nur in Räumen unschädlich, welche eine höchst ergiebige Ventilation haben, weil die Verbrennungs­ gase größtenteils schädlicher Natur sind; weniger die Kohlensäure, die erst bei starker Concentration giftig zu wirten anfängt, als vielmehr das Kohlenoxydgas, das sich bei gehemmter Verbrennung entwickelt. Bei der jetzt in Aufnahme kommenden Feuerung mit Gas ist im allgemeinen die Gefahr der Luftverunreinigung erheblich geringer als bei Holz- und Kohlenfeuer, weil sich kein Kohlenoxyd dabei ent­ wickelt; dagegen kommt es auch hier im Fall einer nicht vollständigen Verbrennung zur Bildung eines Gases, des Acetylen, das schon in geringer Menge lebhaft auf den Organismus wirkt, indem es Kopfschmerz erzeugt. Bei gutem Bunsen'schen oder noch besser bei Griffith'schen Brennern ist dagegen die Verbrennung nach meiner Er­ fahrung eine so vollständige, daß sie unbedenklich zur Zim­ merheizung als offene Feuer verwendet werden können. In geschlossenen Räumen muß, mit Ausnahme der ge­ nannten Gasfeuerung, jede Feuerung so eingeschlossen werden, daß die Berbrennungsgase sich der Zimmerluft nicht mit­ theilen können. Hiebei ist es wichtig, zu wissen, daß eiserne Oefen diese Anforderung nur so lange erfüllen, als sie nicht

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zum Glühen kommen, denn glühendes Eisen läßt das giftige Kohlenoxydgas durch. Verläßlich sind deshalb blos Thonöfen. Eine andere der Heizung entspringende Luftverun­ reinigung verbindet sich mit den eisernen Oefen. Sobald dieselben zu heiß werden, so verbrennen die organischen Staubtheile, die in der Luft suspendirt sind, und zwar unter Lieferung von unvollständigen Verbrennungsprodukten; des­ halb sind solche Oefen besonders in solchen Werkstätten zu

vermeiden, wo durch die Arbeit viel Staub erzeugt wird. Ein weiterer Punkt bei der Heizung ist die Rücksicht­ nahme auf den Gehalt der Luft an Wasserdampf, und zwar nach zwei Richtungen, dem zu viel und dem zu wenig. Wo durch die Heizung zugleich viel Wasser verdampft, wie in Küchen und Werkstätten, hemmt eine völlige Sättigung der Luft mit Wasserdampf die Hautausdünstung und gefährdet nach dem, was wir über Abhärtung gehört haben, die Im­ munität des Körpers; deswegen ist in solchem Falle aus­ giebige Ventilation erforderlich. Auf der andern Seite er­ zeugt die trockene Heizung trockene Luft und zwar deshalb:

je wärmer die Luft, desto mehr Wasserdampf braucht sie zu einem bestimmten Sättigungsgrad. Erwärmen wir deshalb eine Luft, die den richtigen Sättigungsgrad hat, so wird derselbe um so ungenügender, je größer der Betrag der Er­ wärmung war. Es ist deshalb an jeder Heizung ein Apparat anzubringen, in welchem eine mäßige Menge Wasser ver­ dampft. Noch muß die Wirkung der Heizung auf die Luft­ bewegung angeführt werden. Wie wir die Luft erwärmen, machen wir sie leichter und vermehren so ihr Bestreben in die Höhe zu steigen. Dies wird um so stärker, je größer der Unterschied zwischen der Luftwärme und der Zimmer­ wärme ist. Wir können diesen Umstand mit Vortheil be­ nützen, um eine Lufterneuerung der Wohnräume, also eine

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Hmtanhaltung der Luftverderbniß herbeizuführen; allein es kann dadurch auch das Gegentheil eintreten: der aufsteigende Luftstrom wirkt ansaugend auf die schwere Bodenluft in den unteren Räumen des Hauses, der Keller, Erdgeschosse rc. Sobald nun diese letztere Krankheitskeime enthält — wovon später —, so werden diese mitgeführt und in die geheizten Räume, die hier gewissermaßen als Aspiratoren wirken, ver­ schleppt. Aus diesem Grunde gebietet die Vorsicht, darauf zu halten, daß nicht nur überhaupt in diesen unteren Räumen Reinlichkeit herrscht, sondern daß namentlich vor Beginn der kalten Jahreszeit dort alles entfernt wird, was Krankheitskeime erzeugen kann. Bei dem andern Temperaturextrem, der Hitze, kommen ebenfalls mehrere Punkte in Betracht. Für die Kleidung habe ich bereits früher das nöthigste gesagt. Zu leichte Sommerkleidung ist eben so zu verwerfen wie zu warme Winterkleidung, weil sie die Immunität des Körpers durch' Unterdrückung der Wasserabgabe durch die

