Philosophische Vorstellungen: Studien über die menschliche Erkenntnis 9783110320404, 9783110320114

Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte sind verschiedene Aufsätze Reschers in Deutsch erschienen, die in diesem Band zusa

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German Pages 369 [388] Year 2012

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INHALT
Vorwort
WAHRHEIT
I. DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT
II. WAHRHEIT ALS IDEALE KOHÄRENZ
WISSENSCHAFT
III. WIE IST NATURWISSENSCHAFT MÖGLICH? GRUNDZÜGE EINES NATURALISTISCHEN IDEALISMUS
IV. GRENZEN DER WISSENSCHAFTLICHEN ERKENNTNIS
PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE
V. ÜBER EINEN ZENTRALEN UNTERSCHIED ZWISCHEN THEORIE UND PRAXIS
VI. DIE BEGRÜNDUNG VON RATIONALITAT: WARUM DER VERNUNFT FOLGEN?
VII. DER AMPHIBISCHE MENSCH
VIII. HANDLUNGSASPEKTE
IX. FEHLSCHLÜSSE ÜBER WILLENSFREIHEIT
METAPHILOSOPHIE
X. HERMENEUTISCHE OBJEKTIVITÄT
XI. DIE VIELEN FACETTEN DER REALITÄT
XII. PHILOSOPHISCHE PRINZIPIEN
XIII. ÜBER PHILOSOPHISCHE SYSTEMATISIERUNG PLAUSIBILITÄT UND HEGELS VISION
XIV. PHILOSOPHIE AM ENDE DES JAHRHUNDERTS
ANHANG
XV. PRAGMATISCHER IDEALISMUS ODER IDEALISTISCHER PRAGMATISMUS? EIN INTERVIEW
XVI. NICHOLAS RESCHER
XVII. BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER
XVIII. BÜCHER UND PUBLIKATIONEN ÜBER NICHOLAS RESCHERS WERK
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Philosophische Vorstellungen: Studien über die menschliche Erkenntnis
 9783110320404, 9783110320114

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Nicholas Rescher Philosophische Vorstellungen Studien über die menschliche Erkenntnis

Nicholas Rescher

Philosophische Vorstellungen Studien über die menschliche Erkenntnis

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2012 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-169-6 2012 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by CPI buch bücher gmbh

INHALT VORWORT WAHRHEIT 1. DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT 2. WAHHRHEIT ALS IDEALE KOHÄRENZ

1 59

WISSENSCHAFT 3. WIE IST NATURWISSENSCHAFT MÖGLICH? GRUNDZÜGE EINES NATURALISTISCHEN IDEALISMUS

75

4. GRENZEN DER WISSENSCHAFTLICHEN ERKENNTNIS

91

PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE 5. ÜBER EINEN ZENTRALEN UNTERSCHIED ZWISCHEN THEORIE UND PRAXIS

119

6. DIE BEGRÜNDUNG VON RATIONALITÄT: WARUM DER VERNUNFT FOLGEN?

137

7. DER AMPHIBISCHE MENSCH

157

8. HANDLUNGSASPEKTE

165

9. FEHLSCHLÜSSE ÜBER WILLENSFREITEIT

173

METAPHILOSOPHIE 10. HERMENEUTISCHE OBJEKTIVITÄT

191

11. DIE VIELEN FACETTEN DER REALITÄT

211

12. PHILOSOPHISCHE PRINCIPIEN

227

13. ÜBER PHILOSOPHISCHE SYSTEMATISERING: PLAUSIBILTÄT UND HEGELS VISION

247

14. PHILOSOPHIE AM ENDE DES JAHRHUNDERTS

289

ANHANG 15. PRAGMATISCHER IDEALISMUS ODER IDEALISTISCHER PRAGMATISMUS? EIN INTERVIEW MIT HANS-PETER KRÜGER

311

16. NICHOLAS RESCHER: DARGESTELLT VON DIETER STURMA

347

17. BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER

353

18. BÜCHER UND PUBLIKATIONEN ÜBER NICHOLAS RESCHERS WERK

371

Vorwort

I

n vielen Jahren sind mehrere von meinen Aufsätzen in Deutsch erschienen,1 und die Zeit ist jetzt reif sie in einem Band zusammenzufassen. Es handelt sich hauptsächlich von drei Themen: Erkenntnis, philosophische Anthropologie und Metaphilosophie. Das Buch stellt also dem deutschen Leser einen guten Anteil meiner philosophischen Ideen zu Verfügung, obwohl die ethischen und historischen Arbeiten hier außer Acht gelassen werden. Ich bin Estelle Burris dankbar für ihre Hilfe, dieses Material für die Veröffentlichung vorzubereiten.

Pittsburgh, USA Juni 2011

ANMERKUNGEN 1

Hinweise zu den Publikationen finden sich in den Anmerkungen.

WAHRHEIT

I DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT 1. DEFINITORISCHE VERSUS KRITERIENBEZOGENE WAHRHEITSTHEORIEN

P

hilosophische Wahrheitstheorien beschäftigen sich im Allgemeinen ausschließlich mit der Wahrheit von Aussagen oder Propositionen – oder, abgeleitet, mit der Wahrheit von aus solchen Sätzen bestehenden Komplexen wie Erklärungen, Erzählungen und Berichten. Andere umgangssprachliche Verwendungsweisen des Wortes „wahr“ (z. B. sein adjektivischer Gebrauch in Kontexten wie: „ein wahrer Freund“, „eine wahre Linie“ oder „ein wahrer Künstler“) interessieren dabei nicht. Das Ziel besteht darin, die Bedeutung und Anwendung solcher Ausdrücke wie „p ist wahr“ oder „es ist wahr, dass p“ zu klären, in denen p für eine Aussage oder Proposition steht. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die Wahrheit von Propositionen zu explizieren. Die eine ist der definitorische Weg: der Versuch, eine Definition des Begriffs “ist wahr” als eines Charakteristikums von Propositionen zu geben. Die andere ist der Weg über die Kriterien: der Versuch, die Überprüfungsbedingungen anzugeben, von denen abhängt, ob es berechtigt ist, die Bezeichnung „ist wahr“ auf eine bestimmte Proposition anzuwenden. Über die Wahrheitstheorie lässt sich erst verbindlich diskutieren, wenn Klarheit darüber besteht, welche dieser Fragen die Theorie beantworten soll. Soll sie die Bedeutung von Wahrheit erklären und auf diese Weise eine Definition dieses Begriffs geben? Oder soll sie die Bedingungen für die korrekte Anwendung des Begriffes und damit ein Wahrheitskriterium liefern?1 Die beiden Probleme sind – wie schon wenige Beispiele zeigen können – offensichtlich verschieden. Mit Hilfe von Lackmuspapier können wir feststellen, ob eine bestimmte Flüssigkeit eine Säure ist oder nicht, aber der Test mit dem Lackmuspapier sagt uns nichts darüber, was es bedeutet, eine Säure zu sein. Intelligenztests lassen

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sich für Feststellungen darüber verwenden, ob jemand hochintelligent ist, aber die Bedeutung von „hochintelligent“ hat mit den Antworten auf die Testfragen wenig zu tun. Der Besitz eines Kriteriums zur Feststellung des Vorliegens oder Fehlens irgendeiner Eigenschaft (sei es nun die, eine Säure zu sein, Intelligenz oder Wahrheit) ist eine Sache, der Besitz einer Definition oder Spezifikation ihrer Bedeutung eine andere. Diese Situation ist analog zu der in anderen bekannteren Fallen. Die chemische Definition von Gold als dem metallischen Element mit einem bestimmten Atomgewicht und einer bestimmten Atomstruktur nützt im Allgemeinen nichts für die Feststellung, ob ein bestimmter Klumpen aus Gold besteht oder nicht. Die Testverfahren der Metallurgie, die sich z. B. auf solche Dinge wie die Löslichkeit in aqua regia beziehen, liefern zwar Kriterien für diese Feststellung, aber keine Definition. Die in anderen Zusammenhängen eingebürgerte und von dorther geläufige Unterscheidung zwischen Definition und Prüfungskriterium besteht auch in Bezug auf Wahrheit. Der Zugang über die Wahrheitskriterien ist entscheidungsorientiert: Das Ziel dieses Ansatzes ist es nicht, abstrakt zu bestimmen, was „ist wahr“ bedeutet, sondern uns zur Anwendung des Begriffes dadurch in die Lage zu versetzen, dass er uns über die Umstände belehrt, unter denen man rationalerweise etwas (z. B. irgendeine Proposition) als wahr charakterisieren oder klassifizieren kann. Warum sollen wir uns mit einem Kriterium abmühen, wenn erst einmal eine Definition zur Verfügung steht? Die Antwort ist in den obigen Beispielen enthalten. Die Bedeutung eines Wortes oder Begriffes zu erkennen, ist erst die halbe Angelegenheit: Wir wollen es bzw. ihn auch anwenden können. Der Höfling weiß ganz genau, was es bedeutet, „in der Gunst des Königs zu stehen“; er will wissen, wie man das erreicht. Immer, wenn die Bedeutungsangabe eines Begriffes es nicht erlaubt, seine Verwendungsregeln festzulegen, bleibt das Problem der Kriterien wesentlich; vielleicht sogar – wenn auch in einem weiteren Sinne – für die Bedeutungsfrage selbst. Es hilft uns wenig, zu wissen, wie Ausdrücke wie „Geschwindigkeitsbeschränkung“ oder „Vergehen“ abstrakt definiert sind, wenn wir über ihre Anwendungsbedingungen im Dunkeln gelassen werden.

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

Dieser Gedanke gilt auch für den Ausdruck: „ist wahr“. Rudolf Carnap hat das mit der für ihn charakteristischen Klarheit ausgedrückt: „Wir dürfen von der Wahrheitsdefinition kein Bestätigungskriterium erwarten [für die Wahrheit von Propositionen], wie es in wissenschaftstheoretischen Analysen gesucht wird. Aufgrund dieser [d. h. Tarskis] Definition lässt sich auf die Frage nach dem Wahrheitskriterium nur eine triviale Antwort geben, die aus der Aussage selbst besteht. Daher können wir aus der [Tarskischen] Definition von Wahrheit z. B. nur die Aussage erschließen: „Schnee ist weiß“ ist genau dann wahr, wenn Schnee weiß ist. Dieser Schluss ist sicher korrekt. [Aber die Frage nach dem Bestätigungskriterium bleibt dabei unbeantwortet].“2

Selbst wenn eine bestimmte Wahrheitsauffassung sich nicht als Definition eignet und daher die Frage nach der Bedeutung nicht beantwortet, bleibt es doch wichtig, ihren Nutzen unter dem Kriterien bezogenen Aspekt zu prüfen. Erstaunlich viele Autoren haben tatsachlich die Beziehung von Korrespondenz und Kohärenztheorie der Wahrheit in genau diesem Licht gesehen: Korrespondenz für eine Definition, Kohärenz als fundamental für die Kriterien, z. B. schreibt Arthur Pap: „Man kann sich recht gut vorstellen, dass die Kohärenztheorie beschreibt, wie Wahrheit oder Falschheit von Aussagen erkannt werden, zugleich aber keine Analyse der Bedeutung von „wahr“ ist. Man mag zugeben, dass eine bestimmte Analyse deshalb als wahr anerkannt wird, weil sie in bestimmten logischen Beziehungen zu anderen Aussagen steht; daraus folgt jedoch noch nicht, dass man ihr, indem man sie wahr nennt, diese Beziehungen zuschreiben will.“3

Tatsächlich schließt sich Pap der semantischen Wahrheitstheorie Tarskis insoweit an, als sie die Bedeutung dieses Begriffs expliziert. Als Test für die Wahrheit zumindest von empirischen Hypothesen und Gesetzen optiert er jedoch für etwas, das er „Kohärenz“ oder „wechselseitige Bestätigung“ nennt.4 Auch A. N. Whitehead unterscheidet zwischen propositionalen Tatsachenaussagen und der

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Bestätigung (judgmental endorsement) von Propositionen. Auf der ersten, ontologischen Ebene ist Korrespondenz zu Tatsachen die ausschlaggebende Konzeption; auf der zweiten, erkenntnistheoretischen Ebene herrscht das Kohärenzkriterium: „Unserer Ansicht nach kann eine Proposition wahr oder falsch und ein Urteil korrekt, inkorrekt oder unentschieden (suspended) sein. Wir sehen, dass es nach dieser Unterscheidung eine „Korrespondenz“-Theorie der Wahrheit und Falschheit von Propositionen und eine „Kohärenz“Theorie der Korrektheit, Inkorrektheit oder Unentschiedenheit von Urteilen gibt.“5 Philosophen der verschiedensten Auffassungen waren sich also darin einig, dass die Korrespondenztheorie der Wahrheit als wesentlich definitorisch und die Kohärenztheorie als wesentlich kriterienorientiert aufgefasst werden müssten. Und doch konnte ein Kritiker gegen eine kriterienorientierte Wahrheitsauffassung einwenden: „Sie beschäftigen sich nicht wirklich mit dem Hauptproblem – was es nämlich heißt, wahr zu sein –, sondern mit der nur peripheren Frage: Was wird für wahr gehalten?“ Darauf erwidern wir: Uns interessiert nicht einfach die tatsächliche Frage, was für wahr „gehalten wird“, sondern die logisch-erkenntnistheoretische Frage, was vernünftiger- und berechtigterweise dafür gehalten werden soll.6 In diesem Bereich liegen Definitionen und Kriterien eng beieinander. Bei manchen Dingen gibt es tatsächlich überhaupt keinen Unterschied (Was ist ein Stuhl? Was soll man vernünftigerweise als Stuhl ansehen?); bei anderen zeigt sich ein Unterschied (Was ist ein unlösbares Problem? Was soll man vernünftigerweise als unlösbares Problem ansehen?). Die kriterienbezogene Frage kann selbständige Bedeutung haben, und sie kann sogar ein wichtiger Aspekt der Frage nach der „Bedeutung“ in einem weiteren als dem streng definitorischen Sinn sein. Eine weitere wichtige Unterscheidung ist zu beachten: der Unterschied zwischen einem garantierenden (guaranteeing) und einem berechtigenden (authorizing) Kriterium. Das Problem stellt sich anlässlich der Frage: „Was ist die Beziehung zwischen entsprichtdem-Kriterium-für-X und ist-tatsächlich-X?“ Wenn die Erfüllung des Kriteriums ein Fehlen der geforderten Merkmale logisch ausschließt – wenn das Kriterium vollkommen über die Merkmale entscheidet –, dann haben wir ein garantierendes Kriterium. (Bei zweidimensionalen

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

Figuren ist z. B. Dreieckigkeit ein garantierendes Kriterium für Dreiseitigkeit.) Wenn andererseits die Erfüllung des Kriteriums bestenfalls eine rationale Begründung für das Zusprechen eines Merkmals darstellt, ohne eine logisch unangreifbare Garantie zu bieten –, dann haben wir ein berechtigendes Kriterium. Die Erfüllung eines berechtigenden Kriteriums liefert nur eine vermutliche Bestätigung des Vorliegens eines Merkmals und stellt eine vernünftige Grundlage für die Behauptung dieses Vorliegens dar: Sie ist aber nicht mit einer logisch zwingenden Menge notwendiger und hinreichender Bedingungen gleichwertig.7 Nun hängt ein garantierendes Kriterium sicher sehr eng mit dem Definitionsproblem zusammen; tatsächlich könnte man es einfach als einen Aspekt der Definitionsfrage im weiteren Sinn ansehen. Mit einem berechtigenden Kriterium entfernen wir uns jedoch genügend weit von den logisch-semantischen Fragen der Definition, um in einen neuen, genuin kriterienbezogenen Bereich einzutreten, in dem sich definitorische Überlegungen mit ihrem Wesen nach epistemischen Überlegungen vermischen. 2. STÄRKEN AND SCHWÄCHEN DER KORRESPONDENZTHEORIE DER WAHRHEIT Die vielleicht älteste und sicherlich überall am weitesten akzeptierte Wahrheitstheorie ist die Korrespondenztheorie, der zufolge Wahrheit Korrespondenz zu Tatsachen ist. Die Theorie bestimmt, dass eine Proposition dann wahr ist, wenn die Ergebnisse einer Konfrontation dieser Proposition mit der objektiven Situation, von der sie handelt, zeigen, dass sich die Tatsachen so verhalten, wie die Proposition sie wiedergibt. Aristoteles formuliert das Prinzip folgendermaßen: „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-seiende sei nicht, ist wahr“ (Metaphysik 1011b26). Nach der Korrespondenztheorie besteht die Wahrheit einer Proposition in ihrer Übereinstimmung mit – und damit ihrer Korrespondenz zu – den Tatsachen: „Übereinstimmung des Wissens mit seinem Gegenstand“ in der traditionellen Terminologie oder wie Leibniz es ausdrückt: „Korrespondenz zwischen der im Geiste befindlichen Proposition und den fraglichen Dingen“.8 Die Wahrheit einer Proposition gerät so in

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die Nähe der Abbildungstreue eines Porträts: Wir führen eine Konfrontation zwischen den behaupteten Tatsachen und der objektiven Situation herbei und vergleichen die beiden, um festzustellen, ob sie übereinstimmen. Die mit dieser etwas lockeren und metaphorischen Beschreibung gegebene Formulierung der Theorie ist zweifellos mangelhaft. Ein moderner Versuch, die Korrespondenztheorie der Wahrheit auf eine systematische und präzise Grundlage zu stellen, ist jedoch Tarskis bekannte implizite (contextual) Wahrheitsbedingung: „P“ ist wahr genau dann, wenn P. Betrachtet man die Tarski-Bedingung als Definition, dann ist sie nicht wirklich eine explizite, sondern eher eine implizite Definition: Sie sagt nicht mit Hilfe einer definierenden Formel, was „wahr sein“ bedeutet, sondern gibt nur die Umstände an, unter denen das Zusprechen von Wahrheit korrekt ist. Wir erfahren, dass die Behauptung von „P“-istwahr gleichwertig ist mit der von P. Obwohl diese Bedingung tatsächlich die fragliche Korrespondenz herausstellt und klärt – und damit eine solidere Grundlage für eine Korrespondenztheorie der Wahrheit schafft –, erzielt sie diese Erfolge doch nur um den Preis, dass sie es versäumt, die Idee einer Korrespondenz-Definition von Wahrheit zu verwirklichen. Tatsächlich besteht Tarski selbst mit Nachdruck darauf, dass die Bedingung überhaupt keine Definition von Wahrheit liefere, sondern eher ein Adäquanzkriterium zur Anwendung auf vorgeschlagene Definitionen sei. „Wir wollen nun unser zuvor verwendetes Verfahren verallgemeinern, indem wir eine beliebige Aussage betrachten und durch „p“ ersetzen. Wir bilden ihren Namen und ersetzen diesen durch “X”. Nun fragen wir nach der logischen Beziehung zwischen den beiden Aussagen “X ist wahr” und “p”. Es ist klar, dass diese Aussagen der von uns zugrunde gelegten Konzeption der Wahrheit äquivalent sind, das heißt, es gilt die Äquivalenz: (T) X ist wahr genau dann, wenn p.

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

Wir wollen jede solche Äquivalenz als „Äquivalenz der Form (T)“ bezeichnen (wobei „p“ durch eine Aussage der Sprache, auf die sich das Wort „wahr“ bezieht, ersetzt wird und „X“ durch den Namen dieser Aussage). Nun sind wir endlich imstande, die Bedingungen, unter denen wir den Gebrauch und die Definition des Ausdrucks „wahr“ vom sachlichen Standpunkt aus als angemessen betrachten, in eine präzise Form zu bringen: Wir wollen den Term „wahr“ so gebrauchen, dass alle Äquivalenzen der Form A (T) behauptet werden können, und wir wollen eine Definition der Wahrheit „angemessen“ nennen, wenn alle diese Äquivalenzen aus ihr folgen. Es sollte hervorgehoben werden, dass weder der Ausdruck (T) selbst (der keine Aussage, sondern das Schema einer Aussage ist), noch irgendein besonderer Fall der Form (T) als Definition der Wahrheit angesehen werden kann.9 Es ist somit klar, dass Tarski seine Formel nicht als Definition10, sondern als einen Standard ansieht, mit dessen Hilfe die Adäquanz einer vorgeschlagenen Definition zumindest teilweise festgestellt werden kann. Tatsachlich kann Tarskis Schema nicht als Wahrheitsdefinition angesehen werden, wenn (wie hier) Analytizität für eine notwendige Bedingung der Adäquanz einer Definition gehalten wird. Wie Quine11 nachgewiesen hat, kann dieselbe Methode, mit der Church12 gezeigt hat, dass die Aussagen „X glaubt, dass es Einhörner gibt“ und „X glaubt an die durch ‚Es gibt Einhörner‘ im Deutschen ausgedrückte Proposition“ analytisch nicht äquivalent sind, verwendet werden, um zu zeigen, dass „Es gibt Einhörner“ in strengem oder analytischem Sinn nicht äquivalent ist mit „‚Es gibt Einhörner‘ ist im Deutschen wahr“. Allerdings war Tarskis Wahrheitsformel auch nicht zur Gewährleistung analytischer Äquivalenz bestimmt. „… [Eine] systematische Übereinstimmung der Wahrheitswerte kann behauptet werden, mehr nicht.“13 Wahrscheinlich ist die folgende Analogie zu (T) analytisch wahr: (T') Dass P ist wahr genau dann, wenn P. Wenn wir im Folgendem von einer Tarskischen Wahrheitsdefinition sprechen, dann denken wir dabei an (T′), nicht an (T).

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Wie adäquat oder inadäquat dieser Tarskische Ansatz als Definition auch immer sein mag, offensichtlich liefert er kein brauchbares Wahrheitskriterium. Was (korrekt) wahr genannt wird, muss der Fall sein, aber diese wahre Feststellung liefert keinen kriterienbezogenen Mechanismus, der bei der Entscheidung helfen könnte, was man als wahr ansehen soll und was nicht, und sie beansprucht das auch gar nicht.14 Dieses Argument lässt sich generalisieren. Jede Korrespondenztheorie der Wahrheit kann auf zwei Arten konstruiert werden: (1) auf die definitorische Art, d. h. von der These ausgehend, dass die Wahrheit einer Proposition in einer bestimmten Beziehung zur Realität besteht – nämlich der „Korrespondenz“; (2) auf die kriterienbezogene Art, d. h. davon ausgehend, dass die beste (oder einzige) Möglichkeit, die Wahrheit einer Proposition zu testen, darin besteht, ihre „Korrespondenz“ mit der Realität zu prüfen. Versuchen wir nun, den Wahrheitsbegriff der Korrespondenztheorie als Kriterium zu verwenden, so geraten wir in große Schwierigkeiten, denn der anwendungsbezogene Nutzen dieser Theorie ist deutlich beschränkt. Die Korrespondenztheorie versteht unter einer „wahren Proposition“ so etwas wie eine „genaue Kopie“ eines Textes: Wir haben das Original (die „Tatsachen, um die es geht“) und vergleichen es mit der Kopie (der Proposition), um festzustellen, ob sie miteinander korrespondieren oder nicht. Ihr Paradigma ist die Überprüfung des Satzes: „Die Katze ist auf der Matte“, indem man hingeht und nachsieht, ob die Katze auf der Matte ist. Als Kriterium empfiehlt uns diese Version der Theorie eine Konfrontation mit der fraglichen Situation: Die Theorie ist im Bereich von Beobachtungssätzen zuhause und ihre Konsequenzen höchst bequem. Aber dieses Verfahren einer beobachtenden „Konfrontation mit den Tatsachen“ ist in mehrfacher Hinsicht unbrauchbar: (1) Es funktioniert nicht bei All-Sätzen: Wie sollte man mit Hilfe irgendeines bestenfalls fragmentarischen Verfahrens die „Korrespondenz mit den Tatsachen“ bei einem Ansatz mit seinen potentiell unendlich vielen Anwendungsfallen prüfen? („Löwen, d h. alle Löwen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sind Fleischfresser.“)

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

(2) Es funktioniert nicht bei Propositionen über Vergangenes, bei denen die „Tatsachen, um die es geht“, einfach nicht zum Vergleich zur Verfügung stehen. (3) Es funktioniert nicht bei Propositionen über Wahrscheinlichkeiten (abgesehen von „logischen Wahrscheinlichkeiten“). (4) Es funktioniert nicht bei modalen Propositionen über Notwendigkeit und Möglichkeit. Bezüglich der notwendigen Wahrheiten von Logik und Mathematik können wir nicht sagen, wohin man sich wenden muss, um die wirklichen Tatsachen zu betrachten. Und mit wahren Aussagen über (nicht verwirklichte) Möglichkeiten steht es diesbezüglich noch schlimmer. (5) Es funktioniert nicht ohne Weiteres bei hypothetischen und bedingten Propositionen – und bestimmt nicht bei solchen, deren Vorderglieder nicht verwirklicht sind.15 Schwerwiegender ist noch das zentrale Problem einer angemessenen Klärung der Frage, um welche Art von „Korrespondenz“ es geht – eine Aufgabe, die kein Korrespondenztheoretiker auf eine auch nur annähernd befriedigende Weise gelöst hat. Wie kürzlich ein Autor zu Recht beklagte, „begünstigt [die Korrespondenztheorie] eine natürliche Tendenz, sich Wahrheit als Reflex unserer Reproduktionstreue vorzustellen; und wann immer wir zufällig die offensichtliche Tatsache bemerken, dass der Satz ‚Es regnet‘ so verschieden von einem Unwetter ist, wie überhaupt nur möglich, erleiden wir einen leichten Schock.“16 Man darf dies freilich nicht überschätzen, es geht hier um eine Schwierigkeit, nicht um eine Unmöglichkeit. Landkarten unterscheiden sich sehr von Landschaften, Konzerte sehr von Partituren. Und trotzdem bestehen zwischen ihnen bis ins Letzte bestimmte und erkennbare Korrespondenzen, wenn es auch vielleicht nicht einfach ist, die genaue Art einer derartigen „Korrespondenz“ theoretisch zu formulieren.17

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Derartige Schwierigkeiten hindern die Korrespondenztheorie daran – was immer sonst ihre Verdienste sein mögen –, auch in Bezug auf Kriterien eine wirksame Rolle zu spielen.18 Die Korrespondenztheorie ist als Versuch, die Frage nach der Wahrheitsdefinition zu beantworten, zweifellos hervorragend konstruiert: Als Wahrheitskriterium leidet sie unter Schwierigkeiten der geschilderten Art. Deshalb können die anderen Theorien Kohärenztheorie, Pragmatismus und intuitionistische Wahrheitstheorie potentiell eine wichtige logisch-epistemische Rolle spielen. Weil die Korrespondenztheorie unfähig ist, das Problem eines praktikablen Wahrheitskriteriums zu lösen, liegt es nahe, zu prüfen, was die traditionellen Rivalen der Korrespondenztheorie diesbezüglich für uns tun könne.19 3. RIVALEN DER KORRESPONDENZTBEORIE Angesichts des schweren Schattens, den Kants skeptische Kritik des Ding an sich auf die Konzeption der adaequutio intellectus et rei geworfen hat, ist es nicht erstaunlich, dass die nachkantische philosophische Tradition ihre Wahrheitstheorie anderswo suchte als in Korrespondenz. So sieht die Kohärenztheorie der Wahrheit – vielleicht der traditionell wichtigste Rivale der Korrespondenztheorie die Wahrheit einer Proposition als etwas an, das irgendwie implizit in der „Kohärenz“ dieser Proposition mit anderen enthalten ist. Obgleich „Kohärenz“ hier unentbehrlich ist (und dieses Thema ein wesentlicher Teil dieser Arbeit sein wird), ist es nun nicht schwer, zu erkennen, dass man, wenn man von einer Proposition behauptet, sie sei wahr, die Bedeutung dieser Charakterisierung nicht darin finden kann, dass die Proposition irgendwie mit anderen Propositionen zusammenhängt. In der folgenden Diskussion wird zu zeigen versucht, dass die Kohärenztheorie – statt der Korrespondenztheorie auf deren eigenen Gebiet Konkurrenz zu machen – als Lösung des Problems der Wahrheitskriterien gedacht ist (oder jedenfalls so konstruiert ist, dass sie diesem Ziel am besten dient). Neben den auf Kohärenz und Korrespondenz beruhenden Wahrheitstheorien haben nur zwei andere in der Geschichte dieses Problems eine wichtige Rolle gespielt: die pragmatische

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

Wahrheitstheorie und eine, die man als intuitionistisch charakterisieren könnte. Nach der pragmatischen Wahrheitstheorie bestimmt die Nützlichkeit einer Proposition deren Wahrheitsgehalt. Eine Proposition muss als wahr angesehen werden, wenn die praktischen Konsequenzen ihrer Akzeptierung besser sind als die ihrer NichtAkzeptierung oder, wie man vielleicht stattdessen (und besser) sagen könnte, die ihrer Ablehnung (d. h. Akzeptierung ihrer Negation). Der rationale Kern der pragmatischen Theorie scheint in der (vielleicht allzu optimistischen) Ansicht zu liegen, dass man nicht „vom Irrtum profitieren“ kann, nicht durch die Ablehnung einer wahren Aussage besser fahren kann als durch ihre Akzeptierung, oder durch die Akzeptierung einer falschen Proposition nicht besser als durch ihre Ablehnung. Richtig zu liegen, ist die erfolgreichste Politik, und daher ist größte Nützlichkeit ein sicherer Wahrheitsindikator – in der Formulierung von William James’ pragmatischer Wahrheitstheorie: „werden Ideen insoweit wahr, wie sie uns helfen, in eine befriedigende Beziehung zu anderen Teilen unserer Erfahrung zu kommen“. Nach der pragmatischen Theorie sollen wir daher die Wahrheit einer Proposition dadurch feststellen, dass wir ihre Nützlichkeit mit der ihrer möglichen Alternativen vergleichen. Die Wahrheit ist, vergröbernd gesagt, dasjenige, dessen Akzeptierung „sich als am besten erweist“. Natürlich kann die Möglichkeit eines glücklichen Fehlers nicht gänzlich ausgeschlossen werden, das unterstreicht aber nur die Tatsache, dass man die pragmatische Theorie eher als kriterienbezogene denn als definitorische Theorie konstruieren muss. Der intuitionistischen Theorie zufolge gibt es zwei Arten von Wahrheit: (1) grundlegende oder primitive Wahrheiten, deren Wahrheit aufgrund irgendeines oder mehrerer als intuitiv charakterisierbarer Vorgänge unmittelbar gegeben ist, und (2) abgeleitete Wahrheiten, die unter Verwendung – sei sie nun deduktiv oder induktiv – von Wahrheiten der ersten Gruppe festgestellt werden können.20 Zu den primitiven Wahrheiten gehören (i) primitive Urteile, aus denen sich die Prämissen von Erklärungen (demonstrations) ergeben, und (ii) primitive Folgerungsverfahren, die die notwendige Ableitungsmaschinerie liefern. Eine Wahrheit ist dann jede

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Proposition, die entweder selbst ein primitives Datum ist, oder sich von solchen in einer den primitiven Folgerungsverfahren entsprechenden Weise ableiten lässt. Der Bereich von Wahrheit ist – dieser Theorie entsprechend – eine Struktur aus rational intuitiven Folgerungen, errichtet auf der Grundlage einer Ausgangsmenge tatsächlicher intuitiver Wahrheiten. In ihrem Bestehen auf einer sicheren Basis ist die intuitionistische Wahrheitstheorie ein Abkömmling von Aristoteles’ Rationalisierung der Euklid’schen Geometrie als dem idealen Beispiel für menschliche Erkenntnis der Wahrheit. Das charakteristische Merkmal der intuitionistischen Theorie ist ihr Bestehen auf einem intuitiven Verfahren („Beobachtung“, „unmittelbare Bestätigung“, „nicht-diskursive Begründung“) zur Beurteilung von Wahrheit, das auf gewisse Weise dem Geist der Korrespondenztheorie entspricht – insofern es nämlich „direkte Konfrontation mit den Tatsachen“ beinhaltet. Diese Position ist das fundamentale Gegenteil der kohärenztheoretischen Auffassung, dass sich Wahrheitsbestimmungen aus Vergleichen von Propositionen untereinander ergeben. So hat Moritz Schlick gegen Otto Neurath argumentiert, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht auf einer bloßen Kohärenzstruktur aufgebaut werden kann: Es kann kein Wissen von irgendeiner Wahrheit geben – und damit keine Wissenschaft –, wenn es nichts gibt, dessen wir absolut sicher sind.21 Denn in diesem Falle muss, so argumentierte Schlick, der Wissenschaft d. h. dem, was wir über die Welt zu wissen behaupten – die erforderliche Beziehung zur Realität fehlen: „Richtet man das Augenmerk auf den Zusammenhang der Wissenschaft mit der Wirklichkeit, sieht man in dem System ihrer Sätze das, was es eigentlich ist, nämlich ein Mittel, sich in den Tatsachen zurechtzufinden, zur Bestätigungsfreude, zum Gefühl der Endgültigkeit zu gelangen, so wird sich das Problem des ‚Fundaments‘ von selbst in das Problem der unerschütterlichen Berührungspunkte von Erkenntnis und Wirklichkeit verwandeln. Diese absolut festen Berührungspunkte, die Konstatierungen, haben wir in ihrer Eigenart kennengelernt: es sind die einzigen synthetischen Sätze, die keine Hypothesen sind.22

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

Es ist diese durch Beobachtungssätze repräsentierte Verbindung mit den unerschütterlichen „feststehenden Punkten“ der Realität, in der man die Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung lokalisieren muss: „Sie sind ein absolutes Ende, in ihnen erfüllt sich die jeweilige Aufgabe des Erkennens. … Die Wissenschaft ruht nicht auf ihnen, sondern führt zu ihnen, und sie zeigen an, dass sie gut geführt hat. Sie sind wirklich die absolut festen Punkte; es befriedigt uns, sie zu erreichen, auch wenn wir nicht auf ihnen stehen können.“23 Sowohl die pragmatische als auch die intuitionistische Theorie ist hier recht allgemein beschrieben worden, und es muss später genauer untersucht werden, wie diese Theorien auf eine strenge und systematische Weise expliziert werden können. Es wurde aber genug gesagt, um die in unserem Zusammenhang wichtigste Feststellung zu treffen, dass nämlich diese beiden Wahrheitstheorien eher einen kriterienbezogenen als einen definitorischen Standpunkt einnehmen. Offensichtlich kann man weder „Bestätigung in Bezug auf Basispropositionen“ noch „größtmöglichen Nutzen der Konsequenzen“ als Formeln ansehen, die die Bedeutung von Wahrheit ausdrücken. Die Feststellung von Beweisbarkeit oder Nützlichkeit könnte grundsätzlich bestenfalls als Mechanismus angesehen werden, mit dessen Hilfe sich die Frage nach der Wahrheit einer bestimmten Proposition beantworten lässt. Beide Theorien stellen eher kriterienbezogene als definitorische Konstruktionen von Wahrheit dar. Weil sie diesen Umstand übersahen, waren manche Kritiker der pragmatischen Wahrheitstheorie gegenüber grotesk unfair. Bertrand Russell z. B. hielt William James’ Wahrheitstheorie für hoffnungslos inadäquat, weil James’ pragmatische Formel der umgangssprachlichen Bedeutung von „wahr“ nicht entspricht. Russell argumentierte, dass, wenn James recht hätte, die Sätze „Es ist wahr, dass andere Menschen existieren“ und „Es ist nützlich zu glauben, dass andere Menschen existieren“ dieselbe Bedeutung haben müssten und ein und dieselbe Proposition ausdrücken würden.24 Diesem Einwand konnte man jedoch – wie Russell selbst betont hat – damit begegnen, dass man auf die entscheidende Differenz zwischen einer Definition und einem Kriterium hinweist. Diese Unterscheidung wird für unsere Beurteilung der Kohärenztheorie der Wahrheit von zentraler Bedeutung sein. Nach der von uns dort vertretenen Ansicht ist Kohärenz nicht die Bedeutung

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von Wahrheit im Kontext tatsächlicher Behauptungen, sondern (um F. H. Bradleys glückliche Bezeichnung zu verwenden) ihr Schiedsrichter. 4. DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT Die Suche nach einem Wahrheitskriterium, mit der sich Philosophen und Logiker zu allen Zeiten beschäftigt haben, war selbst Gegenstand von Kritik. Während die klassische stoische Schule sich in großem Umfang mit dieser Sache beschäftigte, bemühte sich die skeptische Schule darum, die Wertlosigkeit dieses Unternehmens darzutun. Das wesentliche skeptische Argument gegen den Begriff eines allgemeinen Wahrheitskriteriums wurde von Sextus Empiricus folgendermaßen formuliert: „Ferner, um den entstandenen Streit über das Kriterium zu entscheiden, müssen wir ein anerkanntes Kriterium haben, mit dem wir ihn entscheiden können, und um ein anerkanntes Kriterium zu haben, muss vorher der Streit über das Kriterium entschieden werden. So gerät die Erörterung in einen Zirkel, und die Auffindung des Kriteriums wird aussichtslos, da wir es einerseits nicht zulassen, dass sie ein Kriterium durch Voraussetzung annehmen, und wir sie andererseits, wenn sie das Kriterium durch ein Kriterium beurteilen wollen, in einen unendlichen Regress treiben.“25

Versuchen wir, dieses Argument entsprechend den heutigen Standards von Genauigkeit und Präzision umzuformulieren. Vier Annahmen – oder vielleicht sollte man besser Definitionen sagen – liegen dem fraglichen Argument zugrunde: (I)

Um die Zustimmung zur Behauptung, dass die These p wahr ist, rational zu begründen, muss die Tatsache der Wahrheit von p in Bezug auf ein Wahrheitskriterium feststehen.

(II) Ein Wahrheitskriterium muss die Form haben: Immer dann, wenn die These p der Anforderung R genügt, ist p wahr: (C) (∀p)[R(p) → t(p)]*

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(III) Die Wahrheit einer These p in Bezug auf ein Wahrheitskriterium feststellen, heißt ein gültiges deduktives Argument der Form: C R(p) ∴T(p) angeben. (IV) Ein deduktives Argument ist gültig, wenn es formal schlüssig ist und von wahren Prämissen ausgeht. Daher kann ein deduktives Argument immer erst als gültig angesehen werden, wenn zuvor die Wahrheit seiner Prämissen festgestellt wurde. * C = Criterion (Kriterium), R = Requirement (Anforderung), T = Truth (Wahrheit) [Anm. d. Hrsg.] Die skeptische Kritik geht nun folgendermaßen weiter: Angenommen, es wäre rational, irgendeine Proposition p als wahr anzusehen, dann muss nach (I)–(III) ein gültiges Argument folgender Form existieren: C R(p) ∴T(p) Wegen (IV) kann ein solches Argument aber nur gültig sein, wenn die Wahrheit seiner Prämissen – und besonders seiner ersten Prämisse C – feststeht. Daher ist es zunächst notwendig, T(C) festzustellen. Aber wie soll man dabei verfahren? Fall (i): C ist auf sich selbst anwendbar. Dann muss T(C) mit Hilfe eines Arguments der Form:

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C R(C) ∴T(p) festgestellt werden. Bevor aber ein Argument dieser Form als Feststellung von T(C) gelten kann, müssen wir schon T(C) festgestellt haben, um die Berechtigung unserer ersten Prämisse zu zeigen. Daher geraten wir in einen verderblichen Zirkel. Fall (ii): C ist nicht auf sich selbst anwendbar. Dann muss T(C) mit Hilfe eines einzelnen Kriteriums C, festgestellt werden, nach dem C R1(C) ∴T(C) Woher sollen wir aber nun C1 nehmen? Entweder ist es auf sich selbst anwendbar (dann kommen wir wieder zu Fall (i) zurück), oder es bedarf zu seiner Feststellung eines weiteren Kriteriums C2 R2(C1) ∴T(C1) Woher sollen wir aber nun C2 nehmen? Mit dieser Frage tun wir einen weiteren Schritt in einen unendlichen Regress. Diese Argumentation bringt etwas ans Licht, was von allen Standpunkten aus – als ein fundamentales Problem jeder Theorie über Wahrheitskriterien angesehen werden muss. Aber welche Lehre soll man daraus ziehen? Zunächst sind natürlich die Folgerungen möglich, die die Skeptiker selbst zogen. Manche konstruierten das Argument als eine reductio ad absurdum des Begriffs rationaler Zustimmung. Andere meinten, dass damit jede Aussicht, ein Wahrheitskriterium zu finden, zerstört werde. Denker, die nicht der skeptischen Tradition angehörten, betrachteten

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das Argument als eine Unterstützung der aristotelischen Ansicht, dass jedes deduktive System von letzten unbeweisbaren Prämissen ausgehen muss als Hinweis auf die Notwendigkeit intuitiver und direkter Wahrheiten, deren Wahrheit nicht mit Hilfe irgendwelcher Kriterien gezeigt werden muss. Am ehesten sollte man aus dem skeptischen Argument vielleicht lernen, dass der Bereich der Wahrheit nicht homogen und nicht durch nur ein Kriterium bestimmt ist. Denn es erscheint ratsam, zumindest zwischen einerseits definitorischen (konventionellen), logischen und begrifflichen Wahrheiten und andererseits tatsächlichen Wahrheiten zu unterscheiden.26 In dieser Richtung besteht wenigstens Aussicht, dem „Entscheidungszwang“ zwischen Zirkularität und unendlichem Regress, vor den das skeptische Argument uns stellt, zu entgehen. Ließen sich logische und begriffliche Wahrheiten den tatsächlichen Wahrheiten gegenüber insoweit als letztlich eigentümlich erweisen, als man zu ihrer Feststellung kein externes Kriterium benötigt d. h. könnten sie ohne kriterienbezogene Rechtfertigung „vindiziert“ werden –, und hingen tatsächliche Wahrheiten von Kriterien ab, deren Legitimation auf Überlegungen beruhte, die selbst letztlich begrifflich sind, dann wäre das Argument nicht anwendbar. Natürlich haben wir hier eine ganze Reihe von Bedingungen, aber sie deuten doch immerhin eine Richtung an, in der die Lösung liegen könnte. Wir werden uns später diesen Problemen noch genauer zuwenden müssen. Noch eine andere von vornherein mit einem Wahrheitskriterium verbundene Schwierigkeit muss beachtet werden. Wie ist angesichts von Tarskis Nachweis in der semantischen Wahrheitstheorie, dass eine selbstgenügsame („semantisch geschlossene“) Sprache, die irgendeine Wahrheitscharakterisierung enthält (z. B. ein Wahrheitsprädikat „ist wahr“), inkonsistent sein muss, ein Kriterium für tatsächliche Wahrheit möglich?27 Die Antwort darauf ist, in knapper Form, dass Tarskis Argument entscheidend von der Annahme abhängt, dass die normalen logischen Gesetze gelten, insbesondere, dass die Wahrheitsstruktur der Sprache zweiwertig ist (Gesetz der Zweiwertigkeit) und dass das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten gilt (d. h. wenn der kontradiktorische Gegensatz einer Proposition nicht wahr ist, dann muss diese Proposition selbst wahr sein). Wie im Einzelnen an anderer Stelle gezeigt, ist die Logik der für unsere

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Diskussion zentralen kriterienbezogenen Wahrheitstheorie nicht klassisch (zweiwertig), so dass die Inkonsistenz, um die es bei dem Tarskischen Argument geht, hier nicht auftreten kann. Kriterienbezogene Wahrheitstheorien haben ein wichtiges gemeinsames Merkmal, durch das sie sich von definitorischen Wahrheitstheorien unterscheiden. Mit Hilfe abkürzender Symbole lasst sich das leichter klar machen. Wir wollen schreiben: D(P) für: „P entspricht einer Wahrheitsdefinition“ K(P) für: „P genügt einem bestimmten Wahrheitskriterium (einem vielleicht bloß berechtigenden Kriterium irgendeiner noch unspezifizierten Theorie entsprechend).“ T(P) für: „P ist wahr (für wirkliche Tatsachen).“ Dann ist nicht-T(P) logisch unvereinbar mit D(P); wäre T(P) trotzdem nicht der Fall, so würde das einfach zeigen, dass die verwandte Definition ungeeignet und nicht korrekt ist. Zwischen D(P) und T(P) kann es keine logische Kluft geben. Es muss mit logischer Notwendigkeit gelten: D(P) wenn T(P) Kommt jedoch ein Kriterium ins Spiel, das nicht notwendig ein garantierendes Kriterium sein muss, dann öffnet sich eine logische Kluft. Eben weil das Kriterium K nicht mit einer Definition verknüpft sein muss (wie es für garantierende Kriterien typisch ist), gibt es eine mögliche Kluft zwischen der Übereinstimmung mit einem Kriterium und mit einer Definition. Die logische Verknüpfung ist nun lockerer: Es ist nicht notwendig und unvermeidlich, dass: K(P) wenn T(P), wenn K statt eines streng garantierenden auch ein berechtigendes Kriterium sein kann. Übereinstimmung mit einer Definition ist eine gerechtfertigte Garantie für Wahrheit; Übereinstimmung mit einem

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Kriterium liefert vielleicht bestenfalls eine rationale Begründung für die Rechtfertigung einer Wahrheitsbehauptung und keine Gewissheit ohne mögliche Fehler. Es ist aber wichtig, sich klar zu machen, dass wir uns mit einem Wahrheitskriterium beschäftigen und nicht mit einem Kriterium für rationale Akzeptierbarkeit oder Zustimmung. Das Kriterium, um das es hier geht, zielt auf die Beantwortung der Frage „Ist P wahr?“ und nicht der Frage „Ist P rational akzeptabel?“ Obgleich das Problem der rationalen Begründung hier eine Rolle spielt, bezieht es sich auf das fragliche Kriterium nicht direkt über die von diesem Kriterium abhängigen Propositionen, sondern über ein Argument der Form: Es gibt eine rationale Begründung für die Akzeptierung des Wahrheitskriteriums K. Das Wahrheitskriterium K spricht für die Wahrheit von P. Es gibt eine rationale Begründung für die Akzeptierung von P.

Aber durch solch eine abgeleitete Begründung der Akzeptierbarkeit von P wird das, was ursprünglich ein Wahrheitskriterium ist, nicht zu einem Kriterium rationaler Akzeptierbarkeit als solcher. Bei jedem genuinen Kriterium müssen wir uns jedoch darauf einstellen, dass unsere Behauptungen, zumindest prinzipiell, falsch sein können – selbst wenn sie rational gut begründet sind. Während D(P) logisch beinhaltet, dass T(P), und daher deduktiv daraus folgt, dass P, verpflichtet K(P) uns, sofern wir das Kriterium K akzeptieren, lediglich dazu, T(P) zuzustimmen, und damit dazu, zu behaupten, dass P. Die Schlussfolgerung von D(P) auf P gehört der deduktiven Logik an, die von K(P) auf P nur einer logisch-epistemischen Vorgehensweise. D(P) vorausgesetzt, ist es unmöglich, dass T(P) nicht der Fall ist; K(P) vorausgesetzt, ist es wohl möglich, dass es nicht der Fall ist. Und obwohl es uns auch eine Entscheidung für K(P) ex hypothesi unmöglich macht, zu behaupten, dass T(P) nicht der Fall sei. Eine Realdefinition einer Definition, die die Bedeutung eines Begriffes erfassen will, der bereits auf eine bestimmte Weise gebraucht wird, ist entweder korrekt oder inkorrekt, und mehr lässt sich dazu nicht sagen: Ihre Korrektheit muss vielleicht gezeigt

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werden, aber sie bedarf keiner Begründung oder Rechtfertigung. Ein Wahrheitskriterium – besonders ein berechtigendes – muss dagegen irgendwann gerechtfertigt werden. Indem es die logische Kluft zwischen K(P) und P schließt, tut es etwas, was man gut oder schlecht, klug oder töricht tun kann. Es verkörpert die Entscheidung für eine von mehreren alternativen Verfahrensweisen, und hier ist – wie in allen derartigen Fällen – die Frage nach der rationalen Rechtfertigung für die Entscheidung zugunsten einer bestimmten Alternative angebracht. Das ist eine Frage, der größte Aufmerksamkeit zukommt. Der kriterienbezogene wahrheitstheoretische Ansatz bemüht sich um begriffliche Mechanismen, mit deren Hilfe sich zeigen lässt, dass eine Proposition wahr (oder falsch) ist. Gleichwohl ist er darauf vorbereitet, den Unterschied zwischen RP), d. h. „wahr sein“, und K(P), d. h. „unter Zugrundelegung des Kriteriums K als wahr gezeigt sein“, zu erkennen. Als kriterienbezogener Ansatz neigt er seinem Wesen nach nicht zur Anerkennung des Prinzips: Es ist irrational, jemals eine falsche Proposition als wahr zu akzeptieren. Aber er ist bereit, einer Variante dieses Prinzips zuzustimmen: Es ist irrational, jemals eine Proposition als wahr zu akzeptieren, deren Falschheit gezeigt worden ist. Es ist möglich, ja vernünftig, gleichzeitig die erste These abzulehnen und die zweite zu vertreten.28 Eine Aufgabe der Statistik ist es, „Regeln für die Annahme“ von Hypothesen aufzustellen. Bei der Anwendung einer solchen Regel geschieht es manchmal, dass (der Regel entsprechend) falsche Hypothesen akzeptiert werden, und manchmal werden auch wahre Hypothesen abgelehnt. Unter Verwendung einer von den Statistikern Jerzy Neymann und Egon Pearson vorgeschlagenen Ausdrucksweise bezeichnet man die Ablehnung einer wahren Hypothese im Allgemeinen als einen Typ-I-Irrtum und die Annahme einer falschen Hypothese als Typ-II-Irrtum. Diese Ausdrucksweise lässt sich leicht

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auf unseren Zusammenhang ausdehnen. Angesichts der logischen Kluft zwischen K(P) und T(P) 1ässt ein Wahrheitskriterium Irrtümer zweier entsprechender Arten zu: (1) Ein Typ-I-Irrtum tritt auf, wenn T(P) gilt – d. h. P wirklich wahr ist, aber auch nicht-K(P), d. h. P dem Kriterium nicht genügt. (2) Ein Typ-II-Irrtum tritt auf, wenn K(P) gilt, so dass P dem Kriterium entsprechend akzeptiert werden muss, zugleich aber auch nicht-T(P), d. h. P nicht wahr ist. Man kann das Problem auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Die kriterienbezogene Regel: T(P) wenn K(P), besteht aus zwei Komponenten: (i) Wenn T(P), dann K(P). (ii) Wenn K(P), dann T(P.) Wenn (i) zu Schwierigkeiten führt, weil T(P) und nicht-K(P), dann handelt es sich um einen Irrtum vom Typ I. Wenn (ii) Schwierigkeiten verursacht, weil K(P), aber nicht-T(P), dann handelt es sich um einen Irrtum vom Typ II. Bei Wahrheitskriterien der berechtigenden Art gibt es – ganz anders als bei Definitionen – die Möglichkeit von Irrtümern beider Arten. Die Möglichkeit dieser beiden Arten von Irrtümern ist solange für das Kriterium als solches nicht fatal, wie solche Irrtümer nur gelegentlich und unsystematisch auftreten. Würden jedoch bei einer wohldefinierten Klasse von Propositionen systematisch Irrtümer auftreten, so wäre das etwas anderes. In diesem Falle ist das Ergebnis asymmetrisch: Ein systematischer Typ-II-Irrtum bedeutet nur, dass das Kriterium unvollständig ist, ein systematischer Typ-I-Irrtum dagegen, dass es unkorrekt und insgesamt nicht akzeptabel ist.

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Bei einer kriterienbezogenen Begründung der Folgerungen:

Wahrheitstheorie

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sollte

die

Aus K(P) folgt P, Aus P folgt K(P), keine logische Angelegenheit sein. Eine solche Forderung wäre viel zu einschränkend. Ein Kriterium K, das dieser Bedingung genügte, wäre zwar vielleicht eine adäquate Definition, zugleich aber auch zu restriktiv, um als Kriterium brauchbar zu sein. Es hätte zur Folge, dass wir bei einem Wahrheitsbeweis die Frage nach der Wahrheit der Proposition klären müssten, um unser Wahrheitskriterium auf sie anwenden zu können. Ein Grund dafür, die Tarskische Wahrheitsbedingung (T') T(P), wenn P statt als kriterienbezogen am besten als definitorisch anzusehen, besteht darin, dass sie keinen Entsprechungsfreiraum einräumt. Hier kann es keinen Typ-I-Irrtum geben, bei dem & ~P, und keinen Typ-IIIrrtum, bei dem P & ~T(P) (bzw. P & T(~P)). Es ist unzulässig (sinnlos), zugleich die Wahrheit eines Sachverhalts und sein Gegenteil zu behaupten. Wenn K(P) einfach P selbst ist, d. h. K(P) = P, dann ist die Entsprechung von T(P) und K(P) vollständig (logisch). Wir betonen die Unterschiede zwischen einer definitorischen Wahrheitstheorie und einer kriterienbezogenen Theorie nicht, um aus einem Mangel eine Tugend zu machen, sondern damit klar wird, dass eine kriterienbezogene Theorie ganz andere Aufgaben zu erfüllen hat als eine definitorische. Obgleich die Tarskische Bedingung irgendwie „definitorisch“ ist, ist sie doch sicherlich nicht eine Wahrheitsdefinition im herkömmlichen Sinne. Tarski neigt selbst mit Recht zu der Auffassung, dass man sie am besten als eine von mehreren Adäquatheitsbedingungen für definitorische Wahrheitstheorien ansehen sollte. Denn eine definitorische Theorie, die diese Bedingung nicht erfüllte, wäre – so könnten wir behaupten – eo ipso inadäquat.29

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Dementsprechend gelangen wir, vorausgesetzt, dass D(P) wenn (P), dazu, dass D(P), wenn P, in der Tat notwendig gilt, nicht aber, dass K(P), wenn P. Die mit K(P) angesprochene kriterienbezogene Wahrheit nähert sich T(P) bestenfalls an: Bei jeder genuin kriterienbezogenen Theorie bleibt zwischen K(P) einerseits und T(P) bzw. D(P) andererseits eine mögliche Kluft bestehen. K als ein wenigstens berechtigendes Kriterium anzusehen, bedeutet im Grunde nichts anderes, als sich dafür zu entscheiden, niemals T(P) zu behaupten, wenn K(P) nicht der Fall ist, und stets T(P) zu behaupten, wenn K(P) der Fall ist. Kurz gesagt, erkennen wir die Vorschrift an: Behaupte T(P), wenn K(P)! Bei einer kriterienbezogenen Wahrheitstheorie folgen wir dem Prinzip: Immer, wenn festgestellt wurde, dass K(P) gilt, muss man in jedem informativen Kontext (substantive context) behaupten, dass P und damit (über die Tarskische Verknüpfung) auch, dass T(P).

Daher können wir K(P) und T(P) in tatsächlichen Kontexten als austauschbar ansehen, jedoch nicht im Kontext eines theoretischen Metaprinzips wie: K(P) wenn T(P) – woraus sich nach der Tarskischen Bedingung die unerwünschte Folgerung „K(P) wenn P“ ergäbe. Wenn man die Möglichkeit von Irrtümern der Typen I und II akzeptiert, behauptet man also auf der Metaebene (on the metasubstantive level) die Gültigkeit der beiden Thesen:

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Es ist möglich, dass: (∃p)[T(P) & ~ K(P)] Es ist möglich, dass: (∃p)[K(P) & ~ T(P)]. Es ist aber offensichtlich, dass man die erlaubte Ersetzbarkeit von K(P) durch T(P) nicht als Begründung der Möglichkeit von (∃p)[T(P) & ~T(P)] ansehen muss. Wenn wir darauf bestehen, dass das hier betrachtete Ersetzungsprinzip ein epistemisch begründetes Verfahren ist, dann wird dadurch die Anerkennung gelegentlicher Irrtümer der beiden Arten nicht ad absurdum geführt. Worauf es ankommt, ist dies: K(P) muss an T(P) angenähert werden, und in tatsächlichen Kontexten muss es eine rationale Rechtfertigung dafür geben, die Annäherung als „Wirklichkeit“ anzusehen. Aber dieses Verfahren darf uns nicht für die wesentliche logische Kluft zwischen K(P) und T(P) blind machen, eine Kluft, die in Kontexten der Metaebene sorgfältig beachtet werden muss. Wie diese Erörterungen zeigen, gibt es keinen prinzipiellen Grund, aus dem heraus eine kriterienbezogene Wahrheitstheorie – wie die Kohärenztheorie oder die pragmatische Theorie – mit der TarskiBedingung (T') in Widerspruch geraten müsste. Auf der abstrakten Metaebene kann jede derartige Theorie diese Bedingungen voll unterschreiben. Aber auf der Anwendungsebene, der tatsächlichen Ebene, auf der die Vorschrift ins Spiel kommt, K(P) als T(P) entsprechend zu behandeln, verhält es sich anders. Denn wenn man diese Vorschrift auf (T') anwendet, gelangt man zu dem fatalen Ergebnis: K(P), wenn P. Diesem Ergebnis muss und kann man aber erfolgreich mit der Begründung ausweichen, dass (T') selbst kein tatsächlicher Kontext ist, auf den sich die Vorschrift anwenden lässt. Betrachtet man K als ein berechtigendes Kriterium, dann ist für jede solche Anwendung dieses Prinzips auf der Metaebene der Weg versperrt. Das hier benutzte Verfahren lässt sich in allen Fällen anwenden, in denen Annäherungen eine Rolle spielen. Immer wenn Q' als eine Annäherung an Q eingeführt wird, muss der Bereich eingegrenzt

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werden, innerhalb dessen diese Quantitäten als gleich gelten. Wir werden z. B. im Allgemeinen genau wissen, dass Q' ≠ Q, werden aber nicht bereit sein, in dieser These Q' durch Q zu ersetzen. Die kriterienbezogene Wahrheitsauffassung beansprucht lediglich, diese allgemeingültige Wahrheit über Annäherungen auf das spezielle Verhältnis von T(P) und K(P) anzuwenden. Eine weitere wichtige Einschränkung muss in Bezug auf die hier in Frage stehende Vorschrift gemacht werden. Dieses Prinzip darf uneingeschränkt nur in wissenschaftlichen oder theoretischen Situationen außerhalb des Bereichs praktischer Handlungen befolgt werden – in Kontexten, in denen es um das rein kognitive Ziel geht, in einem möglichst großen Bereich sowohl wahre als falsche Aussagen zu machen.30 In solchen theoretischen Kontexten kommt es nur auf das kognitive Ziel an, „so viel Wahrheit wie möglich zu erreichen“. In praktischen Kontexten jedoch, in denen es um hautnahe Fragen geht (die Zeit, das Geld oder sogar das Leben eines Menschen), muss das Prinzip mit Rücksicht auf das Verhältnis zwischen (i) der Bedeutung des Zieles und (ii) der Größe der möglichen Kluft zwischen K(P) und T(P) eingeschränkt werden. Wenn man sagt, dass es eine adäquate rationale Begründung dafür gibt, P als wahr anzusehen (d. h. wenn man sagt, dass K(P) gilt), so sagt man damit nicht, dass P über jeden Zweifel erhaben und absolut gewiss ist (d h. dass HP) gilt). Daher wäre es irrational, mit seinem Leben auf P zu setzen, wenn man nur K(P) zur Verfügung hat. Mit der Behauptung, dass P wahr ist, behauptet man auch, dass P gewiss ist (d. h. dass P gewiss wahr ist), aber diese Behauptung, dass P wahr und daher gewiss ist, kann in Fällen, in denen die Wahrheit von P nicht in einem Sinne wahr ist, dass man sein Leben davon abhängig machen möchte, selbst begründet werden. Es gibt Gründe, aus denen heraus man P für gewiss halten kann, ohne dass P gewiss ist.31 Nur wenn P tatsächlich gewiss und nicht nur wie gut auch immer begründet ist, ist ein Alles-oder-nichts-Standpunkt angemessen. Jede kriterienbezogene Wahrheitstheorie, die eine Kluft zwischen K(P) und T(P’) für möglich hält, muss daher auch die Möglichkeit anerkennen, „dass die Tasse die Lippen verfehlt“, eine Überlegung, deren Bedeutung man beachten muss, sobald es um das praktische Problem geht, aufgrund unserer Wahrheitsüberzeugung zu handeln.

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Hat man einmal die Möglichkeit eines Typ-II-Irrtums zugestanden, kann man sich in der Praxis nur dadurch rational verhalten, dass man die Wahrscheinlichkeit eines solchen Irrtums mit der Größe des möglichen Gewinns vergleicht.32 Diese Auffassung weist in die allgemeine Richtung der Regel, nach der die Rationalität von Handlungen aller Art – die Handlung des „Als-wahr-Anerkennens“ nicht ausgenommen – von pragmatischen Beurteilungen der vermutlichen Auswirkungen abhängt. Nur wenn wir vom Problem der tatsächlichen Praxis absehen und uns allein der rein kognitiven Seite der Angelegenheit zuwenden, bewegen wir uns auf einem Boden, dem die streng theoretische Art, etwas als wahr zu akzeptieren, als rein intellektueller Vorgang entspricht. Die Position von Carnaps Gegnern, wonach der Wissenschaftler als Wissenschaftler berechtigt ist, Hypothesen zu akzeptieren oder zu verwerfen, lässt sich auch mit dem regulativen Prinzip rechtfertigen, dass praktische Risiken in theoretischen Kontexten als unerheblich anzusehen sind. Anerkennung bedeutet hier nur Anerkennung für kognitive Zwecke: Die Möglichkeit praktischer Risiken muss in der „reinen“ Wissenschaft ex hypothesi außer Betracht bleiben. Das bedeutet nicht, dass der Wissenschaftler nicht unter bestimmten Umstanden ohne Irrationalität die praktische Erprobung einer Hypothese unterlassen kann, von der er in foro interno sehr überzeugt ist. Man zweifelt nicht daran, dass dieser Zinnsoldat bei einer Erhitzung auf 100 Grad C schmelzen wird. Man weiß das ganz genau. Ist es aber deshalb schon irrational oder inkonsistent von mir, eine Wette darüber abzulehnen, bei der ich nur einen Cent erhalte, wenn ich gewinne, aber mit der Zerstörung all dessen, was mir nahe und teuer ist, zu bezahlen habe, wenn ich verliere? Ich meine: Nein. Das Wesentliche ist, dass die kriterienbezogene Akzeptierbarkeit einer Proposition als wahr keineswegs eine Grundlage dafür bietet „unter allen Umständen so zu handeln, als ob“ diese Proposition über jeden Irrtum erhaben wäre. Was bei der Suche nach Wahrheit und deren Erprobung nur ein Arbeitskriterium ist, darf nicht als absolute, narrensichere Garantie behandelt werden.

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5. GRUNDLEGENDE ASPEKTE DER KOHÄRENZTHEORIE DER WAHRHEIT 1. Kohärenz als Wahrheitskriterium Man ist sich im Allgemeinen darüber einig, dass die „Kohärenztheorie der Wahrheit“ historisch gesehen nicht als geschlossene monolithische Doktrin, sondern in deutlich voneinander verschiedenen Formen auftrat, insbesondere den folgenden drei: (I) als eine metaphysische Doktrin über das Wesen der Realität (dass sie nämlich ein kohärentes System sei); (II) als eine logische Doktrin über die Wahrheitsdefinition (wonach Wahrheit als Kohärenz von Propositionen definiert werden muss); (III) als eine logisch-erkenntnistheoretische (logico-epistemological) Doktrin über das primäre (oder letzte) Wahrheitskriterium (wonach die kanonische Wahrheitsprüfung in der Feststellung der wechselseitigen Kohärenz [geeignet gefasster] 33 Propositionen bestehen muss). Uns interessieren hier die beiden letzten Auffassungen. Wir wollen uns mit der Kohärenztheorie nur in ihrer logischen und erkenntnistheoretischen Version befassen und metaphysische Fragen so weit wie möglich ausklammern. Die Metaphysik des Idealismus ist für unser gegenwärtiges Ziel nicht sehr wichtig. Es bedarf keiner tiefgehenden Analyse, um zu erkennen, dass die von uns skizzierte Kohärenztheorie nicht behauptet, eine Definition von „Wahrheit“ zu liefern. Kohärenz ist sicher nicht die Bedeutung von Wahrheit. Idealistische Anhänger der Theorie – dazu gehört an prominenter Stelle F. H. Bradley – neigten im Allgemeinen dazu, die Verdienste des Korrespondenzansatzes auf die intrinsische Natur von Wahrheit zurückzuführen: „Wahrheit muss die Wahrheit von etwas sein, und dieses Etwas ist nicht selbst die Wahrheit, Dieser offensichtlich richtigen Meinung stimme ich zu.“34 Das Ziel der

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Kohärenztheorie ist dagegen – oder sollte es doch sein –, einen Wahrheitstest oder ein Wahrheitskriterium zu liefern. Wie A. C. Ewing zu Recht betont, „könnte Korrespondenz durchaus für den Begriff der Wahrheit wesentlich sein, ohne gleichzeitig ein Wahrheitskriterium zu liefern.“35 So verstanden erfüllen die beiden Lehren ganz verschiedene Aufgaben. Überlegungen zur „Korrespondenz mit Tatsachen erweitern beträchtlich unser Verständnis davon, was Wahrheit ist, können sich aber als höchst nutzlos zur Klärung der Frage ‚Was ist wahr?‘ erweisen.“ Kohärenz mit anderen (geeignet formulierten) Propositionen andererseits liefert nicht wirklich eine Wahrheitsdefinition, ist aber ein äußerst nützliches Hilfsmittel, wenn es darum geht, zu unterscheiden, ob bestimmte Propositionen wahr sind. Die Formulierung eines brauchbaren Kohärenzkriteriums für Wahrheit ist offensichtlich in jedem Fall eine wichtige Sache, ganz unabhängig von ihrer Rolle innerhalb von etwas so Grandiosem wie einer „Wahrheitstheorie“. Denn wie auch immer jemand das Problem angeht, ob er nun mit dem Kohärenzgedanken sympathisiert oder nicht, es wird für ihn jedenfalls immer Fälle geben, in denen sich die Wahrheit von Propositionen am besten unter Bezug auf ihre Kohärenz mit anderen feststehenden oder angenommenen Wahrheiten feststellen lässt. Wie immer man die Kriterien rationaler Überzeugungsbildung bestimmt, irgendeine Rolle muss man der Kohärenz zugestehen, sei sie auch noch so speziell oder subsidiar. Es ist daher ganz unabhängig von jeglicher Neigung zu einer Kohärenztheorie der Wahrheit äußerst wünschenswert, sich über Wesen und Funktion von Kohärenzüberlegungen Klarheit zu verschaffen. 2. Das Wiederaufleben der Kohärenztheorie bei den logischen Positivisten Einige Anhänger der Kohärenztheorie außerhalb der idealistischen Schule sind allerdings so weit gegangen, zu behaupten, dass die Annahme einer Kohärenztheorie der Wahrheit die Ablehnung jeglicher Beziehung zwischen Wahrheit und Korrespondenz mit Tatsachen verlangt. Zur Erklärung dieser Ansicht ist ein kurzer historischer Exkurs notwendig.

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In den Jahren nach 1920 hatte der Idealismus aufgehört, eine allgemein anerkannte philosophische Ansicht zu sein. Nur eine Handvoll vereinzelter Sympathisanten setzten seine Tradition fort – 1930 hatten A. C. Ewing in England, C. A. Campbell in Schottland und Brand Blanshard in den USA im angloamerikanischen Bereich das Feld praktisch für sich allein.36 Aber bald nach 1930 sollten neue Anhänger der Kohärenztheorie der Wahrheit aus einer ganz unerwarteten Richtung auftauchen: der Wiener Schule des logischen Positivismus.37 In den frühen dreißiger Jahren vertraten einige der einflussreichsten Anhänger des logischen Positivismus eine Version der Kohärenztheorie der Wahrheit. In einem viel diskutierten Aussatz aus dem Jahre 193238 hatte Rudolf Carnap behauptet, dass das gesamte wissenschaftliche Wissen sich auf einer bestimmten Klasse von Basissätzen aufbauen lässt, die als Protokollsätze bezeichnet wurden, d. h. als Sätze, die exakt und unkorrigierbar korrekt die Sinneseindrücke geschulter Beobachter beschrieben. Derartige Sätze bilden die Evidenzgrundlage allen tatsächlichen Wissens, „bedürfen“ selbst aber „keiner Verifikation“. Carnaps Auffassung wurde von Otto Neurath heftig kritisiert, der schrieb: „Es gibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere Protokollsätze zum Ausgangspunkt der Wissenschaften zu machen. Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können. […] In der Einheitswissenschaft bemühen wir uns, ein widerspruchsicheres System von Protokollsätzen und Nichtprotokollsätzen (einschließlich der Gesetze) zu schaffen. Wird uns nun ein neuer Satz vorgewiesen, so vergleichen wir ihn mit dem System, über das wir verfügen, und kontrollieren nun, ob der neue Satz im Widerspruch mit dem System steht oder nicht. Wir können, falls der neue Satz im Widerspruch mit dem System steht, diesen Satz als unverwendbar („falsch“) streichen, […] oder aber man kann den Satz „annehmen“ und dafür das System so abändern, dass es, um diesen Satz vermehrt, widerspruchslos bleibt. Er hieße dann „wahr“.

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Das Schicksal, gestrichen zu werden, kann auch einem Protokollsatz widerfahren. Es gibt für keinen Satz ein „Noli me tangere“, wie es Carnap für die Protokollsatze statuiert. Zwei einander widersprechende Protokollsätze können im System der Einheitswissenschaft nicht verwendet werden. Wenn wir auch nicht sagen können, welcher von den beiden Sätzen auszuschließen ist oder ob beide auszuschließen sind, sicher ist, dass nicht beide sich „bewahren“, d. h. dem System einfügen lassen. Wenn in einem solchen Fall ein Protokollsatz aufgegeben werden muss, warum nicht manchmal auch dann, wenn erst aufgrund vieler logischer Zwischenglieder Widersprüche zwischen Protokollsätzen einerseits und einem System von Protokollsätzen, Nichtprotokollsätzen (Gesetzen usw.) andererseits auftreten? Nach Carnap könne man gezwungen sein, nur Nichtprotokollsätze und Gesetze abzuändern. Für uns kommt ebenso die Streichung von Protokollsätzen in Frage. Ein Satz wird mit dadurch definiert, dass er der Bewahrung bedarf, also auch gestrichen werden kann.39 Neuraths Position ist (1), dass alle tatsächlichen Aussagen prinzipiell widerlegt werden können – insbesondere auch Beobachtungsaussagen des Protokolltyps „Das Schicksal, gestrichen zu werden, kann auch einem Protokollsatz widerfahren“,40 und (2), dass der Maßstab, nach dem jede derartige Aussage beurteilt werden muss, im „Vergleich mit dem System, über das wir verfügen, besteht. Im Ergebnis stellt Neurath dem intuitionistisch/konstruktivistischen Ansatz Carnaps eine Theorie wahrer Tatsachenbehauptungen gegenüber, die ihrem Wesen nach zu den Kohärenztheorien gehört.41 Kohärenztheoretiker haben immer darauf bestanden, dass empirisches Wissen „nicht das unmittelbare Bewusstsein von einer unabhängigen Tatsache ist; von einem festen Bestandteil der Realität, das sich selbst dem passiv aufnehmenden Beobachter vollstündig zeigt“.42 Nach Neurath ist wissenschaftliches Wissen: „… eine wissenschaftliche Säuberungsmaschine […], in die man Protokollsätze hineinwirft. Die in der Anordnung der Räder wirksamen „Gesetze“ und sonstigen geltenden „Realsätze“, einschließlich der „Protokollsätze“, reinigen den hineingeworfenen Bestand an Protokollsätzen und lassen ein Glockenzeichen ertönen, wenn ein

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„Widerspruch“ auftritt. Nun muss man entweder den Protokollsatz durch einen anderen ersetzen oder die Maschine umbauen.“43

Neurath lehnte jede Rede von Wahrheit als Korrespondenz mit der Wirklichkeit ab. Tatsachlich verwarf er diese ganze Auffassung als letztlich unsinnig: „Ein Sozialwissenschaftler, der nach sorgfältiger Analyse bestimmte Berichte und Hypothesen ablehnt, erreicht schließlich ein Stadium, in dem er sich umfassenden Aussagesystemen (sets of statements) gegenübersieht, die mit anderen umfassenden Aussagesystemen in Konkurrenz treten. Alle diese Systeme können aus Aussagen bestehen, die ihm plausibel und annehmbar erscheinen. Es ist kein Raum für die empirizistische Frage: Welches ist das „wahre“ System?, sondern es geht allein darum, ob der Sozialwissenschaftler genug Zeit und Energie hat, um mehr als ein System zu erproben, oder ob er sich angesichts seines Mangels an Zeit und Energie dafür entscheiden soll – und das ist ein wichtiger Punkt –, nur mit einem dieser umfassenden Systeme zu arbeiten.“44

Neurath verschaffte also nicht nur der Kohärenztheorie wieder eine prominente Stellung, sondern er ging so weit, Kohärenz als eine Basis zu beschwören, von der aus er die Wertlosigkeit des gesamten Konzepts einer „Korrespondenz mit Tatsachen“ behauptete. Anders als für idealistische Kohärenztheoretiker wie Bradley war für ihn die Annahme der Kohärenztheorie mit der gänzlichen Verwerfung des Konzepts von Wahrheit als einer Korrespondenz mit Tatsachen verbunden. Nach unserer im vorigen Abschnitt dargestellten Ansicht ist die Auffassung, dass es der dem Kohärenzgedanken folgende Wahrheitstheorie nicht an Schwierigkeiten mangelt, weder zwingend noch erstrebenswert. 3. Schließt Kohärenz Korrespondenz aus? Gewisse Autoren behaupten, dass eine dem Kohärenzgedanken folgende Wahrheitsauffassung die korrespondenzorientierte Ansicht vom Wesen der Wahrheit ausschließe. Wenn Kohärenz der Test für Wahrheit sein soll, so argumentieren sie, dann muss sie auch ihr

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Wesen sein und alle diesbezüglichen Ansprüche der Korrespondenz ausschließen. Hervorragender Vertreter dieser Denkrichtung ist Brand Blanshard.45 Die frühen Kohärenztheoretiker neigten dazu, Kohärenz als charakteristisches Merkmal von Wahrheit anzusehen, ohne damit eine sehr spezifische und bestimmte Überzeugung von der genauen Art des fraglichen „Merkmals“ zu verbinden. Ist Kohärenz eine irgendwie notwendige Bedingung von Wahrheit, ist sie ein Test für Wahrheit, ein Teil der Wahrheitsdefinition oder sogar ihre ganze Definition? Solche Fragen fanden im Allgemeinen keine besondere Beachtung. Nach F. H. Bradley konnte man diesen Problemen jedoch nicht mehr ohne weiteres ausweichen, und Brand Blanshard stellte sich ihnen offen in seiner typischen nüchternen Art. Seine Antwort ist klar und nachdrücklich – Wahrheit besteht in Kohärenz; Kohärenz ist nicht nur ein Merkmal von Wahrheit, sondern ihr ganzes Wesen. Der problematische Mangel dieses Versuchs, Wahrheit unter Bezug auf Kohärenz zu definieren, besteht darin, dass er die Verbindung zwischen Wahrheit und Tatsachen nicht nur nicht rational erfasst, sondern einer solchen Erfassung sogar entzieht. Diese Verbindung kann sicherlich nicht kontingent sein. Aber wie kann andererseits der Schritt von der Kohärenz zu den Tatsachen ein notwendiger sein? Auf was für einer logischen Grundlage konnte man zwingend zeigen, dass alles, was die Bedingungen maximaler oder optimaler Kohärenz erfüllt, tatsächlich auch wirklich der Fall sein muss? Sicher stellt diese Frage eine unüberwindliche Schwierigkeit dar. Blanshard selbst ist anscheinend durchaus bereit, das zuzugeben. Er schreibt: „Angenommen wir konstruieren unsere Erfahrung in ein möglichst kohärentes Bild und erinnern uns dabei, dass zu den darin enthaltenen Elementen auch solche sekundären Qualitäten wie Farben, Gerüche und Geräusche gehören. Würde die bloße Tatsache, dass derartige Elemente kohärent angeordnet sind, beweisen, dass irgend etwas, was ihnen genau korrespondiert, „draußen“ existiert [d. h. weniger exzentrisch formuliert, tatsächlich der Fall ist]. Ich kann nicht sehen, wie das geschehen sollte und zwar selbst dann nicht, wenn wir wüssten, dass die beiden Anordnungen sich weitgehend entsprachen. … Es ist daher

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unmöglich, aus einem hohen Grad von Kohärenz innerhalb der Erfahrung auf eine ebenso gute Korrespondenz mit irgend etwas außerhalb der Erfahrung zu schließen [d. h. mit demjenigen, was tatsachlich der Fall ist]. … Letzten Endes ist der einzige nicht in die Irre führende Test für Wahrheit das für sie selbst konstitutive wesentliche Merkmal [nämlich Kohärenz].“46

Folgt man meiner (vielleicht etwas tendenziösen) Deutung dieses Arguments gegen eine Korrespondenztheorie, dann scheint es, als wäre Blanshard durchaus bereit, den Schritt von der „Kohärenz“ zur „Korrespondenz mit den Tatsachen“ als problematisch und irrtumsgefährdet anzusehen. Aber selbst wenn man die Kernthese der Korrespondenztheorie, dass Wahrheit „Korrespondenz mit den Tatsachen“ (adaequatio ad rem, in der alten Formulierung) bedeutet, entschieden ablehnt, sieht man sich auf jeden Fall immer noch der unerschütterlichen These gegenüber, dass eine wahre Proposition eine Proposition ist, die etwas aussagt, was tatsächlich der Fall ist. Die Verbindung zwischen Wahrheit und Tatsachen lässt sich – unabhängig davon, welche Auffassung zur Definition von Wahrheit man bevorzugt – nicht auflösen. Selbst der glühendste Kohärenztheoretiker muss zugeben – zwar gewiss nicht die Prämisse der Korrespondenztheorie, dass Wahrheit Korrespondenz mit den Tatsachen bedeutet, aber doch eine Konsequenz daraus, nämlich – dass Wahrheiten mit Tatsachen korrespondieren müssen. Selbst wenn wir mit dem Kohärenztheoretiker in der Ablehnung der definitorischen Verknüpfung von Wahrheit und Tatsachen übereinstimmen, müssen wir doch in der Lage sein, indirekt, nämlich über die Kohärenz, eine derartige Verknüpfung herzustellen. Aber wie kann Kohärenz allein jemals Übereinstimmung mit den Tatsachen garantieren? Kann nicht ein gewiefter Romancier seine Erzählung genauso kohärent machen, wie es die des sorgfältigsten Historikers ist? Wie sollte Kohärenz angesichts der (ziemlich deutlichen) Tatsache, dass die Produkte kreativer Erfindungsgabe und Phantasie vollkommen kohärent sein können, und angesichts des Umstandes, dass auf bestimmten Elementen stets verschiedene kohärente Strukturen errichtet werden können (wie z. B. Wissenschaftler zur Erklärung ein und derselben

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Daten unterschiedliche Hypothesen bilden), wie sollte Kohärenz da eine logische Gewähr für die Übereinstimmung mit den Tatsachen bieten können? So lautet einer der Standardeinwände gegen die Kohärenztheorie der Wahrheit, einer der allem Anschein nach auch gegenüber Blanshards Formulierung der Theorie gilt. Indem Blanshard versucht, die Korrespondenztheorie dadurch in Frage zu stellen, dass er eine untrügliche Verbindung zwischen Kohärenz und Korrespondenz mit den Tatsachen leugnet, gelingt es ihm weniger, Korrespondenz als Wahrheitsmaßstab zu entwerten, als dass er eine fundamentale Schwierigkeit der Kohärenztheorie des von ihm unterstützten Typs, nach der Kohärenz das Wesen von Wahrheit ist, beleuchtet. Blanshard ist sich des wichtigen Unterschiedes zwischen einem Kriterium oder Test für Wahrheit und ihrer Definition deutlich bewusst und betont ihn: „Im letzten Kapitel wurde die These vertreten, dass Kohärenz letzten Endes unser einziges Wahrheitskriterium ist. Wir müssen uns nun der Frage zuwenden, ob sie auch das Wesen der Wahrheit ausmacht. Von vornherein sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass dies verschiedene Fragen sind, und dass man Kohärenz als Definition von Wahrheit ablehnen, gleichzeitig aber als ihren Test akzeptieren kann. Es ist vorstellbar, dass etwas ein guter Index für eine andere Sache und doch vollkommen verschieden von ihr sein kann. So gab es Philosophen, die der Ansicht waren, dass Vergnügen ein genauer Erfahrungsmaßstab des Guten sei, dass es jedoch ein grober Fehler wäre, das Gute mit dem Vergnügen zu verwechseln. Sehr viele Philosophen meinten auch, dass jede Bewusstseinsveränderung von einer Veränderung des Nervensystems begleitet werde, und dass die beiden so eng korrespondierten, dass wir aus dem einen unfehlbar das andere voraussagen konnten, wenn wir die Verbindungsgesetze kennen würden, aber es bedarf der ganzen Verwegenheit eines Behavioristen zu sagen, dass die beiden dasselbe sind. Ebenso wurde auch die Auffassung vertreten, dass Kohärenz zwar ein unfehlbarer Wahrheitsmaßstab sei, es aber ein sehr ernster Fehler wäre, sie mit Wahrheit gleichzusetzen.“47

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Obgleich Blanshard im Allgemeinen die Berechtigung der Unterscheidung zwischen Kriterium und Definition anerkennt, argumentiert er, dass im besonderen Fall der Wahrheit eine solche Unterscheidung nicht getroffen werden könne: Hier müsse die Definition mit dem Kriterium zusammenfallen, sobald man Kohärenz als das Wahrheitskriterium erkannt habe. Dieses Argument kann folgendermaßen rekonstruiert werden:48 (1) Jede Kohärenztheorie der Wahrheit muss Kohärenz als einen, ja sogar den primären Test für Wahrheit ansehen. (2) Wenn aufgrund der Wahrheitsdefinition das Wesen der Wahrheit in etwas anderem als Kohärenz besteht, in etwas, das wie Korrespondenz logisch nicht mit Kohärenz äquivalent ist, sondern sich möglicherweise von ihr unterscheidet, dann kann Kohärenz keine sichere Wahrheitsgarantie sein. (3) Da aber eine Kohärenztheorie der Wahrheit Kohärenz als den primären Wahrheitstest ansehen muss (Prämisse 1), muss sie in der Kohärenz auch eine sichere Wahrheitsgarantie erblicken. (4) Dann folgt aber (aus Prämisse 2), dass eine Kohärenztheorie der Wahrheit davon ausgehen muss, dass Kohärenz das Wesen von Wahrheit ist und nicht nur ein Kriterium zu ihrer Prüfung. Denn nur was für eine Sache wesentlich ist, nicht aber irgendein bloßes Prüfungskriterium kann eine begrifflich sichere Garantie für das Vorliegen der Sache sein. Das Ergebnis von Blanshards Argumentation ist: dass eine Anerkennung von Kohärenz als Prüfungskriterium für Wahrheit zu der Folgerung zwingt, dass Kohärenz auch die Definition von Wahrheit ist. Diese Behauptung erscheint vollkommen unannehmbar: Akzeptiert man ihre Prämissen, muss man auch der Folgerung zustimmen. Aber was ist von ihren Prämissen zu halten? Es scheint klar, dass von den zentralen Prämissen (1)–(3) dieser Blanshardschen Argumentation (1) und (2) keine Ansatzpunkte zur Kritik bieten. Nur (3) ist möglicherweise angreifbar – und ist es auch in der Tat. Denn warum

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muss man die Kohärenzprüfung als sichere Wahrheitsgarantie ansehen? Einmal mehr werden wir zu der wichtigen Unterscheidung zwischen einem garantierenden und einem berechtigenden Kriterium zurückgeführt. Im Bewusstsein dieser Unterscheidung können wir feststellen, dass nach Blanshards Auffassung, wie sie in Prämisse (2) zum Ausdruck kommt, derjenige, der Kohärenz als Wahrheitskriterium ansieht, verpflichtet ist, Kohärenz als ein garantierendes Kriterium anzusehen. Er ist verpflichtet, die Verknüpfung von Kohärenz und Wahrheit als unausweichlich und notwendig anzusehen. Unter dieser Voraussetzung ist Blanshards Position zweifellos stark. Aber warum muss man diese Voraussetzung machen? Warum sollte man, kurz gesagt, Kohärenz nicht als einen im Allgemeinen funktionierenden Wahrheitstest statt als einen notwendigen Aspekt ihres Wesens ansehen? Unter dieser Perspektive ist Blanshards Version einer Kohärenztheorie der Wahrheit fehlerhaft, weil sie auf einem falschen Ausgangspunkt beruht. Indem sie darauf besteht, dass Kohärenz das Wesen von Wahrheit ist, und nicht damit zufrieden ist, dass Kohärenz einfach die Rolle eines beschränkten Prüfungskriteriums für die Feststellung von Wahrheit spielt, begeht sie an ganz entscheidender Stelle einen Fehler. Dies macht es Blanshard unmöglich, die klassische These zu verstehen, nach der es notwendig ist, dass eine wahre Proposition mit den Tatsachen übereinstimmt, eine These, die nicht außer Kraft gesetzt ist, wenn man eine definitorische Korrespondenztheorie der Wahrheit verwirft, sondern jede derartige Ablehnung notwendig überlebt. Durch zwei Überlegungen wird Blanshard unerbittlich dazu gezwungen, darauf zu bestehen, dass Kohärenz das definitorische Wesen von Wahrheit sei: (1) durch die (im Grunde unproblematische) Prämisse, dass Kohärenz ein wichtiges Kriterium für Wahrheit sei, und (2) durch die Behauptung, dass die notwendige Verbindung zwischen Wahrheitskriterium und Wahrheitsdefinition nur aufrecht erhalten werden kann, wenn das Kriterium (nämlich Kohärenz) als Definition übernommen wird. Blanshards Argumentation ist hier vollkommen korrekt, aber seine Position ist es nicht. Denn um Kohärenz als ein (oder sogar das) Wahrheitskriterium anzusehen, ist es weder notwendig noch wünschenswert, Kohärenz als ein

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zwingendes oder logisch garantierendes Kriterium statt als ein die Wahrscheinlichkeit vorteilhaftes und epistemisch berechtigendes zu konstruieren. Und verzichtet man einmal auf die Notwendigkeit der Verknüpfung, dann verliert die Behauptung, dass Kohärenz-alsKriterium Kohärenz-als-Definition impliziere, ihre Berechtigung. 4. Was ist Kohärenz? Der Kohärenzgedanke hat seine Wurzeln in der Idee des Systems. Seine grundlegende Einsicht wird von F. H. Bradley folgendermaßen formuliert: „Wahrheit ist ein idealer Ausdruck des Universums (universe), zugleich kohärent und umfassend. Sie darf sich nicht selbst widersprechen, und es darf keine mögliche Behauptung geben, die nicht in ihren Bereich fällt. Vollkommene Wahrheit muss, kurz gesagt, die Idee eines systematischen Ganzen verwirklichen.“49 Die Kohärenztheorie vollendet die grundlegend idealistische Konzeption, dass Wahrheit und mit ihr die Realität, für die sie charakteristisch ist, ein umfassendes und geeignet zusammenhängendes systematisches Ganzes repräsentiert. Dieser Doktrin zufolge muss man die Wahrheit einer Aussage bzw. Proposition irgendwo in ihrer „Kohärenz“ suchen. „Kohärieren“ ist aber ein transitives Verb: Jede Kohärenz muss Kohärenz mit etwas sein. Offensichtlich wird es hier um Kohärenz mit anderen Aussagen oder Propositionen gehen. Wie ein neuerer Autor schreibt: „Nach der Kohärenztheorie bedeutet, dass eine Aussage wahr oder falsch ist, dass sie mit einem System anderer Aussagen kohärent ist oder nicht, dass sie Glied eines Systems ist, dessen Elemente durch logische Implikationen verbunden sind. …“50 Die Kohärenz, um die es bei der Kohärenztheorie geht, ist eine Frage der Beziehungen einer Proposition zu anderen Propositionen – nicht ihrer „Kohärenz“ mit der Realität oder mit den angesprochenen Tatsachen. Der Entwurf einer Kohärenztheorie in letzterem Sinne wäre ein Versuch, die Kohärenztheorie unter der Hand in eine Korrespondenztheorie zu verwandeln; ganz entsprechend führt ein jüngerer Autor zutreffend aus, dass „jeder Versuch, die Bedeutung von „Kohärenz“ von Kohärenz-mit-anderen-Aussagen zu Kohärenz-mit-Tatsachen (oder

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der Erfahrungswirklichkeit) zu verschieben, das Aufgeben der Kohärenztheorie bedeutet“.51 Kohärenz ist daher eine Eigenschaft, die nicht einzelne Propositionen, sondern nur Mengen haben können, in denen mehrere Propositionen enthalten sind – d. h. mindestens zwei. Worin besteht nun diese Eigenschaft genau? Kohärenztheoretiker sehen normalerweise zwei Faktoren als wesentlich an: Konsistenz und Verbundenheit. In einer jüngeren Darstellung findet sich folgende Äußerung: „Aber sie [die idealistischen Kohärenztheoretiker] stimmen mit ihm [F. H. Bradley] im Allgemeinen darin überein, dass die Realität in einem doppelten Sinne kohärent sei, erstens insofern sie trotz scheinbarer Inkongruenzen völlig konsistent sei, zweitens insofern sie vollkommen interdependent, d. h. so geordnet sei, dass jede Tatsache notwendig mit anderen und schließlich mit allen verbunden sei.“52