Haut hemmt und auch zu große Schwankungen in der Wärmeabgabe zuläßt. Die Sommerkleidung soll warm genug sein, um ein Zurücktreten des Blutes aus der Haut in die Tiefe zu verhindern. Gerade in großer Hitze ist es wichtig, daß die Haut stets reichlich durchblutet ist, um so möglichst viel Wärme durch Strahlung, Leitung und Wasser­ verdunstung abgeben zu können. Diese Bedingung erfüllen nur wollene Bekleidungsstoffe, und es soll deshalb bei großer Hitze weder Leinwand noch Baumwolle einen wesentlichen Bestandtheil der Kleidung bilden. Bezüglich der Ernährung verlangt die Hitze einmal geringeres Quantum, dann andere Qualität. Fett ist am meisten zu meiden, aber auch der Eiweißgehalt soll vermindert werden, um die Wärmebildung herabzusetzen. Dagegen ist im Sommer der Zucker an seinem Platze. Weil er unter

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allen Nahrungsstoffen dem Darmkanal die allergeringste Arbeit zumuthet, so wird jene mit der Verdauungsarbeit verbundene Aenderung der Blutvertheilung vermieden, die in einer Vermehrung der Darmdurchblutung auf Kosten der Durchblutung der Haut besteht und naturgemäß gleichbedeu­ tend ist mit einer Herabsetzung der Wärmeabgabe durch die Haut. Deshalb muß überhaupt bei der Hitze vor schwer­ verdaulichen Nahrungsmitteln gewarnt werden. Weiter empfiehlt sich bei der Hitze der Genuß von säuerlichen Speisen und Getränken, weil die Säuren die Wärmebil­ dung im Körper verlangsamen. Eine besondere Berücksich­ tigung verdienen bei der Hitze die Gewürze, sie erhöhen den Tonus der Gewebe des Darmkanals, die bei großer Hitze ganz besonders schädlicher Erschlaffung durch zu hohe Steigerung der inneren Wärme ausgesetzt sind. Schon da­ durch treiben sie das Blut mehr in die Haut, wo es sich abkühlen kann. Außerdem kommt aber bei der bekannten Congestion zur Haut, welche die Gewürze erzeugen, auch noch deren Wirkung auf die Entwässerung in Betracht. Wie wichtig die scharfen Gewürze in der Hitze sind, beweist der Umstand, daß Europäer, die bei der Uebersiedlung in heiße Länder es versäumen, den dort gebräuchlichen Gewürzgenuß mitzumachen, sehr leicht der Hitze erliegen. Selbstverständlich ist, daß dem gesteigerten Wasserverlust bei der Hitze eine gesteigerte Wasserzufuhr entsprechen muß, denn eine zu starke Eindickung des Blutes erzeugt den bekannten Hitzeschlag; allein das Getränke soll womöglich Beisätze enthalten, welche etwas reizend auf die ersten Wege wirken (Kohlensäure, Pflanzensäure, Zucker, Alkohol re.). Einen besonderen Faktor im Schutz gegen die' Hitze bildet die Hautpflege, eben weil die Wärmeabgabe haupt­ sächlich durch diesen Körpertheil besorgt werden muß. Das Waschen

und

Baden

wirkt nicht blos

durch

die

hiebei

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momentan stattfindende Wärmentziehung, sondern auch da­ durch nachhaltig, daß es die Schweißporen öffnet, die Ober­ haut, die ein sehr schlechter Wärmeleiter ist, durch Ent­ fernung der äußersten Schichte und der blos noch leicht haftenden Hautschuppen verdünnt und das Blutgefäßnetz der Haut erweitert, so daß Wärme- und Wasserverlust flotter' von Statten geht. Am nöthigsten haben selbstverständlich solche Leute eine sorgsame Hautpflege, welche ihr Beruf einer­ stärkeren Beschmutzung der Haut durch Staub und Schweiß aussetzt. Als Gegenstück zur Heizung bei Kälte können wir den Gebrauch des Eises bei der Hitze kaum anführen, da er viel zu beschränkt ist und fast nur als Abkühlungsmittel für die Getränke in Betracht kommt; dagegen besitzen wir in dem Erdboden ein Kältereservoir, da dieser in einer je nach der Bodenbeschafsenheit wechselnden Tiefe einen confianten, der mittleren Jahrestemperatur entsprechenden, also gegen­ über der Sommerhitze bedeutend niedrigeren Wärmegrad hat. In der freien Luft und auf dem besonnten Boden kommt diese niedere Bodentemperatur nicht zur Geltung, dagegen sehr bedeutend in den Wohnräumen; sie ist die Ursache, daß im Sommer die Erdgeschosse, Keller und son­ stigen unterirdischen Räume bedeutend kühler sind als die freie Luft. Aus diesem Grunde dienen uns die Wohnungen nicht blos zum Schutz gegen die Kälte, sondern auch zum Schutz gegen die Hitze, und zwar nicht blos die der Sonnen­ strahlen, sondern auch gegen die Luftwärme. Am unmittel­ barsten können wir natürlich die Bodenkühle zur Bekämpfung der Hitze verwenden, wenn wir uns im Sommer in den unteren Räumen der Häuser aufhalten, und darin liegt einer der vielen Vorzüge, welche das englische Wohnhaussystem vor der Uebereinanderschichtung der Wohnungen bei den continentalen Miethhauskasernen voraus hat. Allein bis zu