Die „Kohärenz“ einer Menge von Propositionen setzt daher nicht nur (1) die offensichtliche Minimalbedingung der Konsistenz53 voraus, sondern auch (2) eine besondere Art von Verbundenheit. Die nächste und schwierige Aufgabe ist natürlich die Klärung der Frage, um welche Art von Verbundenheit es dabei geht. Die Kohärenztheoretiker selbst waren bei der Explikation des Kohärenzbegriffes nicht in allen Fällen besonders erfolgreich.54 Die Position von Bernard Bosanquet wird in einer neuen Darstellung treffend folgendermaßen zusammengefasst: „Besonders typisch für Bosanquets Logik ist sein Bestehen auf Reziprozität. Das wird bei seiner Analyse der Hypothesen am deutlichsten. Als typische Hypothese gilt ihm die Behauptung, dass, wenn A B ist, A auch C ist. Er argumentiert nun, dass, wenn As B-Sein wirklich hinreichende Bedingung für sein C-Sein ist, dies gleichbedeutend mit der Feststellung sei, dass es ein System gibt, in dem A, B, C kohärieren. Da Kohärenz symmetrisch ist, ergibt sich, dass umgekehrt auch As C-Sein hinreichende Bedingung für As B-Sein ist. Diese Folgerung steht nun natürlich in direktem Widerspruch zu der traditionellen Ansicht, dass hypothetische Behauptungen irreversibel sind. Aber sie ist sowohl mit der Kohärenztheorie der Wahrheit als auch

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mit der Lotzeschen Annahme, dass jede Proposition eine Identität ausdrückt, naturgemäß verbunden. Bosanquet gibt zu, dass z. B. der Satz: „Wenn er ertränkt worden ist, ist er tot“, keine umgekehrte Verbindung behauptet. [Aber er besteht darauf, dass wir ihn als verkürzte Ausdrucksweise für: „Wenn er ertränkt worden ist, ist er tot aufgrund Ertränkens, ansehen müssen.] Nur mit Hilfe einer derartigen Interpretation können wir seiner Ansicht nach die logische Forderung nach Kohärenz erfüllen. Jede „Angabe von Gründen ist tatsächlich reziprok“ – „dass wir hypothetische Urteile ihrem Wesen nach für nicht umkehrbar halten“, schreibt Bosanquet, „liegt nur daran, dass die im Alltagsleben verwandten „Gründe“ mit Unwichtigem belastet oder mit zeitlicher Kausalität durcheinandergebracht werden.“ [S. seinen Aussatz „Cause and Ground“, Journal of Philosophy 1910]“55

Die Pointe der reziproken Kohärenz ist folgende: Wenn wir eine kohärente Gruppe von anscheinend unabhängigen Propositionen A, B, C haben, dann haben wir in Wirklichkeit. 1. A-im-Kontext-von-B-und-C 2. B-im-Kontext-von-A-und-C 3. C-im-Kontext-von-A-und-B. Die einzig wirklich kohärente Aussage – und die einzig wirklich wahre – ist eine, die ihren Kontext implizit bei sich trägt und daher im Ergebnis auch alles andere, was wahr ist, behauptet. Vollkommen kohärente und daher vollkommen wahre Aussagen sind äquivalent, weil jede von ihnen alle relevanten Tatsachen aussagt, und das erklärt die reziproke Äquivalenz, um die es hier geht.56 Die Ansicht Bosanquets ist also eine wirksame Rechtfertigung seiner Reziprozitätsthese, freilich nur um den Preis von zwei Absurditäten: (1) dass nur solche Erklärungen genau wahr sind, die nicht nur „nichts als die Wahrheit“, sondern tatsächlich auch „die ganze Wahrheit“57 enthalten, und (2), dass nur diejenigen Satze von Propositionen vollständig kohärent sind, bei denen jede einzelne Proposition alle übrigen enthält – bei denen also alle Propositionen tatsächlich äquivalent und daher gegenseitig vollkommen redundant sind. Diese

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zweite These stellt – so erstaunlich das scheinen mag – eine bei Idealisten weitgehend akzeptierte Doktrin dar. „Vollkommen kohärentes Wissen“, so erklärt uns Brand Blanshard, „wäre ein Wissen, innerhalb dessen jedes Urteil den Rest des Systems enthielte und von ihm enthalten würde“.58 Diese Auffassung von Kohärenz als von redundanter Behauptung und von einem kohärenten System von Propositionen als von einem, dessen Propositionen einfach dasselbe wiederholen, ist keine sehr nützliche Konstruktion der Idee. In seinem hervorragenden Buch: Idealism: A Critical Survey59 kritisiert A. C. Ewing diese Bosanquet-Joachim-BlanshardKonstruktion von Kohärenz folgendermaßen: „Wenn man sagt, dass in einem kohärenten System keine Proposition falsch sein kann, wenn alle anderen Propositionen wahr sind, so ist das nicht dasselbe, wie zu sagen, dass keine falsch sein kann, ohne dass auch alle anderen falsch sind. Es ist wahr, dass wir in einem wirklich kohärenten System von Propositionen, wie etwa dem für die Arithmetik konstitutiven, mit Hilfe korrekten Schließens von der Falschheit irgendeiner Proposition innerhalb des Systems auf die Falschheit jeder anderen schließen können. Wenn wir = verwenden, um damit „… ist nicht gleich mit …“ auszudrücken, könnten wir aus der Annahme, dass 7 + 5 = 12, schließen – z. B. durch Multiplikation mit 20 –, dass 140 +100 ≠ 240, oder durch Subtraktion von 6 bei allen Gliedern, dass 1 – 1 ≠ 0 und durch ein ähnliches Vorgehen zu jedem wahren Ergebnis einer arithmetischen Operation ein widersprechendes finden; führte man dies aber bis zum Extrem durch, dann wäre es ein selbstwidersprüchliches Verfahren, denn wir können mit Hilfe dieser Prämisse nur dann beweisen, dass alle akzeptierten arithmetischen Propositionen falsch sind, wenn wir eine andere akzeptierte arithmetische Proposition, z. B. 7 x 20 = 140 als wahr voraussetzen, und daher könnten wir nur dann aus der ersten Prämisse schließen, dass alle anderen akzeptierten arithmetischen Propositionen falsch sind, wenn wir sie zugleich alle für wahr halten. Entsprechendes gilt, denke ich, für jedes andere kohärente System von Propositionen. Wir können daher nicht argumentieren, dass keine der kohärenten Propositionen falsch sein kann, ohne dass alle falsch sind, sondern nur, dass keine falsch sein kann, ohne dass nicht auch einige andere falsch sind. Soweit ich sehe, brauchen wir den von

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Prof. Joachim definierten Kohärenzbegriff also nicht zu akzeptieren …“60

Sofern die Propositionen eines kohärenten Systems im Verhältnis zueinander nicht einfach redundant sind, können sie nicht alle zugleich wahr oder falsch sein, wie es die von Ewing kritisierten Kohärenztheoretiker verlangen. Ewing selbst expliziert die Verbundenheit-Kohärenz einer Menge von Propositionen folgendermaßen: Eine Menge von (zwei oder mehr) Propositionen ist kohärent, wenn (i) „jede Proposition der Menge logisch zwingend aus der Wahrheit aller übrigen Propositionen der Menge folgt“, (S. 229) (ii) „es keine Teilmenge von Propositionen innerhalb dieser Menge gibt, die von ihrer jeweiligen komplementären Menge logisch unabhängig ist“. (S. 229–230).61 Diesen Bedingungen entsprechend ist eine Menge M Propositionen (mit zwei oder mehr Elementen) kohärent, wenn

von

(i) für jedes P (= Proposition) ∈ M gilt, dass P sich stets aus den übrigen Elementen von M ableiten lasst: Wenn P ∈ M, dann M – {p} ├ P (ii) es keine echte Teilmenge M' von M gibt, so dass jedes P ∈ M' aus M' – {P} abgeleitet werden kann – d. h. ohne Verwendung von Elementen außerhalb von M' aus M-Elementen abgeleitet werden kann;62 bzw. wenn (i) gegeben ist: jede echte Teilmenge M′ von M mindestens ein P ∈ M′ enthält, für dessen Ableitung aus M – {P} mindestens ein Element von M – M′ gebraucht wird.63

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Bedingung (ii) kann etwas schlichter so formuliert werden: (ii′) Es gibt keine echte Teilmenge von M, die Bedingung (i) erfüllt. Diese Formulierung zeigt, dass „Kohärenz“ in dem hier besprochenen Sinn eine gewisse Komplettheit oder besser Abgeschlossenheit (saturation) voraussetzt. Die Hinzufügung irgendeiner Proposition zu einem kohärenten Satz von Propositionen macht ihn sofort inkohärent. Durch diese Formulierung wird auch deutlich, dass die Bedingungen (i) und (ii) die Konsistenz der fraglichen Menge nicht implizieren: Die Menge {p & ~ p, ~ p 7 p} genügt sowohl (i) als auch (ii). Man wird daher sicher eine dritte Bedingung hinzufügen wollen: (iii) Die Menge M ist konsistent. Es seien p, q, r voneinander unabhängige Propositionen, Bedingung (i) schließt nicht nur {p, q, r} als kohärente Menge aus, sondern auch {p & q, q, r & p} – denn r & p lässt sich aus den übrigen Elementen nicht ableiten. Die Menge {p & q, q & r, r & p} jedoch genügt dem ersten Kriterium jedes ihrer Elemente lässt sich aus den übrigen ableiten. Diese Beispiele zeigen, dass die erste Bedingung auf das Erfordernis von (ableitungsmäßiger) Redundanz hinausläuft, wenn alle übrigen Elemente gegeben sind, kann jedes Element ohne Verlust an ableitbarem Gehalt gestrichen werden. Das Erfordernis ableitungsmäßiger Redundanz gewährleistet eine gewisse minimale Verbundenheit zwischen den Elementen einer kohärenten Menge. Die Aufgabe der Bedingung (ii) ist nach Ewings Erklärung (a. a. O. S. 229) die Gewährleistung zusätzlicher Verbundenheit. Es seien A, B, C drei Propositionen, von denen jeweils zwei die dritte als deduktive Konsequenz haben. Und es sei D, E, F eine andere derartige Menge aber von A, B, C ganz unabhängig. Dann genügt M = A, B, C, D, E, F der Bedingung (i), ist jedoch nicht vollkommen „kohärent“ (hier = verbunden), weil es in zwei logisch getrennte Teile zerfällt. Bedingung (ii) soll diesen Fall ausschließen. Diese Bedingung kann das Erfordernis (deduktiver) Verkoppelung genannt werden. Man beachte, dass aus Bedingung (ii) folgt, dass eine kohärente Menge M keine zwei Propositionen A und B enthalten

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kann, die miteinander äquivalent sind. Gäbe es solche Propositionen, dann würde die Menge M' = {A, B} zu einer Verletzung von (ii) führen. Kohärente Mengen müssen redundant sein, dürfen aber auch nicht zu redundant sein. Wir sehen also, dass diese beiden Bedingungen auf die beiden folgenden, allgemeiner formulierten Erfordernisse hinauslaufen. (1) Wenn M eine kohärente Menge ist, und wenn alle Elemente von M außer einem als wahr klassifiziert werden müssen, dann steht damit auch die Wahrheit dieses einen Elements fest und alle müssen als wahr klassifiziert werden. (2) Wenn M eine kohärente Menge ist, dann gibt es keine Teilmenge M' von M, deren Elemente alle als falsch klassifiziert werden können, ohne dass dies nicht notwendig auch die Falschheit anderer Elemente von M (außerhalb von M') voraussetzt. Zusammen sorgen diese Erfordernisse dafür, dass eine kohärente Menge von Propositionen in Hinsicht auf ihre Wahrheit eine Beziehungsfamilie (interrelation-family) bildet. Bei jeder derartigen Menge muss die Festlegung der Wahrheit einzelner Elemente Rückwirkungen auf die Wahrheit anderer haben. Ein ernsthafter Nachteil dieser Definition besteht darin, dass eine kohärente Menge stets durch die Hinzufügung von nichts weiter als ihren eigenen logischen Konsequenzen inkohärent gemacht werden kann. Angenommen, die Menge M = {P1, P2, …, Pn} sei kohärent, und betrachte M+ ={Pl, P2, …, Pn, P1, & P2, & … & Pn}. M+, die zu M nur eine von deren logischen Konsequenzen hinzufügt, ist nicht kohärent, da sie Bedingung (ii) verletzt. Denn (wegen der vorausgesetzten Kohärenz von M) gibt es nun innerhalb der

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Teilmenge M von M+ keine Proposition P, zu deren Ableitung aus M+ irgendein Element von M+ – M = {P1 & P2, & … & Pn} erforderlich ist. Durch das angegebene Verfahren wurde also die ursprünglich vorhandene Kohärenz zerstört und dies allein dadurch, dass eine kohärente Menge „noch kompletter“ gemacht wurde. Unter dem Aspekt einer Kohärenztheorie der Wahrheit hat Ewings Definition von Kohärenz noch andere schwerwiegende Mängel. Eine derartige Theorie muss irgendeine Grundlage für zwei Implikationsbehauptungen aufweisen: I.

Wenn die zu einer Menge gehörigen Propositionen wahr sind, dann sind sie kohärent.

II. Wenn die zu einer Menge gehörigen Propositionen kohärent sind, dann sind sie wahr. These I ist nun zwar auf den hier besprochenen Kohärenzbegriff abgestimmt bzw. richtiger gesagt ließe sich auf ihn abstimmen, aber leider nur so, dass sie dabei trivial wird. Gehen wir als von dem „schlimmsten“ möglichen Fall – von einer Menge M von vollkommen voneinander unabhängigen Propositionen [Pl, P2, …, Pn] – aus. Betrachten wir nun die Menge M+ = {Pl, P2, … ,Pn, P1, & P2, & … & Pn}. Offensichtlich gilt, dass (1) M+ keine echte Teilmenge besitzt, von der jedes Element aus dem ganzen Rest abgeleitet werden kann, obgleich (2) M+ so beschaffen ist, dass sich jedes ihrer Elemente aus den übrigen ableiten lässt. Es lässt sich daher leicht beweisen, dass M+ eine kohärente Menge im Sinne der Definition ist. Und dennoch haben wir bei der Bildung von M+ aus der inkohärenten Menge M nichts weiter getan, als zu M eine ihrer eigenen logischen Konsequenzen hinzuzufügen. Demzufolge kann jede Menge (kontingenter) Propositionen selbst voneinander vollständig unabhängiger als eine kohärente Menge dargestellt werden. Die noch ernstere Schwierigkeit ergibt sich allerdings bei These II. Angesichts einer Menge von Propositionen, die im Sinne einer

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Definition wie der von Bosanquet oder Ewing kohärent ist, sind wir lediglich berechtigt, Behauptungen über die hypothetischen Wahrheitsbeziehungen in dieser Menge aufzustellen. Wir können nur Behauptungen der Form: „Wenn diese und diese Elemente wahr (falsch) sind, dann sind diese und diese Elemente wahr (falsch)“, ausstellen. D. h. wir haben Kohärenz nur unter Bezug auf die streng internen Implikationsbeziehungen innerhalb von M formuliert. Es ist, gelinde gesagt, problematisch zu beweisen, dass zwischen dieser Eigenschaft der Elemente von M und ihrem tatsächlichen Wahrheitswert eine Beziehung besteht. Außerdem gibt es Mengen, die intern „kohärent“ im Sinne der Definition sind und doch Elemente einschließen, die mit denen anderer kohärenter Mengen unvereinbar sind. Das folgende Paar ist ein Beispiel: M1 = {p, q, p & q} M2 = {~p, r,~p & r} Wenn in der Art von These II von bloßer Kohärenz auf Wahrheit geschlossen werden könnte, würde das zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass in manchen Fällen sowohl eine Proposition als auch ihr Gegenteil als wahr gelten könnten. Daher ist deutlich, dass die Ewingsche Kohärenz alleine nicht ausreicht, um einen Wahrheitsbezug zu begründen. 5. Die Kohärenzstrategie Eine Kohärenztheorie der Wahrheit muss nicht beanspruchen, dass sie das für Wahrheit als solche konstitutive Wesen ausdrücke, man könnte sie sich auch mit einer wesentlich regulativen Funktion versehen vorstellen, als maßgeblich für die zur Wahrheitswertzuschreibung bei empirischen Propositionen führenden Überlegungen. Bei dieser regulativen Form der Theorie muss deren zentrale These ungefähr folgendermaßen lauten: Für solche Wesen wie die Menschen, deren Ausstattung zur Aufnahme und Verarbeitung von Daten mangelhaft ist, ist die

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Wahrheit im Allgemeinen nicht der Ausgangspunkt, sondern das Ziel der Forschung. Zunächst haben wir normalerweise nur eine Sammlung von prima facie Wahrheiten, d. h. Propositionen, die mögliche – vielleicht sogar vielversprechende – Wahrheitskandidaten sind. Angesichts der epistemischen Realitäten werden diese Wahrheitskandidaten im Allgemeinen eine inkonsistente Menge bilden und sich gegenseitig ausschließen, so dass keine Möglichkeit besteht, sie insgesamt als wahr zu erkennen. Wir sind daher gut beraten, wenn wir, um aus den Daten insgesamt „das Beste zu machen“, diejenigen für wahr halten, die am besten mit den anderen „kohärieren“. Kohärenz wird dadurch zum entscheidenden Test für die Eigenschaften, aufgrund derer ein Wahrheitskandidat als genuine Wahrheit eingestuft wird. In Übereinstimmung mit diesem Gedankengang kann unser Problem folgendermaßen strukturiert werden. Wir beginnen mit einer Menge M+ = {Pl, P2 P3, …} von geeignet „gegebenen“ Propositionen – d. h. von Daten. Diese Daten sind nicht als wahr gegeben (dann wäre unser Kriterienproblem gelöst), sondern nur als Wahrheitskandidaten – und zwar als miteinander im Widerspruch stehende (d. h. inkonsistente). Die Kohärenztheorie befasst sich mit dem Problem, dadurch Ordnung in M zu bringen, dass die Schafe von den Ziegen getrennt werden, zwischen dem Wahren und dem Falschen unterschieden wird. Ein Wahrheitskandidat qualifiziert sich dadurch für seine Anerkennung als eine Wahrheit, dass er mit möglichst vielen der restlichen Daten konsistent ist. Das Kriterium geht also von einer ganz und gar internen Orientierung aus: Bei seiner Anwendung wird nicht versucht, einen Wahrheitskandidaten direkt mit anderen Tatsachen außerhalb des gegebenen epistemischen Kontextes zu vergleichen; sondern nachdem man möglichst viele Informationen (und dabei werden leider auch falsche sein) über die Tatsachen gesammelt hat, versucht man, innerhalb dieser Menge das Wahre vom Falschen zu scheiden. Die dabei entstehende Situation ähnelt der eines Puzzlespieles mit

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überflüssigen Teilen, die nicht in das Bild, das die „richtige Lösung“ darstellt, eingefügt werden können. Ein wesentliches Merkmal der Kohärenztheorie ist die Übereinstimmung ihres Vorgehens mit der Verfahrensweise bei der Ableitung signifikanter und konsistenter Ergebnisse aus einer inkonsistenten Menge von Informationen im Allgemeinen. Will man die Idee der Kohärenz als ein Schlüsselkriterium von Wahrheit entfalten, dann muss man sich der Frage stellen, welche Schlussfolgerungen sich angemessenerweise aus einer inkonsistenten Menge von Prämissen ziehen lassen. Die ursprüngliche Menge inkonsistenter Information ist die Datenmenge, auf die das Kohärenzkonzept als Wahrheitskriterium angewandt wird, und das Ergebnis dieser Anwendung ist ein konsistentes System akzeptabler Wahrheiten. Nach dieser Betrachtungsweise sieht die Kohärenztheorie der Wahrheit das Problem der Wahrheitsbestimmung als ein Ordnungsproblem an, als das Problem, Ordnung in ein Chaos ursprünglicher Daten zu bringen, in dem sichere Evidenz und dürftige Hypothesen miteinander vermischt sind. Sie sieht es als ein Transformationsproblem von Inkohärenz zu Kohärenz, Unordnung zu System, Wahrheitskandidaten zu qualifizierten Wahrheiten. Aus dieser Perspektive heraus kann man erkennen, dass die zentrale Aufgabe darin besteht, die taktischen Mittel zu entdecken, mit deren Hilfe diese Strategie verwirklicht werden kann.64

ANMERKUNGEN 1

„Der Begriff der Wahrheit bestimmt deren Wesen, und dieses ist vom einzelnen Kennzeichen (Kriterium) der Wahrheit (wahrer Urteile) wohl zu unterscheiden.“ Eislers Handwörterbuch der Philosophie, 2. Aufl. Berlin 1922, Stichwort: Wahrheit.

2

„Truth and Confirmationa“, in: H. Feigl/W. Sellars (Hrsg.): Readings in Philosophical Analysis, New York 1949, S. 120.

3

A. Pap: Elements of Analytic Philosophy, New York 1949, S. 356.

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ANMERKUNGEN 4

Ebd. S. 361 f.

5

Process and Reality, London 1929, S. 291. E. W. Hall: Our Knowledge of Fact and Value, Chapel Hill (N. C.) 1961, kombiniert auf ähnliche Weise eine Korrespondenztheorie der Wahrheit mit einer Kohärenztheorie der Verifikation. Man sollte jedoch beachten, dass keiner dieser späten Verteidiger eines Kohärenzkriteriums auf epistemologischer Ebene für eine Konzeption von Kohärenz eintritt, die jene der idealistischen Pioniere fortsetzt. Tatsächlich scheinen sie sich überwiegend nur eine etwas unklare gegenseitige Bestätigung deduktiver oder probabilistischer Art vorzustellen und geben keinerlei klar formulierte Theorie über das Wesen der fraglichen „Kohärenz“ an.

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Dieser normative Aspekt der Sache scheidet die epistemologische Frage nach Wahrheitskriterien gänzlich von der psychologischen Frage nach den Bedingungen, unter denen eine bestimmte Person oder Gruppe Propositionen akzeptiert. Die epistemologische Problematik einer adäquaten Begründung ist vollkommen intersubjektiv und objektiv: Sie ist nicht subjektiv und psychologisch, sondern objektiv und methodologisch. Dies schiene fast zu offensichtlich, um einer Betonung zu bedürfen, hatte nicht einer der bedeutendsten heutigen Philosophen darauf bestanden, dass alle kriterienbezogenen Wahrheitstheorien als subjektiv eingestuft werden müssen. (S. K. R. Popper: Conjectures and Refutations, London 1963, S. 225.) Nach unserer Ansicht wirft das epistemische Kriterium von Akzeptierbarkeitsbedingungen keine Fragen nach einem Weg zur Wahrheit über einen „besonderen Geisteszustand, eine Disposition oder eine besondere Art von Glaubensüberzeugung“ auf. Eine kriterienbezogene Betrachtungsweise der Akzeptabilität muss sich nicht auf irgendwelche psychologischen Überzeugungen oder irgendwelche anderen derartigen subjektiven Bedingungen des Akezeptierens beziehen (ebenso wenig wie der Rechentest durch „Ausziehen der Neuner“ von Fragen nach den psychologischen Mechanismen abhängt, die mit dem Rechnen verbunden sind.)

7

Philosophen, die die Frage der Wahrheitskriterien diskutiert haben, tendierten im Allgemeinen dazu, sich nur mit garantierenden Kriterien zu beschäftigen. Das folgende Zitat ist nur ein Beispiel für viele: „Diese Unterscheidung zwischen dem Wesen der Wahrheit und einem Wahrheitskriterium ist wichtig und wurde von den Philosophen nicht immer ausreichend betont. Ein Kriterium ist eine Art Handelsmarke, d. h. ein verhältnismäßig offensichtliches Merkmal, das die Eigenschaften des Markenartikels garantiert“ (B. Russell: Philosophical Essays, London 1910, S. 172).

8

New Essays, Bk. IV, Kap. V ad fin. (Übs. A. G. Langley). Deutsche Ausgabe: G. W. Leibniz: Philosophische Werke Bd. 3, Leipzig 1926 (Übs. Ernst Cassirer). Vgl.

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

ANMERKUNGEN

Thomas v. Aquins Charakterisierung von Wahrheit als adaequatio intellectus et rei. Locke hat die Frage auf eine anscheinend klarere, in Wirklichkeit aber problematischere Weise beantwortet: „Wahrheit im eigentlichen Wortsinn scheint mir nichts weiter zu bezeichnen als das Verhindern oder Trennen von Zeichen entsprechend der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Dinge, für die sie stehen“ (Essays, Buch IV, Kap. 5). Deutsche Ausgabe: John Locke: Über den menschlichen Verstand, Bd. I u. II, Berlin 1961 [danach wurde hier zitiert, d. Übs.]. 9

A. Tarski, „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“, in: Studia Philosophica 1 (1936) 261–405. (Eine polnische Version war rund drei Jahre früher erschienen.)

10

Tarski hält es aus logischen Gründen für unmöglich, für natürliche Sprachen und für alle „semantisch geschlossenen“ Sprachen eine Definition zu geben, bietet für formalisierte Sprachen jedoch eine Definition mit Hilfe des abstrakten Begriffs der „Erfüllung“ an.

11

W. V. Quine: „Quantifiers and Propositional Attitudes“, in: ders., The Ways of Paradox, New York 1966, S. 183–194.

12

A. Church: „On Carnap’s Analysis of Statements of Assertion and Belief“, in: Analysis 10 (1950) 97–99.

13

Quine a. a. O., S. 194.

14

Der scheinbar tautologische Charakter dieser These hat verschiedene Autoren (insbesondere F. P. Ramsey und A. Ayer) zu der Ansicht gebracht, dass „wahr“ keine unabhängige Bedeutung für das Machen von Aussagen besitzt und in Bezug auf den Aussagegehalt als redundant angesehen werden sollte; denn es ist unmöglich, den Behauptungsgehalt des umfänglicheren Satzes: „Es ist wahr, dass es regnet“, von dem des Satzes: „Es regnet“, zu unterscheiden. (S. G. Ezorsky: „Truth in Context“, in: The Journal of Philosophy 60 [1963] S. 113-135.) Aber die These, dass „ist wahr“ bezüglich des Behauptungsgehalts redundant sei, weil „P ist wahr“ dieselbe Information enthält wie die bloße Behauptung von „P“, lässt sich auch umkehren. Aus ihr ergibt sich auch, dass Aussagen in Bezug auf „ist wahr“ behauptungsmäßig expansiv (assertively expansive) sind, denn die bloße Behauptung von „P“ läuft auf die Behauptung von „P ist wahr“ hinaus. Die Redundanz in Bezug auf den Aussagegehalt beweist also nicht, dass „ist wahr“ ein leerer und überflüssiger Ausdruck ist, sondern kann im Gegenteil verwendet werden, um zu zeigen, dass dieser Ausdruck allgegenwärtig und daher wichtig ist

Nicholas Rescher • Philosophische Vorstellungen

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ANMERKUNGEN

und ein universelles – wenn auch nicht immer ausdrückliches – Merkmal von Behauptungen im Allgemeinen darstellt. 15

Nähere Ausführungen hierzu finden sich bei A. C. Ewing: „The Correspondence Theory of Truth“, in ders. (Hrsg.): Non-LinguisticPhilosophy, London 1968, S. 193–204 (s. bes. S. 196 f.).

16

N. Goodman: „The Way The World Is“, in: The Review of Metaphysics 14 (1960) S. 48–56 (s. S. 53).

17

„Es wird jedoch häufig gesagt …, dass die Korrespondenztheorie nicht einmal eine Grundlage liefert, um eine Aussage als wahr anzusehen. Denn, so wird gesagt, diese Theorie geht davon aus, dass zwischen Sprache und Welt eine einfache Beziehung besteht; sie unterstellt, dass Aussagen die Welt widerspiegeln oder abbilden. Sprache funktioniert in Wirklichkeit nicht so; daher muss die Theorie falsch sein.“ (D. W. Hamlyn: „The Correspondence Theory of Truth“, in: The Philosophical Quarterly 12 [1962] S. 193–204 [s. S. 193]). Aber natürlich braucht ein Korrespondenztheoretiker die Beziehung zwischen „Sprache und Welt“ keineswegs als einfacher anzusehen, als es die Beziehung zwischen Noten und einer musikalischen Darbietung ist. Wenn Hamlyn daher fortfährt: „Wenn Propositionen und Tatsachen verschiedene Arten von Entitäten sind, dann scheint es keine Möglichkeit zu geben, beide miteinander zu vergleichen, um sicher herauszufinden, was wahr ist“ (S. 198), so scheint dies angesichts des Fehlens weiterer Argumente voreilig. Heutzutage folgen Wissenschaftstheoretiker im Allgemeinen der Ansicht Pierre Duhems und vertreten die Auffassung, dass theoretische Aussagen niemals isoliert, d. h. ohne andere theoretische Aussagen ins Spiel zu bringen, auf ihre Wahrheit hin untersucht werden können. Zugleich sind sie im Allgemeinen der Meinung, dass alle empirischen Thesen auch theoretische Aussagen beinhalten. Verbindet man diese Ansichten, dann ergibt sich unmittelbar, dass jeder Versuch, ein Kriterium für tatsächliche Wahrheit mit Hilfe von Korrespondenz zu formulieren, zum Scheitern verurteilt ist.

18

Die zitierten Einwände haben gegenüber einer Korrespondenztheorie Bestand, wenn diese als ein allumfassendes Kriterium konstruiert wird, das auf Wahrheiten aller Arten und Kategorien anzuwenden ist. Eine eingeschränkte Fassung, die eine Anwendung als Kriterium nur für eine Art von Wahrheiten beansprucht – z. B. für die atomaren Aussagen in Wittgensteins Tractatus – müsste im Detail geprüft werden.

19

Die neuere philosophische Literatur weist eine umfangreiche Kontroverse über die Vorzüge und Nachteile der Korrespondenztheorie auf, die sich besonders auf deren Anspruch konzentriert, eine vollkommen befriedigende Wahrheitsdefinition zu

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

ANMERKUNGEN

liefern. Einige der wichtigsten Ansätze dieser Diskussion sind in George Pitchers Sammelband mit dem Titel Truth (Englewood Clifss [N. 1964]) enthalten, in dem sich auch eine ausführliche Bibliographie befindet. 20

Es sollte hier angemerkt werden, dass deduktive Beweise hier keineswegs die einzige Möglichkeit sind, sondern auch materielle oder induktive Folgerungsweisen in Betracht kommen, die nur eine De-facto-Begründung der Schlussfolgerung liefern, sie aber nicht unumstößlich absichern. Es kann ebenso gut einen induktiven wie einen deduktiven Intuitionismus geben.

21

Es ist Schlick selbst, der auf absoluter Gewissheit besteht. Seinen Aufsatz „The Foundations of Knowledge“, in: A. J. Ayer (Hrsg.): Logical Positivism, Glencoe (Minn.) 1959, S. 109–117. [Dtsch. „Über das Fundament der Erkenntnis“, in: Moritz Schlick, Gesammelte Aufsätze, Hildesheim 1969, S. 290–310 (reprographischer Nachdruck der Ausgabe Wien 1938, hier S. 306).] Eine lebendige Schilderung der Schlick-Neurath-Kontroverse findet sich in Kap. 5 („Epistemology of Objectivity“) von I. Schefflers Science and Subjectivity, New York 1967.

22

Ebd. S. 310.

23

Ebd. S. 306.

24

B. Russell: Philosophical Essays, London 1910, S. 136.

25

Outlines of Pyrrhonism, II, 10; Übs.: R. G. Bury in der Loeb Serie. [Dtsch. Sextus Empiricus: Grandriss derpyrrhonischen Skepsis, Frankfurt 1968 (Übs. v. Malte Hassenfelder). Hier nach der deutschen Ausgabe zitiert.] Bei seiner Zurückweisung des Kriteriums argumentiert Sextus gegen die Position der Stoiker, die man bei M. Rist: Stoic Philosophy, Cambridge 1969, nachlesen kann; s. bes. Kap. 8, S. 132– 151.

26

Einige neuere Autoren sammeln sich um W. V. Quines Standard und stellen die traditionelle Unterscheidung zwischen tatsächlicher und logischer Wahrheit, die wir hier als Grundlage ansehen, ganz und gar in Frage. Eine Diskussion dieser Frage und eine Verteidigung der hier gewählten Vorgehensweise findet sich in Nicholas Rescher: The Coherence Theory of Truth, Oxford 1973, Appendix I.

27

S. A. Tarski in diesem Band, S. 140 ff.

28

Vergleiche damit die Position Tarskis: „Und insbesondere fragt es sich, ob das folgende ein vernünftiges Postulat ist: Eine annehmbare Theorie kann keine falsche

Nicholas Rescher • Philosophische Vorstellungen

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ANMERKUNGEN

Aussage enthalten (oder implizieren). Die Antwort auf die letzte Frage ist selbstverständlich negativ. Denn vor allem sind wir aufgrund unserer historischen Kenntnisse praktisch sicher, dass jede empirische Theorie, die heute als annehmbar gilt, früher oder später verworfen und durch eine andere ersetzt wird. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass die neue Theorie mit der alten unvereinbar ist, das heißt: eine Aussage impliziert, die zu einer Aussage der alten Theorie kontradiktorisch ist. Daher muss wenigstens eine der beiden Theorien falsche Aussagen enthalten, und zwar trotz der Tatsache, dass jede von ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt als annehmbar gilt. Zweitens konnte das fragliche Postulat praktisch kaum je erfüllt werden, denn wir kennen kein Kriterium der Wahrheit, das uns zu zeigen ermöglicht, dass keine Aussage einer empirischen Theorie falsch ist und werden es vermutlich nie finden. Das fragliche Postulat könnte höchstens als der Ausdruck einer idealen Grenze für immer angemessenere Theorien in einem gegebenen Forschungsbereich angesehen werden. Dieser idealen Grenze kann aber kaum ein präziser Sinn gegeben werden. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass es ein wichtiges Postulat gibt, das für annehmbare empirische Theorien vernünftigerweise aufgestellt werden kann und den Begriff der Wahrheit enthalt. Es ist mit dem bereits erörterten Postulat eng verbunden, aber erheblich schwächer. Wenn wir uns daran erinnern, dass der Begriff der Annehmbarkeit mit einem Zeitkoeffizienten versehen ist, dann können wir diesem Postulat folgende Form geben: Sobald wir imstande sind zu zeigen, dass eine empirische Theorie falsche Aussagen enthält (oder impliziert), kann sie nicht länger als annehmbar betrachtet werden.“ Tarski, in diesem Band, S. 177 f. 29

Fassen wir die Tarski-Bedingung so auf, dann ist es klar, dass jede Wahrheitstheorie – Korrespondenztheorie oder nicht – sie akzeptieren kann. „Den meisten von uns klingt ebenso Tarskis Aussage in den Ohren, dass „Es regnet“ genau dann wahr ist, wenn es regnet, wie seine Bemerkung (die ich für falsch halte, aber darauf kommt es hier nicht an), dass die Akzeptierung dieser Formulierung die Annahme einer Korrespondenztheorie der Wahrheit bedeutete (N. Goodman: „The Way the World Is“, in: The Review of Metaphysics 14 (1960) S. 46–56, hier: S. 53). „Wie schon häufig gesagt wurde, stimmen Pragmatisten und Kohärenztheoretiker mit der [Tarskischen] Formel: „Schnee ist weiß“ ist (in unserer Sprache) wahr“, weitestgehend überein (W. Sellars: Science, Perception and Reality, London 1963, S. 197).

30

Zu den rein kognitivem Sanktionen gehört (in Reihenfolge zunehmender Schwere): „zu keiner neuen Wahrheit gelangen“, „etwas Falsches behaupten“ und – am allerschlimmsten – „einen logischen Widerspruch behaupten“.

31

Das ist letzten Endes alles, worum es bei der Unterscheidung zwischen einer „angemessenen Begründung“ für etwas und der Sache selbst geht.

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

ANMERKUNGEN 32

In der vorangegangenen Kriteriendiskussion haben wir uns hauptsächlich um die Unterscheidung zwischen „P ist tatsächlich wahr“ und „Es gibt eine adäquate rationale Rechtfertigung dafür, P als wahr einzustufen“ gekümmert. Aber nun kommen wir zu einem Begriff, der sich von den beiden bisherigen unterscheidet: „Man muss bei seinen Handlungen von der Wahrheit von P ausgehen.“ Aber in diesem praktischen Bereich von (nicht-kognitiven) Handlungen und Wirkungen ist ein Rekurs auf pragmatische (oder utilitaristische) Überlegungen über mögliche Gewinne oder Verluste in der Tat notwendig.

33

Die Verschiedenheit der Ausgangspunkte innerhalb der traditionellen Kohärenztheorie wurde häufig betont. Vgl. A. C. Ewing: Idealism: A Critical Survey, London 1954, S. 195.

34

F. H. Bradley: Essays on Truth and Reality, Oxford 1914, S. 315. A. C. Ewing, der die idealistischen Auffassungen mit sehr viel Sympathie darstellt, betont „die Unmöglichkeit auf die vielleicht höchst unangemessen als Korrespondenz bezeichnete Relation zu verzichten, wenn wir eine Erklärung für Wahrheit geben wollen, die sich auf die uns bekannten Wahrheiten anwenden lässt. Die Stärke der Korrespondenztheorie beruht auf der Tatsache, dass sich ein Urteil zugleich von dem beurteilten Sachverhalt unterscheidet und doch bezüglich seiner Korrektheit davon abhängt. Welche metaphysische Position wir auch immer gegenüber dem letzten Wesen von Wissen und Wirklichkeit einnehmen, diese Tatsache müssen wir zugeben …“ (Ewing, a. a. O., S. 201).

35

Ewing, a. a. O., S. 198. Ewing gibt sich große Mühe zu zeigen, dass ein Idealist – selbst einer, der sehr zu einem kohärenzorientierten Ansatz neigt – die Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht ablehnen muss: „Es ist wahr, dass wir, wenn wir etwas wissen, reale Tatsachen wissen und nicht nur Ideen oder Propositionen, aber es ist nicht schwer, dies mit dem anderen von der Korrespondenztheorie betonten Umstand in Übereinstimmung zu bringen, dem nämlich, dass es, wenn wir etwas wissen, eine besondere Beziehung zwischen der gewussten Tatsache und einem bestimmten Merkmal unseres kognitiven Prozesses gibt, und dass es diese Beziehung ist, die unseren kognitiven Prozess von einem Irrtum unterscheidet. Was immer Wissen sonst noch ist, es muss jedenfalls auch die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit der Realität herstellen, dasselbe gilt auch für eine richtige Meinung. Dies ist es, was die Korrespondenztheorie zu Recht als den eigentlichen Zweck von Erkenntnis hervorhebt“ (ebd., S. 204).

36

Auf dem Kontinent gab es freilich noch mehr Idealisten, am bekanntesten von ihnen ist vielleicht Carlo Gentile. In seiner Rezension von Blanshards The Nature of Thought (London 1939) (veröffentlicht in Mind 53 [1944] S. 75–8;) schrieb

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ANMERKUNGEN

Ewing: „Es ist eine Generation her, dass irgendeine groß angelegte Verteidigung dessen, was ich in Ermangelung eines besseren Namens idealistische Wissenschaftstheorie nennen möchte, geschrieben worden ist, die ihrem Gegenstand so nahe steht“ (S. 75 f.). 37

Manche Idealisten hatten die Kohärenztheorie schon wieder aufgegeben. M. E. McTaggart, eine zentrale Figur im späteren britischen Idealismus, verwarf die Kohärenztheorie zugunsten der Korrespondenztheorie der Wahrheit.

38

„Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft,“ in: Erkenntnis 2 (1931/32) S. 432–465.

39

„Protokollsätze“, in: Erkenntnis 3 (1932/33). Wiederabgedruckt in: H. Schleichert: Logischer Empirismus – der Wiener Kreis, München 1975, S. 70–80 (hier insb. S. 74–76).

40

Ebd., S. 75.

41

Neuraths Auffassung wurde von M. Schlick kritisch diskutiert in dem Aussatz: „Über das Fundament der Erkenntnisse“, in: Erkenntnis 4 (1933/34) S. 79 ff. Neurath antwortete Schlick in „Radikaler Physikalismus und ‚wirkliche Welt‘“, ebd., S. 346 ff. Carnap wurde für Neuraths Position gewonnen. Eine detaillierte Darstellung der ganzen Kontroverse findet sich bei C. G. Hempel: „Zur Wahrheitstheorie des logischen Positivismus“ (in diesem Band S. 96 ff.). Der Hintergrund der Kontroverse wird skizziert von J. Joergensen in The Development of Logical Empiricism Chicago (Ill.) 19; 1; (Encyclopedia of United Science, Vol. 2 No. 9). Eine rückblickende Analyse von seinem eigenen Standpunkt aus gibt K. R. Popper in Conjectures and Refutations, London 1963, S. 267–269. S. a. R. W. Ashby: „Basic Statements“, in: P. Edwards (Hrsg.): Encyclopedia of Philosophy, Bd. 1, New York 1968, S. 231-254.

42

H. H. Joachim: Logical Studies, London 1906, S. 80.

43

„Protokollsätze“, a. a. O., S. 78 f. Und an anderer Stelle: „Ohne auf bedeutungslose Aussagen zu sehen, schreitet die einer bestimmten Zeit angemessene Einheitswissenschaft von Proposition zu Proposition fort und bringt sie in ein selbstkonsistentes System, das ein Instrument für erfolgreiche Vorhersagen und damit für das Leben ist.“ („Sociology and Physicalism“, a. a. O., S. 286.)

44

Foundations of the Social Sciences, Chicago (Ill.) 1944, S. 13.

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

ANMERKUNGEN 45

B. Blanshard: The Nature of Thought, 2 Bde. London 1939; s. bes. Kap. 25–27 in Bd. II.

46

B. Blanshard, a. a. O., S. 268; vgl. B. Russell: The Problems of Philosophy, London 1912, S. 191.

47

B. Blanshard, a. a. O., S. 260.

48

Blanshard formuliert sein Argument folgendermaßen: „Wie wir zu Beginn dieses Kapitels sahen, hat es einige sehr angesehene Philosophen gegeben, die der Ansicht waren, dass die Antwort auf die Frage: „Worin besteht der Test für Wahrheit?“, „Kohärenz“ lautet, während die Antwort auf die Frage: „Worin besteht das Wesen oder die Bedeutung von Wahrheit“, „Korrespondenz“ heißt. Diese Fragen sind einfach verschieden. Auch scheint von der Annahme der Kohärenz als Test für Wahrheit kein direkter Weg zu ihrer Annahme als Wesen der Wahrheit zu führen. Gleichwohl gibt es einen indirekten Weg. Wenn wir Kohärenz als Test akzeptieren, müssen wir sie immer verwenden. Wir müssen sie also auch zur Prüfung der Annahme verwenden, dass Wahrheit etwas anderes als Kohärenz ist. Tun wir dies aber, dann stellen wir fest, dass diese Annahme zu Inkohärenz führt und daher verworfen werden muss. Angenommen, jemand akzeptiert Kohärenz als Test, lehnt sie aber zugunsten irgendeiner Alternative als Wesen von Wahrheit ab; wir wollen z. B. unterstellen, dass diese Alternative Korrespondenz ist. Das ist, wie wir gesagt haben, inkohärent, man kann vernünftigerweise weder glauben, dass sich diese Ansicht auf Kohärenz hin testen lässt, noch dass es überhaupt einen verlässlichen Test für sie gibt. Betrachten wir die erste Alternative. Angenommen, wir konstruieren aus unserer Erfahrung ein Bild größtmöglicher Kohärenz. … Würde die bloße Tatsache, dass derartige Elemente kohärent angeordnet sind, beweisen, dass irgendetwas, ihnen genau Korrespondierendes, „außen“ existiert? Ich kann nicht sehen, wie das der Fall sein konnte, und zwar selbst dann nicht, wenn wir wüssten, dass die beiden Anordnungen einander weitgehend entsprechende Strukturen hätten. … Es ist daher unmöglich, von einem hohen Grad von Kohärenz innerhalb der Erfahrung darauf zu schließen, dass sie im gleichen hohen Maß mit irgendetwas außerhalb der Erfahrung korrespondiert. Und dies ist eine typische Schwierigkeit. Sieht man das Wesen der Wahrheit in einem Merkmal der einen Art und den Wahrheitstest in einem ganz anderen Merkmal, dann stellt man mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später fest, dass die beiden auseinanderfallen. Letztlich ist der einzige Wahrheitstest, der nicht in die Irre führt, ihr besonderes Wesen bzw. das Merkmal, das für Wahrheit konstitutiv ist.“ (Ebd., S. 267–268).

49

F. H. Bradley, a. a. O. (Anm. 34) S. 223.

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ANMERKUNGEN 50

A. R. White: „Coherence Theory of Truth“ (Stichwort), in: P. Edwards (Hrsg.): The Encyclopedia of Philosophy, Bd. 2, New York 1967, S. 130–133, bes. S. 130.

51

Ebd., S. 132 f.

52

B. Blanshard: Reason and Analysis, La Salle (Ill.) 1962.

53

Dass die Gesamtheit aller Wahrheiten konsistent ist, ist natürlich ein unter jedem vernünftigen Gesichtspunkt wesentliches Merkmal von Wahrheit: Insoweit vertritt der Kohärenztheoretiker keine besondere Position. Die folgenden Bemerkungen Tarskis sind aufschlussreich: „Ich glaube, jedermann gibt zu, dass einer der Gründe, die uns zwingen, eine empirische Theorie zu verwerfen, der Beweis ihrer Inkonsistenz ist: Eine Theorie wird unhaltbar, wenn wir imstande sind, aus ihr zwei kontradiktorische Aussagen abzuleiten. Nun können wir uns fragen, welches die üblichen Motive sind, eine Theorie aus solchen Gründen zu verwerfen. Wer die moderne Logik kennt, wird dazu neigen, die Frage in der folgenden Weise zu beantworten: Ein wohlbekanntes logisches Gesetz zeigt, dass eine Theorie, die es gestattet, zwei kontradiktorische Aussagen aus ihr abzuleiten, uns ermöglicht, jede Aussage aus ihr abzuleiten. Deshalb ist eine solche Theorie trivial und verliert jedes wissenschaftliche Interesse. Ich habe Zweifel, ob diese Antwort eine angemessene Analyse der Situation ist. Ich glaube, dass Leute, die die moderne Logik nicht kennen, so wenig geneigt sind, eine inkonsistente Theorie anzunehmen, wie diejenigen, die vollständig mit ihr vertraut sind. Und vermutlich gilt das sogar für diejenigen, die (wie das manche noch tun) das logische Gesetz, auf dem das Argument beruht, als eine höchst kontroverse Streitfrage und beinahe als ein Paradox ansehen. Ich glaube nicht einmal, dass sich unsere Haltung gegenüber einer inkonsistenten Theorie ändern würde, wenn wir uns aus mancherlei Gründen entschließen würden, unser System der Logik so abzuschwächen, dass wir uns der Möglichkeit berauben, aus zwei kontradiktorischen Aussagen jede Aussage abzuleiten. Es scheint mir, dass der wirkliche Grund unserer Haltung ein anderer ist: Wir wissen (wenn auch nur intuitiv), dass eine inkonsistente Theorie falsche Aussagen enthalten muss. Und wir sind nicht bereit, eine Theorie als annehmbar anzusehen, von der gezeigt Worden ist, dass sie solche Aussagen enthält.“ (In diesem Band S. 178).

54

So sagt H. H. Price ganz schlicht, dass „Anhänger der Kohärenztheorie diesen Ausdruck nicht selbst definieren“ (Perception, New York 1933, S. 183). Dieses Urteil ist, wie wir sehen werden, viel zu hart, wäre es allerdings nicht mehr, wenn man dem Satz von Price ein „befriedigend“ einfügen würde.

55

Passmore: A Hundred Years of Philosophy, Middlesex, 1966, S. 167–178.

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DIE KRITERIEN DER WAHRHEIT

ANMERKUNGEN 56

Vgl. H. H. Joachims These, dass „das Ausmaß, in dem ein System Selbstkohärenz besitzt, davon abhängt, (a) inwieweit jedes seiner konstitutiven Bestandteile jedes andere logisch impliziert und in ihm implizit enthalten ist; und (b) inwieweit die wechselseitigen Implikationen der konstitutiven Bestandteile oder genauer: die konstitutiven Bestandteile in ihren wechselseitigen Implikationen, allein und vollständig für die Bedeutung des Systems konstitutiv sind“ („Absolute and Relative Truth“, in: Mind 14 (1905) S. 9).

57

Die vollkommen richtige Feststellung, dass sich „die ganze Wahrheit“ niemals in einer einzigen Aussage formulieren lässt, ist nicht gleichbedeutend mit der paradoxen These, dass eine einzelne Aussage nicht etwas vollständig Wahres enthalten kann.

58

The Nature of Thought, S. 264. Blanshard führt mit der Bemerkung fort: „Vielleicht sind solche Systeme wie die Euklidsche Geometrie die besten jemals konstruierten Beispiele für Kohärenz. Wenn irgendeine Proposition fehlte, könnte sie aus dem Rest ergänzt werden; würde irgendeine geändert, so würde sich das überall im System auswirken. Aber selbst ein solches System ist noch nicht ideal. Seine Axiome sind unbewiesen; sie sind in dem Sinne voneinander unabhängig, dass keines von ihnen aus einem oder auch allen anderen abgeleitet werden kann; seine deutliche Notwendigkeit ergibt sich aus einer so extremen Abstraktheit, dass es praktisch keins der Merkmale mehr aufweist, die zum Wesen tatsächlicher Dinge gehören. Ein vollständig befriedigendes System hätte keinen dieser Mängel. Keine Proposition wäre zufällig, jede wäre in der Gesamtheit der übrigen sogar in jeder einzelnen anderen enthalten, keine Proposition stünde außerhalb des Systems“ (ebd., S. 265 f.). (Ich habe den Text einer Fußnote Blanshards weggelassen, in der er H. H. Joachim [Logical Studies, Oxford 1948] als Anhänger der gleichen Ansicht zitiert.)

59

London 1934.

60

A. C. Ewing, a. a. O. (Anm. 53) S. 253 f.

61

Als Motivation für diese Definition und besonders für ihren zweiten Teil gibt Ewing Folgendes an: „Der einfachste Weg zum Verständnis der Bedeutung von Kohärenz besteht in der Betrachtung jener Fülle, in denen das Ideal der Kohärenz zugegebenermaßen verwirklicht oder doch fast verwirklicht ist, wenn auch nur in einem beschränkten Bereich. Solche Fälle gibt es in den mathematischen Wissenschaften und vielleicht einigen gut-verbundenen Theorien oder Lehrgebäuden außerhalb der Mathematik. Was sind die Merkmale einer derartigen Menge von Propositionen? Zunächst sind sie – sofern sie dem Ideal der Kohärenz genügen – so aufeinander bezogen, dass jede einzelne Proposition der Menge eine

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ANMERKUNGEN

logisch notwendige Folge aus der Wahrheit aller übrigen ist, es wäre logisch unmöglich für eine von ihnen, falsch zu sein; und ich war zunächst versucht, dies als Definition von Kohärenz anzusehen. Es ist jedoch ohne eine Ergänzung nicht ausreichend. Denn man stelle sich eine Menge von Propositionen A, B, C, D, E, F vor, in der wir folgende Beziehungen haben (dabei steht ent. für „enthält“): A+B ent. C, A+C ent. B, B +C ent. A, D+E ent. F, D+F ent. E, E+F ent. D. In einer solchen Menge wäre jede einzelne Proposition in den übrigen enthalten, sie würde jedoch sicherlich nicht den Ansprüchen der Kohärenztheorie genügen, wenn es nicht noch irgendeine weitere Verbindung zwischen A, B, C einerseits und D, E, F andererseits gäbe, denn nach herrschender Meinung lässt diese es nicht zu, dass mehrere verschiedene Systeme wahrer Propositionen gänzlich voneinander logisch unabhängig nebeneinander existieren können. Wir müssen unsere Definition daher ergänzen …“ (ebd., S. 22). 62

Beachte, dass diese Bedingung es unmöglich macht, dass eine kohärente Menge Elemente enthält, die logisch notwendig sind, d. h. selbst dann abgeleitet werden können, wenn überhaupt keine Prämissen da sind.

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Tatsächlich unterscheidet sich die von Ewing angegebene Bedingung etwas von dieser Formulierung, ihre Konsequenzen sind aber dieselben. Zu Einzelheiten vgl. N. Rescher: The Coherence Theory of Truth, Oxford 1973, Appendix A.

64

Zuerst erschienen in G. Skinbekk (Hg.), Wahrheitstheorien (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977). S. 337–90.

II WAHRHEIT ALS IDEALE KOHÄRENZ ÜBERBLICK (1) Vertreter einer kohärentistischen Wahrheitskriteriologie müssen in der Lage sein zu zeigen, dass Kohärenz als Kriterium mit der definitionalen Natur der Wahrheit sachgemäß übereinstimmt, denn zwischen unserem beweiskräftigen Kriterium für eine Akzeptierbarkeit-als-wahr und der „Wahrheit“, wie sie definitional bestimmt ist, sollte doch wohl eine Kontinuität bestehen. Jedes zufriedenstellende Kriterium muss so beschaffen sein, dass es uns auf die Sache selbst führt – zumindest unter hinreichend günstigen Umständen. (2) Für den Kohärentismus ist es erfreulicherweise möglich, einen strengen Beweis zu führen, dass Wahrheit gleichbedeutend ist mit idealer Kohärenz – dass die Wahrheit einer Proposition tatsächlich äquivalent ist mit ihrer optimalen Kohärenz bezüglich einer idealen Datenbasis. (3) Nimmt man an, die obengenannte Kontinuitätsforderung sei erfüllt, dann ist die traditionelle Auffassung der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Sache (adaequatio ad rem) auch für Kohärentisten zugänglich. (4) Das erwähnte Moment der Idealität bedeutet freilich, dass wir nicht behaupten können, es sei uns möglich, mit Hilfe der Kohärenz in der Praxis tatsächlich Wahrheit ohne weitere Qualifikation zu erlangen. Die auf der Grundlage des Kohärenzgedankens durchgeführten Untersuchungen gehen nur so weit, die beste uns verfügbare Schilderung der realen Wahrheit bereitzustellen.

1. DIE „KONTINUITÄTSBEDINGUNG“ ALS VERMITTLUNGSINSTANZ ZWISCHEN KRITERIUM UND DEFINITION DER WAHRHEIT

D

er übliche Einwand gegen eine Kohärenztheorie realer Wahrheit lautet, die Verbindung zwischen Kohärenz und Wahrheit sei einfach zu locker, als dass die Kohärenz einen verbindlichen Maßstab

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für „Wahrheit“ bereitstellen könnte. Wie Arthur Pap es vor einigen Jahren formulierte: Es ist durchaus denkbar, dass die Kohärenztheorie eher beschreibt, wie die Wahrheit oder Falschheit von Aussagen erkannt wird, als dass sie eine Analyse der Bedeutung von „wahr“ darstellt … Der Ansicht, dass eine gegebene Aussage kraft bestimmter logischer Beziehungen zu anderen Aussagen als wahr akzeptiert wird, könnte man zustimmen; daraus würde freilich nicht folgen, dass die Bezeichnung einer Aussage als wahr bedeutet, ihr diese Beziehungen zuzuschreiben.1 Das ist nun das gängige Bedenken gegen eine Kohärenztheorie der Wahrheit: „Sie mag geeignet sein als Kriterium der Wahrheit, aber gewiss nicht als ihre Definition.“ Das Ziel der vorliegenden Überlegungen ist es zu zeigen, dass diese Art von Einwand unhaltbar ist. Unser Thema ist also die vieldiskutierte Frage, ob sich die Tragweite der Kohärenz auf ihre mögliche Rolle als bloßes Kriterium effektiver Wahrheit beschränkt oder ob sie irgendwie der Definition der Wahrheit inhärent ist, indem sie einen wesentlichen Aspekt ihrer Natur darstellt.2 Hier soll folgende These vertreten werden: Wenn man bereit ist, Kohärenz unter der Perspektive der Idealität zu betrachten – d. h. als optimale Kohärenz mit einer vollendeten Datenbasis, und nicht als eine Sache augenscheinlicher Übereinstimmung mit den unvollkommenen Daten, die uns tatsächlich verfügbar sind –, dann zeigt sich eine wesensmäßige Verbindung zwischen Wahrheit und Kohärenz.3 Solch eine Verbindung zwischen Kriterium und Definition ist selbst für die Haltbarkeit einer bloß kriteriologischen Kohärenztheorie ausschlaggebend, weil der Nachweis der Legitimität eines Wahrheitskriteriums in der Lage sein muss, dessen Übereinstimmung mit der definitionalen Natur der Wahrheit zu gewährleisten. Ein Kriterium für irgendetwas kann sich nicht als adäquat ausweisen, wenn man nicht sicherstellen kann, dass es unter hinreichend günstigen Umständen auf die Sache selbst führt. Wir werden uns auf dieses Erfordernis, dass wahre Sätze unter idealen Umstiinden mit kriteriologisch gerechtfertigten Überzeugungen

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koextensiv sind, als auf die „Kontinuitätsbedingung“ beziehen. Einige symbolische Darstellungsmittel können bei der Erarbeitung einer präzisen Formulierung dieser Bedingung helfen: K(S/f) steht für: Die Aussage S erfüllt das Wahrheitskriterium. K unter der Voraussetzung, dass die Umstände f vorliegen. i(S) steht für: (epistemisch) ideale Umstände hinsichtlich der Aussage S. Setzt man diese Spezifikationen voraus, so lautet die Kontinuitätsbedingung wie folgt: Soll K ein adäquates Wahrheitskriterium darstellen, so muss nachweislich der Fall sein, dass für jede Behauptung S gilt: Die Wahrheit von S ist gleichbedeutend damit, dass S das Wahrheitskriterium K erfüllt unter idealen Beweisumständen hinsichtlich S, d. h. ‚S‘ ist wahr genau dann, wenn K(S/i(S)). Es ist diese Art von Forderung nach einem tief verwurzelten Zusammenhang, auf der Brand Blanshard zu Recht besteht, wenn er schreibt: „… eine ‚logische Kluft‚, die so breit ist, dass sowohl ein Kriterium als auch dasjenige, was es angeblich indiziert, in der Abwesenheit des je weils anderen vorliegen kann, bleibt mit Sicherheit hinter der Glaubwürdigkeit zurück, die für ein Kriterium erforderlich ist.“4 Dies also ist die These, die wir beweisen müssen. Um die Gültigkeit einer Kohärenzkriteriologie nachzuweisen, müssen wir zeigen können, dass Kohärenz in der Tat – wenigstens idealiter, d. h. wenn wir von den Unvollkommenheiten und dem Durcheinander der Situationen unseres wirklichen Lebens abstrahieren – die „reale Wahrheit der Dinge“ trifft. Eine Vorbemerkung hierzu. Wenn K uns als Wahrheitskriterium dienen soll, dann wollen wir sagen, dass die Erfüllung von K unter den vorherrschenden epistemischen Umständen hinreicht, um ein Für-

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wahr-Halten zu garantieren: Wenn K(S/a), dann ist ‚S‘ wahr – wobei a die tatsächlich vorliegenden Umstände sind. Die Verpflichtung auf diese Implikation folgt unmittelbar aus unserer Annahme von K als Kriterium der Wahrheit. Diese Bedingung spiegelt freilich nur unser praktisches Vorgehen, das Bestandteil unserer Anerkennung von K als Wahrheitskriterium ist: Sie drückt lediglich unsere Entschlossenheit aus, S als wahr zu akzeptieren, wenn K tatsächlich erfüllt ist. Worum es geht, ist keine Beziehung auf der Basis eines abstrakten allgemeinen Prinzips, sondern nur unsere Befolgung eines bestimmten Modus operandi. Freilich besteht die Gefahr, dass hier noch manches dazwischenkommt, können doch die tatsächlichen Umstände a weit davon entfernt sein, für S ideal zu sein. Das angesprochene „praktische Vorgehen“ läuft darauf hinaus, nach einem groben Augenmaß zu verfahren, nach dem die jeweils vorherrschenden Umstände gut genug sind – d. h., nach dem die gerade verfügbaren Daten hinreichen, um uns eine Entscheidung zu erlauben. Andererseits stellt das Kontinuitätskriterium – ‚S‘ ist wahr genau dann, wenn K(S/i(S)) – eine Beziehung dar, die aus begrifflichen Gründen erfüllt sein muss. Es muss nachweislich auf der Grundlage von „allgemeinen Prinzipien“ gelten, wenn sich die Wahrheitsbedingung K als adäquat ausweisen soll. 2. WAHRHEIT ALS IDEALE KOHÄRENZ Wir wollen sagen, dass eine Tatsachenproposition die Bedingung der „idealen Kohärenz“ erfüllt, wenn sie mit einer vollendeten (oder vollständigen) Datenbasis optimal kohärent ist. Das Wesen der „Kohärenz“ vorausgesetzt, wird sich so eine solche Proposition reibungsloser und harmonischer in diese idealisierte Datenbasis einfügen als ihre Negation (und folglich besser zu ihr passen als jede andere Proposition, die mit ihr inkompatibel ist). Die nachfolgende Darstellung wird zeigen, dass die Wahrheit, wenn ideale Kohärenz auf diese Weise konzipiert wird, nachweislich gleichbedeutend ist mit idealer Kohärenz. Es soll versucht werden zu beweisen, dass der

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Zusammenhang zwischen diesen bei den Faktoren dann in der Tat ein wesentlicher ist. Will man diese These begründen, so muss man zeigen, dass die folgenden Implikationen für alle Aussagen gelten: I.

wahr  ideal kohärent.

II. ideal kohärent  wahr. Der Gedanke der „idealen Kohärenz“, der hier am Werk ist, sollte verstanden werden im Sinne optimaler Kohärenz (c) mit einer vollendeten Datenbasis (B). Bringt man diese Abkürzungen zum Einsatz, dann ist klar, dass die beiden hier diskutierten Prinzipien jetzt folgendermaßen formuliert werden können: (I) ‚S‘ ist wahr → ‚S‘ c B. (II) ‚S‘ c B → ‚S‘ ist wahr. Man beachte, wenn das spezifisch kohärentistische Wahrheitskriterium an die Stelle des früheren allgemeinen Kriteriums K tritt, dass dann ex hypothesi ‚S‘ c B gleichbedeutend ist mit K(S/i(S)). Daher reformulieren die beiden Prinzipien lediglich die Kontinuitätsbedingung. Wenn also die Kohärenztheorie angemessen sein soll, wird man den Nachweis dieser beiden Prinzipien gerade auf das Wesen der „optimalen Kohärenz (c) mit einer vollendeten Datenbasis (B)“ gründen müssen. Um ihnen Geltung zu verschaffen, werden wir daher die hier maßgeblichen zentralen Gedanken genauer zu betrachten haben, nämlich die Begriffe der „optimalen Kohärenz“ und der „vollendeten Datenbasis“. Zunächst ein Wort über die optimale Kohärenz. Was heißt es genau, „mit einer Datenbasis in optimaler Kohärenz zu stehen“? Was alles schließt ‚S‘ c B in sich ein? Die Antwort liefern folgende beiden Bedingungssätze: 1. ‚S‘ repräsentiert ein Mitglied (irgend)einer Familie sich

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gegenseitig ausschließender und erschöpfender Alternativen: {S1, S2, S3, … , Sn}. 2. ‚S‘ ist reibungsloser mit B ko-systematisierbar, als dies bei irgendeiner der vorliegenden Alternativen der Fall ist, sei es einzeln oder in Kombination. (Man beachte, dass dies besonders heißt, ‚S‘ ist reibungsloser mit B ko-systematisierbar als ‚nichtS‘.) Um diesen zweiten Gedanken näher auszuführen, müssen wir über (irgend)eine bestimmte Familie konkreter Prinzipien kognitiver Systematisierung verfügen, die einen Maßstab systemischer Verbindung liefert, dem gemäß ‚S‘ reibungsloser mit B koordiniert ist, als dies bei irgendeiner der vorliegenden Alternativen (oder ihren Kombinationen) der Fall ist. Aber mit den Details dieses Punktes müssen wir uns hier nicht näher befassen.5 Wir wollen uns jetzt dem Gedanken einer „vollendeten Datenbasis“ zuwenden. Vollendung hat zwei Komponenten: Vollständigkeit (oder Umfassendheit) und Angemessenheit (oder Definitheit). Diese wiederum sind folgendermaßen weiterbestimmt: 1. Vollständigkeit: Die Datenbasis B ist nur dann eine vollendete Datenbasis, wenn sie hinreichend vollständig und umfassend ist, so dass für jede These ‚S‘ innerhalb des zur Diskussion stehenden Problembereichs entweder ‚S‘ selbst oder ihre Negation ‚nicht-S‘ in optimaler Kohärenz mit B steht: Wenn perf(B), dann: Entweder ‚S‘ c B oder ‚nicht-S‘ c B, für jedwede Aussage ‚S‚ des einschlägigen Bereichs. 2. Angemessenheit: B als vollendete Datenbasis anzuerkennen, heißt, B realitätsbestimmenden Status zuzuerkennen. Wir müssen also folgenden Satz bejahen: Wenn perf(B), dann: wenn ‚S‘ c B, dann R(S).

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Vollständigkeit erfordert Entscheidbarkeit; Angemessenheit erfordert Realitätsstatus. Diese Bedingungen sind im Begriff der „Vollendung“ einer Datenbasis selbst enthalten. Dies alles heißt freilich nicht, dass wir jemals eine solche vollendete Datenbasis wirklich finden können. Zweifellos können wir das nicht. Der bloße Gedanke solch einer Datenbasis stellt eine Idealisierung dar. Das oben Gesagte ist in einem strikt hypothetischen Sinne zu verstehen: „Wenn es eine vollendete Datenbasis gibt, dann muss sie ipso facto gewisse Charakteristika aufweisen.“ Genaugenommen haben wir es mit bestimmten Bedeutungspostulaten oder definitionalen Anforderungen für den Gedanken einer „vollendeten Datenbasis“ zu tun – d. h. mit bestimmten explanatorischen Vereinbarungen darüber, was das Ideal einer solchen Datenbasis (im Zusammenhang mit „optimaler Kohärenz“) einschließt. Einleitend wollen wir zunächst die tatsächliche Einzigkeit solch einer vollendeten Datenbasis im Hinblick auf optimale Kohärenz sicherstellen. Um dies zu beweisen, wollen wir annehmen, dass sowohl B1 als auch B2 der Charakterisierung einer „vollendeten Datenbasis“ entsprechen. Wir werden nachweisen: Wenn ‚S‘ c B1 dann ‚S‘ c B2, für jedwede Aussage ‚S‘. Dies wird durch das folgende Argument bewiesen: (1) Man nehme an: ‚S‘ c B1. (2) Man nehme ferner an, dass nicht gilt: ‚S‘ c B2. (3) Dann folgt ‚nicht-S‘ c B1, aus (2) aufgrund der Vollständigkeit. (4) Dann folgt R (nicht-S) aus (3) aufgrund der Angemessenheit. (5) Aber R(S) folgt aus (1) aufgrund der Angemessenheit. (6) Da sich (4) und (5) gegenseitig widersprechen unter Voraussetzung des Gesetzes vom Ausgeschlossenen Dritten, müssen

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wir Annahme (2) negieren und haben folglich: ‚S‘ c B2. Q. E. D. Die Konverse folgt natürlich gemäß genau demselben Argumentationsverlauf. Hinsichtlich der „optimalen Kohärenz“ gibt es also tatsächlich (höchstens) eine vollendete Datenbasis. Wir wollen sie weiterhin mit B bezeichnen. B ist dann per definitionem die (einzige) vollendete Datenbasis – deren Erreichbarkeit, wie bereits bemerkt, wir nicht im Sinne einer realisierbaren Tatsache behaupten können, sondern lediglich im Sinne einer Idealisierung. Aus den beiden vereinbarten Erfordernissen der Vollständigkeit und der Angemessenheit ergibt sich unmittelbar, dass B die Bedingungen erfüllen muss, die die beiden folgenden Prinzipien formulieren: (P1) Unter der Adäquatheitsbedingung gilt: Wenn der Sachverhalt ‚S‘ mit B tatsächlich in optimaler Kohärenz steht, dann muss er wirklich sein (bestehen): ‚S‘ c B → R(S). (P2) Unter der Vollständigkeitsbedingung gilt: Wenn der Sachverhalt ‚S‘ mit der vollendeten Datenbasis B nicht in optimaler Kohärenz steht, dann folgt, das ‚nicht-S‘ mit der vollendeten Datenbasis B in optimaler Kohärenz steht: Symbolisch: -(‚S‘ c B) → ‚nicht-S‘ c B. Diese beiden Prinzipien (P1) und (P2) liefern die Grundlage, auf der sich unsere beiden zentralen Implikationsthesen (I) und (II) nachweisen lassen. Sie sind alles, was wir haben; wenn sich die Aufgabe überhaupt bewältigen lässt, dann müssen sie dafür hinreichen. Bevor wir jedoch dazu übergehen, dies zu zeigen, bedarf der Gedanke der „Realität“ („Realitätsstatus“, „Faktizität“) in der Formulierung „R(S)“ näherer Erläuterung. Die Behauptung, um die es hier geht, ist die der „Übereinstimmung mit der Sache“ (adaequatio ad rem): „R(S)“ zu behaupten, heißt, die Ansicht zu vertreten, dass der Sachverhalt S ein Konstituens der realen Welt ist, dass die

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existierende Realität (teilweise) durch diesen Sachverhalt charakterisiert ist. („R(S)“ zu behaupten, heißt also in der Tat zu behaupten, dass S in der Sprache von Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus ein „bestehender Sachverhalt“ ist.) Die These, um die es bei „R(S)“ geht, ist ontologischer Art: Sie behauptet, dass sich die Dinge tatsächlich so verhalten, ob wir es nun wissen und glauben oder nicht. Und dieser ontologisch definitive Aspekt von R bedeutet, dass wir das „Gesetz vom Ausgeschlossenen Dritten“ mit Hilfe des Prinzips des „tertium non datur“ darstellen müssen: (GAD) -R(S) genau dann, wenn R(nicht-S). Der Realitätsstatus muss angesichts der Dichotomie von R(S) und R(nicht-S) zutage treten. Diese Bedingung ist axiomatisch in der Bedeutung dessen enthalten, was als „Realität“ (bzw. „Realitätsstatus“) gekennzeichnet wird. Auf dieser Grundlage können wir nun dazu übergehen, die Prinzipien (I) und (Il) nachzuweisen. Der erforderliche Beweis ist leicht zu führen. Angenommen, die Wahrheit unterliegt (gleichsam per definitionern) dem altbekannten Adäquationsprinzip (Übereinstimmung mit der Realität, adaequatio ad rem): (R) ‚s‘ ist wahr ↔ R(S). Dann ergibt sich daraus, dass das Prinzip (pt) Folgendes unmittelbar nach sich zieht: ‚S‘ c B →‚S‘ ist wahr. Damit ist für These (II) gesorgt, so dass wir die Hälfte unserer Aufgabe bereits bewältigt haben. Um These (I) zu gewinnen, wollen wir das Prinzip (PI) im Sonderfall des Sachverhalts ‚nicht-S‘ betrachten: (1) -R(nicht-S)→ -(‚nicht-S‘ c B).

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Aufgrund des Gesetzes vom Ausgeschlossenen Dritten, nämlich (GAD) R(S) ↔ -R(nicht-S) gilt nun, dass aus (1) sich ergibt (2) R(S) → -(‚nicht-S‘ c B). Unter Voraussetzung von (P2) führt dies zu R(S) → ‚S‘ c B. Unter der Annahme von (R) ergibt dies seinerseits: ‚S‘ ist wahr → ‚S‘ c B. Auf diese Weise haben wir auch für These (I) gesorgt und hiermit unsere Aufgabe abgeschlossen. Aus der resultierenden Äquivalenz von Wahrheit-als-adaequatio und idealer Kohärenz folgt, dass die Ansicht der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Realität für den Kohärentismus kein unüberwindliches Hindernis darstellt. Der wechselseitige Zusammenhang von Wahrheit und (idealisierter) Kohärenz beruht auf den allgemeinen Grundprinzipien der Sache selbst und das Kohärenzkriterium erfüllt so die entscheidende Kontinuitätsbedingung, die eine Adäquatheitsforderung für jedes vertretbare Wahrheitskriterium darstellt. Die Kontinuitätsbedingung ist erfüllt. Hinsichtlich seiner theoretischen Eignung können wir zu dem Vorschlag, Wahrheit mittels idealisierter Kohärenz zu konzipieren, nur sagen: nihil obstat. 3. KOHÄRENTISMUS UND WAHRHEIT QUA ADAEQUATIO Es bleibt noch zu zeigen, dass das „altehrwürdige Prinzip der Übereinstimmung mit der Realität, der adaequatio ad rem“ – d. h. die These (R) –, auch dem Kohärentisten zugänglich ist, der ja schließlich nicht vorschlägt, die Wahrheit auf diese Weise zu definieren, so dass

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es für ihn keine bloße Binsenweisheit darstellt (wie für den Adäquationisten). Wir müssen daher zeigen, dass diese These selbst aus kohärentistischen Prinzipien ableitbar ist, da ja davon auszugehen ist, dass diese Prinzipien nicht allein aus (P1) und (P2) bestehen, sondern auch das wahrheitsentscheidende Axiom (oder die entsprechende Definition) einschließen, das sich aus der Vereinigung von These I und II gewinnen lässt: (C) ‚S‘ ist wahr ↔ ‚S‘ c B. Man beachte, dass (P1) auf der Basis dieses Axioms ergibt: ‚S‘ ist wahr → R(S). Um die Konverse zu gewinnen, betrachte man das Prinzip (P1) im Sonderfall des Sachverhalts ‚nicht-S‘: -R(nicht-S) → -(‚nicht-S‘ c B). Nach dem Gesetz vom Ausgeschlossenen Dritten (GAD) ist darin folgendes eingeschlossen: R(S) → -(‚nicht-S‘ c B). Mit (P2) ergibt sich daraus: R(S) → ‚S‘ c B. Mit (C) folgt daraus: R(S) → ‚S‘ ist wahr. Aus diesem letzten Satz zusammen mit seiner oben abgeleiteten Konverse kann (R) gefolgert werden. Hieraus folgt, dass eine Gleichsetzung von „(realer) Wahrheit“ und Übereinstimmung mit der Sache (d. h. damit, wie die „Dinge“ sich tat-

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sächlich in der Welt verhalten) – im idealisierten Fall – auch eine implizite Konsequenz einer kohärentistischen Konzeption des Wesens der Wahrheit ist. Für den Kohärentisten besteht daher keine Notwendigkeit, auf den alten Adäquationsgedanken zu verzichten. Wenn der Kohärentist Wahrheit im Sinne idealer Kohärenz definiert, so bleibt ihm das Adäquationsprinzip (R) als Ausdruck eines zentralen Wesenszuges der Wahrheit verfügbar. Auf diesen Umstand, dass das Prinzip (R) das Wesen der Wahrheit charakterisiert, kann er ebenso zurückgreifen wie jeder andere Theoretiker. Erinnern wir uns, dass das Prinzip (R) die korrespondenztheoretische Sicht der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Sache artikuliert: (R) ‚S‘ ist wahr ↔ R(S). Andererseits verkörpert das Prinzip (C) die kohärentistische Sicht der Wahrheit (im Sinne der idealen Kohärenz): (C) ‚S‘ ist wahr ↔ ‚S‘ c B. Man beachte, dass in Abschnitt 2 gezeigt wurde: (C) ist eine Folgerung aus {(GAD), (P1), (P2), (R)}. Und in der Untersuchung zu Beginn von Abschnitt 3 wurde gezeigt: (R) ist eine Folgerung aus {(GAD), (P1), (P2), (C)}. Nimmt man diese beiden Ergebnisse zusammen, so gelangt man zu Folgendem: [(R) ↔ (C)] ist eine Folgerung aus {(GAD), (P1), (P2)}. Beachtet man die Erklärung des Begriffs der „idealen Kohärenz“, wie er in den Prinzipien (P1) und (P2) (oder gleichbedeutend damit: in den Erfordernissen der Vollständigkeit und der Angemessenheit) sich manifestiert, so stellt sich heraus, dass Adäquationismus und

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Kohärentismus eigentlich genau aufeinander abgestimmt sind. Die kohärentistische Kriteriologie der Wahrheit kann in die adäquationistische Sicht der Wahrheit genauso integriert werden wie der Adäquationsgedanke in die kohärentistische Perspektive. Die beiden Positionen können miteinander (unter vernünftigen Voraussetzungen) als schlichtweg äquivalent verknüpft werden. Auf diese Weise ist das zentrale Problem von Abschnitt 1 gelöst. Die obigen Überlegungen deuten an, dass das kohärentistische Kriterium der Wahrheit als optimale Systematisierung dazu geeignet ist, kraft seiner Erfüllung der Kontinuitätsbedingung als Wahrheitskriterium zu dienen. Authentische Wahrheit lässt sich essentialistisch mittels idealisierter Kohärenz charakterisieren; mutmaßliche Wahrheit lässt sich kriteriologisch mittels tatsächlich vorliegender Kohärenz charakterisieren. Hierdurch ist gleichzeitig die Kontinuität gesichert. Und das kann uns nur zum Vorteil gereichen. Brand Blanshards Insistenz auf der Kontinuitätsbedingung ist ganz und gar am Platz. Im Grunde genommen macht er Folgendes geltend: Wenn man im Ernst daran denkt, Kohärenz-mit-‚den-Daten‘ als Wahrheitskriterium zu betrachten, dann sollte man in der Lage sein, zu zeigen, dass dieses Vorhaben durch irgendeine Art von essentieller Verbindung zwischen Wahrheit und Kohärenz abgesichert ist. Er selbst formuliert das so: Wenn wir Kohärenz als unser Prüfungsverfahren akzeptieren, dann müssen wir es überall anwenden. Wir müssen es daher anwenden, um den Vorschlag zu überprüfen, dass die Wahrheit etwas anderes ist als Kohärenz. Wenn wir das jedoch tun, werden wir herausfinden, dass wir den Vorschlag zurückweisen müssen, weil er zu Inkohärenz führt.6 Der Kernpunkt ist hier gut erfasst. Eine Definition oder Interpretation der Wahrheit, die dieser Bedingung nicht genügt, würde eben hierdurch ihre eigene Unangernessenheit manifestieren. Indem die vorgetragenen Überlegungen zeigen, dass das kohärentistische Wahrheitskriterium die Kontinuitätsbedingung erfüllen kann, gelingt es ihnen daher zugleich, einen der wichtigsten traditionellen Vorbehalte gegen die Akzeptierbarkeit des

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Kohärentismus zu entkräften. 4. NACHTRAG: DIE KLUFT ZWISCHEN WIRKLICHKEIT UND IDEAL Ein zentrales Problem bleibt freilich offen. Angenommen, die „reale Wahrheit“ lässt sich nur durch ideale Kohärenz sicherstellen – durch optimale Kohärenz mit einer vollendeten Datenbasis, die wir nicht haben, und nicht durch vermeintliche Kohärenz mit der suboptimalen Datenbasis, über die wir verfügen –, dann besitzen wir keine apodiktische Gewissheit über die tatsächliche Korrektheit unserer kohärenz-geleiteten Untersuchungen und keine schlichte Garantie dafür, dass ihre Ergebnisse uns die .,reale Wahrheit“ liefern, um die es uns in unserer empirischen Forschung geht. Ganz im Gegenteil: Die Geschichte der Wissenschaft zeigt, dass unsere durch den wissenschaftlichen Kohärentismus gewonnenen „Entdeckungen“ über den Zusammenhang der Dinge in der Welt ständig der Anpassung, Korrektur und Ergänzung bedürfen. Wir können nicht sagen, dass uns unsere auf Kohärenz gegründeten induktiven Untersuchungen die reale (endgültige) Wahrheit liefern, sondern lediglich, dass sie uns die beste Schätzung der Wahrheit liefern, die wir unter den gegebenen Umständen erlangen können. Endgültiges Wissen im – Gegensatz zu „bloß mutmaßlichem“ Wissen – ist die Frucht vollendeter Forschung. Nur hier, d. h. auf der idealisierten Ebene vollendeter Wissenschaft, könnten wir damit rechnen, die reale Wahrheit über die Welt sicherzustellen, die nach der traditionellen Formulierung „mit der Realität übereinstimmt“. Wirkliches Wissen auf der uns erreichbaren Ebene der Allgemeinheit und Genauigkeit wissenschaftlicher Theoriebildung ist mit einem vollkommenen Kreis vergleichbar. Was immer wir auch versuchen, ihn herzustellen wird uns niemals ganz gelingen. Wir tun unser Bestes und nennen das Ergebnis Erkenntnis – genauso wie wir den sorgfältig gezogenen „Kreis“ auf der Tafel einen Kreis nennen. Aber gleichsam in unserem Innersten ist uns klar, dass das, was wir gewöhnlich wissenschaftliche Erkenntnis nennen, ebensowenig authentische (vollendete) Erkenntnis ist, wie das, was wir in geometrischen Darstellungen einen Kreis nennen, ein authentischer (vollendeter)

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Kreis ist. Unsere „Erkenntnis“ ist in solchen Fällen nicht mehr als unsere beste Schätzung der Wahrheit der Dinge. Da wir nicht im Genuss eines göttlichen Blickwinkels sind, haben wir zu den Tatsachen der Welt keinen anderen Zugang als durch die Vermittlung (möglicherweise fehlerhafter) Forschung. Alles, was wir tun können – und das muss uns genügen, weil es in der Tat alles ist, was wir tun können –, ist, uns auf dem gegebenen Erkenntnisstand so gut wie möglich zu bemühen, die „korrekte“ Antwort auf unsere wissenschaftlichen Fragen anzupeilen. Unter den subidealen Umständen des wirklichen Lebens wird die mutmaßliche von der gesicherten Wahrheit in der Tat durch eine offensichtliche Kluft getrennt. Nimmt man jedoch eine angemessene Kriteriologie der Wahrheit an, so schließt sich diese Kluft unter idealen Umständen. In der Kontinuitätsbedingung drückt sich die Tatsache aus, dass Forschung auf Wahrheit abzielt– dass die reale Wahrheit Endziel und letztes Anliegen des Unternehmens Wissenschaft ist. Der Umstand, dass wir in der Praxis unseres wissenschaftlichen Kohärentismus nicht die wirkliche Wahrheit als solche erreichen, sondern nur ihre beste Schätzung, spiegelt die Tatsache wider, dass wir diesem kognitiven Vorhaben mitten unter den harten Realitäten und Komplexitäten einer unvollkommenen Welt nachgehen müssen. Wenn wir über die Wahrheit unserer wissenschaftlichen Behauptungen nachdenken, so müssen wir hier wie auch auf allen anderen Gebieten anerkennen, dass zwischen Ideal und Wirklichkeit eine Kluft besteht.7 ANMERKUNGEN 1

Arthur Pap, Elements of Analytic Philosophy (New York, 1949), S. 356.

2

Die Dichotomie zwischen Kriterium und Definition war der Ausgangspunkt meines Buches The Coherence Theory of Truth, (Oxford, 1973). Sie lieferte ebenso den Angelpunkt der Kritik am Kohärentismus von Blanshards The Nature of Thought, die ich veröffentlichte in: Schilpp, R. A. (Hrsg.): The Philosophy of Brand Blanshard, (La Salle, 1980). Verschiedene nachfolgende Publikationen sorgten dafür, dass die Diskussion nicht abriss. Vgl. besonders Palmer, Scott D.: „Blanshard, Rescher, and the Coherence Theory of Truth.“ In: Idealistic Studies,

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ANMERKUNGEN

Bd. 12 (1982), S. 211–230, und Lehe, Robert T.: „Coherence-Criterion and Norme of Truth,“ Ebd., Bd. 13 (1983), S. 177–189. 3

In diesem Punkt habe ich meine Ansicht geändert, und zwar vor allem dank der anregenden Diskussionen während des akademischen Jahres 1983/84 mit Professor Lorenz Bruno Punte von der Universität München.

4

Brand Blanshard, „Reply to Nicholas Rescher.“ In: op. cit., S. 589–600 (vgl. 5.596).

5

Eine weitere Entfaltung dieser Gedanken findet sich in den Büchern des Autors The Coherence Theory of Truth, Oxford 1973, und Cognitive Systematization, Oxford 1979.

6

Brand Blanshard, The Nature of Thought, 2 Bde., London, 1939, Bd. 2, S. 26–71.

7

Zuerst erschienen in Lorenz Puntel (Hg.), Der Wahrheitsbegriff (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgessellschaft, 1987), S. 284–97.

WISSENSCHAFT

III WIE IST NATURWISSENSCHAFT MÖGLICH? GRUNDZÜGE EINES NATURALISTISCHEN IDEALISMUS 1. WIE IST PHYSIK MÖGLICH?