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einem gewissen Grad sind wir im Stande, die Bodenkühle auch in die oberen Räume des Hauses heraufzuheben. Tie Mittel hiezu sind einmal Abzugskanäle, welche die erwärmte unter der Zimmerdecke sich ansammelnde Luft nach oben in das Freie entweichen lassen (Sommerventilationsröhren), und Kanäle, die von den unteren Räumen des Hauses auf­ steigen, was freilich wieder nur bei dem englischen Wohn­ system leicht durchzuführen ist. Werden nun die übrigen Oeffnungen der Wohnräume möglichst gut geschlossen, so findet ein Aufsteigen der in den unteren Räumen sich abtühlenden Luft statt, das mitunter, wie ich mich durch Ver­ suche überzeugt habe, sehr lebhaft werden kann. Hiebei ist auf ein sonderbares Mißverständniß hinzuweisen. In manchen Gegenden, z. B. in meiner Heimat Schwaben, glaubt man, doppelte Fenster seien nur als Schutz gegen die Winterkälte verwendbar, und entfernt sie im Sommer; das ist durchaus falsch. Sie leisten gegen die Sommerhitze einen zweifachen Dienst; erstens verhindern sie das Eindringen der überhitzten Luft in die Wohnräume, und zweitens erzeugt die durch sie ermöglichte dichtere Abschließung ein viel wirksameres Auf­ steigen der Bodenkühle in die Wohnräume. Ein „Aber" ist jedoch bei der Verwendung der Bodenkühle zur Bekämpfung der Sommerhitze, daß mit der Bodenluft Krankheitskeime aufsteigen können, wenn der Boden ein siechhafter ist. Wo man es deshalb notorisch mit einem solchen zu thun hat, sind die später anzugebenden Vorsichtsmaßregeln nöthig. Wenden wir uns nun zur Jmmunitätsfrage. Daß es nicht nur eine Abhärtung gegen die Kälte, sondern auch eine solche gegen Hitze gibt, ist außer Frage, und meiner Ansicht nach kommt hier außer dem in Kapitel 26 Gesagten noch fol­ gendes in Betracht. 1. ist es notorisch, daß magere Leute viel widerstands­ fähiger gegen die Hitze sind als fette, und das ist völlig

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begreiflich, da die Oxydation des Fettes fast doppelt so viel Wärme entbindet als die von Eiweiß und Zucker, und daß bei der Hitze viel Fett im Körper umgesetzt wird, sehen wir daran, daß fette Leute in heißen Klimaten rasch ihr Fett

verlieren. 2. handelt es sich bei der größeren Widerstandsfähigkeit der mageren Leute darum, daß hier das Verhältniß zwischen wärmeerzeugender Körpermasse und wärmeabgebender Ober­ fläche zu Gunsten der letzteren verändert ist. 3. spielt sicher die Athmungsfähigkeit eine große Rolle; die Athmung wirkt namentlich in trockener Hitze durch Wasser­ verdunstung ganz bedeutend abkühlend auf das Blut. Dann hängt von ihr die Abfuhr der Kohlensäure aus dem Körper ab, und da Anhäufung dieses Gases Herzaufregung und Steigerung der Wärmeproduktion zur Folge hat, so wirkt sie auch in dieser Richtung schützend. 4. ist Circulationsfreiheit ein Faktor der Immunität gegen Hitze. Alles was zur Steigerung des Blutdrucks und damit zu vermehrtem Herzschlag Anlaß geben kann, legt die Gefahr vermehrter Wärmebildung nahe, und alles was sich der Durchblutung der Haut in den Weg stellt, beeinträchtigt die Wärmeabgabe. Damit stimmt wieder die Thatsache, daß fette Leute, bei denen das Körper- und Unterhautfett ein Circulationshinderniß ist, gegen die Hitze weniger wider­ standsfähig sind als hagere, und daß die militärische Ab­ härtung auch die Widerstandsfähigkeit gegen Hitze hebt, was. aus der S. 509 angegebenen Abnahme der Todesfälle durch Hitzschlag mit zunehmendem Dienstalter hervorgeht. Eine Schädlichkeit anderer Art ist jäher Temperatur­ wechsel, namentlich plötzliche Steigerung des Wärme­ verlustes durch die Haut, wie ihn eine rasche Abkühlung durch Entkleidung, durch Benetzung sei es von außen, sei es durch Hchweiß, oder rasche Steigerung der Ventilation

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der Kleiderluft durch plötzliche Versetzung aus ruhender Luft in starke bewegte hervorbringt. Diese Schädlichkeit, die die sog. Erkältung bedingt, haben wir in Kapitel 22 zur Genüge besprochen.