W

ie ist Naturwissenschaft – und im besonderen Physik – überhaupt möglich? Wie kommt es, dass es uns Menschen – nur Staubkörnchen im Weltall – gelingt, die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln und zu ihren Gesetzen verstandesmäßig Zugang zu finden? Und wie kommt es, dass unsere Mathematik – scheinbar eine freie Schöpfung menschlicher Erfindungskraft – benutzt werden kann, um den Modus Operandi der Natur mit geradezu unheimlicher Leistungsfähigkeit und Genauigkeit zu beschreiben? Wie kommt es, dass die gesetzmäßige Ordnung der Natur für uns mit Begriffsmitteln erschließbar ist, die wir selbst erdacht haben?1 Wir haben es hier mit der großen Entdeckung des Pythagoras zu tun: dass „Dinge Zahlen“ sind, dass die Verhältnisse und Verfahren unserer Umwelt (wie die harmonischen Intervalle im Bereich der Akustik) in mathematischer Sprache artikuliert werden können. Wir kehren also zurück zum Pythagoreischen Mysterium und zu den Betrachtungen in Platons „Timaios“, die den Quellgrund einer Tradition von mathematisierender Kosmologie bilden, welche in kontinuierlichem Fluss von der Astrologie zur Astronomie führt – mit Kepler als einer bemerkenswerten Übergangserscheinung. Es ist anzumerken, dass diese Frage der kognitiven Zugänglichkeit und mathematischen Fassbarkeit der Naturgesetze ihre beunruhigende Brisanz erst entfaltete, als die „scientific community“ von der Gott-isttot-Idee beeinflusst wurde. Solange man die Welt als Produkt der schöpferischen Aktivität eines auf mathematischer Grundlage arbeitenden Verstandes betrachtete, als das Werk eines Schöpfers, der beim Entwerfen der Natur more geometrico verfährt, solange war die

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ganze Angelegenheit unproblematisch. Gott stattet die Natur mit mathematisch geordneten Strukturen aus und den menschlichen Verstand mit einer genau darauf abgestimmten Fähigkeit zu mathematischem Denken. Wie Natur und Verstand sich vereinbaren lassen, bereitet so keine Schwierigkeiten. Gott richtet es einfach in dieser Weise ein. Wenn aber das das Erklärungsprinzip für die Erfassbarkeit der Naturgesetze ist, dann freilich verschwindet zugleich mit der Absage auf Gott auch unsere Erklärungsgrundlage für die Erkennbarkeit der Natur. Einige der größten Denker unserer Zeit halten diesen Verlust für endgültig. Wissenschaftler und Philosophen allerersten Ranges bekräftigen heute oft und ohne Zögern, dass wir nicht hoffen können, das Rätsel um die mathematische Erkennbarkeit der Natur überhaupt zu lösen. Erwin Schroedinger charakterisiert den Umstand, dass der Mensch die Gesetze der Natur entdecken kann, als ein „Wunder, das möglicherweise jenseits des menschlichen Fassungsvermögens liegt“2. Eugene Wigner stellt fest, dass „die enorme Nützlichkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften etwas ist, das ans Mysteriöse grenzt, und dass es keine rationale Erklärung dafür gibt“3, ja, mit einem unerwarteten Sinn fürs Lyrische steigert er sich zu der Behauptung: „Das Wunder, das sich die mathematische Sprache zur Formulierung physikalischer Gesetze eignet, ist ein herrliches Geschenk, das wir weder verstehen noch verdienen.“4 Sogar Albert Einstein stand tief beeindruckt vor diesem Problem. In einem Brief, den er 1952 an Maurice Solovine, einem alten Freund seiner Berner Zeit, schrieb, heißt es: „Du findest es seltsam, dass ich die Erkennbarkeit der Welt – in dem Maße, in dem wir berechtigt sind, von solch einer Erkennbarkeit zu sprechen – als ein Wunder oder ewiges Geheimnis betrachte. Nun, apriori sollte man erwarten, dass die Welt nur in dem Ausmaß Gesetzmäßigkeiten aufzustellen erlaubt, in dem wir mit unserem ordnenden Verstand Eingriffe vornehmen … (Aber) die Art der Ordnung, die beispielsweise die Gravitationstheorie Newtons errichtet, ist von gänzlich anderem Charakter. Auch wenn die Axiome der Theorie von Menschen gesetzt sind – der Erfolg des Unternehmens basiert auf einem hohen Grad an Regelhaftigkeit in den objektiven Weltverläufen, den wir apriori in keiner Weise zu erwarten berechtigt sind. Das ist das Wunder, das mit der Entwicklung unseres

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Wissens mehr und mehr zum Tragen kommt … Das Seltsame ist, dass wir uns damit zufrieden geben müssen, das ‚Wunder‘ anzuerkennen, ohne dass wir über eine legitime Methode verfügten, dahinter zu sehen …“5 Gemäß all diesen Theoretikern stehen wir hier vor einem echten Geheimnis. Wir müssen akzeptieren, dass die Natur intelligibel ist, haben aber keine Aussicht, je verstehen zu können, warum dies so ist. Das Problem einer Erfassbarkeit der Natur durch die mathematisch formulierten Theoriebildungen des Menschen gilt als unüberwindlich, als hoffnungslos unlösbar. Alle drei genannten, berühmten Nobelpreisträger für Physik verwenden ohne Scheu das Wort „Wunder“ in diesem Zusammenhang. Vielleicht ist aber die Frage geradezu illegitim und sollte überhaupt nicht gestellt werden. Vielleicht ist das Thema der Erkennbarkeit der Natur nur grundsätzlich jeder vernünftigen Behandlung unzugänglich, indem es in gewissem Sinn auf einer falschen Voraussetzung beruht. Denn nach einer Erklärung dafür zu suchen, warum naturwissenschaftliches Forschen Erfolg hat, setzt voraus, dass es einen Erklärungsgrund für diesen Sachverhalt tatsächlich gibt. Wenn aber dieser Umstand als reiner Zufall betrachtet werden muss, dann kann es kein solches Erklärungsprinzip geben. Eben diesem Gedankengang folgt Karl Popper, wenn er schreibt: „Doch selbst wenn wir annehmen (und das tue ich), unsere Erkenntnissuche sei bisher sehr erfolgreich gewesen, wir wüssten jetzt etwas über die Welt, dann ist dieser Erfolg unbegreiflich unwahrscheinlich und daher unerklärlich; die Berufung auf eine endlose Folge unwahrscheinlicher Zufälle ist keine Erklärung. (Das Beste, was wir tun können, scheint mir zu sein, die fast unglaubliche Entwicklungsgeschichte dieser Zufälle zu untersuchen …).“6 Aus dieser Sicht wird die Frage nach der Erkennbarkeit der Natur ein illegitimes Scheinproblem, eine verbotene Frucht, nach der zu greifen man vernünftigerweise nicht trachten sollte. Wir müssen uns einfach mit dieser Tatsache abfinden und einsehen, dass jeder Erklärungsversuch von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Gegenüber der großen Frage, wie Naturwissenschaft überhaupt möglich ist, bekennen sich daher einige der scharfsinnigsten zeitgenössischen Wissenschaftler ratlos und gehen unverzüglich dazu über, das Problem in die Schleier des Wundersamen und Mystischen

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zu hüllen. Solch ein Vorgehen ist freilich sehr problematisch. Ungeachtet bedeutender Gegenstimmen ist die Frage nach der Erkennbarkeit der Natur allem Anschein nach nicht nur sinnvoll und bedeutsam, sondern auch eine solche, von der wir prinzipiell hoffen dürfen, sie mehr oder weniger vernünftig beantworten zu können. Die hier unternommene Behandlung der Frage jedenfalls beruht auf der Überzeugung, dass das Thema eine gehörige Portion Entmystifizierung nötig hat und auch verdient. 2. CHARAKTERISIERUNG DES PROBLEMS Wie kommt es, dass wir unser mathematisches Instrumentarium erfolgreich zur Beschreibung der Natur einsetzen können? Weshalb trifft Mathematik auf die Wirklichkeit zu? Der reine Logiker scheint eine Antwort parat zu haben. Er sagt: „Mathematik muss auf die Realität anwendbar sein. Mathematische Propositionen sind doch begriffliche Wahrheiten. Sie sind daher in dieser Welt wahr, weil sie in jeder möglichen Welt wahr sind.“ Aber diese Antwort geht an der Sache vorbei. Zugegeben, die wahren Sätze der reinen Mathematik sind in und von jeder möglichen Welt wahr. Aber sie sind dies nur, weil sie streng hypothetisch und ohne deskriptiven Gehalt sind. Gerade ihr Status als Begriffswahrheiten besagt, dass sie für unsere Zwecke nicht herangezogen werden können. Wir beschäftigen uns doch jetzt nicht mit der apriorischen Wahrheit der reinen Mathematik und ihrem Leistungsvermögen, Vernunftwahrheiten zu formulieren. Worum es hier geht, ist vielmehr die Anwendbarkeit der Mathematik im Bereich der Erfahrungswirklichkeit, ihre zentrale Rolle bei der Aufgabe, den Rahmen für die kontingenten, aposteriorischen Wahrheiten über gesetzmäßige Abläufe abzustecken und so die Zusammenhänge der Natur für die Vernunft zugänglich zu machen. Schließlich ist es ja vollkommen klar, dass die Gültigkeit der reinen Mathematik in einer Welt nicht bedeutet, dass die Gesetze dieser Welt mit relativ einfachen mathematischen Mitteln darstellbar sein sollen. Sie bedeutet nicht, die Verfahrensweisen der Natur müssten in stimmigem Bezug zur Mathematik stehen und in einfachen, klaren, eleganten und rational einsichtigen Formeln fassbar sein. Kurz, sie bedeutet nicht, die Welt müsse mathematisch diskutierbar oder

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„mathematophil“ sein im Sinne einer Empfänglichkeit für eine Behandlung der eleganten Art, die ihr in den exakten Naturwissenschaften tatsächlich widerfährt. Wie also können wir die Tatsache begründen, dass die Welt auf die Mathematik passt und umgekehrt? Die Antwort erfordert einen etwas komplexen, doppelgleisigen Gedankengang. Der Umstand, dass X und Y sich in einem Zustand wechselseitiger Affinität und Übereinstimmung befinden (also dass Natur und Mathematik passend koordiniert sind), ist eine zweiseitige Angelegenheit, in der erwartungsgemäß beide Seiten von Belang sein werden. Wenn wir die Natur verstehen wollen, wenn es zwischen diesen beiden Bezugspartnern Einklang und Übereinstimmung geben soll, dann müssen beide Teile, sowohl die Zusammenhänge der Natur als auch die mathematische Rationalität des Menschen, kooperativ zusammenwirken. Diesen Gedankengang müssen wir näher verfolgen. Die Seite des Menschen in dieser zweiseitigen Angelegenheit ist relativ einfach zu beschreiben. Der Mensch ist in jedem Fall ein integraler Bestandteil der Natur, eingebunden in das System der Dinge als eine seiner inneren Komponenten. Daher ist der Typ von Mathematik, den er entwickelt, zwangsläufig anwendbar. Seine Erfahrung ist unvermeidlich Erfahrung von Natur. Genau das nämlich ist „Erfahrung“: unsere durch unseren Erkenntnisapparat vermittelte Reaktion auf die als Stimuli fungierenden Umwelteinflüsse. So muss wohl die Art von Mathematik, die der Mensch im Hinblick auf diese Erfahrung entwickelt, eine solche sein, die auf die Natur, so wie er sie erfährt, anwendbar ist. Die Mathematik einer in astronomischen Fernen lebenden Zivilisation dagegen, deren empirische Ausgangsbasis von unserer stark abweicht, könnte von der Mathematik, die wir kennen und lieben, fundamental verschieden sein. Der Umgang mit Quantität könnte dort gänzlich anumerisch erfolgen, z. B. rein vergleichend statt quantifizierend. Besonders wenn die äußere Umgebung dort nicht in genügendem Maße mit festen Gegenständen oder stabilen und damit messbaren Strukturen ausgestattet ist – wenn die Bewohner dieser Welt etwa quallenähnliche Geschöpfe sind, die in einer Art „BioSuppe“ herumschwimmen – so könnte die dortige „Geometrie“

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äußerst seltsam ausfallen, wohl vornehmlich auf Topologie konzentriert und eher auf flexible Strukturen eingerichtet als auf feste Größen oder Formen. Digitale Umsetzungen fehlten möglicherweise völlig, bestimmte Arten analogen Denkens andererseits könnten zu höchster Subtilität entwickelt sein. Wären ferner die extraterrestrischen Intelligenzen etwa diffuse Agglomerate von Einheiten, deren Zusammenfassung zu Ganzheiten auch Überlappungen zuließen, dann könnte ihr Denken so sehr von einer sozialen Begrifflichkeit dominiert werden, dass sie die Natur grundsätzlich unter sozialen Kategorien betrachten, so dass jene Aggregate, die wir als physikalische Strukturen denken, bei ihnen unter einer sozialen Perspektive begriffen würden. Die Art von „Strukturen“, die ihrer mathematischen Theoriebildung zugrunde läge, könnte in der Tat grundlegend von unserer eigenen abweichen. Mathematik ist zwar die Theorie der Strukturen, aber sie muss sich doch als Theorie der vorstellbaren Strukturen entwickeln. Und „vorstellbar“ bedeutet hier: vorstellbar für ein im Laufe der Naturentwicklung entstandenes und in seine natürliche Umwelt eingebundenes Lebewesen. Mathematik ist freilich nicht Naturwissenschaft, sondern eine Theorie des hypothetisch Möglichen. Doch diese Möglichkeiten sind nichtsdestoweniger Möglichkeiten, wie sie von uns erfasst werden, von Lebewesen also, die die Erfassung von Möglichkeiten mit einem evolutionär entwickelten, ihnen von Natur aus eingepflanzten Erkenntnisapparat erzeugen. Es darf uns also nicht überraschen, wenn die Art von Mathematik, die wir betreiben, eine solche ist, die sich zur menschenbegrifflichen Verarbeitung natürlichen Geschehens geeignet zeigt. Unsere kognitiven Mechanismen – die Mathematik eingeschlossen – treffen auf die Natur zu, weil sie selbst ein Produkt natürlicher Abläufe sind, wobei diese ihrerseits vermittelt sind durch die kognitiven Prozesse intelligenter Lebewesen, die ihre Intelligenz dazu benutzen, ihre Interaktionen mit der Natur, deren Teil sie selbst sind, zu steuern. Unsere Mathematik ist dazu prädestiniert, auf die Natur einigermaßen abgestimmt zu sein, weil sie selbst ein Produkt der Natur ist; also weil sie in gewisser Hinsicht unsere eigene Stellung als integrale Konstituenten der Natur widerspiegelt.

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Die kognitiven Mechanismen, die wir anwenden, wenn wir uns mit der Welt auseinandersetzen, wenn wir sensorische Interaktion in verstandesmäßig analysierbare Erfahrung umsetzen, haben neben vielen anderen Eigenschaften auch die, selbst ein Beitrag der Natur zur Anpassung eines ihr auf Gnaden oder Ungnaden ausgelieferten Lebewesens zu sein. Dass der Verstand des Menschen die Zusammenhänge der Natur begreift, ist nicht überraschender als die Tatsache, dass das Auge einen Teil der in der Natur vorkommenden Strahlung oder dass der Magen Produkte der Natur als Nahrungsmittel verarbeiten kann. Dies alles haben wir dem Selektionsdruck zu verdanken. Es könnte allerdings der Fall sein, dass unsere kognitive Anpassung nur innerhalb unserer unmittelbar nächstliegenden raumzeitlich begrenzten Umgebung gut funktioniert, innerhalb der MikroUmgebung, die unsere besondere ökologische Nische definiert. So besteht die Möglichkeit, dass wir unter einem weiteren Blickwinkel gar nicht so gut dran sind, dass wir nur einen kleinen und sehr peripheren Teil eines großen, unzugänglichen Ganzen zu fassen bekommen. Daher kann in dem einseitigen Beitrag des Menschen nicht die ganze Antwort auf die Frage nach der Erkennbarkeit der Natur liegen. Denn selbst wenn wir, gemessen an unseren eigenen evolutionär entstandenen Bedürfnissen in unserer Naturerfassung ziemlich erfolgreich sind, so könnte diese in einem umfassenderen Zusammenhang doch immer noch sehr inadäquat sein. Es bleibt also noch zu zeigen, dass die Natur selbst unseren Erkenntnisleistungen die entsprechenden Ansatzpunkte bietet, dass sie der Vernunft prinzipiell – und nicht nur so irgendwie am Rande – zugänglich ist. Um diesen Punkt zu klären, müssen wir daher dazu übergehen, den Beitrag der Natur in dem Wechselverhältnis von Natur und Geist in Sicht zu nehmen. 3. DIE SEITE DER NATUR Wenn ein intelligentes Lebewesen, das seine natürliche Umgebung erforscht und dabei auf der Grundlage physischer Interaktion mit ihr mathematisch formulierte Entwürfe und Überzeugungen entwickelt, ein einigermaßen adäquates Verständnis von ihrer Funktionsweise

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erreichen soll, dann muss auch die Natur ihrerseits in gehörigem Umfang zur Zusammenarbeit beitragen. Offensichtlich muss sie zunächst die Entwicklung intelligenter Lebewesen zulassen. Darüber hinaus muss sie diesen Lebewesen eine Umwelt bieten, die über ausreichend stabile Konstellationen verfügt, um einen „Erfahrungs“zusammenhang entstehen zu lassen und solche Lebewesen dazu zu befähigen, aus strukturierten Interaktionen geeignete Informationen zu gewinnen. Diese Überlegung hat weitreichende Implikationen. Im Hinblick auf unsere hier vorausgesetzte Zielsetzung muss gezeigt werden, dass die Mathematik nicht nur von einigem Nutzen ist, sondern dass sie für das Verständnis der Welt zwangsläufig eine äußerst wesentliche Voraussetzung darstellt. Wir müssen uns dessen versichern, dass die Anwendung von Mathematik im Bereich rationaler Forschung ein adäquates und genaues Verständnis der Naturzusammenhänge liefern kann. Wir müssen also eingehender untersuchen, wie die Natur mit den Forschungsmethoden des Verstandes in einen Dialog tritt. Der Beitrag der Natur selbst zur mathematisch artikulierbaren Naturerkenntnis muss in ihrer Strukturiertheit durch relativ einfache Gesetzmäßigkeiten bestehen, die in ihrer Regularität so leicht zu entschlüsseln sind, dass sie sogar von Lebewesen mit ziemlich bescheidenen Fähigkeiten und Mitteln gut verstanden werden können. Wie aber kann man die These rechtfertigen, dass die Natur nach relativ durchschaubaren Gesetzmäßigkeiten geordnet sein muss? Lassen sich tatsächlich stichhaltige Gründe dafür anführen, weshalb die Welt, die wir mittels unseres vom mathematischen Denken geprägten Verstandes erforschen, auf der Basis relativ einfacher und der mathematischen Analyse von sich aus zugänglicher Prinzipien operieren sollte? Hier ist der zentrale Punkt wohl der folgende: Eigentlich darf es gar nicht erstaunen, dass der mathematisierende Verstand der Erfassung der Natur so wesentliche Erfolge erzielt, denn eine Welt, in der sich ein derartiger Erkenntnisapparat überhaupt entwickelt, ist eine Welt, die der Mathematik angepasst ist. Dieser Schlussfolgerung liegt in groben Zügen etwa folgende Argumentation zugrunde: Eine Welt, in der sich durch Evolutionsprozesse Intelligenz entwickelt, muss eine solche sein, in der diese Intelligenz den intelligenten Einwohner einen (zumindest bescheidenen)

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Evolutionsvorteil einbringen muss. Intelligenz muss für diejenigen, die darüber verfügen, ein „Selektionsplus“ darstellen. Auch die niedrigsten Lebewesen, die nur höchst rudimentäre Vorstufen von Intelligenz besitzen (Schnecken und Algen zum Beispiel), müssen sich so verhalten, dass bestimmte Reiztypen (Muster sich wiederholender, definiert strukturierter Umwelteinflüsse) angemessen korrespondierende Reaktionstypen hervorrufen. Mit anderen Worten: Solche Lebewesen müssen ein Reizmuster in ihrer Umwelt als solches isolieren und darauf in einer Weise reagieren können, die sie bei der Selektion begünstigt. Aber dies bedeutet, dass die Natur auf eine ganz bestimmte Art „kooperativ“ ist, dass sie genügend gleichförmig, regelhaft und strukturiert sein muss, dass es auf Umweltereignisse „angemessene“ und „lernbare“ Reaktionen geben kann. Es muss also strukturierte Ereignismuster in der Natur geben, die schon die einfachsten Lebewesen in der Ausstattung ihres Umweltapparates und in ihrem Modus Operandi widerspiegeln können. Die Welt muss also problemlos lernbare Muster von Ereignisablauf-Strukturen beinhalten, das heißt relativ einfache Gesetzmäßigkeiten. Die Existenz solcher lernbaren Strukturiertheiten von natürlichen Vorkommnissen bedeutet, dass Mathematik, die letztlich die abstrakte und systematische Theorie der Strukturen im Allgemeinen ist, eine nützliche Funktion haben muss. Und so können wir schließen, dass eine Welt, in der sich mittels evolutionärer Prozesse Intelligenz entwickeln kann, eine solche sein muss, die einem an mathematischen Begriffen orientierten Verständnis zugänglich ist.7 Eine Welt, in der evolutionäre Prozesse hochgradige Intelligenz hervorbringen, muss eine hochgradig intelligible Welt sein. Es liegt im Wesen der Evolution, dass eine Welt, in der mathematisierendes Denken überhaupt auftaucht, angesichts des damit verbundenen notwendigen Selektionsvorteils eine Welt sein muss, in der dieses Denken imstande ist, die Welt mathematisch zu verstehen. Die Existenz intelligenter Lebewesen mag für sich und als solche erstaunlich sein oder nicht; aber sobald es sie einmal gibt und sobald wir einsehen, dass es sie dank des Verlaufs der Evolution gibt, darf es nicht länger erstaunlich sein, dass ihren Bemühungen, die Welt in der Sprache der Mathematik zu beschreiben, ein substanzieller Erfolg beschieden ist. Eine Welt, in der Lebewesen mit hochgradiger

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Intelligenz entstehen können, muss eine sein, deren Gesetzesstrukturen eine leistungsfähige Beschreibung mit mathematischen Mitteln ermöglichen und herausfordern. Ein weiteres wichtiges Problem lauert noch im Hintergrund: Wie gut versteht unsere Naturwissenschaft die Welt wirklich? Kommt sie nicht nur zu mutmaßlichen, sondern auch zu echten Naturgesetzen? Das freilich ist eine Frage, die nicht als solche beantwortet werden kann. Denn wir haben keinerlei direkten Zugang zur Natur-an-sich, um diese mit der aus unseren Untersuchungen resultierenden mutmaßlichen Natur zu vergleichen – um unsere als solche behaupteten „Naturgesetze“ mit ihren realen Gegenstücken zu konfrontieren. Alles, was wir tun können, ist, die Adäquatheit unserer Theoriebildung am Grad ihrer Leistungsfähigkeit zu überprüfen, an ihrer Eignung, uns Vorhersagen und kontrollierte Eingriffe zu erlauben. Und freilich sind wir unter diesen pragmatischen Hinsichten zu hinlänglich guten Leistungen prädestiniert. Jene mutmaßlichen Gesetzmäßigkeiten wären eben nicht Bestandteile unseres naturwissenschaftlichen Kanons, wenn sie uns nicht unter diesen Rücksichten in recht guter Weise dienlich wären. (Dies ist der Ort, wo die rationale Selektion ins Spiel kommt.) Es ist effektiv unvermeidlich, dass wir den Eindruck gewinnen, unsere Wissenschaft bilde die Natur relativ adäquat ab. Jene Theorien, die nach dem als „naturwissenschaftliche Methode“ bezeichneten Verfahren gewonnen und bestätigt werden, gehörten doch gar nicht zum Corpus unserer Naturwissenschaft, wenn sie bei uns nicht diesen Eindruck hinterließen. Wenn wir über den „Erfolg der mathematisch formulierten Naturbeschreibung“ reden, so spielen wir mit gezinkten Karten. Denn (1) muss solch ein Erfolg im Sinne eines wahrgenommenen Erfolges konzipiert werden und (2) entstammt diese Erfolgswahrnehmung demselben (biologischen und kognitiven) Evolutionsprozess, der auch der für uns spezifischen Art von Naturverständnis zugrunde liegt. Der Erfolg der Mathematik bei der Beschreibung der Natur ist so in keiner Weise erstaunlich. Dass sich intelligente Lebewesen überhaupt entwickeln konnten, mag Verwunderung hervorrufen oder nicht. Aber dass sie, einmal im Laufe der Evolution in Erscheinung getreten, erfolgreich sein würden bei dem Vorhaben, die Natur in

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mathematischen Beziehungen zu erfassen, ist nur zu erwarten. Eine Welt, in der sich Intelligenz zeigt, deren Lebewesen zu ihrer Intelligenz durch evolutionäre Mechanismen gelangen, muss für ein Verständnis nach mathematischen Begriffen im Wesentlichen offen sein. Man darf dabei nicht übersehen, dass der hier vorgeführte Argumentationsgang von strikt hypothetischem Charakter ist. Es wird nicht (kategorisch) behauptet, dass die Welt, um eine elegante mathematische Darstellung ihrer Verfahrensweisen zu ermöglichen, einfach genug sein muss und damit Punktum. Es wird vielmehr die streng konditionale These behauptet: Wenn intelligente Lebewesen im Laufe evolutionären Geschehens in der Welt auftauchen, dann muss die Welt mathematophil sein. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass diese konditionale Form der These doch für unsere Zielsetzung völlig ausreicht; denn wir haben es mit der Antwort auf die Frage zu tun, weshalb wir Menschen, wir intelligenten Lebewesen, die Welt in der Sprache unserer Mathematik verstehen können sollten. Und die genannte konditionale Form genügt, um diese Aufgabe zu erfüllen. 4. SYNTHESIS Lassen Sie mich nun kurz innehalten, um die einzelnen Stücke zusammenzufügen. Die allgemeine Frage nach der Erkennbarkeit der Natur hat zwei Richtungen: I. Warum ist der Verstand so gut auf die Natur abgestimmt? II. Warum ist die Natur so gut auf den Verstand abgestimmt? In der Erörterung dieser Fragen wurde die Ansicht vertreten, dass ihre Beantwortung gar nicht so schwierig ist – zumindest auf der Ebene einer schematischen Charakterisierung. Der Verstand muss an die Natur angepasst sein, weil er ein Produkt evolutionärer Abläufe ist. Und die Natur muss durch den Verstand erfassbar sein, weil dies allererst die Ausbildung von Verstand überhaupt ermöglicht. Wenn Natur und Verstand zu weit ab von jeder Übereinstimmung wären, wenn der menschliche Erkenntnisapparat zu „unintelligent“

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wäre, um die vielschichtigen Zusammenhänge der Natur zu begreifen, oder die Natur zu komplex für die Fähigkeiten des Verstandes, dann könnten beide eben nicht auf Takt kommen. Es wäre wie der Versuch, Shakespeare in ein Pidgin-Englisch mit einem Vokabular von 500 Wörtern umzuschreiben – zu Vieles und zu Wesentliches ginge da verloren. Es wäre wie der Versuch, ein System mit zehn relevanten Freiheitsgraden in einem Modell darzustellen, das nur über vier von diesen verfügen kann. Wenn es sich wirklich so verhielte wie in diesen Fällen, könnte der menschliche Erkenntnisapparat seine evolutionäre Mission nicht erfüllen. Die Lösung unseres Problems wurzelt also in der Kombination zweier Überlegungen: (1) Eine Welt, die im Zuge der Evolution eine relativ potente Form von Intelligenz auftreten lässt, muss relativ regelmäßig und einfach strukturiert, das heißt mathematophil sein. (2) Wie eine hinlänglich potente Form von Intelligenz eine derartige Welt mittels mathematisch-naturwissenschaftlicher Theoriebildungen begreifen kann, ist dementsprechend durch die Tatsache zu erklären, dass im Hinblick auf die Evolution Verstand und verstandesmäßige Erfassbarkeit in signifikanter Weise koordiniert sein müssen. 5. EIN RESTPUNKT Diese Überlegungen betreffen ein weiteres Problem bezüglich der Erkennbarkeit der Natur. Denn sie lassen die Schlüsselfrage noch unberührt: Warum haben sich in der Natur überhaupt verstandesbegabte Wesen entwickelt? Wie kommt es, dass die Welt der Schauplatz forschender Intelligenz ist? Dies ist eine noch problembeladenere Frage als die soeben angesprochene – und in der Tat eine sehr alte. In Tabelle I findet sich eine einigermaßen vollständige Liste der verschiedenen Antworten, die dazu vorgeschlagen wurden. Die teleologische Antwort klingt besonders verführerisch. Sie schreibt der Natur eine bestimmte Neigung zur Ausbildung von Geistigkeit zu, einen inneren Antrieb zur Ermöglichung von Erkenntnisvollzügen. Sie stützt sich auf die Grundtendenz der Natur zur Selbstreproduktion (conatus se replicandi ähnlich dem conatus se praeservandi, der Selbsterhaltung). Die Natur, als ein Ganzes

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genommen, kann dies freilich nicht bewerkstelligen – es sei denn durch die Hervorbringung von Lebewesen, die Gedankenmodelle, nicht physische, aber begriffliche Abbildungen von ihr schaffen. So kommt die Natur dazu, Lebewesen hervorzubringen, die, wie Leibniz’ Monaden, die Fähigkeit besitzen, die Welt in einem gewissen Grade verstandesmäßig „widerzuspiegeln“. Die Welt verkörpert demnach eine von sich aus auf Geist hin abzielende Bewegung. Die Natur hat – in bester Tradition Hegelschen Denkens – ein inneres Bestreben, sich selbst als Gedanke zu verwirklichen. Die wahre Erklärung – die evolutionstheoretische Antwort – ist weitaus prosaischer, nüchterner und unromantischer. Sie beginnt mit der Feststellung, dass es viele verschiedene Wege gibt, mit der Natur sein Auskommen zu finden, dass den biologischen Arten diverse Wege geboten sind, um sich in der Natur zu behaupten: Erzeugung zahlreicher Nachkommenschaft, Widerstandsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Isolation etc. Unter diesen Marschrouten erweist sich aber eine als besonders aussichtsreich: diejenige, die darauf ausgeht, Intelligenz auszubilden, sich dadurch anzupassen, dass Gehirnkapazitäten statt Muskelkapazitäten oder erhöhter Reproduktionsfähigkeiten zum Einsatz kommen. Wie schon Meister Darwin selbst betonte, hat die Art, die Zusammenhänge ihrer Umgebung am besten erfasst, einen Selektionsvorteil: Die Art, die ihren Weg durch den Darwinschen Konkurrenzkampf nicht durch reine Zähigkeit macht, nicht nur mit Klauen und Zähnen, sondern mit Intelligenz, findet eine vielversprechende ökologische Nische. Sobald sich das Leben entwickelt und unter der Schutzherrschaft der fruchtbaren Mutter Natur darangeht, verschiedene Fortpflanzungsstrategien auszukundschaften, ist es nur natürlich, dass sich Intelligenz entwickelt. Kurz und gut: Intelligenz tritt auf, weil sie für die Lösung des Überlebensproblems ein wirksames Instrument darstellt. Intelligenz entwickelt sich nicht deshalb, weil die Natur dies begünstigt, sondern weil Intelligenz das Überleben derer, die sie besitzen, innerhalb der Natur begünstigt (auf alle Fälle bis zu einem bestimmten Punkt).

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TABELLE I Weshalb hat sich in der Natur überhaupt Intelligenz entwickelt? I.

Die positivistische Antwort: Die Frage ist illegitim, unangemessen, sinnlos.

II. Die skeptizistische Antwort: Die Frage ist sinnvoll, aber wesentlich unbeantwortbar. III. Die abblockende Antwort: Es gibt diesen (verflixten) Grund einfach nicht. Natur ist eben so. Die Natur der Natur hat keinen explanatorischen Hintergrund, sie bildet das Ende der Erklärungsreihe. IV. Die theologische Antwort: Gott hat es so eingerichtet. V. Die teleologische Antwort: Die Gründe für das Auftreten von Intelligenz sind wesentlich teleologisch: Das Vorhandensein von Intelligenz ermöglicht es der Natur, ein bestimmtes Ziel zu verwirklichen. VI. Die evolutionstheoretische Antwort: Mit der Entstehung von Leben in der Welt ist auch die Entwicklung von Intelligenz zu erwarten, denn Intelligenz erhöht die Überlebenschancen. Sie bietet eine wirksame Lösung für das Problem, eine biologische Art entlang der Zeitachse voranzubringen.

Schluss Wir wollen noch einmal rasch den Verlauf der Diskussion durchgehen und im Rückblick die drei Hauptpunkte Revue passieren lassen. 1) Intelligenz entwickelt sich in belebter Natur, weil sie Lebewesen eine gute Methode bietet, mit ihrer Umwelt zurechtzukommen. 2) Sobald intelligente Lebewesen entstehen, haben ihre Erkenntnisleistungen aller Wahrscheinlichkeit nach einen bestimmten Grad von Adäquatheit, da sie durch den Selektionsdruck auf die Arbeitsweise der Natur hin ausgerichtet sind. 3) Es sollte nicht überraschen, dass diese Anpassung schließlich eine äußerst leistungsfähige, mathematisch formulierte Physik entstehen lässt, denn die grundlegenden Strukturen natürlicher Vorgänge, die es auch zur Ausbildung von Intelligenz kommen lassen, müssen relativ einfach sein.

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Im weiten Umfeld dieser Thesen mag in der Tat allerhand geheimnisvoll bleiben. (Fragen wie: „Warum hat sich Leben in der Welt entwickelt?“ und – noch grundsätzlicher –: „Warum existiert die Welt überhaupt?“ könnten als Kandidaten vorgebracht werden.) Sei es, wie es will, die gegenwärtig behandelte Thematik, weshalb die Natur dem Menschen erkennbar ist und weshalb sich solche Erkennbarkeit in einer mathematisch formulierten Physik niederschlagen sollte, erfüllt doch die Qualifikationen eines großen Mysteriums, geschweige denn eines Wunders, sicherlich nicht. Gewiss, die hier vertretene Konzeption ist äußerst schematisch entworfen und erfordert umfangreiche Füllarbeiten. Es muss eine lange und verwickelte Geschichte über die physikalische und die kognitive Evolution erzählt werden, um die Konzeption mit Einzelheiten anzureichern. Aber es gibt sicherlich allen Grund, darauf zu hoffen und zu warten, dass eine solche Geschichte schließlich erzählt werden kann. Und das ist hier der entscheidende Punkt. Selbst wenn jemand an den Umrissen der hier skizzierten evolutionstheoretischen Darstellung, an der Linienführung im Einzelnen, seine Zweifel hat – so bleibt doch die Tatsache, dass irgendeine Darstellung dieser Art in Bezug auf die Erfassbarkeit der Natur mit mathematischen Mitteln eine hervorragend ausbaufähige Erklärung liefert. Die Tatsache allein, dass so eine Konzeption im Prinzip möglich ist, zeigt, dass man die Aussichten auf eine Beantwortung unserer Frage nicht ganz so schwarzmalen muss, wie es die Zonen undurchdringlicher Geheimnisse sind. Es besteht einfach keine Notwendigkeit, Einstein, Schroedinger und Co. Folge zu leisten, wenn sie die Erkennbarkeit der Natur als Wunder oder Geheimnis betrachten, das alles menschliche Verstehen übersteigt. Wenn wir bereit sind, von der Naturwissenschaft selbst zu lernen, wie die Natur funktioniert und wie der Mensch bei der Auswertung seiner Forschungsergebnisse vorgeht, dann könnten wir zunehmend das Problem, weshalb ein Lebewesen dieser Art eine physikalische Umgebung solcher Art effektiv erforschen kann, vom Schleier des Geheimnisses befreien. Wir wären schließlich imstande, es als völlig plausibel und ganz allen Erwartungen entsprechend zu halten, dass Wissenschaft betreibende Lebewesen auftreten und sich

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eine Position verschaffen, die es ihnen erlaubt, daraus allerhand Kapital zu schlagen. Bei der Suche nach einem Leitfaden zur Beantwortung der Frage, wie Naturwissenschaft möglich ist, können wir daher die Wissenschaft selbst in Blick nehmen. Und es gibt keinen guten Grund, weshalb sie uns in dieser Hinsicht im Stich lassen sollte.8, 9 ANMERKUNGEN 1

Dieses ausgesprochen kantische Thema wird hier in einer ausgesprochen unkantischen Weise behandelt. Denn die vorliegenden Überlegungen beschäftigen sich nicht à la Kant mit bestimmten apriorischen Prinzipien, die der Physik vermutlich zugrunde liegen. Wir betrachten vielmehr die faktischen (aposteriorischen) Prinzipien, aus denen die Physik besteht – die Naturgesetze selbst.

2

Erwin Schroedinger, What is Life? (Cambridge, 1945), S. 31.

3

Eugene P. Wigner, „The Unreasonable Effectiveness of Mathematics in the Natural Sciences.“ In: Communications on Pure and Applied Mathematics. Bd. 13 (1960), S. 1–14 (vgl. S. 2).

4

Ebd. S. 14.

5

A. Einstein, Lettres a Maurice Solovine (Paris, 1956), S. 114 f.

6

K. R. Popper, Objektive Erkenntnis. (dtsch. übersetz. Hamburg, 1973), S. 40f.

7

Gespräche mit Gerald Massey haben in hilfreicher Weise zur Verbesserung und Klärung dieses Argumentationsteils beigetragen.

8

Es ist freilich nicht die biologische Evolution im Sinne Darwins, die zur Mathematik führt, sondern die, sich an die biologische anschließende, kognitive Evolution, bei der die rationale Selektion der intellektuellen Mittel im Sinne der Lamarque’schen Theorie verläuft. Vgl. N. Rescher, Methodological Pragmatism (Oxford, 1973).

9

Zuerst erschienen im Philosophy of Mind, Philosophy of Psychioligy: Propceedings of the 9th Internatinal Wittgenstein Symposium (Wien, 1985), S. 206– 14.

IV GRENZEN DER WISSENSCHAFTLICHEN ERKENNTNIS 1. DIE ERKENNTNIS UND IHRE DYNAMIK: EINE KRITIK DES GEOGRAFISCHEN ERFORSCHUNGSMODELLS

D

ie Unvollständigkeit der Erkenntnis ist eine gängige Vorstellung, verdient aber trotzdem eine genauere Untersuchung. Ein Erkenntnissystem ist unvollständig, wenn es nicht umfassend und in sich abgeschlossen ist, sondern Lücken aufweist, nicht alles „erfasst“. Das Ganze ist dann nicht in sich ausgewogen – wie eine Statue, an der Teile fehlen. Manche Teile würden die Mitwirkung fehlender Teile erfordern, das Ganze ist seiner Aufgabe nicht gewachsen. Um tiefer in diesen Gedanken der Vollständigkeit der Tatsachenerkenntnis der Welt einzudringen, empfiehlt sich die Einführung eines gewissen formalen Apparats: ' Kt : die Menge der Thesen (Aussagen, Behauptungen), die zur Zeit t aufgrund der Systematisierung der (allgemein) anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse ausdrücklich als begründet (zutreffend, annehmbar, wahr) gelten.

Kt' : ist also einfach der „Stand der (für richtig gehaltenen) Erkenntnis zur Zeit t“, das, worin die derzeitige wissenschaftliche Welt übereinstimmt. Diese Familie der faktisch aufrechterhaltenen Thesen lässt sich erweitern um ihre Folgerungen, seien sie nun ausdrücklich erkannt und behauptet oder nicht: K"t :

die Menge der Thesen, die aus K; (in einem passenden Sinne) „folgen“.

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Es handelt sich um die Gesamtheit der impliziten (potentiellen) (für richtig gehaltenen) „Erkenntnis“ zur Zeit t. (Man beachte, dass es von den tatsächlich aufgestellten Thesen in Kt' der Natur der Sache nach stets nur endlich viele geben kann, doch für die Elemente von K"t gilt das nicht.) Zur Vereinfachung wollen wir das neutrale Symbol „K“ schreiben, wenn nicht zwischen K’ und K” entschieden werden soll; die entsprechende Ersetzung ist natürlich im Rahmen einer bestimmten Argumentation einheitlich zu denken. p ∉ K, ist nicht eindeutig; es kann bedeuten: (1) zur Zeit weiß man einfach noch nicht, dass p; die ganze Frage, ob p oder nicht-p, ist noch gar nicht aufgetreten; oder (2) p ist aus K, ausgeschlossen, weil ~p ∈ K, d. h. weil seine Negation als Erkenntnis akzeptiert ist; die Frage, ob p oder nicht-p, ist akut geworden und zugunsten von nicht-p entschieden worden. Da es uns um die für richtig gehaltene „Erkenntnis“ geht – wie sie von unvollkommenen Menschen behauptet wird, nicht die Erkenntnis, die im Buche eines unfehlbaren höheren Wesens verzeichnet ist –, gibt es für uns keinen Erhaltungssatz der Erkenntnis: Was einmal „Erkenntnis“ ist, bleibt immer „Erkenntnis“, d. h. (∀t)(∀tʹ)(∀p) ((t < tʹ & p ∈ Kt) ⊃ p ∈ Ktʹ). Ein solcher Erhaltungssatz wäre aus zwei Gründen falsch: (1) „Erkenntnisse“ können in Vergessenheit geraten; so geschah es ja mit einem großen Teil der griechischen Astronomie im „finsteren Mittelalter“; (2) „Erkenntnisse“ können fallen gelassen werden: Die Wissenschaft kann eine bisher anerkannte These aufgeben und sogar durch ihre Negation ersetzen (so ist ein großer Teil der Galenischen Medizin mit der modernen unverträglich). Der Fortschritt der Wissenschaft besteht nicht nur in Hinzufügungen, sondern auch in Streichungen. Unsere „Erkenntnis“ ist nicht kumulativ. Im Korpus der „wissenschaftlich anerkannten Tatsachen“ kann auch etwas gestrichen, nicht nur Neues hinzugefügt werden.

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GRENZEN DER WISSENSCHAFTLICHEN ERKENNTNIS

Die Folgen dieser Auffassung sind einer ausführlicheren Untersuchung wert. Ein scharfsichtiger moderner Analytiker der Physik äußert sich über die Aussichten, sie einmal zur Abgeschlossenheit zu bringen, folgendermaßen: Man kann sich vorstellen, daß die Grundlagen der Physik einmal vollständig geworden sind. Es steht ja eine und nur eine Welt zur Erforschung an, und die Physik läßt sich nicht, wie die Mathematik, durch Erfindungen unseres Geistes immer weiterspinnen. Die logische Beziehung der Physik zur Chemie und den anderen Wissenschaften, deren Grundlage sie bildet, ist von solcher Art, daß die Physik als erstes Kapitel abgeschlossen sein sollte. Niemand kann genau angeben, was Abgeschlossenheit hier bedeuten soll, und das könnte schon Beweis genug sein, daß das Ende jedenfalls nicht nahe bevorsteht. Doch man könnte sich in etwa folgenden Verlauf denken: Die Beschaffenheit der Elementarteilchen wird umfassend und evident erkannt und schließt ihrer Struktur nach die Existenz verborgener Eigenschaften aus. Gleichzeitig gelangt man zum Verständnis der Gravitation und ihrer Beziehungen zu den stärkeren Kräften. Es bleiben keine Geheimnisse in der Hierarchie der Kräfte bestehen, deren Ebenen sich als verschiedene Aspekte einer einheitlichen logischen Struktur enthüllen. Bei diesem vorgestellten idealen Erkenntnisstand könnte kein denkbares Experiment ein überraschendes Ergebnis liefern, jedenfalls nicht, sofern es lediglich physikalische Grundgesetze prüft. Es könnte noch ungelöste Probleme auf dem Gebiet geben, das wir oben als die organisierte Komplexität bezeichnet haben, doch sie würden in das Gebiet der Bio— oder Astrophysik fallen. Die physikalische Grundlagenforschung wäre abgeschlossen, und zwar offensichtlich, so wie heute die Euklidische Geometrie1.

Überträgt man diese Auffassung von der Physik auf die Naturwissenschaft im Allgemeinen, so wird das Gebiet der möglichen Entdeckungen als letzten Endes begrenzt gedacht. Genau eine solche Auffassung vertrat der große amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839–1914). Für ihn durchlief die Wissenschaftsgeschichte im Wesentlichen zwei Stadien: ein erstes oder Vorstadium, in dem man sich um die allgemeine Struktur der qualitativen Beziehungen zwischen den wissenschaftlichen

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Parametern bemüht, und ein zweites Stadium der quantitativen Verfeinerung – der Ermittlung immer genauerer Werte für die Parameter in den Gleichungen, deren allgemeine Form im ersten Stadium gefunden wurde. War das erste Stadium einmal vorüber – und das, so glaubte Peirce, war in seinen Tagen der Fall, mindestens auf dem Gebiet der physikalischen Wissenschaften –, so ging es beim weiteren wissenschaftlichen Fortschritt nur noch um größere Genauigkeit und Erfassung von Einzelheiten, um die Bestimmung immer weiterer Dezimalstellen von Größen, deren ungefährer Wert schon durchaus feststeht. Das ist eine metaphysische Auffassung von der Entwicklung der Erkenntnis, nach der die Wissenschaft einmal vollständig kumulativ werden wird – auf gewundenem Pfade wird sie schließlich einen stabilen Zustand der Thesen-Bewahrung erreichen: Satz von der Erhaltung der Erkenntnis als Endzustand: (∃t)(∀tʹ)(∀p) ((tʹ > t & p ∈ Kt) ⊃ p ∈ Ktʹ). Peirce war gerade dieser Auffassung, dass die Wissenschaft letzten Endes – zumindest asymptotisch – einen solchen Zustand erreicht, in dem der Erhaltungssatz gilt, nach dem alles, was „Erkenntnis“ ist, auf immer „Erkenntnis“ bleibt, sodass insbesondere auch alles, was bei Eintritt dieses Zustands „Erkenntnis“ ist, „Erkenntnis“ bleibt. Ein verwandter, aber wesentlich anderer Gedanke ist der des Abschlusses der Erkenntnis (zur Zeit t). Es geht um einen Zustand, in dem alles „erkannt“ ist, was jemals „erkannt“ wird: Satz vom Abschluss der Erkenntnis (zur Zeit t): (∀tʹ)(∀p) ((tʹ > t & p ∈ Kt) ⊃ p ∈ Kt). Die Verbindung beider könnte man als Erstarrung der Erkenntnis bezeichnen und folgendermaßen formulieren: (∃t)(∀tʹ)(∀p) ((tʹ > t ⊃ (p ∈ Kt ↔ p ∈ Ktʹ)).

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Hiernach wird einmal ein Zustand der Stabilität der Erkenntnis erreicht: Die Wissenschaft verändert sich überhaupt nicht mehr, ist zum Abschluss gekommen, jedenfalls was wirklich wichtige Ergebnisse betrifft. Diese Auffassung setzt die Entwicklung der Wissenschaft in Parallele zur Erforschung der Erde nach dem Mittelalter: Ein wesentlich endliches Gebiet wird Stück um Stück erobert. Die einleuchtend scheinende Parallele zur geografischen Erforschung wird zwar in diesem Zusammenhang oft herangezogen, doch sie ist grundsätzlich abwegig. Sie sieht den gesamten wissenschaftlichen Fortschritt von einer speziellen (und keineswegs typischen) Art des Fortschritts her, nämlich der schrittweisen Ausfüllung eines gegebenen Rahmens mit immer größerer Detailgenauigkeit – der Bestimmung weiterer Dezimalstellen, um ein grundsätzlich feststehendes Ergebnis weiter zu präzisieren. Dem liegt die falsche Auffassung zugrunde, der Fortschritt der Wissenschaft vollziehe sich als kumulative Erweiterung (wie das Wachstum eines Korallenriffs). Doch die Wissenschaft schreitet nicht nur additiv fort, sondern in großem Umfang auch subtraktiv. Thomas Kuhn und andere haben überzeugend dargelegt, dass die wichtigsten Entdeckungen von heute stets diejenigen von gestern umstürzen: Die großen Entdeckungen der Wissenschaft treten unvermeidlich in einer Form auf, die den früheren großen Entdeckungen widerspricht und keine Ergänzung, sondern eine Verdrängung bedeutet. Wesentliche Fortschritte ergeben sich vorwiegend als begriffliche und theoretische Neuerungen. Man kann sich nicht auf den konservierenden Standpunkt stellen, die alten Auffassungen seien in Ordnung, soweit sie gehen, und bedürften lediglich der Ergänzung – wesentlicher wissenschaftlicher Fortschritt ist grundsätzlich revolutionär, er ist verbunden mit einem grundlegenden Sinneswandel bezüglich der Abläufe in der Welt. Die Wissenschaftstheoretiker einer älteren Schule waren zutiefst davon überzeugt, dass die Wissenschaft kumulativ vorgehe, ja sie wollten den Fortschritt der Wissenschaft in der Kumulation erblicken2. Doch in den letzten Jahrzehnten ist diese Auffassung zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik geraten – und das mit Recht. Die Medizin Pasteurs und Listers fügt der von Galen oder Paracelsus nichts hinzu, sondern tritt an ihre Stelle. Der schöpferische

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Wissenschaftler ist Zoll für Zoll Abbruchspezialist so gut wie Baumeister. Wesentlicher wissenschaftlicher Fortschritt besteht im Allgemeinen nicht in der Hinzufügung neuer Tatsachen – auf der Ebene des Lösens eines Kreuzworträtsels –, sondern in der Veränderung des Bezugssystems selbst. Die Wissenschaft entwickelt sich in der Hauptsache nicht durch Addition, sondern durch Ausscheidung und Ersetzung3 (ihr Fortschritt besteht nicht in einem monotonen Wachsen der Information, sondern in der Verbesserung der Voraussage und Beherrschung der Natur4). Die Lehre von der konvergierenden Akkumulation muss also aufgegeben werden. Doch hier tritt ein sehr wichtiger Gesichtspunkt ins Blickfeld. Auch wenn die Wissenschaft schließlich im Sinne von Peirce „abgeschlossen“, nämlich stabil wäre, so könnte sie von der Vollständigkeit immer noch sehr weit entfernt sein. Das wird deutlich, wenn man außer wissenschaftlichen Thesen oder Antworten auch wissenschaftliche Fragen betrachten muss. 2. FRAGEN UND IHRE DYNAMIK Der Wandel der Erkenntnis im Zeitverlauf hat nicht nur mit dem „Wissen“ zu tun, sondern auch mit den gestellten Fragen. Verschiedene Behauptungsmengen bilden die Grundlage verschiedener Fragenmengen, weil sie eben verschiedene Voraussetzungsmengen bilden. Wenn etwa das Behauptungssystem S1, die These p enthält, S2 dagegen -p, dann kann man im Rahmen von S1 fragen: „Warum ist p der Fall?“, denn hier ist die Voraussetzung, dass p der Fall ist, erfüllt; doch im Rahmen von S2 kann man nicht so fragen. Es kann also miteinander unverträgliche Fragen geben – Fragen, die auf miteinander unverträglichen Voraussetzungen beruhen. Der Begriff der unbeantwortbaren Frage bedarf genauerer Untersuchung. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass manche Fragen nicht bloß unbeantwortbar sind, sondern – bei dem gegebenen Wissensstand – gar nicht stellbar. Caesar hätte nicht fragen können, ob Plutonium radioaktiv sei. Nicht, dass er lediglich die richtige Antwort nicht gewusst hätte – die Frage selber ist ihm nie gekommen und konnte es auch nicht, weil ihm das begriffliche Instrumentarium

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fehlte, mit dem allein man diese Frage stellen kann. Derartige Fälle sind in der Wissenschaftsgeschichte an der Tagesordnung. Die meisten heutigen wissenschaftlichen Probleme hätten ein oder zwei Generationen früher gar nicht entstehen können: Man hätte sie innerhalb des kognitiven Rahmens des damaligen Erkenntnisstandes gar nicht formulieren können. Ihre Voraussetzungen waren kognitiv nicht vorhanden. Das Nichtwisssen kann dementsprechend von zweierlei ganz verschiedener Art sein. An der Oberfläche liegt es vor, wenn man eine Frage versteht, aber – unter den gegebenen Umständen – keine Möglichkeit hat, sie zu beantworten. (Man denke an Behauptungen über Berge auf der abgewandten Seite des Mondes im Jahre 1850.) Auf einer tieferen Ebene liegt sie vor, wenn man die Frage gar nicht stellen könnte – und eine Antwort gar nicht verstehen könnte, sollte sie von einem freundlichen Orakel geliefert werden. Die Behauptung, es gebe unbeantwortbare wissenschaftliche Fragen, muss im Lichte dieser Unterscheidung zwischen unbeantwortbaren und gar nicht stellbaren Fragen präzisiert werden. Denn die These lässt sich in zweierlei ganz verschiedenem Sinne verstehen: A: Es könnte leicht wissenschaftliche Fragen geben, die nie beantwortet werden, weil bezüglich ihrer stets eine grundsätzliche Unwissenheit bestehen bleibt. Man hat keine Möglichkeit – und wird sie nie haben –, die Natur so umfassend und/oder ins Einzelne gehend zu erforschen, wie es nötig wäre, um auch nur die maßgeblichen Begriffe der Frage selbst zu entwickeln. Nicht nur die Antwort, sondern schon die Frage selbst liegt jenseits unserer Möglichkeiten. B: Manche wissenschaftlichen Fragen werden nie beantwortet, weil bezüglich ihrer stets effektive Unwissenheit herrschen muss. Die Frage kann zwar gestellt werden – oder es wird dahin kommen – (weil die Mittel zu ihrer Formulierung zur Verfügung stehen [werden]), doch sie wird nie gelöst. Die Mittel zu einer hinreichend umfassenden und/oder ins Einzelne gehenden Erforschung der Natur stehen uns nicht zur

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Verfügung. Die erste Kategorie ist problematischer, denn man kann ja kein Beispiel einer in diesem grundlegenden Sinne unzugänglichen Frage anführen. Doch dass es welche gibt, kann man sich anhand der bisherigen Erfahrungen ziemlich leicht ausmalen. Die Tatsache, dass gewisse heutige Ideen in keinem früheren Stadium der Geschichte realisierbar waren,5 lässt sich ohne weiteres zu der drastischeren Vorstellung verallgemeinern, dass manche Ideen in keinem Stadium der Geschichte realisierbar sein könnten. Fragen sind also als in einem historischen Zusammenhang stehend zu sehen: Sie entstehen an bestimmten Knotenpunkten und nicht an anderen. Eine Frage stellt sich (d. h. ist sinnvoll stellbar) zur Zeit t genau dann, wenn zu dieser Zeit alle ihr Voraussetzungen als Erkenntnisse gelten. Demnach können Fragen entstehen und wieder vergehen. Genauer: a entsteht zur Zeit t genau dann, wenn sich a zur Zeit t stellt, aber zu keiner früheren Zeit. Betrachten wir nun folgenden mutmaßlichen Grundsatz: Satz von der Erhaltung der Fragen: '

(∀a) (∀t) (∀tʹ) ((t < tʹ & a ∈ Qt) ⊃ a ∈ Qt ) Man beachte, dass mit dem Satz von der Erhaltung der Erkenntnis auch der vorstehende Satz hinfällig wird; denn es könnte eine Voraussetzung von a, die zur Zeit t von K; erfüllt wird, zur Zeit t’ von K,’ nicht mehr erfüllt werden. Antworten auf Fragen können nicht nur in Vergessenheit geraten, sondern die Wissenschaft kann auch dazu kommen, bereits die Voraussetzungen einer Frage abzulehnen. Im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts werden Fragen nicht nur gelöst, sondern können sich auch auflösen. Heute fragt man nicht mehr nach den Eigenschaften des Wärmefluidums oder dem Verhalten des Phlogistons. 3. FRAGEN UND WISSENSCHAFTLICHER FORTSCHRITT Gewöhnlich stellt man sich unter dem Erkenntnisfortschritt die Ent-

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deckung neuer Tatsachen (neuer Thesen) vor. Doch die Praxis ist komplizierter. Denn Information wird im Kontext von Fragen geschaffen. Und für diese können die neuentdeckten Tatsachen (Thesen) von recht verschiedener Bedeutung sein. Genauer, man kann entdecken: 1. neue (d. h. andere) Antworten auf alte Fragen, 2. neue Fragen, 3. die Abwegigkeit unserer alten Fragen, nämlich dass sie auf falschen Voraussetzungen beruhten – auf angeblichen „Tatsachen“, die nicht mehr als zutreffend gelten. Im Falle (1) entdeckt man, dass man auf eine alte Frage die falsche Antwort gegeben hat, dass in der bisherigen Antwort auf die Frage ein Irrtum enthalten war. Im Falle (2) entdeckt man, dass es bestimmte Fragen gibt, die man noch gar nicht gestellt hat, man entdeckt einen „Unterlassungsfehler“ im Kontext unserer bisherigen Fragestellungen. Im Falle (3) schließlich kommt man darauf, dass man überhaupt die falschen Fragen gestellt hat: Man entdeckt, dass man einen „Begehungsfehler“ im Kontext der bisherigen Fragestellungen begangen hat. Solche abwegigen Fragen beruhen auf falschen Voraussetzungen (und sind daher im Allgemeinen mit Entdeckungen der 1. Art verbunden). Es liegen drei ganz verschiedene Arten des Erkenntnisfortschritts vor – verschieden voneinander und von der herkömmlichen Auffassung des Erkenntnisfortschritts als bloßen „Hinzutretens neuer Tatsachen“. Der Gedanke der Fortpflanzung von Fragen ist wichtig und durchaus der Betrachtung wert. Die Antwort auf eine Frage kann die Voraussetzung einer weiteren Frage liefern – die sich ohne die Beantwortung der ersten Frage nicht gestellt hätte. Fragen haben eine Eigendynamik. Eine Frage gibt Anlass zu einer anderen (in einem bestimmten historischen Kontext), wenn ihre Antwort (in diesem Kontext) eine Voraussetzung für die andere ist. Fortschritt auf dem Gebiet der Fragen ist eine ganz wichtige Form des Erkenntnisfortschritts; sie hängt eng mit dem Fortschritt auf dem

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Gebiet der Information zusammen und ist Punkt für Punkt ebenso wichtig. Die Fragen, die wir der Betrachtung erschließen, sind ebenso entscheidende und eindeutige Seiten eines Erkenntnissystems wie dessen Thesen. Die eingeführten Unterscheidungen zeigen, dass die nie endende Unabgeschlossenheit der Wissenschaft durchaus mit der Möglichkeit verträglich ist, dass unsere Wissenschaft auf einem bestimmten Erkenntnisstand einmal vollständig sein könnte. Sei K, der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur Zeit t, und sei Q, die entsprechende Familie der Fragen, die sich an diesem Punkt stellen lassen. Dann kann durchaus ein späterer Zustand Kt' eintreten, in dem alle Fragen aus Qt gelöst sind, in dem es aber (nämlich zur Zeit t’) weitere Fragen in Qt' gibt, die zur Zeit t’ nicht lösbar sind und die nicht zu Q, gehören, weil sie von der kognitiven Warte K, aus gar nicht ins Auge gefasst werden konnten. Diese Verhältnisse können grundsätzlich beliebig lange fortbestehen. Diese Überlegungen führen auf einen Grundsatz der Fragenfortpflanzung (Kantischer Grundsatz): Die Lösung einer jeden wissenschaftlichen Frage gibt Anlass zu weiteren, noch ungelösten Fragen. Diese Überlegungen zeigen eine Tatsache, die für die Theorie des Fortschritts der Wissenschaft von erheblicher Bedeutung ist. Man braucht von keinem gegenwärtigen Problem zu behaupten, es werde besonders lange – oder gar ewig – bestehen bleiben, damit es doch nach zehn oder hundert Generationen noch Probleme gibt. (So, wie es keiner unsterblichen Individuen bedarf, damit eine Art unsterblich ist, so bedarf es keiner unsterblichen Probleme, damit die Probleme nicht aussterben.) Damit es ständigen wissenschaftlichen Fortschritt geben kann, genügt der Kant-Effekt, dass alte Probleme bei ihrer Lösung oder Auflösung neue entstehen lassen—man braucht gar nicht an Welträtsel oder unlösbare Probleme denken. Und auch eine Theorie, die die Existenz solcher insolubilia behauptet, braucht sie nicht als in irgendeinem Stadium der Wissenschaftsentwicklung identifizierbar zu betrachten – vielleicht werden sie nie auch nur erkannt, weil sie sich in jedem bestimmten tatsächlich verwirklichbaren Stadium der Erforschung als unzugänglich erweisen. Eine Theorie des nicht endenden wissenschaftlichen Fortschritts – für die es einen

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unerschöpflichen Vorrat an wissenschaftlichen Problemen gibt – braucht also keineswegs die Auffassung zu vertreten, es gebe unlösbare Probleme, die beim gegenwärtigen Stand der Dinge als solche erkennbar wären. Die These vom nicht endenden wissenschaftlichen Fortschritt ist also völlig verträglich mit der Auffassung, dass jede Frage, die sich in irgendeinem Stadium stellen lässt, in einem späteren Stadium beantwortet werden wird; man braucht nicht die Auffassung zu vertreten, es gebe unbeantwortbare Fragen, die sich grundsätzlich jeder Lösungsmöglichkeit entziehen. Für den nicht endenden Fortschritt ist lediglich die ganz reale Erscheinung notwendig, dass man bei der Beantwortung alter Fragen ständig zu neuen gelangt. Die Situation der Wissenschaft ähnelt in dieser Hinsicht der eines Menschen, der mit einer Laterne einen langen, dunklen Korridor entlanggeht. Einige Fragen über dessen Einrichtung kann er leicht beantworten: Sie fallen eindeutig in seinen Lichtkegel. Jenseits davon sieht er überhaupt nichts – alles ist in tiefste Dunkelheit gehüllt. Die Problemsituation in der Wissenschaft dürfte ähnlich sein.6 Wir sehen „unsere“ Fragen ganz deutlich; die ein wenig weiter in der Zukunft liegenden erkennen wir noch in Umrissen; die noch weiter entfernten erkennen wir gar nicht mehr deutlich (wenn man auch das größere Gebiet, in dem sie liegen könnten, auf allgemeinerer Ebene möglicherweise eher abstecken kann). Diese Erscheinung der ständigen „Geburt“ neuer Fragen könnte man den „Kantischen Fortpflanzungseffekt“ nennen, denn Immanuel Kant beschrieb ihn folgendermaßen als ständig sich fortspinnenden Zyklus von Fragen und Antworten: Wer kann sich bei der bloßen Erfahrungserkenntnis in allen kosmologischen Fragen von der Weltdauer und Größe, der Freiheit oder Naturnotwendigkeit befriedigen, da, wir mögen es anfangen, wie wir wollen, eine jede nach Erfahrungsgrundsätzen gegebene Antwort immer eine neue Frage gebiert, die ebenso beantwortet sein will und dadurch die Unzulänglichkeit aller physischen Erklärungsarten zur Befriedigung der Vernunft deutlich dartut?7

Die von mir hervorgehobene Passage verdeutlicht eine Seite der Phä-

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nomenologie der wissenschaftlichen Forschung, die empirisch ebenso fundiert ist wie irgendetwas in der Untersuchung der Natur selbst. Daraus ergibt sich so etwas wie ein Erhaltungssatz für wissenschaftliche Probleme. 4. VOLLSTÄNDIGKEIT DER ERKENNTNIS: VOLLSTÄNDIGKEIT DER FRAGENBEANTWORTUNG („EROTETISCHE VOLLSTÄNDIGKEIT“) Der Gedanke der Vollständigkeit der Erkenntnis lässt sich auch im Sinne der Formel fassen, dass „jede Frage beantwortet ist“. Wir können also sagen, der „Stand der Wissenschaft“ zur Zeit t habe die Q-Vollständigkeit („erotetische“ oder Fragenbeantwortungs-Vollständigkeit) erreicht genau in diesem Fall. Insbesondere der Gedanke der starken Q-Vollständigkeit lässt an ein Gleichgewicht zwischen Fragen und Antworten denken. Aufgrund des Erkenntnisstandes lassen sich Fragen aufwerfen. Aufgrund desselben Erkenntnisstandes lassen sie sich beantworten: Erkenntnisstand K

Fragen Q, die aus K entspringen Antworten auf diese Fragen

Ist der Kreis nahtlos geschlossen, so ist der betreffende „Erkenntnisstand“ vollständig. Diese Fragenbeantwortungs-(d. h. erotetische)Vollständigkeit eines „Erkenntnisstandes“ ist ein besonders interessanter und nützlicher Begriff. Denn er fasst die Vollständigkeit nicht im Sinne eines dem Erkenntnisstand äußerlichen, absolutistischen Maßstabs der „vollständigen Information“ auf, er vergleicht nicht unser „Wissen“ mit dem eines fiktiven Wesens, dessen Erkenntnis unfehlbar ist. Vielmehr wird ein Maßstab der Vollständigkeit entwickelt, der unsere geistigen Horizonte nicht überschreitet: Alle Fragen, die wir tatsächlich stellen (oder stellen können), sind Fragen, die wir tatsächlich beantworten (oder beantworten können). Der Begriff der Vollständigkeit ist auf unseren jeweiligen „Erkenntnisstand“ selbst bezogen und nicht auf ein transzendentes Absolutes.

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Man beachte – vor allem im Hinblick auf die beiden ersten Arten der Q–Vollständigkeit –, dass die erotetische Vollständigkeit nicht notwendig bedeutet, dass K allumfassend oder adäquat wäre, sondern dass sie lediglich aus der Beschränktheit der Menge Q’ der Fragen entspringen könnte, die uns gegenwärtig sind. Sind die gestellten Fragen zu beschränkt (oder phantasielos), so drückt sich dies in der Vollständigkeit der Erkenntnis aus und nicht deren Adäquatheit. Dieser Gesichtspunkt hat wichtige Konsequenzen für die Frage der Abschließbarkeit der Wissenschaft. Man kann sich ja vorstellen – wenn es auch unwahrscheinlich ist –, dass die Wissenschaft ein zufälliges Gleichgewicht zwischen Problemen und Lösungen erreicht. Sie könnte effektiv vollständig sein – indem sie jede Frage beantwortet, die aufgrund des bestehenden (wenn auch noch unvollkommenen) Erkenntnisstandes gestellt werden kann –, ohne jedoch grundsätzlich abgeschlossen zu sein, nämlich solche Fragen zu beantworten, die sich bei etwas tieferem Eindringen in die Natur (wie es leider nicht möglich ist) stellen würden. Die wahrgenommene Vollständigkeit der Wissenschaft braucht also kein Zeichen ihrer wirklichen Vollständigkeit zu sein. 5. DAS PROBLEM DER UNBEANTWORTBAREN FRAGEN: ZWEI GANZ VERSCHIEDENE ARTEN VON GRENZEN DER ERKENNTNIS Im vorigen Abschnitt haben wir den Begriff der Vollständigkeit der Fragenbeantwortung untersucht. Die Überlegungen im Zusammenhang mit dem zugeordneten Begriff der Unvollständigkeit führen an das Problem der Erkenntnisgrenzen heran. Dieses Problem der Erkenntnisgrenzen hat mit den langfristigen Möglichkeiten unserer Erkenntnis zur Beantwortung von Fragen zu tun. Diese könnte nun folgender schwacher Begrenzung unterliegen: Schwache Begrenzung (ständige Existenz ungelöster Fragen) Immer, in jedem Stadium,8 gibt es Fragen, auf die es keine Antwort gibt. In jedem Stadium der Erkenntnisentwicklung gibt es derzeit unbeantwortbare Fragen (die freilich in einem späteren Stadium

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durchaus beantwortet werden können). Nach dieser These ist die Erkenntnis immerdar beschränkt, in keinem Stadium abgeschlossen: Es stehen jederzeit unbeantwortete Fragen im Raum. Man beachte, dass aus dem Kantischen Grundsatz der Fragenfortpflanzung (vgl. oben, Abschn. 3) diese ständige Existenz ungelöster Fragen folgt. Denn wenn jede Antwort zu neuen Fragen führt, dann kommt es nie dazu, dass alle Fragen beantwortet sind. Man beachte auch, dass dies durchaus damit verträglich ist, dass jede Frage, die in irgendeinem Stadium auftritt, später einmal beantwortet werden kann (oder sich auflöst). Nach der schwachen Begrenzung ist die Existenz von Fragen überhaupt unvergänglich, aber nicht die einzelne Frage (keine insolubilia). Eine andere Art der Begrenzung der Fähigkeit unserer Erkenntnis zur Beantwortung von Fragen wäre also folgende drastischere: Starke Begrenzung (Existenz unlösbarer Probleme) Es gibt an einem bestimmten Punkt stellbare Fragen, die nie beantwortet werden; angehbare Fragen, deren Beantwortung die Möglichkeiten der Wissenschaft grundsätzlich übersteigt; Fragen, die immer im Raume stehen, aber nie lösbar sind. Diese These besagt also, dass es unvergängliche Probleme gibt, auf immer unbeantwortbare Fragen, kurz, echte insolubilia. Begrenzungen unserer Erkenntnis können also in zweierlei ganz verschiedenem Sinne bestehen. Nehmen wir als Bild dafür eine etwas ungewöhnliche Bibliothek – eine mit unendlich vielen Büchern, Die eine Möglichkeit sei, dass nur endlich viele Regale von ihr zugänglich sind. Hier könnte man von einer Begrenzung der beschaffbaren Information sprechen: Man kann nur endliche viele Bücher erreichen, also muss die daraus gewinnbare Erkenntnis – sei sie auch noch so umfangreich – letzten Endes beschränkt bleiben, Der Forscher muss grundsätzlich mit der Erkenntnisfindung an ein Ende kommen: Die Erkenntnis ist zwar immer noch äußerst unvollständig, aber lässt sich nicht mehr erweitern.

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Demgegenüber betrachte man nun den Fall, dass nur das letzte Buch auf jedem Regal der unendlichen Bibliothek unzugänglich ist. Auch dabei handelt es sich offenbar um eine Begrenzung. Doch eine solche ausschließende Begrenzung der Information ist etwas wesentlich anderes als die vorher erwähnte abschließende Begrenzung. Es gibt zwar ohne jeden Zweifel eine sehr reale Begrenzung, doch jetzt kann es jederzeit noch wesentliche Erkenntnisfortschritte geben. Der Forscher kann seine Kenntnisse auf jedwedem Gebiet beliebig erweitern. Das Wesentliche hat bereits Kant klar ausgesprochen, der ausschließende Begrenzungen zuzugestehen bereit war, aber abschließende Grenzen nachdrücklich bestritt: In der Mathematik und Naturwissenschaft erkennt die menschliche Vernunft zwar Schranken [„ausschließende Begrenzungen“], aber keine Grenzen [„abschließende Begrenzungen“], d. i. zwar, daß etwas außer ihr liege, wohin sie niemals gelangen kann, aber nicht, daß sie selbst in ihrem inneren Fortgange irgendwo vollendet sein werde. Die Erweiterung der Einsichten in der Mathematik und die Möglichkeit immer neuer Erfindungen geht ins Unendliche; ebenso die Entdeckung neuer Natureigenschaften, neuer Kräfte und Gesetze, durch fortgesetzte Erfahrung und Vereinigung derselben durch die Vernunft … Naturwissenschaft wird uns niemals das Innere der Dinge … entdecken; aber sie braucht dieses auch nicht zu ihren physischen Erklärungen.9

Diese Unterscheidung Kants zwischen ausschließenden und abschließenden Begrenzungen ist für unsere Erörterung von höchster Bedeutung. Denn im Zusammenhang mit dem Fortschritt der Wissenschaft muss man sorgfältig zwischen zwei sehr verschiedenen Fragen unterscheiden: 1. Lässt sich der jeweils erreichte Korpus der wissenschaftlichen Ergebnisse jederzeit noch (wesentlich) verbessern? 2. Liegt irgendetwas aus dem Gebiet des der Möglichkeit nach Entdeckbaren völlig außerhalb unserer Reichweite, außerhalb des für uns Verwirklichbaren?

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Die erste Frage läuft darauf hinaus, ob die Wissenschaft abschließende Begrenzungen hat, die zweite darauf, ob sie irgendwelche – abschließende oder ausschließende – Grenzen hat. Das Problem der Fortsetzbarkeit des wissenschaftlichen Fortschritts hat nur mit Frage 1 zu tun – es geht um die Frage der abschließenden Begrenzungen, die der ausschließenden Begrenzungen bleibt unberührt. Die Existenz unzugänglicher Erscheinungen (und damit „nicht erzielbarer Ergebnisse“) hat also für die Möglichkeit ständigen Fortschritts keine entscheidende Bedeutung. Behauptet man also (wie geschehen), die Wissenschaft habe im Wesentlichen keine abschließenden Begrenzungen – es sei immerdar wissenschaftlicher Fortschritt möglich –, so leugnet man nicht die Möglichkeit von Problemen, deren Lösung über die physikalischen oder wirtschaftlichen Möglichkeiten des menschlichen Forschens hinausgehen. Die Existenz faktisch unbeantwortbarer Fragen in der Wissenschaft – von Problemen, deren Lösung für immer jenseits einer technisch bedingten Datenschranke liegen – bedeutet nicht, dass der Fortschritt der Wissenschaft einmal zum Stillstand kommen müsste. Die Unterscheidung zwischen den beiden Arten von Begrenzungen führt also zu dem wichtigen – schon von Kant ausgesprochenen – Ergebnis: Die Anerkennung der Begrenztheit der wissenschaftlichen Erkenntnis ist nicht gleichbedeutend mit der Anerkennung ihrer Endlichkeit oder Abschließbarkeit. Die Existenz unlösbarer Fragen in der Naturwissenschaft – von echten insolubilia – hat keineswegs zur Folge, dass unsere Erkenntnis auf diesem Gebiet einmal an einem Endpunkt angelangen muss, an einem „abgeschlossenen“ Stand der Erkenntnis, dessen Grenzen man nicht mehr vorschieben kann. Lokale Schranken der Erkenntnis sind durchaus vereinbar mit globaler Unbeschränktheit. (Man denke an die immer weiter um sich greifende Erforschung einer unbegrenzten Ebene, in der es hohe Berge gibt, die man einfach nicht ersteigen kann.) 6. INSOLUBILIA UND DIE KONTROVERSE ZWISCHEN REYMOND UND HAECKEL Ist die Annahme von insulubilia in der Wissenschaft einleuchtend? Gibt es gute Gründe für die Annahme, die Wissenschaft sei im starken

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Sinne begrenzt und nicht bloß in dem schwächeren, dass es einen sich stets erneuernden Vorrat an ungelösten Fragen gibt? 1880 veröffentlichte der deutsche Physiologe, Philosoph und Wissenschaftshistoriker Emil Du Bois-Reymond einen 10 vieldiskutierten Vortrag „Die sieben Welträtsel“, in dem er behauptete, einige der grundlegenden Probleme bezüglich der Beschaffenheit der Welt seien unlösbar. Reymond war strenger Mechanist. Für ihn konnten nichtmechanische Untersuchungen keine brauchbaren Ergebnisse liefern, und unsere gewisse Erkenntnis war auf das Gebiet beschränkt, auf dem sich rein mechanische Grundsätze anwenden ließen. In jeder anderen Beziehung gab es nicht nur keine verlässliche Erkenntnis, sondern konnte es grundsätzlich keine geben. Unter dem Stichwort „ignoramus et ignorabimus“ („wir wissen es nicht und werden es nie wissen“) bezog Reymond eine skeptischagnostische Position in den Grundfragen der Physik (Wesen der Materie und der Kraft, letzter Ursprung der Bewegung) und der Psychologie (Entstehung der Empfindung und des Bewusstseins). Das waren einfach unlösbare Fragen, die über die menschlichen Fähigkeiten hinausgingen. Gewisse biologische Grundprobleme betrachtete er als ungelöst, aber vielleicht grundsätzlich lösbar (wenn auch sehr schwierig): die Entstehung des Lebens, die Anpassungsfähigkeit der Organismen und die Entwicklung von Sprache und Vernunft. Und hinsichtlich des siebenten Rätsels – des Problems der Willensfreiheit – war er unentschieden. Die Position Du Bois-Reymonds wurde alsbald von dem Zoologen Ernst Haeckel in seinem 1899 veröffentlichten Buch „Die Welträtsel“11 scharf angegriffen, das schnell große Popularität gewann. Die Rätsel Du Bois-Reymonds – so Haeckel – waren keineswegs der Bearbeitung unzugänglich oder gar unlösbar, sondern im Grunde alle schon gelöst. Das Problem des freien Willens erklärte er zum Scheinproblem – der freie Wille sei ein bloßes Dogma, das auf nichts als Täuschungen beruhe und in der Wirklichkeit gar nicht existiere – und wandte sich dann mit Behagen den übrigen Rätseln zu. Die Probleme der Entstehung des Lebens, der Empfindung und des Bewusstseins betrachtete Haeckel als gelöst – oder lösbar – aufgrund der Entwicklungstheorie. Die Fragen des Wesens der Materie und der Kraft hielt er für gelöst durch die moderne Physik, abgesehen von

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einem Rest: dem (vielleicht eher metaphysischen als wissenschaftlichen) Problem des letzten Ursprungs der Materie und ihrer Gesetze. Dieses „Substanzproblem“ war das einzige Rätsel, das Haeckel noch anerkannte, und es war nicht eigentlich ein wissenschaftliches Problem: Mit der Entdeckung des „Grundgesetzes von der Erhaltung der Materie und der Kraft“ hatte die Wissenschaft so ziemlich alles getan, was sie auf diesem Gebiet tun konnte – der Rest war Metaphysik, die den Wissenschaftler eigentlich nichts anging. Haeckel fasste seine Position folgendermaßen zusammen: Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Natur-Erkenntnis im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universal-Rätsel zurückgeführt, auf das Substanz-Problem … Da überragt denn alle Fortschritte und Entdeckungen … das gewaltige, allumfassende Substanz-Gesetz, das „Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes“. Die Tatsache, daß die Substanz überall einer ewigen Bewegung und Umbildung unterworfen ist, stempelt dasselbe zugleich zum universalen Entwicklungs-Gesetz. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Überzeugung der universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Aus dem dunklen SubstanzProblem entwickelte sich das klare Substanz-Gesetz.12

Die Grundstruktur der Haeckelschen Lehre ist klar: Die Wissenschaft nähert sich rasch einem Zustand, in dem alle großen Probleme der Lösung zugeführt werden – insbesondere auch die insolubila Du BoisReymonds. (Und was ungelöst bleibt, ist weniger ein wissenschaftliches als ein metaphysisches Problem.) Die Essenz der Kontroverse wurde treffend von Karl Pearson zusammengefasst: Wir müssen hier etwas genauer untersuchen, was der Wissenschaftler meint, wenn er sagt: „Hier bin ich unwissend.“ Zunächst einmal will er nicht sagen, die Methode der Wissenschaft sei notwendig unanwendbar, man müsse sich also nach einer anderen Methode umsehen. Zweitens gilt: wenn die Unwissenheit tatsächlich aus der Mangelhaftigkeit der

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wissenschaftlichen Methode entspringt, dann kann man ganz sicher sein, daß keinerlei andere Methode zur Wahrheit führt. Wenn die Wissenschaft etwas nicht weiß, dann weiß es zwangsläufig die gesamt Menschheit nicht. Ich würde mir erbärmlich vorkommen, wenn ich behaupten wollte, es gebe irgendein Gebiet der psychischen oder physischen Wahrnehmung, das die Wissenschaft nicht im Laufe der Jahrhunderte aufklären könnte … Freilich wird diese Auffassung von einigen führenden Wissenschaftlern nicht geteilt, in unserem Lande und in Deutschland. Sie begnügen sich nicht damit, zu sagen: „Das wissen wir nicht“, sondern im Hinblick auf bestimmte Klassen von Tatsachen fügen sie hinzu: „Die Menschheit muß immer in Unwissenheit verharren.“ So hat in England Professor Huxley den Ausdruck „Agnostiker“ erfunden, weniger für diejenigen, die etwas nicht wissen, als für Leute, die der Möglichkeit der Erkenntnis auf bestimmten Gebieten Grenzen setzen. In Deutschland hat Professor E. Du BoisReymond den Schlachtruf angestimmt „Ignorabimus“ („Wir werden es nie wissen“), und er wie auch sein Bruder haben sich des schwierigen Beweises unterfangen, daß bezüglich bestimmter Probleme keine menschliche Erkenntnis möglich sei. (Siehe insbesondere Paul Du BoisReymond, Über die Grundlagen der Erkenntnis in den exakten Wissenschaften, Tübingen, 1890.) Wir müssen aber feststellen, daß es in diesen Fällen nicht um die Grenzen der wissenschaftlichen Methode geht, sondern um die Behauptung, daß überhaupt keine Methode zur Erkenntnis führen könne. Nun möchte ich den Gedanken wagen, daß dieser Schlachtruf „Wir werden es nie wissen“ seine großen Gefahren hat. Der Ruf „Wir wissen es nicht“ ist unproblematisch und heilsam, doch der Versuch, das Fortbestehen der Unwissenheit bis in alle Ewigkeit zu beweisen, dürfte doch eine an Verzweiflung grenzende Bescheidenheit sein. Angesichts der vergangenen großen Errungenschaften und der gegenwärtigen rastlosen Tätigkeit der Wissenschaft könnte es doch besser sein, jenen Ausspruch von Galilei zu unserer Parole zu machen: „Wer möchte wohl dem menschlichen Geist Grenzen setzen?“ – und ihn im Lichte dessen zu verstehen, was uns die Entwicklungsgeschichte über das ständige Wachstum der menschlichen Geisteskräfte gelehrt hat.13

Es ist stets riskant, „niemals“ zu sagen, ganz besonders bezüglich der Zukunft der Erkenntnis.

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7. LETZTE FRAGEN Das Problem der Vollständigkeit der Fragenbeantwortung bei einem Erklärungshorizont zur Systematisierung unserer Erkenntnis ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist hier, dass jeder wissenschaftliche Horizont zur Systematisierung unseres Tatsachenwissens das Recht hat, bestimmte Arten von Fragen für unangebracht zu erklären – sie „stellen sich gar nicht“. Wenn etwa eine bestimmte Form der Bewegung (seien es die Kreise des Aristoteles oder die Geraden Galileis) als „natürlich“ bezeichnet wird, dann heißt das, dass man auf die Frage verzichten soll, warum sich die Gegenstände bei Abwesenheit äußerer Kräfte so bewegen. Oder wenn die Halbwertzeit eines bestimmten Isotops des Kaliforniums mit 23,5 Jahren angegeben wird, dann darf man – im Rahmen der modernen Quantentheorie – nicht fragen, warum ein bestimmtes Atom dieser Substanz erst nach 100 Jahren zerfallen ist. Wenn ein Erklärungssystem eine bestimmte Gruppe von Fragen faktisch ausschließt, dann darf man ihm das wohl nicht als Mangel anrechnen. Jedenfalls ist es wichtig, verschiedene Arten von „Erkenntnisgrenzen“ zu unterscheiden, insbesondere: 1. insolubilia: Fragen, die man sinnvoll stellen kann, die man aber jetzt und in aller Zukunft nicht beantworten kann; 2. „unangebrachte Fragen“: Fragen, die nur deshalb unbeantwortbar sind, weil es gute und hinreichende Gründe dafür gibt, dass sie sich auf der betreffenden Diskussionsebene in Wirklichkeit gar nicht stellen, weil deren Grundannahmen den wesentlichen Voraussetzungen einer solchen Frage widersprechen. Die Vollständigkeit der Fragenbeantwortung sollte also nicht anhand aller Fragen beurteilt werden, sondern anhand aller angemessenen oder zulässigen Fragen. Und ein Erklärungssystem hat das Recht, bei der Bestimmung dieser Zulässigkeit ein Wort mitzureden. Es kann bestimmte Fragen als „letzte Fragen“ bestimmen – als an der Grenze stehend, über die man das Fragen nicht hinaustreiben darf.

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Doch natürlich ist damit nicht unbedingt alles ausgemacht. Man darf einem Erklärungssystem nicht allzu viel Freiheit einräumen, unbequeme Fragen einfach auszuschalten. Man muss sich letzten Endes das Recht vorbehalten, das System selbst zu verwerfen, weil „es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt …“ Über die Grenzen anzeigenden Fragen der 1. und 2. Art hinaus gibt es noch: 3. „letzte Fragen“: Fragen, die die Grundannahmen eines Erklärungssystems (nicht verletzen, sondern) erkennen lassen, indem sie deren eigentliche Beschaffenheit (nicht – wie [2] – verletzen, sondern) zur Geltung bringen. Solche „letzte“ Fragen lassen sich nicht innerhalb des Systems lösen, auf das sie sich beziehen: Innersystematisch sind sie unlösbar, aber damit natürlich nicht notwendig insolubilia überhaupt. Wir wollen kurz das übliche Musterbeispiel einer letzten Frage für das wissenschaftliche System der Erklärung betrachten, Leibnizens Frage: Warum existiert überhaupt etwas? Dabei darf man auf keinen Fall den „kausalen Fehlschluss“ begehen und eine Antwort der allgemeinen Form versuchen: Weil X existiert und X für die Existenz relevant ist. Eine solche Antwort wäre offensichtlich unbefriedigend: „überhaupt etwas“ schließt X selbst ein. Ganz Ähnliches gilt für die Abwandlung: „Warum existiert überhaupt etwas in der Welt?“ – „Weil X außerhalb der Welt existiert und X für die Existenz innerhalb der Welt relevant ist.“ Diese Antwort unterläuft natürlich nicht die ursprüngliche Frage, aber verschiebt einfach das Problem auf die Frage der Existenz von X selbst. Es ist klar, dass diese Frage über das kausale Erklärungssystem hinauszielt. Ist sie deswegen unzulässig? Untersuchen wir das genauer. Die möglichen (und wirklich ins Auge gefassten) Ansätze zur Beantwortung der „letzten“ Frage, warum überhaupt etwas existiert, lassen sich folgendermaßen einteilen: 1. Auflösung (Beseitigung) der Frage

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2. Lösungen: A. Keine Ursache B. Notwendigkeit C. Teleologische Lösung Betrachten wir sie der Reihe nach. Die Auflösung der Frage geht von der Behauptung aus, die Frage sei unangebracht und unzulässig. Man könne für Gegenstände in der Natur nach Erklärungen fragen, warum sie existieren, aber nicht für die Natur überhaupt. Warum eigentlich nicht? Darauf bekommt man nie eine befriedigende Antwort. Gewöhnlich dreht sich die Argumentation im Kreise, die Unangebrachtheit der Frage wird auf die angebliche Unmöglichkeit geschoben, eine brauchbare Antwort zu finden. Die übrigen, auf Lösungen abzielenden Ansätze erkennen die Frage als solche an. Die Lösung nach dem Motto „es gibt keine Ursache“ sagt faktisch: „So ist es eben.“ Sie stellt sich auf den Standpunkt, für die Existenz gebe es keinen besonderen Grund. „So ist es eben“ – nimm es hin und frag nicht weiter. (Man denke an Carlyles Reaktion auf die Nachricht, eine gewisse Dame habe zur Weltbejahung gefunden: „Mein G - - - , so ist es auch besser!“) Die Lösung, die auf die Notwendigkeit rekurriert, meint, die Dinge existierten, weil es so sein müsse. Es ist ein Spinozistischer Notwendigkeitsglaube, nach dem die Dinge so sind, wie sie sind, weil es unvermeidlich sei. Die teleologische Lösung geht davon aus, dass das Sein riits ub vakye. Die Dinge existieren, weil es „so am besten ist“. Damit bleibt natürlich die Restfrage: Aber warum existiert das, was am besten ist? Und hier möchte man nun nicht sagen: Weil es etwas (Gott, den Weltgeist o. Ä.) gibt, das das Gute verwirklicht. Das wäre einfach ein Rückfall in den kausalen Trugschluss. Man muss die Frage stracks auf ihrem eigenen Boden beantworten: Weil das gut ist. Das Gute ist der letzte Erklärungsgrund.

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Wie soll man entscheiden, welcher Ansatz „der richtige“ ist? Natürlich kann man hier keinen Beweis liefern. Bestenfalls kann man zu zeigen hoffen, dass ein Ansatz im Lichte der Argumente, die es gibt, am ehesten haltbar ist. Und unter eine solchen Kosten-Nutzen-Analyse weist jeder Ansatz wesentliche Mängel auf. 1. Die Auflösung: Warum eigentlich soll die Frage unzulässig sein – abgesehen davon, dass sie für uns schwierig ist? Ist das nicht wieder ein Fall, wo dem Fuchs die Trauben zu sauer sind? 2. Die Lösung: „Es gibt keine Ursache.“ Sie ist gewiss nur ein letzter Ausweg. Sie ähnelt einer Erklärung der Handlungsweise eines Menschen durch einen entsprechenden Affekt. Es ist weniger eine Lösung als eine Kapitulationserklärung – ein Zeichen dafür, dass es keine andere Lösung gibt. 3. Die Notwendigkeitslösung: Dieser Ansatz ist einfach zu problematisch. Es ist schwer, hier eine überzeugende Antwort zu finden. 4. Die teleologische Lösung: Die Teleologie begann schon in der Renaissance in Misskredit zu geraten und hat von Kopernikus bis Darwin einen Schlag nach dem anderen erlitten. Trotzdem gibt es gewisse Anzeichen dafür, dass man eine solche Lösung zum Tragen bringen könnte, und zwar ungefähr folgendermaßen. Man nehme die Grundgleichungen, die die physikalischen „Naturgesetze“ definieren, wie sie unseren erfolgreichsten Versuchen zur Erklärung der Eigenart (des Modus Operandi) der Natur entspringen. Man versuche dann zu zeigen, dass diese selbst ein hinreichender Beweis der Existenz seien. Das heißt, man versuche zu zeigen, dass die Existenz der Welt in ihrer gesetzmäßigen Essenz beschlossen liegt. Die Strategie besteht hier darin, zu zeigen, dass die einfachsten, elegantesten, ästhetischsten Lösungen der kosmischen Gleichungen dann herauskommen, wenn die Hauptparameter von Null verschieden sind, also Existenz implizieren. Die Gesamtstrategie ist

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die Argumentation, angesichts des „Wesens“ des Wirklichen sei seine Existenz „besser“ als die Nichtexistenz. Wenn sich eine solche Argumentation befriedigend ausbauen lässt (zugegebenermaßen ein großes Wenn), dann könnte die teleologische Lösung wohl eine reale Möglichkeit werden. Auf jeden Fall hat diese Betrachtungsweise wichtige Konsequenzen für unsere Analyse. Sie zeigt, dass man eine Frage nicht an und für sich als eine „letzte Frage“ einstufen darf, sondern nur bezüglich eines bestimmten Erklärungshorizonts. Und eine letzte Frage innerhalb eines Erklärungshorizonts braucht nicht an und für sich unlösbar zu sein. Wir sahen ja: Bei jenem Musterbeispiel einer letzten Frage (Warum existiert überhaupt etwas?) bedeutet die Tatsache, dass sie in der Tat für das kausale System (das seiner Natur nach hier nicht weiterkommen kann) eine letzte Frage ist, nicht etwa, dass es keinen anderen Horizont geben könnte (etwa den teleologischen), der mit der Frage mehr oder weniger gut fertig werden könnte. Auch hier tut man wieder gut daran, der Versuchung zu widerstehen, bestimmte Fragen als grundsätzlich unlösbar anzusehen. Denn „letzte Fragen“ haben mit dem Problem der Erkenntnisgrenzen auf eine ganz besondere Weise zu tun. Sie zeigen, wo die Grenzen eines bestimmten Erklärungshorizontes liegen. Sie sind nicht an und für sich „unlösbar“, sondern nur innerhalb des betreffenden Systems. Bekommt man mehr „Boden unter die Füße“, indem man das System erweitert oder ergänzt oder ersetzt, so könnten solche Fragen durchaus beantwortbar werden. Sie sind eine eigene Spezies in unserem kognitiven Schema: Es sind weder echte insolubilia noch unzulässige „unangebrachte Fragen“. Sie haben mit sektoralen und nicht mit den globalen „Grenzen der Erkenntnis“ zu tun.14 LITERATURVERZEICHNIS D. A. BROMLEY, u. a. (1976), Physics in Perspective: Student Edition,

Washington: National Research Council National Academy of Science Publication. E. CASSIRER, (1956), Determinism and Indeterminism in Modern

Physics: Historical and Systematic Studies of the Problem of

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GRENZEN DER WISSENSCHAFTLICHEN ERKENNTNIS

Causality. New Haven. DU BOIS-REYMOND, (1872), Über die Grenzen des Naturerkennens:

Die sieben Welträtsel – Zwei Vorträge. 11. Aufl., Leipzig, 1916. M. FOSTER, (1901), „The Growth of Science in the Nineteenth Centu-

ry“ (presidential address to the British Association for the Advancement of Science 1899), wieder abgedruckt in: Annual Report of the Smithsonian Institution for 1899, Washington, 1901, S. 163–183. G. GORE, (1878), The Art of Scientific Discovery. London. E. HAECKEL, (1899), Die Welträtsel. Bonn. I. KANT, (1783), Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik,

die als Wissenschaft wird auftreten können. K. PEARSON, (1892), The Grammar of Science. London. CHARLES S. PEIRCE, (1931–53), Collected Papers. N. RESCHER, (1976), Methodological Pragmatism. Oxford. G. SARTON, (1936), The Study of the History of Science. Cambridge,

Mass. — (1937), History of Science and the New Humanism. Cambridge, Mass. ANMERKUNGEN 1

D. A. Bromley u. a. (1976), S. 26.

2

S. z. B. Sarton (1936), insbes. S. 5, sowie Sarton (1937), insbes. S. 10–11.

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ANMERKUNGEN 3

Dieses Motto der modernen Wissenschaftstheorie ist gar nicht so neu. Schon um die Jahrhundertwende schrieb Sir Michael Foster (1901), S. 175: „Der Weg [des Fortschritts in der Wissenschaft] ist vielleicht nicht immer gerade; er weist wohl Biegungen in der einen und der anderen Richtung auf; es scheint vielleicht, daß die Ideen immer wieder an den gleichen Punkt der geistigen Gefilde zurückkehren; doch man wird stets finden, daß sie eine höhere Ebene erreicht haben – daß sie sich nicht im Kreise bewegt haben, sondern in einer Spirale. Außerdem wird die Wissenschaft nicht wie ein Haus erbaut, indem ein Stein auf den anderen gelegt wird, und was gefügt ist, das bleibt es bis ans Ende. Wie beim Embryo folgt eine Phase auf die andere, und jedes Glied und der ganze Körper nimmt nacheinander verschiedene Erscheinungsformen an, obwohl es die ganze Zeit dasselbe ist; ebenso scheint eine wissenschaftliche Auffassung in einer Epoche verschieden von der der nächsten …“

4

Eine eingehende Darlegung und Verteidigung Erkenntnisfortschritt findet sich bei Rescher (1976).

5

George Gore (1878), S. 19–20, liefert Beispiele: „Was einem Menschen oder einem Zeitalter unvorstellbar ist, ist es nicht unbedingt auch einem anderen … Ideen, die in einer Epoche die Vernunft übersteigen, werden ihr oft durch den Fortschritt der Erkenntnis doch noch zugänglich. Manche Entdeckungen, die in einem Zeitalter oder bei einem Erkenntnisstand nicht möglich sind, werden es in einem anderen; so hätten die Gesetze des Elektromagnetismus oder der Elektrochemie nicht zu einer Zeit entdeckt werden können, als elektrische Ströme unbekannt waren, und der Satz von der Erhaltung der Materie und der Energie hätte nicht aufgestellt werden können, als die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte.“

6

Die Parallele ist unvollkommen: Man verliert die Probleme der Vergangenheit nicht völlig aus den Augen (und braucht es auch nicht).

7

Kant (1783), Abschn. 57. Vgl. folgende Passage des englischen Chemikers George Gore (1878), S. 27: „Die neuen Erkenntnisse bilden keine Zisterne, die bald geleert ist, sondern eine schier unbegrenzt starke und dauerhafte Quelle … Das Feld der wissenschaftlichen Entdeckungen erweitert sich rasch im Zuge des Fortschritts; jede heute bekannte wissenschaftliche Wahrheit führt zu vielen Fragen, die noch der Beantwortung harren. Einige davon lassen sich heutzutage beantworten, andere vielleicht erst, wenn andere Teile der Wissenschaft weiter entwickelt sind.“

8

Oder vielleicht: von einem bestimmten Punkt an in jedem Stadium.

9

Kant (1783), Abschn. 57.

dieser

Auffassung

vom

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GRENZEN DER WISSENSCHAFTLICHEN ERKENNTNIS

ANMERKUNGEN 10

Dieses Werk erschien zusammen mit einem berühmten älteren Vortrag in Reymond (1872). Oder Du Bois-Reymond vgl. Cassirer (1956), Teil 1.

11

Haeckel (1899). über Haeckel siehe den Artikel von Rollo Hardy in The Encyclopedia/Philosophy (hrsg. v. Paul Edwards), Bd. 3 (New York, 1967).

12

Haeckel (1899), Abschn. 20, Schlußbetrachtung, s. 437.

13

Pearson (1892), § 7. Vgl. folgende Passage bei Peirce (1931-58), Abschnitt 6.556: „Was mich betrifft, so kann ich der Behauptung Kants nicht zustimmen, daß es bestimmte unüberwindliche Grenzen der menschlichen Erkenntnis gebe … Die Wissenschaftsgeschichte liefert genug Beispiele dafür, wie töricht es ist, von diesem oder jenem zu behaupten, es werde sich niemals klären lassen. August Comte hielt es für offenbar unmöglich, daß der Mensch jemals etwas über die chemische Zusammensetzung der Fixsterne erfahren könne, doch noch ehe das Buch seine Leser erreicht hatte, war die von ihm für unmöglich erklärte Entdeckung geschehen. Legendre sagte von einem bestimmten Satz der Zahlentheorie, er scheine wahr zu sein, doch höchstwahrscheinlich übersteige es die Fähigkeiten des menschlichen Geistes, ihn zu beweisen; doch der nächste Autor auf dem Gebiet gab sechs voneinander unabhängige Beweise des Satzes an.“

14

Zuerst erschienen in G. Radnitzyky und G. Andersson (Hg.), Voraussetzungen und Grenzen der Wissenschaft (Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Seibeck), 1981), S. 21– 46.

PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE

V ÜBER EINEN ZENTRALEN UNTERSCHIED ZWISCHEN THEORIE UND PRAXIS 1. THEORIE VS. PRAXIS

S

tellen wir uns eine – häufig anzutreffende – Situation vor, in der verschiedene voneinander abweichende Auffassungen aufeinandertreffen. Einige votieren für die eine Alternative, andere genau für die gegenteilige, einige wollen den einen Punkt gelten lassen, andere einen ganz entgegengesetzten. Handelt es sich beim fraglichen Konflikt um einen theoretischen – ob P oder nicht-P anzunehmen ist –, dann „müssen wir“ offensichtlich „eine Entscheidung treffen“. Natürlich kann der Fall eintreten, dass wir zu keinem Entschluss kommen und deshalb unser Urteil aufschieben müssen. Aber eine solche Enthaltung bedeutet doch eine Entscheidung für die Sicherheit einer Disjunktion – P oder nicht-P –, so dass wir hier in ein Informationsvakuum geraten. Dass etwas entweder X oder nicht-X sein soll, sagt uns in Wahrheit … überhaupt nichts. Das unbestimmte, semantisch dekonstruktive „oder“ führt uns in den Bereich des Nichtwissens. Um in kognitiven Situationen zu irgendeiner sinnvollen Lösung zu gelangen, müssen wir uns so oder so entscheiden. Wir müssen einschätzen, welche die beste Alternative ist, und für diese müssen wir votieren. Gibt es keine einzelne, zwingend richtige Antwort, dann können wir bestenfalls – und das ist ganz eindeutig das rational Angemessene – die plausibelste und am besten begründete Alternative herausfinden und ihr folgen. Das angemessene Verhalten lässt sich in diesem Fall folgendermaßen formulieren: „Suche nach der besten verfügbaren einzelnen Lösung und halte dich an sie“, lautet hier die Maxime für ein angemessenes Verhalten, und unser Motto in diesem Zusammenhang muss lauten: „Votiere für die beste Alternative.“ Im Bereich des Glaubens und der bloßen

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Behauptung verfügen wir über keinen sinnvollen, informativ hilfreichen „Mittelweg“. Bei Fragen der Praxis liegt der Fall allerdings ganz anders. Sind wir nicht in Glaubensfragen, sondern in praktischen Fragen mit gegensätzlichen und voneinander abweichenden Alternativen konfrontiert, so können wir versuchen, zu einer „Sowohl-als-auchLösung“ zu gelangen. Hat das Problem die Form, ob man A oder nicht-A tun sollte, dann sind wir rational gar nicht zu einer Optimierung durch Auswahl der einzigen besten Option gezwungen, denn wir sind in der Lage, nach einem Kompromiss zu suchen. In praktischen Fragen können wir in der Tat Unvereinbares kombinieren und dennoch zu haltbaren Lösungen kommen. Betrachten wir zur Verdeutlichung einige Beispiele. Im 17. Jahrhundert suchte die Regierung des Fürstentums Osnabrück nach einem Fürstbischof. Sollte aber dieser kirchliche Herrscher ein Protestant oder ein Katholik sein? Der Westfälische Friedensvertrag hatte diese Frage durch das einfache Mittel des Wechsels gelöst. Auf einen Katholiken sollte ein Protestant folgen, dann wieder ein Katholik usw. Unvereinbare Lösungen können unter Einbeziehung des Faktors Zeit miteinander vereinbar gemacht werden: Einen Teil der Zeit gilt diese Lösung, einen anderen Teil jene. Oder nehmen wir die Frage der Sklaverei im Amerika des frühen 19. Jahrhunderts. Sollte in einem Bundesstaat nun Sklaverei oder Freiheit von der Sklaverei herrschen? In Missouri wurde 1819–20 ein Kompromiss mit Hilfe einer geografischen Teilung gefunden: Nördlich der Mason-Dixon-Linie Freiheit, südlich Sklaverei. Unvereinbares wurde miteinander kombiniert, diesmal aber nicht mit Hilfe einer zeitlichen, sondern mit Hilfe einer räumlichen Teilung. Und schließlich: Als Hawaii als 50. Bundesstaat in die Vereinigten Staaten aufgenommen wurde und zwei neue Senatoren gewählt wurden, bediente sich der Senat des Zufallsprinzips (Würfel bzw. Karten), um zu entscheiden, welcher der beiden Senatoren die Kompetenzen der längeren Senatsmitgliedschaft erhalten sollte. Einmal mehr wurde ein Kompromiss durch Teilung gefunden, diesmal nicht durch zeitliche oder räumliche, sondern durch Teilung per Zufallsprinzip.

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Wie solche Beispiele zeigen, können wir in praktischen Fällen an sich Unvereinbares durch quasi-räumliche Teilung kombinieren, durch eine Teilung, die nicht nur in einem wirklichen (physischen), sondern auch in metaphorischen „Räumen“ wie denen der Zeit oder der Möglichkeit durchführbar ist. Eine Fülle konkreter Beispiele zeigt, dass dieses Verfahren weithin als akzeptabel gilt. Und ein solches Verfahren ist uns nicht nur möglich, sondern es ist unter den entsprechenden Umständen sogar ausgesprochen sinnvoll, denn in praktischen Fragen können wir konkurrierende Forderungen durch eine angemessene Teilung miteinander vereinbaren. Die Praxis vollzieht sich in den Bereichen der Raum-Zeit und der Möglichkeit, die eine Teilung zulassen. Die Theorie jedoch hat es mit einer Wahrheit zu tun, die zeit- und ortlos ist. Hier ist keine Teilung durchführbar, denn in Fragen der Theorie führt die Unendlichkeit der Streuung unserer Wahrheitsansprüche in einem „logischen Raum“ nur zu Leere und Nichtigkeit. Im Praktischen sind entsprechend Kompromisse möglich, die in der Theorie ausgeschlossen sind. Theorie und Praxis also. Jede Praxis ist, wie die Politik, örtlich bestimmt und kann regionalisiert werden. Was für die eine Region durchführbar und wirkungsvoll ist, kann in einer anderen völlig unbrauchbar sein. Aber Wahrheit, die wirkliche, reine Wahrheit ist nicht teilbar. Wenn etwas wirklich wahr ist (und darüber kann man unter Umständen natürlich streiten), dann ist es immer und überall wahr. Die Wahrheit als solche lässt sich nicht in quasi-räumlicher Weise differenzieren. Die Lehre daraus lautet, dass wir zwar in praktischen Fragen der Entscheidung und Handlung durch eine quasi-räumliche Teilung oder Zuordnung Kompromisse schließen und Verschiedenes zugleich haben können, in theoretischen Fragen der Wahrheitsfindung jedoch vor einer Situation stehen, die Eindeutigkeit verlangt und die weichen Lösungen des Kompromisses verbietet. Denn die Wahrheit ist ihrer Natur nach kompromisslos; sie muss mit der Wirklichkeit übereinstimmen, und die Wirklichkeit – so müssen wir annehmen – ist eindeutig bestimmt.1 Aus dieser Situation ergeben sich nun interessante Folgen.

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2. VERTEILUNGSGERECHTIGKEIT UND MORALISCHE ANSPRÜCHE Mit Blick auf Fragen der Verteilungsgerechtigkeit angesichts moralischer Forderungen schrieb Leibniz im Jahr 1705: „Die Mathematiker unserer Zeit haben anläßlich der Spiele begonnen, die Glückschancen abzuschätzen. Der Ritter de Meré, dessen Belustigungen und andere Werke gedruckt sind, ein Mann von durchdringendem Geist, der ein Spieler und ein Philosoph war, gab dazu Veranlassung, indem er Fragen über die Partien aufstellte, um zu wissen, wieviel das Spiel, wenn es in diesem oder jenem Punkte unterbrochen würde, wert sei. Er veranlaßte dadurch seinen Freund Pascal, diese Dinge ein wenig zu untersuchen. Die Frage machte Aufsehen und gab Huygens Gelegenheit, seinen Traktat de Alea (über das Würfelspiel) abzufassen. Andere Gelehrte nahmen gleichfalls teil. Man stellte einige Prinzipien fest, deren sich auch der Ratspensionär de Wit in einer kleinen, holländisch geschriebenen Abhandlung über die lebenslänglichen Renten bediente. Der Grund, auf den man sich hierbei gestützt hat, kommt auf die Prosthaphaeresis, d. h. darauf zurück, daß man zwischen mehreren gleich annehmbaren Voraussetzungen ein arithmetisches Mittel nimmt: ein Verfahren, dessen sich unsere Bauern gemäß ihrer natürlichen Mathematik schon lange bedient haben. Wenn z. B. eine Erbschaft oder ein Landgut verkauft werden soll, bilden sie drei Gruppen von Taxatoren; diese Gruppen werden im Niedersächsischen Schurzen genannt, und jede davon macht eine Abschätzung des fraglichen Gutes. Setzen wir, daß die eine es zu dem Werte von 1000 Tlr., die andere zu 1400 Tlr., die dritte zu 1500 Tlr. schätzt, so bildet man die Summe dieser drei Schätzungen mit 3900 und nimmt davon, da es drei Gruppen gewesen sind, den dritten Teil, der 1300 beträgt, als den gesuchten Mittelwert an, oder man nimmt, was auf dasselbe hinausläuft, die Summe der dritten Teile jeder einzelnen Schätzung. Dies ist das Axiom aequalibus aequalia – Annahmen, die gleich möglich sind, muß man gleichmäßig in Betracht ziehen. Sind die Fälle indes nicht gleich, so stellt man das Verhältnis zwischen ihnen fest. Wenn z. B. bei zwei Würfeln der eine Spieler gewinnen soll, wenn er 7 Punkte, der andere, wenn er 9 Punkte hat, so fragt sich: welches Verhältnis findet zwischen ihren Wahrscheinlichkeiten zu gewinnen statt? Ich antworte, daß die Wahrscheinlichkeit für den letzteren nur

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zwei Drittel der Wahrscheinlichkeit für den ersteren beträgt, denn der erste kann mit zwei Würfeln die 7 auf drei Arten erreichen (nämlich mit 1 und 6 oder 2 und 5 oder 3 und 4), während der andere die 9 nur auf zwei Arten erreichen kann, indem er entweder 3 und 6 oder 4 und 5 wirft. Da nun alle diese Würfe gleich möglich sind, so werden sich die Wahrscheinlichkeiten, die wie die Zahlen der gleichen Möglichkeiten sind, wie 3 zu 2 oder wie 1 zu 2/3 verhalten. Ich habe mehr als einmal gesagt, daß eine neue Art Logik nötig wäre, die die Wahrscheinlichkeitsgrade behan dein müßte, da Aristoteles in seiner Topik nichts weniger als dies geleistet, sondern sich vielmehr damit begnügt hat, gewisse, leichtfaßliche, nach den Gemeinplätzen eingeteilte Regeln in bestimmter Ordnung aufzustellen, die gelegentlich von Nutzen sein können, wenn es sich darum handelt, den Vortrag zu bereichern und ihm einen größeren Schein der Wahrheit zu geben, ohne sich darum zu bemühen, uns eine Waage an die Hand zu geben, die notwendig ist, um die Wahrscheinlichkeiten abzuwägen und aufgrund hiervon ein gesichertes Urteil zu fällen.“2

Nach Leibniz besteht der angemessene Verteilungsprozess im Fall konkurrierender Ansprüche in der „Aufteilung des Kuchens“ zwischen den Anspruchsberechtigten gemäß ihrer probabilistischen Aussicht (die er spes nannte).3 In seiner Erörterung dieses Themas der „mathematischen Erwartung“, die, wie er sagt, „ein technischer Ausdruck ist, der sich ursprünglich aus der wissenschaftlichen Untersuchung von Glücksund Zufallsspielen herleitet und für das Produkt des möglichen Gewinns mit der Wahrscheinlichkeit steht, diesen zu erreichen“, schließt sich John Maynard Keynes mit folgender Bemerkung Leibniz’ Prinzip der Teilung an: „Die Lehre scheint vernünftig, aber meines Wissens ist sie nie praktisch befolgt worden.“4 (Dieser letztere Einwand ist einigermaßen wirklichkeitsfremd.) Wir stehen also vor der Frage: Haben Leibniz und Keynes tatsächlich mit der Behauptung recht, dass es sinnvoll ist, Erwartung als Richtlinie für Verteilungsgerechtigkeit zu benutzen? Man mag ohne Weiteres einwenden, dass das Prinzip der proportionalen Teilung nicht anwendbar ist, weil der umstrittene Gegenstand in vielen Fällen gar nicht physisch teilbar ist. (So würden wir es für unpraktikabel halten, einen Ehemann, auf den zwei Frauen

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Anspruch erheben, auseinanderzuschneiden.) Selbstverständlich können wir aber die Wahrscheinlichkeit der Zuerkennung dieses Gegenstandes in einer Verlosung mit angemessen proportional vergebenen Losen teilen. Und so wird diese Frage auch faktisch in verschiedenen lebensweltlichen Situationen geregelt.5 Wenn z. B. einem von zwei Botschaftern mit gleichem Anspruch der Vorzug gegeben werden muss, oder wenn entschieden werden muss, welche von zwei Mannschaften bei einem Spiel den Anfang macht, wird in der Regel eine Münze geworfen. Solche Überlegungen zeigen, dass der Einwand der Unteilbarkeit dem Prinzip der proportionalen Teilung nicht wirklich widerspricht. Tatsache ist aber, dass für Verteilungsfragen zwei verschiedene plausible Ansätze erwogen werden können: der eine gründet auf Proportionalität, der andere auf Überlegenheit. Der proportionalistische Ansatz entscheidet zugunsten des in einer relevanten Vergleichsskala stärksten Anspruchs. Nach dem letzteren Ansatz entscheidet der stärkere Anspruch: Diejenige Seite mit dem vergleichsweise schwersten Gewicht – wie gering auch der Vorteil sei – gewinnt alles. Die herkömmliche Rechtspraxis optiert eindeutig für das Prinzip, nach dem der Sieger alles bekommt, wenn es um die Aufteilung umstrittenen Eigentums geht; die meisten Rechtssysteme verfahren so: Der stärkste Anspruch wird bestimmt, und allein auf dieser Grundlage wird eine Entscheidung getroffen; die Ansprüche der Unterlegenen zählen nicht mehr.6 Angesichts dieser Lage überrascht es nicht, wenn Keynes, wie wir gesehen haben, zugibt, dass das proportionalistische Prinzip, für das er gemeinsam mit Leibniz votiert, nicht den Normalstandard bildet. In Fragen umstrittenen Eigentums steht die Rechtspraxis überall eindeutig auf der Seite des Überlegenheitsprinzips. Damit ist natürlich noch nicht ausgemacht, ob dieser Ansatz gerecht, fair und vernünftig ist. Die Frage bleibt: Liegt die tiefere Gerechtigkeit in dieser Sache bei Leibniz und Keynes mit ihrer Verteidigung des auf Erwartungswerten gründenden Proportionalismus? Gegen Leibniz und Keynes und zugunsten des herkömmlichen Überlegenheitsprinzips in der Rechtsprechung kann in der Tat ein starkes Argument angeführt werden. Um dies zu verdeutlichen, muss

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jedoch weiter zwischen zwei in wichtiger Hinsicht unterschiedlichen Arten von Situationen der distributiven Zuschreibung unterschieden werden, nämlich zwischen dem Fall der Schöpfung von Eigentum bezüglich eines Gegenstandes, der bislang ohne Eigentümer war, und dem Fall der Bestimmung des Eigentums an einem Gegenstand, bei dem eine unzureichende (unsichere) Beweislage bezüglich schon existierenden Eigentums vorliegt. Im ersten Fall handelt es sich um die Frage der Entscheidung über konkurrierende RECHTSANSPRÜCHE in einer Situation ohne Eigentum. Im zweiten Fall geht es um die Entscheidung über die widersprüchliche BEWEISLAGE in einer Situation, in der bereits ein Eigentumsverhältnis besteht. Zwei ganz verschiedene Dinge stehen hier zur Debatte. Für die Frage der Schöpfung von Eigentum ist die schon erwähnte Situation typisch, in der es um die Verteilung des Einsatzes geht, wenn ein Würfelspiel vorzeitig beendet werden muss – das ist genau die Art Problem, aus der sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelte. In solchen Fällen des Spielabbruchs besteht noch kein Eigentumsverhältnis bezüglich eines bestimmten Gegenstandes, es gibt nur unterschiedliche Forderungen und Anspruchserwägungen verschiedener Stärke. Die Teilung soll erst Eigentum schaffen. Der Kontrollfaktor ist dabei ganz einfach die Fairness gegenüber den Spielern. Als entsprechendes Beispiel aus der Rechtssphäre ließe sich ein Erblasser anführen, der seinen Besitz ohne Verfügung einer bestimmten Verteilung seinen Hausangestellten hinterlassen hat, von denen einige lange Jahre in seinen Diensten gestanden hatten, andere erst seit Kurzem. Genau wie im Fall des Spiels erhebt hier jede Partei einen Anspruch auf Vermögenswerte, die bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Eigentümer haben. In dieser Art von Fällen scheint eine Aufteilung nach der Stärke der jeweiligen Ansprüche – sprich hier nach der Länge und dem Stellenwert des geleisteten Dienstes – mehr als billig, weil dabei alle insofern gleich behandelt werden, als jeder der konkurrierenden Parteien ein Anteil zufällt, der der faktischen Stärke ihres Anspruchs entspricht. Wo noch keine Eigentumsverhältnisse vorliegen, sondern nur eine Vielzahl konkurrierender Ansprüche, die unter einen Hut gebracht werden sollen, scheint es nur gerecht, fair und vernünftig, eine proportionale Teilung gemäß der jeweiligen Stärke der Anspruche vorzunehmen.

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Eine ganz andere Art von Situation ergibt sich aber, wenn bereits ein Eigentumsrecht besteht und nur eine unsichere Beweislage bezüglich der Identität des tatsächlichen Besitzers vorliegt. Hier haben wir es mit einer feststehenden Tatsachenlage zu tun, und es geht nur noch darum, die Tatsachen festzustellen. Nehmen wir z. B. den Fall, dass zwei John Smiths Anspruch auf einen gefundenen Gegenstand erheben, von dem nur bekannt ist, dass er einem John Smith gehört. Oder denken wir an Leibniz’ eigenes Beispiel zweier konkurrierender Eigentumsansprüche an einem gewissen Wertgegenstand, wenn die Frage z. B. lautet, welcher von zwei Parteien ein Grundstück nun wirklich übertragen wurde. In solchen Fällen verfahren sämtliche Rechtsprechungen so, dass sie den stärkeren Eigentumsanspruch anerkennen. Und dieser Ansatz ist auch in vielen anderen Zusammenhängen der normale und gebräuchliche, z. B. wenn es darum geht, Erstlingsrechte bei geografischen oder wissenschaftlichen Entdeckungen anzuerkennen (wie etwa im Streit zwischen Peary und Cook, die beide für sich beanspruchten, den Nordpol entdeckt zu haben). Wir behandeln solche Fälle standardmäßig als Fälle, in denen ein Eigentumsrecht vorliegt, und nehmen keine Aufteilung vor. Das scheint vernünftig und angemessen, weil es in solchen Fällen der Zuerkennung schon bestehenden Eigentums in der Tat ausgezeichnete Gründe für den Überlegenheitsansatz gibt, nach dem der Sieger alles bekommt. Um dies weiter zu verdeutlichen, betrachten wir folgende Art von Situation: Gegeben sei ein Wertgegenstand V, dessen Eigentum zwischen zwei Parteien A und B umstritten ist, wobei keine dritte Partei einen plausiblen Anspruch auf diesen Gegenstand hat. Bezüglich der gegebenen Beweislage spreche mehr dafür, den Gegenstand A als ihn B zuzuerkennen. Wie sollte dann der Gesamtwert von V rechtmäßig zwischen A und B aufgeteilt werden? Nehmen wir an, wir teilen den umstrittenen Wert zwischen A und B im Verhältnis x : 1–x für einen noch unbestimmten Wert x. Wenn der Gegenstand nun tatsächlich A gehört, dann wurde der Eigentümer um die Menge 1–x geprellt. Wenn er aber tatsächlich B gehört, dann wurde sein Eigentümer um die Menge x geprellt. Bestimmen wir ferner:

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p = die Wahrscheinlichkeit, dass der umstrittene Gegenstand tatsächlich A gehört 1-p = die Wahrscheinlichkeit, dass der umstrittene Gegenstand tatsächlich B gehört.

Diese Überlegungen zeigen, dass uns das gerechtigkeitsinhärente Desiderat, die Aussicht auf eine Übervorteilung des wahren Eigentümers zu minimieren, in Fällen der Bestimmung von Eigentumsrechten zur Wahl der in der herkömmlichen Rechtspraxis üblichen Methode nötigt, nach der der Sieger alles bekommt.7 Ein proportionales Verfahren führt in Fällen schon bestehender Eigentumsverhältnisse zu einer doppelten Ungerechtigkeit, indem dem Eigentümer weniger gegeben wird, als ihm rechtmäßig zusteht, während zugleich andere mehr bekommen, als ihnen zusteht (was aus dem Blickwinkel der theoretischen Gerechtigkeit nicht weniger problematisch ist). In seiner Abhandlung über die Billigkeit8 vertritt Leibniz die Auffassung, dass Gerechtigkeit (justitia) eine Frage der Übereinstimmung und Proportion (congruitas ac proportionalitas quaedam) ist, und zweifellos geht der Gedanke, Gerechtigkeit habe der Maxime zu entsprechen „jedem das seine“ (suum cuique tribuere), weit in die Geschichte des europäischen Denkens zurück.9 Die Regel „jedem nach seinen Ansprüchen“ – den „Kanon der Ansprüche“ hat man das genannt – ist gewiss ein akzeptables Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit.10 Aber die praktische Umsetzung dieses Prinzips nimmt ganz verschiedene Formen an. Sie kann proportionalistisch verfahren und eine Verteilung nach der relativen beweisbaren Stärke eines jeden Anspruchs vornehmen, sie kann sich aber bei der Verteilung auch ausschließlich am stärksten Anspruch orientieren. Dahinter steht ein wichtiges Prinzip. Es ist klar und intuitiv einleuchtend, dass der Proportionalismus der Gerechtigkeitsforderung in Fällen bereits existierenden Eigentums nicht gerecht wird. Wenn eine Gruppe von Personen einen lange verschollenen Schatz findet, dann ist es nur fair, dass sie ihn unter sich aufteilen. Aber wenn dieser anscheinend herrenlose Fund in Wahrheit bereits einem von ihnen

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gehört und erst vor Tagen oder Monaten verloren worden war, dann liegt der Anspruch des Eigentümers auf der Hand. Für Fragen von Recht und Unrecht spielen schon bestehende Eigentumsverhältnisse eine entscheidende Rolle. Steht das Eigentumsverhältnis erst fest, hat jemand diesbezüglich einen eindeutigen und gültigen Anspruch, dann erfordert die Gerechtigkeit, unser Möglichstes zu tun, um diesem Umstand Rechnung zu tragen. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang noch einmal an Aristoteles’ wichtige Unterscheidung zwischen distributiver und korrektiver Gerechtigkeit.11 In ersterer geht es um die Verteilung von Gütern, die sich bislang in Gemeinbesitz befanden. In letzterer geht es überhaupt nicht um eine Verteilung, sondern um die Wiederherstellung eines Status quo ante in Situationen bereits bestehender Eigentumsverhältnisse. Nun ist der distributive Proportionalismus in Fällen der Zuteilung von Eigentumsrechten bei Gütern ohne Eigentum ausgesprochen sinnvoll. Aber in Fällen, in denen ein Eigentumsverhältnis schon als vollendete Tatsache vorliegt, wird deutlich, dass der Proportionalismus vom moralischen Standpunkt aus unangemessen ist, denn in solchen Fällen führt er zu Ungerechtigkeit. Schließlich ist Gerechtigkeit ein Mittel der vernünftigen sozialen Steuerung. Und aus der Sicht der Sozialpolitik bringt das Ideal der proportionalen Verteilung umstrittenener Güter (durch Verlosung mit Ansprüchen entsprechenden Losen), für die aber schon Eigentumsansprüche bestehen, den großen Nachteil umfassender Eigentumsunsicherheit mit sich. Wenn eine (auch nur geringe) Möglichkeit besteht, dass der Inhaber einer Farm oder eines Geschäftes aufgrund eines irgendwie begründbaren Anspruchs eines Dritten sein (ansonsten relativ sicheres) Eigentum verliert, würde das dazu führen, dass Kapital nicht mehr für Verbesserung und Ausbau, sondern nur noch für die Sicherung dieses Eigentums investiert würde. Pragmatismus und Gerechtigkeit stimmen hier zusammen. Dieser Blick auf die Sache zeigt, dass Leibniz’ Irrtum – und auch derjenige von Keynes, der Leibniz’ Proportionalismus „vernünftig“ fand – in der Vermengung verschiedener Arten von Fällen liegt; zu unterscheiden sind zum einen die Fälle der Bestimmung von Eigenturn, um die es bei der Aristotelischen korrektiven Gerechtigkeit

129 ÜBER EINEN ZENTRALEN UNTERSCHIED ZWISCHEN THEORIE UND PRAXIS

geht, und zum anderen die Fälle der Schöpfung von Eigentum, um die es bei der Aristotelischen distributiven Gerechtigkeit geht. Bei der Schöpfung von Eigentum ist der proportionalistische Ansatz fair und angemessen, da eine proportionale Zuerkennung die unterschiedliche Stärke der konkurrierenden Ansprüche in einer Situation offener Eigentumsverhältnisse berücksichtigt. Es liegt auf der Hand, dass eine vorzunehmende Teilung in einer Situation ohne schon bestehende Eigentumsansprüche dann noch am gerechtesten ist, wenn sie nach der Proportionalität der Ansprüche verfährt, da jeder einzelne Anspruch dabei sorgfältig erwogen und entsprechend berücksichtigt wird. Bei der Bestimmung von Eigentum liegt der Fall ganz anders. Hier hat jede Art der proportionalen Verteilung (ob nach Anteilen oder nach Wahrscheinlichkeitszuschreibung und wie fair auch immer dem Anschein nach) den Fehler, dass alle Prätendenten völlig gleich behandelt werden, obwohl einer von ihnen eben nicht gleich den anderen, sondern in Wahrheit der Eigentümer des umstrittenen Gegenstandes ist. In solchen Situationen schon existierender Eigentumsverhältnisse geht es weniger um Fairness als vielmehr um eindeutig korrektive Gerechtigkeit in der Anerkennung eines faktisch zu Recht bestehenden Anspruchs. Sind nach den vorherrschenden (und nicht inhärent unangemessenen) Spielregeln einer Gesellschaft erst einmal die Eigentumsverhältnisse geklärt, dann muss diesen Tatsachen Rechnung getragen werden, und sie können nicht – in einfacher Gerechtigkeit – als irrelevantes Ärgernis beiseitegeschoben werden. Den Interessen der Gerechtigkeit entspricht hier, wie wir gesehen haben, am besten der herkömmliche, legalistische Ansatz der Vorherrschaft des stärksten Anspruchs gegenüber allen anderen. Einmal mehr lautet unser Motto: „Votiere für den einen besten Weg.“ 3. PERSPEKTIVEN KOMBINIEREN Wir kommen jetzt zum Kernanliegen dieser Erörterungen, nämlich zur weitgehenden Vereinbarkeit und tiefen Übereinstimmung zwischen den beiden bis hierher entwickelten Gedankenrichtungen. Man kann sich das anhand folgender Paare klarmachen: theoretisch angemessen – zur Wirklichkeit „gehörig“

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praktisch angemessen – „der Wirklichkeit zugeschrieben“, d. h. ohne schon bestehendes Eigentum

Zur Lösung einer theoretischen/kognitiven Frage (einer Wahrheitsfrage) müssen wir bestimmen, wo die Wahrheit tatsächlich (und sozusagen „schon“) liegt. Die Theorie bezieht sich auf die Bestimmung dessen, was als Tatsache feststeht, was gewissermaßen als „Sachlage“ zur Wirklichkeit gehört. Die Praxis dagegen bezieht sich auf die Bestimmung dessen, was Tatsache werden soll, was zu tun ist und damit durch unser Handeln der Wirklichkeit zugeschrieben wird. Der Unterschied basiert auf einer zentralen theoretischen Unterscheidung. Bei schon bestehendem Eigentum bezieht sich die fehlende Information, die uns daran hindert, eine ideal korrekte Zuerkennung vorzunehmen, auf eine vollendete und abgeschlossene Vergangenheit; bei Spielteilungen bezieht sich diese fehlende Information auf die kontingente und offene Zukunft. Da es hier keine Eigentumstatsache festzustellen gibt, können wir nicht erkennen, inwiefern den Prinzipien der Wahrheitsfindung eine entscheidend bestimmende Rolle zukommt. Auf dieser Grundlage entspricht also der theoretische Fall bei der Dichotomie Theorie/Praxis genau dem Eigentumsfall bei der Dichotomie schon bestehendes/nicht bestehendes Eigentum. Theoretische Untersuchungen haben es mit der Bestimmung bereits feststehender Tatsachen von (wie man vielleicht sagen könnte) Wirklichkeitseigentum zu tun, während es bei praktischen Entscheidungen um das Verfahren zum Erreichen einer Eigentumszuschreibung geht, darum also, de novo zu entscheiden, wie Wirklichkeitseigentum zuzuteilen ist. Bei der Bestimmung von Eigentum liegt eine Tatsache – eine Tatsachenwahrheit – bereits vor. Bei der Zuschreibung von Eigentum liegt noch keine Tatsache vor – die zu lösende Frage ist eine praktische Frage der Teilung. Worum es in der Erkenntnis geht – die Wahrheiten, die feststehenden Tatsachen entsprechen –, ist gewissermaßen durch die Wirklichkeit schon abgesichert. Beim Handeln geht es jedoch um ein Finden, und die Frage ist hier, was der Wirklichkeit ohne schon vorliegendes Eigentum zuzuschreiben ist.

131 ÜBER EINEN ZENTRALEN UNTERSCHIED ZWISCHEN THEORIE UND PRAXIS

Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die Verfahren einer einheitlichen Alles-oder-Nichts-Zuschreibung im theoretischen Fall und im Fall des schon bestehenden Eigentums vollkommen übereinstimmen. Und das Gleiche gilt für die Teilung und Zuschreibung nach Ansprüchen in den praktischen Fällen und den Fällen ohne bereits vorliegendes Eigentum. Insoweit die Politik der Option für die bestmögliche Alternative im kognitiven Fall vernünftig ist, wird man das Gleiche auch für die Fälle von Verteilungsgerechtigkeit in Situationen mit schon vorliegendem Eigentum sagen können (und umgekehrt). Und insoweit andererseits die Politik der Zuerkennung nach Anspruchsstärke im praktischen Fall vernünftig ist, wird man das Gleiche auch für die Fälle von Verteilungsgerechtigkeit in Situationen mit noch unbestimmten Eigentumsverhältnissen sagen können. Beide Male scheint eine Zuschreibung auf der Grundlage der relativen Stärke der jeweiligen Ansprüche aus den gleichen allgemeinen Gründen ein plausibles Verfahren. Beide Male handelt es sich um die vernünftige Gleichförmigkeit des Vorgehens, also darum, in ähnlichen Situationen ähnlich zu verfahren. Die Probleme der Lösungswahl in den Bereichen kognitiver Entscheidung (potentielle Glaubwürdigkeit) und distributiver Gerechtigkeit (rationale Zuschreibung) scheinen sehr verschieden, weisen jedoch tiefe Gemeinsamkeiten auf. Angesichts der inhärenten Einheitlichkeit vernünftiger Verfahren („behandle gleiche Fälle gleich“) erfordern Ähnlichkeiten übereinstimmende Strategien der Problemlösung. Dieselbe grundlegende Unterscheidung zwischen Theorie (Tatsachenbestimmung) und Praxis (Entscheidung bezüglich Zuschreibung) ist in Fragen des vernünftigen Verfahrens angesichts möglicher Alternativen auf beiden Seiten wirksam. 4. DIE AKZEPTANZ VERSCHIEDENER AUFFASSUNGEN In praktischen Angelegenheiten können wir uns Flexibilität und Toleranz erlauben, weil wir mit der Möglichkeit einer Teilung rechnen. Aber Wahrheitsfragen sind etwas ganz anderes; sie haben klare Konturen und sind nicht flexibel (jedenfalls nicht in normalen Fällen und Situationen). Was das Wissen angeht, gehört Falsches auf

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den Müllhaufen. Ist eine Aussage einmal als falsch erkannt, stellt sie keinen brauchbaren Beitrag mehr zu unserem Wissen als solchem dar. (Mit ihrer Negation steht es natürlich anders, sie kann unserem Wissen hinzugefügt werden.) In der Praxis liegen die Dinge jedoch anders. Tatsache ist, dass sich unter entsprechenden Umständen manchmal beträchtlicher praktischer Nutzen erzielen lässt, wenn man so verfährt, als ob eine falsche Aussage wahr sei. Für praktische Zwecke können wir Behauptungen wie die folgenden durchaus hinnehmen: „Alle Menschen sind vertrauenswürdig“ oder „ich bin sicher, dass ich diesmal gewinne“. Für praktische Zwecke können wir solche Aussagen ziemlich passend umsetzen, indem wir einfach verfahren, wie wir angemessenerweise verfahren würden, wenn sie tatsächlich wahr wären. Denn indem wir vorgehen, als ob solche Behauptungen wahr sind, erzielen wir bessere Ergebnisse. Wenn nur gilt: Fast alle A’s sind B’s, dann ist es ganz klar falsch dafürzuhalten, dass gilt: „Alle A’s sind B’s.“ Aber bei der praktischen Umsetzung dieser Aussage werden wir kaum je Schwierigkeiten bekommen. Oder wenn die A’s und B’s in jenen Hinsichten gleich sind, in denen wir in der Regel mit ihnen zu tun haben, ist es ziemlich gleichgültig, wie verschieden sie in anderen Hinsichten sein mögen. Wenn wir Köche oder Diätplaner sind, können wir uns durchaus nach der (falschen) Idee richten, dass Tomaten Gemüse und keine Früchte sind, ohne damit je in Schwierigkeiten zu geraten. Solche Falschheiten tragen nichts zu unserem Wissen bei, aber sie können praktisch als „Faustregeln“ durchaus nützlich sein. Im Fall der kognitiven Akzeptierbarkeit kann es nur ein Ja oder Nein geben, aber in praktischen Fragen, wo Nützlichkeit am meisten zählt, gibt es Grade der Richtigkeit und Kompromisse. Wir beobachten also, dass dies für Aussagen gelten kann, die lediglich falsch sind, aber interessant ist nun, dass man das Gleiche sogar bei Aussagen beobachten kann, die sich buchstäblich selbst widersprechen. Betrachten wir z. B. die folgende Zusammenstellung selbstwidersprüchlicher und sich selbst dementierender Aussagen: – Universelle Behauptungen sind nie wahr.

133 ÜBER EINEN ZENTRALEN UNTERSCHIED ZWISCHEN THEORIE UND PRAXIS

– Uneingeschränkte Behauptungen übertreiben immer. – Nie-Behauptungen sind nie korrekt. – Vorhersagen sind nie genau. – Allgemeine Regeln haben immer Ausnahmen. – Alle Wissensansprüche sind problematisch. Als kognitive Aussagen sind solche Sätze selbstwidersprüchlich und damit anscheinend absurd. Aber auch hier sieht die Sache anders aus, wenn wir sie aus der Perspektive der Praxis betrachten. Denn so gesehen geht es hier um Verhaltensanweisungen: – Stelle nie universelle Behauptungen auf. – Stelle nie uneingeschränkte Behauptungen auf. – Stelle nie Nie-Behauptungen auf. – Triff nie uneingeschränkte Vorhersagen. – Stelle nie Regeln ohne jede Einschränkung auf. – Erhebe nie dogmatische Wissensansprüche. Solches Verhalten ist alles andere als absurd. Auch wo es sich nicht vollständig umsetzen lässt, bleibt es plausibel und prinzipiell durchführbar. Der selbstdementierende Charakter der ursprünglichen Aussagen steht ihrer Plausibilität als Handlungsanweisung auf praktischer Ebene nicht im Wege. Natürlich lassen sich diese Handlungsanweisungen nicht verteidigen, indem man behauptet, dass Verstöße gegen sie immer zu Fehlern führen, denn damit gerieten wir wieder in die ursprünglichen selbstwiderspüchlichen Unsinnigkeiten. Aber sie lassen sich in der Tat verteidigen als Handlungsanweisungen auf der folgenden einfachen

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Grundlage: Verstöße gegen sie bringen uns nicht derart oft in Schwierigkeiten, dass diese Handlungsanweisungen für uns ein unakzeptabel hohes Risiko bergen. Diese Perspektive auf die Sache hat interessante Implikationen. Denn Tatsache ist, dass dieser Vorgehensweise das Verdienst der Selbstbegründung zukommt. Betrachten wir folgende These (T): Nur wahre Aussagen sind befriedigende Handlungsrichtlinien. Diese These ist eindeutig falsch. Es gibt Gegenbeispiele, von denen wir einige schon erörtert haben. Aber obgleich sie falsch ist, bietet diese These eine durchaus vernünftige Handlungsrichtlinie, denn was sie implizit empfiehlt, ist etwa Folgendes: „Akzeptiere als Grundlage für deine Handlung nur solche Aussagen, die du mit guten Gründen für wahr halten kannst.“ Das ist eindeutig eine sehr vernünftige Empfehlung – und zwar trotz der genannten Gegenbeispiele. Es ist eindeutig das Beste und Vernünftigste, sich in Fragen der Handlungsrichtlinien an der Wahrheit zu orientieren. Tatsache ist also, dass These (T) alles andere als wahr ist. Sie steht für keine tiefe Wahrheit irgendeiner Art, sondern illustriert nur den Kernpunkt unserer gegenwärtigen Erörterungen, dass nämlich praktische Wirksamkeit und buchstäbliche Falschheit in bestimmten Arten von Fällen durchaus zusammen bestehen können. Die These stellt praktisch selbst ein Gegenbeispiel gegen ihre eigene Behauptung dar. Sie hebt sich buchstäblich selbst auf. These (T) ist nur ein weiteres Beispiel des entscheidenden Punktes, um den es hier geht: dass die Angemessenheit und Brauchbarkeit unserer handlungsleitenden Behauptungen in praktischer Hinsicht durchaus nicht deren Wahrheit voraussetzt, weil praktische und theoretische Überlegungen ganz verschiedenen Grundregeln folgen.12 ANMERKUNGEN 1

Natürlich gibt es hier eine mögliche Ausnahme. Die Natur ist schließlich keine völlig abgeschlossene Gestalt, sondern auch etwas Schöpferisches, natura naturans in der Begrifflichkeit Spinozas, etwas Tätiges, das seine jeweiligen Verwirklichungen in eine noch offene Zukunft hinein weiterentwickelt. Und wie jeder andere Tätige kann die Natur Kompromisse schließen, sie kann ihre Lösungen in der Mannigfaltigkeit der Raum-Zeit-Möglichkeit teilen. Allem

135 ÜBER EINEN ZENTRALEN UNTERSCHIED ZWISCHEN THEORIE UND PRAXIS

ANMERKUNGEN

Anschein nach geschieht genau dies in der sub-submikroskopischen Wirklichkeit auf der Quantenebene. Hier, auf der schöpferisch entscheidenden Mikroebene, wo die Natur selbst praktisch ist, „eine Entscheidung darüber trifft“, wie die Wirklichkeit aussehen soll, löst sie nach allem, was wir derzeit sagen können, jene Fragen, mit der die physikalisch möglichen Alternativen sie konfrontieren, durch ziemlich die gleiche Art von Kompromisslösungen, die sich in der Praxis überall anbieten können und die anderswo den Unterschied zwischen diesem Bereich und der wahrheitsbestimmenden Theorie ausmachen. 2

Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen, übers., eingeleitet und erläutert v. Ernst Cassirer, Hamburg 1971,4. Buch, Kap. XVI, § 9,561 f.;Akad.-Ausg. 465–66.

3

Zu Leibniz’ Position in diesem Punkt vgl. v. Verfasser: „Leibniz on Distributive Justice“, in: The Journal of Philosophy, Vol. 86, 1989, 337–52. Die vorliegende Erörterung von Leibniz’/Keynes’ Position schließt an diesen Aufsatz an.

4

John Maynard Keynes, Treatise on Probability, London 1921, 311, Anm. 1. In jüngster Zeit hat auch John Broome die Auffassung vertreten, dass die Fairness in einem Fall, in dem von verschiedener Seite ungleiche Ansprüche auf ein knappes, unteilbares Gut bestehen, eine probabilistische Aufteilung verlangt, und zwar dergestalt, dass die Wahrscheinlichkeit für ein Individuum, das Gut zu erhalten, sich nach der proportionalen Stärke seines Anspruchs richtet. Vgl. Jon Elster, „Taming Chance. Randomization in Judidal and Social Decisions“, in: The Tanner Lectures on Human Values, Salt Lake City 1988,105–189 (vgl. 170).

5

Vgl. Elster, Taming Chance, a. a. O.

6

Ein extremes (und, wie unsere folgende Analyse zeigen wird, sehr fragwürdiges) Beispiel hierfür ist der berühmte Fall Summers vs. Tice (Cal.2d 80, 199 P.2d 1 (1948)), bei dem zwei Angeklagte mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf einen Kläger geschossen haben, und zwar mit gleicher Wahrscheinlichkeit, dass ihr jeweiliger Schuss sich als tödlich hätte erweisen können. Das Gericht war der Auffassung, dass der angerichtete Schaden ein gemeinsam verursachter war, so dass jeder der beiden Angeklagten für die gesamte Tat haftbar war, gegen den anderen aber eine Forderung in Höhe der Hälfte des Schadens besaß, wenn dieser zahlungsfähig war. Wäre es möglich gewesen festzustellen, dass einer der Angeklagten mit größerer Wahrscheinlichkeit geschossen hätte, dann wäre der ganze Schaden zu seinen Lasten gegangen, unerachtet der gleichen Schuld des anderen. Das gleiche Resultat hätte sich ergeben, wenn der Angeklagte, der auf den Kläger schoss, sich nur gewöhnlicher Fahrlässigkeit schuldig gemacht hätte, während der andere, der nicht traf, mit Vorsatz gehandelt hätte. Vgl. Richard A. Epstein, Luck, in: Social Philosophy and Policy, Vol. 6, 1988, 22.

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ANMERKUNGEN 7

Was ist aber mit Fällen, in denen man nicht weiß, ob ein Eigentumsverhältnis existiert, aus dem sich Besitzansprüche ergeben – ob z. B. der in einem Feld gefundene Ring vom Eigentümer verloren oder weggeworfen wurde? Die Natur des Gegenstandes wäre dann entscheidend; bei einem Ring wäre plausibel von bestehendem Eigentum auszugehen, bei einem am Fluss in einer Goldgräbergegend gefundenen Nugget dagegen wäre die Annahme unplausibel, dass ein Eigentümer den Gegenstand dort verloren hat.

8

„Juris et aequi elementa“, in: Georg Mollat (Hg.), Mitteilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften, Leipzig 1893, 22.

9

Vgl. Platon, Politeia, I, 6, 331e; und Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 5.

10

Vgl. Nicholas Rescher, Distributive Justice, New York 1966, 81–83.

11

Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 2–4.

12

Ich danke Robert Meyers für seine Kommentare zu einem Entwurf dieses Aufsatzes, der zuerst in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie Bd. 47, 1999, S. 171–182) erschienen ist (deutsche Übersetzung von Reiner Ansén).

VI DIE BEGRÜNDUNG VON RATIONALITAT: WARUM DER VERNUNFT FOLGEN? ÜBERSICHT (1) Warum der Leitung der Vernunft folgen? Einfach weil dies, soweit wir es feststellen können, die optimalen Erfolgschancen bei der Verwirklichung der angemessenen Ziele liefert. Aber wie kann man wirklich sicher sein, dass das, was lediglich „soweit wir es feststellen können“ optimal ist, tatsächlich optimal ist? Man kann es nicht! Es gibt kein Mittel zu beweisen, dass Rationalität sich auszahlt. (2) Wir können nur die im Wesentlichen pragmatische Rechtfertigung erreichen, nämlich zu zeigen, dass der Ratschlag der Vernunft, so gut wir es beurteilen können, die vielversprechendste Aussicht auf Verwirklichung unserer Ziele darstellt. Die kognitive Rationalität ist letztlich nur innerhalb der praktischen Ordnung der Vernunft zu rechtfertigen. (3) Wenn man eine rationale Rechtfertigung der Rationalität liefert – und was sonst könnten wir beabsichtigen? –, ist das Beste, was man tun kann, der im Wesentlichen zirkulären (aber nicht vitiös zirkulären!) Argumentationslinie zu folgen und nachzuweisen, dass sich die Vernunft selbst dazu verpflichtet, diese Richtung einzuschlagen. 1. DAS PROBLEM DER BEWERTUNG VON RATIONALITÄT

W

arum sollte man rational sein? In gewisser Hinsicht ist dies eine dumme Frage. Denn die Antwort ist nur zu offensichtlich – angenommen, dass das, was wir rationalerweise tun sollen, dasjenige ist (effektiv, per definitionem), für welches die stärksten Gründe

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sprechen, haben wir ipso facto allen Grund, es zu tun. Kurt Baier hat diesen Punkt auf eine schwerlich zu übertreffende Weise ausgeführt: Die Frage „Warum sollte ich der Vernunft folgen?“ ergibt einfach keinen Sinn. Sie zu stellen, zeigt ein völliges Fehlen des Verständnisses der Bedeutung einer „Warum-Frage“. „Warum sollte ich dies tun?“, ist eine Bitte, um den Grund genannt zu bekommen, dass ich dies tun sollte. Sie wird normalerweise gestellt, wenn irgendjemand schon gesagt hat: „Du solltest dies tun“, und sie wird mit der Angabe des Grundes beantwortet. Weil aber „Sollte ich der Vernunft folgen?“ bedeutet: „Sag mir, ob das zu tun, was von den besten Gründen gestützt wird, dasjenige ist, was von den besten Gründen gestützt wird“, gibt es einfach keine Möglichkeit, „warum“ hinzuzufügen. Denn die Frage bekommt nun die Form: „Nenne mir den Grund, weshalb das zu tun, was von den besten Gründen gestützt wird, das Tun desjenigen ist, das von den besten Gründen gestützt wird.“ Es ist genauso, als fragte man: „Warum ist ein Kreis ein Kreis?“1 Aufgrund ihrer Natur als solcher ist die rationale Lösung eines Problems die beste für uns bewältigbare Lösung – diejenige, welche wir annehmen sollten und annehmen würden, wenn wir intelligent vorgingen. Der Impetus zur Rationalität liegt in unserer Verpflichtung, intelligent vorzugehen – „unseren Verstand zu gebrauchen“ – begründet. („Warum rational sein?“ „Es ist intelligent, so zu handeln.“ „Aber warum intelligent vorgehen?“ „Komm, du machst wohl Witze!“) Wenn wir schließlich einmal zugestanden haben, dass etwas sinnvollerweise getan werden sollte, welchen weiteren Grund könnten wir dann noch verlangen? Wenn es erst einmal ausgemacht ist, dass es rational ist, A zu tun – was selbst eine Menge Aufwand erfordern mag –, dann gibt es keinen Freiraum für irgendeinen weiteren Grund, A zu tun; keinen weiteren Punkt, um zu fragen: „Warum A tun?“ Denn auf dieser Stufe spricht – ex hypothesis – der beste aller Gründe bereits dafür, A zu tun. Wenn Rationalität erst einmal etabliert ist, gibt es keine weiteren außer- (oder über-)rationalen Gründe, an die wir vernünftigerweise für eine Beurteilung appellieren könnten. In diesem Sinne also ist die Frage „Warum das Rationale tun?” einfach töricht: Es ist eine Bitte um weitere Gründe zu einem Zeitpunkt, zu dem – ex hypothesis – alle benötigten Gründe bereits vorhanden sind.

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DIE BEGRÜNDUNG VON RATONALITÄT

Obwohl diese Beantwortung unserer Frage vollkommen stichhaltig ist, ist sie doch ein wenig zu einfach. Die zu bewältigende Aufgabe ist in Wirklichkeit komplizierter. Überzeugung, Handlung und Bewertung, wenn sie mit den wirklich – wahrhaftig und tatsächlich – „besten Gründen” begründet sind, müssen notwendig erfolgreich sein. Diese Behauptung ist schlicht zirkulär, weil solche theoretisch „besten Gründe“ genau deshalb die besten sind, weil sie es sind, die die Realisierung der besten Ergebnisse sichern. Aber in dieser Welt sind wir im Allgemeinen nicht in der Lage, von dem tatsächlich Besten als solchem auszugehen, sondern nur von dem uns zur Verfügung stehenden sichtbar Besten – „den besterhältlichen (oder erkennbaren) Gründen“. Wir müssen uns damit zufriedengeben, das „anscheinend Beste“ zu tun – das unter den vorherrschenden Umständen erkennbar Beste. Aber es bleibt die Tatsache, dass die Alternativen, deren Annahme wir angesichts der uns zu einem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Information vernünftigerweise und angemessenerweise als rational ansehen, nicht notwendig tatsächlich optimal sind. Das Problem hinsichtlich des Tuns des Rationalen – des Tuns desjenigen, von dem wir vernünftigerweise unterstellen, dass es von den besten Gründen gestützt wird – ist, dass uns unsere Information, indem sie unvollständig ist, sehr wohl die falsche Richtung weisen kann. Angesichts dieses „Dilemmas der Vernunft“ erkennen wir die Fallstricke und bemerken durchaus die Fragilität dieser „am besten ausgearbeiteten Schemata“. So bleibt das Problem: Weshalb sollten wir aufgrund der vielversprechendsten sichtbaren Alternative handeln, wenn Sichtbarkeit auf die begrenzten Horizonte unseres eigenen, potentiell inadäquaten Ausgangspunktes begrenzt ist? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir damit beginnen, die Situation im Lichte der Berechnung des Gewinn-Erwartungswertes, wie sie im Schaubild ausgeführt ist, zu betrachten. Es ist in dem dort postulierten Kontext klar, dass solange d (die Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit aufgrund der Beachtung des Ratschlages der Vernunft) größer als Null ist – das ist, solange „das rationalerweise Angebrachte zu tun“ die Erfolgswahrscheinlichkeit irgendwie erhöht, egal wie geringfügig –, diese Vorgehensweise dann entscheidungstheoretisch vernünftig ist. Solange wie Rationalität die

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RATIONALITÄR UNTER ENRSCHEIDUNGSTHEORERISCHER PERSPEKRIVE Ich tue nicht das rationalerweise Angebrachte

Wahrscheinlichkeit, (optimalen) Erfolg zu haben Wahrscheinlichkeit, den (optimalen) Erfolg zu verfehlen Wert des (optimal) zu erzielenden Erfolges Wert des verfehlten (optimalen) Erfolges

p 1–p x y

Ich tue das rationalerweise Angebrachte

p+d 1 – (p + d) x y

Es ergibt sich der folgende Erwartungswert EV: EV (nicht-rational 1) = px + ( 1 - p) y = p(x - y) + y EV (rational) = (p + d)x + (1 – p - d)y = p(x - y) + d(x - y) + y Man bemerke: EV (rational 1) > EV (nicht-rational 1) genau dann, wenn d(x–y) > o genau dann, wenn d > 0 (weil offensichtlich (x - y) > 0).

Erfolgsaussichten verbessert, gleich wie bescheiden, stellt ihre Entscheidung die beste Chance dar, den angeratenen Weg für das, was vernünftigerweise zu tun ist. Es sind keine Garantien erforderlich. Schließlich ist doch Wahrscheinlichkeit, wie Bischof Butler sagte, in dieser unvollkommenen subjektiven Welt die „Führerin des Lebens“. Wir müssen uns – und wir müssen es rationalerweise – der Führung der deutlich erkennbaren Wahrscheinlichkeit anvertrauen, dass sich die allgemeine Maxime, das „rationalerweise Angebrachte zu tun“, im Großen und Ganzen als unsere „beste Chance“ herausstellen wird. Rationalität hat es nicht mit dem gegenwärtigen Augenblick und dem gerade aktuellen Problem zu tun als vielmehr mir der gesamten Situation und der gesamten Zeitdauer. Per definitionem ist der rationale Mensch jemand, der Intelligenz gebraucht, um die Wahrscheinlichkeit (d. h. die zuverlässig gebildete subjektive Wahrscheinlichkeit), dass sich die Dinge vorteilhaft für die Beförderung seiner wirklichen Interessen entwickeln, zu maximieren. Genau dadurch wird das Beschreiten des Rationalitätswegs zu einer vernünftigen Vorgehensweise. Rationalität verlangt nach der Annahme der alles in allem (ersichtlich) besten Alternative – d. h. der besten, die für uns unter den jeweiligen Umständen praktisch erreichbar ist. Und wenn in diesem Sinne A dasjenige ist, was

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DIE BEGRÜNDUNG VON RATONALITÄT

rationalerweise zu tun ist, sollten wir erwarten, schlechter gestellt zu sein, wenn wir etwas von A Verschiedenes tun. Freilich mag es gar nicht so weit kommen; wir könnten Glück haben. Aber das ist etwas, das wir nicht verdienen und auch sicherlich keinen Grund haben zu erwarten. Weshalb billigen wir schließlich die Zustandsbeschreibungen der Welt durch die zeitgenössische Wissenschaft? Warum folgen wir den medizinischen Empfehlungen der derzeitigen Ärzteschaft oder den Geschäftsempfehlungen der heutigen Ökonomen? Weil wir wissen, dass sie korrekt sind – oder dass sie zumindest höchstwahrscheinlich wahr sind? Nicht im Geringsten! Wir wissen oder glauben nichts Derartiges – dafür gibt es in der Erfahrung zu starke Gegenbeispiele. Wir akzeptieren sie vielmehr nur deswegen als Richtlinien, weil wir sie als vielversprechender ansehen als alle erkennbaren Alternativen, die wir überschauen können. Wir akzeptieren sie, weil sie uns die größtmögliche subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit bieten – die Wette mit den deutlich besten Chancen. Wir gehen nicht mit uneingeschränktem Vertrauen vor als vielmehr mit der resignierten Einsicht, dass wir momentan nicht besser handeln können. Ähnlich liefern die Empfehlungen der Vernunft keine Erfolgsgarantie, sondern lediglich die alles in allem besten Chancen, unsere Ziele zu erreichen. Wir handeln, kurz gesagt, auf der Grundlage von faute de mieuxÜberlegungen bzw. Betrachtungen der Art „dieses oder nichts Besseres – soweit man sehen kann“. In den realen Situationen der Lebenswelt geht die Vernunft nach Handlungsmustern vor, deren Effizienz nur erhofft werden kann und deren Rechtfertigung eine Sache der „Dieses oder nichts Besseres“-Argumentation ist. Wie der Ertrinkende schnappen wir nach dem nächstbesten Gegenstand. Wir erkennen in aller Deutlichkeit, dass selbst das auf rationalste Weise ausgeführte Schema in die Irre führen kann. Die Realität ist nicht immer und unvermeidlich aufseiten der stärksten Argumente. Die Vernunft gibt keine Erfolgsgarantie, sondern lediglich die Bestätigung, die aussichtsreichste Wette abgeschlossen zu haben – so gut gehandelt zu haben, wie es unter den vorliegenden Umständen möglich war. Man kann nicht schlichtweg und ohne nähere Bestimmung sagen: „Du solltest rational sein, weil Rationalität sich – wenn nicht sicher, so jedenfalls sehr wahrscheinlich – im

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Erreichen von Erfolg bezahlt macht.“ Wir müssen uns vielmehr zufriedengeben mit: „Du solltest rational sein, weil dies – aufs Ganze gesehen und auf die Dauer – die besten, rational vorhersehbaren, Erfolgsaussichten verspricht.“ Und deshalb folgen wir der Vernunft, weil dies für uns rationalerweise sehr sinnvoll ist, insofern es uns mit der ersichtlich besten Aussicht, unsere Ziele zu verwirklichen, versorgt. Man sollte im Allgemeinen aus demselben Grunde rational sein, wie man es in dem besonderen Falle der Wahl des Hungrigen zwischen dem Essen von Brot oder von Sand sein sollte – dass nämlich allem Anschein nach diese Art des Handelns die vielversprechendste Aussicht darstellt, die eigenen vernünftigen Ziele2 zu erreichen. Dennoch bleibt, nachdem all dies gesagt und getan ist, unser Ausgangsproblem realer vs. scheinbarer Optimalität. Denn dieser ganze Ansatz hängt von der Annahme ab, dass „das Tun des Rationalen“ in der Tat die Gesamtaussichten auf einen erfolgreichen Abschluss unserer Pläne erhöhen wird. Ist dies tatsächlich so? Allem Anschein nach ist die Antwort ein schallendes „Natürlich!“. Was hier vorliegt, scheint eine offensichtliche Tautologie zu sein. Es ist klar: Besäße dieser Gegenstand keine Klinge, würden wir ihn nicht als „Messer“ bezeichnen. Ebenso klar ist: Akzeptierten wir nicht, dass das Tun von A die relevanten Erfolgsaussichten erhöhen würde, dann würden wir A nicht als „das, was rationalerweise in dieser Situation getan werden muss“, beschreiben. Wir könnten diesen Handlungsverlauf einfach nicht als „unter den vorliegenden Umständen rational empfehlenswert“ billigen, wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass er die Aussichten auf eine erfolgreiche Problemlösung erhöhte. Denn genau dies ist es, was irgendetwas zu einem „rational Empfohlenen“ macht: seine Erhöhung (soweit man das sagen kann) unserer Chancen, in größerem Maße als mit jeder anderen zur Verfügung stehenden Alternative erfolgreich zu sein. Wir mögen Schwierigkeiten damit haben, das „rational Angebrachte“ unter den besonderen Umständen zu erkennen. Aber wenn unser Verstand damit erst einmal ins Reine gekommen ist, ist auch das Problem der rationalen Ratsamkeit gelöst. Unglücklicherweise ist dies immer noch nicht ganz die Lösung. Denn das Problem bleibt: Welche Wahrscheinlichkeiten sind es

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DIE BEGRÜNDUNG VON RATONALITÄT

genau, mit denen wir operieren? Natürlich wollen wir, dass sie objektive, der realen Welt entstammende Wahrscheinlichkeiten sind; das ist es, was wir idealerweise gerne hätten. Aber in der Tat sind sie nicht mehr als unsere wohlüberlegten Schätzungen solcher Wahrscheinlichkeiten, so gut wir sie angesichts der erhältlichen Information vornehmen können. Und dies bedeutet, dass wir uns wieder einmal rationalen Entscheidungen gegenübersehen, die auf der Grundlage der erhältlichen Daten getroffen worden sind. Wir sind hier mit einer unmittelbaren, lokalen Neuauflage des globalen Problems konfrontiert, dem wir uns bereits widmeten. Während wir uns bemühen, dem Dilemma der Vernunft zu entfliehen, spottet es über uns und kommt durch die Hintertür wieder herein. Denn wir sind hier einmal mehr mit dem bekannten und verzwickten Problem der wirklichen Optimalität von scheinbaren Optima konfrontiert. Und wir können nichts tun, um diesem ungünstigen Umstand zu entfliehen wir haben keine andere Wahl, als ihn in unser Konzept aufzunehmen. Leider sind wir überhaupt nicht in der Lage, beweisen zu können, dass Rationalität sich auszahlt – weder mit Notwendigkeit noch auch nur mit Wahrscheinlichkeit und auf lange Sicht. Wir wissen nicht, ob rationales Handeln in einem besonderen, vorliegenden Falle sich tatsächlich auszahlen wird – noch können wir gar mit fester Zuversicht behaupten, dass dies wahrscheinlich der Fall sein wird (mit eher realer denn subjektiver Wahrscheinlichkeit). Wir können lediglich sagen, dass es, so gut wir den Fall beurteilen können, den für uns vielversprechendsten zur Verfügung stehenden Weg darstellt. Wir haben keine Garantie – uns stehen keine Mittel zur Verfügung, um im Voraus zu entscheiden, dass es sich tatsächlich auszahlt, den Ratschlägen der Vernunft zu folgen. Man betrachte die Folge der Thesen, nach der wir, so gut wir es beurteilen können, das im vorliegenden Falle rational Angemessene tun werden: 1. uns des Erfolgs versichern; 2. uns des Erfolgs versichern, wenn Erfolg überhaupt möglich ist;

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3. in diesem gerade vorliegenden Falle die Erfolgsaussichten (ihre objektive Wahrscheinlichkeit) erhöhen; 4. die Aussichten auf einen guten Gesamterfolg vorstehenden Reihe in ähnlichen Fällen erhöhen.

in

der

Wenn wir diese Liste durchgehen, erreichen wir zunehmend schwächere und damit plausiblere Behauptungen. Und um irgendetwas Vertretbares zu erreichen, müssen wir bis zum Ende der Liste heruntergehen – wir können nicht kurz vor Punkt 4 anhalten. Und selbst hier müssen wir zwischen den sichtbaren, als den wirklichen Chancen entgegengesetzt, unterscheiden. Die Effizienz von Rationalität kann nur in der erörterten Weise einer vernünftigen Erwartung behauptet werden. Unsere gesamten kognitiven und praktischen Angelegenheiten hindurch müssen wir unsere Vorhaben unter Risikobedingungen durchführen. Und wenn wir demzufolge das rational Angebrachte tun und dieses gerade nicht funktioniert, bleibt uns nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Es handelt sich hier um kalkulierte Risiken und plausiblerweise erwartbare Nutzen. Rationalität bietet, wie gesagt, keine Garantien. Angesichts dessen, was eine rationale Prozedur beinhaltet, stehen die Erfolgschancen zu ihren Gunsten. Aber das dürfte ein schwacher Trost sein, wenn etwas schiefgeht. Alles, was wir dann besitzen, ist die Befriedigung, unser Bestes getan zu haben. Der langen Rede kurzer Sinn ist, dass uns nichts dazu „verpflichtet“, rational zu sein, außer unsere Rationalität selbst. Natürlich kann man es irgendwie vorziehen, nicht rational zu sein. In Bezug auf Überzeugung mag ich Kongenialität der Wahrheit vorziehen. In Bezug auf Handlung mag ich Bequemlichkeit der Optimalität vorziehen. In Bezug auf Wertschätzung mag ich das gering einzustufende Angenehme dem entsagungsvolleren Besseren vorziehen. In jeder Hinsicht kann ich mich mutwillig eher für das entscheiden, „was ich einfach mag“, als für dasjenige, was normativ angemessen ist. Aber wenn ich das tue, verliere ich die wichtigen Ziele der kognitiven, praktischen und evaluativen Vorhaben aus den Augen – zum Nachteil meiner wirklichen Interessen (als den

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scheinbaren entgegengesetzt). Es liegt in der Natur der Sache, dass die Vernunft auf der Seite der Rationalität ist. Freilich liefert sie uns keine Garantien. Dennoch: Wenn wir die Vernunft verlassen, haben wir keinen besseren Ort, wo wir (rationalerweise) hingehen könnten. 2. DIE PRAGMATISCHE WENDE: SELBST KOGNITIVE RATIONALITÄT HAT EINE PRAGMATISCHE BASIS Einige zeitgenössische Theoretiker betrachten Rationalität als eine Sache unverfrorenen Egozentrismus – als schlicht übereinstimmend mit den etablierten Normen sozialer Praxis. Eine solche Sichtweise hat verschiedene entscheidende Mängel: (1) Kein sorgfältiger Benutzer der Sprache beabsichtigt, die Unterscheidung rational/irrational einfach auf dasselbe hinauslaufen zu lassen wie konformistisch/nonkonformistisch, und (2) bliebe kein Spielraum übrig für irgendeine mögliche Bewertung der Rationalität sozialer Praktiken selbst. Tatsache ist, dass die verschiedenen sozialen Praktiken (seien sie bezogen auf Untersuchung, Kommunikation, interpersonales Verhalten oder was auch immer) fast immer in einer Gemeinschaft intelligent Handelnder zu bestimmten Zwecken eingerichtet sind – mit denen des Selbstinteresses an allererster Stelle. Und diese Praktiken können jenen Zwecken mehr oder weniger effektiv und effizient dienen. Rationalität ist deshalb der Bewertungsstandard sozialer Praktiken, und nicht umgekehrt. Betrachtungen theoretischer, allgemeiner Art können sicherlich nicht begründen, dass dasjenige, was der optimale Handlungsverlauf zu sein scheint – „so gut man dies sagen kann“ –, tatsächlich optimal ist. Hier können wir nicht mit zwingenden Schlussfolgerungen innerhalb der auf Evidenz und Kognition ausgerichteten Vernunftordnung vorgehen, sondern müssen uns einer völlig anderen Richtung zuwenden und innerhalb der praktischen Ordnung der Vernunft unsere Schlüsse anwenden. Die besterhältliche Rechtfertigung von Rationalität ist ein praktischer Schluss etwa der folgenden Art: 1. Wir wollen und benötigen rational zwingende Antworten auf unsere Fragen – Antworten, die die verfügbare Information optimal widerspiegeln.

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2. Dem Wege kognitiver Rationalität (wie sie gewöhnlich konstruiert wird) zu folgen, ist die beste zur Verfügung stehende Alternative, um rational zwingende Antworten auf unsere Fragen sicherzustellen. Deshalb: Es ist rational angebracht, bei Fragen der Untersuchung (d. i. bei der Beantwortung unserer Fragen) dem gewöhnlichen Weg kognitiver Rationalität zu folgen: Wir tun rationalerweise gut daran, unsere Fragen in Übereinstimmung mit den gewöhnlichen Verfahren kognitiver Rationalität zu beantworten. Es muss betont werden, dass diese Überlegung nach dem folgenden Muster verläuft: Wir haben das inhärent angemessene Ziel 0; Handlungsverlauf A ist der optimal verfügbare Weg zu diesem Ziel; deshalb tun wir rationalerweise gut daran, diesem Weg zu folgen. Dies ist klarerweise ein durch und durch pragmatischer Argumentationsstil. Es ist angebracht, rational vorzugehen, nicht weil wir wissen, dass wir damit (unvermeidlich oder wahrscheinlich) Erfolg haben werden, sondern weil wir erkennen, dass, wenn wir so handeln, wir immer unser Bestmögliches getan haben werden, um dieses Ergebnis zu erzielen: Wir werden die Sache „mit allen Kräften“ unterstützt haben.3 Diese praktische Wende ist letztlich unvermeidbar. Wir können nicht mehr tun, als einen Ansatz zu vertreten, der das, wozu wir am besten in der Lage sind, widerspiegelt. Denn wir können natürlich nicht behaupten: „Wenn du auf rationale Weise zu einer Überzeugung gelangst, dann wird sie sich als wahr herausstellen.“ Das sitzt einfach nicht drin. Wir können höchstens behaupten: Allen relevanten Anzeichen nach besteht guter Grund für die Annahme, dass eine rational gebildete Überzeugung wahr ist. (Genau das ist es, was wir mit „eine rational gebildete Überzeugung“ meinen.)

Die Stichhaltigkeit unseres praktischen Arguments beruht auf der Tatsache, dass wir in Situationen des alltäglichen Lebens einfach das Beste, wozu wir in der Lage sind, tun müssen – dass es sinnlos (und irrational!) wäre, mehr als dies zu verlangen.

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Um es zusammenzufassen: Die Antwort auf unsere zentrale Frage – „ Warum das Rationale tun, wenn man bedenkt, dass wir seinen Erfolg nicht garantieren können?“ – ergibt sich aus mehreren Erwägungen: 1. Soweit wir es sagen können, ist es das Beste, was man tun kann (es ist das scheinbare Optimum). 2. Obwohl scheinbare Optima nicht notwendig wirkliche Optima sind – nicht notwendig optimal als solche sind –, lehrt uns die Erfahrung, dass wir keine Vorgehensweise finden können, die dem, was anscheinend optimal ist, überlegen wäre. („Dies oder nichts Besseres“.) 3. Wenn wir derart vorgehen (nach der Devise: „Ob wir gewinnen oder verlieren, es ist das Beste, was wir tun können“), kommen wir der entscheidenden Forderung, uns selbst zu vergewissern, das für uns in den entsprechenden Umständen Bestmögliche getan zu haben, auf effektivste Weise entgegen. Und die Begründung, weshalb wir uns mit einem solchen praktischen Argument zufriedengeben, erfolgt selbst auf praktische Weise: 1. Wir haben ein bestimmtes (angemessenes) Ziel – nämlich die für eine erfolgreiche Zusammenarbeit wesentliche Garantie der Berechtigung und der interpersonellen Effizienz von Koordination zu leisten. 2. Wir erkennen, dass praktische Vernunft uns den einzigen wirklich praktikablen Weg bietet, eine derartige rationale Koordination und Bewertung zu erreichen. („Dies oder nichts anderes.“) Deshalb: Wir sind rationalerweise gut beraten, den Weg der praktischen Vernunft einzuschlagen, wenn wir die Vernunft beurteilen. Die betrachtete Art des Arguments für Rationalität ist deshalb eher ein praktisches Argument als eines, das sich an den strikt kognitiven

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Bereich von Vernunft hält. Und dies ist das Beste, was zu haben ist. Es abzulehnen – zu sagen, das das am besten Erhältliche einfach nicht gut genug ist – heißt schlicht irrational zu sein. Es überrascht nicht, dass Rationalität hier auf der Seite der Vernunft steht. Pragmatisch gesonnene Philosophen haben schon immer die letztliche Unangemessenheit jeder strikt theoretischen Verteidigung von kognitiver Rationalität betont. Und ihre Vermutungen in dieser Hinsicht sind sicherlich richtig. Man kann eine letztendlich befriedigende Verteidigung rationalen Denkens nicht mittels einer Strategie durchführen, die vollkommen in sich selbst verbleibt. Um eine brauchbare Rechtfertigung zu liefern, ist es schließlich erforderlich, aus der gesamten kognitiven theoretischen Sphäre herauszutreten und nach irgendeiner außerkognitiven Untersuchung für unsere kognitiven Vorhaben zu suchen. Es ist genau an dieser Stelle, dass ein pragmatischer Verweis auf die Voraussetzung für effektives Handeln zu Recht in Kraft tritt. Und dieser pragmatische Aspekt der Problematik weist noch eine andere Seite auf. Die zentrale Rolle der Rationalität als ein Prinzip der Koordination muss ebenfalls hervorgehoben werden. Die conditio humana ist derart beschaffen, dass der adäquate Umgang mit unseren eigenen individuellen Interessen eine ernsthafte Koordination mit anderen erfordert und die Notwendigkeit zu Kooperation und Zusammenarbeit erzwingt. Aber dies ist nur dann zu erreichen, wenn wir uns gegenseitig „verstehen“. Und hier wird Rationalität entscheidend wichtig. Sie ist eine wesentliche Ressource des gegenseitigen Verstehens, des Sich-verständlich-Machens der Menschen untereinander wie auch der Möglichkeit effektiver Kommunikation und Kooperation. Die folgenden drei Punkte sind in dieser Hinsicht entscheidend. (I) Es ist für uns geradezu eine Überlebensfrage, eine geistige Einstellung einzunehmen, die uns in großem Maße für andere vorhersagbar macht, weil wir nur auf dieser Basis gegenseitiger Vorhersagbarkeit Bedingungen erreichen können, die für unser eigenes Wohlergehen wesentlich sind. (2) Der leichteste Weg, um für andere vorhersagbar zu werden, besteht darin, in der Weise vorzugehen, dass sie meine Handlungen auf der Grundlage der Frage „Was würde ich an seiner Stelle tun?“ erklären, verstehen und antizipieren könnten. (3) In dieser

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Hinsicht ist das „anscheinend Beste“ die eindeutig zu treffende Entscheidung, nicht nur wegen ihrer (zugegeben losen) Verbindung zu Optimalität per se, sondern auch wegen ihrer „Auffälligkeit“. Die Suche nach dem „am besten Erhältlichen“ führt einen dazu, diejenige Alternative ins Auge zu fassen, von welcher zu erwarten wäre, dass auch andere sie unter den vorliegenden Umständen erreichen – so dass sie auch die eigenen Entscheidungen verstehen können. Das Streben nach Optimalität ist dementsprechend ein für Rationalität bestimmender Faktor, nicht nur durch seinen direkten Nutzen bei der Erzielung unserer anscheinend besten Erfolgschancen, sondern auch durch sein Bereitstellen eines Prinzips der Handlungsanleitung, das das entscheidende Erfordernis sozialer Koordination auf die am effizientesten realisierbare Weise liefert. (Weshalb aber auf der Grundlage dessen, was rational ist, koordinieren – warum nicht einfach nach der Gewohnheit oder der Mode oder „so wie immer“? Teilweise, weil diese Möglichkeiten uns im Stich lassen, wenn wir den einmal eingeschlagenen Weg „des normalen Gangs der Dinge“ verlassen. Und teilweise, weil sie instabil und von Natur aus unzuverlässig sind.) 3. DIE SELBSTBEZÜGLICHKEIT DER RATIONALITÄT IST NICHT VITIÖS ZIRKULÄR Diese praktische Argumentationslinie scheint die Situation noch in einem unbefriedigenden Zustand zu belassen. Sie besagt (ungefähr): „Du solltest beim Treffen deiner Entscheidungen rational sein, weil es rational ist, zu glauben, dass die am ehesten erreichbaren Aussichten auf das Erreichen von Optimalität auf diese Weise effektiv realisiert werden. (Freilich könnte man es für besser halten, wäre der kursiv gesetzte Satzteil völlig unterdrückt.) Ein Skeptiker ist jedenfalls verpflichtet, auf folgendem Einwand zu bestehen: Die vorgeschlagene praktizistische Rechtfertigung der Vernunft stimmt mit dem Muster überein: „Du solltest genau deshalb rational sein, weil dies das rational Angebrachte ist!“ Und das ist klarerweise zirkulär.

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Es mag fragwürdig erscheinen, den Zuständigkeitsbereich der Vernunft durch einen Appell an das Urteil der Vernunft selbst zu etablieren. Aber diese Zirkularität ist in der Tat nicht wirklich vitiös. Vitiöse Zirkularität macht unsere Anstrengungen dadurch zunichte, dass sie „an der eigentlichen Frage vorbeigeht“; virtuose Zirkularität koordiniert lediglich verwandte Elemente in ihrer gegenseitigen Verknüpfung. Ersteres setzt voraus, was erst zu beweisen ist, Letzteres zeigt einfach, wie die Dinge in einer wohlkoordinierten und sich gegenseitig unterstützenden Beziehung miteinander verbunden sind. Die Selbstbezüglichkeit der Rationalität verdeutlicht lediglich diesen letzten Umstand einer inhärenten Koordination innerhalb all ihrer Teilbereiche. Zugegebenermaßen weist die vorliegende Argumentation einen Anschein vitiöser Zirkularität auf, weil die Kraft des Argumentes selbst auf einem Appell an Rationalität beruht: „Wenn du in deinen Überzeugungen rational sein willst, dann musst du auch rational handeln, weil es rational ist, zu glauben, dass rationales Handeln in puncto Zielerreichung optimal ist.“ Aber diese Art, der Frage auszuweichen, ist unter den vorliegenden Umständen einfach unvermeidbar. Sie ist genau das, was wir wollen und brauchen. Wo sonst sollten wir nach einer rationalen Bewertung der Rationalität suchen als bei der Vernunft selbst? Die einzigen Gründe, rational zu sein, nach denen zu fragen sinnvoll ist, sind rationale Gründe. In diesem epistemischen System haben wir keine Möglichkeit, direkt zu den Tatsachen zu gelangen – ohne den epistemischen Umweg der Sicherung ihrer Ursachen und Gründe. Und es sind natürlich rationalerweise zwingende Gründe und Ursachen, die wir wollen und benötigen. Die Rechtfertigung der Rationalität muss alles in allem reflexiv und selbstbezüglich sein. Eine Begründung von Rationalität zu liefern heißt, zu zeigen, dass Rationalität in einer angemessenen Verbindung mit den Prinzipien der Rationalität steht. Vom Standpunkt der Rechtfertigung aus ist Rationalität ein kreisförmiger Prozess, der in sich selbst endet – kein linearer Prozess, der letztlich auf etwas außerhalb seiner selbst beruht. Es gibt dementsprechend keinen Grund für irgendeine rational berechtigte Unzufriedenheit, keinen Raum für irgendeine Enttäuschung oder Klage bezüglich einer „zirkulären“ Rechtfertigung

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von Rationalität. Wir würden es nicht (sollten es nicht) anders wollen. Wenn es uns keine Ruhe lässt, auf die Frage „Weshalb rational sein?“ überhaupt eine Antwort zu erhalten, ist es klarerweise eine rationale Antwort, die wir benötigen. Die einzige Art, irgendetwas zu rechtfertigen – Rationalität eingeschlossen –, die überhaupt von Wert ist, ist eine rationale. Diese Voraussetzung der Rationalität widerlegt diese nicht, ist nicht schlecht zirkulär, sondern wesentlich – eine unvermeidliche Konsequenz der Selbstgenügsamkeit der kognitiven Vernunft. Es gibt einfach keine befriedigende Alternative, als die Vernunft zu ihrer eigenen Verteidigung zu gebrauchen. Wenn wir uns schon auf dem Meer der Rationalität eingeschifft haben, wollen wir doch hier und jetzt eine Sicherheit, dass wir das Richtige getan haben. Und eine derartige Rückversicherung kann in der Tat gegeben werden – genau entlang der gerade ausgeführten Gedankengänge. Es liegt unvermeidlich in der Art und Weise des in Frage stehenden Legitimationsverfahrens, dass man es einfach nicht vermeiden kann, die Rationalität in der Rechtfertigung ihrer selbst bestehen zu lassen. (Wonach schließlich gefragt wird, ist ein rationales Argument für rationales Handeln, eine Basis für rationale Überzeugung, und nicht Überredung durch irgendetwas möglicherweise Irrelevantes wie Bedrohungen höherer Gewalt.) Man würde nicht nur erwarten, nein fordern, dass Rationalität derart selbstunterstützend sein sollte – dass dies, soweit man es sagen kann, als die beste Vorgehensweise herauskommen mus. Ein wichtiger Punkt muss jedoch sorgfältig beachtet werden. Die vorangegangene Diskussion scheint eine Inkonsistenz zu begehen. Denn es wurde einerseits behauptet, (1) dass eine „rein theoretische“ Rechtfertigung von Rationalität nicht möglich ist und dass eine über zeugende Begründung auf einen außer-theoretischen, pragmatischen Zugang zurückgreifen muss. Andererseits wurde aber auch behauptet, (2) dass es für die Rechtfertigung der Rationalität entscheidend und einzig und allein sinnvoll ist, wenn man nach einer rationalen Rechtfertigung verlangt. Und dieser zweite Punkt verkörpert klarerweise eine „rein theoretische“ Betrachtung, der jedes Element pragmatischer Überlegung vollkommen fehlt – ein Umstand, der allem Anschein nach im Konflikt steht mit Punkt (1).