Ueber den Feuchtigkeitsgehalt der Luft gilt folgen­ des. Eine zu trockene Luft, namentlich wenn sie zugleich kalt ist, wirkt hauptsächlich schädlich auf die Athmungswege und zwar deren obere Abschnitte, indem die rasche Aus­ trocknung und große Wärmeentziehung einen örtlichen bis Hur Entzündung gehenden Reiz ausüben kann. Zu feuchte Luft ist keine unmittelbare Schädlichkeit; allein da sie die Wasserabgabe durch Haut und Lunge beeinträchtigt, so ist sie die größte Feindin der Immunität des Körpers, worüber aus Kapitel 26 und 30 das nähere zu entnehmen ist. Ueber die schädlichen gasförmigen Beimengungen zur Luft haben wir gleichfalls schon und zwar in Kapitel 11 gesprochen und ebenso über die staubförmigen, von diesen sollen nur die belebten — aber erst weiter unten — noch eine Besprechung finden; hier ist nur die Bemerkung am Platz, daß die staubförmigen Beimengungen deshalb so wichtig sind, weil wir kein äußeres Medium in solch kolossalen Quantitäten täglich in unseren Leib einführen wie die Luft: Jeder Athemzug bringt mindestens 300 Kubikeentimeter Luft in den Körper, macht pro Tag rund 4000 Liter.

Eine weitere sehr allgemeine äußere Schädlichkeit bilden die Krankheitskeime, die von außen in und auf den Körper gelangen. Sie erfordern eine eingehendere Be­ sprechung, da wir im bisherigen nur wenig Gelegenheit sanden, auf sie aufmerksam zu machen. Die greifbarsten und bereits am längsten genauer be­ kannten Krankheitskeime sind die, welche in das Thierreich gehören: die thierischen Schmarotzer, von denen man

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die auf der äußeren Haut lebenden Epizoen nennt, während die innerlich wohnenden als Entozoen bezeichnet werden. Unter den Epizoen können wir die Läuse, Flöhe und Wanzen bei Seite lassen, da sie nur lästig sind und vielleicht mit einziger Ausnahme der übrigens auf deutschem Boden nicht heimischen Auszehrungslaus keine eigentlichen Krankheiten erzeugen; das thun von den Epizoen nur die Krätzmilben, von denen in Deutschland nur Eine Art vor­ kommt. Dieses mikroskopisch kleine Thierchen gräbt sich in die Oberhaut des Menschen Gänge, in welchen es wohnt, sich häutet, begattet und seine Eier ablegt. Dadurch entsteht örtliche Entzündung der Haut, die durch das Kratzen des Patienten noch verstärkt wird und bei langer Dauer die ganze Körperoberfläche ergreift. In der Regel siedeln sich die Krätzmilben zuerst an den Händen und zwar in den Ein­ sattlungen zwischen den Fingern an. Von anderem Schutz als allgemeine Reinlichkeit läßt sich hier nicht sprechen, sondern nur davon, daß man beim Erscheinen eines juckenden Ausschlags an den Händen rasch ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt. Die früher so gefürchtete und schwierig sowie schmerz­ haft zu behandelnde Krankheit ist jetzt, seit man die Ursache kennt, prompt und leicht durch Tödtung der Thiere zu heilen. Ob es eine Immunität gibt, ist sehr zweifelhaft, auch prak­ tisch gleichgiltig. Von den Entozoen ist hier zu Lande das gefährlichste die erst seit stark einem Jahrzehnt bekannt gewordene Trichine, die mit dem Genuß von trichinösem Schweine­ fleisch in den menschlichen Körper gelangt. Wie die Trichine in den Leib des Schweines kommt, wissen wir nicht, jeden­ falls geschieht es auch von außen. In diesem Fall finden wir in dem Fleisch dieser Thiere winzige spiralig zusammen­ gerollte, noch nicht geschlechtlich entwickelte Würmchen in eine Kapsel eingeschlossen, die für das bloße Auge zwar nicht