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Die Lösung dieses scheinbaren Konflikts liegt in der Überlegung, dass, falls die in Punkt (2) in Frage stehende Situation die ganze Geschichte wäre, dann der Einwand des vorherigen Absatzes in der Tat berechtigt wäre. Aber dies ist nicht die ganze Geschichte. Denn alles, was die „rein theoretische“ Argumentation in Punkt (2) zeigt, ist, dass wir nach einer rationalen Rechtfertigung von Rationalität verlangen sollten (und in gewisser Weise auch müssen), weil uns nichts Besseres zur Verfügung steht. Was sie jedoch nicht zeigt, ist, dass diese Art von Rechtfertigung – die beste, die uns erhältlich ist – tatsächlich insofern gut genug ist, als das Vertrauen auf die Vernunft angesichts der Zwecke, die wir mit ihrer Hilfe erreichen wollen, wirklich effektiv ist. (Theoretisch kann sogar das beste uns zur Verfügung stehende Instrument nutzlos sein.) Und genau dieser Punkt ist für die von mir vorgeschlagene Gesamtlinie des rechtfertigenden Argumentierens entscheidend. Denn es ist genau an dieser Stelle, dass der Faktor tatsächlicher Effizienz ins Spiel kommt. Es ist demgemäß klar, dass der pragmatische Aspekt der Rechtfertigung von Rationalität keine zu vernachlässigende, irrelevante Größe ist, sondern ein wichtiger und unentbehrlicher Bestandteil des Gesamtprogramms der Rechtfertigung unseres Vertrauens auf kognitive Rationalität. Vom Rechtfertigungsgesichtspunkt aus ist Rationalität autonom und muss es auch sein. Sie kann keiner externen Autorität unterworfen werden. Rationalität ist im Allgemeinen eine Sache der Systemarisierung, und die Rechtfertigung von Rationalität ist dementsprechend eine Sache systematischer Selbstgenügsamkeit. Der selbst bezügliche Charakter einer Rechtfertigung von Rationalität ist eher eine Vorbedingung ihrer Angemessenheit, als dass er den Fehler vitiöser Zirkularität aufzeigen würde! Nur eine rationale Legitimation von Rationalität würden wir akzeptieren: Irgendeine andere Art würde uns nichts nutzen. Und wenn eine derartige rationale Bewertung nicht zu erwarten wäre, ließe dies auf einen schwerwiegenden Mangel schließen. Freilich interpretieren einige Theoretiker Rationalität als heteronom – als irgendeiner Art externer Autorität, wie etwa dem „Gefühl“ oder dem „Willen“, unterworfen. Derart betont ein zeitgenössischer Philosoph:

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Jedem Urteil zugrundeliegend gibt es eine Entscheidung, die der Handelnde getroffen hat – einen Typus von Entscheidung, bei der das Individuum auf der fundamentalsten Ebene nicht von guten Gründen gezwungen wird; genau deshalb, weil seine getroffene Wahl eine Entscheidung für etwas ausdrückt, was für es als ein guter Grund zählt.4

Eine solche Sichtweise betrachtet rationale Rechtfertigung doch als linear und regressiv – und damit als letztlich auf einem nicht rationalisierten Fundament aufruhend, das selbst völlig außerhalb des Bereichs der Vernunft liegt. Aber jede derartige Sichtweise ist völlig falsch. Denn rationale Bewertung geschieht nicht linear und regressiv, sondern eher zyklisch und in einem systematischen Sinne selbstgenügsam. Wir müssen und dürfen uns nicht mit dem Irrtum ursprünglich zugrundeliegender axiomatischer Wesenheiten einverstanden erklären. Es gibt keine Möglichkeit, gute Gründe durch Willkür oder anderweitige, nicht rationalisierbare Entscheidungen zu begründen. („Zu entscheiden, was als ein guter Grund gelten soll. Wahrlich! Selbst Gott ist dazu nicht in der Lage!“)5 Niemand kann entscheiden, was als gute Gründe zu zählen hat. Im Allgemeinen lernen wir nur in der Schule bitterer Erfahrung, was hierfür in Frage kommt. Zurzeit herrscht ein gewisser Irrationalismus, der die Suche nach rational bewerteten Gründen zurückweist und ein freischwebendes „anything goes“ befürwortet – selbst in der kognitiven Sphäre empirischer Untersuchung.6 Aber natürlich würde jede vernünftige Person, die sich nicht bereits zu einer solchen Position verpflichtet hat, wissen wollen, ob es irgendeinen guten Grund gibt, diese einzunehmen. Und dann sind wir wieder einmal in die Sphäre der Rationalität und der guten Gründe zurückgekehrt. Deshalb gewährt das Dilemma der Vernunft keinen Trost für den Skeptizismus oder den Irrationalismus, und es liefert keine Gründe dafür, die Vernunft zu verlassen oder, noch schlimmer, sich gegen sie zu wenden. Diese selbstunterstützende Rechtfertigung von Rationalität ist die einzige zwingende Art der Bewertung, die wir erhalten können. Aber letztendlich ist es die einzige Art von Rechtfertigung, nach der zu fragen sinnvoll ist, zumal die Rationalität

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selbst uns ermahnt, dasjenige, was wir aller Voraussicht nach erreichen können, als gut genug zu erachten.7 Ein verzweifelter Einwand bleibt noch: „Die Rationalität spricht also in eigener Sache. Nun gut. Aber weshalb sollte ich mich um Rationalität bemühen? Warum sollte ich mich darauf festlegen, intelligent und angemessen zu handeln?“ An diesem Punkt gibt es kaum noch etwas zu sagen. Wenn ich überhaupt einen Grund haben will, muss ich einen rationalen Grund wollen. Wenn ich mich überhaupt um Gründe kümmere, bin ich bereits mitten im Rationalitätsprojekt. Wenn ich aber erst einmal innerhalb des Projekts bin, gibt es für die Vernunft nichts darüber Hinausgehendes, das gesagt werden könnte oder gesagt werden müsste, um es zu rechtfertigen. Auf dieser Stufe sorgt Rationalität bereits für ihre eigene Unterstützung – ihre Rechtfertigung ist ihr sozusagen aufgeprägt. (Das Unterfangen, mit jemandem zu argumentieren, der außerhalb des Rationalitätsbereichs steht, um ihn zu überzeugen, in diesen einzutreten, ist klarerweise eine sinnlose und vergebliche Übung.) Natürlich kann man völlig angemessen Fragen stellen wie: „Warum sollte ich nach der Wahrheit streben; Warum sollte ich meine besten (oder wahren) Interessen verfolgen?“ Aber schon indem ich diese Fragen stelle, frage ich nach Gründen – d. h. ich drücke damit meine Verpflichtung gegenüber dem Rationalitätsprojekt aus. Sich um die Wahrheit und um die eigenen besten Interessen zu kümmern, ist einfach ein fester Bestandteil dieser Verpflichtung. Wenn ich mich nicht um derartige Probleme kümmere, gibt es wirklich keinen Punkt, an dem ich diese Fragen stellen könnte. Denn in diesem Falle habe ich bereits einen Platz außerhalb des Bereichs der Rationalität, jenseits der Reichweite der Vernunft, eingenommen. Irrationalität – Wunschdenken und Selbsttäuschung – kann bequem und sogar, in gewissem Maße, psychologisch beruhigend sein. Aber sie ist nicht auf kognitive Weise befriedigend. Wenn wir eine brauchbare Verteidigung einer Position wollen, dann muss diese gezwungenermaßen eine rationale sein. Die einzige Rechtfertigung von Rationalität, die vernünftigerweise verlangt werden kann – und die einzige, die Wert hat –, muss in Betrachtungen der systemischen Selbstgenügsamkeit der Vernunft liegen. Letztendlich muss „Warum

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rational sein?“ mit der einzigen rational angemessenen Erwiderung beantwortet werden: „Weil Rationalität selbst uns dazu verpflichtet.“ Indem wir für eine rationale Rechtfertigung von Rationalität sorgen – und welche sonst sollten wir beabsichtigen? –, ist das Beste, was wir tun können, dem im Wesentlichen zirkulären (aber nicht vitiös zirkulären!) Gedankengang zu folgen und anzuerkennen, dass die Vernunft selbst diese Vorgehensweise billigt. Die Selbstbestätigung der Vernunft ist ein wichtiger und notwendiger Aspekt der Rechtfertigung dieses Unternehmens. Aber öffnet die Selbstbezüglichkeit der Vernunft nicht dem Skeptizismus Tür und Tor? Denn die Skeptiker haben immer schon genau auf diesem Punkt insistiert, dass wir das Zugeständnis der Stichhaltigkeit der Vernunft – dass wir nicht fehlgehen werden, wenn wir unserer Vernunft vertrauen – nicht im Voraus beweisen können. Und dies ist, zugegebenermaßen, völlig korrekt. Was man aber natürlich tun kann, ist zu zeigen, dass, wenn wir die Vernunft zurückweisen, wir uns selbst jeglicher (rational gerechtfertigten) Erfolgserwartung berauben. Es gibt keine Garantien, dass unsere vertrauensvoll durchgeführten Unternehmungen sich als erfolgreich erweisen werden. Ob unser Vertrauen tatsächlich in allen möglichen Umständen (Vertrauen in uns selbst, in unsere kognitiven Fähigkeiten, in andere Menschen und dergleichen) gerechtfertigt ist, ist etwas, das wir nicht – den Ereignissen vorausgreifend – in der Natur der Dinge feststellen können. Eine Verknüpfung von Vertrauen mit Hoffnung und Schicksal ist dem kognitiven, dem praktischen und dem evaluativen Projekt gleichermaßen angemessen. Alles in allem müssen wir unsere Unternehmungen unter Risikobedingungen durchführen, ohne gesichertes Vertrauen in die Ergebnisse und ohne Erfolgsgarantien im Voraus. Effizienz ist in allen diesen Punkten eine Sache der Hoffnung und des Vertrauens in die am ehesten verfügbare Wahlmöglichkeit, deren Begründung von einer „Dieses oder nichts Besseres“-Argumentation abhängt. Eine derartige Argumentation wird den Skeptiker natürlich nicht befriedigen. Für ihn unterminiert das Fehlen von Garantien das gesamte Rationalitätsprojekt. Die Einwände des Skeptikers gegen die kognitive Rationalität bedürfen der eingehenderen Behandlung.8

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ANMERKUNGEN 1

Kurt Baier, The Moral Point of View, New York, 1965 (gekürzte Ausgabe), S. 160.

2

Vgl. René Descartes, Abhandlung über Vernunftgebrauchs, 3. Kapitel, 2. Grundsatz.

3

In seinem interessanten Buch A Justification of Rationality (Albany 1976) vertritt John Kekes den Standpunkt: „Die Rechtfertigung der Rationalität ist (wie) eine Devise für das Losen von Problemen, und sie sollte angewendet werden, weil jeder Probleme hat, weil es in jedermanns Interesse ist, seine Probleme zu lösen, und weil Rationalität der vielversprechendste Weg ist“ (S. 168). Diese traditionelle pragmatische Sicht kommt unserer eigenen Position sehr nahe, außer dass sie auf die Rechtfertigung der Rationalität durch effektives Problemlösen abzielt, während unsere Position etwas vorsichtiger ist. Sie behauptet nicht, dass, bezogen auf das Losen von Problemen, die Vorgehensweise der Vernunft tatsachlich unsere beste Zuflucht ist, sondern nur, dass dies so ist, so gut wir es (rationalerweise) beurteilen können. Die gegenwärtige Argumentation bringt derart den Aspekt des Selbstvertrauens der Vernunft, als einer kritischen Rechtfertigung von Rationalität, ins Spiel, und ist dementsprechend kein reiner Pragmatismus.

4

Alasdair Maclntyre, in: A. MacIntyre und St. Haverwas (Hg.), Revisions (Notre Dame u. London 1985), S. 9.

5

Zu diesem Punkt siehe Leibniz’ Korrespondenz mit Arnauld, den Discours de la Métaphysique betreffend.

6

Siehe z. B. Paul K. Feyerabend, Against Method (London/New York 1978).

7

Est ridiculum quaerere quae habere non possumus, wie Cicero weise beobachtete (Pro Archia, IV, 8).

8

Zuerst erschienen in Stefan Gosepath (Hg.), Motive Gründe, Werte: Theorien praktischer Rationalität (Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1999), S. 246–63.

die

Methode

des

richtigen

VII DER AMPHIBISCHE MENSCH

D

ie Menschheit lebt in der Welt der Erfahrung und in der Welt der Vorstellung. Manchmal werden unsere Gedanken und Anstrengungen auf dasjenige gerichtet, was ist – die wirkliche Welt, die der Gegenstand unserer wissenschaftlichen Untersuchungen ist. Manchmal jedoch adressieren wir dasjenige, was nicht ist – die imaginären Gegenstände unserer Phantasien und Spekulationen, unserer Vermutungen und Vorstellungen. Wir sind also Bürger von zwei Welten: der wirklichen Welt unserer realitätsinteraktiven Erfahrung und der Gedankenwelt unserer realitätsaufhebenden Vorstellung. Andauernd beschäftigen wir uns sowohl mit der kognitiven Interaktion mit der Wirklichkeit als auch mit der imaginativen Projektion von realitätsabstraktiven Vermutungen. Doch warum sollten wir uns überhaupt mit irrealen Möglichkeiten beschäftigen? Aus vielerlei Gründen. Fiktionen können unterhaltsam und instruktiv sein – und auch nützlich, weil sie uns durch spekulative Gedanken ermöglichen, in Regionen vorzudringen, in denen die Realität nicht herrscht. Auf der negativen Seite können Fiktionen zur Folge haben, dass wir Täuschungen erliegen, auf der positiven Seite jedoch gestatten sie uns, zu planen und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Und sie versetzen uns in die Lage, unser Verständnis durch Gedankenexperimente und durch die Erforschung von Hypothesen zu erweitern. Fast jeder Schritt in der Geschichte der menschlichen Innovation und Erfindung ist doch dadurch entstanden, dass jemand imaginäre Möglichkeiten in Betracht gezogen hat, darüber spekulierend, was passieren würde, und reflektierend über noch nicht realisierte und vielleicht nicht realisierbare Ereignisse. Überlegung über Alternativen und Planungen, und das hypothesen- und annahmengeleitete Denken überhaupt, bieten markante Beispiele unseres weitreichenden Handels mit Irrealitäten. Die rationale Führung von menschlichen Angelegenheiten verlangt einen unvermeidlichen Rekurs auf bloße

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Möglichkeiten: Wir versuchen uns vor ihnen zu schützen, sie zu verhindern, sie zu verwirklichen usw. Tatsächlich gibt es ein komplexes, jedoch enges Verhältnis zwischen den zwei Reichen der Realität und der Vorstellung. Wir können sie weder effektiv voneinander trennen noch in dem einem Reich erfolgreich leben, ohne in dem anderen engagiert zu sein. *** Die Begriffe und Ideen, die wir benutzen, um unsere Ansichten über nicht-realisierte Möglichkeiten zu formen, müssen immer aus unserer Erfahrung der Wirklichkeit genommen werden. In dieser Hinsicht hatte der klassische Empirismus Recht. Durch unsere Sicht des NichtRealen müssen wir Gebrauch machen von Begriffsmaterial, das von unserer Erfahrung des Realen stammt. Es ist unsere Erfahrung der Realität – und nur der Realität – welches die Quelle des Materials ist, aus dem allein wir unsere Konzeptionen des rein Möglichen formen können. Auf der anderen Seite ist unsere Sicht der Realität selbst ein Produkt der Betrachtung von Möglichkeiten. Phantasievolle Vermutungen sind immer der Ausgangspunkt unseres Theoretisierens. Gedankenexperimente stellen den Ausgangspunkt unserer wirklichen Experimente dar. Keine Wissenschaft des Realen kann ohne den Gebrauch von Imagination, die sich in „Was wäre, wenn“Überlegungen niederschlägt, entwickelt werden. Denn schließlich ist Wissenschaft abstrakt, während Erfahrung immer konkret ist – erst dieses, dann jenes. Wissenschaft handelt von Allgemeinheiten, aber Erfahrung nur von Partikularitäten. Und all dasjenige, welches die Allgemeinheit betrifft, transzendiert die Grenzen wirklicher Erfahrung. Die Erfahrung liefert Episoden, nicht Theorien. Ohne Exkurse in das realitätstranszendierende Reich der Vorstellung, Annahmen, Vermutungen oder Ähnlichem könnten wir nicht über die Spezifitäten der konkreten Erfahrung hinausgehen. Für ein adäquates Verständnis des Realen müssen wir es also unvermeidlich gegen den größeren Hintergrund des rein Möglichen situieren. Im Allgemeinen also beschäftigt uns auf der einen Seite die realistische Modalität – die darauf abzielt, zu charakterisieren, wie die

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Sachen in unserer Erfahrung stehen – und auf der anderen Seite die imaginative Modalität – die darauf abzielt, unsere Einsicht in das Reich der Möglichkeiten zu vergrößern. *** Und nun tritt die Prioritätenfrage in den Vordergrund – und zwar im Zusammenhang mit der Frage, wo die Obergewalt liegt. Dieses Problem ist letzten Endes eine Sache des Zwecks – der Absichten und Ziele des Unternehmens, das wir in Sicht haben. Denn bei wissenschaftlichen Untersuchungen von Weltereignissen und prozessen ist es die Erfahrung, die im Fahrersitz ist oder sein sollte, während im Bereich der intellektuellen und schöpferischen Künste es die Vorstellung und Vermutungen sind, die im Vordergrund stehen. Sehr unterschiedliche Prioritätsprinzipien wirken also in diesen zwei Reichen der Realität und der Möglichkeit. Im Reich der Untersuchung herrscht die Vorrangstellung der substantiell unveränderlichen Erfahrung, wo unsere Wünsche und Präferenzen keine Rolle spielen. Das Reich der Selbstherstellung ist aber auf Möglichkeiten ausgerichtet und gibt einer Vorstellung freie Herrschaft, die nur durch unsere Wünsche und Begierden begrenzt ist. Die wissenschaftliche Untersuchung der Welt wird durch Erfahrung an die Realität gebunden; die imaginativen Künste tun in Gegenteil alles uns Menschen Mögliche, diese Fesseln mittels Vorstellung abzustreifen. Die Grundregeln des faktischen und fiktionalen Diskurses unterscheiden sich deswegen vollkommen – mit verschiedenen Absichten und Zielsetzungen im Blick. *** In dieser Hinsicht, jedoch, findet heutzutage ein enormer und beinahe revolutionärer Wandel statt – eine so fundamentale Veränderung, dass man ohne Übertreibung sagen kann, der homo sapiens steht jetzt an einer der großen Kreuzungen der Menschheitsgeschichte. Die Crux ist hier, das Gleichgewicht zu halten, zwischen Tatsache und Fiktion, zwischen Wirklichkeit und Phantasie, zwischen natürlicher Realität und künstlicher Realität.

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Historisch hat sich die Menschheit den größten Teil ihrer Zeit eng mit der natürlichen Realität beschäftigt. In einer früheren, landwirtschaftlicheren Ära haben die Menschen den ganzen Tag vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang damit verbracht, mit der Natur in der realen Welt zu ringen. Im 19. Jahrhundert konnten die Glücklicheren ab und zu für ein paar Stunden einen Roman lesen. Im größten Teil des 20. Jahrhunderts haben sie nicht mehr als ein paar Stunden damit verbracht, allerlei zu lesen, fernzusehen oder manchmal ins Kino zu gehen. Im 21. Jahrhundert jedoch scheint es der Fall zu sein, dass Menschen einen großen Teil ihrer Zeit im Reich der künstlichen Realität verbringen – nicht nur in ihrer Freizeit, sondern auch in ihrem Arbeitsleben. Viele Stunden verbringt ein Flugschüler in einem Flugsimulator. Viele Stunden verbringt ein Fremdsprachen Lernender im Sprachlabor, Konversation betreibend mit Nicht-Personen. Viele tüchtige Architekten errichten ihre Strukturen nicht vor Ort am Bauplatz, sondern am Computerbildschirm. Die Zeitwaage zwischen dem Schlachtfeld und dem Schlachtsimulator – zwischen Kämpfen und Simulieren – hat sich drastisch in Richtung des modernen hochtechnisierten Kriegers verschoben. Jugendliche hantieren nicht länger an einer Werkbank oder mit einem Chemiekasten, sondern begeben sich auf phantasievolle Abenteuer mit Computerspielen. Und so weiter. *** Und so wird in der gegenwärtigen Ära die Grenze zwischen Realität und Irrealität zunehmend verwischt, weil die Menschen sich so tief ins Künstliche verstricken, dass sie oft nicht mehr in der Lage sind, den Unterschied zu erkennen. Unzählige „Strohhalme im Wind“ zeigen an, dass die Linie zwischen Wirklichkeit und Künstlichkeit, zwischen echter und künstlicher Realität zunehmend verschwommener wird. Die Verbindung von der Phantasie zur Realität lockert sich immer mehr. Kürzlich in der amerikanischen Presse erschienene Schlagzeilen illustrieren das vielfältig. Wir finden, dass ein gefeierter Biograf sich in das Leben seines Biografierten hineinschreibt (Edmond Morris in seiner Biografie von Ronald Reagan). Wir haben den Pulitzer-Preis gewinnenden Geschichtsprofessor, der seine Studenten mit

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Lebenserfahrungen beeindruckt, die er nie hatte (der angesehene Historiker Joseph L. Ellis vom Mt. Holyoke College). Wir haben den Zeitungsreporter, der aufschlussreiche Interviews mit nichtexistierenden Menschen publiziert, den Autobiografen, der auf ein Leben Anspruch erhebt, das er nie gelebt hat, den Autor, der sich selbst und andere davon überzeugen will, dass er einen Text produziert hat, den er nie geschrieben hat. Es scheint, dass die traditionell betonte und geehrte Line der Trennung zwischen Realität und Irrealität immer weniger beachtet wird. Selbst in der Wissenschaft – traditionell gesehen in ihrer definierenden Mission rationaler Untersuchung in die Natur des Realen – kann man das gleiche Phänomen beobachten. In Bezug auf viele wissenschaftliche Leistungen ist es heutzutage schwer zu sagen, ob die evidentielle Basis, auf der sie beruhen, die Beobachtung der Natur ist oder die Untersuchung unserer Modelle davon. Die wissenschaftliche Forschung entfernt sich immer weiter von der Natur. In zunehmendem Maße studieren wir Angelegenheiten, nicht indem wir Naturprozesse selbst erkennen und prüfen, sondern nur aus zweiter Hand, indem wir das Verhalten künstlicher Modelle studieren. Wissenschaft – die Naturwissenschaften eingeschlossen – beschäftigt sich immer weniger mit dem Verhalten der Natur selbst. In dieser Sphäre dringt die Künstlichkeit in einem solchen Ausmaß in den Vordergrund, dass die Behauptung der Wissenschaften, als eine empirische Disziplin zu qualifizieren, in Frage gestellt wird. Die Phänomene, die den Wissenschaftler interessieren, sind immer weniger diejenigen der echten Natur, sondern die Artefakte der kreativen Vorstellung der Wissenschaftler selbst. Analogerweise arbeitet der heutige Ingenieur immer mehr mit Computersimulationen. Die Prozesse, mit denen er sich beschäftigt, sind nicht diejenigen der Natur, sondern diejenigen der Designparameter seiner Computermodelle. Und fast das Gleiche gilt in Bezug auf diejenigen wissenschaftlichen Anwendungen, die das Versprechen der Politikführung in der Ökonomie, der Demografie oder der sozialen Theorie anbieten. Diese basieren heutzutage allzu selten auf sorgfältiger Beobachtung, wie die Dinge „im Feld“ unter den realistischen Komplexitäten und Vielfältigkeiten der wirklichen menschlichen Praxis aussehen. Stattdessen basieren sie auch nur allzu

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oft auf ein Studium von künstlichen Modellen von sozialen und ökonomischen Verhalten und Prozessen. *** Einverstanden – es ist ein Realitätsersatz, der verhindert, die Grenzlinie zwischen Wirklichkeit und Künstlichkeit wahrzunehmen, als solches nichts Neues. Er war nicht erfunden worden am Tage, wo Orson Wells seine bekannte „Krieg der Welten“-Radioübertragung im Mercury Theater of the Air im Jahre 1938 sendete. Menschen, die Fiktion als Tatsache nehmen, waren – wie die Armen – immer schon mit uns auf der Weltbühne. Was jedoch neu ist, ist das Ausmaß der Breite und Tiefe des Phänomens. Und diese Verstärkung hat auch eine weltanschauliche Veränderung herbeigebracht. Denn mit abnehmendem Realitätsrespekt passen sich die Menschen an diesen Zustand der Dinge an. Und so senken sie ihre Erwartungen. Wenn sie sehen, wie man den Unterschied zwischen Realität und Fiktion ächtet, sind viele Leute nicht länger schockiert und abgestoßen. Hier wie anderswo erzeugt Vertrautheit Akzeptanz, und Menschen fangen an, Abnormalität als normal zu akzeptieren. Und dieses erzeugt einen großen Wechsel. Denn in historischer Sicht wurde im normalen Alltagsleben unser Ruf für Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe – für Realitätsrespekt kurz gesagt – immer als etwas Kostbares angesehen. Die Person, die kein festes Verständnis der Grenze zwischen Tatsache und Spekulation – Realität und Irrealität – aufrechterhalten wollte, wurde entweder als ein Schurke angesehen oder als ein Kandidat für das Irrenhaus. Denn Psychologen haben traditionellerweise die Unfähigkeit, eine klare Trennung zwischen dem Realen und dem Imaginären wahrzunehmen und aufrechtzuerhalten, als eine Psychose mit Wahnvorstellungen charakterisiert. Bis vor Kurzem wäre die Idee, dass zwischen dem Realen und dem Irrealen keine entscheidend wichtige Grenze ist, sondern eine Straße, die man nach eigenem Belieben kreuzen kann, mit Verachtung abgelehnt worden. ***

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Ohne Zweifel war der Mensch schon immer eine Amphibie, die sich zwischen den Bereichen der Realität und Fiktion bewegt. Sobald wir uns in den homo sapiens entwickelt hatten, erreichte unsere Lebensweise eine Dualität zwischen der Welt der Natur und der künstlichen Welt. Aber das Phänomen erscheint graduell. Und das, was jetzt im Gang ist, ist ein grundlegender Wandel des Gleichgewichts, bei dem die Vorstellung immer mehr über die Erfahrung gewinnt. Es besteht also die Gefahr, dass wir dabei sind, einen großen und sehr problematischen Schritt zu machen, nämlich uns auf eine mysteriöse Reise zu begeben, die uns immer tiefer in das Reich der vorstellungsbasierten Künstlichkeit hineinträgt. Zum Guten oder (wahrscheinlicher) zum Schlechten sind wir dabei, so scheint es, uns zunehmend von der naturbasierten Erfahrung zu entfernen. Es droht also ein Verlust des Realitätsrespekts, der mit sich die Gefahr bringt, uns selbst vom homo sapiens in den homo imaginans zu verwandeln.1 ANMERKUNGEN 1

Vortrag gehalten am 4. Juli 2002 an der Fernuniversität Hagen bei der Verleihung des Grad Dr. Phil. h. c. Zuerst erschienen in IABLIS: Jahrbuch Für Europäische Prozesse, Bd. 1 (2002), S. 195–200. Ich bedanke mich bei Marion Ledwig für die Hilfe bei der Übersetzung.

VIII HANDLUNGSASPEKTE

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ie die rasch anwachsende Literatur zu diesem Thema zeigt, stellt das Problem, was eine Handlung ist, derzeit ein intensiv bearbeitetes und fruchtbares Gebiet der Philosophie dar. Da sich der größte Teil dieser Literatur mit Detailfragen auseinandersetzt, hat der generische Begriff „einer Handlung“ als solcher – in seiner ganzen vielschichtigen Allgemeinheit – noch nicht die Beachtung gefunden, die er verdient. In diesem kurzen Aufriss werde ich die Frage „Was ist eine Handlung?“ indirekt zu beantworten suchen, indem ich von der Frage ausgehe: „Wie ist eine Handlung zu beschreiben?“ Ich möchte das Instrumentarium für das entwickeln, was man die kanonische Beschreibung einer Handlung nennen könnte. Ziel ist ein im Wesentlichen erschöpfender Katalog der zentralen generischen Elemente von Handlungen, der uns mit einer klassifikatorischen Matrix von Rubriken versieht, unter die die wesentlichen Merkmale von Handlungen klassifiziert werden können. Die folgende Tabelle ist der Versuch einer Kompilierung eines solchen Katalogs: Die deskriptiven Elemente einer Handlung: (1) Handlungssubjekt (WER hat es getan?) (2) Akt-Typ (WAS hat er getan?)1 (3) Modalität der Handlung (WIE hat er es getan?) a. Art und Weise (AUF WELCHE ART UND WEISE hat er es getan?) b. Mittel (WOMIT hat er es getan?)

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(4) Kontext der Handlung (IN WELCHEM KONTEXT hat er es getan?) a. Zeitlicher Aspekt (WANN hat er es getan?)2 b. Räumlicher Aspekt (wo hat er es getan?) c. Umstände (UNTER WELCHEN UMSTÄNDEN hat er es getan?) (5) Gründe und Ursachen der Handlung (WARUM hat er es getan?) a. Kausalität (WAS WAR DIE URSACHE dafür, dass er es getan hat?) b. Finalität (MIT WELCHEM ZIEL hat er es getan?) c. Intentionalität (IN WELCHEM GEISTIGEN ZUSTAND hat er es getan?) Jedes dieser Elemente der kanonischen Beschreibung einer Handlung soll nun kurz diskutiert werden.3 (1) Das Handlungssubjekt Eine Handlung kann von einem Individuum oder einer Gruppe (einer versammelten Menschenmenge, einem Direktorengremium, dem Parlament etc.) vollzogen werden. Gruppen können distributiv, d. h. als einzelne Individuen (z. B. wenn das Auditorium applaudiert), oder kollektiv, d. h. als ein korporatives Ganzes (z. B. wenn der Kongress ein Veto des Präsidenten überstimmt), handeln. (2) Der Akt-Typ Ein Akt-Typ kann auf unterschiedlich konkreten Ebenen näher bestimmt werden. Es kann ein vollständig generischer Akt-Typ sein

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HANDLUNGSASPEKTE

(z. B. „das Öffnen eines Fensters“, „das Spitzen eines Bleistifts“). Eine Charakterisierung eines generischen Akt-Typs kann spezifischer gemacht werden („das Öffnen dieses Fensters“, „das Spitzen dieses Bleistifts“), wann immer auf einen konkreten, bei der Handlung involvierten Gegenstand verwiesen wird (dieses Fenster, dieser Bleistift). Ein solcher spezifischer Akt-Typ ist zwar immer noch ein allgemeiner Typ, involviert aber ein konkretes Einzelding. Selbstverständlich kann jede einzelne Handlung auch auf verschieden allgemeinen Ebenen beschrieben (d. h. unter Typen subsumiert) werden. In einem konkreten Fall könnten wir etwa sagen: „Er hob eine Hand“ oder „Er hob seine rechte Hand“. Diejenigen Elemente der Handlungsbeschreibung, die der Frage „Gegenüber wem oder was hat er es getan?“ entsprechen – d. h. diejenigen Elemente, die es mit den Adressaten oder, wie es in der Grammatik heißt, mit den Objekten der Handlung zu tun haben – sind als wesentliche Teile des sogenannten Akt-Typs anzusehen. Wenn also Georg seinem Kollegen Wolfgang ein Buch übergibt, dann ist der betreffende Akt-Typ nicht „ein Buch übergeben“, sondern entweder der spezifische Akt-Typ „Wolfgang ein Buch übergeben“ oder der generische Akt-Typ „jemandem ein Buch übergeben“. (3) Die Modalität der Handlung Die Modalität der Art und Weise ist ein durchgängiger Begriff. Angenommen, eine Handlung werde vollzogen – etwa, dass Müller seinem Bekannten Maier die Hand schüttelt. War sein Handschlag fest oder lasch, tat er es ruhig oder gehetzt, schwungvoll oder lahm, höflich oder grob? All diese – und zahllose weitere – Charakterisierungen, die angeben, wie die Handlung vollzogen wurde, geben die Modalität der Art und Weise an. Jutta zog die Vorhänge auf. Tat sie dies mit der Kordel, mit ihren Händen oder mit einem Stock? Solche Charakterisierungen der Mittel (Instrumente), mit denen die Handlung getan wurde, geben die Modalität der Mittel an. Die Mittel können generell sein („Er erschoss ihn mit einem Revolver“) oder spezifisch („Er erschoss ihn mit diesem Revolver“). Natürlich, wenn Fritz Luft einatmet oder Däumchen dreht, so ist die Frage, mithilfe welcher Mittel er dies tut, kaum

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sinnvoll – obwohl wir natürlich danach fragen können, wie er es tut. Zu normalen Körperbewegungen braucht man keine äußeren Mittel. Bei vielen anderen Handlungstypen – ausgefallene Beispiele ausgeschlossen – werden die betreffenden Mittel innerhalb des Handlungs-Typs selbst näher bestimmt. (4) Der Kontext der Handlung Nehmen wir an, jemand vollziehe eine Handlung eines bestimmten Typs auf eine bestimmte Art und Weise mit bestimmten Mitteln („Er öffnete die Suppendose spielend leicht mit dem Dosenöffner“). Dann ist aber immer noch offen, in welchem speziellen Kontext er es getan hat, zu welcher Zeit, an welchem Ort, im Verlauf welcher Ereignisse („Es war gestern Nachmittag in der Küche, während er das Radio laufen hatte“). Jede Handlung wird notwendigerweise an einem bestimmten Raum-Zeit-Punkt bzw. bestimmten Raum-Zeit-Punkten und in Umständen vollzogen, durch die sie zu anderen Vorgängen der relevanten Umgebung in Beziehung gesetzt wird. Das Ensemble dieser drei Elemente konstituiert das, was wir den Kontext der Handlung genannt haben. (5) Die Gründe und Ursachen der Handlung Angenommen, eine Handlung werde vollzogen – z. B. dass Joe mit der Faust auf den Tisch schlägt. Diese Tatsache könnte nun durchaus kausal erklärt werden: Er tat es eben „aus Wut“, „weil er betrunken war“, „aus einem unwiderstehlichen Drang heraus“, vielleicht sogar „aufgrund einer post-hypnotischen Suggestion“. All diese AktCharakterisierungen sind Antworten (d. h. partielle Antworten) auf die Frage: Warum hat er es getan? Sie alle beantworten diese Frage im Modus der Kausalität. Wenn wir das Problem von Joes Wünschen einmal beiseitelassen, kann man sagen: Diese Akt-Erklärungen rekurrieren nicht auf die Entscheidungen des Handelnden, sondern auf das Wirken unpersönlicher „Kräfte“. Diese Erklärungen bestreiten bzw. ignorieren einfach, dass der betreffende Akt aus bewussten Entscheidungen des handelnden Subjekts resultiert; es geht somit bei ihnen nur um die Frage, was die Ursache dafür war, dass er es tat.

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HANDLUNGSASPEKTE

Wenn eine Handlung aus einer Entscheidung resultiert – d. h. wenn sie von dem handelnden Subjekt „gewählt“ und nicht einfach als Folge einer „Ursache“ getan wurde –kommt der Aspekt der Finalität ins Spiel. Wir können dann die Frage stellen: „Welches Ziel hatte er dabei vor Augen?“ Wenngleich uns sowohl Ursachen als auch Motive Antworten auf die Frage liefern: „Was führte ihn dazu?“, so liefern doch nur Motive eine Antwort auf die Frage: „Welche Überlegungen führten ihn dazu?“ (In vielen Fällen lassen sich für ein und dieselbe Handlung sowohl Kausal- als auch Motiverklärungen anführen – z. B. „Joe setzte sich, als er merkte, dass ihm die Knie weich wurden“). Kurz, wir können nach den Zielen, Zwecken und Wünschen der handelnden Person fragen, ebenso nach seinen Gründen, Motiven und Absichten. Nun kann es aber auch sein, dass er es „aus Ehrgeiz“, „aus Rücksicht auf ihre Gefühle“ oder „aus Habsucht“ getan hat (d. h. des Prestiges, seiner Beziehungen oder des Gewinnes wegen etc.). Solche Akt-Charakterisierungen sagen uns (insofern der Akt aus einer freiwilligen Entscheidung4 resultierte), was die betreffende Person zu der Handlung motivierte. Sehen wir uns die folgende Gruppe von Kontrasten an: freiwillig/unfreiwillig überlegt/versehentlich absichtlich/unabsichtlich (oder irrtümlicherweise) bewusst/aus Gewohnheit (oder automatisch) wissentlich/unwissentlich willentlich/ohne es zu wollen All diese5 Charakterisierungen beziehen sich auf das, was man –alles in allem – die Intentionalität der Handlung nennen könnte. Es geht bei ihnen um allgemeine Merkmale des geistigen Zustands des Handelnden sowie um die von ihm bezüglich der Handlung angestellten Überlegungen. Sie liefern einen allgemeinen

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Bezugsrahmen, innerhalb dessen das spezifische Problem Kausalerklärung versus Motiverklärung angegangen werden kann. Wenn A von X unwissentlich, unfreiwillig bzw. aus Gewohnheit getan wurde, so verlangt A natürlich nach einer Kausalerklärung;6 hat er es aber bewusst und mit Absicht getan, so würden wir eine Motiverklärung fordern. In der Dichotomie von Gründen und Ursachen der Handlung auf der einen Seite und deren Typ bzw. Modalität bzw. Kontext auf der anderen Seite spiegelt sich die Tatsache, dass der Begriff der Handlung selbst zwei Seiten hat. Wie der generelle Begriff einer Person, in dem physische und mentale Aspekte untrennbar miteinander verbunden sind, so besitzt auch der Begriff einer Handlung sowohl äußere (physische und beobachtbare) als auch innere (mentale und nicht beobachtbare) Bestandteile. Zu seiner äußeren Seite gehört die Frage, was er getan hat, des Weiteren, wie und in welchem Kontext er es getan hat. Zur inneren Seite gehört die Frage, in welchem geistigen Zustand er es getan hat (welche Gedanken, Absichten, Motive er hatte etc.). Dieser letztere Aspekt der Handlung ist unter unserer Rubrik Gründe und Ursachen der Handlung zusammengefasst. Sollten wir nun nicht, so könnte hier eingewandt werden, diese Erklärungsaspekte von den anderen, vielleicht stärker deskriptiven Aspekten der Charakterisierung einer Handlung trennen? „Man unterscheide“, so könnte der entsprechende Rat lauten, „streng zwischen der Frage, was er getan hat, und der Frage, warum er es getan hat.“ Ein solches Vorgehen wäre jedoch undurchführbar. Die Handlungssprache ist allenthalben mit intentionalistisch bzw. finalistisch gefärbten Ausdrucksweisen durchsetzt. Selbst so einfache Sätze wie „Er schenkte ihr sein Auto“, „Er machte das Licht an“ oder „Sie räumte sein Zimmer auf“, sind keine bloßen behavioristischen Beschreibungen eines äußeren Verhaltens; sie sind aufschlussreiche Hinweise auf die intentionalen Aspekte des Geschehens (vgl. „schenkte“ mit „gab“, „machte an“ mit „bewirkte, dass“, „räumte auf“ mit „machte sich zu schaffen in“). Dagegen ist es im Prinzip möglich und in der Praxis auch wünschenswert, eine Grenzlinie zwischen der Beschreibung einer Handlung und ihrer Bewertung zu ziehen. Es gibt eine Unmenge von handlungscharakterisierenden Ausdrücken, die für die bewertende

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HANDLUNGSASPEKTE

Beurteilung von Handlungen relevant sind. Tat er es überlegt oder gedankenlos, besonnen oder unbesonnen? War sein Tun höflich oder grob, angemessen oder unangemessen? Solche Fragen beziehen sich auf die Bewertung der Handlung, nicht auf ihre tatsamengerechte Wiedergabe. Sie haben somit nichts in unserem Katalog der deskriptiven Elemente einer Handlung zu suchen. Gewisse Handlungscharakterisierungen beschreiben weniger die Handlung selbst als vielmehr die Beziehung, in der diese zu anderen Handlungen derselben Person oder von handelnden Subjekten im Allgemeinen steht. War die Handlung typisch oder untypisch, normal oder anomal, charakteristisch oder ungewöhnlich, zu erwarten oder unerwartet etc.? Solche Erwägungen sind zwar ihrer Natur nach eher beschreibend als bewertend, richten sich aber doch primär auf andere Dinge als auf die Handlung selbst. Aus diesem Katalog der deskriptiven Elemente einer Handlung ergeben sich, falls er adäquat sein sollte, erhebliche Konsequenzen für Kennys „Problem der variablen Stellenzahl“ von Handlungssätzen:7 Es stimmt zwar, dass man die Beschreibung einer Handlung immer noch weiter (vielleicht sogar unbegrenzt) ausbauen kann; dies lässt sich jedoch als eine zunehmend detailliertere Darstellung einer begrenzten und überschaubaren Anzahl von distinktiv 8, 9 charakteristischen Aspekten der Handlung ansehen. ANMERKUNGEN 1

Man beachte, dass dies das fundamentale Element in der Beschreibung einer Handlung darstellt und dass sich das „es“, das in der Formulierung aller anderen Fragen vorkommt, auf das relevante Vorkommnis des betreffenden Akt-Typs bezieht.

2

Zur Identifizierung einer (konkreten) Handlung reicht es aus, wenn man das handelnde Subjekt, den Akt-Typ und den Zeitpunkt der Handlung angeben kann. Das heißt aber natürlich nicht, dass eine adäquate Beschreibung einer Handlung nicht erheblich mehr erfordert.

3

Ich bin mir der Ähnlichkeiten zwischen den in der obigen Tabelle aufgeführten Fragen und den Fragen, die in Aristoteles Kategorien implizit enthalten sind, wohl bewusst. Diese Beziehungen sind jedoch zu kompliziert, als dass ich sie hier darlegen könnte.

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ANMERKUNGEN 4

Oder einfach Entscheidung; „freiwillige Entscheidung“ ist ein Pleonasmus.

5

Natürlich gibt es noch weitaus mehr, z. B. „gerne/widerstrebend“ und „selbstsicher/ zögernd“ usw.

6

Ebenso bei Verhaltensweisen, die man am besten keine Handlungen nennt, obwohl sie mit diesen zahlreiche Gemeinsamkeiten besitzen, wie z. B. Reflexhandlungen oder ein derart „automatisches“ Verhalten wie Niesen. Der Klarheit wegen sollten wir diese Verhaltensweisen, bezüglich derer Fragen der Finalität und der Intentionalität gar nicht auftauchen, nicht zur Rubrik Handlungen nehmen.

7

A. Kenny, Handlungen und Relationen.

8

Soweit ich sehe, ist unsere Diskussion für Davidsons Problem der „logischen Form von Handlungssätzen“ (unten, S. 308 H.) nur wenig relevant. Ich wollte hier hervorheben, dass die Dinge, die wir Handlungen nennen, gewisse signifikant unterscheidbare Aspekte besitzen. Bei keiner meiner Bemerkungen geht es aber um die Frage, wie sich die sprachliche Charakterisierung dieser Aspekte mit größtmöglicher Exaktheit, Eleganz, Einheitlichkeit und Präzision erreichen lässt.

9

Zuerst erschienen in G. Meggle (Hg.) Analytische Handlungstheorie, Bd. I (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997), S. 1–7.

IX FEHLSCHLÜSSE ÜBER WILLENSFREIHEIT

H

ier möchte ich nicht darüber diskutieren, ob wir Menschen wirklich einen freien Willen haben. Ich habe nur die Absicht, die Falschheit verschiedener Argumente aufzuzeigen, mit denen Willensfreiheit bestritten wird. Auch werde ich mich hier nicht in analytische Tiefen begeben, indem ich im Einzelnen analysiere, was genau die Ansprüche auf Willensfreiheit beinhalten. Für meine gegenwärtigen Zwecke genügt es, dass eine solche Freiheit in der Tat die Kontrolle des Akteurs über sein Handeln erfordert, was mit der Vorstellung in Widerspruch steht, bei einer angemessenen Erklärung seiner Handlungen ließen sich seine Gedanken und Absichten umgehen. 1. ERSTER FEHLSCHLUSS Den ersten Einwand, den ich kritisieren möchte, hat Daniel Dennett folgendermaßen formuliert: „Wenn der Determinismus wahr ist, dann ist jede unserer Taten und Entscheidungen, so scheint es, das unausweichliche Ergebnis der Summe der physischen Kräfte, die in dem Moment wirken, der wiederum das unausweichliche Ergebnis der Kräfte ist, die einen Augenblick zuvor wirkten und so fort bis zum Anfang der Zeit.“1

Und Peter van Inwagen schreibt: „Falls der Determinismus wahr ist, dann sind unsere Handlungen die Folgen der Naturgesetze und der Ereignisse aus einer fernen Vergangenheit. Aber wir haben keinen Einfluss auf Ereignisse vor unserer Geburt, und wir haben auch keinen Einfluss auf die

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Naturgesetze. Aus diesem Grund haben wir keinen Einfluss auf die Folgen all dessen (einschließlich unseres gegenwärtigen Tuns).“2

Es ist genau dieser Übergang vom „und so fort“ zum „Anfang der Zeit“, der das ausmacht, was ich den Zenonschen Fehlschluss nenne. Damit wird die Möglichkeit einer rückwärtigen Konvergenz ignoriert, wie sie in der folgenden Abbildung dargestellt wird. B X t2 t1

t0

Abb.1 (hierbei steht ti+1 in der Mitte zwischen ti und X). Man betrachte eine Begebenheit B zum Zeitpunkt t0, mutmaßlich als kausales Ergebnis einer freien Entscheidung zum Zeitpunkt X. Um dieses Ergebnis aus dem Vorhergehenden zu erklären, müssen wir sicherlich nicht bis zum „Anfang der Zeit“ zurückgehen. Es handelt sich hierbei nämlich um eine kausale Kompression statt um einen unendlichen Rückgang. Der hier in Frage stehende Fehler ist im Wesentlichen der des notorischen Zenonschen Paradoxes von Achilles und der Schildkröte. Beiden Argumenten liegt ein Fehlschluss zu Grunde, weil jeweils der Umstand missachtet wird, dass dank der Konvergenz eine unendliche Anzahl von Schritten in einer endlichen Distanz zurückgelegt werden kann – allein unter der Bedingung, dass die Schritte immer kürzer werden. Unter der Voraussetzung, dass es keine Begrenzung der Zeitspanne nach unten gibt, in der die Ursache der Wirkung vorhergeht – der Zeitraum kann beliebig kurz sein –, verliert das Argument der Kausalregression gegen die Willensfreiheit all seine Zugkraft. Bei Zenon holt Achilles die Schildkröte niemals ein, weil er immer weiterlaufen muss, ehe er den Endpunkt erreicht. In unserem gegenwärtigen Fall kommt die Erklärung der Begebenheit B niemals bis zum auslösenden Punkt der Entscheidung X, weil die Regression immer weiter geht. In beiden Fällen wird die Vorstellung einer

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FEHLSCHLÜSSE ÜBER WILLENSFREIHEIT

Konvergenz einfach ignoriert, welche den in Frage stehenden unendlichen Prozess in einem endlichen Zeitraum terminiert. So betrachtet bleibt das Kausalprinzip mit dem Freiheitsbegriff völlig vereinbar, weil alle Ursachen, die der Handlung vorausliegen, kausal erklärbar bleiben. 2. ZWEITER FEHLSCHLUSS Sind alle Ereignisse durch Naturkausalität erklärbar, so sind es auch all jene scheinbar freien Entscheidungen von Akteuren. Somit lässt das Kausalgesetz der Handlungskausalität und folglich der Willensfreiheit keinen Spielraum. Um diesen Fehlschluss zu vermeiden, müssen wir einige eher subtile Unterscheidungen treffen und obendrein einen kurzen Ausflug in die Prozessmetaphysik unternehmen. Die erste und wichtigste Unterscheidung an dieser Stelle ist die zwischen zwei Arten von Begebenheiten: dem bloßen Ereignis [event] und dem Eintreten [eventuation]. Ereignisse sind Begebenheiten als Bestandteile natürlicher Abläufe. Sie sind Geschehnisse auf der raumzeitlichen Weltbühne. Deshalb dauern sie eine gewisse Zeit: Sie haben eine endliche Existenz, und die Dauer dieser Existenz füllt immer ein offenes Intervall aus.

Abb. 2: Die Zeitdauer eines Ereignisses Im Unterschied dazu ist das Eintreten kein Teil natürlicher Abläufe, sondern ein abschließender Punkt in ihnen. Es ist ein Zeitpunkt, ihm fehlt die Dauer. Das Eintreten markiert den Beginn oder das Ende von Ereignissen. Nun hat alles menschliche Handeln (jede Handlung und jede Aktivität) Ereignischarakter. Es beansprucht Zeit. Aber der Schlusspunkt, welcher das Ende eines Entscheidungsfindungsprozesses markiert, ist kein Ereignis. Solche Vervollständigungen sind nicht wirklich Verläufe, sondern eher Durchgangspunkte –

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Übergänge, die den Anfang und das Ende von Ereignissen bezeichnen. Nach einer Sache zu suchen, ist eine Tätigkeit; sie tatsächlich zu finden, jedoch nicht. (Hier gibt es grammatisch gesehen keine Verlaufsform des Präsens. Man kann „beim Suchen“ sein, aber nicht „beim Finden“.3) Jemandem zuhören ist eine Tätigkeit, aber hören, was gesagt wird, nicht. Eine Tätigkeit ist ein Ereignis, die Beendigung und Vervollständigung hingegen sind es nicht. Das Wettrennen ist ein Ereignis (wie auch seine verschiedenen Teile, so zum Beispiel die erste Hälfte des Rennens). Jedoch das Beenden des Wettrennens ist ein Eintreten. Das Eintreten ist der End- oder Kulminationspunkt. Man kann fragen: „Wie lange ist er gerannt?“, aber nicht: „Wie lange hat er den Wettlauf begonnen?“ Und ebenso, wie der Wettlauf mit dem Gewinnen (oder Verlieren) beendet ist, endet die Aufgabe genau dann, wenn sie erfüllt (oder aufgegeben) wird. Das Beenden ist folglich ein Eintreten. Somit ist der Schlusspunkt des Rennens, statt der letzte Zeitpunkt des Rennens zu sein, der erste, an welchem es nicht mehr im Gange ist. Und genau dies ist der Fall beim Wählen und Entscheiden, durch welche Deliberationsprozesse beendet werden. Ein Eintreten ist, so verstanden, kein Teil des Prozessgeschehens der Natur, denn Teile von Prozessen sind selber Prozesse. Das Eintreten – der Anfangs- oder Endpunkt – gehört stattdessen zum Instrumentarium der Konzeptualisierung, die der Geist der Natur auferlegt: Es handelt sich um Zweckdienlichkeiten deskriptiver Art, denen nichts entspricht, das sich einer unabhängigen Existenz in der wirklichen Welt erfreute. Dem Nordpol oder Äquator gleich, sind sie keine wirklichen, physisch in der Natur existierenden Dinge, sondern Denkmittel, die von einem Geist auf die Wirklichkeit projiziert werden, der dem Interesse an ihrer Beschreibung und Untersuchung folgt. Deliberationen, so verstanden, sind Ereignisse – Prozesse, die in offenen Intervallen geschehen und im Eintreten von Entscheidungen kulminieren. Dieser Fall ist in Abbildung 3 dargestellt. Sie zeigt, dass immer ein Zeitraum zwischen der Entscheidung und jeder nachfolgenden Handlung besteht – ein Intervall, das es dazwischentreten Ereignissen ermöglicht, als Kausalfaktoren der Handlung zu dienen, die aus der Entscheidung resultiert. Da es keinen

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FEHLSCHLÜSSE ÜBER WILLENSFREIHEIT

unmittelbar auf die Entscheidung folgenden Punkt gibt, wird es immer einen Raum geben, in den weitere Ereignisse vor einem bestimmten, auf die Entscheidung folgenden Ereignis eingebracht werden können. Somit ist die Möglichkeit der Bestimmung durch Ereignisse immer gegeben. Analog gibt es kein erstes, auf die Entscheidung folgendes Ereignis, das die Möglichkeit ausschlösse, durch ein vorhergehendes Ereignis erklärt zu werden. Genau das ist entscheidend für die gegenwärtigen Positionen zur Frage der kausaltheoretischen Erklärbarkeit von Handlungen. Folglich schließt Entscheidungsfreiheit kausale Erklärbarkeit nicht aus. Jedoch gibt es in der Folge einer freien Entscheidung ein Phänomen, das man als kausale Kompression bezeichnen könnte. Jedes Ereignis, das auf diese Entscheidung folgt, kann kausal erklärt werden – aber nur in Bezug auf Begebenheiten innerhalb des unmittelbar vorhergehenden, jedoch der Entscheidung nachfolgenden Zeitraums, dessen Dauer gegen null konvergiert, wenn der Punkt der Entscheidung erreicht ist. Um es zusammenzufassen: Wenn wir das Ereignis vom Eintreten unterscheiden, können wir jedes Handeln (als Ereignis) als kausal erklärbar in Bezug darauf betrachten, was ihm vorhergeht. Willensfreiheit wird mit kausaler Erklärbarkeit von Handlungen vereinbar. Eine freie Entscheidung führt zu einer Reihe von Ereignissen, wobei jedes dieser Ereignisse vollständig in Begriffen der Naturkausalität erklärbar und dadurch in seiner Abfolge bestimmt ist. Aber das gilt für alle dieser Entscheidung folgenden Ereignisse, jedoch nicht für die freie Entscheidung selbst. Moment der Entscheidung

Zeit →

t0

Beginn eines auf die Entscheidung folgenden Ereignisses

t0 + ∆

Raum für weitere, das Ereignis erläuternde Ereignisse Abb. 3: Zeitliche Koordination – MERKE: Zwischen dem Punkt der Entscheidung und dem Beginn eines aus der Entscheidung resultierenden Ereignisses gibt es keinen Punkt, der unmittelbar auf die Entscheidung folgt.

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3. DRITTER FEHLSCHLUSS Prädetermination ist mit Willensfreiheit unvereinbar. Deshalb ist auch die Determination eines Entscheidungsergebnisses durch die Deliberationen des Akteurs, welche die Entscheidungen hervorbringen, mit Willensfreiheit unvereinbar. Dieser Einwand übersieht eine bedeutende Unterscheidung, nämlich jene zwischen Prädetermination und dem, was man vorhergehende Determination [precedence determination] nennen könnte. Ersteres fordert Voraussagbarkeit von einem bestimmten, vorausliegenden Zeitpunkt aus. Letzteres beinhaltet so etwas nicht. Dieser wesentliche Unterschied wird in der folgenden Abbildung dargestellt. Zeitpunkt t < t0 Zeit

t

Zeitpunktder Entscheidng t0 Abb. 4

Bei der Prädetermination ist das, was zum Zeitpunk t0 geschieht, dadurch determiniert (das heißt gesetzmäßig davon ableitbar), was zu einem früheren Zeitpunkt t geschehen ist. Bereits zu diesem früheren Zeitpunkt ist die Entscheidung gefallen: eine bereits vor Eintreten der Tatsache ausgemachte Angelegenheit. Durch einen früheren Sachverhalt ist das, was zum Zeitpunkt t0 eintritt, unausweichlich. Bei vorhergehender Determination ist das, was zum Zeitpunkt t0 geschieht, ebenfalls durch das davor Geschehene determiniert – jedoch im Unterschied nur durch all das, was ab einem früheren Zeitpunkt t bis hin zum Zeitpunkt t0, aber nicht einschließlich dieses Zeitpunktes passierte.4 Beides sind Formen der Determination durch eine frühere Geschichte. Im Gegensatz zum Ersteren erfordert das Letztere eine unendliche Menge an Input-Informationen, die natürlich niemals zur Verfügung stehen. In diesem letzteren Fall haben wir folglich eine Form von Antezedenz-Determination, die zur Voraussagbarkeit nicht führt, sondern tatsächlich mit ihr unvereinbar ist.

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FEHLSCHLÜSSE ÜBER WILLENSFREIHEIT

Genau eine solch vorhergehende Determination kann und sollte in Betracht gezogen werden, wenn wir über Entscheidungs- und Wahlfreiheit nachdenken: eine Determination durch die Schlussphase des Deliberationsprozesses des Akteurs, die zu der fraglichen Entscheidung oder Wahl führt. Prädetermination meint, dass das Resultat eine zu einer früheren Zeit beschlossene Sache ist. Letztere wird bereits vor ihrem Eintreten im Ganzen festgelegt. Mit Willensfreiheit ist Prädetermination in der Tat unvereinbar, denn sie nimmt dem Akteur die Fähigkeit, sich anders zu entscheiden. Es gibt einen, der Entscheidung vorausliegenden Zeitpunkt, zu dem die Angelegenheit schon beschlossen ist. Im Unterschied dazu meint vorausgehende Determination, dass die Schlussphase der Deliberation entscheidend ist. Ereignisse, die einen Deliberationsprozess bilden, welcher der Entscheidung oder Wahl vorausliegt, sind zwar Determinanten des Resultats – entscheidend jedoch ist das Endspiel. Nur der gesamte Denkprozess des Akteurs ab einem früheren Zeitpunkt bis hin zum Punkt der Entscheidung, ohne diesen jedoch einzuschließen, ist für die Klärung der Angelegenheit hinreichend – Letztere bleibt offen, „bis alle Messen gesungen sind“. Und es sollte klar sein, dass diese Art von Antezedenz-Determination – auf den fortschreitenden Deliberationsprozess in seiner Endphase gerichtet – keinesfalls mit Willensfreiheit im Widerspruch steht. Die Situation einer Wahlfreiheit unter Alternativen entspricht der folgenden Darstellung des Sachverhalts. Betrachten wir zum Beispiel einen Deliberationsprozess, der zu einer Entscheidung zwischen drei Alternativen A, B und C führt, wobei die Entscheidung letztlich zum Zeitpunkt t0 – dem „Punkt der Entscheidung“ – auf A fallen wird. Zu jedem vor t0 liegenden Zeitpunkt t gibt es drei mögliche Resultate A, B und C. Deren jeweilige Wahrscheinlichkeiten weisen (zu jedem vor t0 liegenden Zeitpunkt) insgesamt ein Spektrum von 1 auf, wie Abbildung 5 zeigt. Während des gesamten Deliberationsprozesses können diese Wahrscheinlichkeiten über der gesamten Brandbreite variieren, aber zum Schluss, zum Zeitpunkt t0, müssen sie auf eine Weise konvergieren, welche die gesamte Wahrscheinlichkeit nur einem Resultat zuweist. Aber zu jedem Zeitpunkt vor t0 gibt es eine

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bestimmte Wahrscheinlichkeit (so gering sie auch immer sei), dass irgendeines der drei Resultate eintreten wird – zu keinem früheren Zeitpunkt ist das Resultat beschlossen. Das Endspiel ist so lange nicht entschieden, wie es gespielt wird: Erst ganz zum Schluss (zum Zeitpunkt t0) gibt es einen „Wahrscheinlichkeitskollaps“, bei dem eine Alternative den Wert 1 erhält und die beiden anderen den Wert 0. Solange die Sache nicht „völlig entschieden“ ist, gibt es eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, dass der Akteur eine andere Wahl treffen wird als jene, die dann letztlich eintritt. Nährt man sich dem „Punkt der Entscheidung“, dann wird immer offensichtlicher, wie die Sache sich klärt. Eine Garantie aber gibt es nicht. Zu keinem Zeitpunkt vor dieser Entscheidung gibt es einen point of no return, zu dem die Lösung im Voraus beschlossen wäre. Auch an dieser Stelle kommt uns eine Unterscheidung zu Hilfe. Der hier betrachtete Einwand ist irreführend, denn er ignoriert die wesentliche Unterscheidung zwischen den beiden sehr verschiedenen Arten der „Bestimmung durch Vorausgehendes“ – jeweils vertreten durch Prädetermination und vorhergehende Determination, wie oben beschrieben. 1 A Wahrscheinlichkeitsbandbreite von 1

Zeit →

t0

Zeit →

t0

B C

0

Abb. 5: Deliberation und Wahrscheinlichkeit, ein Beispiel.

Und ein weiterer Punkt ist hier bedeutsam. Die erste Frage, die man bei jeder Art Determinismus zu stellen hat, ist die nach der Bestimmung wodurch. Durch etwas, das außerhalb der Reichweite der Motivationen des Akteurs liegt, ist die eine Sache. Aber durch dessen Deliberationen – durch die Vielzahl der Neigungen, welche seine Bedürfnisse, Wünsche, Zielvorstellungen und Entscheidungen beinhalten – ist wiederum eine andere Sache. Die Bestimmung der Entscheidungsresultate durch Gedanken des Akteurs ist sicherlich eine

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Bedingung für den freien Willen, statt ihm ein Hindernis zu sein. Das bringt uns zum nächsten Fehlschluss. 4. VIERTER FEHLSCHLUSS Ein Handeln ist nur dann frei, wenn seine Quelle in den Gedanken und Deliberationen des Akteurs verortet ist. Das kann aber niemals der Fall sein. Denn die enge Verbindung zwischen Geistes- und Hirnaktivität hat zur Folge, dass die Gedanken und Deliberationen des Geistes des Akteurs immer in den Prozessen wurzeln, die in seinem Hirn am Werke sind und durch diese erklärt werden müssen. Was hier nicht stimmt, sieht man, wenn man die klassische Versuchsanordnung im physikalischen Grundlehrgang betrachtet, bei der ein Gaszylinder auf der einen Seite durch einen Kolben abgeschlossen wird. Die Temperatur innerhalb der Kammer ist unmittelbar abhängig von der Entfernung zwischen der Kolbenwand und der nichtbeweglichen gegenüberliegenden Wand. Abhängig von der Kolbenbewegung ändert sich die Temperatur. Jedoch kann – durch Temperaturänderung – auch der Kolben bewegt werden. Der Zustand funktionaler Korrelation lässt die Frage der Initiative völlig offen: Man kann entweder die Temperatur ändern, indem man den Kolben bewegt, oder den Kolben bewegen, indem man die Temperatur ändert. Die unmittelbare Korrelation als solche klärt nicht die Frage der Determinationsrichtung, das heißt, welche der koordinierten Variablen frei und welche abhängig ist. Die Tatsache unmittelbarer Koordination zweier Parameter löst nicht die Frage der Prozessverursachung. Sie spricht sie nicht einmal an. Zur Illustration betrachte man eine Wippe beziehungsweise einen Seilzug, wie ihn die folgende Abbildung zeigt:

Abb. 6

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Hier ist die vertikale Bewegung des einen Gewichts untrennbar mit der korrespondierenden Bewegung des anderen verbunden. Und das beleuchtet den hier interessierenden Zusammenhang: Wie eng and starr die funktionale Koordination zwischen zwei miteinander agierenden Objekten auch immer sein mag, die Frage der Initiative und Änderungsverursachung bleibt hier noch völlig offen und unangesprochen. Mark Twains tendenziöse Frage: „Bleibt der Geist nüchtern, wenn der Körper betrunken ist?“, ist völlig angemessen, aber auch die gegenläufige Frage: „Bleibt der Körper ruhig, wenn der Geist in Panik gerät?“, ist nicht weniger aussagekräftig.5 All die Myriaden von Darstellungen von Korrelationen zwischen Gedanken und Hirnaktivität sind irrelevant dafür, von wem die Aktivität ausgeht. Denn die eine Frage, was impliziert ist, kann die andere nicht klären, ob der Geist passiv den Änderungen von Hirnzuständen folgt oder aktiv das Hirn für seine eigenen Zwecke nutzt. Für Deterministen sind Akteure natürlich aus sich selbst heraus untätig – für sie ist deren Tun immer das Resultat dessen, was ihnen geschieht: Die Akteure bilden einfach die Bühne für das Schauspiel der Naturkausalität. Im Unterschied dazu sieht der Voluntarist intelligible Akteure als produktiv tätige Teilnehmer im Weltschauspiel physikalischen Prozessgeschehens. In Wirklichkeit jedoch kann die Korrelation zwischen Geist und Hirn praktisch nicht gegen den Akteur in Anschlag gebracht werden. Es ist nämlich einfach falsch, anzunehmen, dass die enge Verbindung zwischen Hirnaktivitäten und Gedanken dem Hirn die Kontrolle über den Geist verleiht. Wenn aber Geist wie auch Materie die Initiative in Hinblick auf menschliches Handeln ergreifen können, so dass wir in der Lage sind, im Sinne von Handlungskausalität tätig zu werden (während dennoch alles menschliche Handeln vom Standpunkt der Naturkausalität erklärbar ist), dann trotzen wir Kants Paradox der Versöhnung beider Modi von Kausalität.6 Einer solchen Leseart zufolge wird der Hirn/Geist-Komplex als eine sich emergent entwickelnde Organisation zweier Aspekte verstanden, deren beide miteinander verbundene Bereiche die Möglichkeit eröffnen, dass der Impuls der Änderung einmal von der einen, das andere Mal von der anderen Seite erfolgt. Denn die

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Determinationsrichtung bleibt bis jetzt unbestimmt. Angesichts dieser miteinander verschränkten Variablen ist die Frage der Abhängigkeitsbeziehung zwischen beiden völlig offen. Das Problem der Initiative bleibt ungeklärt. Wenn nun Geist und Hirn im selben Boot segeln, spricht nichts dagegen, dass der Geist das Steuer gelegentlich ergreifen kann. In Frage steht eine Partnerschaft der Koordination, nicht aber ein Zustand unflexibler Subordination eines Knechts unter einem Herrn. In bestimmten Situationen liegt die Initiative auf der einen Seite oder sie liegt auf der anderen – je nachdem. Was heißt das? Wie wird, anders gefragt, entschieden, auf wessen Seite die Initiative liegt? Erinnern wir uns des Beispiels vom Seilzug. Geht der Würfel in die Höhe, weil ihn jemand nach oben drückt oder weil ein Vogel sich auf der Kugel niedergelassen hat? Das System für sich betrachtet wird die Antwort nicht liefern. Der umfassendere Kontext jedoch – der übergreifende kausaldynamische Zusammenhang – bestimmt, auf welcher Seite die Initiative liegt. Alles hängt davon ab, wovon die Aktivität ihren Ausgang nimmt und was am Ende der Kausalkette steht. Die Situation des freien Willens ist dem sehr ähnlich: Wenn ich lese, reagiert der Geist auf den Körper, und wenn ich schreibe, reagiert der Körper auf den Geist. 5. FÜNFTER FEHLSCHLUSS Betrachten wir den folgenden Einwand: Wenn die Handlungen eines Akteurs auf irgendeine Weise bestimmt sind – wenn sie irgendwie, das heißt auf irgendeine Weise bedingt sind –, dann können sie auf gar keinen Fall als frei gelten. Sowohl Aristoteles als auch die Stoiker suchten die Willensfreiheit, die sie in Fragen der Moral für notwendig hielten, mit dem Determinismus zu versöhnen, den sie in dem Umstand wirken sahen, dass der Charakter die Entscheidungen diktiert. Um dies zu erreichen, ohne jedoch den platonischen Mythos der Charakterauswahl zu übernehmen, behaupteten sie, dass der Freiheit nicht Determination als solche im Wege stehe, sondern allein exogene Determination,

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welche in Umständen wurzelt, die außerhalb der vom Akteur selbsterzeugten Motivationen liegen. Die Krux der Freiheit besteht so gesehen nicht in der Indetermination, sondern der Autodetermination – einer Determination, die durch das Tun des Akteurs selbst bewirkt wird –, sua sponite, wie die mittelalterlichen Denker sagten. Einer solchen kompatibilistischen Ansicht zufolge ist es nicht entscheidend, ob es Determinismus gibt oder nicht. Es ist bereits eingeräumt, dass es ihn in der Tat gibt, obwohl er dem Akteur selbst innewohnt. Die entscheidende Frage besteht darin, ob es einen dem Akteur externen Determinismus gibt, und zwar einen solchen, bei dem jedweder Bezug auf den Akteur und seine Motivationen explikativ belanglos ist. Die Krux der Freiheit liegt nicht im Dass der Determination, sondern in ihrem Wie – in ihren prozeduralen Mechanismen. Solange die Deliberation selbst als entscheidender Faktor betrachtet wird, bleibt die Grundlage der Freiheit gesichert. Deshalb müssen wir hier zwischen endogener (dem Akteur immanenter) und exogener (dem Akteur externer) Determination unterscheiden. Offensichtlich kann ein Akteur schwerlich als frei gelten, wenn diese Determination ohne Bezug auf ihn wirksam wird, also eine solche ist, die durch Kräfte und Umstände jenseits seiner gedanklichen Kontrolle erfolgt. Sind aber diese determinierenden Umstände dem Akteur immanent, sind sie eine Angelegenheit seiner eigenen Absichten und Projekte – seiner Wünsche, Sehnsüchte und Zielsetzungen –, dann steht seiner Freiheit nichts im Wege. Ganz im Gegenteil. Eine Wahl oder Entscheidung, die nicht das natürliche und zwangsläufige Resultat seiner Motive gewesen wäre, könnte kaum als seine freie Entscheidung zählen. Somit steht Willensfreiheit keinesfalls in Widerspruch mit dem Kausalprinzip, solange nämlich die Kausaldetermination im Denkprozess des Akteurs verortet, das heißt, solange sie durch Wahlhandlungen und Entscheidungen vermittelt ist, die aus seinen Deliberationen entspringen. Folglich gibt es keinen Gegensatz zwischen Freiheit und Kausaldetermination, solange nämlich die Deliberationen des Akteurs diese Determination vermitteln und die Angelegenheit eine solche der Handlungskausalität ist. Um es zusammenzufassen: Es ist grundsätzlich falsch, die Willensfreiheit der Determination entgegenzusetzen. Denn so wird

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eine entscheidende begriffliche Differenzierung bedenkenlos ignoriert: jene, die zwischen der dem Akteur externen Kausalität impersonaler Ereignisse und der ihm internen Kausalität deliberativen Denkens unterscheidet. 6. SECHSTER FEHLSCHLUSS Willensfreiheit ist mysteriös und übernatürlich. Denn sie erfordert, die übliche Ansicht, der zufolge natürliche Vorgänge dem Kausalprinzip unterliegen, außer Geltung zu setzen. In diesem Sinne beklagt sich ein zeitgenössischer Autor: „Akteurskausalität ist wahrlich ein mysteriöses Konzept. Denn es postuliert etwas, dem nichts entspricht, was wir von den Kausalprozessen der chemischen Reaktionen her kennen, der Kernspaltung und Kernfusion, der magnetischen Anziehung, der Hurrikans, Vulkane, oder auch von biologischen Prozessen her, wie dem Stoffwechsel, dem Wachstum, der Immunreaktion und der Photosynthese. Gibt es so etwas? Wenn Libertarianer darauf bestehen, dass es so etwas geben muss, dann [bauen sie auf Sand].“7

Diese Art Einspruch ist hochproblematisch. Willensfreiheit hängt, richtig verstanden, von der im Laufe der Evolution von Geist-Hirn-Koordinationen entwickelten Fähigkeit des Geistes ab, Änderungen zu initiieren. Muss beziehungsweise sollte man dies als mysteriös oder übernatürlich verstehen? Mit dem evolutionsgeschichtlichen Auftritt des Geistes auf der Weltbühne emergieren verschiedene neue Potenziale. Diese ergänzen den Vermögensbestand, über welchen Säugetiere verfügen, um weitere Operationsmöglichkeiten – so zum Beispiel vergangene Begebenheiten zu erinnern oder zukünftige zu imaginieren. Eine dieser evolutionären Innovationen besteht in der Fähigkeit des Geistes, Änderungen dadurch zu vollbringen, dass der Geist die Initiative ergreift. Nun ist die Erklärung für diese Innovation im Wesentlichen dieselbe wie für irgendeine andere evolutionäre Errungenschaft:

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nämlich, dass sie das Geschäft der natürlichen Auslese profitabler macht. Daran ist nichts mysteriös oder übernatürlich. Somit beruht der hier betrachtete Fehlschluss auf einem Mangel an Imaginationsvermögen. Er manifestiert sich in der Unfähigkeit zu begreifen, dass mit der Evolution intelligenter Akteure zugleich die Möglichkeit zu intelligenzgeleiteter Tätigkeit entsteht, die die dank der Deliberationen dieser intelligenten Akteure entsteht. 7. SIEBTER FEHLSCHLUSS Die Zeiten hindurch ist das Echo folgender Worte Spinozas zu hören: „[…] dass die Menschen sich für frei halten, da sie sich ihres Wollens und ihres Begehrens bewusst sind, während sie nicht im Traum an die Ursachen denken, von denen sie zum Begehren und Wollen bestimmt werden, weil sie dieselben eben nicht kennen.“8

Dieses Echo findet sich bei Charles Darwin, der kurz nach der Reise mit der Beagle geschrieben hatte: „Die allgemeine Täuschung hinsichtlich der Willensfreiheit ist offensichtlich. Denn der Mensch hat die Kraft zu handeln, aber er ist kaum in der Lage, seine Motive zu analysieren (die ursprünglich meistenteils instinktiv waren, weshalb jetzt große 9 Verstandesbemühungen [erforderlich sind], sie zu entdecken).“

Scheinbar dachte Darwin (wie auch Spinoza und möglicherweise Freud), dass ein Handeln nur dann wirklich frei sein kann, wenn es sich im Ganzen erkannten und rational bewerteten wie auch gebilligten Motiven verdankt. Aber damit wird nur freies mit rationalem Handeln verwechselt. Solange der Akteur seinen eigenen Motiven folgend handelt – ohne externen Zwang oder Manipulation –, ist sein Handeln frei, wenn man sich an die Standardlesart des Wortes hält, statt einer rationalistisch umgedeuteten zu folgen. Motivation als solche steht der Freiheit nicht im Weg – sei sie nun rational begründet oder nicht. Unsere Motive, so unangemessen und unüberlegt sie sein mögen, und wie wenig sie hinsichtlich ihrer psychischen Genesis

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möglicherweise verstanden sind, beschränken unseren Willen trotzdem nicht von außerhalb unseres Selbst. Sie sind stattdessen das Zentrum seines Ausdrucks. Ein Wille, der sich Motiven seines Akteurs öffnet, ist somit frei – ganz egal, wie rational zwingend diese Motive in Bezug auf den fraglichen Entschluss sein mögen. Letztlich manifestiert sich die Natur eines Menschen in seinen Entscheidungen und findet in ihnen seinen unverstellten Ausdruck. Seine Entscheidungen sind nichts anderes als die äußere Manifestation seiner inneren motivationalen Natur. In seinen Entscheidungen und den darauf folgenden Handlungen zeigt sich eine Person so, wie sie wirklich ist. Betrachten wir folgende Situation: Wir bitten jemanden, eine Zahl zwischen 1 und 6 zu wählen. Er entscheidet sich für die 6. So viel konnten wir erwarten: Sein früheres Verhalten legte nahe, dass er eine Vorliebe für größere Zahlen gegenüber kleineren hat und geraden gegenüber ungeraden den Vorzug gibt. Somit war seine Wahl nicht völliger Zufall. Ist eine solche Wahl deshalb unfrei? Ganz und gar nicht! Sie war keinesfalls erzwungen oder beschränkt. Seine Zahlenpräferenzen waren nicht externen Zwängen geschuldet, die seine Freiheit beschnitten haben. Im Gegenteil, sie ebneten den Weg dafür, sich selbst Ausdruck zu verleihen. Es wäre töricht, die Willensfreiheit im Widerspruch zur Motivation zu verstehen. Willensfreiheit ist stattdessen einfach die Freiheit, sich seinen Motivationen hinzugeben. Den Willen, sich davon zu „befreien“, sich den Zwecken und Motiven des Akteurs unterzuordnen, seinen Bedürfnissen und Wünschen, Sehnsüchten und Zielen, Vorlieben und Wertvorstellungen, seiner Person und ihrem Naturell, bedeutet nicht, ihn zu befreien, sondern hieße, aus ihm etwas zu machen, das nicht einfach nutzlos, sondern sogar kontraproduktiv wäre. Welcher rational Handelnde möchte allein der Entscheidungen bewirkenden Kraft folgen, die seine Motive außer Acht ließe? Ein Wille, der von den Motiven seines Akteurs getrennt wäre, würde sicher nicht als der seine zählen! Es wäre ein abtrünniger Wille, jedoch kein personaler.

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8. ACHTER FEHLSCHLUSS Schon die Idee der Willensfreiheit steht im Widerspruch zur Wissenschaft. Sie ist etwas Okkultes, das vermutlich nicht naturalisiert werden kann. Es ist schwierig, so sollte man meinen, diesem Einwand allzu viel Sympathie entgegenzubringen. Wenn nämlich der freie Wille existiert – wenn der Homo sapiens tatsächlich in der Lage ist, aus freien Stücken zu wählen und zu entscheiden –, dann gehört natürlich auch dies zur natürlichen Ordnung der Dinge. Wenn wir tatsächlich frei sind, dann sind wir dies aus nahezu denselben Gründen, denen zufolge wir vernünftige Wesen sind – deshalb nämlich, weil die Evolution dies so hervorgebracht hat. Die Willensfreiheit unterliegt der bis zum letzten Moment währenden rationalen Kontrolle des Akteurs, die seine deliberativ vermittelten Wahlhandlungen und Entscheidungen betrifft und die er im Lichte seiner beständig aktualisierten Informationen und Bewertungen ausübt. Ein solches Potenzial als vorteilhaft im Sinne der Selbsterhaltung zu betrachten, ist keine schwierige Angelegenheit. Der fragliche Einwand ist somit unzutreffend, weil er auf der unangemessenen Annahme beruht, Willensfreiheit müsse etwas Außeroder Übernatürliches sein. Wenn wir wissen wollen, ob es Willensfreiheit gibt, dann können wir dies nur unter dem Aspekt der Frage klären, wie aus der Naturevolution hervorgegangene Wesen auf dem Schauplatz der Natur agieren können und dies auch tun. * * * Willensfreiheit sollte, richtig verstanden, nicht im Widerspruch zu unserem Wissen um innerweltliche Zusammenhänge stehen. Eine angemessene Theorie der Willensfreiheit sollte – nein, müsste – von einer naturalistischen Grundlage ausgehen. Die Vorstellung jedoch, dass dies unmöglich sei, scheint (allen zur Verfügung stehenden Indizien zufolge) auf einer falschen und irreführenden Ansicht dessen zu beruhen, worum es bei der Willensfreiheit geht.10

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ANMERKUNGEN 1

D. Dennett, Ellebogenfreiheit. Die wünschenswerten Formen von freiem Willen, Weinheim 1994; vgl. ders.,” I Could not Have Done Otherwise–So What?” in: The Journal of Philosophy, 81 (1984), 553–565.

2

P. van Inwagen, An Essay on Free Will (Oxford, 1998), S. 56.

3

Dies entspricht der englischen Grammatik des present continuous: one can be engaged in looking but not in finding (Anm. d. Übers.).

4

Man beachte, dass Prädetermination vorhergehende Determination enthält, obwohl dies umgekehrt nicht der Fall ist: Vorhergehende Determination enthält Prädetermination nicht.

5

Die Tatsache, dass manchmal die Handlungsinitiative auf der Seite des Körpers liegt, zeigt sich in verschiedenen (etwas umstrittenen) Fällen, in denen Muskelbewegungen ausgelöst werden, ehe der Akteur sich bewusst geworden ist, eine Entscheidung getroffen zu haben (vgl. den Bericht über die Experimente von Benjamin Libet in: R. Kane, The Significance of Free Will, (New York, 1996), S. 232, Anm. 12; und bei H. Walter, Neurophilosophie der Willensfreiheit, (Paderborn, 1998,) S. 299–308. Aber es ist durchaus klar, dass die Determination auch in die andere Richtung laufen kann – dass ich jetzt zu entscheiden in der Lage bin, was ich einige Sekunden später mit meinen Händen tun werde.

6

Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 803/B 831.

7

Danial Dennett, Freedom Evolves, (New York, 2003), S. 120.

8

Spinoza, Ethik, Teil 1, App.

9

Charles Darwin’s Notebooks 1836–1844: Geology, Transmutation of Species, Metaphysical Enquiries, hg. v. P. H. Barrett u. a., (Ithaca, 1987, Old and Useless Notes), S. 608.

10

Aus dem Amerikanischen von Shivaun Conroy und Veit Friemert. Zuerst erschienen in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 56 (2008), S. 483–94.

METAPHILOSOPHIE

X HERMENEUTISCHE OBJEKTIVITÄT ÜBERBLICK (1) Der Dekonstruktionismus sieht alle alternativen Interpretationen eines Textes als in gleicher Weise gerechtfertigt und angemessen an und vertritt damit einen gleichmacherischen Relativismns. Dadurch, dass er es ablehnt wertende Unterscheidungen hinsichtlich der rationalen Überzeugungskraft von Interpretationen zu machen, steht dieser Ansatz – getreu dem subjektivistischen Motto „Jedem das Seine“ – in diametralem Gegensatz zum Objektivismns im Bereich der Textinterpretation. (2) Der relativistische Indifferentismus missversteht und unterschätzt jedoch die entscheidende Rolle, die der Kontext beim Interpretieren von Texten spielt. Tatsächlich gibt uns nämlich die Übereinstimmung (Kohärenz) mit Elementen des Kontextes im weitesten Sinne des Wortes nicht nur den geeigneten Beurteilungsmaßstab für die Textinterpretation an die Hand, sondern auch einen Antrieb zur Objektivität in diesem Bereich. (3) Die mannigfachen Konsequenzen einer systemischen Kohärenz schließen einen indifferentistischen Egalitarismus bei der Textinterpretation aus und stellen das Ausgangsmaterial für einen Objektivismus bei der Interpretation zur Verfügung. (4) In kommunikativen Zusammenhängen gibt es zweckbestimmte Zwänge zur Objektivität, die eine Unterscheidung zwischen angemessenen und unangemessenen Interpretationen erlauben. (5) Nur wenn man Texte ausschließlich als eine Einladung für das freie Einbildungsvermögen nutzen will – und nicht als Mittel der Informationsübertragung – kann die ungebundene Gangweise des Dekonstruktionismus überhaupt sinnvoll sein.

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1. DAS DEKONSTRUKTIONISTISCHE PROJEKT

A

n anderer Stelle1 habe ich die Bedeutsamkeit der Objektivität für die Kommunikation im Allgemeinen behandelt. Hier soll es um einen besonders wichtigen Aspekt dieser Thematik gehen, nämlich um die Interpretation von textlichem, vor allem von geschriebenem Material. Es gibt nur wenig Bereiche, in denen die gegenwärtige Ablehnung der Objektivität deutlicher hervortritt als bei der Untersuchung der Sprache und der Texte, die wir mit ihrer Hilfe hervorbringen. Der Dekonstruktionismus, eng verbunden mit dem Namen von Jacques Derrida, steht hier an erster Stelle.2 Der Dekonstruktionismus ist eine Theorie der Textinterpretation, die jegliche Aussicht auf Objektivität in diesem Bereich in Abrede stellt. Ursprünglich war er allein auf die Interpretation literarischer Texte angelegt; seine ambitionierteren Vertreter haben den Anwendungsbereich der Theorie aber auf Texte im Allgemeinen ausgeweitet, auf historische, biografische, philosophische Texte – Texte welcher Art auch immer. Der doktrinale Kern der Position beinhaltet zwei Thesen: Zum einen, dass ein Text immer verschiedene interpretatorische Konstruktionen zulässt, die auszuarbeiten die besondere Aufgabe des Geschäfts der Interpretation ist; und zweitens, dass alle diese Interpretationen letztlich gleichwertig sind – dass keine ohne Weiteres als unpassend, unangemessen, unzulänglich abgelehnt werden kann. Im Mittelpunkt dieses doktrinalen Standpunkts steht die Ansicht, dass jeder Text formbar ist; je weiter das Unternehmen der Textinterpretation voranschreitet, desto mehr akzeptable und mehr oder weniger gleichwertige Alternativinterpretationen kommen ans Licht. Demgemäß konfrontiert uns – laut Dekonstruktionismus – das Geschäft der Textinterpretation unvermeidlicherweise mit einer Überfülle gleichwertiger alternativer Möglichkeiten. Mit der ablehnenden Bezeichnung „Textualismus“ verdammen daher die Anhänger des Dekonstruktionismus die Ansicht, ein Text habe in einer so stabilen und objektiven Weise „eine Bedeutung“, dass er eine besondere Interpretation vor anderen begünstigen könnte. Sie bestehen auf dem relativistischen Standpunkt, dass hier kein Platz für Objektivität ist. Für die Interpretation gilt: „Jedem das Seine.“

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Insofern die dekonstruktionistische Theorie eine Doktrin und nicht so sehr eine methodologische Einstellung darstellt, ist sie eine Position, die auf einer Reihe hermeneutischer Ansichten oder Behauptungen beruht, die in etwa wie folgt skizziert werden können. Im Bereich der Textinterpretation stehen wir einer Situation gegenüber, die sich auszeichnet durch: (1) Omnitextualität: Jede vorgeschlagene Textdeutung muss selbst die Gestalt eines anderen Textes annehmen. Im hermeneutischen Umfeld gibt es keine Möglichkeit, den Bereich des Textlichen zu verlassen. (2) Plastizität (Formbarkeit): Zu jedem Text gibt es vielfaltige Interpretationen – ein Text lässt eine Vielzahl unterschiedlicher Konstruktionen zu. (3) Äquivalenz (Gleichwertigkeit): Alle Interpretationen sind gleich gut. Die verschiedenen interpretierenden Konstruktionen zu einem Text sind alle von mehr oder weniger gleichem Wert. Keine ist endgültig, kanonisch oder in einer ausgezeichneten Weise angemessen – keine Interpretation ist in wesentlicher Hinsicht zwingender oder haltbarer als eine andere.

Aus diesen Thesen folgt, dass wir bei der Interpretation von Texten immer mit einer Vielzahl (in etwa) gleichwertiger Varianten konfrontiert sind. Die Textinterpretation lässt keine rationale Bestätigung oder Entkräftung einer Lösung gegenüber einer anderen zu. Sie ist einfach immer die Ausübung der ungezügelten Einbildungskraft: ein Unternehmen, bei dem wir nicht mehr tun können, als interessante Möglichkeiten auszukundschaften, und nicht hoffen dürfen, ein bestimmtes Resultat zwingend und auf Dauer als optimal zu validieren. Wenn es um Interpretationen geht, können wir nur Alternativen erkunden, nie aber bestimmte Lösungen begründen. Wir können Möglichkeiten entwerfen, aber wir können ihre Anzahl nicht verringern, indem wir einige als unplausibel ausschließen. Entsprechend sollten wir deshalb nie fragen, was ein Text tatsächlich bedeutet, sondern nur, was er bedeuten könnte. Auf dem Gebiet der Textinterpretation gibt es keine aufgezwungenen Entscheidungen; sie

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ist ein Unternehmen, bei dem wir überhaupt nicht zu Entscheidungen kommen können, und dies ist ein günstiger Umstand, der „uns aus dem Gefängnis der Sprache befreit“.3 Kurz gesagt, der Dekonstruktionismus ist eine Lehre des indifferentistischen Relativismus in Bezug auf die Textinterpretation. Mit seiner Ablehnung einschränkender Überlegungen, die von rationaler Überzeugungskraft sein könnten, stellt er das diametrale Gegenteil zum Objektivismus in diesem Bereich dar. Wie kann nun ein Rationalismus, der durchaus Stellung beziehen will, eine solche anarchistische Position zu fassen bekommen? Sicherlich hat es keinen Zweck, über die Prämissen (1) und (2) der obigen Argumentation zu streiten. (1) ist nämlich eine offensichtliche Wahrheit, und (2) ist eine Tatsache, die durch historische Zeugnisse mehr als hinreichend belegt ist. Und aus diesen beiden Thesen folgt, dass jede Interpretation selbst wieder verschiedene Interpretationen zulässt. Die eigentliche Krux der dekonstruktionistischen Argumentation für die relativistische Ununterscheidbarkeit der Textinterpretation ist somit die Prämisse (3), die die Gleichwertigkeit alternativer Interpretationen behauptet. Aber ist diese Prämisse haltbar? Findet in dem Bereich der Hermeneutik tatsächlich ein Kampf aller gegen alle statt, der nur von der Idee bestimmt ist, dass alle Interpretationen gleich erschaffen sind? Wandert der Textinterpret wirklich durch eine Spiegelhalle und ist ganz und gar unfähig, die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Realität zur Anwendung zu bringen? 2. DIE BEDEUTSARNKEIT DES KONTEXTES: DAS HAAR IN DER DEKONSTRUKTIONISTISCHEN SUPPE Die Meinung, dass der Bereich der Textinterpretation von einem Werte einebnenden Indifferentismus beherrscht wird, verschließt sich in mutwilliger Weise einer Wirklichkeit, die Entscheidungen durchaus herbeiführen kann. Tatsache ist, dass Interpretationen – und die Texte, durch die sie vermittelt werden – ganz entschieden nicht gleich erschaffen sind: Einige sind sinnvoll, andere einfach unsinnig; und wieder andere sind mehrdeutig (lassen mehrere plausible Deutungen zu). Einige sind eindeutiger. Einige enthalten viel Information, andere

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wenig; einige behaupten Wahrheiten, andere Falschheiten. Der indifferentistische Relativismus übersieht hinsichtlich der Textinterpretation – zu seinem eigenen entscheidenden Nachteil – die ausschlaggebende Bedeutung des Kontextes. Es ist zwar tatsächlich der Fall, dass jede Textinterpretation selbst ein Text ist, dennoch passen einige Interpretationen genauer in ein System hinein als andere. Sie harmonieren einfach besser – sowohl mit dem weiteren Kontext von Texten im Allgemeinen wie auch mit ihrer weiteren Umgebung, dem nicht-textartigen Kontext des Denkens und Handelns. Und eben hier kommen wir zum eigentlichen Problem der Angemessenheit von Interpretationen. Der zur Debatte stehende Kontext hat drei voneinander zu unterscheidende Ebenen: —die unmittelbare Ebene: andere Teile desselben Textes; —die nahegelegene Ebene: andere verwandte Erörterungen desselben Autors; andere verwandte Debatten derselben Gattung oder in Schriften, auf die der Autor antwortet, sei es mit Weiterentwicklung oder mit Widerspruch; —die entfernte oder periphere Ebene: allgemeine Aspekte des zu einer Zeit gegebenen Informationsstandes und der zu dieser Zeit vertretenen Meinungen; allgemeine sprachliche oder 4 philologische Überlegungen usw. Überlegungen auf all diesen drei Ebenen machen es unmöglich, die Vorzüge aller verschiedenen Konstruktionen und Interpretationen eines Textes miteinander gleichzusetzen, indem wir nur den Bereich der akzeptablen Verständnisweisen umgrenzen, die der Text irgendwie vertragen kann. Denn Textinterpretation ist klarerweise eine Tätigkeit, bei der Belege für Thesen heranzuziehen sind, wobei man aus einem weiten Bereich von Informationen den bestmöglichen Gebrauch von den relevanten Daten zu machen hat. Das ergibt sich aus der großen Vielfalt hermeneutischer Faktoren, die zu berücksichtigen sind: – das, was der Text explizit besagt;

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– andere relevante Erörterungen des Autors, die mit den im Text angesprochenen Problemen in Zusammenhang stehen; – biografische Daten, die die Ausbildung des Autors betreffen, seine Interessen, seine Kontakte und jeweils relevanten Interaktionen mit Zeitgenossen und Ähnliches; – geistesgeschichtliche Betrachtungen des Wissensstandes und der vorherrschenden Meinungen zur Zeit des Autors und in seiner räumlichen Umgebung, wie auch dem kulturellen Umfeld, in dem der Text entstand; – philologische Informationen über die Verwendung von Wörtern und Ausdrücken in einem Sprachgebiet zu der Zeit, als der Text verfasst wurde. Außerdem dürfen wir nie vergessen, dass Texte selbst – wie auch Gebäude, Gebrauchsgegenstände usw. – menschliche Artefakte sind, hervorgebracht von Individuen aus Fleisch und Blut, nicht zum zweckfreien Vergnügen, sondern im Bestreben, bestimmte konkrete Ziele zu erreichen. Und so erhalten wir – zusätzlich zu den oben genannten – einen weiteren ganz entscheidenden hermeneutischen Faktor: – das Umfeld nicht-sprachlicher Vorgehensweisen, innerhalb dessen Texte ihren Platz haben und ihre zweckorientierte Rolle spielen. Der entscheidende Punkt ist also, dass jeder Text in einem historischen und kulturellen Kontext steht und dieser Kontext eines Textes nicht bloß von textartiger Natur ist, nicht ganz und gar ausschließlich aus Texten besteht. Der Kontext der Texte, mit denen wir uns befassen, schränkt die möglichen Interpretationen, die ein Text vertragen kann, ein und umgrenzt sie. Das Vorgehen der Dekonstruktion – das Auflösen eines jeden Textes bei der Interpretation in eine Vielzahl angeblich gleichwertiger

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Deutungen – kann und sollte durch das Vorgehen der Rekonstruktion ausgeglichen werden. Dazu ist es erforderlich, Texte in ihrem weiteren Kontext zu sehen. Schließlich haben Texte einen nicht zu vernachlässigenden Hintergrund – in ihrem Autor, ihrer geschichtlichen und ihrer kulturellen Verankerung –, und von diesem Hintergrund hängt ihre tatsächliche Bedeutung in entscheidender Weise ab. Dieser kontextuelle Hintergrund geht über den Bereich von Texten hinaus, da er sowohl Prozesse (Know-how) und Produkte (Artefakte) umfasst, die in relevanter Hinsicht auf menschliches Handeln bezogen sind. Insbesondere umfasst dieser Kontext sowohl nichtkommunikative (bloß verhaltensartige) als auch kommunikative Praktiken, einschließlich der Prozesse, Vorgehensweisen und Methoden, die die Lebensstile von Personen ausmachen. In dem Ausmaß, in dem uns die Möglichkeiten und die Mittel, die mit der Lebensweise eines Volkes verbunden sind, unbekannt bleiben – wie es mit seinen Kräften, seinen Ressourcen, der ihm zur Verfügung stehenden Zeit umgehen will –, werden wir auch große Schwierigkeiten haben, seine Hervorbringungen in Form von Texten zu verstehen. Der entscheidende Einwand, der gegen den dekonstruktionistischen Egalitarismus in der Hermeneutik geltend gemacht werden muss, lautet: Nicht jede Realität ist bloß virtuell. Der textliche Bereich ist nicht geschlossen, da Texte sich meistens mit der wirklichen Welt beschäftigen. Sie können auf nichtkommunikative Prozesse einwirken, auf Interaktionen mit Artefakten aus einem Bereich, der nicht aus Texten besteht, und sie tun dies auch. Es gibt nicht nur Tennislehrbücher und Bücher mit Tennisregeln, sondern es gibt auch Tennisplätze, Tennisspieler und Tennisspiele. Texte sind mit der Realität durch die Vermittlung intelligenter handelnder Wesen verbunden. Texte befinden sich also in einem weiteren Kontext verschiedenster Funktionen. Und das bedeutet eben, dass die Textinterpretation keine Sache einer ungebundenen Einbildungskraft ist, sondern dass Gelehrsamkeit für sie wesentlich ist. Dass der Dekonstruktionismus diese entscheidende kontextuelle Dimension nicht beachtet, ist vielleicht sein schwerwiegendster Mangel und erklärt sich aus seiner höchst problematischen Festlegung auf die Idee, dass der Bereich der Texte autark und autonom ist.