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ganz unsichtbar, aber nicht erkennbar sind, und zwar ist ein solches Schwein gewöhnlich von Millionen solcher Würmchen

durchsetzt, die den Tod des Schweines ungemein lange über­ leben, auch weder durch Räuchern noch Einsalzen, sondern nur durch völliges Durchkochen und Durchbraten des Fleisches getödtet werden können. Genießt der Mensch das Fleisch, so werden die Würmchen durch die Verdauung aus ihrem Gefängniß befreit, reifen rasch heran, begatten sich und dann gebiert jedes Weibchen 200—300 Junge, die sofort die Wände des Darms durchbohren und durch den Körper sich zerstreuen, um sich in das Muskelfleisch einzubohren, wo sie sich einkapseln. Die Folge ist eine sehr schwere Krankheit, zuerst wegen der Verletzung des Darms, dann wegen der der Muskeln, und im Durchschnitt stirbt Vs derer, die von dem Fleisch gegessen haben. Die, welche davon kommen, behalten zeitlebens die lebendigen Würmchen im Leib, ohne aber von denselben weiter genirt zu werden. Von einem Schwein können natürlich mehrere Hundert Personen an­ gesteckt werden. Der Selbstschutz besteht darin, kein unge­ kochtes oder ungebratenes Schweinefleisch zu genießen. Außer­ dem gab die Gefährlichkeit dieses Entozoon Veranlassung zu polizeilichen (Fleischschau) und gesetzlichen Maßregeln, indem man die Verkäufer von trichinösem Fleisch für fahrlässige Tödtung criminaliter und civiliter verantwortlich macht. Von den anderen Entozoen erlangen nur die Band­ würmer, Spulwürmer und Leberegel und auch die durchaus nicht immer die Bedeutung von Krankheitsursachen. Bei den Bandwürmern handelt es sich in der Kürze um folgendes. Die winzig kleinen und nach Millionen zählenden Eier des Bandwurms gelangen theils mit dem Kothe des Wirthes, theils dadurch daß stets Bandwurm­ glieder sich ablösen, auswandern und dort ihre Eier ablegen, ins Freie und zwar, da der Koth von Mensch und Meh

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als Dünger verwendet wird, auf den Boden, auf welchem Cultur- und Weidepflanzen wachsen, und mit dem Staub

an diese selbst. Werden nun die verunreinigten Pflanzen von einem Pflanzenfresser verzehrt, so entwickeln sich im Darm desselben die Eier und die daraus ausschlüpfenden bohnenförmigen, winzigen Embryonen bohren sich mit ihren Hornhaken durch die Darmwände, um sich irgendwo im Körper niederzulassen. In ihrer neuen Heimat wachsen sie zu sog. Blasenwürmern oder Finnen heran, von denen die einiger Arten winzig klein, die anderer aber ansehnlich, selbst faust- bis kopfgroß werden. Sie stellen eine rund­ liche mit Flüssigkeit gefüllte Blase vor, an welcher entweder ein einziger sog. Scolex oder Bandwurmkopf oder eine Viel­ zahl solcher sitzt. Der Blasenwurm wird ganz wie die Muskeltrichine erst durch den- Tod ihres Wirthes erlöst, verharrt auch bis dahin im geschlechtslosen Zustand. Wenn nun ein Fleischesser mit dem Fleisch auch die Finnen oder auch nur die an der Blase hängenden Scolices lebend ver­ schlingt, so wächst in dessen Darm jeder Scolex zu einem Bandwurm,ou§. Der Mensch ist nun einer zweifachen Gefahr ausgesetzt: 1. kann es ihm passiren, daß er mit dem Fleisch seiner Schl.achtthiere deren Finnen verzehrt und zu Bandwürmern entwickelt; 2. daß er mit seiner Pflanzennahrung oder mit dem Schmutz an seinen Händen Bandwurmeier verschluckt und sie zu Finnen heranreift. In ersterer Richtung ist folgendes zu sagen. Von den dreierlei Bandwürmern, die in Deutschland zu Hause sind, lebt die eine Art als Finne im Schwein, die andere im Rind: den Sitz der dritten hat man noch nicht ermittelt, vermuthet aber, daß er in Flußfischen zu suchen sei. Die Finne des Schweines ist leicht zu sehen als eine bis erbsengrose Wasserblase, die des Rindes ist zu klein, als daß sie Jäger, die menschliche Arbeitskraft.'

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ins Auge fallen könnte. Finniges Schweinefleisch wird gegen­ wärtig polizeilich eonfiscirt; sicher ist man aber vor Band­ würmern nur, wenn man alles Fleisch vorher völlig durch­

kocht oder gar bratet; nur das Fleisch des Jagdwildes, der Gänse, Hühner und Enten ist in dem Stück auch im rohen Zustand gefahrlos. In der zweiten Richtung hat der Mensch nicht blos die Eier seiner eigenen Bandwürmer zu fürchten, sondern auch die der Hundebandwürmer, und zwar gerade die gefähr­ lichste Finne, der bis faustgroß werdende Leberblasenwurm, rührt von einem Hundebandwurm her. Hier schützt nur Reinlichkeit der Hände und sorgfältige Reinigung der Gemüse, und bei den Kindern muß man aus diesen wie aus anderen Gründen dem Lutschen an den Fingern energisch entgegen­ treten. Die Lebensgeschichte der namentlich bei Kindern so häufigen Spulwürmer kennen wir trotz aller Bemühungen der Zoologen, namentlich Leukart's, noch nicht; wir wissen nur, daß Unreinlichkeit der Einwanderung dieses oft lästigen Parasiten erheblichen Vorschub leistet. Auch die Lebensgeschichte des Leb er eg els ist noch nicht ganz sicher aufgeklärt; man hat nur gegründeten Verdacht, daß seine Larve im Leib kleiner an Wasserpflanzen lebender Schneckchen sitzt und daß mit der Brunnenkresse, falls sie nicht vorsichtig von Schnecken gereinigt wird, der Wurm seinen Einzug in den Leib des Menschen hält. Im ganzen ist das aber ein seltener Fall. Ungleich bedeutsamer als diese kleinen thierischen Feinde des Menschen haben sich die pflanzlichen erwiesen. Es ist jetzt kaum ein Zweifel mehr darüber gestattet, daß die meisten und zwar gerade die gefährlichsten und verbreitetsten Seuchen dem Eindringen von belebten pflanzlichen Organis­ men kleinsten Kalibers, sog. Spaltpilzen, ihre Entstehung

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Verdanken. Mit völliger Sicherheit steht dies allerdings bis jetzt nur für den Milzbrand, die Diphtheritis, das Eiterfieber und einige Hautkrankheiten fest; allein es besteht wenig ernst­ licher Zweifel darüber, daß Pest, Cholera, Typhus, Ruhr, die Wechselfieberarten, die ansteckenden Hautkrankheiten wie Pocken, Masern und Scharlach, dann die Syphilis Spaltpilz­ erkrankungen sind. Endlich hat man neuerdings auch noch andere Erkrankungen wie die Tuberkelkrankheit, die Lungen­ entzündung, die Gesichtsrose, die „bösen Finger", die Er­ krankungen der Herzklappen re. in Verdacht, der gleichen Ursache zu entspringen, weshalb diese kleinen Feinde jetzt unter allen äußeren Schädlichkeiten die größte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Von den Spaltpilzen (Schizomyzeten, Fäulnißhefezellen, Micrococcus, Bacterium, Vibrio, Spirillum re.) sagt der Pilzforscher Nägeli: „Es sind-kuglige Zellen, die durch Theilung sich vermehren und bald vereinzelt leben, bald zu unverzweigten Reihen (Stäbchen, Fäden), selten zu Würfeln vereinigt sind. Sie stellen die winzigsten bekannten Orga­ nismen dar, indem von den kleineren Formen im luft­ trockenen Zustand 30000 Millionen kaum einen Milligramm wiegen." „Sie haben die Fähigkeit, gewisse lösliche organische Substanzen zu zersetzen (Hefewirkung). Während die Sproß Pilze (Bierhefe, Weinhefe re.) den Zucker in Weingeist und Kohlensäure spalten, zerlegen die Spaltpilze den Zucker in Milchsäure, das Glycerin in Butylalkohol, Buttersäure und andere Verbindungen, den Harnstoff unter Wasseraufnahme in Ammoniak und Kohlensäure, die Eiweißstoffe bei der Fäulniß in zahlreiche Verbindungen (Leucin, Tyrosin, flüch­ tige Fettsäuren, Aminverbindungen, Ammoniak, Schwefel­ wasserstoff, Kohlensäure)." Was ihre Existenzbedingungen betrifft, so sind sie derart, daß sie vollständig befähigt sind im Inneren eines lebendigen 34*

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Körpers zu existiren; sie finden dort alles, was sie von Nährstoffen gebrauchen, da sie auch bei Ausschluß von freiem Sauerstoff leben können. „Die Temperatur, sagt Nägeli, die sie dort antreffen, ist die ihnen am meisten zusagende, bei der sie am üppigsten sich vermehren und am kräftigsten Zersetzungen veranlassen. Die Spaltpilze haben unter den Pilzen weitaus die lebhafteste Vegetation: sie vermehren bei Körpertemperatur ihre Substanz und ihre Zahl in 20 bis 25 Minuten auf das doppelte und besitzen eine den Infusorien ähnliche Bewegung. Sie greifen die organischen Stoffe viel energischer an als alle andern Pilze." Am leichtesten kann man Spaltpilze sehen, wenn man Jauche unter das Mikroskop bringt: sie ist mit einem Ge­ wimmel solcher Spaltpilze erfüllt. Ein thätiges Leben können die Spaltpilze nur in wäss­ rigen Flüssigkeiten führen; dagegen bewahren sie bei der Austrocknung lange Zeit die Fähigkeit, sich wieder zu beleben. Es ist hier nicht der Ort, näher auf die verschiedenen Gründe einzugchen, warum man die Spaltpilze als die wirklichen Erzeuger der genannten Krankheiten und nicht als bloße Begleiterscheinung anzusehen hat, und warum man alle Ansteckungsstoffe nachgerade als Spaltpilze ansieht. Dagegen verdient folgendes davon allgemeiner bekannt zu sein. Man unterscheidet drei biologisch verschiedene Formen. 1. Die Contagien, welche nur auf und in dem mensch­ lichen Körper sich entwickeln und von einem Menschen auf den andern nur direkt übertragen werden. Dahin gehören die Contagien von Pocken, Scharlach, Masern, Syphilis. Je nachdem sie schwerer oder leichter übertragbar sind, nennt man sie mehr oder weniger fix. 2. Als Miasmen bezeichnet man solche, deren eigent­ licher Vegetationsherd die freie Natur ist und die nur immer von da auf den Menschen übergehen, nie von einem