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Dieser Standpunkt spiegelt die Voreingenommenheit von Akademikern wider, die einem Logozentrismus anhängen, der die Welt allein unter Rückgriff auf menschliche Reden interpretiert und dabei übersieht, dass es einfach nicht der Fall ist, dass alles durch und durch eine sprachliche Angelegenheit wäre. Unsere Texte und unser Gebrauch der Sprache sind großenteils nur Hilfsmittel für ein Leben in einer nicht-textartigen Welt – in diesem Fall vor allem der sozialen Welt menschlicher Interaktionen. Wenn man Texte und die Bibliotheken, in denen sie gespeichert sind, als eine in sich abgeschlossene Sphäre betrachtet, ist das so, wie wenn man Maulwurfshaufen untersucht und die Maulwürfe dabei übersieht.5 3. KOHÄRENZ ALS STANDARD DER INTERPRETATION Sicherlich sollten wir zunächst unterstellen, dass alle Interpretationen eines Textes – solange sie nicht völlig phantastisch sind – einen gewissen Wert haben. Es gibt fast immer etwas, das für eine Interpretation spricht. Aber natürlich heißt das nicht, dass all diese verschiedenen – nicht absurden – Interpretationen deshalb in ihrem Wert gleichrangig wären. Wenn man die Möglichkeit einer hermeneutischen Unterbestimmtheit einräumt und damit eine Mehrzahl nicht völlig abwegiger alternativer Interpretationen zulässt, so bedeutet dies ganz sicher nicht, dass jede dieser Interpretationen in jeder Hinsicht auf gleich plausible Weise verteidigt werden könnte. Die Situation erinnert an eine alte Anekdote, die sich auf die talmudische Meinung bezieht, jeder Passus aus der Thora enthielte neunundvierzig mögliche Bedeutungen. In der Anekdote heißt es, dass ein Schüler einmal dem ihn unterweisenden Rabbi die Interpretation eines Passus vorlegte. „Nein, damit liegst du ganz falsch“, beanstandete der Rabbi. „Aber wie können Sie das sagen?“, protestierte der Schüler. „Haben Sie nicht gesagt, dass jeder Passus neunundvierzig Bedeutungen hat?“ „Ja“, antwortete der Rabbi, „aber die deinige ist keine davon.“ Da die aus dem Kontext stammenden Hilfsmittel oft nur eine unterbestimmende Kraft bei der Interpretation haben, ist die Interpretation von Texten manchmal etwas flexibel. Dennoch gibt es fest bestimmte Grenzen für die hier mögliche Elastizität.

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Jeder praktikable Ansatz einer Theorie der Textinterpretation muss deswegen normativ sein: Er muss von Standards und Kriterien abhängen, die eine Bewertung als besser oder schlechter, als vernünftig oder albern, als verantwortlich oder unverantwortlich ermöglichen. Vernünftige Textinterpretation ist keine Angelegenheit von Flügen einer Anything-goes-Phantasie in die Traumwelt ungebundener Wahngebilde; sie ist vielmehr angebunden an die konkrete Realität des Falles, die über rationale Standards der Gültigkeit und der Angemessenheit erkennbar ist. Die Meinung, dass jede beliebige Deutung eines Textes – jedes Biegen und Krümmen seiner Botschaft – genauso gut ist wie jede andere, ist bei Texten, die „Wie macht man das?“-Aspekte haben, besonders zweifelhaft. Dies gilt sowohl im kleinen Rahmen – Rezepte fürs Brotbacken, Anleitungen zur Reinigung eines Gewehrs – als auch im größeren Rahmen – Anleitungen zu erfolgreicher Verkaufstüchtigkeit, ein Lehrbuch für die kritische Prüfung spanischer Dichtung. Bei solchen Dingen gibt es keine Anything-goes-Plastizität. Es ist einfach eine Tatsache, dass bestimmte Arten, den Text zu interpretieren und das Resultat einer solchen Interpretation praktisch umzusetzen, sachlich besser sind als andere. Das Verdienst des Dekonstruktionismus liegt in seiner Akzentuierung der Wichtigkeit von Texten in geisteswissenschaftlichen Untersuchungen und des Pluralismus von interessanten, diskutierbaren, beachtenswerten Interpretationen. Aber sein Defekt liegt in dem Gedanken, dass alle Interpretationen gleich erschaffen sind, dass Fragen nach Qualität und nach Überzeugungskraft in diesem Bereich fehl am Platz sind. Die wesentliche Aufgabe der Textinterpretation ist es nicht, Möglichkeiten bloß zu untersuchen, sondern sie auch zu bewerten. Man muss mehr als nur einen Überblick über mögliche Interpretationen bieten, muss zu einer Einschätzung gelangen, welche von ihnen plausibel sind, und – in einem weiteren Schritt – sich bemühen zu entscheiden, welche von ihnen – wenn überhaupt eine – optimal ist. Wie können wir dieses Projekt aber im Einzelnen ausführen? Ein großer Irrtum ist es, den Bereich der Texte als geschlossen anzusehen – also die Position einzunehmen, dass alles eine Sache von Texten ist, und zwar vollständig. Texte kommen in Kontakt mit

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Kontexten. Das Hauptinstrumentarium der Textinterpretation besteht im Prinzip der hermeneutischen Optimierung gemäß eines Gütestandards – und der ist die Kohärenz einer vorgeschlagenen Textinterpretation mit ihrem gesamten Kontext. Diejenige Interpretation, die am besten mit dem Gesamtkontext eines Textes harmoniert, ist als solche eine höherwertige Interpretation und hat dadurch einen berechtigteren Anspruch darauf, von uns akzeptiert zu werden. Im Lichte solcher Betrachtungen des Kontexts sind Textinterpretationen ganz entschieden nicht gleich erschaffen. Die vernünftigste Reaktion auf die Existenz einer Vielzahl alternativer Textinterpretationen ist eine Auffassung, die man die Kohärenztheorie der Interpretation nennen könnte. Diese Theorie hat zwei hauptsächliche Thesen: (1) Das letzte Ziel von Bemühungen des Interpretierens ist die Optimierung. Dabei geht es nicht nur darum, einen Überblick über mögliche Interpretationen zu geben, sondern darum, ihre jeweiligen Vorzüge einzuschätzen und vor allem, wenn immer möglich, zu entscheiden, welche die beste ist. (2) Die optimale Interpretation eines Textes ist diejenige, die am besten eine systemische Vereinheitlichung aller oben genannten hermeneutischen Faktoren erreichen kann: Kontext, Autorschaft, Philologie, Geistesgeschichte usw. Entscheidend ist die beste Übereinstimmung mit diesen Faktoren, wobei möglichst wenige offene Fragen, Probleme, Schwierigkeiten, lose Enden usw. verbleiben dürfen. Was immer man auch gegen eine Kohärenztheorie der Wahrheit sagen kann, so ist eine Kohärenztheorie der Interpretation doch außerordentlich vernünftig. Dadurch, dass es einen den Text festlegenden Kontext gibt, dass die Beschäftigung mit informationsvermittelnden Texten keine Angelegenheit eines ungebundenen, erfindenden, freilaufenden Fortspinnens von Worten ist, kommt die Rationalität wieder auf die Bühne. Die Textinterpretation ist eine Tätigkeit, die im Lichte des Bedarfs nach Systematisierung, also der Notwendigkeit, Texte in ihre weitere

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Umgebung einzupassen, mehr oder weniger adäquat sein kann. Nicht nur kann ein Text einen Untertext (Subtext) mit impliziten, nicht ausgesprochenen Botschaften haben, sondern er hat auch – und dies häufiger – einen Übertext, d. h. eine weitere Umgebung von Kontexten, innerhalb derer seine eigene Botschaft konstruiert werden kann. Die Kohärenz mit den Aspekten des Kontextes – im weitesten Sinne – ist sowohl das geeignete Instrument der Textinterpretation wie auch die Grundlage der Objektivität in diesem Bereich. Aber wer stellt die Regeln der Angemessenheit auf? Antwort: Sie werden von uns nicht aufgestellt, sondern sie sind uns gegeben, sie sind nicht etwas, das erfunden wird, sondern etwas, was jeder entdecken kann, der den Bereich der relevanten Erscheinungen mit hinreichender Vorsicht untersucht. Sie haften dem weiteren Kontext an und sind in ihm stillschweigend inbegriffen, sowohl im Text selbst wie in der Tradition der Zwecksetzungen, innerhalb derer die Interpretation voranschreitet. Jemand, der einen Text interpretiert, stellt genauso wenig die Regeln für den Prozess der Interpretation auf, wie der Sprecher die Bedeutungen der Wörter herstellt, die er verwendet. (Beides ergibt sich nämlich aus einer Tradition menschlichen Handelns und es kommt hier kein Deus ex Machina ins Spiel, der sie von einer höheren Position aus aufstellt.) Es ist, um dies noch einmal zu betonen, eine Sache der Rekonstruktion, nicht der Dekonstruktion. Wenn man also in vernünftiger Weise an die Textinterpretation herangehen will, dann sollte man die irrige Idee zurückweisen, dass wir es uns leisten können, die Existenz einer nicht-textlichen Welt zu vernachlässigen, mit der wir Menschen auf der Grundlage von Texten Beziehungen knüpfen. Die Verwendung von Worten ist keine freischwebende Aktivität, die mit ihrem sprachlichen und verhaltensartigen Umfeld völlig unverbunden wäre. Der Bereich der Texte ist vom Bereich des menschlichen Handelns nicht abgeschnitten. (Sich selbst in den Bereich der Texte hineinzubegeben und sich in ihm zu bewegen, ist ja ein Teil menschlicher Praxis; das Erzeugen und das Gebrauchen von Texten ist eine Art, Dinge zu tun.) Der Kontext eines Textes wird nicht bloß durch andere verwandte Texte konstituiert, sondern auch durch die Artefakte, die seine materielle Umgebung ausmachen, und durch die gemeinsamen

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Erfahrungen, die wir mit dem Autor des Textes teilen (da wir mit ihm vor einem geteilten menschlichen Hintergrund in einer gemeinsamen Welt einen Rahmen von Erfahrungen gemein haben). Und dies verleiht Texten einen objektiven Aspekt. Wie bei allen anderen rationalen Bemühungen auch können wir bei der Textinterpretation keine unbedingten Garantien erhalten. Wie in allen anderen „induktiven“ Situationen kann die Rationalität uns hier ebenso nur den besten verfügbaren Ausgangspunkt dafür bieten, unsere Ziele zu erreichen. Insoweit wir aber vernünftige Wesen sind, sollte dieser Umstand uns auch genügen, wenn wir einsehen, dass es absurd ist, mehr zu verlangen, als man überhaupt haben kann. 4. GEGEN DIE GLEICHBEHANDLUNG VON TEXTEN IN KOMMUNIKATIVEN ZUSAMMENHÄNGEN In seinem Buch Die Stimme und das Phänomen beklagt Jacques Derrida, dass die westliche geisteswissenschaftliche Tradition der „Stimme“ (d. h. dem Denken und der Intention des Autors) den Vorzug gegenüber der „Schrift“ (d. h. dem resultierenden objektiven Text) gegeben hat, dem Prozess gegenüber dem Produkt.6 Diese Behauptung beinhaltet jedoch ein grundlegendes Missverständnis. Sie übersieht die Bedeutung des hermeneutischen Zirkels: der Lehre, dass beim Versuch, Texte zu verstehen, Aspekte des Prozesses und des Produkts miteinander koordiniert sind; dass keiner der beiden Faktoren dem anderen untergeordnet werden, geschweige denn ganz vernachlässigt werden darf. Würden wir mit Derrida darin übereinstimmen, den Prozess (die „Stimme“) dem Produkt (dem textartigen Resultat in „Schrift“) unterzuordnen, würden wir die wesentliche Lektion außer Acht lassen, dass das, was ein Text ist, von seiner Funktion abhängt, und davon, was er zu bewirken sich vornimmt. An diesem Punkt ist die eigene Position des Autors von vorherrschender Bedeutung. Da Texte von ihren Autoren hergestellt werden, müssen wir die Kontexte ihrer Produktion berücksichtigen, wenn wir feststellen wollen, was sie als Produkte tatsächlich darstellen. Der Grund, warum Interpretationen nicht gleich erschaffen sind, liegt in dem Umstand, dass sie in Kontexte eingebettet sind, die auf

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die „Stimme“ bezogen sind. Texte werden nämlich mit einem Blick auf ihre kommunikative Bestimmung hervorgebracht; sie sind Instrumente der Kommunikation – der Übermittlung von Information und der Herausforderung zum Handeln, auch wenn das einzige hier relevante „Handeln“ in Überlegen und Diskutieren bestehen mag. Selbst rein belletristische Texte können Leute zur Umsetzung ihrer Überzeugungen und Werte fuhren auf Weisen, die witzlos und unecht sind – oder umgekehrt. Texte können wahrhaftig sein oder lügnerisch, hilfreich oder verletzend. Sie sind nicht vom Leben abgeschnitten: Sie können lebensförderlich sein oder lebensentwürdigend, sie können uns dazu veranlassen, Ansichten zu übernehmen, die zur Selbsterhöhung fuhren oder zur Selbstverachtung. Medizinische Texte nehmen Einfluss auf unsere medizinische Behandlung. Texte im Ingenieurwesen nehmen Einfluss auf die Entwürfe, die wir ausfuhren. Literarische Texte nehmen Einfluss auf unsere Werthaltungen und auf unsere durch diese Werthaltungen geprägte Lebensgestaltung. Philosophische Texte nehmen Einfluss auf unsere Prioritäten und darauf, wie wir unsere geistigen Tätigkeiten durchführen. Texte wirken nicht nur auf das ein, was wir denken, sondern auch darauf, was wir tun: auf unsere Handlungen und Aktivitäten, unsere Beobachtungen und Experimente, unsere Vorhersagen und unsere Versuche, über Vorgänge Kontrolle auszuüben. Und soweit Texte Elemente eines weiteren Bereiches von Zwecken und Funktionen sind, hängt die Angemessenheit ihrer Interpretation von dieser Tatsache ab. Die Welt der Texte ist nicht abgeschlossen, sie ist in unauflösbarer Weise mit dem Bereich des Handelns, des Tätigseins und des Lebens verknüpft. Und Handlungen (selbst geistige Handlungen wie das Verstehen) können mehr oder weniger erfolgreich sein. Dementsprechend können wir unsere Texte (Darstellungen) bewerten, da sie eine pragmatische Dimension im Bereich der Kommunikation besitzen. Man kann natürlich die „Schrift“ hier nicht herauslassen. Die öffentliche Dimension lässt sich nicht beseitigen. Dadurch, dass der Autor Sprache verwendet, um seinen Text hervorzubringen, bedient er sich eines öffentlichen Instruments. Was Wörter bedeuten, ist eine Sache der Konvention – Resultat der sozialen und gleichsam entscheidungsartigen Operationsweise sprachlicher und symbolischer

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menschlicher Einrichtungen. Und was man in angemessener Weise (gerechtfertigterweise, korrekterweise) sagen kann, wenn diese zunächst kontroversen Arrangements einmal getroffen sind, ist selbstverständlich etwas, was selber nicht mehr ungebunden ist und nicht mehr der freien Entscheidung unterliegt. Wenn wir einmal entscheiden, was die Wörter „Katze“ und „Matte“ bedeuten, dann ist die Frage, ob man in angemessener Weise den Satz „Die Katze liegt auf der Matte“ behaupten kann, keine Frage, die mittels Entscheidungen gelöst werden kann: Unser Beitrag hat sich erschöpft, und das Übrige hängt von der Natur der Dinge ab. Wofür unsere Wörter stehen – was wir mit Wörtern wie „Katze“ oder „Matte“ oder „Hund“ meinen –, wird völlig durch menschliche Arrangements geregelt, ist eine Angelegenheit der „Entscheidung“ von Sprachgemeinschaften. Wenn diese Dinge aber einmal festgelegt sind, dann kann nur die Natur die Frage beantworten, ob und wo und wie oft Hunde und Katzen in der Natur angetroffen werden – und etwa in der Nähe voneinander und in der Nähe von Matten. Die konventionellen Arrangements von sprachverwendenden Gemeinschaften haben dann nicht weiter damit zu tun; die konkreten Realitäten der Welt erhalten nunmehr die Oberhand. Auch hier erfordert die Textinterpretation eine objektive und eben kontextuelle Dimension. Die entscheidende Schwäche eines dekonstruktivistischen Relativismus von Texten und ihren Interpretationen liegt in der Tatsache, dass rationale Bewertung auch in dem Bereich der Interpretationen möglich ist. Denn Texte können und sollen unter Rückgriff auf ihre verzweigten Verbindungen mit verschiedenen Kontexten bewertet werden. Inwiefern Urteile und Behauptungen über Angelegenheiten der Kommunikation angemessen sind, wird im Allgemeinen von objektiven Faktoren außerhalb des Bereichs der Wünsche oder Handlungen der Einzelnen abhängen. Es ist einfach nicht der Fall, dass im Bereich der Texte alles gleich erschaffen ist, wie uns der dekonstruktionistische Relativismus glauben machen will. Der Standard der systemischen Kohärenz innerhalb eines insgesamt auf Zwecke bezogenen Kontextes schließt eine indifferentistische Gleichbehandlung von Textinterpretationen aus und ermöglicht einen Objektivismus bei der Interpretation.

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5. VERSÖHNLICHE SCHLUSSBEMERKUNGEN Nun kann man sich immer auch eine Position denken, die zwischen persönlicher Subjektivität und unpersönlicher Objektivität vermittelt und die die Übereinstimmung zwischen Personen innerhalb einzelner Gemeinschaften als Maßstab hervorhebt.7 Diese Zwischenposition ist im gegenwärtigen Zusammenhang aber kein gut vertretbarer Standpunkt. Denn Gemeinschaften und ihre Praktiken und Traditionen sind fast genauso unbeständig und fehlbar wie Individuen. Auch sie können wesentliche Überlegungen übersehen und unbeachtet lassen. Selbst wenn wir wissen, wie die Gemeinschaft sich tatsächlich verhält, können wir immer noch fragen, wie sie sich verhalten sollte. Und das können wir – obzwar zugegebenermaßen nur in Grenzen – auch in Bezug auf die Gemeinschaft fragen, zu der wir selbst gehören. Objektivität ist ein Ideal, das wir anstreben können und anstreben sollten. Aber niemand sagt, dass der Prozess der Annäherung an das Ideal leicht ist. Zwei verschiedenartige Fragen kommen in unser Blickfeld. Die eine Art von Problem ist: „Was bedeutet der Text tatsächlich?“, und die zweite Art von Problem ist: „Was könnte der Text bedeuten?“ Die Antwort hängt hier wie sonst auch davon ab, um welche Frage es uns gerade geht. Die Situation ist jedoch nicht völlig unausgewogen. Schließlich kann man auch etwas zu Gunsten der dekonstruktionistischen Sichtweise vorbringen. Interessanterweise fällt dies aber völlig aus dem Bereich einer bedeutungsorientierten Hermeneutik heraus. Denn wenn wir von „Interpretation“ eines literarischen Textes sprechen, kann es um zwei ganz verschiedene Dinge gehen. Es ist von großer Wichtigkeit, zwischen folgenden zwei Arten von Interpretation zu unterscheiden: – exegetische Interpretation: das Bemühen, die Bedeutung eines Textes unter Bezugnahme auf die Absichten seiner Produzenten gegenüber einem intendierten Publikum an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu erläutern;

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– erfinderische (Um-)Interpretation: die Umformung oder die Neudarstellung eines Textes im Bemühen, ästhetische Reaktionen und gefühlsmäßige Resonanzen bei gegenwärtigen, heutigen Rezipienten hervorzurufen. Wenn wir exegetische Interpretation durchführen, bewegen wir uns im Gebiet geisteswissenschaftlicher Forschung. Hier erhalten Fragen des Kontextes zentrale Bedeutsamkeit; denn die entscheidende Frage ist hier: „Was beabsichtigte der Autor mit dem Text?“ Es geht dabei um die ursprüngliche Botschaft und den Inhalt des Textes. Das Problem der historischen Authentizität steht an erster Stelle. Aber Texte – und nicht nur Texte, sondern alle Artefakte, die eine „Ästhetik“ haben, wie ein Gemälde oder eine Skulptur – können auch in abstrakter Weise betrachtet werden, also unter Absehung vom Kontext. Dabei befindet sich nicht die Person, die den Gegenstand hervorgebracht hat, im Zentrum, sondern der Rezipient oder Konsument, und die Frage ist nicht: „Was bedeutet der Text tatsächlich für seinen Autor?“, sondern vielmehr: „Was kann der Text für uns bedeuten?“ „Interpretation“ steht hier nicht für die hermeneutische Interpretation der Bedeutungserklärung, sondern es geht um so etwas wie das, was gemeint ist, wenn wir von der „Interpretation“ eines Musikstückes durch einen Künstler oder von der „Interpretation“ eines Theaterstückes durch einen Regisseur sprechen. Dabei interpretieren wir den Text eigentlich gar nicht, sondern wir deuten ihn in schöpferischer Weise um, versuchen, ihm Relevanz und Interesse für die Gegenwart zu verleihen. Die Aufführung eines Theaterstückes, das Spielen einer musikalischen Komposition sind hierfür besonders gute Beispiele. Wir streben dabei (gewöhnlich) keine historische Authentizität an, sondern wollen das Interesse anderer Personen gewinnen. Wir führen keine geisteswissenschaftliche Untersuchung durch, sondern streben Erbauung und Unterhaltung an. Autorschaft und damit auch der Kontext haben hier nur nebensächliche Bedeutung; an ihrer Stelle steht die Kreativität der Phantasie im Vordergrund. Bei dieser Art von Unternehmung spricht einiges für die ungebundene Erfindungskraft, wie sie der Dekonstruktionismus im Blick hat. Aber das hermeneutische Geschäft, das darum bemüht ist,

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HERMENEUTISCHE OBJEKTIVITÄT

die wirkliche Bedeutung von Texten als konkreter historischer Erzeugnisse zu begreifen, ist natürlich etwas ganz Anderes. Das wesentliche Problem ist also der Kontrast zwischen Textinterpretation als gewissenhafter gelehrter Auslegung und der erfinderischen De-(oder besser Re-)konstruktion von Texten, die sich von Restriktionen der Betrachtung des geschichtlichen Kontextes befreit hat und die somit zu Streitfragen der gelehrten Auslegung keine Stellung bezieht. Hinter dieser Dualität der Ansätze verbirgt sich ein folgenschwerer Streit über Konzeptionen und Gestaltung der Erziehung. Die Fragen sind: Wer besitzt die Texte? Nach wessen Platzregeln soll das Spiel „Textinterpretation“ gespielt werden? Sollen wir gelehrte Auslegung praktizieren oder erfinderische Erbauung? Sollen die Textkonsumenten den Fleiß der Gelehrsamkeit aufbringen oder sollen sie dazu eingeladen werden, sich auf erfinderische Flüge der Phantasie zu begeben? Und vor allem: Wenn wir bei der Erziehung der Jugend Texte heranziehen, sollen wir dann diejenigen fordern, die philologisch und historisch gut informiert sind, oder sollen wir eine lockere Spielwiese für die Erfindungskraft schaffen, auf der jeder mitspielen kann? Wir sollten die Tatsache anerkennen, dass Texte in Bezug auf sehr unterschiedliche Ziele und Zwecke zustande kommen. Insbesondere können sie entweder für die Übermittlung von Information und Gedanken hergestellt werden oder für die Provokation von Gedanken und die Anregung der schöpferischen Einbildungskraft. Deswegen gibt es zwei ganz unterschiedliche Unternehmen der „Interpretation“. Nur wenn wir inhaltsbezogene Interessen (und erst recht solche der geisteswissenschaftlichen Forschung) beiseitelassen und Textinterpretation als ein Mittel zur Provokation von Gedanken verwenden – als einen Übungsplatz für die ungezügelte Einbildungskraft –, kann die ungeregelte dekonstruktionistische Herangehensweise an Texte überhaupt sinnvoll sein. Es ergibt sich somit die Aussicht auf eine theoretische Versöhnung: „Es hängt alles davon ab, was Du unter ‚Interpretation‘ verstehst. Es kann um ganz unterschiedliche Dinge gehen. Eines ist die gelehrte Auslegung, ein anderes ist die dekonstruktionistische erfindende Innovation.“ Bei der kommunikativen Verwendung von Texten, bei der die Übermittlung von Information der entscheidende Faktor ist, steht der

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Antrieb zur Objektivität im Vordergrund. Und dies gilt sogar auch für „literarische“ Texte, da deren Autoren im Allgemeinen darauf aus sind, auf ihre eigene Weise verstanden zu werden. Letztlich geht es um den Besitz des Textes. Die Hermeneutiker erkennen die Eigentumsrechte des Autors an wie auch der Gelehrten, die sich mit dessen Produkten befassen. Dekonstruktionisten denken, dass der Text den Interpreten gehört und dass diese, wenn sie den Text als Sprungbrett für Abenteuer der erfinderischen Ausweitung der Empfindsamkeit verwenden, mit dem Text tun können, was sie wollen. Sicherlich ist das Leben nicht nur für die harte Arbeit da. „All work and no play makes Jack a dull boy.“ Es soll Gelegenheiten für ernsthaftes Denken und es soll auch Gelegenheiten für die Ausübung der erfindenden Phantasie geben. Aber nur dann, wenn die geistigen Bemühungen spielerischen Charakter annehmen, kommt der Dekonstruktionismus ins Spiel. Geht es dagegen bei den Texten, mit denen wir uns befassen, um den informativen Aspekt in irgendeiner seiner Dimensionen, dann werden unsere Bemühungen des Interpretierens den Weg der geisteswissenschaftlichen Forschung einschlagen, und dabei tritt die Objektivität wieder in den Vordergrund.8 ANMERKUNGEN 1

Nicholas Rescher, Objectivity. The Obligations of Impersonal Reason, Notre Dame/London: Notre Dame University Press 1997, Kapitel 6.

2

Vgl. besonders Jacques Derrida, De la Grammatologie, Paris 1967; dt.: Grammatologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974.

3

J. Hillis Miller, „The Critic as Host“, in: Harold Bloom et al. (Hrsg.), Deconstruction and Criticism, New York: Seabuty 1979, S. 229.

4

Zu dieser Trichotomie vgl. den Aufsatz „The Threefold Way” in meinem Buch Forbidden Knowledge, Dordrecht: Reide11987, S. 83–92.

5

Dies sei anlässlich der treffenden Bemerkung gesagt, dass ein Buch ebenso wenig offenbart, in welchen Gedanken der Autor zum jetzigen Zeitpunkt vertieft ist, wie ein Maulwurfshaufen zeigt, wo sein Hersteller sich gerade befindet.

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HERMENEUTISCHE OBJEKTIVITÄT

ANMERKUNGEN 6

Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979 (franz. Orig.: Le voix et le phenomène, Paris: Presses Universitaires de France 1973).

7

Für den Bereich der Textinterpretation präsentiert Stanley Fish mit argumentativem Einsatz ein Plädoyer für diese Zwischenposition, in: Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretative Communities, Cambridge, Mass,: Harvard University Press 1980.

8

Zuerst erschienen in Axel Buhler (Hg.), Hermeneutik (Heidelberg: Synchron, 2003), S. 177–90. Aus dem Englischen übersetzt von Axel Bühler und Stefan Magalios.

XI DIE VIELEN FACETTEN DER REALITÄT 1. DIE BEDINGUNGEN DES WISSENSCHAFTLICHEN FORTSCHRITTS

W

issenschaft, die kognitive Erkundung des Laufs der Dinge, ist eine Sache der Interaktion des menschlichen Geistes mit der Natur, der kognitiven Auswertung der verfügbaren Daten, um hinter die „Geheimnisse der Natur“ zu kommen. Dabei hängt der wissenschaftliche Fortschritt nicht nur von der Struktur der Natur ab, sondern auch von den Eigenheiten des informationserwerbenden Verfahrens, mittels dessen wir sie erforschen. Wir suchen die Natur nach interessanten Phänomenen und kognitiv brauchbaren Regularitäten ab. Die theoretische Wissenschaft verlangt danach, die am wenigsten komplizierte Theoriestruktur aufzufinden, welche mit den zugänglichen Daten in Einklang zu bringen ist. Auf jeder Stufe versuchen wir, die Phänomene und ihre Regularitäten in die einfachste (kognitiv effizienteste) explanatorische Struktur einzubetten, die unsere Fragen über die Natur beantworten und unsere Interaktionen in ihr leiten kann. Doch dieser Vorgang stellt immer größere Anforderungen an uns, sowohl was den Umfang unserer Daten, als auch was die Raffinesse unserer Theorien betrifft. Um unsere Suche nach kognitiv nutzbaren Phänomenen auszuweiten, müssen wir die verfügbare „Vergrößerung“, die unsere observativen und experimentellen Technologien bereitstellen, ständig verbessern und die Natur in immer größerem Detail untersuchen. Dies wiederum kann nur mit einer noch leistungsfähigeren Technik der Erhebung und Auswertung von Daten geleistet werden. Und indem die Reichweite der Teleskope, die Energie der Teilchenbeschleuniger, die Effektivität der Niedrigtemperaturgeräte, die Wirksamkeit der Druckausrüstungen, die Leistung der vakuumerzeugenden Vorrichtungen und die Genauigkeit der Messgeräte zunimmt, wächst

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unsere Fähigkeit, weiter in den parametrischen Raum der physikalischen Welt vorzustoßen. Dieser verbesserte Zugang bringt neue Phänomene ans Licht und ist der Nährboden für das Wachstum unseres wissenschaftlichen Verständnisses der Natur. Sobald aber die mit diesen Geräten möglichen Entdeckungen gemacht sind, müssen wir, um weitere machen zu können, in der Verfeinerung der datenrelevanten Technologie zur nächsten Ebene aufsteigen. Der Schlüssel zu den großen Erfolgen der zeitgenössischen Physik liegt in den enormen Fortschritten, die eine immer raffiniertere wissenschaftliche Technologie durch die Erweiterung der observativen und experimentellen Basis unseres theoretischen Wissens von natürlichen Vorgängen möglich gemacht hat. Francis Bacons klassisches Wort hat hier Gültigkeit: Scientia et potentia humana in idem coincidunt („Wissen und Macht des Menschen fallen zusammen“). Je ausgefeilter die Mensch-Natur-Interaktion uns befähigt, unsere „kognitive Vergrößerung“ zu verbessern, in umso mehr Details können wir die Natur erfassen. Und der Vorrat an phänomenologischer Neuheit ist unerschöpflich: Wir können nie darauf vertrauen, dass wir ihn ausgeschöpft haben. Der Natur stehen immer frische phänomenologische Reserven zur Verfügung, die sich in noch entfernteren Regionen des parametrischen Raums verborgen halten. Ohne eine sich permanent weiterentwickelnde Technologie würde der wissenschaftliche Fortschritt schnell zum Erliegen kommen. Die Entdeckungen von heute können nicht mit der Ausrüstung und den Techniken von gestern gemacht werden. Der wissenschaftliche Fortschritt hängt entscheidend und unumgänglich von unserer technischen Fähigkeit ab, in immer tiefere Schichten physischer Realität einzudringen. Der Betrieb Naturwissenschaft in der uns bekannten Form betraut uns so mit einem buchstäblich endlosen Unternehmen, die Reichweite wirksamer experimenteller Eingriffe zu erweitern. Denn nur unter neuen und bisher unzugänglichen Bedingungen des observativen oder experimentellen Handelns unter extremen Werten von Temperatur, Druck, Partikelgeschwindigkeit, Feldstärke und so weiter können wir Situationen verwirklichen, in denen wir wissenserweiternde

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DIE VIELEN FACETTEN DER REALITÄT

Hypothesen und Theorien überprüfen können. Die enorme Leistung, Empfindlichkeit und Komplexität, die in der heutigen Experimentalwissenschaft in Anwendung gebracht werden, wurden nicht um ihrer selbst willen gesucht, sondern weil die Forschungsfront in eine Gegend vorgeschoben worden ist, wo diese Verfeinerung für jeden weiteren Fortschritt unverzichtbar war. Aus der Nähe sehen Dinge anders aus als aus der Ferne. Wie schon der Kanzler Bacon erkannte, wird uns die Natur nie mehr erzählen, als wir ihr gewaltsam abringen können. Und dank der technischen Verfeinerung können wir die Natur stufenweise immer gründlicheren Sondierungen unterwerfen. Dabei lehrt uns die historische Erfahrung, dass die Natur in diesem Prozess ständig wechselnde Ansichten bietet. Auf jeder Stufe begegnen wir einer anderen Größenordnung oder Ansicht von Dingen. Dies nicht, weil die Natur selbst irgendwie geschichtet wäre und verschiedene Ebenen des Seins beinhalten würde, sondern vielmehr, weil der Charakter der verfügbaren naturerforschenden Interaktion variabel ist und sich von Ebene zu Ebene unterscheidet und weil die Art der „Ergebnisse“, welche man erhält, von diesem Charakter der naturerforschenden Interaktionen abhängt. Entscheidend ist also nicht die Größendimension (Zelle, Molekül, Atom, subatomares Teilchen usw.), sondern die allgemeine Fähigkeit, tieferen Einblick in den Modus Operandi der Natur zu gewinnen. Während wir auf dem Weg der zunehmend umfangreicheren Untersuchung des Beobachtbaren fortschreiten und die Phänomene dank technischer Raffinesse immer weiter durch den parametrischen Raum der Natur reichen, gewinnen wir ständig neue Ausblicke. Ganz andere Regularitäten und Gesetze können und werden auftauchen, sobald neue Ebenen der Verfeinerung in der Behandlung von Details erreicht sind. THESE 1: Die Natur kann und wird uns ein anderes „Gesicht“ zeigen, andere Gesetze, Kategorien, Modi der Ordnung aufweisen, wenn immer sie in höherem Detailgrad betrachtet wird. Wenn wir einen Bereich von Phänomenen einer bestimmten Art untersuchen und dabei auf einer ersten Ebene bei einem Bild anlangen, das sich als eine Art von Regularität präsentiert, sagen wir uns: „Aha, dieser Ausschnitt der Vorgänge in der Welt folgt der

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Gestalt eines Gebirgszuges.“ Auf der nächsten Ebene untersuchen wir die Zacken des Musters etwas näher. Wir stellen fest, dass sie deutlich komplexere Gestalt haben. Nun sagen wir uns: „Ach so, das war noch nicht ganz richtig. Dieser Ausschnitt der Vorgänge in der Welt hat eigentlich die Form fluktuierender Burgzinnen.“ Folglich untersuchen wir auf einer nächsten Ebene diese Zinnen näher. Jetzt stellen wir fest, dass sie ihrerseits die Gestalt gewechselt haben, und wir sagen uns: „Aha, dieser Ausschnitt der Welt besteht aus regelmäßig angeordneten Zickzackmustern.“ Und so setzt sich der beobachtungsgetriebene Revisionismus auf jeder folgenden Stufe technischer Verfeinerung unserer experimentellen und observativen Interaktionen mit der physischen Natur fort. Bei jedem Detailgrad sieht der Modus Operandi der Natur wesentlich anders aus, und ihre „leitenden Regularitäten“ nehmen ein Aussehen an, das sich von allem, was vorher war, deutlich unterscheidet. Vermutlich können wir auf jeder Forschungsstufe die Situation einer vorangegangenen Stufe leicht erfassen und erklären. Wir können immer sagen: „Ja natürlich, so wie die Dinge liegen ist es ganz verständlich, dass wir, wenn wir auf eine so-und-so grobe Weise vorgehen, bei der Art von Ergebnissen anlangen, die wir früher erhielten, so falsch und ungenau sie auch sind.“ Doch erlangt man diese Weisheit erst im Nachhinein. An keiner Stelle haben wir die Möglichkeit vorherzusagen, was vor uns liegt. Zu keiner Zeit können wir im Voraus beurteilen, was weiter hinab auf der explanatorische Straße liegt. Es ist prinzipiell unmöglich, den Blick der Zukunft auf die Gesetze der Natur schon jetzt zu erhaschen. Die Geschichte der Physik bietet eine Abfolge von Episoden, bei denen immer mehr oder wenige falsche Schlussfolgerungen aus der Tatsache gezogen wurden, dass neue Beobachtungsergebnisse andeuteten, dass die Dinge so einfach nicht sind, wie man bis dato gedacht hat. Mit der Verbesserung der Forschungstechnologie wird das „Fenster“, durch das wir in den parametrischen Raum der Natur sehen können, ständig vergrößert. Wir nutzen dieses Fenster, um den parametrischen Raum zu untersuchen, wobei wir unsere Datengrundlage ständig erweitern und auf der Basis dessen, was wir sehen, verallgemeinern. Dabei überleben auch unsere Theorien, wenn

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überhaupt, nur manchmal. Unser sogenanntes Wissen von der gesetzmäßigen Ordnung der Welt ist niemals gesichert. THESE 2: Die Naturgesetze, deren Geltung wir bei einer bestimmten Stufe der technischen Kompetenz unserer Naturbetrachtung annehmen, werden oft bei einem höheren Kompetenzgrad aufgelöst (verworfen, dekonstruiert). Jede einzelne in der Folge der Ebenen der operationalen oder funktionalen Komplexität kann im Prinzip eine charakteristische Ordnung für sich aufweisen. Die Phänomene, die wir hier auf der nten Ebene erhalten, können Eigenschaften haben, deren Untersuchung uns auf die (n + 1)-te Ebene bringen. Neue Phänomene und neue Gesetze können theoretisch auf jedem Niveau integrativer Ordnung auftreten. Die verschiedenen Facetten der Natur können konzeptuell neue Schichten produktiver Operation erzeugen, woraus sich eine potentiell endlose Folge von Ebenen ergibt, jede mit ihren eigenen, charakteristischen Organisationsprinzipien, die vom Standpunkt der anderen Ebenen aus ganz unvorhersehbar sind. Und der technisch vermittelte Eintritt in neue Regionen des parametrischen Raums destabilisiert ständig das in der Hauptsache schon erreichte Gleichgewicht zwischen Daten und Theorie. Die Möglichkeit eines Wechsels ist immer gegeben. Und wir können noch nicht einmal anfangen, uns vorzustellen, welche Tatsachen und Phänomene in der Zukunft auf der Agenda der Wissenschaft stehen werden. 2. DESTABILISIERUNG Wir haben keine homogene Mondlandschaft vor uns, wo ein Ausschnitt so gut ist wie jeder andere und wo Theorieentwürfe auf magerer Datenbasis im Allgemeinen gültig bleiben, wenn zusätzliche Daten verfügbar werden. Die historische Erfahrung zeigt vielmehr, dass wir jeden Grund haben zu erwarten, dass unsere Vorstellungen über die Natur ständig radikalen Veränderungen unterworfen sind, wenn wir ihre tiefere Struktur in größerem Detail untersuchen. Selbstverständlich wäre es theoretisch möglich, dass sich genau die gleichen Muster auf jeder Ebene der technischen Kapazität wiederholen. Dass wir also eine Situation hätten, wie sie die von E. Mandelbrot bekanntgemachten „fraktalen“ Strukturen charakterisiert.

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Aber die Geschichte der Physik zeigt, dass es keinen guten Grund gibt zu glauben, die Welt sei in der Struktur ihrer natürlichen Prozesse fraktal, und es trete nichts Neues auf, wenn wir dazu übergehen, die Dinge im Detail anzusehen. Es gibt keinen Beleg für die Annahme, der Folge von Ebenen integrativer Komplexität der phänomenalen Ordnung sei irgendwo eine Grenze gesetzt. Was hier ins Auge gefasst wird, ist eine technologie-getriebene Sicht auf die Naturwissenschaften. Sie folgt der Idee, dass große Fortschritte in der observativen und experimentellen Technologie in einem Gebiet der Naturwissenschaft unvermeidlich dazu führt, dass irgendwo „stromabwärts“ Phänomene nachgewiesen werden, die substantielle Revisionen auf theoretischer Seite erzwingen. Der springende Punkt ist, dass das Gleichgewicht von Theorie und Daten, das wir auf einem bestimmten Leistungsniveau wissenschaftlicher Technologie erzielt haben, immer instabil ist und gestört wird, sobald Leistung und Vermögen der einschlägigen Technologie zunehmen. 3. ORDNUNG DURCH ÜBERSEHEN VON DETAILS Wir müssen damit zurechtkommen, dass damit auch Ordnung verloren werden kann. Umgekehrt kann auch die Missachtung von Details Ordnung erzeugen: THESE 3: Ordnung kann durch „Verwischen“ aus Unordnung erwachsen, das heißt durch das Absehen von Details. Größere Präzision muss nicht notwendigerweise einen Gewinn an Wissen nach sich ziehen, sondern kann im Gegenteil zu einem kognitiven Verlust führen, indem sie deskriptive Kategorisierungen dekonstruiert und gesetzmäßige Regularitäten aufhebt. Nur wenn wir einige möglicherweise große Unterschiede in Akzent und Sprechweise ignorieren, können wir sagen, dass die verschiedenen Sprecher den gleichen Satz geäußert haben. Nur durch entschiedenes Absehen von einer enormen Vielzahl von Unterschieden kann man allgemein von „Eisenwaren“ oder von „Bäumen“ oder von „Elementen“ reden. Betrachten wir die folgende, höchst gesetzmäßige Serie: PQPQPQPQPQ …

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Diese Serie lässt sich ganz einfach als eine Abfolge von PQ-Paaren beschreiben. Aber nehmen wir nun an, dass die P spitzfindig in LM und MO unterteilt werden und die Q ganz ähnlich in ML und LO. Und nehmen wir weiter an, dass die fraglichen Unterteilungen mehr oder weniger zufällig auftreten. Dann kann sich herausstellen, dass die wirkliche Situation etwa wie folgt aussieht: MOMLLMLOLMML …, was sich als eine nahezu zufällige Abfolge von L-M-O erweisen mag. Die elegante, gesetzmäßige Ordnung der ursprünglichen Serie wurde durch die neue begriffliche Spitzfindigkeit aufgelöst. Nur durch die Missachtung der potentiell bedeutsamen Unterschiede zwischen LM und MO auf der einen Seite und ML und LO auf der anderen entstand das ursprüngliche Ordnungsphänomen. In manchen Fällen ist eine gesetzmäßige Ordnung das Produkt des Verwischens und Missachtens von Details. Solche Gesetze können aufgrund der Unempfänglichkeit für Unterschiede nur auf bestimmten Ebenen auftreten. Das Diagramm eines Okkultisten mag eine zufällige Folge von Buchstaben aufweisen, doch wenn dessen Sicht „verwaschen“ ist, wird es ihm wie ein Z erscheinen, und es wird sich eine schöne Regularität ergeben. Im Auge des Betrachters können geordnete Muster aus Unordnung erwachsen, so wie Wolken, die wie eine Herde Schafe aussehen, aus einem chaotischen Zusammentreffen winziger Wassertröpfchen entstehen können. Sogar dort, wo auf Mikrodetailebene Unordnung (oder gar gesetzlose Anarchie) herrscht, kann also nichtsdestotrotz Gesetzesartigkeit als ein Phänomen der Konfusion und der detailübersehenden Kurzsichtigkeit auftreten. Empirisch auffindbare Ordnung kann sich leicht als eine Frage des Unvermögens erweisen, auf Details einzugehen: ein reines Artefakt der Indifferenz oder Ignoranz. Und es muss nicht notwendigerweise ein intelligentes Wesen sein, das es versäumt, auf zwei unterschiedene Klassen von Dingen unterschiedlich zu reagieren. Nahezu jegliche Art empfänglicher Mechanismus mag hier versagen. So werden durch einen Münzautomaten, der es versäumt, zwischen der amerikanischen und der kanadischen Währung zu unterscheiden, zahlreiche

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ökonomische und rechtliche Unterscheidungen effektiv annulliert. Empfänger, die für Unterschiede unempfänglich sind, die sie einfach ignorieren, können sich dabei wiederfinden, wie sie eine unordentliche Umwelt in ein Reich handhabbarer Ordnung verwandeln. Wie dieses Beispiel nahelegt, kann die Grundlage von einer erzeugten Ordnung ebenso gut in dem Modus Operandi eines informationsverarbeitenden Mechanismus liegen wie in der Natur der Materialien, mit denen er arbeitet. Stellen wir uns beispielsweise einen Scanner vor, der eine Zufallsfolge von Nullen und Einsen liest. Doch das Gerät ist sozusagen etwas faul und schläfrig und wird nur aufmerksam, wenn sich etwas ändert. Es nimmt nur Ziffern wahr, die, verglichen mit dem, was vorher kam, „neu und anders“ sind. Auf diese Weise wird es die reine Zufallsfolge 0010110011101001 … in die schön geordnete Serie abwechselnder Nullen und Einsen 010101010101 … verwandeln. Es ist diese elegante Ordnung aber nur ein Artefakt von Unachtsamkeit. Zwei Arten und Weisen, wie Makroordnung von einer Mikroebene erwachsen kann, auf der es an Ordnung fehlt, sind bekannt. Das eine ist die statistische Aggregation zufälliger Fluktuationen auf der Mikroebene (wie Teilchen, die sich zufällig bewegen, eine aggregierte Ordnung erzeugen können, die den Gasgesetzen gehorcht). Und das andere ist die Makroevolution von Mikrochaos, das auf einer größeren Ebene geordnetes Verhalten erzeugt, wie die Wirbel von Zigarettenrauch. Doch wie wir gesehen haben, gibt es noch einen dritten Weg, wobei Ordnung keine Frage der statistischen Aggregation ist, sondern des unterscheidungsverhindernden Verwischens von Details. Möglich ist dies, weil der Informationserwerb eine Frage der Interaktion zwischen den natürlichen Vorgängen und der Technologie der Beobachtung ist. Dieses Phänomen kann durch ein einfaches Beispiel illustriert werden. Betrachten wir Zeitungsfotos, die nach der altmodischen

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Rastertechnik erstellt sind. Aber nun stellen wir uns vor, dass die kleinen schwarzen Punkte des Bildes keine massiven Kleckse sind, sondern nur Ansammlungen weiterer, noch kleinerer Punkte. Selbstverständlich werden die Details auf dieser zweiten, „tieferen“ Ebene für die ursprünglichen Phänomene irrelevant sein (oder allenfalls statistisch relevant). Die Art von Ordnung, die auf der Ebene größerer Genauigkeit herrscht, kann für die auf der phänomenologischen Ebene geringerer Genauigkeit auftretende Ordnung irrelevant sein. Vor genau einer solchen Situation stehen wir in gewissen naturwissenschaftlichen Fällen. Dabei müssen wir von den Ebenen der Betrachtung übergehen zu Ebenen begrifflicher Gesichtspunkte, die verschiedenen Graden kognitiver Ausdifferenzierung verbunden sind. Durch diesen Übergang können wir Informationen verlieren, die auf ihre Weise „korrekt“ sind. Der „Fortschritt“, der mit „überlegenem“ Wissen einhergeht, kann und wird oft nur um den Preis einschneidender Verluste erkauft. Wenn wir z. B. darauf bestehen, nur das zu berücksichtigen, was uns die Mikroökonomie über individuelles Verhalten sagt, dann verlieren wir auf einen Schlag praktisch sämtliche nützlichen Lektionen, die uns die Makroökonomie lehrt. THESE 4: Rücksicht aufs Detail verkompliziert die Dinge im Allgemeinen für das menschliche Verständnis der Naturphänomene. Was auf einer Ebene der Betrachtung als einzelnes Phänomen erscheint, kann sich und wird sich häufig auf einer tieferen (d. h. raffinierteren) Ebene in eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Vorgänge auflösen (wie das in der Medizin beim „Kopfschmerz“ oder der „Erkältung“ der Fall ist oder in der Chemie mit den Isotopen ein und desselben Elements). Gewiss, manchmal kann größere Raffinesse zu Konsolidierung und Vereinheitlichung führen. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass Steinkohle und Diamant zwei verschiedene Versionen eines grundlegenden Materials sind: Kohlenstoff. Doch in Wirklichkeit bringt vermehrte Spitzfindigkeit im Allgemeinen vermehrte Kompliziertheit mit sich. Nur selten dienen zusätzliche Details eher zur Vereinfachung als zur Differenzierung. Je näher und umfassender wir die Dinge untersuchen, desto mehr werden wir dazu gebracht, sie zu unterscheiden. In zahlreichen Fällen wird die oberflächliche

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Betrachtung Unterschiede übersehen, welche eine nähere und spitzfindigere Untersuchung enthüllt. Deshalb wird uns Differenzierung und damit Spezialisierung aufgezwungen, je weiter wir unsere Forschungen vorantreiben. Die Wissenschaftsgeschichte liefert reichhaltige Belege für dieses Phänomen. Sie entfaltet eine endlose, repetitive Geschichte, in der einfache Theorien komplizierteren und spitzfindigeren Platz machen. Die Griechen hatten vier Elemente; im neunzehnten Jahrhundert hatte Mendelejew etwa sechzig; um 1900 waren achtzig daraus geworden, und heutzutage haben wir eine umfangreiche Folge stabiler Kernzustände. Der aristotelische Kosmos hatte nur Sphären; Ptolemäus fügte Epizyklen hinzu; unserer weist eine praktisch endlose Vermehrung komplexer Orbitale auf, die nur Supercomputer näherungsweise berechnen können. Die griechische Wissenschaft passte auf ein einziges Bücherregal; zu Newtons Zeiten brauchte man bereits ein Zimmer voll; wir brauchen enorme Speicherstrukturen, die nicht nur mit Büchern und Zeitschriften, sondern auch mit Fotografien, Tonbändern, Disketten usw. gefüllt sind. Von den Größen, die gegenwärtig als fundamentale Konstanten der Physik anerkannt sind, wurde nur eine schon in der Newtonschen Physik in Betracht gezogen: die universale Gravitationskonstante. Eine zweite kam im neunzehnten Jahrhundert hinzu, die Avogadrosche Zahl. Die verbleibenden sechs sind alles Geschöpfe der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts: die Lichtgeschwindigkeit (die Geschwindigkeit elektromagnetischer Strahlung im freien Raum), die Elementarladung, die Ruhemasse des Elektrons, die Ruhemasse des Protons, die Planck’sche Konstante und die Boltzmann’sche Konstante. Es wäre naiv und völlig falsch zu glauben, der Gang des wissenschaftlichen Fortschritts führe in die Richtung zunehmender Einfachheit. Die natürliche Dialektik der wissenschaftlichen Forschung drängt uns ständig zu immer tieferen Ebenen der Verfeinerung. In dieser Hinsicht ist unsere Verpflichtung auf Einfachheit und Systematizität, so notwendig sie methodologisch sein mag, ontologisch vergeblich. Genauere Nachforschungen werden unvermeidlicherweise einen Gesinnungswandel erzeugen, welcher uns ein stets komplizierteres Bild der Welt darstellt. Unsere methodologische Verpflichtung auf Einfachheit sollte substantielle

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Entdeckungen von Komplexität nicht verhindern und tut dies auch nicht. 4. EIN UNGEWOHNTER AUSBLICK Man wird nun erwarten, dass wir umso nützlichere und zuverlässigere Informationen gewinnen, je genauer und detaillierter wir die Dinge erkunden. Aber obwohl dieses häufig der Fall ist, ist dies jedoch keineswegs notwendigerweise so. Es ist gut möglich, dass unsere Information zwar auf unserer „natürlichen“ Operationsebene verfügbar ist, sich aber in Folge zunehmender Verfeinerung in Nichts auflöst. Nur durch Absehen von endlos vielen Möglichkeiten der Herstellung von Stühlen und von endlos vielen Möglichkeiten des Sitzens auf ihnen kann man Wissensbestände nach Art von „Stühle sind Sitze“ gewinnen. Dies ist eine Behauptung, die wir alle auf der Ebene einer „Alltagskommunikation“ über physikalische Gegenstände in gewöhnlicher Sprache verstehen, deren Wiedereinführung in der „tieferen“ Sprache der Physik aber ganz unvorstellbar ist. Und eine derartige Situation kann zu dem paradoxen Resultat führen, dass unser sogenanntes Wissen oft nur durch Übersehen von Details entsteht. Denn es können die „Gegenstände“, denen wir begegnen, und die „Gesetze“, die ihr Betragen leiten, ganz einfach Artefakte unseres eigenen Modus Operandi sein. THESE 5: Unabhängig davon, wie gesetzmäßig die Natur auf der Ebene geringer Detailtreue ist, wie sie wir uns jetzt und hier in Sicht nehmen, ist es gut möglich, dass die Naturgesetze, so wie wir sie gegenwärtig im besten Falle bestimmen können, immer zu Fall kommen, sobald die Forschung zu der feinkörnigeren Situation einer weiteren Ebene von Details fortschreitet. Jene Gesetze, die wir momentan akzeptieren, müssen häufig geändert werden und das heißt: durch etwas Besseres ersetzt werden. Führen wir deshalb, als eine ziemlich radikale Hypothese, die Idee eines hierarchisch gesetzesinstabilen Universums ein. Dabei haben wir es mit einer Welt zu tun, die auf verschiedenen Ebenen der Genauigkeit und Raffinesse betrachtet werden kann, wo aber die auf einer bestimmten Ebene geltenden Gesetze immer und ausnahmslos aufgehoben werden, sobald wir zu einer anderen Ebene übergehen. In

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solch einer Welt gibt es keine absolut stabilen natürlichen Arten: Eine jegliche natürliche Art, der wir auf einer Ebene i begegnen, wird als solche auf der Ebene i + 1 unhaltbar. Die auf einer beliebigen Ebene zu entdeckende Ordnung wird auf der nächsten Ebene dekonstruiert durch etwas völlig anderes und begrifflich Inkommensurables ersetzt. Gesetze gibt es immer noch, aber Gesetze, die auf eine völlig andere Weise konzeptualisiert werden müssen, nämlich als ebenenabhängig. Betrachten wir nur eine mögliche Illustration dieses Gedankenganges: die Verhaltenspsychologie einzelner Menschen. Man könnte argumentieren, es sei gut möglich, dass die zugrundeliegenden Prozesse – seien sie gehirnphysiologisch oder geistig protopsychologisch – so komplex und vielfältig, dass auf den untersten Ebenen keine als psychologisch erkennbaren Regularitäten existieren. Der Modus Operandi der Individuen ist so verworren, dass keine psychologisch relevanten Mikroprozesse allen Individuen gleichermaßen gemein sind. Und doch mögen gesetzmäßige Regularitäten auf der gröberen Makroebene menschlicher Aktion und Interaktion der Ebene der „Alltagspsychologie“ durchaus erkennbar und kognitiv handhabbar werden. Von einem solchen Standpunkt aus betrachtet sind unsere „Gesetze“ korrekt, vollkommen akkurat und der Wirklichkeit angemessen, soweit man sie auf einem bestimmten Niveau der Genauigkeit betrachtet, was die observative und experimentelle Technologie betrifft. Aber das heißt nicht, dass sie schlichtweg wahr sind, sondern nur, dass sie von einem bestimmten Beobachtungsstandpunkt aus von der tatsächlichen Wirklichkeit ununterscheidbar sind, dass sie alle Erfolgskriterien erfüllen, die wir auf einem bestimmten Niveau technischer Kompetenz vernünftigerweise für das Zugestehen von Wahrheitsansprüchen aufstellen können. THESE 6: Die Möglichkeit besteht, dass jede Gesetzmäßigkeit der physikalischen Welt auf jeder beliebigen Ebene der Genauigkeit der Beobachtung ein Produkt des „Verwischens“ ist, so dass jedes der Gesetze, welche wir auf einem bestimmten Niveau aufstellen, letztendlich erschüttert wird, während wir unsere Beherrschung von Details verbessern.

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Natürlich kann hier eingewendet werden: „Zeigt die enorme Präzision der mathematischen Struktur von unseren Naturgesetzen nicht, dass Ordnung in der Natur an und für sich existieren muss?“ Ja und nein. Tatsächlich zeigt es, dass wir es mit einer lokalen Ordnung zu tun haben. Aber es zeigt keineswegs, dass dies eine Sache des Inputs ist und nicht des Outputs. Die Wurstmaschine, die Präzisionswürste ausstößt, muss nicht mit präzise geformten Rohmaterialien arbeiten. Dieser Gedankengang führt auf die abschreckende Idee, dass jede vermeintlich allgemeine Wahrheit über die Welt – jedes sogenannte Naturgesetz – sich als Artefakt einer Betrachtungsweise herausstellen kann, welche einem bestimmten Reaktionsniveau angepasst ist, einem Genauigkeitsgrad, der einem Geschöpf entspricht, das mit seinen besonderen Mitteln der Beobachtung und Theorie auf einen bestimmten Niveau der Forschungstechnologie operiert. Um zu diesem Resultat zu kommen, ist es nicht notwendig, dass eine solche kognitiv instabile Welt an sich gesetzlos und anarchisch ist. Das Problem liegt hier nicht in einem Mangel an Gesetzen, sondern in ihrer Vielzahl, wobei uns verschiedene und möglicherweise unvereinbare Gesetze auf verschiedenen Ebenen der Raffinesse der Forschung begegnen. 5. EINE ABSCHLIESSENDE BEOBACHTUNG Diese Überlegungen haben beachtenswerte Implikationen für den philosophischen Realismus. Denn sie haben zwei unverzichtbare und untrennbare Komponenten, eine davon metaphysisch und ontologisch, die andere kognitiv und epistemisch. Erstere behauptet, dass es tatsächlich eine wirkliche Welt gibt, ein Reich vom Geiste unabhängiger, objektiver physikalischer Realität. Letztere behauptet, dass wir bis zu einem gewissen Grad angemessene Informationen über dieses geistunabhängige Gebiet gewinnen können. Offensichtlich setzt diese zweite Behauptung die erste voraus. Doch wie kann die erste, ontologische These gesichert werden? Der metaphysische Realismus ist klarerweise keine induktive Schlussfolgerung, die durch die wissenschaftliche Systematisierung unserer Beobachtungen gewonnen wird. Vielmehr handelt es sich um

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eine regulative Präsupposition, die Wissenschaft überhaupt erst ermöglicht. Das Reich geistunabhängiger Wirklichkeit ist etwas, was wir nicht entdecken können; unser Wissen von seiner Existenz ist nicht die Frucht von Forschung und Untersuchung. Wie könnten wir je von Beobachtungen schließen, dass diese unsere Beobachtungen objektiv gültig sind, dass unsere mentale Erfahrung selbst weitgehend das kausale Produkt der Vorgänge in einer geistunabhängigen Matrix ist, so dass jene phänomenalen Erscheinungen in einer physikalischen Wirklichkeit kausal verankert sind? Dies ist ganz klar etwas, was wir nicht aus der empirischen Forschung lernen, da es doch selbst gerade eine Vorbedingung jeder empirischer Forschung ist. Dass Erfahrung in der Tat objektiv ist, dass das, was wir für Evidenz halten, Evidenz ist, dass unsere Empfindungen Informationen über eine Seinsordnung außerhalb des Bereichs der Erfahrung selbst übertragen, und dass diese Erfahrung nicht bloß ein Phänomen darstellt, sondern eine echte Erscheinung von etwas bietet – all diese Aspekte der Objektivität sind etwas, was wir immer schon voraussetzen müssen, wenn wir Erfahrungsdaten als „Evidenz“ dafür verwenden, wie es mit der Welt steht. Objektivität ist hier eine Forderung, die auf funktionaler Basis gemacht ist, nicht auf evidentieller: Wir heißen sie gut, damit wir es ermöglichen, aus der Erfahrung objektive Fakten zu lernen. Wie Kant ganz deutlich sah, ist objektive Erfahrung nur möglich, wenn die Existenz einer wirklichen, objektiven Welt von Anfang an vorausgesetzt und nicht als Sache einer nachträglichen Entdeckung über die Natur der Dinge angesehen wird. Folglich ist die entscheidende (ontologische) Komponente des Realismus kein Gegenstand möglicher Entdeckung, kein Teil der Ergebnisse möglicher empirischer Forschung. Sie ist eine Präsupposition unserer Forschungen, nicht eins ihrer Resultate. Wir haben es hier nicht mit einer belegabhängigen Entdeckung über die Konstitution der Natur als solcher zu tun, sondern eher mit einer formbildenden Annahme, einer Voraussetzung, die die Natur der Forschung zusammenhält. Ohne dieser Idee beizupflichten, könnten wir gar nicht so über unser Wissen denken, wie wir es tatsächlich tun. Sie ist eine unverzichtbare Voraussetzung. Ohne Verpflichtung auf eine Realität als Grundlage und Gegenstand unserer Erfahrung wäre sie ohne jede objektiv kognitive Bedeutung. Die Wissenschaft lehrt

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DIE VIELEN FACETTEN DER REALITÄT

uns nicht (kann uns nicht lehren), dass die beobachtbare Ordnung durch zugrundeliegende Ursachen erklärt werden kann und dass die Phänomene, die wir beobachten, Anzeichen oder Symptome jener außer- oder subphänomenalen Ordnung der Existenz sind; dies wissen wir a priori von jeder Welt, in der wirkliche Beobachtung überhaupt stattfinden kann. Unsere Verpflichtung auf die Existenz einer geistunabhängigen Wirklichkeit ist also ein Postulat, dessen Rechtfertigung auf seinem funktionalen Nutzen im Rahmen der Ermöglichung unserer spezifischen Weise des Forschens ruht. Selbstverständlich nachdem wir eine objektive Realität und ihren damit einhergehenden kausalen Aspekt postuliert haben, können die Prinzipien induktiver Systematisierung, explanativer Ökonomie und kausaler Übereinstimmung Wunder bewirken. Und so steht die zweite, epistemisch/deskriptive Komponente des Realismus ganz anders da. Die Natur der Realität ist etwas, über das wir adäquat begründete Behauptungen nur aufstellen können, indem wir es untersuchen. Gehaltvolle Information muss durch Forschung erworben werden, durch Bewährung an Belegen. Sobald wir unseren Beobachtungsdaten einmal Objektivität und damit evidentielle Kraft zugestehen, können wir sie natürlich nutzen, um uns über die Natur des Wirklichen kundig zu machen. Was die Wissenschaft uns lehrt (und die Metaphysik uns nicht lehren kann), ist der deskriptive Charakter dieser außerphänomenalen Ordnung unserer Welt.1 ANMERKUNGEN 1

Diese gekürzte Fassung der ersten Christian-Wolff-Vorlesung an der Universität Marburg erschien in Information Philosophie, Bd. 28 (2000), S. 7–17.

XII PHILOSOPHISCHE PRINZIPIEN 1. PRINZIPIEN

F

ür Platon waren Prinzipien der Quellgrund [archai] von Sein oder Erkenntnis.1 Für Aristoteles waren sie die, erste Ursache des Seins, des Werdens oder des Erkennens [holhen hê estin hê gignetai hê gignosketai]2 Fast die gleiche Ansicht findet sich bei Thomas von Aquin, für den ein Prinzip [principium] etwas Erstes im Sein eines Dinges oder in dessen Werden oder im Wissen von ihm war [quod est primum aut in esse Tei … aut infieri rei, … aut in rei cognitione].3 Nach der Entwicklung des philosophischen Standardgebrauchs im Lichte dieser Ideen fungiert ein Prinzip als etwas Grundlegendes – als fundamentum oder als arche. Es lässt keinen Beweis zu (es ist also axiomatisch), oder es bedarf keines Beweises (es ist also einleuchtend und selbstevident). Außerdem hat es abstrakt zu sein, um für einen großen Bereich von Fällen zu gelten. In Anbetracht dessen scheint Übereinstimmung darüber zu herrschen, dass Prinzipien fundamentale Allgemeinheiten sind, die unser Verständnis des Modus Operandi einiger wissenszugänglicher Bereiche regeln. Vor diesem Hintergrund ist ein spezifisch philosophisches Prinzip in dem hier zur Debatte stehenden Sinne eine allgemeine Anweisung für schlüssiges Philosophieren, eine Maxime, die eine methodologische Regel für die philosophische Praxis vorgibt. Es handelt sich um keine philosophische These oder Doktrin, die vorgibt, ein Mittel zur Beantwortung wesentlicher philosophischer Fragen zu sein. Vielmehr ist es eine praktische Regel, die einen Modus Operandi spezifiziert, sie ist eine philosophische Verfahrensweise. Ein methodologisches Prinzip dieser Art ist somit in der Philosophie, was eine Maxime wie „Halte immer deine Versprechen“ in der Moral ist. Es repräsentiert eine zu befolgende Richtlinie, wenn Fehler vermieden werden sollen. Solche methodologischen Prinzipien sind allgemeine Verfahrensregeln, ausgedrückt in Maximen, die die Angemessenheit

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oder Unangemessenheit verschiedener Verfahrensweisen des Philosophierens vorschreiben.4 Theoretiker von G. W. Leibniz bis zu Kurt Gödel haben die Auffassung vertreten, dass ein angemessenes Verständnis der Natur nicht nur die Kenntnis ihrer Gesetze, sondern auch die Kenntnis der diesen Gesetzen zugrundeliegenden Prinzipien erfordert, und ferner waren sie der Ansicht, dass ein solcher Fortschritt nicht nur in der Vermehrung der uns bekannten Gesetze besteht, sondern in der Erweiterung unseres Verständnisses der betreffenden übergeordneten Prinzipien. Nun mag es im Kontext wissenschaftlicher Erkenntnis mit dem Vorrang dieser Prinzipien stehen, wie es wolle – in der Philosophie ist dieser Vorrang gewiss mit guten Gründen als berechtigt anzusehen. In diesem Gebiet hängt unser Verständnis ganz klar nicht nur von der Weitergabe von Thesen und Theorien ab, sondern von der Einsicht in die zugrundeliegenden Prinzipien, in deren Bezugsrahmen diese inhaltlichen Themen erst verhandelt werden können. Gewiss begegnet man innerhalb der Philosophie einer Fülle von Prinzipien. In der Ethik gibt es das „Prinzip der Nützlichkeit“, das dafürhält, dass die Richtigkeit einer Handlung in ihrer Eignung liegt, das größte Gut der größten Zahl zu fördern; in der Naturphilosophie haben wir das „Prinzip der Kausalität“, das für jedes Ereignis eine Ursache behauptet; in der Erkenntnistheorie finden wir das „Prinzip der Wahrheit“, das besagt, dass wir nur wissen können, was auch wahr ist: (∃x)Kxp → p. Solche Prinzipien sind jedoch Prinzipien IN der Philosophie, keine Prinzipien DER Philosophie, das heißt, sie sind keine Verfahrensprinzipien des Philosophierens der Art, die uns hier angeht.5 Philosophische Prinzipien spielen in dieser Disziplin seit langem eine Rolle. Betrachten wir einige Beispiele, ordnungsgemäß in drei Kategorien klassifiziert, je nachdem, ob es sich bei der Sache, um die es geht, um ein Problem der informativen Adäquatheit, der rationalen Beweiskraft oder der rationalen Ökonomie handelt.

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2. PRINZIPIEN INFORMATIVER ADÄQUATHEIT Die unter diese Rubrik fallenden Prinzipien befassen sich mit dem Problem der Beschaffung adäquater Informationen, mit der Förderung des Verstehens und mit unserer Befähigung zu einem sicheren kognitiven Zugriff auf die vorliegenden Sachverhalte. #1 BLOCKIERE NIEMALS DEN GANG DER FORSCHUNG (C. S. Peirce).

Peirce fasste einen entsprechenden Anwendungsbereich für dieses Prinzip ins Auge, der sich um den folgenden Gedankengang dreht: Nimm niemals eine methodologische Haltung ein, die systematisch die Entdeckung einer bestimmten Tatsache verhindert, die sich als wahr erweisen könnte.

Was unsere Annahme einer bestimmten Tatsachenbehauptung verhindern kann und verhindern sollte, ist die Entdeckung ihrer Falschheit, die Bestätigung einer anderen, mit ihr inkompatiblen Tatsachenbehauptung. Jedoch sollten nur Tatsachen und niemals rein methodologische/prozedurale Allgemeinprinzipien in der Lage sein, den Weg zur Annahme einer These über Tatsachen zu blockieren. Der radikale Skeptizismus beispielsweise – „Nimm niemals etwas an“ – würde diesem Prinzip sofort zum Opfer fallen. Denn wenn wir auf diese Weise skeptisch argumentieren, würden wir jeden Fortschritt von Beginn an blockieren. Wenn man wiederum systematisch den Glauben an Argumentation mittels Analogie verwirft, dann wäre jede Aussicht auf die Entdeckung von Tatsachen bezüglich Fremdbewusstsein ausgeschlossen. Selbst in dem Fall, dass andere Menschen ein dem unseren verwandtes geistiges Leben hätten, könnten wir niemals einen diesbezüglichen Glauben rechtfertigen, wenn wir nicht auf der Grundlage dessen, was ist, irgendwie auch belegen könnten, was unseren Sinnen unzugänglich ist. Eine cartesianische Insistenz auf absolute Gewissheit wiederum schließt jeden sinnengestützten Zugang zu Informationen über die Einrichtung der Welt aus, da Sinneserfahrung objektiven

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Behauptungen niemals abschließende Gültigkeit verleihen kann. (Immer klafft eine epistemische Lücke zwischen der subjektiven Phänomenologie unseres Sehens und Empfindens von Dingen [etc.] und den Zügen, die diese Dinge tatsächlich und subjektunabhängig haben.) #2 ALLE AFFIRMATION IST NEGATION: omnis affirmatio est negatio

(Spinoza). Einer positiven Behauptung steht immer eine korrelierte negative zur Seite. Um etwas in der einen oder anderen Weise zu charakterisieren, muss es von dem unterschieden werden, auf welches diese Charakterisierung nicht anwendbar ist. Keine Zuschreibung eines Merkmals hat kommunikativen Sinn, wenn diese Zuschreibung nicht wirklich angibt und auseinander hält, was das betreffende Merkmal ein- und ausschließt. Insbesondere in der Philosophie bedeutet dies nun, dass wir nur dann klären können, was eine Doktrin behauptet, wenn wir uns zugleich darüber klar werden, was sie verneint und verwirft. Jede These oder Position nimmt ihr besonderes Wesen vor dem Hintergrund eines Kontrastes zu den verschiedenen Rivalen an, die das strittige Gebiet ebenfalls besetzen wollen. #3 KEINE ENTITÄT OHNE IDENTITÄT (W. V. Quine). Dies ist eine

moderne Version des mittelalterlichen Prinzips ens et unum coincidunt (oder: convertutur): „Seiendes und Einheit sind dasselbe (oder ‚sind austauschbar‘).“ Alles, was wirklich als Ding zu charakterisieren ist, muss eine Einheit sein, das heißt, es muss als ein Einzelnes spezifizierbar (oder identifizierbar) sein. Es handelt sich nicht einfach um ein Prinzip der Ontologie und sollte in diesem Kontext auch nicht so verstanden werden. Es handelt sich nicht um die Frage: Wie ist ein Ding? Vielmehr geht es um das Prinzip der kommunikativen Kohärenz: Alles, was sinnvoll zum Gegenstand einer Erörterung gemacht werden kann, muss identifizierbar sein, das heißt, es muss in einer Weise spezifiziert werden, die es von allem Übrigen unterscheidet. Ohne etwas als das

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besondere Ding zu spezifizieren, das es ist, kann es nicht in Betracht gezogen werden. Die herrschende Vorschrift lautet: „Man kann nicht sinnvoll über etwas kommunizieren, wenn man es noch nicht identifiziert hat.“ Das genannte Prinzip ist eng mit einem anderen verbunden: nihil sunt nullae proprietafes (alles hat Eigenschaften), welches der Tatsache Rechnung trägt, dass Identität mit Identifizierbarkeit verbunden ist und deskriptive Spezifizierbarkeit erfordert, welche ihrerseits den Besitz von Eigenschaften erfordert. (Man beachte jedoch, dass das Prinzip E!x → (∃φ) φx nicht die Umkehrung nach sich zieht oder erfordert: (∃φ)φx → E!x. Ohne dem Bertrand Russell von On Denoting zu nahe treten zu wollen, gibt es keinerlei stichhaltige Argumente, dem Nichtseienden Eigenschaften abzusprechen – zu bestreiten, dass Pegasus, das geflügelte Pferd, geflügelt ist. 3. PRINZIPIEN ZUR STÜTZUNG RATIONALER SCHLÜSSIGKEIT Bei den Prinzipien dieser Rubrik geht es darum, die notwendige Grundlage für philosophische Beweisführungen, Aufweise und Begründungen zu liefern. Klassische Beispiele dafür sind: #4 NICHTS IST OHNE GRUND. Nihil sine ratione (G. W. Leibniz). Dies

wurde als das Prinzip vom zureichenden Grunde bekannt. In Hinsicht auf Prinzipien überhaupt unterscheiden die mittelalterlichen Scholastiker zwischen einem epistemologischen Prinzip der Erkenntnis [principium cognoscendi] und einem ontologischen Prinzip des Seins [principium essendi]. In dieser Hinsicht weist dieses Prinzip eine typische Dualität auf. Es erlaubt nämlich zwei ganz unterschiedliche Konstruktionen. Es kann im Lichte der Hegelschen Lehre gelesen werden, wonach das Wirkliche vernünftig ist – dass es für alle strittigen Fragen in der Welt gute Gründe gibt. Das ist natürlich, wie die Dinge liegen, ein höchst anfechtbares Stück Metaphysik.

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Aber es kann auch als eine methodologische Regel aus der Praxis der Philosophie ausgelegt werden: BEHAUPTE NICHTS, OHNE GUTE GRÜNDE DAFÜR ZU HABEN. Die allgemeine Konsequenz daraus wäre die der Konjunktion: „Sei stets in der Lage, für jede doktrinale Behauptung, die du aufstellst, einen beweiskräftigen Grund anzugeben. Stelle keine philosophischen Behauptungen auf, für die du keine schlüssigen Gründe hast. Sei in der Lage, deine Behauptungen zu begründen.“ Diese methodologische (eher als ontologische) Auslegung des Grundsatzes hat zweifellos den Vorteil guter Gründe auf ihrer Seite. Schließlich besteht der Gegenstand des philosophischen Diskurses darin, durch die Untermauerung einer Position die Zustimmung (vernünftiger) Gesprächspartner zu einem Gedankengang zu gewinnen. #5 AUS NICHTS KOMMT NICHTS: Ex nihila nihil oder de nihila nihil.

Dies war nach Aristoteles (Physik, I 4) ein von allen frühen griechischen Naturphilosophen angenommenes ontologisches Prinzip; Lukrez schreibt dieselbe Idee seinem Lehrer Epikur zu, der (nach Diogenes Laertius X, 38) seine Physik auf das Prinzip gründete: ouden genetai ek tou me ontos. Aber dieses Prinzip der Naturphilosophie als Lehre ist auch ein methodologisches Prinzip der philosophischen Beweisführung. Denn bei diesen Dingen kommt es leicht dazu, dass ein Prinzip physischer Hervorbringung in ein Prinzip kognitiver Produktion überführt wird. Geradeso, wie die Substanz von der Substanz in der materiellen Welt her kommt, so kann eine substanzielle Schlussfolgerung keine rationale Grundlage haben außer durch die Anführung substanzieller Argumente zu ihrer Untermauerung. Dieses Prinzip ist in seiner allgemeinen Tragweite eng verwandt mit der rechtlichen Weisung: Qui exsequitor mandatum non debet excedere fines mandati („Wer einen Auftrag [Aufgabe, mandatum] ausführt, darf nicht über dessen Bestimmungen hinausgehen“). Im philosophischen Kontext heißt dies: Wenn man bestimmte Implikationen und Lehren von etwas bereits Eingeräumtem oder Eingeführtem herleitet, so darf man deren tatsächliche Bedeutung

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nicht überschätzen. Man gehe nicht über das hinaus, was bereits gezeigt ist oder zugestanden wurde. #6 (Selbst in der Beweisführung) IST EINE KETTE NICHT STÄRKER ALS IHR SCHWÄCHSTES GLIED. Non fortiter eadena quam anulus debi/issimus. Auch das trifft für den rationalen wie für den physischen Bereich zu. Diese Vorstellung war in dem Prinzip des Theophrast in Bezug auf die modalen Syllogismen am Werk: Der Status der Schlussfolgerung ist der seiner schwächsten Prämisse: Peiorem sequitur semper conclusio partern. Die Schlussfolgerung folgt immer dem schwächsten Teil, nicht nur dem Schwächeren hinsichtlich der Modalität (wie bei Theophrast)6, sondern ebenso dem Schwächeren der Qualität und Quantität nach, wobei das Negative als „schwächer der Qualität nach“ als das Affirmative und das Besondere als „schwächer der Quantität nach“ als das Allgemeine verstanden wird. Dieses Prinzip des schwächsten Gliedes gilt nicht nur in der materiellen Welt, sondern genauso im Bereich der Argumentation. Eine Schlussfolgerung, deren Herleitung eine Mischung von Prämissen erfordert, wird selbst nicht plausibler sein als die schwächste Prämisse, die zur Ableitung dieser Schlussfolgerung erforderlich ist. Die Lehre, die daraus zu ziehen ist, besteht offenkundig darin, dass wir zur Begründung unserer Argumente versuchen müssen, die stärksten und fundiertesten Gründe anzuführen, die wir geltend machen können. In gewisser Weise ist dieses Prinzip mit dem des ex nihilo nihil verwandt. Denn dieses Prinzip geht davon aus, dass die Prämissen stark genug sein müssen, um die Schlussfolgerung zu liefern. Und dieses Prinzip besagt, dass die Schlussfolgerung schwach genug sein muss, um von den Prämissen getragen zu werden. #7 ENTSCHEIDE DICH FÜR DIE AM WENIGSTEN INAKZEPTABLE ALTERNATIVE. Ein vertrautes Prinzip der Moralphilosophie lautet,

dass man stets den Weg gehen soll, der das kleinste Übel darstellt, entsprechend dem Diktum des Römischen Dichters Horaz: ex malis

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eligere minima (De officiis III,i 3).Aber diese Vorstellung gibt es nicht nur in der Ethik, sondern auch in der rationalen Methodologie. Sie findet ein Echo in der „Sherlock Holmes-Regel“: „Was übrig bleibt, wenn man das Unmögliche eliminiert hat, muss die Wahrheit sein, wie unbrauchbar auch immer sie sein mag.“,7 Und in der Philosophie bedeutet das praktisch, dass eine Position niemals durch den Aufweis gerechtfertigt werden kann, dass deren Alternativen zu Problemen und Schwierigkeiten führt. Denn, und das ist das kritische Prinzip: Eine Position, die im Vergleich zu ihren Alternativen mit weniger und geringeren Schwierigkeiten verbunden ist, verdient es eben dadurch, angenommen zu werden – zumindest provisorisch, bis sich etwas Besseres bietet.

4. PRINZIPIEN RATIONALER ÖKONOMIE Die Prinzipien dieser Rubrik sind um die Sicherung philosophischer Effizienz bemüht, darum, die Verschwendung von Energie und überflüssige Anstrengung zu vermeiden. Einige beispielhafte Fälle sind: #8 UNMÖGLICHES DARF NIEMALS VERLANGT WERDEN. Ultra posse

nemo obligatur. Niemand ist gezwungen, den Bereich des Möglichen zu verlassen. So gesehen, ist dieses Prinzip eine Variation des juristischen Diktums von Celsus dem Jüngeren: impossibilium nulla obligatio est. Eben auf Grund seiner Natur kann das, was unmöglich ist, nicht verwirklicht werden. Folglich kann seine Verwirklichung vernünftigerweise von niemandem, den Philosophen eingeschlossen, gefordert werden. Zu zeigen, dass es unmöglich ist, ein bestimmtes Problem mit den Begriffen, in denen es gestellt ist, zu lösen, genügt, um den Philosophen von jeglicher Verpflichtung, sich damit auseinander zu setzen, zu entbinden. Dieses Prinzip ist eng mit einem anderen verknüpft:

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#9 ES IST ABSURD ZU VERLANGEN, WAS MAN NICHT HABEN KANN.

Est ridiculum quaerere quae habere non possumus (Cicero, Pro Archia, IV, 8). Auf der Verwirklichung von etwas zu bestehen, das anerkanntermaßen als prinzipiell nicht zu verwirklichen gilt, ist zweifellos irrational. Dieses Prinzip wird in der Philosophie häufig angewendet. Der Skeptizismus stellt ein Beispiel dar. Wenn nach Descartes die menschlichen Sinne prinzipiell niemals Gewissheit über den Stand der Dinge in der Welt erbringen können, dann wäre es absurd, auf dem Begriff eines sinnlichen Wissens zu bestehen, für das Gewissheit erforderlich ist. Ebenso gilt: Wenn wir jenen Moralisten zustimmen, die behaupten, dass moralische Vollkommenheit für Menschen prinzipiell unmöglich zu erreichen ist, wäre es absurd, auf dem Begriff vom „guten Menschen“ zu bestehen, dessen Verwendung die Möglichkeit dieser Vollkommenheit erfordert. #10 VERSUCHE NIEMALS, UNDURCHSICHTIGES MIT NOCH UNDURCHSICHTIGEREM ZU ERKLÄREN: non explicari obscurus per obscurior.

Eine befriedigende Erklärung muss natürlich die Dinge klarer werden lassen, als sie es anfangs waren. Eine Erklärung, die dieses Prinzip verletzt, wird nicht mehr erreichen, als die Dinge zu verdunkeln. Das Prinzip, um das es hier geht, setzt das Verbot um: Bringe deine eigenen Absichten nicht zu Fall. Dieses Prinzip hat offenkundig eine logische Folge: #11 MACHE DIE DINGE NIEMALS KOMPLIZIERTER, ALS SIE SEIN MÜSSEN. Das ist offensichtlich eine vernünftige Verfahrensweise in

der Philosophie wie auch in anderen Bereichen. Und dies Prinzip hat zur offensichtlichen Folge: GEBRAUCHE NIEMALS AUSSERGEWÖHNLICHE MITTEL ZUM ERREICHEN VON ZWECKEN, DIE MIT GEWÖHNLICHEN ZU VERWIRKLICHEN SIND. Hier geht es

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um ein Prinzip rationaler Ökonomie: non multiplicandae sunt complicationes praeter necessitatem. Dieses Prinzip hat zur weiteren Folge: #12 ENTITÄTEN SOLLEN NICHT UNNÖTIG VERVIELFACHT WERDEN:

Entia non multiplicanda sunt praeter necessitatem. Der oberflächlichen Betrachtung scheint dies ein ontologisches Prinzip zu sein, verwandt mit und vielleicht sogar abgeleitet von „die Natur macht nichts vergeblich“ [Nihil frustrafacit natura: he phusis ouden poiein maten]8, und sogar von „die Natur macht keine Sprünge“ [Natura non facit saltus]. Hier geht es jedoch um keine ontologische Behauptung. Das in Frage stehende Prinzip sollte methodologisch ausgelegt werden. Ein kurzer Blick auf seinen historischen Kontext ist hier von Nutzen. Dieses Prinzip wird in der Regel Wilhelm von Ockham zugeschrieben. Eine solche Annahme ist jedoch höchst problematisch. Denn was Ockham selbst wirklich im Auge hatte, war ein Argument nicht in Hinsicht auf existierende Entitäten, sondern ein Prinzip rationaler Verfahrensweise nach den Grundsätzen – Pluralitas non est ponenda sine necessitate.9 Eine Mehrheit darf nicht ohne Not zu Grunde gelegt werden. – Frustra fit per pluribus quod fieri potest per pauciori. Umsonst geschieht durch Mehreres, was sich mit Wenigem tun lässt.10 Auch hier geht es wieder um das Prinzip der rationalen Ökonomie von Stützungsprozessen. #13 NOTWENDIGKEIT KENNT KEIN GESETZ: necessitas non habit legem.

Diese Maxime des Common Law gilt auch in der Philosophie. In der Spruchweisheit finden sich entsprechende Umschreibungen wie: „Not kennt kein Gebot“ oder „Im Sturm ist jeder Hafen recht“.

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In diesem Kontext liegt das Desaster vor allem in der Katastrophe des Widerspruchs. Die Geschichte ist entsprechend durchsetzt von Unterscheidungen zur Vermeidung von Aporien. Schon in Platons Dialogen finden sich allerorten Distinktionen. In Buch I der Politeia beispielsweise gerät Sokrates’ Gesprächspartner rasch in folgendes „Zuträglichkeitsparadoxon“: – Rationale Menschen verfolgen jederzeit ihre eigenen Interessen. – Nichts, was im besten Interesse einer Person liegt, kann ihrem Glück Abbruch tun. – Selbst rationale Menschen werden – und müssen – gelegentlich Dinge tun, die sich als ihrem Glück abträglich herausstellen. Inkonsistenz wird hier durch die Unterscheidung von zwei Bedeutungen des „Glücks“ vermieden, nämlich zum einen die rationale Zufriedenheit mit dem, was mit der wahren eigenen Natur übereinstimmt, und zum anderen mit dem, was über einen Lustgewinn lediglich zur unmittelbaren eigenen Befriedigung ausschlägt, kurz zwischen realem und bloß affektivem Glück. Bei realem Glück ist (2) wahr, (3) hingegen falsch, während beim bloß affektiven Glück (2) falsch, jedoch (3) wahr ist. Sosehr wir uns auch eine einheitliche Konzeption von Glück wünschen, sosehr zwingt uns die Not der Situation zur Vornahme einer Unterteilung. #14 SCHLAGE DICH NICHT MIT DEM OFFENSICHTLICHEN HERUM: Dies

ist ebenso ein Prinzip vernünftigen Philosophierens und in der Tat das einer rationalen Verfahrensweise im Allgemeinen. Wir finden es im Gesetz [de minimis non curat lex] ebenso wie im gewöhnlichen Leben: „Steige aus, solange du noch im Vorteil bist.“ Wenn du deinen Standpunkt bezogen hast oder wenn du deine Beweisführung für alle praktischen Zwecke hinreichend entwickelt hast, dann mache Schluss. Auch dies ist natürlich einfach eine Sache der vernünftigen Praxis zur

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Erhaltung von (intellektueller) Energie. Eng verwandt mit dieser vernünftigen Vorschrift ist noch eine andere. #15 WECKE KEINE SCHLAFENDEN HUNDE. Argumentiere nicht gegen

das, was niemand behauptet. Oder, wie Chaucer es beredter ausdrückt: „Man soll schlafende Hunde nicht wecken und die Leute nicht auf komische Gedanken bringen“ (Troilus und Criseyde, III 764/5). Dass vernünftige Philosophen diese Überlegung berücksichtigen, ist der Grund dafür, warum sie sich so selten die Mühe machen, Lehren wie den Panpsychismus oder den Solipsismus zu widerlegen. 5. EIN PROBLEM Können Prinzipien überhaupt miteinander in Konflikt geraten? Gibt es sich gegenseitig ausschließende Prinzipien? Kann ein philosophischer Konflikt auf der Ebene von Prinzipien auftreten? Die Antwort in aller Kürze heißt: NEIN! Es kann so wenig widerstreitende Prinzipien geben wie widerstreitende Wahrheiten. Es liegt in der Natur der Sache, dass man dort, wo Konflikte auftreten, nicht beiden Seiten zustimmen kann. Aber natürlich müssen wir hier, wie überall, zwischen dem, was ist, und dem, was scheinbar ist, unterscheiden. Die Wahrheit stimmt mit sich selbst überein, und sie ist konfliktfrei, aber mit dem, was die Menschen für die Wahrheit halten, ist das nicht so. Und für die Prinzipien gilt genau dasselbe. Der springende Punkt ist, dass wir, insofern wir mehrere Prinzipien als Maximen behaupten (ebenso wie wir verschiedene Behauptungen als Wahrheit setzen), dafür sorgen müssen, dass die Konsistenz gewahrt bleibt. Und hierin liegt eine wichtige Überlegung. Denn es gibt nicht nur Prinzipien, sondern außerdem Metaprinzipien, die regeln, wie mit Prinzipen verfahren werden sollte. Und das vielleicht Wichtigste ist das (Meta-)Prinzip: HALTE DEINE PRINZIPIEN KONSISTENT. Das heißt, das „Prinzip der Widerspruchsfreiheit“ gilt genauso entschieden auf der Ebene der Prinzipien wie auf der Ebene der Behauptungen. Letzten Endes ist es also ebenso ein Prinzip rationaler Ökonomie, das

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die Interessen wahrt, die Ziele fördert, die maßgebend für die rationale Unternehmung sind, um die es hier geht. 6. DIE GÜLTIGKEITSFRAGE Philosophen wird unterstellt, reflektiert zu sein und die Folgen ihres eigenen Tuns zu bedenken und zu berücksichtigen. Faktisch aber berücksichtigen sie nur selten wirklich die Natur und die Grundlagen der methodologischen Prinzipien, die ihre Praxis bestimmen. Sie debattieren – und sind sich notorisch uneinig – über die wesentlichen Fragen und deshalb auch darüber, wie solche methodologischen Prinzipien in bestimmten Fällen anzuwenden sind. Ihrem praktischen Handeln nach zu urteilen, scheinen sie wenigstens substanziell über die Prinzipien einer angemessenen Verfahrensweise einhelliger Meinung zu sein. (Sicherheitshalber enthalten sich manche Philosophen ganz und gar jeglicher Argumentation, aber diejenigen, die Gründe und Argumente für eine bestimmte Position vorbringen – diese hier eingeschlossen –, halten an den Standardprinzipien so ziemlich fest.) Warum ist das so? Diese Frage führt sogleich zu einer anderen. Wie ist die Richtigkeit oder Annehmbarkeit philosophischer Prinzipien festzustellen? Wie bewertet man ein philosophisches Prinzip? Zunächst ist zur Kenntnis zu nehmen, dass ein philosophisches Prinzip keine Tatsachenaussage ist, sondern eine Verfahrensregel darstellt. Als solche liegt ihre richtige Bewertung nicht im Bereich von „wahr“ oder „falsch“, sondern im Bereich von „angemessen“ oder „unangemessen“. Die Frage der Bewertung fällt demnach in den Anwendungsbereich einer Regel dessen, was selbst eine Verfahrensregel ist: Jede Regel einer Praxis oder Verfahrensweise ist nicht im Bereich von Wahr oder Falsch zu beurteilen, sondern im Bereich von Wirksam oder Unwirksam in Hinblick auf ihre Wirksamkeit bezüglich der in Frage stehenden Zwecke dieser Praxis. Nun liegt der richtige Weg, die Verdienste von etwas zu beurteilen, das verfahrensmäßiger oder methodologischer Natur ist, darin zu fragen, wie wirksam die jeweiligen

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Zielsetzungen realisiert werden, das heißt, inwieweit man auf diesem Weg die Zwecke des betreffenden Verfahrenskontextes erreichen kann. Man muss sich klarmachen, dass man mit der Isolierung einer Regel Gefahr läuft (oder gar davon ausgeht), dass die Ziele des ganzen Unternehmens nicht erreicht werden. Somit ist in diesem Zusammenhang eine funktionale Herangehensweise an die Bewertung geboten.