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Menschen auf den andern. Als Vegetationsherde kennt man vorzugsweise die Sümpfe (Sumpffieber oder Wechselfieber) und ähnliche offene Wasser, in denen pflanzliche Stoffe, aber nicht in zu großer Menge, sich zersetzen. 3. Als miasmatisch-contagiös bezeichnet man die Krankheitskeime, welche sowohl im Freien als im Menschen vegetiren und von beiden Orten aus Ansteckung bewirken können; die bekanntesten derartigen Krankheiten sind Typhus und Cholera. Als ihre Vegetationsorte im Freien hat man ganz- besonders das sog. Grundwasser im Verdacht. In Bezug auf Vorbeugung müssen wir die drei genannten Gruppen gesondert betrachten. Bei den Contagien handelt es sich zunächst um die Vermeidung der erkrankten Personen, und zwar müssen sie um so sorgfältiger gemieden werden, je weniger fix das Contagium ist. Das fixeste Contagium ist das syphilitische, das nur bei direkter Uebertragung auf die Schleimhäute wirkt und durch die Luft nicht transportirt werden kann. Dann verdient allgemeiner bekannt zu sein, daß die Lungen­ schwindsucht allem nach ebenfalls ansteckend sein kann — daß sie impfbar ist, steht fest —, und rathsam ist jedenfalls, schwindsüchtige Personen nicht zu küssen; der Ansteckungsstoff steckt im Auswurf der Kranken. Das Contagium von Pocken, Masern und Scharlach ist viel weniger fix und kann zweifel­ los durch die Luft transportirt, also eingeathmet und mit den Speisen ausgenommen werden; die Ansteckungsstoffe lösen sich vorzugsweise von der Haut des Kranken ab. Des­ halb ist das Betreten der Krankenzimmer zu vermeiden und zum Schutz derer, welche das nicht unterlassen können, dringend zu rathen, 1. eine sehr reichliche Durchlüftung des Zimmers vorzunehmen, damit sich die Keime nicht ansammeln können; 2. sich fleißig Mund und Hände mit einem desinficirenden Waschwasser zu reinigen (am besten dient hiezu

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übermangansaures Kali);

3. sich einen mit desinficirendem

Wasser befeuchteten Schwamm vor Mund und Nase zu binden; 4. die Wäsche zu desinficiren. Bei den Miasmen-gilt folgendes. Aus dem Wasser selbst können sie sich nicht in die Luft erheben, wohl aber durch das Trinken desselben in den Körper gelangen; dagegen steigen sie und zwar besonders Abends aus den austrocknen­ den Rändern der Sümpfe in die Höhe und natürlich ganz besonders massenhaft, sobald der Wasserstand rascher sinkt. Man trinke deshalb kein Sumpfwasser ohne es gekocht oder durch Alkoholzusatz unschädlich gemacht zu haben, vermeide die Sumpfränder Abends und Nachts, dulde in der Nähe der Wohnungen keine Sümpfe, selbst nicht die kleinsten. Die heimtückischesten Krankheitskeime sind die miasmatisch-eontagiösen. Bei diesen kommen drei Ansteckungs­ herde in Betracht: die kranken Menschen und ihre Aus­ wurfstoffe, die Luft und das Grundwasser. In Orten, welche auf festem Fels oder auf ganz undurchlässigem Boden stehen oder wo der Grundwasserspiegel sehr tief liegt, sind diese Krankheiten weniger zu fürchten; hier hat man sich blos vor der Berührung mit der erkrankten Person in gleicher Weise zu schützen, wie es oben bei den Contagien gesagt wurde. Bei Cholera, Typhus und Ruhr sitzt der Ansteckungs­ stoff hauptsächlich in den Excrementen, weshalb die Desin­ fektion derselben und der beschmutzten Wäsche und die der Aborte sorgfältig auszuführen ist. In den Aborten verlieren die Krankheitskeime bereits in wenigen Tagen ihre An­ steckungstüchtigkeit, so daß eine fortgesetzte Desinfektion der Aborte nirgends nothwendig erscheint. Auch bemerkt Nägeli, daß eine ungenügende Desinfektion schlechter sei als gar keine und zwar deshalb: Unterläßt man alle Desinfektion, so sind, wie oben ge­ sagt, die Krankheitskeime in wenigen Tagen harmlos gewor-