Wie diese Perspektive zeigt, geschieht die Bewertung eines prozeduralen Prinzips unter dem Gesichtspunkt seiner zweckgebundenen Wirksamkeit. So gesehen, führt der Prozess der Bewertung eines methodologischen Prinzips zu einer Argumentation folgender Art: Wenn man das in Frage stehende Prinzip verletzt, behindert man die Verwirklichung eines der charakteristischen Ziele der zur Debatte stehenden Unternehmung.

Dieser Umstand erklärt, warum Prinzipien – wie die Zehn Gebote – immer als negative Gebote formuliert oder reformuliert werden können: „Du sollst nicht …“ In einigen der vorangehenden Fälle mag dies auf den ersten Blick nicht auf der Hand liegen. Zum Beispiel: „Eine Kette ist nicht stärker als ihr schwächstes Glied“ sieht nicht wie eine negative Vorschrift aus. Sie ist es aber natürlich doch. Denn in Wirklichkeit läuft sie auf Folgendes hinaus: „Verlange von einer Kette nicht, mehr auszuhalten, als ihr schwächstes Glied aushalten kann.“ Auf dieser Grundlage ist für diese philosophischen Prinzipien die Frage des Ziels und der Aufgabe des Philosophierens von zentraler evaluativer Bedeutung. Und hier gilt, wenigstens in einer ersten Annäherung, dass das Ziel der Philosophie darin besteht, auf „die großen Fragen“, die wir Menschen in Bezug auf uns und unseren Platz in der Welt haben, schlüssige und überzeugende Antworten zu finden. Die folgenden Gebote sind entsprechend wichtig in Hinblick auf die charakteristischen Ziele der Philosophie:

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(1) Gib Antworten auf die definitiven Fragen, das heißt, bringe Informationen bei und teile Informationen mit, die diese Antworten befördern. (Wir wollen Antworten.) (2) Erstrebe Schlüssigkeit, das heißt, versieh die Antworten mit einer rationalen Erklärung, die Schlüssigkeit und Überzeugungskraft durch Verdeutlichung, Begründung und Beweis erzielt. (Wir wollen nicht nur Antworten, sondern Antworten, die es wert sind, akzeptiert zu werden.) (3) Bemühe dich um rationale Ökonomie und verfolge die Aufgabe, die in den Punkten (1) und (2) angesprochen ist, auf eine rational befriedigende, das heißt in einer effizienten, wirksamen, ökonomischen Art und Weise. Mit Rücksicht auf diese drei wichtigsten Ziele des Philosophierens kamen die in Frage stehenden Prinzipien in der vorangehenden dreifachen Kategorisierung – kommunikative Adäquatheit, gut gestützte Schlüssigkeit und rationale Ökonomie – ins Spiel. Vor diesem Hintergrund zeigt es sich, dass die Bewertung eines philosophischen Prinzips sich entlang der folgenden Richtlinien bewegt: Wird das Prinzip verletzt, dann: wird es (1), wenn nicht unmöglich, so doch wenigstens schwieriger als nötig, überhaupt eine Antwort auf alle unsere philosophischen Fragen zu erhalten; wird (2) die Antwort, die wir erhalten, uns in wirkliche Selbstwidersprüche stürzen; oder wird (3) die Antwort, die wir erhalten, selbst wenn der Selbstwiderspruch vermieden wird, unzusammenhängend sein und kein schlüssiges Verständnis der strittigen Fragen erlauben.

Kurz gesagt Um ein philosophisches Prinzip zu erhärten, genügt es zu zeigen, dass dessen Verletzungen uns in – Ignoranz

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– Inkonsistenz – Irrelevanz – Zusammenhanglosigkeit – Übertreibungen aller Art stürzen. Genau auf dieser Basis erfolgte die Bewertung der zuvor angeführten Prinzipien. In Reaktion auf diese pragmatische Herangehensweise an die Sache mag jemand versucht sein, Folgendes zu beanstanden: Das philosophische Unternehmen, um das es in ihren soeben erörterten rechtfertigenden Faktoren geht, weist wenige oder gar keine spezifischen Eigentümlichkeiten auf. Schließlich sind kommunikative Adäquatheit, gut gestützte Schlüssigkeit und rationale Ökonomie des Prozesses Desiderate, um die es uns bei den Zwängen fast jeder rationalen Unternehmung geht.

Die Antwort darauf lautet einfach, dass diese „Beanstandung“ ganz und gar berechtigt ist – die Lage ist genau wie beschrieben. Das einzige Haar in der Suppe ist nur, dass es hier gar nichts zu beanstanden oder einzuwenden gibt. Denn die Gültigkeit dieser methodologischen Prinzipien des Philosophierens liegt genau in der Überlegung, dass sie die Anwendung der allgemeinen Prinzipien der rationalen Verfahrensweise auf die charakteristische Aufgabe des Philosophierens mit sich bringen, Prinzipien, die auf den gesamten Bereich unserer intellektuellen Bemühungen anwendbar sind. Gewiss wird dadurch auch die Nützlichkeit dieser Prinzipien begrenzt. Philosophische Prinzipien ähneln den Zehn Geboten, indem auch sie im Wesentlichen Verbote aussprechen. Sie geben an, wo die Schlüssigkeit gestört wird. Ihre Botschaft lautet in etwa: Wollen Sie eine philosophische These oder Position begründen, um rationale Schlüssigkeit zu erreichen, müssen Sie gewisse Vorgehensweisen vermeiden (inadäquate Begründungen, überflüssige Komplikationen

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und Ähnliches). Die Beachtung der angemessenen Prinzipien führt demnach nicht mit Sicherheit zu gutem Philosophieren, sondern hilft lediglich, schlechtes Philosophieren zu vermeiden. Sie ist für gute Arbeit gewiss erforderlich, genügt aber bei Weitem nicht zur Vermeidung der angebbaren Irrtumsquellen. Philosophische Prinzipien bringen keine Problemlösungsalgorithmen in diesem Bereich hervor. Die Beachtung dieser relevanten Prinzipien löst diese philosophischen Probleme nicht: Sie verhindert lediglich falsch ansetzende Problemlösungsversuche. Festzustellen ist auch, dass Prinzipien ebenso wie allgemeine Regeln weder in der Philosophie noch anderswo ihre eigenen Anwendungsbedingungen enthalten. Die Anwendung und Umsetzung eines solchen Prinzips hängt weder vom Prinzip selbst noch von weiteren (vorgeblich höherstufigen) Prinzipien ab, sondern ist vielmehr eine Frage des Urteilsvermögens, das die besonderen Züge von Einzelfällen berücksichtigt. Die Begründung und Formulierung angemessener Prinzipien kann andere Prinzipien höherer Ordnung beinhalten und kann daher eine Frage der praktischen Vernunft sein. Aber die Anwendung oder Umsetzung eines Prinzips in einem besonderen Fall beinhaltet nicht nur immer bis zu einem gewissen Grad schlüssige Rationalität, sondern auch Urteilsvermögen. Gerade weil sie allgemein sind, können Prinzipien die Grauzone der Grenzfälle und kontroversen Umsetzungen nicht ganz umgehen (womit natürlich die Realität des viel größeren Bereichs der Fälle, die eindeutig einem Prinzip entsprechen oder widersprechen, nicht beeinträchtigt wird). Bleibt noch ein springender Punkt zu unterstreichen: Selbst in einem so theoretischen und reflektierten Unternehmen wie der Philosophie zeigt sich, dass funktionalen und somit wesentlich pragmatischen Überlegungen eine entscheidende Rolle zukommt.11 Literatur P. Aubenque et al., „Prinzip“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. VII (1989), 1336–73.

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A. Lumpe, „Der Terminus ‚Prinzip‘ von den Vorsokratikern bis auf Aristoteles“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd.1 (1955), 104–16. W. Wieland, Die Aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962. Jan P. Beckmann, Wilhelm von Ockham, München 1995. ANMERKUNGEN 1

Platon, Phaidros.

2

Aristoteles, Metaphysik IV, i, 1012b 34 ff.

3

Thomas v. Aquin, Summa Theologica.

4

Denken wir daran, dass ein „Mann von Prinzipien“ nach festen, vorgegebenen Regeln verfährt und für sich keine Ausnahmestellung beansprucht, die ihm die Missachtung der Regeln gestattet, die für andere gelten.

5

Die Logik bildet hier eine gewisse Ausnahme, da sie (herkömmlicherweise) sowohl als Teil der Philosophie wie auch als Anleitung der Philosophie betrachtet wird. In Anbetracht der Tatsache, dass solche Prinzipien der Logik Voraussetzungen schlüssiger Kommunikation darstellen, gelten sie überall in allen Bereichen –und regeln folglich auch den vernünftigen philosophischen Diskurs.

6

„Zu Theophrasts Diktum und seiner Rolle“, in: Theorie der Modalsyllogismen vgl. 1. M. Bochenski, „La Logique de Theophraste“, Fribourg/Schweiz 1947. Zur Position des Aristoteles vgl. N. Rescher, „Aristotle’s Theory of Modal Syllogisms and its Interpretation“, in: M. Bunge (Hrsg.), The Critical Approach to Science and Philosophy, London/New York 1964, 152–177.

7

Arthur Conan Doyle, The Sign of Four (1890).

8

Aristoteles, De incessu animalium, Iiii, 8; Politik I, 2, 1253a; De caelo I, 4.

9

W. V. Ockham, Opera Philosophica, Bd. I, St. Bonaventura, Editones Instituti Franciscani Universitatis, S. Bonaventurae, NewYork 1974, 18 passim. Vgl. auch Beckmann, Wilhelm von Ockham, München 1995, 42–47.

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PHILOSOPHISCHE PRINZIPIEN

ANMERKUNGEN 10

Vgl. Beckmann, Wilhelm von Ockham, 43.

11

Zuerst erschienen in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 50 (2002), S. 191– 202. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Brenner.

XIII ÜBER PHILOSOPHISCHE SYSTEMATISIERUNG PLAUSIBILITÄT UND HEGELS VISION 1. HEGELS VISION

A

ls er das großartige historische Panorama der Geschichte des philosophischen Denkens betrachtete, hatte Hegel die interessante und anspruchsvolle Vorstellung, das Ganze dieses Denkens im Bereich eines einzigen, universellen Systems einzufassen. Auf diese Weise sollten die verschiedenen und miteinander konfligierenden Thesen und Systeme zu ebenso vielgestaltigen Bestandteilen eines vereinigten Ganzen des in sich stimmigen Denkens zusammengeführt werden. All die scheinbar miteinander rivalisierenden Systeme einschließlich der mit ihnen im Widerstreit liegenden Ideen wären dann nicht mehr als in feindlicher Auseinandersetzung stehend zu begreifen; sie ließen sich vielmehr als zusammenwirkende Momente der Entwicklung einer umfangreichen und vielseitigen gemeinschaftlichen Unternehmung verstehen. Die Idee eines einzigen großangelegten und allumfassenden Systems war folglich der Sirenengesang, der Hegel und seine Schüler auf den Rosenweg des dialektischen Synkretismus lockte. Allerdings trifft dieses grandiose Programm auf wesentliche Schwierigkeiten. Bekanntlich ist die Geschichte der Philosophie für Hegel keine Erzählung über die zufällige Abfolge vergeblicher Bemühungen mit einer Unmenge von Trümmern auf dem Weg, sondern ein voranschreitender Gang, einem sich rational ausprägenden Forschungsprogramm entsprechend, das nach und nach ein in sich kohärentes Gedankensystem in immer deutlicheren Einzelheiten entfaltet. Der Lauf der Philosophiegeschichte ist Hegel zufolge ein lebendiger Prozess organischer Entwicklung, in der in der Abfolge von miteinander inkompatiblen Stufen (à la Larve und Schmetterling)

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ein zunehmend komplexeres Resultat geschaffen wird, das die Produkte früherer Stadien bewahrt und miteinander verknüpft – wenn auch in versteinerter Gestalt. Folglich ist die Aufgabe des ernsthaften Philosophiehistorikers keine des antiquarischen Sammelns, sondern eine der philosophischen Kreativität – sie besteht darin, die Lehren der Philosophen der Vergangenheit in der Begriffsund Entwicklungsfunktion zu präsentieren, die sie innerhalb eines lebenskräftigen und konsistenten philosophischen Gedankensystems haben. Hegel hat das, durchaus ambitioniert, in der Behauptung formuliert, „daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee“.1 Das Ziel besteht nicht einfach darin, die Vergangenheit so darzustellen, wie sie war, sondern aufzuklären, wie sie zur Mannigfaltigkeit philosophischer Wahrheit beitragen konnte, soweit wir diese nach besten Kräften zu erkennen vermögen. Eine der Hauptaufgaben philosophischer Untersuchungen besteht folglich darin, die Vielfalt der einzelnen philosophischen Beiträge aufzunehmen, anzueignen und in systemischer Interaktion aufeinander abzustimmen.2 2. EIN VERHÄNGNISVOLLES HINDERNIS: DER FALL IN DIE INKONSISTENZ Leichter gesagt als getan! Denn jeder undurchdachte Synkretismus, der die vielfältigen geschichtlichen Projekte eines Fachgebiets zusammenzutragen oder miteinander zu vereinigen sucht, begegnet einem verhängnisvollen Hindernis. Bereits seit ihren Anfangen wurde die Philosophie als Streben nach der Wahrheit begriffen, und die von verschiedensten Philosophen vorgebrachten Behauptungen und Theorien wurden von allen, die über sie nachgedacht hatten, als jeweils verschiedene, wenngleich oft fragwürdige Wahrheitsansprüche betrachtet. Versteht man aber philosophische Behauptungen entsprechend dieser Orientierung der Philosophie an der Wahrheit, dann ist die Idee einer großangelegten systemischen Kompilation zum Scheitern verurteilt. Verbindet man deine Behauptung, dass p, mit meiner Behauptung, dass nicht-p, so ist man mit einem logischen

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Widerspruch konfrontiert. Folglich wird uns jedes System, das den Pfad des philosophischen Synkretismus einschlägt, das heißt, diese Behauptungen mit kognitivem Anspruch verbinden und vereinigen möchte, nicht zu einer umfassenderen oder tieferen Einsicht in die Dinge führen, sondern ins Chaos. Wenn der aristotelische Standpunkt korrekt ist und ein System rationaler Erkenntnis – aktuell oder potenziell – eine Wahrheitsvielfalt bilden muss, dann ist die Philosophie in ihrer Gesamtheit von vornherein als rational-kognitives System indiskutabel. Allem Anschein nach wird jedes Verschmelzungsprojekt, das philosophische Ansprüche miteinander verknüpfen und verbinden möchte, zu Inkohärenz und Unverständlichkeit führen. Zweifellos aus diesem Grunde hat es die andererseits reizvolle Vorstellung eines geschichtsübergreifend allumfassenden Systems nicht vermocht, unter Philosophen und Studenten der Philosophiegeschichte weitverbreitete Sympathie zu erzeugen. 3. PLAUSIBILITÄT ALS RETTUNG Das jeder bloßen Sammlung philosophischer Lehren im Wege stehende Hindernis ist der äußerst problematischen Vorstellung geschuldet, diese philosophischen Behauptungen als entsprechend viele miteinander konkurrierende Wahrheiten zu verstehen. Aus ihr folgt nämlich zugleich, dass die Uneinigkeit und Inkonsistenz philosophischer Behauptungen einer Verwirklichung des synkretistischen Programms ein entscheidendes Hindernis in den Weg stellt. Denn die Wahrheit allgemein ist kollektiv schlüssig (und muss es sein), wohingegen widersprüchliche Behauptungen nicht alle wahr sein können. Es besteht jedoch die Aussicht auf einen ganz anderen und fraglos vielversprechenderen Zugang – obwohl dies eine rationale Umdeutung des in Frage stehenden synkretistischen Projekts verlangt. Wie wäre es, wenn man einen grundlegenden Richtungswechsel vollzöge und versuchte, die Disziplin nicht in klassisch aristotelischem Sinne als Streben nach Wahrheit zu verstehen, sondern stattdessen als ein Streben nach Plausibilität neu zu begreifen? Wie wäre es, wenn man sich auf den Standpunkt stellte, von dem aus die Philosophie, welche die Philosophie in ihrer Gesamtheit deutet, wohl

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als ein rationales System der Erkenntnis erscheint, jedoch nicht als ein System derart, dass es auf die Erklärung der Vielfalt erlangter Wahrheiten abzielt, sondern stattdessen auf die Vielfalt verlockender Plausibilitäten? Dieser Zugang erfordert eine völlig andere Methode, die auf der durchaus möglichen Ansicht beruht, philosophische Geltungsansprüche im Allgemeinen nicht als mannigfache, miteinander konfligierende und inkompatible Wahrheiten zu sehen, sondern stattdessen als genauso viele nebeneinander bestehende Plausibilitäten. Diese Wendung von der Wahrheit zur Plausibilität stellt die ganze Angelegenheit in ein völlig anderes Licht. Genauso wie Güter entweder „endgültig“ [for keeps] oder „probehalber“ [on approval] akzeptiert werden können, lassen sich Ansprüche oder Behauptungen akzeptieren, man kann sie entweder als wahr gutheißen oder als plausibel erwägen. Wenn man aber die Wahrheit fallen lässt, versperrt man sich damit nicht auch die Aussicht darauf, etwas kognitiv Bedeutsames zu erreichen? Keinesfalls, denn Plausibilität ist schließlich nicht nichts. Immerhin ist sie eng mit dem Beibringen von Evidenzen verbunden. Obwohl eine solche Beweisführung keine Entscheidbarkeit verlangt und oftmals auch nicht entscheidbar ist, so schützt doch allein die Tatsache, dass Wahrscheinlichkeit und Plausibilität zur Debatte stehen, die Angelegenheit davor, kognitiv leer zu sein. 4. WIE FUNKTIONIERT PLAUSIBILITÄT? Auf Grund ihrer beharrlichen Konzentration auf Wahrheit und Gewissheit haben Erkenntnistheoretiker die Idee der Plausibilität missachtet. Plausibilität ist eine Sache des Beibringens von Evidenzen. Eine Proposition ist dann plausibel, wenn ein Teil der verfügbaren Belege auf signifikante Weise zu ihren Gunsten spricht und die vorliegenden Gegenbelege nicht ausreichen, diese Fürsprache aufzuwiegen. Und während Wahrheit/Falschheit eine Angelegenheit der Beziehung einer Proposition zu den Tatsachen ist, handelt es sich bei Plausibilität/Implausibilität um deren Beziehung zu ihrer Belegbarkeit – zu den Tatsachen, die bekannt sind. Falls der Grad, in dem die Belege für etwas sprechen, nicht durch die verfügbaren

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Gegenbelege [counterindications] aufgewogen wird, hat sie den Plausibilitätstest schon bestanden. Sicherlich ist Plausibilität ihrem Wesen und ihrer Logik nach etwas, das sich von Wahrheit stark unterscheidet – denn das, was plausibel ist, muss keineswegs wahr sein. Es gibt verschiedene, weitgehend miteinander vereinbare Wege, auf denen man sich der allgemeinen Idee der Plausibilität nähern kann. Erstens, von der Belegbarkeit [evidence] her betrachtet, ist eine Proposition dann plausibel, wenn es einige Belege für sie gibt und keine überwiegenden Belege gegen sie. Betrachten wir, zweitens, die Situation aus dem Blickwinkel eines spezifischen Spektrums erschöpfender, aber einander ausschließender möglicher Fälle. Von hier aus gesehen ist eine Proposition eben in genau dem Falle wahr, der wirklich ist; sie ist möglich genau dann, wenn sie in einem jeden der Fälle gültig ist, und sie ist plausibel, wenn sie in verschiedenen Fällen (das heißt mehr als einem Fall) Gültigkeit besitzt, und zwar in mehr Fällen als ihre Negation. Die dritte Annäherung erfolgt mittels der Wahrscheinlichkeitstheorie. Eine Proposition ist gewiss, wenn ihre Wahrscheinlichkeit gleich eins ist (= 1), sie ist möglich, wenn ihre Wahrscheinlichkeit größer als null ist (> 0), und sie ist plausibel, wenn ihre Wahrscheinlichkeit supra-minimal ist (sagen wir > 1/10). Somit ist Plausibilität unzweifelhaft unterschieden von Wahrheit, die ihrem Wesen nach bestimmte charakteristische Merkmale aufweisen muss: Konjunktivität: Die Konjunktion wahrer Propositionen ist wahr: Wenn Tp und Tq, dann T(p & q). Konsistenz:

Eine Proposition und ihre Negation sind niemals beide wahr: Niemals: T(P) und T(-p).

Transparenz:

Durch die Wahrheit einer Proposition blickt man auf diese selbst: Wenn Tp dann p.

Keines dieser Prinzipien bleibt jedoch unverändert gültig, wenn man von der Wahrheit zur Plausibilität übergeht und den Wahrheitsoperator T durch den Plausibilitätsoperator P ersetzt.

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Letztlich heißt dies, dass der Bereich des Plausiblen nicht so sehr von logischen Formalitäten beherrscht wird wie von inhaltlichen Überlegungen, so dass man sich bei der Thematisierung der Plausibilität sowohl mit inhaltlichen als auch mit formalen Fragen beschäftigen muss. 5. PLAUSIBILITÄTSSYNKRETISMUS UND APORETIK Der Unterschied zwischen Wahrheit und Plausibilität ist von entscheidender Bedeutung für bereits bestehende Zwecke. Denn er eröffnet den Ausblick auf ein quasi-hegelianisches System der Philosophie, das nun aber nicht als Systematisierung einer Wahrheitssphäre verstanden wird, sondern stattdessen als Systematisierung einer solchen der Plausibilität. Es besteht sicherlich kaum die Aussicht, die Behauptungen rivalisierender Philosophien allesamt als wahr einzustufen – wenn man einmal seine eigene als wahr betrachtet, verhindert das allein, der Unvereinbarkeiten wegen, die bloße Logik. Jedoch besteht kein logisches Hindernis, den eher großzügigen (wenn nicht gar übervorsichtigen) Schritt zu wagen, all die miteinander wetteifernden Alternativen als ebenso viele (lediglich) plausible Ansichten zu betrachten. Mit der Plausibilität ist einfach nicht das gleiche restriktive Reglement verbunden, das die Logik der Wahrheit aufbürdet. Der Voraussicht, rivalisierende philosophische Positionen als plausibel zu betrachten, die Philosophie in ihrer Gesamtheit unter dem Aspekt der Plausibilität, in Gestalt eines Plausibilitätssystems (statt eines Wahrheitssystems) zu konfigurieren, stehen keine logischen Hindernisse im Weg. Natürlich ist das Resultat einer solchen Zusammenstellung zueinander konträrer Positionen kein philosophisches System, sondern vielmehr eine Systematisierung des Philosophierens im Ganzen. Schließlich ist, wie bereits Kant betont hatte, das Studium der Philosophie weder eine Methode des Philosophierens noch ein Ersatz dafür.3 Geht man dazu über, die gesamte Philosophie im Lichte eines Plausibilitätssynkretismus zu sehen, so macht man damit das Studium der Philosophie zu einer Übung in Aporetik.

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Eine Aporie besteht in einer Reihe von jeweils für sich plausiblen Propositionen, die zusammengenommen inkonsistent sind. Wenn man, allgemein gesagt, Behauptungen, die Philosophen aufgestellt haben, zusammenbringt, so wird, und dies gilt praktisch für jede mögliche philosophische Streitfrage, ein solches Cluster entstehen. Der Grund für die Ausbreitung von Aporien in der Philosophie ist einfach. In diesem Bereich suchen wir umfassende Fragen auf der Grundlage einer geringen Informationsmenge zu beantworten. Die uns zur Verfügung stehenden Beweismittel sind bezogen auf die Schlussfolgerungen, die wir aus ihnen zu ziehen haben, unvollständig und mangelhaft. Es ist schier unvermeidlich, dass die Projektion von demjenigen, was wir besitzen, auf das, was wir benötigen, in verschiedenen und miteinander in Widerspruch stehenden Richtungen erfolgen kann. Wenn man vom Gegebenen zum Plausiblen übergeht, ist die Aussicht auf einen aporetischen Konflikt nahezu zwangsläufig. Die Erkenntnistheorie der alten Griechen beispielsweise drehte sich um das folgende Quartett noch immer erörterter, obgleich zusammengenommen widersprüchlicher Behauptungen: (1) Wir wissen in der Tat etwas über die Welt. (2) Was immer wir über die Welt wissen, wissen wir vermittels unserer Sinne (das heißt, unser Wissen gründet in dem, was uns die Sinne liefern). (3) Es gibt kein wirkliches Wissen [episteme] ohne Gewissheit. (4) Die Sinne liefern uns keine Gewissheit. Jede Neigung zu einer dieser Thesen – jeder Hang, eine jede von ihnen für plausibel und (wahrscheinlich) akzeptabel zu halten – bildet die Voraussetzung für philosophische Konflikte. Angesichts der drohenden Inkonsistenz steht uns eine (begrenzte) Anzahl von Auswegen zur Verfügung: Verneine (1): Behaupte, dass wir kein authentisches Weltwissen besitzen können (Pyrrhonische Skeptiker).

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Verneine (2): Behaupte, dass wirkliches Weltwissen allein in der Vernunft gründet (Pythagoreer. Plato). Verneine (3): Behaupte, dass angemessenes Wissen nicht in der Gewissheit gründen muss, sondern im Überzeugenden [pithanon] gründen kann (Akademische Skeptiker). Verneine (4): Behaupte, dass die Sinne in der Tat in manchen Fällen – den so genannten kataleptischen Empfindungen – Gewissheit liefern (Stoiker). Angesichts dieses aporetischen Clusters müssen wir uns darüber klar werden, dass zwischen diesen Alternativen zu entscheiden ist. Betrachten wir noch die folgende „cartesianische“ Aporie über das Wesen der Erkenntnis: (1) Erkenntnis muss absolut gewiss sein. (2) Absolute Gewissheit ist in Bezug auf Tatsachen niemals erreichbar. (3) Tatsachenerkenntnis ist erreichbar. Dies ist ein klares Beispiel einer in sich inkonsistenten Triade. Descartes wie auch die Skeptiker stimmen (I) zu. Der Konsistenz verpflichtet, opfert Descartes (2) für (3), wohingegen seine skeptischen Vorgänger in der klassischen Antike (3) für (2) opfern. Es ist offensichtlich, dass nicht alle drei Propositionen gemeinsam als wahr behauptet werden können. Eine jede solche Gruppe scheinbar plausibler, aber inkonsistenter Behauptungen schafft eine aporetische Situation, die dringend nach einer Lösung verlangt. 6. APORIEN ERZEUGEN EINE VIELZAHL VON LÖSUNGEN Immer dann, wenn wir mit einem aporetischen Cluster von Behauptungen konfrontiert sind, steht uns eine Vielzahl von Lösungen

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zur Verfügung. Der aus einer Überverbindlichkeit resultierende Widerspruch lässt sich durch Verzicht auf eine von mehreren Behauptungen beilegen, wodurch verschiedene Wege aufzeigbar sind, auf welchen die Inkonsistenz abwendbar ist. So liefert die im griechischen ethischen Denken entwickelte Moraltheorie ein treffendes Beispiel einer solchen aporetischen Situation. Das moralphilosophische Denken der Griechen neigte zu der Ansicht, dass die Unterscheidung zwischen richtig und falsch (1) von Bedeutung ist; (2) auf dem Brauch [nomos] beruht; (3) nur dann von Bedeutung sein kann, wenn sie in der objektiven Natur der Dinge [phusei] statt auf bloßem Brauch gründet. Auch hier entsteht ein aporetisches Problem. Die Inkonsistenz dieser Behauptungen führte zu den folgenden Lösungen: Verneine (1): Fragen von richtig und falsch sind einfach belanglos, es handelt sich um eine reine Machtfrage, die Frage danach, wem es gelingt, das Gesetz vorzuschreiben (Trasymachos). Verneine (2): Der Unterschied zwischen richtig und falsch ist keine Frage des Brauchs, sondern liegt in der Natur der Dinge (Stoiker). Verneine (3): Der Unterschied zwischen richtig und falsch ist zwar nur gewohnheitsrechtlich [nomoi], hat aber trotzdem Bedeutung (Heraklit). Wir haben hier ein mustergültiges Beispiel einer Antinomie: ein Thema, das durch einen aporetischen Cluster von Propositionen gebildet wird, mit Variationen, die sich aus den verschiedenen Wegen ergeben, diese Inkonsistenz zu lösen. Das Problem, vor dem der Philosoph steht, ist nicht das einer induktiven Erweiterung, sondern das einer systemischen Reduktion, einer Wiederherstellung von

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Konsistenz. Ein einheitliches Resultat wird den Philosophen jedoch versagt bleiben, weil dieses Ziel immer auf äußerst verschiedenen Wegen erreichbar ist. Sollten wir unseren Schlussfolgerungen wirklich vertrauen, so ergibt sich aus der Schlussregel des Modus Tollens, dass immer dann, wenn eine Meinung verworfen wird, auch einige der verschiedenen (gemeinsam zwingenden) Gründe in Zweifel zu ziehen sind, auf deren Basis wir uns diese Meinung zu Eigen gemacht hatten. Wird beispielsweise die Willensfreiheit verworfen, so muss auch eine der folgenden (präsumptiven) Anfangsgründe abgelehnt werden, die mit der Behauptung der Willensfreiheit verknüpft sind: „Menschen sind in der Regel für ihre Handlungen verantwortlich“, „Menschen sind nur für jene Handlungen moralisch verantwortlich, die sie aus freien Stücken vollziehen“. Die Zurückweisung einer akzeptierten These verwandelt die für ihre Annahme relevante Familie von Gründen schlagartig in ein aporetisches Konglomerat. Ist eine Aporie erst einmal da, so wird sie sich in jedem rationalem System wie ein Buschfeuer verbreiten. Dieser Gedankengang kann einen auf den ersten Blick rätselhaften Aspekt dieses Gegenstandsbereichs erklären, nämlich die Prominenz von Gegenargumenten und Widerlegungsdiskussionen in der philosophischen Literatur. In der Mathematik macht sich niemand die Mühe zu behaupten, dass vierzehn oder zweiunddreißig keine befriedigende Lösung für ein bestimmtes Problem darstellt. Dies wäre witzlos, weil die Anzahl der inkorrekten Antworten endlos ist. Wenn jedoch nur eine beschränkte Anzahl gangbarer Alternativen im Rennen ist, dann werden negative und eliminierende Argumente offensichtlich eine substanziellere Rolle spielen. Es liegt in der logischen Natur der Sache, dass es immer verschiedene Wege geben wird, die aus der aporetischen Inkohärenz herausführen. Denn ganz egal, welchen bestimmten Lösungsweg wir angesichts einer solchen Antinomie bevorzugen, und unabhängig davon, wie fest wir von dessen Vorzügen überzeugt sind, so bleibt es doch eine Tatsache, dass auch andere, alternative Wege offen stehen, um die Inkohärenz zu bereinigen. Ein aus Überverbindlichkeit resultierender Widerspruch lässt sich nämlich in jedem Fall durch den Verzicht auf verschiedene Untergruppen der konfligierenden

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Behauptungen vermeiden, sodass immer ein je spezifisches Bewusstsein der Widerspruchsvermeidung gefunden werden kann. Die abstrakte Rationalität betreffend bleiben alternative Lösungen offen – Lösungen, die zu gegensätzlichen und inkonsistenten Resultaten führen. Ein aporetischer Cluster ist folglich eine Einladung zum Konflikt: Seine Lösung wird immer nur eine aus einer gleichrangigen Gruppe einander widersprüchlicher Lehrmeinungen (Standpunkten, Lehren, doxa) sein. Entsprechend schafft dieser aporetische Cluster die Voraussetzung für verschiedene „Denkschulen“ und liefert den Zankapfel für eine andauernde Kontroverse zwischen ihnen. In der Philosophie deckt jede Familie inkonsistenter Thesen ein „Spektrum von Lehrmeinungen“ ab, das eine Vielzahl miteinander verbundener, jedoch einander ausschließender Positionen umfasst. 7. APORETISCHE ANTINOMIEN STRUKTURIEREN DIE STREITFRAGEN Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wieso eine aporetische Perspektive, ein aporetisches Philosophieren besonders aufschlussreich werden kann: – Wir sehen die Propositionen nunmehr in ihrer wechselseitigen Verwobenheit und beginnen zu erkennen, dass sie ungeachtet des Ausblicks auf eine grundlegende Themenvielfalt miteinander verbunden sind. – Wir werden auf klare und eindringliche Weise mit der Notwendigkeit konfrontiert, eine Auswahl zu treffen – soweit die Wahrheit unser Ziel ist. – Wir erhalten ein klares Bild des Kriegsschauplatzes und werden befähigt, mit größerer Genauigkeit und Detailkenntnis die Widersprüche zwischen den einzelnen Parteien zu lokalisieren.

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Betrachten wir ein Beispiel. Die im griechischen ethischen Denken entwickelte Moraltheorie bietet eine gute Beschreibung solch einer aporetischen Situation. Sie beruhte auf drei plausiblen Überlegungen: (1) Wenn Tugend nicht Glück und Genuss hervorbringt, dann ist sie sinnlos. (2) Tugend ist nicht sinnlos, sondern außerordentlich bedeutsam. (3) Tugend bringt nicht in jedem Fall Glück hervor. Hier stehen drei Wege offen, um Inkonsistenz zu vermeiden: Verneine (1): Behaupte, dass Tugend völlig aus sich heraus lohnend ist, auch wenn sie Glück und Genuss nicht hervorzubringen vermag (Stoiker, Epiktet, Mark Aurel). Verneine (2): Behaupte, dass Tugend im Grunde sinnlos ist und als Torheit der Schwachen verabschiedet werden kann (nihilistische Sophisten, zum Beispiel Platos Trasymachos). Verneine (3): Behaupte, dass Tugend zwangsläufig Glück hervorbringt (oder selber, und in jedem Falle, wirkliches Glück birgt) – so dass beide untrennbar miteinander verbunden sind (Plato, Epikureer). Die Gruppe (1)–(3) repräsentiert als Ganzes einen aporetischen Cluster, der eine kognitive Überverbindlichkeit widerspiegelt. Dies ist eine typische Situation: Der Problemkontext philosophischer Fragen erwächst in der Regel aus einer Kollision von Verbindlichkeiten, die je für sich verlockend, miteinander jedoch unverträglich sind. Normalerweise drehen sich philosophische Streitfragen um aporetische Cluster dieser Art – eine Familie plausibler Thesen, die assertorisch überbestimmt ist, weil sie so viel behauptet, dass sie inkonsistent wird. Um solche Fälle zu bereinigen, muss offensichtlich etwas fallen gelassen werden. Wie gewogen man diesen plausiblen Thesen

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gegenüber auch immer sein mag, gemeinsam lassen sie sich nicht aufrechterhalten. Wir stehen vor einem (mehrfachen) kognitiven Dilemma und müssen den einen oder anderen Ausweg finden. Insbesondere können wir – von (2) und (3) auf die Verneinung von (1) schließen, – von (1) und (3) auf die Verneinung von (2) schließen, – von (1) und (2) auf die Verneinung von (3) schließen. Eine Aporie führt zu einer Gruppe gültiger Argumente, welche, obwohl ihre Prämissen allesamt plausible Thesen sind, zu einander widersprüchlichen Schlussfolgerungen führen. Offenkundig ist, dass in Fällen wie diesen etwas schiefgelaufen ist, obwohl es völlig unklar sein mag, worin der Grund für diese Schwierigkeit liegt. Dieses Beispiel zeigt, dass jeder aus diesem aporetischen Konflikt herausführende spezifische Weg zwangsläufig nur ein Weg unter anderen sein kann. Für einen aporetischen Cluster ist die Tatsache entscheidend, dass es immer eine Vielzahl von besonderen Wegen gibt, um die Inkonsistenz abzuwenden, in die sie uns treibt. Die entscheidende Schwierigkeit ist, dass verschiedene Philosophen bei der Bestimmung dessen, was zu tun ist, um den Weg freizubekommen, verschiedene Prioritätensysteme in Kraft setzen. Jede Auflösung einer philosophischen Antinomie verkörpert eine spezifische – und damit spezifisch unterschiedliche – Position, einen intellektuellen Wohnsitz, den jemand, in der zu Grunde liegenden Aporie gefangen, beziehen mag, obwohl er manchmal leer bleibt. Die hier von uns beschriebene Sachlage steht in interessantem und ironischem Kontrast zu den Überlegungen Platos, des größten aller Philosophen. Er lehrte, dass die Wahrnehmung widersprüchliche Ergebnisse hervorbringt und zu der Meinung [pistis] führt, über deren Gegenstand gesagt werden kann, dass er „als Seiendes und Nichtseiendes erscheine“ (Staat, V, 478). (Man vergleiche das Paradebeispiel der Skeptiker von den beiden Händen: Die eine Hand wird in heißes Wasser getaucht, die andere in kaltes und danach beide in lauwarmes Wasser.) Eine solche Inkohärenz bedeutet, dass die

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Sinneswahrnehmung durch dianoia – Vernunft – korrigiert werden muss. Plato sah folglich in der theoretischen Arbeit des Philosophen das Rettungsmittel, das eine Versöhnung der konfligierenden Sinnesdaten bewirken kann. Ihre Verortung in aporetischen Konflikten gibt den philosophischen Kontroversen eine natürliche Struktur, die ihren Problemfeldern organische Einheit verleiht. Die vielfältigen Alternativen zur Lösung eines solchen kognitiven Dilemmas präsentieren eine beschränkte Gruppe miteinander verbundener Positionen – ein vergleichsweise bescheidenes Bestandsverzeichnis von Möglichkeiten, welche eine (relativ kleine) Familie von Alternativen vor zeichnen, die das gesamte Möglichkeitsspektrum zur Vermeidung von Widersprüchen aufspannen.4 Die Philosophiegeschichte ist im Allgemeinen hinreichend schöpferisch und mannigfaltig genug, so dass alle Alternativen – alle möglichen Permutationen und Kombinationen für Problemlösungen – tatsächlich irgendwo allesamt getestet worden sind. Dementsprechend sind philosophische Lehren keine einzelnen, voneinander separierten Einheiten, die zueinander in splendid isolation stehen. Sie artikulierten und entwickeln sich in wechselseitiger Interaktion. Ihr natürlicher Interaktionsmodus ist jedoch nicht der der gegenseitigen Unterstützung. (Wie könnte das sein, angesichts der wechselweisen Ausschließlichkeit konfligierender Lehren?) Stattdessen überwiegen Konkurrenz und Kontroverse. Die Suche der alten Stoiker und Epikureer (insbesondere Hippias) nach einem universellen „natürlichen“ Glaubenssystem, gegründet auf dem verschiedenen Gruppen (die je unterschiedliche Lehren, Sitten, moralische und religiöse Vorstellungen vertreten) Gemeinsamen, ist nutzlos, weil kein einziges Element unberührt bleibt, wenn man die ganze Palette der Veränderungen in den Blick nimmt. Angesichts dessen, dass miteinander rivalisierende „Schulen“ einen aporetischen Cluster in unterschiedlicher und widersprüchlicher Weise auflösen, ist der Bereich der Übereinstimmung, obwohl vorhanden, zwangsläufig viel zu gering, um Konflikte zu verhindern. Alternative Positionen setzen je verschiedene Prioritäten, verschiedene Prioritäten aber schließen ihrer Natur nach einander aus und sind miteinander unversöhnlich.

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Weitere Beispiele sind schnell zur Hand. Ein metaphysischer Determinismus, der die Willensfreiheit leugnet, wird mit einer traditionellen ethischen Konzeption in Widerspruch geraten, die sie zur Voraussetzung hat. Eine philosophische Anthropologie, die menschliches Leben mit der Empfängnis entstehen lässt, ist unvereinbar mit einer Sozialphilosophie, für die Schwangerschaftsunterbrechungen moralisch unproblematisch sind. Ein Rechtsbegriff, der alle Verantwortlichkeit in der Wechselseitigkeit von freiwillig zustimmenden Vertragsparteien verankert, macht die moralische Fürsorge für Tiere zum Problem. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen. 8. DIALEKTIK – EIN MECHANISMUS DES WACHSTUMS UND DER ENTWICKLUNG VON SYSTEMEN UND DIE ROLLE VON UNTERSCHEIDUNGEN Eine bedeutende Einsicht, die uns der Rückgriff auf die Aporetik der Plausibilität verschafft, steht in Zusammenhang mit ihrer Enthüllung der Entwicklungsdialektik. Sicherlich hatte Aristoteles Recht, als er sagte, dass Philosophie mit dem Staunen beginne und dass die Beantwortung von Fragen das Ziel der Unternehmung ist. Aber wir wollen natürlich nicht schlechtweg Antworten, sondern kohärente Antworten. Denn wir wissen, dass nur diese zusammengenommen wahr sein können. Das Streben nach Konsistenz ist ein unverzichtbarer Teil des Strebens nach Wahrheit. Es ist eine der Triebkräfte der Philosophie. Jedoch ist es eine unerbittliche Tatsache, dass das Theoretisieren selber zu widersprüchlichen Resultaten führt. Im Übergang von der empirischen Beobachtung zum philosophischen Theoretisieren lassen wir die Widersprüche nicht hinter uns – sie folgen uns auf dem Fuße. Wie die Vernunft die Wahrnehmung zu korrigieren hat, so wird in jedem Fall eine kultiviertere und sorgfältiger durchdachte Vernunft als Korrektiv einer weniger kultivierten und durchdachten Vernunft vonnöten sein. Die Quelle des Widerspruchs findet sich nicht nur im Bereich der Wahrnehmung, sondern ebenso im Bereich des reflektierten Gedankens. Der Drang zur Konsistenz führt uns nicht nur zur Philosophie, sondern er lässt uns auch bei ihr bleiben.

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Folglich kartografiert die Aporetik nicht nur den Kampfplatz des philosophischen Streitgesprächs, sie ist auch ein Mittel, um die Dialektik der historischen Entwicklung zu verstehen und zu erklären. Wenn man nämlich aus dem durch einen aporetischen Cluster geschaffenen Kreislauf der Inkonsistenz ausbricht, so muss man die eine oder andere darin eingeschlossene Proposition fallen lassen. Aber wenn man sie verwirft, so ist es doch oftmals – vielleicht auch generell – möglich, eine Unterscheidung aufzunehmen, die es erlaubt, etwas von dem Preisgegebenen zurückzubehalten. Betrachten wir das folgende Beispiel: (1) Jedes natürliche Vorkommnis ist verursacht. (2) Ursachen erzwingen [necessitate] ihre Folgen. (3) Zwang [necessitationl schließt Kontingenz aus. (4) Einige natürliche Vorkommnisse sind kontingent. Wer sich entschließt, den Teufelskreis der Inkonsistenz dadurch aufzubrechen, dass er These (3) fallen lässt, könnte trotzdem an dem Übrigen festhalten, indem er behauptet, dass kausale Nötigung Kontingenz nicht ausschließt, weil die kausal nötigenden Gesetze selber kontingent sind. Um inkompatiblen Ansichten wieder Konsistenz zu verleihen, ist es erforderlich, auf einige von ihnen, so wie sie vorliegen, zu verzichten. Im Allgemeinen jedoch sorgen Philosophen für die Wiederherstellung von Konsistenz nicht durch Totalverzicht. Stattdessen greifen sie zum Mittel der Modifikation und ersetzen die fallen gelassene Ansicht durch eine angemessen qualifizierte Überarbeitung derselben. Da jede zu einem aporetischen Cluster gehörende These (der Annahme zufolge) für sich betrachtet attraktiv ist, verweigert der völlige Verzicht der Sache, die für die abgewiesene These spricht, jede Anerkennung. Nur durch die unter Zuhilfenahme von Unterscheidungen erfolgende Modifikation der These ist man in der Lage, der Gesamtheit der Überlegungen die verdiente Anerkennung

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zu verschaffen, die anfänglich zu aporetischen Schwierigkeiten geführt hatten. Indem der Philosoph Unterscheidungen vornimmt, hat er die Möglichkeit, die Inkonsistenzen mittels des raffinierten Kunstgriffs der Thesenqualifikation zu beseitigen, statt sie auf dem Wege des rohen Negativismus durch Ausschluss der These zu bereinigen. Der springende Punkt ist, dass eine Unterscheidung keine bloße Verneinung oder Verleugnung bedeutet, sondern die Veränderung einer unhaltbaren These zu etwas Positivem, das den Anforderungen besser entspricht. Betrachten wir zum Beispiel folgenden aporetischen Cluster: (1) Alle Ereignisse sind verursacht. (2) Wenn einer Handlung Wahlfreiheit zu Grunde liegt, dann erfolgt sie kausal gesehen unbeeinträchtigt. (3) Der freie Wille existiert – Menschen können frei wählen, sie tun dies tatsächlich und handeln entsprechend. Zweifellos besteht ein Ausweg aus der Inkonsistenz darin, These (2) zu verwerfen. Statt dies jedoch auf dem Weg des völligen Verzichts zu tun, ließe sich das auch ganz gut dadurch bewerkstelligen, dass wir „kausal unbeeinträchtigt“ Spinoza folgend nur im Sinne einer externen Bewirkung verstehen. Betrachten wir zu diesem Zweck das Resultat, das wir erlangen, wenn wir in die zweite Prämisse eine Unterscheidung einführen, die sie unterteilt: (2.1) Handlungen, denen Wahlfreiheit zu Grunde liegt, sind unbeeinträchtigt durch externe Ursachen. (2.2) Handlungen, denen Wahlfreiheit zu Grunde liegt, sind unbeeinträchtigt durch interne Ursachen. Wenn man (2) auf diese Weise aufspaltet, wird die inkonsistente Ausgangstriade (1)–(3) durch das Quartett (1), (2, 1), (2, 2), (3) ersetzt. Dieser aporetische Cluster jedoch lässt sich auflösen, indem

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(2.2) verworfen, während (2.1) beibehalten und somit eigentlich (2) durch eine abgeschwächte Version ersetzt wird. Ein solcher Rückgriff auf Unterscheidungen – in diesem Falle auf die zwischen internen und externen Ursachen – macht es möglich, die aporetische Inkonsistenz auf eine Weise abzuwenden, welche die Plausibilitätssituation kaum stört. Um die Wirkungsweise eines solchen Verfahrens etwas näher zu untersuchen, betrachten wir einen aporetischen Cluster, der die Voraussetzung für verschiedene Konzepte der frühen griechischen Philosophie gebildet hat: (1) Die Wirklichkeit ist einfach (ist homogen), (2) Materie ist wirklich. (3) Form ist wirklich, (4) Materie und Form sind verschiedene Alten von Dingen (sind heterogen). Auf der Suche nach einer Lösung könnte man in Betracht ziehen, (2) zu verwerten. Statt diese These aber einfach fallen zu lassen, ließe sie sich, dem idealistischen Präzedenzfall Zenons und Platos folgend, durch etwas anderes folgendermaßen ersetzen: (2’) Materie ist als selbständiger Existenzmodus nicht wirklich; sie ist nur quasi-wirklich, ein bloßes Phänomen, eine irgendwie in der immateriellen Wirklichkeit fundierte Erscheinung. Das neue Quartett (1), (2’), (3), (4) ist ganz und gar tragbar. Wenn man nun diese Lösung übernimmt, greift man wiederum auf eine Unterscheidung zurück, nämlich jene zwischen (i) strikter Wirklichkeit als selbstgenügsamer, unabhängiger Existenz und

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(ii) abgeleiteter oder abgeschwächter Wirklichkeit als einem (nur phänomenalen) Resultat des Wirkens des uneingeschränkt Wirklichen. Der Gebrauch einer solchen Unterscheidung zwischen uneingeschränkter und phänomenaler Wirklichkeit ermöglicht die Lösung eines aporetischen Clusters – jedoch nicht durch einfaches Verwerfen einer der das Paradox erzeugenden Thesen, sondern durch deren Modifikation. (Es muss jedoch beachtet werden, dass der in der Tradition Platos und Zenons vorgenommene Austausch von (2) durch (2’) – und folglich die Reinterpretation von Materie als eines „bloßen Phänomens“ – das Wesen der These (4) tiefgreifend ändert. Die alte Behauptung lässt sich nach wie vor aufrechterhalten, erhält aber nunmehr, im Lichte neuer Unterscheidungen, eine neue Bedeutung.) Ferner könnte man alternativ These (3) verwerfen. Man würde in diesem Falle jedoch vermutlich nicht einfach die These „Form ist nicht wirklich“ annehmen, sondern stattdessen zu der folgenden modifizierten Behauptung übergehen: „Form ist nicht für sich selbst bestehend wirklich, sie ist nichts anderes als ein transitorischer (wandelbarer) Zustand der Materie.“ Aus dem entgegengesetzten Blickwinkel gesehen ließe sich dann sagen: „Form ist (in gewisser Hinsicht) wirklich, jedoch nur insofern man sie als einen transitorischen Zustand der Materie betrachtet.“ Dies wäre eigentlich die Position der Atomisten, die dazu neigten, jeden Rückgriff auf Verfahren jenseits des Bereichs des Materiellen für nicht plausibel zu halten. Auf diese Weise lässt sich jede aporetische Inkonsistenz lösen. Wir können immer die „Phänomene retten“ – das heißt den Wesenskern unserer verschiedenen Ansichten trotz ersichtlicher Überlegung bewahren –, indem wir geeignete Unterscheidungen und Modifikationen einführen. Ist eine Aporie erst einmal aufgetreten, dann lassen sich unsere philosophischen Verbindlichkeiten, statt sie völlig verwerfen zu müssen, dadurch retten, dass wir sie durch Revisionen komplizieren, die wir im Lichte geeigneter Unterscheidungen vornehmen.

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Die Entfaltung philosophischer Systeme wird vom Streben nach Konsistenz getrieben. Wenn eine Aporie durch die Entscheidung gelöst ist, das eine oder andere Mitglied der in Frage stehenden inkonsistenten Familie fallen zu lassen, dann ist es nur vernünftig und klug zu versuchen, einen Teil des Geopferten durch Einführung einer Unterscheidung zu retten. Dennoch geschieht es allzu oft, dass die Inkonsistenz in der revidierten Familie von Propositionen, die sich aus der notwendig gewordenen erneuten Anpassung ergeben hatte, erneut ausbricht. In diesem Falle läuft der ganze Prozess auf seinen Ausgangspunkt zurück. Die allgemeine Entwicklungsrichtung offenbart somit die folgende zyklische Gesamtstruktur: Aufdeckung inkonsistenter Verpflichtungen

Beseitigung der Inkonsistenz durch Tilgung

Einführung einer Unterscheidung

Erneute Tilgung, Überarbeitung der Überarbeitung

Die Entfaltung von Unterscheidungen hat bedeutsame Konsequenzen für die philosophische Forschung. Weil im Gefolge der Unterscheidungen neue Konzepte zu Tage treten, stellen sich neue Fragen hinsichtlich ihres Zusammenhangs mit den Problemstellungen. Während wir uns über die Antworten auf unsere alten Fragen Gewissheit verschaffen wollen, kommen wir zu weiteren Fragen – Fragen, die vorher nicht einmal hätten gestellt werden können. Der geschichtliche Gang nimmt somit die Bahn eines Entwicklungsprozesses, in dem Aporien mittels Unterscheidungen behoben werden. Und dieser Prozess dialektischer Entwicklung verleiht dem Verlauf der Philosophiegeschichte bestimmte charakteristische Strukturmerkmale: – Konzeptproliferation – Konzeptreihen entstehen;

immer

mehr

wohldurchdachte

– Konzeptverfeinerung – immer mehr subtile und feinsinnige Unterscheidungen werden getroffen;

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– Komplexitätszunahme philosophischer Lehren – immer mehr umfassend formulierte Thesen und Lehren werden entwickelt; – Systemlaboriertheit – immer mehr sorgfältig aufgebaute philosophische Systeme werden konzipiert. Diese allgemeine Charakterisierung der Angelegenheit wird jedoch dem tatsächlichen Geschehen nicht hinreichend gerecht. Um an dieser Stelle voranzukommen, empfiehlt es sich, einige Beispiele aus dem „wirklichen Leben“ der Geschichte der Philosophie zu betrachten. Die Philosophiegeschichte ist durchsetzt mit Unterscheidungen, die man zur Vermeidung von Aporien eingeführt hatte. Schon in den Platonischen Dialogen, den ersten systematischen Schriften der Philosophie, begegnen uns Unterscheidungen an jedem Wendepunkt. In Buch I des Staates zum Beispiel verstrickt sich Sokrates’ Gesprächspartner unversehens in die folgende Aporie: (1) Rationale Menschen verfolgen immer ihre Eigeninteressen. (2) Nichts von dem, was im Interesse einer Person ist, kann ihr zum Nachteil gereichen. (3) Auch rationale Menschen tun manchmal Dinge, die sich als für sie nachteilig erweisen. Hier wird Inkonsistenz durch den Unterschied zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen von „Interessen“ vermieden, die eine Person haben kann – nämlich zwischen demjenigen, was für sie wirklich von Vorteil ist, und demjenigen, von dem sie nur glaubt, dass es für sie von Vorteil sei –, das heißt zwischen wirklichen und scheinbaren Interessen. Auch in der Diskussion des „Nichtseins“ im Sophistes verwickelt sich der eleatische Fremde Theaitetos in eine Aporie, aus der er versucht, sich durch die Unterscheidung zwischen „Nichtsein“ im Sinne des überhaupt nicht Existierens und „Nichtsein“ im Sinne des nicht in einer bestimmten Weise Existierens herauszuwinden. Der Großteil der Platonischen Dialoge zeigt eine dramatische Entfaltung aufeinanderfolgender Unterscheidungen.

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Diese Situation ist charakteristisch für die Philosophie. Die natürliche Dialektik der Problemlösung drängt uns immer stärker dazu, Unterscheidungen zu treffen, um neue und anspruchsvollere Konzepte vorzulegen. Sicherlich sind Unterscheidungen nicht notwendig, wenn es uns allein darum gehen sollte, Inkonsistenzen abzuwehren. Für diesen Zweck würde es ausreichen, einfach auf Thesen zu verzichten und deren Behauptung rundherum abzulehnen. Man kann sich vor Inkonsistenz schützen, indem man Verpflichtungen entsagt. Eine solch skeptizistische Unterlassungshaltung schafft jedoch ein Vakuum. Unterscheidungen sind unverzichtbare Instrumente für die (potenziell unendliche) Arbeit des Philosophen, die mit seinen Behauptungen verbundenen Verbindlichkeiten vor Inkonsistenzen zu schützen und doch so viel wie möglich von dem Behaupteten zu retten. Sie werden unverzichtbar, wenn es uns darum geht, informative Positionen aufrechtzuerhalten und Antworten auf unsere Fragen zu geben. Wann immer eine bestimmte aporetische These zurückgewiesen wird, besteht der beste Weg, dies zu tun, nicht darin, sie ganz und gar fallen zu lassen. Stattdessen ist der Verlust möglichst gering zu halten, indem man eine Unterscheidung einführt, durch welche sich die These zum Teil aufrechterhalten lässt. Schließlich sind wir gegenüber den von uns verworfenen Daten verpflichtet, und diese Verpflichtung besteht darin, so viel wie möglich von ihnen zu retten. (Dies ist natürlich in unserem Umgang mit diesen Daten als solchen von vornherein mit inbegriffen.) Eine Unterscheidung beinhaltet somit ein Zugeständnis, die Anerkennung eines Moments von Akzeptanz innerhalb einer abzuweisenden These. Jedoch stellen Unterscheidungen immer ein neues Konzept vor Augen und bringen somit einen neuen Gegenstand auf die Tagesordnung. Damit laden sie dazu ein, die Diskussion voranzutreiben sowie neue und vordem unzugängliche Fragen offenzulegen. Unterscheidungen sind die Türen, durch welche die Philosophie zu neuen Frage- und Problemstellungen schreitet. Durch sie kommen neue Konzepte und Thesen zum Vorschein. Unterscheidungen geben uns die Möglichkeit, der irenischen Idee zu folgen, der gemäß eine befriedigende Lösung eines aporetischen Clusters generell einen Kompromiss beinhaltet, der allen zum

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Widerspruch beitragenden Parteien Platz bietet. Die Einführung von Unterscheidungen stellt folglich ein hegelianisches Aufsteigen dar – die Erhebung über die Ebene antagonistischer Lehren hin zu einer „höheren“ Konzeption, welche die Opponenten versöhnt. Indem wir modifizierende Unterscheidungen einbringen, verzichten wir auf jene konfliktträchtige Ausgangsthese und bewegen uns in Richtung ihrer Gegenthese aber nur über eine sorgsam gesicherte Synthese. So gesehen ist Unterscheidung ein „dialektischer“ Prozess. Diese Funktion von Unterscheidungen ist auch mit dem verbunden, was oft als „Ramseys Maxime“ bezeichnet wird. In Hinblick auf Kontroversen über grundsätzliche, einer endgültigen Klärung scheinbar unzugänglichen Fragen schrieb Frank Plumpton Ramsey: „In Fällen dieser Art ist es eine heuristische Maxime, die Wahrheit nicht in einer der beiden umstrittenen Ansichten zu suchen, sondern in einer dritten Möglichkeit, an die noch nicht gedacht wurde und die man nur dadurch entdecken kann, daß man eine Annahme ablehnt, die von beiden Seiten der Auseinandersetzung für selbstverständlich gehalten wird.“5

Von diesem Blickwinkel aus betrachtet, liefern Unterscheidungen eine höhere Synthese gegensätzlicher Ansichten, sie verhindern, dass Thesenverzicht in einen gänzlich negativen Prozess umschlägt, sie geben uns die Möglichkeit, etwas zu retten, dem Ehre zu erweisen, wem sie gebührt – auch jenen Thesen, die wir letztlich verwerfen. Im Gegensatz zur rohen Gewalt des Thesenverzichts eröffnen Unterscheidungen die Möglichkeit, Inkonsistenzen durch das subtilere und konstruktivere Mittel der Thesenmodifikation zu beseitigen. Philosophische Unterscheidungen sind folglich schöpferische Neuerungen. Hier gibt es keine Routinen oder Automatismen – ihre Wahrnehmung ist ein Akt kreativer Erfindungsgabe. Sie legen keine bereits vorhandenen Ideen dar, sondern führen neue ein. Sie schaffen nicht nur die Grundlage für ein besseres Verständnis dessen, was vordem bereits unvollständig begriffen war, sondern heben auch die Diskussion auf eine neue Ebene gesteigerten Anspruches und höherer Komplexität. Somit „ändern sie den Gegenstand“ in einem gewissen

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Maße. (In dieser Hinsicht ähneln sie den begrifflichen Neuerungen in der Wissenschaft, die frühere Ideen eher revidieren als erklären.) Der laufende Rückgriff der Philosophie auf begriffliche Verfeinerung und Erneuerung bedeutet, dass eine philosophische Position, Lehre oder Systemkonzeption niemals geschlossen, fertig und vollkommen ist. Sie ist etwas Organisches, beständig wachsend und sich wandelnd – eine bloße Tendenz, die der permanenten Weiterentwicklung bedarf. Eine philosophische „Position“ ist niemals wirklich, sondern aus sich heraus instabil und angewiesen auf weitere Klärung und Entwicklung. Die philosophische Systematisierung ist ein Prozess, dessen Elemente sich in Stufen interaktiver Rückkopplung entwickeln – seine Entfaltung ist, so kann man sagen, eine dialektische Angelegenheit. 9. EINE HISTORISCHIE ILLUSTRATION Der Entfaltung von Unterscheidungen kommt folglich eine Schlüsselrolle bei philosophischen Untersuchungen zu, weil in ihrem Gefolge neue Konzeptionen auftauchen und damit der Reflexion ein neues Feld eröffnen. Im Laufe der dialektischen Entwicklung der Philosophie treten permanent neue Begriff und Thesen hervor, durch die sich neue Fragestellungen ergeben. Während wir uns über die Antworten auf unsere alten Fragen Gewissheit verschaffen, stoßen wir auf neue Fragen. Die dieser Dialektik innewohnende Dynamik verdient eine nähere Betrachtung. Nehmen wir ein historisches Beispiel. Die Spekulationen der frühen ionischen Philosophen kreisten um die folgenden vier Thesen: (1) Alle Dinge haben ein einziges materielles Substrat [archê]. (2) Das Substrat muss in der Lage sein, sich in alles Mögliche umzuwandeln (und folglich insbesondere in jedes der verschiedenen Elemente).

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(3) Die einzigen bestehenden Materialien sind die vier materiellen Elemente Erde (fest), Wasser (flüssig), Luft (gasförmig) und Feuer (unbeständig). (4) Die vier Elemente sind voneinander unabhängig – keines führt zur Entstehung der anderen. Verschiedene Denker haben verschiedene Auswege aus dieser Aporie vorgeschlagen: – Thales verwarf These (4) und entschied sich für Wasser als arche. – Anaximenes verwarf These (4) und entschied sich für Luft als arche. – Heraklit verwarf These (4) und entschied sich für Feuer als arche. – Die Atomisten verwarfen These (4) und entschieden sich für Erde als arche. – Anaximander verwarf These (3) und postulierte das unbestimmte apeiron. – Empedokles verwarf These (I) und damit auch These (2) und vertrat die Meinung, dass alles aus der Vermischung der vier Elemente besteht. Das heißt, nahezu alle möglichen Auswege aus dieser Inkonsistenz wurden tatsächlich beschritten. Entweder entschlossen sich die beteiligten Denker, zwischen echter Vorrangigkeit und nur abgeleiteten „Elementen“ zu unterscheiden, oder betonten, wie im Falle von Empedokles, die Unterscheidung zwischen Mischung und Transformation. Aber jeder von ihnen hat dasselbe Grundproblem angesprochen, obwohl im Lichte unterschiedlicher Plausibilitätsbewertungen.

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In der Auseinandersetzung der Vorsokratiker mit den in Frage stehenden Ideen kam den folgenden Konzepten eine führende Rolle zu: (1) Das letztlich Wirkliche beharrt im Wandel. (I)

(2) Die vier Elemente – Erde (fest), Wasser (flüssig), Luft (gasförmig) und Feuer (unbeständig) – beharren als solche im Wandel nicht. (3) Die vier Elemente umfassen alles, was es in der bestehenden Wirklichkeit gibt.

Hier sind nun drei Grundpositionen möglich: Verzicht auf These (1): Nichts überdauert den Wandel – panta rhei, alles fließt (Heraklit). Verzicht auf These (2): Ein einziges Element überdauert den Wandel – es allein bildet die arche aller Dinge. Alles Übrige ist nur eine gewandelte Form desselben. Als dieses einzigartige, unwandelbare Element gilt Erde (Atomisten), Wasser (Thales), Luft (Anaxi menes). Oder aber: Alle Elemente beharren im Wandel, der nur eine Sache der Variation von Zusammensetzung und Proportion ist (Empedokles). Verzicht auf These (3): Die Materie ist nicht alles, was es gibt – es gibt auch die ihr innewohnende geometrische Struktur (Pythagoras) oder ihre äußere Anordnung in einer sie umgebenden Leere (Atomisten). Oder aber: Es gibt daneben eine immaterielle treibende Kraft, die der Materie Bewegung verleiht – nämlich „Geist“ [nous]. Folgen wir den Atomisten, indem wir These (3) verwerfen und durch die Unterscheidung zwischen materieller und immaterieller Existenz ersetzen. Ist dieser Zyklus dialektischer Entwicklung durchlaufen,

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entsteht die folgende aporetische Sackgasse, wenn wir den in Frage stehenden Gedankengang weiterführen: (1) Wandel geschieht. (II)

(2) Die Materie (feste, materielle Substanz) wandelt sich nicht, wie auch nicht die Leere. (3) Die Materie und das Leere sind alles, was es gibt.

Wie immer stehen verschiedene Wege zu Verfügung, diesem Widerspruch auszuweichen: Verzicht auf These (1): Wandel ist eine Illusion (Parmenides, Zenon, Eleaten). Verzicht auf These (2): Materie (überhaupt alles) wandelt sich (Heraklit). Verzicht auf These (3): Die Materie und das Leere sind nicht alles, was es gibt. Es gibt auch die sich ändernden Konfigurationen der Materie (Atomismus). Wir nehmen das dritte Verfahren und folgen dem atomistischen Denkweg weiter. Dabei ist zu beachten, dass hierbei nicht nur These (3) zu verwerfen ist, sondern auch These (2) verfeinert werden muss: (2’) Materie als solche ist nicht wandelbar – sie wandelt sich nur hinsichtlich ihrer verschiedenen Neuordnungen. Hier tritt die Unterscheidung zwischen Änderungen der Lage [positional changes] und solchen der Zusammensetzung [compositional changes] in den Vordergrund. Diese gedankliche Entwicklung greift auf eine „rettende Unterscheidung“ zurück, indem sie das neue Thema verschiedenartiger Konfigurationen einführt (im Unterschied zu zwangsläufigen und unwandelbaren Charakteristika, wie den Formen der einzelnen Atome).

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Natürlich kommt die Sache hier noch nicht an ihr Ende. Ein neuer Inkonsistenz-Zyklus zeichnet sich ab, denn das neue Thema ebnet den Weg für die folgende Aporie: (1) Alle Variationsmöglichkeiten realisiert. (III)

sind

tatsächlich

(2) Verschiedene Weltordnungen sind möglich. (3) Wirklich ist nur eine Welt.

Offensichtlich Verfügung:

stehen

auch

hier

verschiedene

Lösungen

zur

Ablehnung von These (I): Eine Theorie des wirklichen Zufalls [tuchê] oder der Kontingenz, der zufolge verschiedene Möglichkeiten nicht verwirklicht werden (Empedokies). Ablehnung von These (2): Eine Lehre universeller Notwendigkeit (das „Blockuniversum“ von Pannenides). Ablehnung von These (3): Eine Theorie mehrerer Welten (Demokrit und generell der Atomismus). Die Entwicklung der im dritten Verfahren vorgestellten atomistischen Lösung führt wiederum zu Aporien: (1) Materie als solche wandelt sich niemals – der einzige ihr mögliche Wandel ist der ihrer Neuordnung.

(IV)

(2) Die Natur der Materie ist gegenüber dem Wandel indifferent. Ihre Neuordnungen sind kontingent und potenziell variabel. (3) Ihre Zustandsänderungen sind ihrer (unwandelbaren) Natur immanent – sie sind notwendig und nicht kontingent.

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Die orthodoxe atomistische Lösung würde an dieser Stelle darin bestehen, auf These (3) zu verzichten und durch die folgende zu ersetzen: (3’) Ihre Zustandsänderungen sind nicht durch ihre Natur erzwungen. In Wirklichkeit sind sie quasi-erzwungen, weil sie gesetzesdeterminiert sind. Das Gesetz jedoch ist von der Natur der Materie unabhängig. Hier tritt die Unterscheidung zwischen intern erzwungenen Wandlungen und extern und zufällig auferlegten hervor. Diese Lösung präsentiert ein neues Thema, nämlich Gesetzesdetermination (eingeführt von den Stoikern). Wenn man aber diese Idee anzuwenden versucht, so scheint es einleuchtend zu sein, dass man hinzufügt: (V)

(4) Bestimmte materielle Wandlungen (mit freiwilligen menschlichen Handlungen verbundene Kontingenzen) sind nicht gesetzesdeterminiert.

Wiederum entsteht eine Aporie – und damit die Notwendigkeit, einen Weg aus der Inkonsistenz zu finden. Einen solchen Ausweg bietet die Preisgabe von These (4), wie etwa im Falle von Epikurs bekannter Vorstellung von der Abweichung der Atome von der geraden Falllinie, oder der Verzicht auf These (3 ‘), wie im rigoroseren Atomismus von Lukrez. Die Entwicklungsfolge von (I) bis (V) verkörpert eine Evolution der philosophischen Reflexion durch eine Abfolge von Schichten aporetischer Inkonsistenz hindurch, die sorgsam voneinander durch sukzessive Unterscheidungen getrennt sind. Dieser Prozess führte von den primitiven Lehren der ionischen Denker zu den weitaus entwickelteren und anspruchsvolleren Lehren des späteren griechischen Atomismus. Diese historische Illustration verweist auf ein bedeutsames Allgemeinprinzip. Die fortwährende Einführung neuer Ideen, die im Gefolge neuer Unterscheidungen entstehen, bedeutet, dass der

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philosophische Boden, auf dem wir stehen, immer in Bewegung ist. Und durch die Unterscheidungen kommt der vorrangige Innovationsmodus der Philosophie, nämlich die begriffliche Innovation, ins Spiel. Diese neuen, unsere Konzepte betreffenden Unterscheidungen, die neuen, unsere Thesen betreffenden Kontexte verändern die Substanz der alten Thesen. Der dialektische Austausch von Einwand und Erwiderung stellt die Diskussion beständig auf eine neue und zunehmend anspruchsvolle Grundlage. Folglich ist die durch neue Unterscheidungen erzielte Lösung von Antinomien eine Angelegenheit schöpferischer Neuerung, deren Ausgang nicht vorhergesehen werden kann. 10. EIN RÜCKBLICK AUF HERBART Durch die aporetische Dialektik hindurch wirkt ein dialektischer Prozess von Hegelschen Ausmaßen. Hegel zufolge ist es das Wesensmerkmal menschlicher Vernunft, sich in Widersprüche und konfligierende Verbindlichkeiten zu verwickeln, sie zuerst zu postulieren, dann aber vermittels einer endlichen Versöhnung auf höherem Niveau zu überwinden. Der Philosoph jedoch, der diesen Aspekt der Geschichte des Gegenstandes am deutlichsten analysierte, war Johann Friedrich Herbart. Er hatte vorgeschlagen, die Geschichte der Philosophie problemorientiert neu zu schreiben, genauer gesagt: als eine Entwicklung von Lehren, die ersonnen wurden, um Antinomien zu lösen, auf die man, eine der anderen folgend, gestoßen war. Die Geschichte der Philosophie sollte, so meinte er, als Problemgeschichte abgefasst werden (und damit ein Genre bilden, von dem es bis zum heutigen Tage kaum ein paar fragmentarische Musterproben gibt). Herbart behauptete, dass grundlegende Begriffe wie Ding/Substanz (etwa, dass die Vereinigung einer Vielzahl von unterschiedlichen und spezifischen Qualitäten ein einzelner Gegenstand ist) und Kausalität (wie die Hervorbringung eines Gegenstands oder Zustands, der sich substanziell von dem unterscheidet, der ihn hervorbringt) von Grund auf begrifflich inkonsistent sind, weil sie einander konträre Faktoren in eine logisch unverantwortbare Einheit zwingen. Gleiches gilt für die Idee eines Selbst als der einheitlichen Grundlage

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verschiedenartiger Taten. Logik kann nur notwendige Verbindungen ratifizieren: Kontingente Verbindungen liegen außerhalb ihres Bereichs – sie sind vom logisch begrifflichen Standpunkt aus gesehen buchstäblich inkohärent. Das Bestreben von Philosophen, eine im Grunde absurde und kontingente Wirklichkeit mit einer reinen logisch begrifflichen Ordnung zu überziehen, führt zwangsläufig in aporetische Uneinigkeit. Herbart zufolge sind die empirisch fundierten Begriffe, in deren Form wir unsere kognitiven Erfahrungen in der Wissenschaft wie im gewöhnlichen Leben vorstellen und verarbeiten, immer mit internen Konflikten verbunden. Ein empirischer Begriff A vereinigt zwei disparate Elemente M und N, die in keiner logisch begrifflichen Verbindung stehen, sondern nur durch ein rein faktisches Band vereinigt sind. Das führt zu Spannung und Widerspruch. Weder können wir (aus theoretischen Gründen) behaupten, dass eine Verschmelzung von M und N in A besteht, noch können wir (aus faktischen Gründen) völlig ausschließen, dass diese Verbindung besteht. Logik verweigert die begriffliche Verschmelzung von M und N, Erfahrung ihre Trennung. Wir können nur annehmen, dass es ein neues Element gibt, eine Unterscheidung, die M in M1 und M2 aufteilt, von denen eines fest mit N verbunden, das andere von N streng getrennt ist. Bestenfalls lässt sich A dann als eine instabile Verbindung verstehen, die zwischen A1 (in welchem Falle M1 problematisch mit N verknüpft ist) und A2 (in welchem Falle M2 unproblematisch von N getrennt ist) oszilliert. Dementsprechend ist jeder empirische Begriff der Grund, aus dem ein geeigneter Supplementärbegriff entspringen muss, um eine Unterscheidung hervorzubringen, die die Konsistenz wiederherzustellen vermag. Für Herbart besteht die hauptsächliche Aufgabe der Philosophie in der Überarbeitung unserer empirischen Begriffe zum Zweck der Wiedererlangung von Konsistenz, der Bewirkung einer Integration, die diese inneren Widersprüche in den Bereich bloßer Erscheinung verbannt. Die Philosophie strebt nach Überwindung der Inkonsistenz, die unseren präsystemischen Begriffen innewohnt. Im Verlauf unserer gesamten philosophischen Tätigkeit werden diese empirischen Begriffe unvermeidlich durch nachfolgende Begriffe transzendiert, welche die Spannungen ihrer präsystemischen Vorgänger zu lösen

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suchen. Dieser Vorgang, Herbarts „Methode der Beziehungen“, ist das Gegenstück in seinem System hegelianischer Dialektik. Wilhelm Dilthey hat das folgendermaßen formuliert: „Der erste, welcher von dem Verlauf der Philosophie analytisch zurückging auf die einzelnen Probleme als die im Geiste des Denkers treibenden Kräfte, war Herbart. Ihm war Philosophie ‚die Wissenschaft von den philosophischen Fragen und Problemen‘. So antwortet er auf die Frage, was Spekulation sei: ‚Das Streben zur Auflösung der Probleme.‘ In dem ersten Entwurf zu seiner Einleitung in die Philosophie findet er den Antrieb zum Philosophieren in den Zweifeln und Widersprüchen über die Natur der Dinge, der Blick auf das Ganze der Welt veranlaßt das erste Finden der philosophischen Probleme.“6

Somit verdient es Herbart, auf gleicher Stufe mit Hegel als Gründer der Theorie aporetischer Dialektik in der Philosophie zu gelten. 11. PHILOSOPHIE IN EINEM ANDEREN LICHT: DIE WIEDERGEWINNUNG DER HEGELSCHEN VISION DER PHILOSOPHIE IN IHRER GESAMTHEIT Die Wende zur Plausibilität eröffnet verschiedene Wege, die Philosophie in ihrer Gesamtheit zu betrachten und die Geschichte der Philosophie nach rationalen (oder zumindest nach klar verständlichen) Prinzipien zu organisieren. Zugegebenermaßen sind wir, was unsere eigene Philosophie betrifft, darauf bedacht, deren verschiedene Behauptungen als Wahrheiten zu sehen und somit die rivalisierenden Alternativen als Unwahrheiten und Fehler. Es gibt aber auch eine etwas großzügigere Sichtweise. Man kann nämlich die ganze Vielfalt von Behauptungen, die Philosophen – uns eingeschlossen – aufgestellt haben, als ebenso viele (nur) plausible Propositionen verstehen. Das bedeutet natürlich eine radikale Abkehr von dem allzu üblichen Verständnis der Philosophie in ihrer Gesamtheit: nämlich ihrer Vorstellung als eines nach Wahrheit strebenden, dabei jedoch äußerst mangelhaften Unternehmens – letztlich einer bunten Mischung einer kleinen Anzahl von Wahrheiten (der eigenen

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Ansichten) zusammen mit einer ungeheuren Menge von Irrtümern (der Ansichten aller Übrigen). Sollte sich unser Begriff der kognitiven Systematisierung auf die klassisch aristotelische Ansicht beschränken, dann besteht einfach keine Möglichkeit, die Philosophie in ihrer Gesamtheit zu systematisieren. Gestehen wir jedoch den philosophischen Behauptungen den Status von Plausibilitäten zu, so eröffnet sich uns die Aussicht auf eine Systematisierung der Philosophie in ihrer Gesamtheit sowie auf ein einziges und vereinigtes, wiewohl umfängliches nichtaristotelisches System rationaler Erkenntnis. Eine Herangehensweise, der zufolge philosophische Behauptungen als („nur“) plausibel verstanden werden, lässt folglich die Philosophie in ihrer Gesamtheit als ein sinnvolles Unternehmen rationaler Kognition erscheinen – eines, das ein nichtaristotelisches System plausibler Antworten auf die großen Fragen konstruiert, welche die Problem-Agenda dieses Fachgebiets auflistet. Wenn man also eine philosophische Aporie deutlich ausspricht, die Möglichkeiten ihrer Auflösung ausarbeitet und danach die plausiblen Rette-was-du-rettenkannst-Unterscheidungen entfaltet, dann erklärt man damit einen Teilsektor des weitausgedehnten Ganzen, das eine nichtaristotelische Systematisierung der gesamten Philosophie bildet. Die Wendung von der Wahrheit zur Plausibilität bringt Gewinne als auch Verluste. Die Gewinne betreffen sowohl die Fülle der Vision als auch den Umfang der Perspektive: Weit mehr Dinge sind plausibel als entschieden wahr. Die Verluste betreffen die Verlässlichkeit: Eine ganze Menge zweifelhafter Sachen kommt hinzu, weit mehr wird Unrat sein als vertrauenswürdiges Gold. Wenn man die Philosophie in ihrer Gesamtheit im Lichte von Plausibilitätsüberlegungen interpretiert, vertritt man folglich einen besonderen und in bestimmter Hinsicht nicht-doktrinalen Standpunkt. Während Philosophie oftmals als Streben nach der Wahrheit betrachtet wird, verwirklicht diese Strategie nämlich die Aussicht auf einen völlig anderen Informationszugang – einen, der nicht auf die unwiderlegbare Wahrheit, sondern auf die nicht abolut gesicherte Plausibilität abgestimmt ist. Ein solcher Zugang stellt eine Vision dar, die in der deutschen Philosophie seit Christian Wolfe7 präsent und seit Hegel prominent ist. Und in diesem Geiste schrieb Bertrand Russell in

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der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: „Man soll sich um der Fragen selber willen mit ihr [der Philosophie] beschäftigen, weil sie unsere Vorstellung von dem, was möglich ist, verbessern, unsere intellektuelle Phantasie bereichern und die dogmatische Sicherheit vermindern, die den Geist gegen alle Spekulation verschließt.“8 Jedoch muss betont werden, dass wir – falls wir solch eine eher weitgefasste und vielschichtige Ansicht unseres Gegenstandes ins Auge fassen sollten – mit der Philosophie in ihrer Gesamtheit beschäftigt sind und nicht mit der Gewinnung unserer eigenen. Wir prüfen, untersuchen und wägen den Umfang möglicher Antworten auf die von ihr gestellten Fragen ab, einschließlich ihrer Entscheidung, welche davon als korrekt aufzufassen sind. Wir betrachten, allgemein gesagt, die Angelegenheit vom Standpunkt der Gemeinschaft, nicht aber von dem Standpunkt, den wir in propria persona einnehmen. Aus einer solchen quasi-hegelianischen Perspektive gewinnen wir kein philosophisches System – keine zusammenhängende und in sich stimmige Darlegung einer philosophischen Position, die bestimmte Antworten auf präzise Fragen liefert. Stattdessen gewinnen wir eine Systematisierung des Philosophierens in seiner Gesamtheit, eine umfassende Zusammenstellung philosophischer Tätigkeit im Allgemeinen. Letztlich liefert ein Plausibilitätssystem, im Unterschied zu einem solchen, das die Wahrheit behauptet, keine Antwort auf irgendeine der Fragen, es bietet keinem der Probleme eine Lösung. Stattdessen verleiht es den (miteinander unvereinbaren) Antworten Plausibilität und stellt eine Vielzahl von (unterschiedlichen und je spezifischen) Lösungen bereit. Es gibt nicht einmal vor, die Wahrheit zu liefern, sondern verschafft einen Überblick über verschiedene und einander widersprechende vorgebliche Wahrheiten, die aus ihren verschiedenen Vertretern sprechen. Die Philosophie als solche kann bei der Lösung philosophischer Probleme das Streben nach zuverlässiger Wahrheit nicht preisgeben. Der nicht-hegelianische Plausibilitätssynkretismus unternimmt nicht einmal den Versuch, sie zu liefern. Angesichts der Pluralität der miteinander rivalisierenden Antworten auf philosophische Fragen verbietet der Skeptiker alle verfügbaren Alternativen und erteilt uns die Weisung, den ganzen Laden für sinnlos oder anderweitig untragbar zu halten. Eine radikalere, obwohl

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gleichfalls egalitaristische Position geht in genau die entgegengesetzte Richtung und betrachtet alle Alternativen mit Wohlwollen und schließt den ganzen Laden in die Arme. Die Leitidee dieser Vorgehensweise ist die der Vereinigung der Alternativen. Ein solcher Synkretismus stellt den Versuch dar, sich über den Streit der konfligierenden Lehren zu erheben, er besteht in der Weigerung, Partei zu ergreifen, indem er für alle Seiten Partei ergreift. Es handelt sich um eine Art Will-Rogers-Pluralismus, der nie auf eine Position getroffen ist, die er nicht mochte. Konfrontiert mit einander ausschließenden Möglichkeiten, umarmt er sie im großzügigen Geist des Liberalismus, der sie alle als potenziell verdienstvoll betrachtet. Thema ist hier natürlich nur die Plausibilität, nicht jedoch die wirkliche Wahrheit. Der Synkretismus betrachtet die einander ausschließenden Lehren der Philosophen als nur individuelle Beiträge zu einem gemeinsamen Projekt, dessen Aufgabe keinesfalls darin besteht, einen Standpunkt zu beziehen, sondern darin, Standpunkte zu untersuchen und das ganze Feld der Alternativen zu erkunden. Die Kernfrage ist hier nicht (wie beim oben beschriebenen hermeneutischen Ansatz) das geschichtlich orientierte „Welche Standpunkte sind vertreten?“, sondern die möglichkeitsorientierte Frage „Welche Standpunkte können vertreten werden?“ Das ist eine Angelegenheit der umfassenden Abschätzung von Möglichkeiten im Allgemeinen, nicht aber der Versuch, einen bestimmten Standpunkt als rational angemessen zu erhärten. Diesem Ansatz zufolge kommt der Philosophie eigentlich die Aufgabe zu, in Hinblick auf philosophische Fragen die Möglichkeiten menschlichen Verstehens zu inventarisieren. Indem wir die Fragen studieren, erweitern wir unsere Empfänglichkeit, vergrößern die Reichweite unseres Bewusstseins und unserer kognitiven Erfahrung. Die Philosophie wird nunmehr eine Angelegenheit der Horizonterweiterung, statt eine der Problemlösung zu sein. Sie ist keinesfalls eine Sache des Wissens, sondern die einer Art „Weisheit“, wie sie in einer zeitlich unbegrenzten Willkommenshaltung gegenüber verschiedenartigen Standpunkten zur Debatte steht. Von dieser Warte aus gesehen ist ein philosophisches Verständnis, dem zufolge Thesen und Theorien zu bewerten, die einen für akzeptabel, die anderen für inakzeptabel zu erachten sind, so etwas wie eine Korruption. Stattdessen wird die Philosophie als wesentlich

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urteilsenthaltend verstanden und ihre Aufgabe darin gesehen, unsere Ansichten zu erweitern und unsere intellektuellen Sympathien zu vergrößern, indem wir uns das Gesamtspektrum der Möglichkeiten vor Augen stellen. Aber auch wenn man diesen Standpunkt nicht vertritt, so ist der Nutzen eines multilateralen, auf der Plausibilitätsaporetik beruhenden Ansatzes doch deutlich. Er liegt darin, dass er uns klar erkennen lässt, – wie sich unser eigenes System zu seinen Konkurrenten verhält, – wie unser eigenes System aus seinen Vorgängern hervorgeht, – welchen Preis wir zahlen und welchen Nutzen wir uns versagen, wenn wir auf unserem Weg bleiben, anstatt den Alternativen zu folgen, – welche Möglichkeiten sich bieten, unseren gegenüber seinen Rivalen zu bekräftigen.