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den — nach Nägeli haben sie sich in gewöhnliche, relativ unschädliche Fäulnißpilze verwandelt. Bei ungenügender Desinfektion sind die Keime weder getödtet, noch können sie sich, da ihr Lebensprozeß vorläufig sistirt ist, in Fäulniß­ pilze umwandeln, so daß die unvollständige Desinfektion gleichbedeutend sei mit Conservirung der Keime. Ueber den zweiten Ansteckungsherd für miasmatischcontagiöse Krankheiten verdanken wir die näheren Aufschlüsse hauptsächlich Pettenkofer und Nägeli. Nicht in jedem Grundwasser können die betreffenden Keime existiren, weder in solchem das sehr rein ist, noch in solchem das sehr reich an faulenden Substanzen ist (siehe S. 508); das günstigste ist schwäch verunreinigtes. Der Wege, auf denen die Keime aus dem Grundwasser in den mensch­ lichen Körper gelangen können, gibt es zwei. Der eine ist der in das Trinkwasser. Nach Nägeli ist der wenig zu fürchten, er sagt, das Trinkwasser sei in der Regel viel zu arm an den Nährstoffen für Spaltpilze, als daß sie sich dort lange halten oder gar vermehren können; allein so gering, wie Nägeli die Gefahr der Ansteckung durch Trinkwasser darstellt, ist sie nicht. Ich kenne speziell 2 Typhusepidemien, die eine in Stuttgart, die andere in Birkach bei Stuttgart, in denen die Ansteckung zweifel­ los je von einem Brunnen ausging, auf dessen Sammelgebiet eine übermäßige Düngung mit Latrinenjauche stattfand. Der zweite und ohne Zweifel häufigere Weg ist der durch die Luft. In diese gelangen die Keime in ähnlicher Weise wie die der Miasmenpilze: sobald das Grundwasser sinkt, bleiben die Keime an den Bodenpartikeln hängen, und wie sie trocken sind, genügen selbst ganz schwache Bewegungen der in den oberen Bodenschichten über dem Grundwasser stehenden Luft, um sie flott zu machen und in die Atmo­ sphäre zu heben. Aus dieser Ursache nimmt die Häufigkeit

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der Erkrankungen sofort zu, sobald das Grundwasser sinkt, während im Gegentheil die Zahl der Erkrankungen ab­ nimmt, sobald das Grundwasser steigt, denn dann ist ein Entweichen der Keime in die Bodenluft unmöglich. Das gefährliche Element auf einem durch Grundwasser siechhaften Boden ist mithin die Bodenluft, und die gefähr­ lichen Stellen sind die Punkte, wo die Bodenluft in die Höhe steigt. Das kann nun zwar überall stattfinden, selbst auf freiem Felde, am regelmäßigsten geschieht aber das Auf­ steigen in den Häusern, weil dort durch das Heizen und Kochen eine Ansaugung der Bodenlust stattfindet. Das wesentlichste, was auf Grund dieser Erfahrungen gegen diese Krankheitskeime unternommen werden kann, ist nach Nägeli kurz folgendes. 1. Möglichstes Tieflegen oder Entfernen des Grund­ wassers. Wo dies nicht möglich, Erhaltung des gleichen Niveauos und entweder Verhinderung jeder Verunreinigung desselben, oder, wenn dies nicht möglich, so starke Verun­ reinigung, daß die Krankheitspilze zu Fäulnißpilzen werden. 2. Maßregeln gegen das Aufsteigen der Bodenluft in die Häuser, wenn dieselben auf notorisch siechhaftem Boden stehen, durch Anbringung von Cement- oder Lettenschichten in den unteren Lokalen und um die Grundmauern, so daß die Bodenluft vom Innern luftdicht abgeschlossen ist. Bezüglich der Immunität des Körpers gegen die eben geschilderten Krankheitsursachen ist bereits früher die Ent­ wässerung (Abhärtung) als ein Hauptfaktor gekennzeichnet worden. Dann sind stärkere Ermüdungsgrade und solche Diätfehler zu vermeiden, welche durch Wasseraufstauung im Körper die Immunität gefährden; namentlich gefährlich für die Immunität sind Diarrhöen, weil in dem wässrigen Darm­ inhalt die Pilze sich rasch vermehren.