Standpunkt

12. DIE PHILOSOPHIE IN IHRER GESAMTHEIT VERSUS MEINE PHILOSOPHIE: STUDIUM VERSUS PRAXIS Schließlich bleibt es bei der Tatsache, dass eine plausibilistische Systematisierung der Philosophie in ihrer Gesamtheit zum Irrtum führt. Wer philosophiert, ist im Grunde aufgefordert, seine eigenen Antworten auf die Fragen auszuarbeiten. Ein Gemälde möglicher Antworten – so interessant und in der Tat nützlich es für das Philosophieren sein mag – ist letztlich überhaupt kein Mittel, die Fragen zu beantworten. Wie lässt sich dann aber die eigene Philosophie in ihrer Beziehung zur gesamten Philosophie verstehen? Sie ist offenkundig und gewiss ein Teil von ihr. Das versteht sich von selbst. Es ist aber auch klar, dass die je eigene Einstellung zu ihr, wie könnte es auch anders sein, eine besondere, spezielle und für sie abträgliche ist. Letztlich wäre die in Frage stehende philosophische Position ganz einfach nicht die zu meiner Philosophie gehörige, wenn ich sie nicht für korrekt hielte. Wenn man seine eigene philosophische Position vertritt, so wird man

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sie zwangsläufig als fraglos korrekt und die anderen als falsch betrachten, ganz egal, wie plausibel diese erscheinen mögen. Unsere kognitiven Unternehmungen sind im Allgemeinen ausschließlich mit der Wahrheit beschäftigt – oder damit, was wir dafür halten, Die Vielfalt aufrichtiger und glaubwürdiger Wahrheit besitzt drei hervorstechende Merkmale: Sie schließt Alternativen aus (lässt keinen Selbstwiderspruch zu), ist in sich kohärent und deduktiv geschlossen (schon Aristoteles, der Vater der Logik, hatte darauf bestanden). Das heißt natürlich nicht, dass ich diese Stellungnahmen für wertlos halten muss. Wenn ich die Philosophie in ihrer Gesamtheit als eine Sache der Plausibilität verstehe, so verhindert das nicht, meine eigene Philosophie als eine solche der Wahrheit zu sehen, Fehler werden schließlich nicht alle in gleichem Maße gemacht – manche von ihnen vermögen es, nahezu ins Schwarze zu treffen. Auch können sie im Prinzip Aspekte fachlichen Könnens aufweisen. Die Entwicklung der aporetischen Konzeption der Philosophie in ihrer Gesamtheit ist keine Art des Philosophierens. Um zu philosophieren, müssen wir herausfinden, wo wir, das heißt wir selbst, stehen. Dafür reicht es nicht aus, die Mannigfaltigkeit philosophischer Ansichten einfach zu durchdenken und die vielfältigen, in der Philosophie in ihrer Gesamtheit vertretenen Ansichten in eine Ordnung zu bringen. Egal mit welcher Sorgfalt und welchem Anspruch wir das Spektrum der Alternativen – dessen, was denkbar ist – auf die Leinwand bringen, wir haben uns letztendlich doch zu entscheiden, was wir auf eigene Faust zu denken beabsichtigen. Die Analyse der Plausibilitäten und ihrer Verzweigungen ist auf ihre Art gesehen eine gute Sache, sie ist aber weder ein Weg auf der Suche nach der Wahrheit noch ein Ersatz dafür. Letzten Endes ist die Philosophie damit beschäftigt, die „großen Fragen“ zu beantworten, die den Menschen und seine Stellung im Rahmen der Natur betreffen. Das Ziel des Philosophierens besteht darin, Ignoranz und Verwirrung zu beseitigen und Erkenntnisprobleme zu lösen – kurz gesagt, Informationen zu liefern. Wer sich einer definitiven Stellungnahme enthält, wer es ablehnt, Partei zu ergreifen (sei es durch skeptizistische Abstinenz oder durch eine unvoreingenommene generelle Akzeptanz) wird dieses Unternehmen preisgeben. Wer eine Vielzahl von Antworten billigt,

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hat überhaupt keine Antwort zu bieten – die grenzenlose Offenheit gegenüber verschiedensten Alternativen, das beständige Ja und Nein lässt ihn in ewiger Ignoranz verharren. Natürlich ist das Studium der Funktionsweise des Philosophierens letztlich Teil der Philosophie – wer sonst außer dem Philosophen ist willens und fähig, dies zu tun. Diese Form der Metaphilosophie ist jedoch höchstens und bestenfalls ein Teil der Philosophie, aber kein Ersatz für diese und kann das auch nicht sein. Das Studium der Philosophie in ihrer Gesamtheit wird keine und kann keine Philosophie ergeben. Die Durchmusterung des Plausiblen lehrt uns nicht, was wahr ist. Die Betrachtung der plausiblen Antworten auf unsere Fragen zeigt uns die angemessenen Antworten nicht auf. Es ist sicherlich lehrreich, die Vielfalt der Plausibilitäten zu erkunden. Letzten Endes wollen wir aber mehr. Mit Plausibilitäten zu hausieren, ist nicht genug: Wir sehnen uns nach der Wahrheit und müssen deshalb unsere Überlegungen von dem Bereich, der die Philosophie in ihrer Gesamtheit ist, auf den Bereich unserer eigenen Philosophie verlagern, auf das, was wir, auf eigene Rechnung, als wahr akzeptieren können. Somit ist die Auffassung von Philosophie als Untersuchung von Möglichkeiten, ungeachtet ihres offensichtlichen Reizes, nicht ohne Mängel. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, dass das Hausieren mit Möglichkeiten die Hauptaufgabe ernsthafter Untersuchung verfehlt. Möglichkeiten beantworten keine Fragen. Um sich in dem Unternehmen zu engagieren, statt einfach nur darüber nachzusinnen, muss man sich fragen, welchen Standpunkt man einnehmen soll, statt nur danach zu fragen, welchen Standpunkt man einnehmen kann. Mit Plausibilitäten zu hausieren, ist in bestimmter Hinsicht eine gute Sache. Wer jedoch letztlich wirkliche (und nicht nur mögliche) Antworten auf seine Fragen haben möchte, muss sich entscheiden. Er muss aufhören, ein Student der Philosophie zu sein und ein Philosoph werden. Wir können, wie Bertrand Russell in der oben zitierten Passage mit Recht betont hat, die Philosophie studieren, um unseren Horizont zu erweitern, um zu erfahren, welche Standpunkte zur Verfügung stehen und welche Berichte von den debattierten Problemen gegeben werden können. Aber wir beteiligen uns am Philosophieren, weil wir die

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Fragen des Sachgebiets beantwortet und seine Probleme gelöst haben wollen – wir wollen Antworten, die uns auf rationale Weise zufrieden stellen, auch wenn sie nicht den Brennpunkt eines universellen Konsenses bilden. Wenn wir philosophieren möchten, Antworten auf unsere Fragen erhalten wollen, dann lässt sich eine Stellungnahme nicht vermeiden. Wir müssen uns binden und für Anschauungen und Positionen auf eine selektive und charakteristische Weise eintreten, die einigen Alternativen auf Kosten anderer beipflichtet. Der einzelne, auf dem Gebiet der Philosophie Tätige vermag seine Individualität nicht zu transzendieren und die verschiedenartigen Arbeiten der philosophischen Gemeinschaft an seine eigene Lehre anzupassen. Konjunktionalismus ist ein großartiger Begriff, der an der widerspenstigen Tatsache scheitert, dass es einfach unmöglich ist, aus der Bibliothek ein einzelnes kohärentes Buch zu machen, indem man die vielfältigen, zueinander kontroversen Philosophien in einem sinnvollen Ganzen zusammenführt. Einzelne Philosophen müssen eine der verschiedenen Stellungen beziehen und zu einer Position gelangen, die unvermeidlich kontrovers bleibt. Sie können sich nicht an dem Unternehmen beteiligen und sich gleichzeitig der Gewissheit eines höheren Standpunktes jenseits des Schlachtgetümmels erfreuen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich philosophische Kontroversen ihrer Transzendenz durch Konjunktion widersetzen. Konjunktionalismus ist eine Einladung zur Indifferenz, zur Enthaltung vom ernsthaften Geschäft des sich Entscheidens. Wer seine pazifistische Ideologie auf das Feld der Philosophie trägt, depotenziert den Gegenstand. So ist es kein Zufall, dass Athene, die Göttin der Weisheit und Schutzheilige der Philosophie, zugleich über die Kriegskunst wacht. Der Kampf der philosophischen Systeme ist erbarmungslos – die Bestimmung der Philosophie ist nicht der Frieden, sondern das Schwert. Das verhindert natürlich nicht einen breiteren, großzügigeren Blick auf die Philosophie in ihrer Gesamtheit. Wenn ich den Zustand der Ansprüche und Thesen meiner eigenen philosophischen Stellungnahme überdenke, betrachte ich diese in der Tat als entsprechend viele Wahrheitsansprüche (und aus diesem Grunde kommt der inneren Konsistenz meiner eigenen Stellungnahme eine kritische Funktion zu). Überdenke ich aber die Arbeit meiner

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philosophischen Rivalen, so betrachte ich diese Behauptungen nicht als Wahrheiten und kann das auch nicht. Zweifellos aber kann ich diese Thesen und Behauptungen für plausibel halten und sollte dies höchstwahrscheinlich auch. Diese Überlegungen unterstreichen den Unterschied zwischen dem Studium der Philosophie einerseits und der Praxis der Philosophie andererseits. Beim Studium der Philosophie erweist sich eine neohegelianische Systematisierung von Plausibilitäten als ein in hohem Maße nützliches und lehrreiches Hilfsmittel. Um aber Philosophie zu praktizieren, müssen wir uns natürlich mit mehr beschäftigen als bloßen Plausibilitäten: Bei der Festlegung unseres Standpunktes kann uns die Untersuchung von Plausibilitäten und möglichen Antworten nicht zufrieden stellen. Hier haben wir über Optimalitäten und geeignete (zumindest präemptiv korrekte) Antworten zu entscheiden. Auf dieser Stufe ist die Wahrheitssystematisierung der richtige Weg. Dies alles bedeutet jedoch, dass zwischen diesen Unternehmungen unterschieden werden muss, beide aber nicht voneinander getrennt werden dürfen. Denn gewiss erfordert die Suche nach optimal haltbaren und somit zumindest präemptiv korrekten und wahren Antworten den Vergleich greifbarer Alternativen. Und worin diese Alternativen bestehen und welche Verästlungen sie in das umfassendere Netzwerk damit verbundener Fragestellungen hinein ausbilden – genau dies ist es, was eine Systematisierung von Plausibilitäten uns begreifen lässt.9, 10 ANMERKUNGEN 1

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 1, in: ders., Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, Bd.17, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965, 59.

2

Eine gute zusammenfassende Darstellung hinsichtlich der Hegelschen Stellung zur Geschichte der Philosophie bietet: L. Braun, Historie de l’historie de la philosophie, Paris 1973, 328–340.

3

Siehe Immanuel Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können.

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ANMERKUNGEN 4

Diese generelle Vorstellung, dass philosophische Probleme Antinomien beinhalten, aus denen nur endlich viele Wege herausführen (auf welche der geschichtliche Lauf der philosophischen Entwicklung in der Tat verweist), kündigt sich in den Überlegungen Wilhelm Diltheys an. Siehe seine Gesammelten Schriften, Bd. VIII, Stuttgart/Göttingen 1961, 138.

5

F. P. Ramsey, „Universalien“, in: ders., Grundlagen: Abhandlungen zur Philosophie, Logik, Mathematik und Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, 26.

6

W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VIII, a. a. O., 134.

7

Für Christian Wolff (Philosophia Rationalis, sect. 29) ist Philosophie „scientia possibilium, quatenus esse possunt“.

8

B. Russell, Probleme der Philosophie, Frankfurt/M. 1967, 142.

9

Dieser Artikel ist dem Bestreben geschuldet, drei Aspekte miteinander zu verbinden, die mein Nachdenken über die geschichtliche Systematik philosophischen Denkens seit Langem geleitet haben: nämlich die Theorie der Plausibilität (siehe mein Plausible Reasoning, Assem 1976), die Theorie der Aporetik (siehe mein Paradoxes, Chicago 2001) und die Theorie der philosophischen Dialektik (siehe mein The Strife of Systems, 1985; dt. Der Streit der Systeme, Würzburg 1997).

10

Zuerst erschienen in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Bd. 53 (2005), S. 179–209. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Veit Friemert.

XIV PHILOSOPHIE AM ENDE DES JAHRHUNDERTS 1. DAS ERBE DES 19. JAHRHUNDERTS

C

harakteristisch für den Stil des Philosophierens im 19. Jahrhundert war die Formulierung anspruchsvoller Denksysteme, die üblicherweise um ein einziges, monistisches Organisationsprinzip herum zentriert waren. Im Allgemeinen konnte der jeweilige Standpunkt im Kern durch einen eingängigen Slogan dargestellt werden. So finden sich in der Metaphysik Beispiele wie der Idealismus Hegels und Fichtes für die „Wirklichkeit das Produkt der Vernunft (oder des Geistes) ist“, die Lehre von Schopenhauer für die „Wirklichkeit das Produkt der Interaktion von Wille und Idee ist“, der wissenschaftliche Materialismus Ernst Haeckels oder der dialektische Materialismus von Karl Marx. Der Ansatz ist durchgängig derselbe, immer handelt es sich um die Entwicklung einer weitreichenden Theorie mit höchstens einer Handvoll Komponenten, von denen jede sich um eine einzige Leitidee dreht. Und für den generativen Impetus des Ganzen sorgte ein schlichtes Kardinalprinzip, das mehr oder minder adäquat in einem einzigen Satz, höchstens in einem Absatz skizziert werden konnte. Alles ist systematisch, scharf fokussiert und kompakt vereint im Wesenskern. In der Ethik finden wir dasselbe Phänomen vor. Hier treffen wir auf Positionen wie die personalistische Theorie des Guten als dem, was der persönlichen Entwicklung am dienlichsten ist, die hedonistische Theorie des Guten als dem, was menschliche Lust maximal ermöglicht, die evolutionäre Theorie des Guten als dem, was zum Wohlbefinden der Rasse beiträgt, und so weiter. In der politischen Philosophie haben wir Positionen wie die Hegelsche Lehre, dass richtiges Handeln dasjenige ist, was die Forderungen des Zeitgeistes am besten ausdrückt, oder die utilitaristische Theorie des richtigen

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Handelns als desjenigen, das dem größten Gut der größten Zahl zum Vorteil gereicht. Im Allgemeinen bestand demnach der Stil des Philosophierens im 19. Jahrhundert – nicht nur in der Metaphysik und der Ethik, sondern generell – in dem Bestreben, weitreichende philosophische Probleme auf der Basis eines Häufleins eher einfacher und kompakter Prinzipien zu lösen. Die Philosophien der Jahrhundertwende trugen immer noch am Erbe dieser Epoche wie sich an dem Intuitionismus G. E. Moores, dem neutralen Monismus Bertrand Russels, dem Vitalismus Henri Bergsons oder dem Pragmatismus William James’ sehen lässt. Zu dieser Zeit waren die Philosophen im Allgemeinen immer noch damit beschäftigt, verschiedene relativ kompakte Kernprinzipientheorien zu formulieren welche nichtsdestotrotz anspruchsvoll genug waren, „alles zu können“. 2. DER AUFSTAND GEGEN DAS SYSTEM (SYSTEMFEINDLICHE ANTISYSTEME) Diese Vision des 19. Jahrhunderts vom philosophischen Unterfangen erhielt jedoch eine harsche Behandlung seitens des 20. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg stellte einen bedeutenden Wendepunkt dar. Indem er eine gewaltige Desillusionierung bezüglich der politischen Systeme der Vergangenheit hervorbrachte, erzeugte er auch eine kulturelle Einstellung, die eine ähnliche Verachtung der vergröbernden philosophischen Systeme der Vergangenheit zum Ausdruck brachte. Als Nachwirkung des Krieges entfaltete sich deswegen in Europa und Amerika ein negativistisches, skeptisches Denkklima, das Systeme ablehnte und mit Verachtung den gesamten Prozess des Systembauens und der Systematisierung verabschiedete. Der damalige Konsens bestand darin, dass die Zeit, in der metaphysische Deliberation ein durchführbares Unternehmen war, vorüber sei und nichts Sinnvolles und Vernünftiges über solche Themen mehr gesagt werden könne, so dass Schweigen die beste Politik sei – genau so, wie es der frühe Wittgenstein nachdrücklich betont hatte. Die bedeutendsten Denkströmungen dieser Zeit bestanden allesamt darauf, dass Systematisierung der traditionellen Art preiszugeben sei und etwas ganz anderes an ihre Stelle gesetzt

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werden müsse – obwohl es sehr verschiedene Lehrmeinungen darüber gab, was es denn sein solle. Die logischen Positivisten der Schule des Wiener Kreises schlugen vor, einen Wissenschaft-ist-alles-Standpunkt einzunehmen. Nach ihrer Meinung ist das gesamte Projekt der spekulativen Philosophie – und Metaphysik insbesondere – eine Angelegenheit von Täuschung und Verblendung. Insofern sinnvolle Fragen zur Debatte stehen, die über Fragen der Logik und der Sprache hinausgehen, kann die Naturwissenschaft sie lösen. Eine andere Strategie wurde von den Kulturrelativisten eingeschlagen, die eher durch die Sozialwissenschaften als durch die Naturwissenschaften inspiriert waren. Sie verwiesen alles Philosophieren auf die Stufe bloßer Meinung. Bei Themen von der Art, wie sie die Philosophie traditionellerweise behandelt hat, gibt es nichts objektiv Bestimmbares. Es ist alles einfach eine Frage dessen, was gedacht wird. Anhänger der analytischen Schule wiederum bestanden darauf, dass Philosophie, wie sie traditionell aufgefasst wurde, zugunsten einer Exegese des Sprachgebrauchs aufzugeben sei. Wir sollten nicht – und können vernünftigerweise nicht – untersuchen, was Wahrheit und Gerechtigkeit und Schönheit sind, sondern sollten stattdessen untersuchen, wie die Ausdrücke „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“, „Schönheit“ in der Sprache, in der solche Angelegenheiten diskutiert werden, gängigerweise gebraucht werden. Und ziemlich ähnlich insistierte auch der philosophisch skeptische Martin Heidegger der späteren Jahre darauf, dass metaphysische Themen nicht sinnvoll angegangen werden können. Wir müssen unsere Interessen stattdessen auf die prosaischen Angelegenheiten des gewöhnlichen Lebens und des Alltäglichen beschränken und eine Haltung entspannter Gelassenheit1 gegenüber den fruchtlosen Belangen, die spekulative Philosophen traditionell behandelt haben, bewahren. In der Ethik und Moralphilosophie finden wir in etwa dieselbe Situation vor. Die Ethiker der analytischen Schule wollten das Interesse an den substantiellen Fragen des Bereiches zugunsten einer meta-ethischen Beschäftigung damit, wie Sprache in der Erörterung solcher Angelegenheiten funktioniert, aufgeben. Andere Theoretiker nahmen einen positivistischen anthropologischen Standpunkt ein und strebten danach, Ethik durch die Erforschung der Einstellungen von Menschen bezüglich richtigen und falschen Verhaltens zu ersetzen,

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derart die eigentliche Moraltheorie für die Untersuchung von Sitten austauschend. Wieder andere hielten es für das Beste, Ethik in Begriffen der Rhetorik von Empfehlung und Überredung zu sehen. Was zur Debatte steht, behaupteten sie, ist alles eine Angelegenheit der Empfehlung bestimmter Einstellungen und Handlungen auf der Basis persönlicher Vorlieben. Unterschiedliche Denker haben somit unterschiedliche Standpunkte eingenommen. Aber all diese Strömungen der Generation nach 1920 waren sich in der Zurückweisung substantieller Ethik in ihrer traditionellen Gestalt als einer Lehre vom richtigen Handeln zugunsten eines normativ enthaltsameren, dafür in höherem Maße beobachtbaren/empirischen Bestrebens einig. Die bedeutenden Denker der Nachkriegsgeneration sahen sich die systematische Philosophie des 19. Jahrhunderts genau an und entschieden, dass sie davon nichts hielten. Stattdessen schlugen sie vor, das bisherige Weltverständnis zu reformieren, indem sie dessen Basis von philosophisch verzahnten Prinzipien auf wissenschaftliche Disziplinen verlagerten – auf die Naturwissenschaften, die Kosmologie, auf Sprache und Logik oder was auch immer. Querbeet entfalteten die einflussreichsten Denkströmungen einen gemeinsamen Negativismus gegenüber dem klassischen systematischen Philosophieren. Sie sahen den tatsächlichen Aufbau der Welt (wie in den Wissenschaften oder im gewöhnlichen Leben betrachtet) als etwas Endgültiges und Selbstgenügsames an, ohne weitere philosophische Fundamente oder Validierung zu benötigen. 3. DER SCHIFFBRUCH DES ZWISCHENKRIEGSNEGATIVISMUS Dieses systemfeindliche skeptische und negativistische Denkklima, welches in der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg in intellektuellen Kreisen vorherrschte, wurde selbst von den Flammen des großen antitotalitaristischen Kreuzzugs verschlungen, der im Zweiten Weltkrieg kulminierte. Die Leute waren nun nicht länger gewillt, es als müßig anzusehen, eine theoretische Validierung für normative Unterscheidungen – wie z. B. wahr/unwahr oder richtig/falsch – zu schaffen. Der Ethik der neuen Ära widerstrebte es, solche

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Begründungsprojekte auf die Müllkippe überholter Denkweisen zu werfen. Tatsache ist, dass sich viele Leute vom Negativismus der Antiphilosophie der Zwischenkriegsepoche und ihrer positivistischen oder sprachanalytischen Ausdrucksweise abgekehrt hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandten sich viele der Besten und Gescheitesten der jüngeren Generation (insbesondere in Großbritannien) einfach von der akademischen Philosophie insgesamt ab. Und diejenigen, die philosophisches Interesse bewahrten, sahen sich nun häufig außerhalb des angelsächsischen Mainstream um. Einige wandten sich östlichen Philosophien zu, andere den literarisch, soziologisch oder psychoanalytisch inspirierten Formen kultureller Spekulation, die in Frankreich in zunehmendem Maße ein Ersatz für Philosophie geworden waren. Wieder andere wandten sich der Ideologie zu, entweder religiöser (wie im Fall der katholischen Theoretiker, welche die hermeneutische Bewegung vereinnahmten) oder antireligiöser (wie im Fall der Ideologen, die, inspiriert durch Denker wie Nietzsche oder Marx, dem Sirenenruf eines atheistischen Standpunktes nachgaben). Viele professionelle Philosophen reagierten jedoch auch selbst – nicht auf diese Art der Preisgabe der historischen Errungenschaften der Disziplin, sondern eher durch eine Rückkehr zur Tradition und den Versuch, die älteren, klassischen Positionen zu rehabilitieren und wieder zur Geltung zu bringen. Im Gefolge der nach dem Kriege wachsenden Ablehnung des Negativismus, der in der Zwischenkriegszeit dominant war, sahen sich Philosophen in zunehmendem Maße wieder die Standpunkte der Vergangenheit an. Nun gab es eine große Renaissance des Interesses an der traditionellen Philosophie und eine Abscheu vor den dieser ablehnend gegenüberstehenden Haltungen der logischen Positivisten wie auch dem Nichtswisser-Ansatz der ordinary-language-Philosophen. Dieses Phänomen ereignete sich nicht nur in der Metaphysik, sondern auch – und vor allem – in der Ethik und Moralphilosophie. In Reaktion auf die nicht-ignorierbare Brutalität der Stalin- und Hitlerregirne – und wiederum später auf das sinnlose Gemetzel von Vietnam – wandten sich Philosophen zunehmend substantiellen Fragen zu. (Dieses Phänomen war in der „angewandten Ethik“ besonders offenkundig – die Untersuchung moralischer Themen trat in Bereichen wie z. B. der Wirtschaft, Medizin oder dem öffentlichen Dienst auf.) So feierte die

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mit Inhalten beschäftigte Ethik der alten Schule ein bemerkenswertes Comeback, als Menschen ein weiteres Mal die Grenzen zwischen gut und schlecht, richtig und falsch zu ziehen suchten. Themen wie der Schutz menschlichen Lebens, die Rechte und Freiheiten von Menschen, die Ansprüche kommender Generationen und dergleichen mehr wurden jetzt auf der Basis alter Prinzipien (Kontraktualismus; neo-kantische Deontologie), die gebührend mit neuen Kniffen versehen worden waren, diskutiert. Nun war alles vorbereitet für die Wende der Philosophie in eine positivere und konstruktivere Richtung. 4. DIE ABGERISSENEN BRÜCKEN Diejenigen jedoch, die um ein Wiederaufleben der philosophischen Belange und Ziele bemüht waren, welche in der Systematisierung der früheren Epoche zur Diskussion standen, hatten sich angesichts dessen, dass ein Heim, das der eigenen Situation und den eigenen Bedürfnissen völlig widerspricht, niemals gemütlich sein kann, mit der kulturellen Undurchführbarkeit einer direkten Wiederaufnahme dieser früheren Lehren abgefunden. Eine direkte Wiederaufnahme wurde von mehreren bedeutenden Faktoren verhindert: l. Die Wissensexplosion, gekennzeichnet durch eine gewaltige Zunahme an Gelehrten und Wissenschaftlern, Büchern und Zeitschriften, Studenten und Lehrern, Laboratorien und Instituten usw. – eine Explosion, die rasch bedeutende neue Spezialdisziplinen hervorbrachte. 2. Die Ausbreitung von Systemen in den formalen Wissenschaften. In der Analysis finden sich heutzutage Intuitionismus, Finitismus, „fuzzy“-Arithmetik. In der Geometrie breiten sich nicht-euklidische Systeme aus. In der Logik gibt es eine ganze Skala von Non-Standard-Systemen. Mathematik ist nicht länger ein monolithisches Ganzes: Sie hat sich zu einer Fülle von Alternativen entwickelt.

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3. Die Diffusion von Komplexität. Der Aufstieg der neuen Physik mit ihrer drastischen Revision unseres Bildes vom Universum, ihrer Dematerialisierung von Stoffen in der subatomischen Physik, ihrer Komplexifizierung von Kausalität in der Quantenphysik, das Entstehen wissenschaftlicher Kosmologie, das neo-darwinistische evolutionäre Theoretisieren, die Entwicklung wissenschaftlicher physiologischer Psychologie, das Entstehen künstlicher Intelligenz usw. 4. Die Realisierung kognitiver Endlichkeit. Die erzwungene Anerkennung. dass unser Wissen nicht die endgültige Tiefe von Dingen ausloten kann. Unsere mathematischen Systeme können nicht die gesamte Arithmetik umfassen (Gödel). Unsere Sprachen können nicht das Ganze der Wahrheit umfassen (Tarski). Unsere Teilchenbeschleuniger können Teilchen nicht bis auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen. Was das Entstehen einer bis dato nicht im Traum vorstellbaren Komplexität unseres Wissens anbelangt, bedenke man nur ein Beispiel: den Prozess taxonomischer Ausdifferenzierung2, über den im Wesentlichen für jedes Wissenschaftsgebiet dasselbe gesagt werden kann. Das Aufkommen neuer Disziplinen, Teilbereiche und Spezialgebiete ist überall offenkundig. Und als ob man diese Tendenz negieren und eine Einheit beibehalten wollte, findet eine fortdauernde Evolution interdisziplinärer Synthesen statt: Physikalische Chemie, Astrophysik, Biochemie usw. Schon der Versuch, der Fragmentierung entgegenzuwirken, schafft neue Fragmente. Herbert Spencer argumentierte vor langer Zeit, dass die Evolution durch ein Gesetz der Entwicklung „vom Homogenen zum Heterogenen“ charakterisiert sei und eine unaufhörlich zunehmende Genauigkeit und Komplexität zum Ausdruck bringe. Für die biologische Evolution mag dies sein wie es will. Mit Sicherheit trifft es aber auf die kognitive zu. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat das wachsende Bewusstsein von der Komplexität der durch die Wissensexplosion gestellten Anforderungen und von der Endlichkeit unserer Mittel zu deren Bewältigung eine neue Sensibilität geschaffen, welche die Anerkennung von Grenzen betont. Und diese Sensibilität

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hat es unmöglich gemacht, zu den einfachen Gewissheiten der monolithischen philosophischen Systeme alten Stils zurückzukehren. Tatsächlich stand das traditionelle Interesse der Philosophie – die Systematisierung des Wissens und die Erhebung dessen, „was es alles bedeutet“ – jetzt einer neuen Situation von unglaublicher Reichweite und Komplexität gegenüber. Und so wurden diejenigen. die nicht bereit waren, Philosophie einfach zugunsten von etwas vollkommen anderem preiszugeben, zu einem neuen Typ von Philosophie gedrängt – einer neuen Art und Weise des Philosophierens. Die maßgebende Idee der Zeit fügte sich dem Diktum: „Etwas Positives, aber nichts, was an diese grandiosen, aber übereinfachen Systeme aus den Tagen unserer Großeltern erinnert.“ Was hier vor sich ging, ist natürlich nicht allzu mysteriös. Wie sollte Philosophie schließlich in einer Ehrfurcht einflößenden komplexen Welt einfach bleiben können? 5. DER AUFSTIEG DES PARTIKULARISMUS Sich der Komplexität der wirklichen Welt und der Welt des Lernens zuwendend, mag der philosophische Stil, der nun in Mode kam, in Ermangelung eines besseren Namens als Partikularismus charakterisiert werden. Seine markanten Merkmale waren folgende: 1. Einzelheitstropismus: Fallstudienmethodologie, beschäftigt mit Einzelfällen und Beispielen. Sich von generellen Theorien und weiteren Entfernungen abwendend, hin zu speziellen Streitpunkten von geringer Reichweite. Beschäftigung mit hypothetischen Fällen und Situationen. 2. Beschäftigung mit Diskurs: Interesse an linguistischen Mikrodetails, was den Gebrauch bestimmter Worte und Ausdrücke betrifft; die Interpretation bestimmter Sätze; die Natur bestimmter Argumente und Gedankengänge. 3. Beschäftigung mit Detailfragen: mit mikroskopischen Minithemen, mit Fragen derart geringer Reichweite – und daher so entfernt von den klassischen „großen Fragen“ der Philosophie

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–, dass sie sich im Grunde genommen nicht von legalistischen Haarspaltereien unterscheiden. 4. Interesse an Technik und am Triumph des Technischen: Beschäftigung mit Themen von geringer Reichweite, die mit den Mitteln der Maschinerie logischer und linguistischer Analyse behandelt werden können. Philosophische Forschung befasst sich mit Themen nun auf Krämerweise, nicht nach Großkaufmannsart, und sieht u. a. in folgenden Kontexten zu klärende Mikrofragen voraus: der Explikation der Bedeutung philosophischer Begriffe mit den Mitteln von „Wahrheits“-Bedingungen des Sprachgebrauchs der Erklärung menschlicher Fähigkeiten (z. B. des Wissens oder des Verstehens) mit Modellen von oder in Analogie zu Rechenmaschinen und Überlegungen zu „künstlicher Intelligenz“, der Erklärung menschlicher Regelbefolgungspraktiken im Rahmen sozialer Verhaltensweisen und Normen, der Erklärung menschlicher Fähigkeiten (z. B. des Wissens oder des Verstehens) auf der Basis von Evolutionstheorien und darwinistischer natürlicher Auslese. Vor allem im anglo-amerikanischen Raum erlebte die Nachkriegsgeneration von 1945–75 eine neue Betonung der philosophischen Methodologie, die sich auf die Entwicklung formaler Techniken konzentrierte, welche nicht geeignet waren, weitreichende, globale Fragen zu behandeln, sondern eher Detailfragen von geringer Reichweite. Interesse am Detail – an Mikrofragen, die mit der kraftvollen Vergrößerung neuer Instrumente der logischen und der linguistischen Analyse untersucht wurden – stand nun auf der Tagesordnung. Solch bedeutende englischsprachige Philosophen der Jahrhundertmitte wie John Austin in Großbritannien oder Nelson Goodman in den Vereinigten Staaten – und sogar Ludwig Wittgenstein, der einer früheren Epoche angehörte und dessen Einfluss sich nun erst geltend machte – waren solcher Art, dass sie dem Uneingeweihten als wenig mehr denn eine Schar von Haarspaltern vorkommen mussten. Das rapide Wachstum „angewandter Philosophie“ – das heißt philosophischer Reflexion über Detailfragen in Wissenschaft, Recht,

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Wirtschaft, sozialen Angelegenheiten, Computergebrauch und dergleichen – ist ein auffälliges strukturelles Merkmal zeitgenössischer nordamerikanischer Philosophie. Genauer gesagt, gab es in den vergangenen drei Jahrzehnten eine große Ausbreitung philosophischer Detailuntersuchungen zu speziellen Fragen wie ökonomische Gerechtigkeit, soziale Wohlfahrt, Ökologie, Abtreibung, Bevölkerungspolitik, militärische Verteidigung usw. Die Wende der Philosophie von global-generellen und weitreichenden Fragen zu enger fokussierten Detailuntersuchungen mikroskopisch kleiner Themen wurde ein besonders auffälliges Merkmal amerikanischer Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg. Und der florierende Gebrauch der Fallstudienmethode in der Philosophie ist ein bemerkenswertes Phänomen, das sich kein Philosoph als eigenes Verdienst anrechnen kann – einem zeitgenössischen Beobachter scheint es wie der vorherrschende spontane Ausdruck des Zeitgeistes. Philosophische Untersuchungen machen immer umfassenderen Gebrauch von der formalen Maschinerie der Semantik, Modallogik, Kompilationstheorie, Lerntheorie usw. Immer schwereres theoretisches Rüstzeug wird an immer kleinere Problemfälle so herangetragen, dass Zeitschriftenleser sich von Zeit zu Zeit wundern müssen, ob das wichtige Prinzip aus dem Blick geraten ist, technische Einzelheiten nie über das Notwendige hinaus auszudehnen. Die Themenausweitung ist ein weiteres beachtenswertes Merkmal partikularistischer Philosophie der Nachkriegsepoche. Die Seiten ihrer Zeitschriften und Programme ihrer Konferenzen strotzen vor Diskussionen über Fragen, die Philosophen aus früheren Tagen und heutigen andernorts bizarr vorkommen müssen. Das Gesamtprogramm des Jahrestreffens der Eastern Division of the American Philosophical Association im Dezember 1991 führte u. a. folgende Texte auf: „Ist es gefährlich, Menschenrechte zu entmystifizieren?“, „Differenz und Widerstreit bei Derrida und Lyotard“, „Tierrechts-Theorie und die Abwertung von Säuglingen“, „Über die ökologischen Konsequenzen der Alphabetisierung“, „Ist Polygamie guter Feminismus?“, „Die Ethik des freien Marktes“, „Planetarische Projektion des multiplen Selbst in Filmen“, „Der moralische Kollaps der Universität“ und „Die Konstruktion weiblicher politischer Identitäten“.3 Ganze Berufsgesellschaften haben sich der

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Untersuchung von Fragen gewidmet, die jetzt als philosophisch erachtet werden, jedoch eine Generation zuvor von niemandem auch nur im Traum dafür gehalten worden wären. (Einige Beispiele sind die Gesellschaften für Maschinen und Mentalität, für informelle Logik und Kritisches Denken, für die Erforschung von Ethik und Tieren, für Philosophie und Literatur, für Analytischen Feminismus und für die Philosophie von Sex und Liebe.) Diese Themenausweitung spiegelte sich in einer Revolution der Struktur der Philosophie selbst, nämlich in der taxonomischen Komplexifizierung, welche die Entfaltung philosophischen Forschens und Schreibens nach dem Zweiten Weltkrieg charakterisiert. Spezialisierung und Arbeitsteilung begannen Amok zu laufen und der häusliche Elfenbeinturm war an der Tagesordnung. Die Situation ist inzwischen so komplex und diversifiziert, dass das umfassendste Philosophielexikon neueren Datums4 vorsichtig davon Abstand nimmt, überhaupt irgendeine Taxonomie der Philosophie zu bieten. (Dieses Phänomen erklärt zu einem Gutteil, warum niemand eine umfassende Geschichte der Philosophie geschrieben hat, die bis zur derzeitigen Philosophielandschaft reicht.5) Philosophie, die aufgrund von Berufung und Tradition eine Integration von Wissen sein sollte, ist selbst in zunehmendem Maße desintegriert. In der Tat übersteigt das Wachstum der Disziplin alle Grenzen des für einen einzelnen Verstand Erfassbaren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es für Philosophen buchstäblich unmöglich, mit dem, was ihre Kollegen schrieben, auf dem Laufenden zu bleiben. Denn es kann keinen Zweifel geben, dass die wachsende Technisierung der Philosophie um den Preis ihrer größeren Zugänglichkeit erreicht wurde – in der Tat selbst um den der Zugänglichkeit für die Mitglieder der Zunft. Kein einzelner Denker beherrscht die gesamte Spannbreite des Wissens und der Interessen, welche die heutige Philosophie charakterisiert, und tatsächlich ist kein einzelner Fachbereich groß genug, unter den Mitgliedern seiner Fakultät Spezialisten für jedes Teilgebiet des Faches zu haben.

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6. EINE VISION VON GANZHEIT Aufgrund seiner Fragmentierung und Harmonielosigkeit waren jedoch viele Leute mit diesem neuen Zustand unzufrieden. Und so traten wieder Philosophen in den Vordergrund, die sich um den Gesamtzusammenhang bemühten und nach einer Vision von Ganzheit sehnten. Wie in der Kleidung oder bei Frisuren kommen und gehen auch intellektuelle Moden. Sie gehen ihren Gang und werden von etwas anderem ersetzt, etwas Unerwartetem, weil im Wesentlichen Unvorhersehbarem. Denn in Bezug auf einzelne Akzente und Tendenzen herrscht das Gesetz des schwingenden Pendels vor: Einer Bewegung zu einem Extrem folgt eine zum gegenüberliegenden, wobei einer Aktion in die eine Richtung eine Reaktion in die andere folgt. Und häufig ist die Reaktion eine Überreaktion. All das trifft für intellektuelle Bewegungen genauso zu wie anderswo – in Fragen von Stil, Politik, oder was auch immer. Dieser Prozess und dieses generelle Prinzip alles Menschlichen kommen auch in Hinblick auf unsere gegenwärtige Fragestellung ins Spiel: Die Hingabe, mit der Philosophen sich partikularistischen Belangen während der Epoche der „Nachkriegsgeneration“, zwischen 1945 und 1975 widmeten, führte – wie wir gesehen haben – zu einem Fokus auf Fallstudiendetails, auf konkrete Einzelheiten, auf diskrete, begrenzte, mehr oder minder technische Fragen. Diese Beschäftigung mit partikularistischem Detail machte viele Nachdenkliche jedoch zutiefst unzufrieden. Man sehnte sich nach einer Erneuerung der Leibniz’schen Vision einer Sorge um die synthetische, integrative und holistische philosophische Grundhaltung – letztendlich einer, die, trotz all der einzelnen Bäume, eine Sicht auf den ganzen Wald erlaubt. Und so zeigte das frühere Interesse an System, an Synthese, an Integration, insgesamt an einem Ansatz, der holistisch und nicht partikularistisch ist, Anzeichen eines Comebacks. Die Verpflichtung zum System – dazu Dinge im Ganzen zu sehen – war in der Philosophie niemals vollkommen verlorengegangen. Wie unmodisch unpopulär sie auch immer für eine Zeitlang sein mag, nie ist sie einfach verschwunden. Sie zieht sich durch die Geschichte moderner Philosophie von Leibniz bis Hegel, Lotze, Peirce, sucht sogar in der feindlichen Umgebung des 20. Jahrhunderts solche

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ausgezeichneten unmodischen Philosophen wie Ernst Cassirer und A. N. Whitehead heim. Als der Zwischenkriegsnegativismus noch weiter in die historische Vergangenheit entschwand, betrachteten junge Philosophen das Projekt der Systematisierung mit wachsendem Wohlwollen. Es wuchsen so viele Bäume, dass das Interesse, den Wald in den Blick zu bekommen, wiedererwachte. Systematisierung erfuhr eine Renaissance. 7. DIE NEUE TAGESORDNUNG: EINE RENAISSANCE SYSTEMATISCHER PHILOSOPHIE Sicher, die Aufgabe, mit der das Projekt philosophischer Systematisierung in der heutigen Fin-de-siècle-Epoche konfrontiert ist, ist etwas eindeutig Neues und Anderes. Das frühere Vertrauen in monolithische Kernprinzipien kann nicht bewahrt werden; es gibt kein Zurück zu den simplifizierenden Systematisierungen vom Anfang des Jahrhunderts. Insbesondere muss die Ära formelhafter Philosophie der Vergangenheit angehören. Die griffigen und bei Autoren von Hand und Lehrbüchern so beliebten „Höchstens-25-Wörter“-Definitionen sind nicht mehr brauchbar. Formeln wie „Wahrheit ist Korrespondenz mit der Wirklichkeit“, „Gerechtigkeit besteht darin, so zu handeln, dass das größte Gut für die größte Zahl geschaffen wird“ oder „Wissen ist wahrer gerechtfertigter Glaube“ können der heutzutage anerkannten Komplexität der relevanten Themen nicht gerecht werden. Was in Erscheinung getreten ist – klar und für alle zu sehen –, ist eine neue Art und Weise komplexer Systematisierung, die einer Epoche der Komplexität angemessen ist. („Komplexe Systeme für ein komplexes Zeitalter lautet nun die methodologische Losung.“) Und obwohl der momentane Stil des Philosophierens mit einer Rückkehr zu systematischen Belangen beschäftigt ist, ist dies eine Rückkehr ganz besonderer Art. Denn das Stadium gegenwärtiger Philosophie weist charakteristische Merkmale auf, die sie von den Abenteuern der Systematisierung unterscheiden, welche die Landkarte des Philosophierens im 19. Jahrhundert charakterisierten. Sein Auftauchen in einer Epoche des Partikularismus ist verbunden mit einer Sorge ums Detail – einem Interesse daran. sich mit triftigen Auffassungen von Analyse und Argumentation zu befassen. Er

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trachtet danach, die Sorge um minutiöse Analyse und konkrete Fallstudien zu verknüpfen. Aber er sieht diese nicht länger als Selbstzweck, sondern vielmehr als Bausteine für jene umfangreichen Systematisierungen, die er anstrebt. „Bedeutungsvolles Detail, bedeutungsvoll integriert“, lautet noch eine weitere methodologische Vorschrift der Philosophie neuen Stils. Denn es ist eine Tatsache: Die Komplexität, mit der wir im gesamten Bereich der Nachforschung konfrontiert sind, bedeutet für die gegenwärtige Situation der Philosophie, dass befriedigende Systeme nicht länger einem einzelnen Geist entspringen können wie Athene dem Zeus: Die Problemsituation, mit welcher die Philosophie ringen muss, ist in Umfang und Komplexität so weit gewachsen, dass die angemessene Systematisierung jenseits des Vermögens irgendeines einzelnen liegt. Auf der Tagesordnung steht die vereinte Zusammenarbeit und Bildung von Schulen und Zirkeln. Ein weiteres Mal schaffen Philosophen komplexe Systeme. Aber sie machen das multilateral und kollektiv, etwa in der Art, wie Ameisenhügel durch die Plackerei vieler einzelner Ameisen erschaffen werden. Jeder Arbeiter trägt ein kleines Stückchen zu einer größeren Leistung bei. Die Entwicklung dieses neuen Stils des Philosophierens, der gekennzeichnet ist durch komplexe Systeme, ist schon in vollem Gange. Das wird jedoch leicht übersehen. Denn die Geschichte der Philosophie hat uns an eine Perspektive auf „große Denker“ gewöhnt, und auf dieser Basis hat es sich eingebürgert, nur in den Schriften irgendeines großen Neuerers nach Neuem zu suchen. Aber in der gegenwärtigen Situation werden wir uns vielmehr mit diffusen Denkbewegungen oder -schulen, denn mit stellaren Individuen beschäftigen müssen. Ferner verlangt die Aufgabe der Komplexitätsbewältigung nach neuen Modi der Darlegung – und neuen Arten des Lehrens und Lernens in deren Gefolge. Ein markantes Anzeichen dafür ist das Ableben des monographischen Lehrbuches. Einzelne Texte und Abhandlungen können die gegenwärtiger Philosophie eigene Vielseitigkeit nicht länger angemessen erfassen. An deren Stelle ist die Darstellung durch Anthologien getreten. Häufig schaffen Philosophielehrer heutzutage mittels Literaturlisten auch einfach Do-it-yourself-Anthologien. (Wenn der Kopierer noch nicht existierte, müsste man ihn nun erfinden.)

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Die Komplexitätsexplosion, welche die zeitgenössische Philosophie kennzeichnet, hat jedoch eine ausgesprochen problematische Konsequenz: Philosophische Autoren haben zwar immer noch ein Publikum, dieses ist aber auf Kollegen – und möglicherweise noch eine Handvoll anderer Akademiker – beschränkt. Philosophie ist nicht länger eine Quelle breiten kulturellen Einflusses. Der „gebildete Laie“ ist darauf vorbereitet, ein wegbereitendes Buch zu lesen, nicht jedoch darauf, weitschweifige Literatur zu meistern. In der jetzigen Situation mag die Fachphilosophie immer noch in der Lage sein, einigen Einfluss in der akademischen Welt auszuüben, sie ist aber – mit welchen Folgen auch immer – nicht länger eine Macht auf dem öffentlichen Marktplatz der Ideen. Philosophen (und geisteswissenschaftliche Akademiker generell) spielen heutzutage eine stark verminderte Rolle in der Formierung einer „informierten öffentlichen Meinung“ – diese Rolle haben großenteils Publizisten, Filmemacher und Talkmaster übernommen. Mag dies sein, wie es will, das neue Interesse daran, einen holistischen Ansatz mit einer partikularistischen Sorge ums Detail zu verbinden, führte die Philosophie – oder eher das Philosophieren – dazu, sich in eine neue Richtung zu entwickeln. 8. DIE GEGENWÄRTIGE SITUATION Lehrreich ist es, im Lichte dieser Überlegungen einen genaueren Blick auf die gegenwärtige Situation der Philosophie zu werfen. Denn das Auftauchen des neuen Typus mikrosystematisierenden Philosophierens hat eine beträchtliche Veränderung im Wesen des Unterfangens verarbeitet. Zum einen hat die neu entdeckte Bedeutung des Details durch die üblichen Prozesse der Spezialisierung und Arbeitsteilung eine Unmenge an Detailkrämern hervorgebracht. Es war einmal. da dominierte auf der philosophischen Bühne eine kleine Handvoll Großer, und was sie schufen, war die Philosophie des Hier und Jetzt. Man bedenke zum Beispiel die deutsche Philosophie im 19. Jahrhundert. Wie der Staat selbst bestand auch die philosophische Landschaft in einer Anhäufung von Fürstentümern – in denen solch maßgebende Persönlichkeiten wie Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Schopenhauer und eine große Anzahl weiterer philosophischer

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„Prinzlein“ präsidierten. Aber nun gehört dieses „heroische Zeitalter“ der Philosophie der Vergangenheit an. Der Umfang. in dem gegenwärtig fachlich solide und bedeutende Arbeit von Akademikern außerhalb des Rampenlichts der Öffentlichkeit geschaffen wird, ist nicht in ausreichendem Maße anerkannt. Sei’s wie es sei, im späten 20. Jahrhundert sind wir in eine neue philosophische Epoche eingetreten, in der nicht nur eine dominante philosophische Elite zählt, sondern eine Unmenge geringere Sterblicher. Auffällig an Fürstentümern ist somit lediglich ihr Nichtvorhandensein – die Landschaft ähnelt eher dem mittelalterlichen Europa: einer Ansammlung von Adelssitzen. Hierhin und dahin auf gesonderte Schlösser verteilt, gewinnt eine berühmte Einzelperson eine begrenzte Gefolgschaft loyaler Freunde oder Feinde. Aber niemand unter den akademischen Philosophen von heute bringt es fertig, seine Agenda mehr als einem einzigen Bruchteil der größeren, intern diversifizierten Gemeinschaft aufzuerlegen. Wenn man bedenkt, dass allein in Nordamerika um die „10.000 Berufsphilosophen“ am Werk sind, ist sogar der einflussreichste der zeitgenössischen amerikanischen Philosophen nur noch ein weiterer – etwas größerer – Fisch in einem dichtbevölkerten See. Und in der Tat sind diese größeren Fische untypisch für den See. Man bedenke die Situation in den USA. Fragen der Philosophiegeschichte beiseitegelassen, sind einige der markanten Themen und Probleme, mit denen nordamerikanische Philosophen zur Zeit ringen: nicht-klassische Logiken (modal, mehrwertig, „fuzzy“, „paraconsistent“ usw.); Wahrheit und Bedeutung in Mathematik und formalisierten Sprachen; Computerfragen: Künstliche Intelligenz, „Können Maschinen denken?“, die Epistemologie der Informationsverarbeitung; das Wesen physikalischer Wirklichkeit im Lichte moderner Physik (Relativität, Quantentheorie, Kosmologie usw. ); Rationalität und ihre Verästelungen in praktischen und theoretischen Kontexten; soziale Implikationen medizinischer Technologie (Abtreibung, Euthanasie Recht auf Leben, medizinische Forschungsfragen, Einverständnis auf Basis ausreichender Information); feministische Fragen in der Ethik, der Wissenschaft, bezüglich der Sozialordnung usw.; soziale und ökonomische Gerechtigkeit, distributive Verfahren, Chancengleichheit,

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Menschenrechte; angewandte Ethik: ethische Fragen im Beruf (in Medizin, Wirtschaft, im Recht usw.) Verdienst und Verschulden von Skeptizismus und Relativismus hinsichtlich Wissen und Moral: das Wesen des Menschseins und die Rechte und Pflichten von Personen. Keines dieser Themen ist durch irgendeinen bestimmten Philosophen auf die gegenwärtige Tagesordnung gesetzt worden. Keines ging aus einer Beschäftigung mit grundlegenden Gesichtspunkten oder einem schon wohletablierten Thema hervor. Keines ergab sich aus einem bestimmten philosophischen Text oder einer bestimmten philosophischen Diskussion. Sie gediehen wie die Blätter eines Baumes in der Frühlingszeit, traten unter der gestaltenden Triebkraft des Zeitgeistes oder gesellschaftlichen Interesses an verschiedenen Orten zugleich auf. Es macht das Wesen gegenwärtiger Philosophie aus, dass neue Ideen und Tendenzen vorrangig nicht wegen des großen Einflusses irgendeines spezifischen Mitwirkenden bekannt werden, sondern aufgrund der unzusammenhängenden Anstrengungen einer Unmenge von Forschern, die über ein weites Feld individueller Bemühungen verteilt arbeiten. Philosophische Innovation ist heutzutage im Allgemeinen nicht die Antwort auf die vorherrschenden Bemühungen wegbereitender Individuen, sondern eine genuin gemeinsame Anstrengung, die am besten statistisch beschrieben werden kann. Vor einem Jahrhundert beklagte der Historiker Henry Adams das Ende der Vorherrschaft des Großen und Guten in der amerikanischen Politik und das Auftauchen einer neuen, auf der Vorherrschaft von Massen und deren häufig selbsternannten und im Allgemeinen plebejischen Repräsentanten basierenden Ordnung. Die Kontrolle der politischen Angelegenheiten der Nation ging von den Händen einer kulturellen Elite in die der wenig imposanten, obgleich lauten Wortführer der gesichtslosen Massen über. Kurzum: Die Demokratie war auf dem Vormarsch. Genau die gleiche Transformation von der Überlegenheit großer Persönlichkeiten zur Vorherrschaft von Massenbewegungen ist jetzt, einhundert Jahre später, die etablierte Situation, sogar in einem so intellektuellen Unterfangen wie der Philosophie. In ihrer gegenwärtigen Konfiguration spiegelt die amerikanische Philosophie den „Aufstand der Massen“ wider, den Ortega y Gasset als charakteristisch für unsere Epoche ansah. Dieses

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Phänomen zeigt sich nicht allein in Politik und Gesellschaft, sondern sogar in der intellektuellen Kultur, einschließlich der Philosophie – dort, wo Ortega selbst es nicht erwartet hat.6 Denn Ortega stellte sich intellektuelle Kreativität als die Arbeit einer kleinen und erlesenen Gruppe vor, von der die Massen auf ewig ausgeschlossen sind und gegenüber der sie sich entfremdet fühlen. Die Ausbreitung von Wohlstand und Bildung in unserem Jahrhundert hat die Basis kreativer intellektueller Anstrengungen jedoch über die Vorstellungen irgendeiner früheren Epoche hinaus ausgedehnt. Deshalb wuchs in der Nachkriegszeit die Bedeutung intellektueller und ideologischer Oligarchien zunehmend. Heute ist die amerikanische Philosophie eine Angelegenheit von Trends und Moden, die von gewichtigen Kundenkreisen ausgelöst werden, die ihrer eigenen Wege gehen, ohne von Individuen geführt zu werden, welche die Agenda kontrollieren. Diese gegenwärtige Situation könnte ein Zyniker als Sieg der Troglodyten über die Riesen beschreiben.7 Das Resultat ist ein Zustand, der eher eine Beschreibung auf statistischer als auf biografischer Basis erfordert. (Es mutet ironisch an, die Partisanen der political correctness in der akademischen Welt die Philosophie gerade in jenem Moment als elitäre Disziplin verdammen zu sehen, in dem die Berufsphilosophie selbst elitärem Denken entsagt und es geschafft hat, sich zu einem allen offenen Unterfangen zu machen. Die amerikanische Philosophie hat nun, die elitäre Tradition gut und gern hinter sich gelassen.) Insofern diese Sichtweise richtig ist, ergeben sich für die zukünftige Geschichtsschreibung gegenwärtiger Philosophie gewisse weitreichende Implikationen. Denn sie markiert eine Situation, die kein Philosophiehistoriker bisher bewältigt hat. In der „heroischen“ Epoche der Vergangenheit konnte er sich problemlos auf die dominanten Persönlichkeiten eines Orts- und Zeitabschnitts konzentrieren und erwarten, auf diese Weise eine gewisse Vollständigkeit in Hinsicht auf das, „worauf es wirklich ankommt“, zu erzielen. Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Epoche ist solch ein Ansatz aber vollkommen ungeeignet. Jene „dominanten Persönlichkeiten“ haben die Kontrolle über die Agenda verloren. Um sich den vorherrschenden Gegebenheiten anzupassen, muss die Geschichte zeitgenössischer Philosophie in einer statistisch formulierten Gesamtdarstellung präsentiert werden. Und insofern

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einzelne Individuen als solche behandelt werden, muss das vor solch einem erweiterten Hintergrund getan werden, denn sie fungieren eher als repräsentative denn als determinative Persönlichkeiten: Der einzelne, für die historische Erwägung ausgewählte Philosoph fungiert in der Regel lediglich noch als Beispiel (Illustration) für einen größeren Trend. Hinsichtlich dieser gegenwärtigen Struktur steht der Philosophiehistoriker dementsprechend einer Selektionsaufgabe gegenüber, die in Wesen und Reichweite gänzlich von der verschieden ist, mit welcher er ehedem konfrontiert war. Die Rolle des einzelnen wird in der Geschichtsschreibung der Zukunft wieder Gegenstand einer Fußnote sein – illustrativ für die verschiedenartigen allgemeinen Trends und Tendenzen des Denkens, mit welchen sich der Text hauptsächlich zu befassen hat. Und so zeigt sich die Philosophie am Ende des Jahrhunderts in einem ganz anderen Gewand. Einmal mehr sind ihre Interessen und Bestrebungen traditionalistisch und systematisch; wieder ist sie damit beschäftigt, die klassischen großen Fragen der traditionellen Philosophie in einer detaillierten, umfassenden und systematischen Art und Weise zu untersuchen. Sie ist jedoch nicht länger ein intellektuelles Unterfangen vom Typus „großer Denker, großes System“, wie es uns aus der klassischen Tradition geläufig ist. Auf der Tagesordnung steht nun die spontane und lokale Zusammenarbeit vieler, die sich distributiv großen und komplexen Projekten zuwenden. Und in jedem Bereich der Philosophie ist eine Literatur von unermesslichem Ausmaß und unermesslicher Komplexität entstanden, deren Beherrschung jenseits der Auffassungsgabe eines einzelnen liegt. Und dies ist nicht notwendigerweise etwas Schlechtes. Wo steht schließlich geschrieben, dass philosophische Systeme kompakt sein müssen und nur von wenigen Auserwählten erschaffen werden können – dass es keine gemeinsamen intellektuellen, kulturellen und wissenschaftlichen Projekte und Standpunkte geben kann. In Wirklichkeit ist gegenwärtiges Philosophieren ausgerichtet auf eine unkoordinierte programmatische Einheit, die sich spontan über eine Arbeitsteilung in Detailfragen legt. Heutzutage ist Philosophie eine spontane und lokale Zusammenarbeit von Denkbewegungen und schulen. Sie gleicht nicht Fahrbahnen, die von einem einzelnen

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Ingenieur entworfen wurden, sondern Pfaden, die viele erschufen: Jeder geht auf dem in Frage stehenden Terrain seiner eigenen Wege. Wie wird die Philosophie des nächsten Jahrhunderts aussehen? Ein berühmter Jazz-Musiker wurde einmal gefragt: „Wohin geht’s mit dem Jazz?“ Er antwortete: „Wenn ich das wüsste, wären wir schon da.“ Während es in der Tat letztlich unmöglich ist zu sagen, was die Philosophen der Zukunft erschaffen werden, so ist es jedoch möglich, eine plausible Mutmaßung darüber anzustellen, wie sie es erschaffen werden. Es ist wahrscheinlich, dass sie ungefähr auf die gleiche Weise wie momentan verfahren werden – mit der gleichen Art spontaner und lokaler Zusammenarbeit, die wir zurzeit erleben. Auf lange Sicht ist es unwahrscheinlich, dass Philosophen den Traum systematischen Verstehens und holistischen Erkennens gänzlich aufgeben werden. Trotzdem ist es äußerst unwahrscheinlich, dass es eine Wiederaufnahme der anspruchsvollen Systematisierungen durch einzelne Autoren geben wird, durch die das philosophische Schaffen der Vergangenheit gekennzeichnet war. Heutige Systematiker können das nicht länger alleine bewältigen. Sie müssen sich darauf verlassen, Mitarbeiter unter ihren Kollegen zu finden. In dieser Hinsicht gibt es einfach kein Zurück.8 ANMERKUNGEN 1

Im Original deutsch (Anm. d. Übers.).

2

In der 11. Ausgabe der Encyclopedia Britannica (1911) ist die Physik als eine Disziplin beschrieben, die sich aus 9 Teilbereichen zusammensetzt (z. B. „Akustik“ oder „Elektrizität und Magnetismus“), die selbst wieder in 20 Spezialgebiete aufgeteilt sind (z. B. „Thermoelektrizität“ oder „Himmelsmechanik“). Die 15. Ausgabe der Britannica (1974) teilt die Physik in 12 Teilbereiche, deren Spezialgebiete scheinbar zu zahlreich für einen Überblick sind. (Die 14. Ausgabe von 1900 enthielt jedoch einen ganzen Artikel mit dem Titel „Physik. Artikel über“, der mehr als 130 Spezialthemen in diesem Fach aufführte.) Als die National Science Foundation ihre Bestandsaufnahme physikalischer Disziplinen zusammen mit dem National Register of Scientific and Technical Personnel 1954 herausbrachte, teilte sie die Physik in 12 Teilbereiche mit 90 Spezialgebieten. Bis 1970 hatten diese Zahlen sich auf 16 resp. 210 erhöht.

3

Proceedings and Addresses of the American Philosophcal Association 65. 2. 13–41.

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ANMERKUNGEN 4

Paul Edwards (ed.). The Encyclopedia of Philosophy. London/New York, 1967.

5

John Pussmore’s Recent Philosophers (La Salle 1985). ist von dem, was es gibt, „am nächsten dran.“ Aber dieser exzellente Überblick erkennt – wie schon der Titel andeutet – keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Etwas weiter in diese Richtung ging eine frühe, von mehreren durchgeführte Erhebung, die für das steht, was man an Qualität und Quantität erhoffen darf: Roderick M. Chisholm u. a. Philosophy: Princeton Studies of Humanistic Scholarship in America. Englewood Clins 1964. Dieses Buch bezeugt jedoch nicht nur die Fragmentierung des Faches, sondern vermittelt auch vom Vorwort an den defätistischen Vorschlag, dass – welch größere Lehren auch immer aus einer historisch angelegten Untersuchung der tatsächlichen Mannigfaltigkeit der gegenwärtigen Situation gezogen werden können – sie dazu vorherbestimmt sind, im Wesentlichen im Auge des Betrachters zu liegen.

6

„Die Philosophie braucht weder Schutz noch Beachtung, noch Sympathie von der Masse. Sie pflegt mit Recht den Anschein ihrer völligen Nutzlosigkeit.“ In: Ortega y Gasset, José. Der Aufstand der Massen. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3. Stuttgart 1978, 68.

7

Der Hauptherausgeber einer erstklassigen Erhebung der amerikanischen geisteswissenschaftlichen Gelehrsamkeit schrieb im Vorwort zum Band über Philosophie: „Nicht viele der auf diesen Seiten aufgeführten Namen sind als die großen intellektuellen Führungspersönlichkeiten erkennbar und viele sind selbst einem alten akademischen Hasen wie mir, der eine leidliche Kenntnis der Geisteswissenschaften in Amerika hat, unbekannt.“ (Richard Schlatter in: R. Chisholm u. a. Philosophy, a. a. O.)

8

Aus dem Amerikanischen von David Strecker.

ANHANG

XV PRAGMATISCHER IDEALISMUS ODER IDEALISTISCHER PRAGMATISMUS? EIN INTERVIEW NICHOLAS RESCHER interviewt von HANS-PETER KRÜGER

K

rüger: Sie gehören nach dem Zweiten Weltkrieg zu den äußerst wenigen Philosophen, die noch den Mut hatten, ein System der Philosophie auszuarbeiten. Nachdem es üblich geworden ist, Philosophie als eine Art Patchwork der Kritik an Systemen zu betreiben, muss Ihr Einsatz als höchst altmodisch erscheinen, obwohl er bei den Patchworkers auch Dankbarkeit darüber hervorrufen sollte, dass Sie einen neuen Stofflappen für deren Flickschusterei anbieten. Rescher: Insofern bin ich doch verdientermaßen altmodisch! Ich verstehe meine Art von Pragmatismus als Funktionalismus. Die Inspiration durch vor allem Leibniz wurde wohl spätestens seit meiner Kohärenztheorie der Wahrheit (1973) deutlich. Leibniz kam zur Philosophie eine Generation nach der Bilderstürmerei des Cartesianismus-, ich – mit Verlaub – nach der des logischen Positivismus. Krüger: In den letzten Jahren haben Sie Ihr System in der Gestalt der Trilogie A System of Pragmatic Idealism, die von der Erkenntnistheorie und Epistemologie über eine normative Theorie evaluativer Rationalität bis zu metaphilosophischen Untersuchungen des Philosophierens selbst reicht, zusammengefasst. Schon der Titel Ihres Systems verspricht einen transkontinentalen Brückenschlag zwischen Europäischem Idealismus und Amerikanischem Pragmatismus. Im Nachhinein könnte es den Anschein haben, als hätten Sie dreißig Jahre lang in über 50 Büchern Stein auf Stein

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gesetzt, um zielstrebig diesen Systembau im Sinne eines kohärenten Gedankengebäudes zu errichten? Rescher: Nein, dieses System hat sich in gewisser Weise von selbst geschrieben. Ich war nicht sein Designer, sondern habe zunächst zu ganz verschiedenen Themen in der Philosophie und ihrer Geschichte gearbeitet. Krüger: Zum Beispiel über die Geschichte der arabischen Logik, über Induktion oder über Fragen der Verteilungsgerechtigkeit im modernen Wohlfahrtsstaat schon vor 1968. Rescher: Ja, und dann entdeckte ich plötzlich, dass solche verschiedenen Dinge zusammenpassen und eine gemeinsame Geschichte erzählen, die einen kohärenten Sinn ergibt. Je mehr mir dies bewusst wurde, desto mehr Aufmerksamkeit habe ich darauf verwandt, die Verbindungen auszuarbeiten. Aber dies gelingt mit Bewusstsein nur graduell und in dem Maße, in dem sich die Verbindungen bereits umrisshaft in den vorangegangenen Studien zu erkennen gaben. Krüger: In Ihrer Mid-Journey. An Unlinished Autobiography (1983) räumten Sie aber doch einen Zusammenhang der Entdeckung des systematischen Sinns Ihrer Arbeitsgebiete mit dem zeithistorischen Kontext des politischen Umbruchs von 1968 ein. Rescher: Ja, diese Periode hatte bestimmt einen Einfluss auf meine Arbeit, aber was kann hier Einfluss heißen? Ich war keine Tabula rasa. Durch 1968 wurde ich gewiss dazu veranlasst, in weit größerem Maße über soziale und politische Aufgaben nachzudenken, als ich dies zuvor getan hatte, aber ich hatte mich eben schon früher mit distributive justice und welfare beschäftigt. Kein Philosoph entflieht seiner Zeit, aber die Zeit als solche gibt nicht vor, worauf man nur selbst kommen kann, eben auf den systematischen Blick von der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie mit allen möglichen technischen Details bis hin zu Wertfragen. Ich glaube, es handelte sich eher um eine Art Freudscher Entwicklung von innen heraus, als umgekehrt um einen kulturellen

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und sozial-politischen Einfluss von außen. Zu meiner Vorgeschichte, 1968 zu erleben, gehörte ja, dass Kurt Baier und ich in den frühen 60er Jahren ein Projekt zur Wertetheorie und insbesondere zu den amerikanischen Werten verfolgt hatten. Dieses Projekt hatte sich der Spannung von der philosophischen Wertlehre über die Frage des Zusammenhangs zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik bis hin zur Ökonomie und sozialpolitischen Verteilungsproblemen zu stellen. Dieser systematische Horizont war schon da, als die Ereignisse von 1968 seine weitere Ausarbeitung immer dringlicher werden ließen und unterstützten. Krüger: Im Hinblick auf die Strukturprobleme, die Sie als Philosoph erwartet haben, konnten Sie sich also durch die Ereignisse von 1968 bestätigt und ermuntert fühlen. Aber Sie haben als Bürger parteipolitisch keinen Hehl daraus gemacht, eher auf republikanischer als auf demokratischer – geschweige im europäischen Sinne linker – Seite zu stehen. Rescher: Ja, es gibt diesen Unterschied zwischen Problemlagen, vor denen eine Gesellschaft und Kultur insgesamt stehen, und der politischen Programmatik bzw. den realen politischen Wirkungen bestimmter Kräfte. In der Geschichte gibt es oft dialektische Verkehrungen von Absichten und Versprechen. Republikanische Präsidenten können leichter etwas Liberales tun, und auch demokratische Präsidenten haben nicht selten das Gegenteil von dem getan, was sie zuvor proklamiert hatten. Krüger: Dieser pragmatische Blick aufs Tun und auf die – möglicherweise nicht intendierten – Handlungsfolgen kommt auch in Ihrem ökonomischen Zugang zum Geist, zu Wissen und Wissenschaft zum Ausdruck. Sie gehören in der amerikanischen Philosophie zu den Pionieren einer Art von Wissens- und Wissenschaftsökonomie. Gehört Ökonomie zu Ihrem Verständnis von Pragmatismus? Rescher: Ökonomie ist ein Aspekt des pragmatischen Vorgehens. Es gibt interessanterweise und seit Langem zwei Wege, die darin zu konvergieren scheinen, selbst so etwas wie den wissenschaftlichen

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Fortschritt auch ökonomisch zu sehen: den marxistischen Weg, auf dem die Ökonomie auch für die kognitive Domäne einen fundamentalen Stellenwert erhielt, und den pragmatischen Weg, auf dem die Fundierungsrolle der Ökonomie nicht übertrieben werden muss, zumindest dann nicht, wenn man wie ich die idealistischen Grenzen des Pragmatismus wertphilosophisch einhält. Offenbar brauche ich heute – nach 1989 – nicht mehr nachträglich den marxistischen Weg einzuschlagen. Man kann sachdienlich die angesprochene Konvergenz beider Wege ja auch anders herum verstehen, eben zum Pragmatismus hin: So oder so ist selbst den kognitiven Angelegenheiten, diesem traditionellen Hort des Idealismus, der fundamentale Aspekt eines ökonomischen Prozesses eigen. Ich habe versucht, diesen Aspekt in meinen Büchern über wissenschaftlichen Fortschritt und über Kognitive Ökonomie auszuführen. Übrigens erbringt die evolutionäre Epistemologie ganz ähnliche Überlegungen. Dort haben Sie das Problem der Effizienz im Gebrauch von Energie und anderen begrenzten Ressourcen und damit die Frage nach einer Ökonomie der Anstrengung, bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Je effizienter von den begrenzten Ressourcen Gebrauch gemacht werden kann, desto größer der Vorteil im evolutionären Wettbewerb. Kann man die Vielfalt der Dinge in Symmetrien vereinheitlichen, durch bestimmte Analogien von einer Situation zu einer anderen übergehen, kurzum: die Prozesse leichter kategorisieren, entstehen auch Vorteile in den Weisen der Behandlung und des Umgangs mit Dingen und Prozessen. Auch geistige Prozesse finden unter endlichen Bedingungen mit begrenzten Ressourcen statt, wodurch Effizienzprobleme entstehen. Man kommt also zur Frage der intellektuellen Ökonomie von sehr verschiedenen Seiten, weshalb dieser Fragenkomplex auch geeignet ist, verschiedene Zugänge miteinander zu verbinden. Diese Verbindung liefert für mich die Wertetheorie. Geht man die Domäne der Werte durch, kommt man auch auf die ökonomische Art von Werten wie dem Wert der Effizienz . Krüger: Mit Kant gesprochen: Sie haben am Primat der praktischen Vernunft gegenüber der reinen theoretischen Vernunft festgehalten,

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aber zu einer Zeit, in der dies in der akademisch vorherrschenden amerikanischen Philosophie kaum noch üblich war. Rescher: Ja, dies könnte so gewesen sein. Zumindest hier, im angloamerikanischen Kontext, waren damals die meisten Philosophen immer mit den Produkten und nicht mit den Prozessen beschäftigt, selbst wenn sie überhaupt diese Unterscheidung anerkannten. Es ging auch ständig eher um den symbolischen als um den ökonomischen Charakter. In der Epistemologie z. B. drehte sich alles um die Domäne jenes Wissens, das anhand der Texte analysiert werden kann, etwa im Hinblick auf Symmetrie und Einfachheit. Was Kant angeht, will ich kantianischer sein, als er selbst es war. Ich halte nicht einfach am Primat der Praxis fest, sondern tue dies in einer bestimmten Problemkonstellation. Mit der Kantschen Philosophie hat man ja das Problem, wieso die reinen apriori-Formen der Anschauung und des Verstandes, die Formen von Raum und Zeit und die Kategorien, gerade so und nicht vielmehr anders sind. Kant selbst sah keinen Weg, nochmals hinter diese Formen zurückzugehen, und es gibt dann – wohl seit Schopenhauer – in der Geschichte der Philosophie die bis heute andauernden Großprojekte, dieses Problem durch eine Naturalisierung des Kantianisimus lösen zu wollen. Fällt diese Naturalisierung nicht zu grobschlächtig aus, kann sie im Sinne der erwähnten Analogie zwischen natürlicher und ökonomischer Evolution verstanden werden. Dann wird Kants Kategorienschema zu einem Artefakt naturalisiert, das wir als eine Art Gerät benutzen, um bestimmte Dinge effizient und effektiv zu erreichen. Aber erst der amerikanische Pragmatismus hat die Idee des Primats der Praxis in die bei Kant offengebliebene Problemkonstellation wieder eingeführt, und zwar so, dass man von den praktischen Überlegungen her auch beim Problem des ökonomisch Kontrollierbaren ankommen kann. Die erwähnte Analogie ergibt sich dann aus der Idee der Praxis und nicht umgekehrt. Da andere Pragmatisten auch in andere Richtungen gelaufen sind, muss ich wohl hinzufügen, dass ich mich in dieser Hinsicht der Inspiration durch C. S. Peirce verpflichtet weiß. Krüger: Bevor wir auf Ihre Kombination zwischen Pragmatismus und Idealismus sogleich zurückkommen, sollten wir hier vielleicht Ihr

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gegenwärtiges Anliegen mit der Systemtrilogie einschalten, im Gegensatz zu Synkretismus und skeptischem Nihilismus mit der Herausforderung des Pluralismus auf rationale Weise zurechtzukommen. Rescher: Ja, die Sukzession der Rede ermöglicht nicht, alles auf einmal zu sagen, weshalb sich ein zyklisches Vorgehen empfiehlt. Pluralismus besteht zunächst einmal in dem Problem, dass es für jede – zumindest für jede interessante – Frage zwei oder mehr alternative Antworten geben kann, wobei für jede dieser Alternativen etwas spricht, sie also nicht einfach als Nonsens verworfen werden können. Diese Unvermeidlichkeit wenigstens plausibler Alternativen ist ein äußerst wichtiger Faktor in allen Lebensbereichen, im theoretischen und praktischen Leben, in der Politik, in Wertfragen. Wer diese Unvermeidbarkeit von Alternativen für die Lösung von Problemen, die für uns menschliche Wesen von Interesse sind, nicht begriffen hat, ist noch längst nicht bei der pluralen Herausforderung angekommen. In der europäischen Geschichte waren die Sophisten die ersten, die im Angesicht der bis dato akkumulierten Lehrmeinungen vorsokratischer Philosophien diese Vielfalt irgendwie Sinn machender Alternativen entdecken konnten. Aber wie nun mit dieser unvermeidlichen Pluralität von Alternativen zurechtkommen? Was an verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeiten als Theorie der Natur zählt, kann tatsächlich den Eindruck höchster Fremdartigkeit hervorrufen. Und was liegt da näher, als – so wie die Sophisten – den ganzen Versuch, die Natur zu verstehen, für vergeblich zu halten und stattdessen auf menschliche Übereinkünfte und soziale Prozesse zu setzen? Später gingen die Skeptiker, deren Zeitgenossen heute wieder viele zu werden scheinen, noch radikaler vor: Da alle diese Theorien sich gegenseitig verletzen, so der Skeptiker, können wir real nichts wissen und müssen die ganze Idee des Erwerbs wahren Wissens aufgeben. Wenn sich alle theoretischen Alternativen gegenseitig aufheben, so scheint dem Skeptiker, müssen wir überhaupt von dem intellektuellen Projekt, die Welt verstehen zu wollen, wie sie ist, ablassen. Da bleibt dann nur noch der Rückzug in das von Tag zu Tag empirisch Naheliegendste: sich ernähren und zusehen, wie es wächst, wenn noch etwas wächst. Ich habe diese Art und Weise, auf den Pluralismus zu

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reagieren, skeptischen Nihilismus genannt, und ich halte diesen für einen großen Fehler. Am anderen Ende des Spektrums der Reaktionsweisen auf den Pluralismus steht der Synkretismus, für den alle Alternativen wahr bzw. richtig sind. Wir können die Alternativen letztlich, dieser Meinung zufolge, doch nicht kontrollieren, und die Realität sei so komplex an verschiedenen Aspekten, dass jede alternative Sichtweise entsprechend richtig sei. Demnach haben wir also einen Weg zu finden, die Alternativen miteinander zu verbinden und zusammenzufassen. Diese Art von Relativismus ist noch ungewöhnlich. Üblicher ist der Relativismus, der alle Alternativen als gleichwertig nimmt, so dass es virtuell gleichgültig wird, welche wir übernehmen. Da eine Übernahme unbequeme Anstrengungen erfordern könnte, läuft auch diese Haltung praktisch darauf hinaus, sich der uns schon immer gegebenen Alternative als der nächstliegenden zu überlassen, diese Alternative sei uns durch Zufall, Kultur oder sonst etwas Bequemes vorgegeben. Demnach besteht keine rationale Wahl zwischen den Alternativen. Da wir nicht alle zugleich haben können, werden wir dem Relativismus folgend je nach Geschmack oder Gelegenheit, jedenfalls auf außerrationalem Grunde, die eine Lösungsvariante den anderen vorziehen. Diesen Relativismus kann man getrost einem komfortablen Agreement überlassen. Er ist praktisch ebenso wenig befriedigend wie der skeptische Nihilismus. Was ich sagen will: Wir haben angesichts des Pluralismus den schwierigen Weg der Ausarbeitung zu gehen, welche der Alternativen, sofern sie uns bekannt sind, unter den uns verfügbaren Ressourcen und Möglichkeiten die beste ist, oder welche dieser Alternativen in unserem Kontext im Sinne des inversen Utilitarismus wenigstens als das kleinere Übel gelten kann. Ich plädiere für eine Position, die einen verpflichtenderen Charakter hat, ohne dogmatisch zu werden, d. h. ohne die vom Dogma nicht privilegierten Alternativen von vornherein als die schlechten auszuschließen. Die Beurteilung der besseren Variante ist eine Sache des Abwägens, des Suchens und der Wahl zwischen Vor- und Nachteilen. Sie ist auch eine Art des ökonomischen Zugangs, zwischen Erträgen und Kosten unter begrenzten und zeitlich variablen Bedingungen und damit unter Risiko abzuwägen, welche der verfügbaren Alternativen nicht an sich, sondern für die Bedingungen, unter denen wir operieren, die beste ist.

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Dies ist der Weg einer vorzugsweise rationalen Wahl, deren zugrundeliegende Rationalität schon auf einem Gesicht und noch auf den Lippen nach beurteilbaren Alternativen Ausschau hält. So stellt sich wenigstens mir der Geist des nötigen Unternehmens dar. Krüger: Sie haben in Ihren Büchern wie kaum ein anderer immanent die rational-choice-Ansätze ausgereizt, darunter vor allem die Berechenbarkeit von Risiken zu urteilen und zu handeln berücksichtigt, um schließlich immer wieder vom Problem der MittelWahl philosophisch auf das Problem der Zwecksetzungen respektive Werte zurückzugehen. Wir brauchen uns hier nicht weiter mit der rationalen Wahl von Mitteln bei gegebenen Zweck- oder WertePrioritäten zu beschäftigen. Das eigentliche Problem liegt woanders. Rescher: Richtig. Krüger: Ob in Ihrer Rationalitätstheorie oder in Ihrem System, Sie fragen danach, wie Werte, eben im Plural, ihrerseits bewertet werden können, wenn sie in Konflikt untereinander geraten, also eine Präferenz oder Priorität unter den Werten selbst nötig wird. Selbst wenn wir anthropologisch annehmen könnten, dass bestimmte Werte wie Überleben oder Gesunderhaltung von allen möglichen Kulturen geteilt werden, hätten wir noch immer das Problem der den historischen Bedingungen angemessenen Interpretation eines derartigen Werts und des Konflikts mit anderen Werten. Wir menschlichen Wesen können in der Interpretation quasi anthropologischer Werte fehlen, neue Interpretationen oder Werte können generieren. Rescher: Ja, diese Fragen sind die tiefsten und interessantesten in der ganzen Werte-Domäne, und ich habe jetzt das fürchterliche Los gezogen, sie nicht alle auf einmal beantworten zu können. Aber was ich hier zunächst mit Nachdruck sagen muss, um nicht von vornherein das Thema zu verfehlen, ist Folgendes: Der Bereich der Werte ist autonom. Sie können nicht von außen hineinkommen. Der einzige Weg, einen bestimmten Wert zu evaluieren, besteht darin, ihn durch ihn selbst oder andere Werte zu bewerten. In Wertefragen ist ein

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Zirkel unvermeidbar, denken Sie an einen Wert wie Rationalität. Die Idee, Werte durch etwas fundieren zu wollen, das total von außerhalb der Werte-Domäne kommt, lässt sich m. E. nicht aufrechterhalten. Man kann in diesem Fall nur von innen ansetzen, oder es handelt sich eben nicht um die Werte-Domäne. Zweitens gibt es Werte, die wir wählen können, und solche, die uns durch unsere Lebenssituation gegeben sind. Wir können uns nicht ernsthaft dazu entscheiden, lieber als Hunde oder Katzen zu leben, wohl aber, welches Kunstgenre wir hochschätzen. Es gibt Kulturen, die ohne Romane oder Fernsehfilme auskommen, nicht aber ohne Ernährung und Kleidung. Das Ausmaß der Notwendigkeit oder Wahlmöglichkeiten ist verschieden. Wir können nicht wählen, einfach zur Zeit Napoleons leben zu wollen, aber schon leichter über den Ort unseres Lebens entscheiden. Mir ist geschehen, in Deutschland geboren worden zu sein, aber mit meinen Eltern in die USA gewechselt zu haben. Für mich wäre es heute in meiner Lebenssituation und meinem Lebensalter schon äußerst schwer, noch wirklich ein Brasilianer werden zu können, geschweige ein Japaner oder Koreaner. Es gibt Dinge, die unser Selbstverständnis und das Verständnis, das andere über uns haben, tief berühren. Unsere Lebenssituation mit all ihren Bedingungen und Umständen ist nur mehr oder minder plastisch. Sie kann in bestimmten Rücksichten diktieren, so dass ein Kampf gegen dieses Diktat nicht nur irgendeinen Preis haben wird, sondern in dem der Selbstaufgabe seine Grenze findet. Es gibt also ein Spektrum von nicht wandelbaren Werten über solche, die nur durch eine große Kraftanstrengung verändert werden können, bis hin zu solchen, die leicht verändert werden können. Die Frage des Wertewandels kann nur Werte betreffen, die wandelbar sind, was von der historischen Lebenssituation und dem ganzen Wertegefüge, in dem wir uns orientieren, abhängt. Ich sollte nicht Vorlieben für oder Vorurteile gegen gewisse Leute haben, ohne diese durch Gründe verteidigen zu können. Aber wer so spricht, gehört bereits einer Kultur an, in deren Werteschema die Rationalität tief verankert ist. Gewiss, wir können und müssen von unserer Fähigkeit zur rationalen Revision bestimmter Werte Gebrauch machen, aber diese Revision kann nur von innerhalb des Werteschemas kommen. Und da gilt es, zwischen weniger oder stärker zentralen Werten zu unterscheiden, anhand der Rahmen und Implikationen, die bestimmte

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Werte haben. Der Wertewandel kann nur von innen kommen und bei den leichter veränderbaren Werten ansetzen, um der Realisierung schwerer oder überhaupt nicht veränderbarer Werte förderlich zu sein. Krüger: Da Sie Wertefragen nur von innerhalb eines Wertegefüges, das in unserem Falle ein eurozentristisches sein dürfte, für stellbar halten, frage ich von innen nach. Vielleicht ist es ja zunächst einfach redlicher, so wie Sie den Eurozentrismus für unsereinen für unvermeidlich zu halten, statt ständig vorzugeben, man könne aus anderen Wertegefügen und für andere Wertegefüge sprechen bzw. handeln. Wahrscheinlich ist dann dieses Andere doch wieder nur etwas anderes von uns selbst. Warum also sollten wir skeptischen Nihilismus und Synkretismus vermeiden? Sie scheinen aus der unvermeidlichen Zirkularität eines Wertes wie dem der Rationalität für uns doch noch Handlungsmöglichkeiten dadurch zu gewinnen, dass Sie die Aufmerksamkeit von dem einen Wert auf ein ganzes Wertegefüge oder Werteschema verlagern, zum Beispiel auf den Wert der Theorie und auf den der Praxis für rationale Unternehmungen überhaupt. Diese Verdopplung entparadoxiert und enttautologisiert den Zirkel der Rationalität in einem Prozess mit Schleifen der Rückkopplung. Urteilsmöglichkeiten entstehen dann in einem – sagen wir – kognitiven Prozess durch relativ selbständige, wie Sie schreiben, theoretische und praktische Schleifen in diesem Prozess. Nihilismus und Synkretismus würden demgegenüber die Urteils- und Handlungsmöglichkeiten auf null bringen, den Prozess verunmöglichen. Rescher: Ja, nehmen wir den kognitiven Fall. Der Grund dafür, warum wir nicht den Weg des Synkretismus oder des Nihilismus gehen sollten, ist zweifach, teils intellektuell und teils praktisch. Das intellektuelle Projekt ist darauf gerichtet, bestimmte Fragen und Neugierden, die wir in Bezug auf die Welt haben, zu befriedigen. Wenn ich nun eine derartige Frage zur Welt stelle und mir erwidert wird, dass es ein ganzes Spektrum von Antworten darauf gibt, von denen jede letztlich ebenso schlecht wie die andere sei, ist es so, als ob ich überhaupt keine Antwort erhalten hätte. Dies ist unbefriedigend und wenig informativ. Es läuft auf eine völlige Ignoranz gegenüber

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dem, was vor sich geht, hinaus. Praktisch brauchen wir aber solche Informationen, um in der Welt navigieren zu können, um Bewegungsmöglichkeiten für uns zu eröffnen, um etwas verwerten zu können etc. Unter diesem pragmatischen Gesichtspunkt sind nicht alle Methoden der Gewinnung von Antworten gleichwertig. Es kann große Unterschiede in der Effektivität geben. Pragmatisch kann Voraussagbarkeit oder Kontrollierbarkeit relevant sein, und dies sowohl in einem naiven als auch anspruchsvolleren Sinne, etwa das Wetter vorherzusagen oder sich von Äpfeln ernähren zu können, die uns nicht umbringen. Fänden wir nicht den voraussagbaren Zusammenhang zwischen bestimmten Handlungsarten und deren Konsequenzen heraus, würde das Leben bis zur Unmöglichkeit vage und komplex. Wir würden mit Balken in unseren Augen keine Kausalkette in der Natur kontrollieren können und schon an den ersten Magenschmerzen scheitern. Wer skeptisch unsere Fähigkeit bezweifelt, etwas über die Dinge in der Welt entdecken zu können, vermeidet von vornherein den zweifellos risikovollen Prozess der Kognition, aber damit auch um den Preis, keine produktiven Resultate gewinnen zu können, weshalb ich die Skeptiker praktisch auch Risikovermeider nenne. Der Synkretismus führt strukturell gesehen zu denselben Schwierigkeiten wie der Nihilismus. Wenn eine Alternative ebenso gut ist wie die andere, kann dies pragmatisch besagen, dass keine gut ist, und darauf hinauslaufen, dass eine Alternative ebenso unhaltbar ist wie die andere. Zu einer Beurteilung der Priorität gelangt man so auf beiden Wegen nicht, weshalb ich von Indifferentismus spreche. Für Prioritätsbestimmungen muss man sich auf den Prozess der Ausführung – eingedenk abschätzbarer und wahrscheinlicher Risiken dieses Prozesses – einlassen und im Maße der Schleifen Resultate rückkoppeln, wodurch Vergleichsmöglichkeiten und damit Beurteilungsmöglichkeiten entstehen. Da die Beurteilung nicht nur die Effizienz der Mittel betrifft, sondern auch die – in Geschichten präsenten – Werte, geht es schließlich um die Schaffung einer vernünftigen Werteökonomie. In dieser kommt letztlich zum Ausdruck, welche Art von Prediger wir in der Welt sind, auf welche Weise wir mit dem Schicksal hadern.

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Krüger: Wir sind schon inmitten der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Idealismus und Pragmatismus angekommen. Der Idealismus hat historisch das Problem seiner Realisierung, sowohl in dem Sinne, dass sich eine Art idealen Überschusses nicht realisieren lässt, als auch in dem Sinne, dass seine Realisierungen zu nicht antizipierten Folgen führen, in denen er selbst sich kaum wiedererkennen dürfte, wenigstens nicht, ohne seine Form transformieren zu müssen. Es hat in den USA seit Peirce pragmatische Versuche zur Transformation des Idealismus gegeben: Welche Handlungsmöglichkeiten und Handlungswirkungen eröffnet eine Idee im zeitlichen Prozess, und wie ist mit der begrenzten Antizipierbarkeit im Entscheidungsprozess selbst umzugehen. Der Pragmatismus scheint die Realisierungsprobleme des Idealismus – Ohnmacht oder Über-Macht – in einem anthropologisch angemessenen Medium lösen zu können, wird er nicht sogleich auf Utilitarismus verkürzt. Aber selbst seine Verkürzung auf die im naheliegendsten Sinne fruchtbaren, verwertbaren oder Bedürfnisse befriedigenden Resultate nimmt eine ironische Wendung: Die Prozesse, die solche Resultate zeitigen, präsupponieren so etwas wie Ideen, Ideale oder Werte. Sind Handlungsgewohnheiten erst einmal problematisch geworden, scheint an der Wiederentdeckung des Idealismus inmitten des Pragmatismus kein Weg mehr vorbeizuführen. Regulative Ideen, Ideale oder Werte werden nicht nur aus einem Ethos und einer Moral heraus für nötig befunden. Auch die Innovationsprozesse selbst lassen – aus ihrer Pragmatik heraus – Regulativa als unvermeidlich erkennen. Regulative Ideen wie die der Wahrheit oder die des Realismus werden jetzt pragmatisch unvermeidbar, pragmatisch unausweichlich. Sie scheinen mit Ihrem pragmatischen Idealismus oder idealistischen Pragmatismus gerade in diesem Umschlag des Pragmatismus in Idealismus und des Idealismus in Pragmatismus anzusetzen. Rescher: Richtig. Der eine arbeitet den anderen aus. Der Pragmatismus ist ein Pragmatismus der pragmatisch unvermeidbaren oder der pragmatisch unausweichlichen Ideen und Werte wie der Wahrheit oder des Realismus. Der Pragmatismus benutzt die Ausarbeitung als Standard, und die Ausarbeitung muss natürlich als das Problem der Realisierung bzw. Nicht-Realisierung bestimmter

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Werte aufgefasst werden. Im Naturverständnis auf Wahrheit oder Realismus zu bauen heißt, seine Aktivitäten auf etwas auszurichten, auf das wir uns verlassen können, sowohl hinsichtlich der Überzeugungen als auch einer funktionierenden Praxis. Hätte uns die Natur wie Bienen oder Termiten ausgerüstet, hätten wir Instinkte, ein natürliches Programm, das unsere naturgegebenen Essentials sichern würde. Die Natur hat uns aber zu der davon sehr verschiedenen Leihgabe bestimmt, unseren Geist gebrauchen zu müssen, um in der Welt operieren zu können. Wir beide würden doch nicht ernsthaft hier in Ruhe weiter disputieren, wüssten wir von einer Bombe nebenan, hier im 10. Stockwerk der Cathedral of Learning von Pittsburgh. Was Menschen bewusst tun, tun sie in der Überzeugung, dass es bestimmte Konsequenzen haben wird und damit Sinn macht, auf die für sie wünschenswerteren Folgen zu achten. All dies aber, selbst das nackte Überleben, was wir essen können oder besser nicht zu uns nehmen sollten, ist uns durch geistige Vermittlung zugänglich. Wahrheit heißt, Sorge für eine bestimmte Unterscheidung unter kognitiven Alternativen zu tragen, nämlich für die Unterscheidung derjenigen Alternative, die verlässlich ist und der vertraut werden kann, von derjenigen, die besser aufgegeben oder zurückgewiesen wird. Diese Unterscheidung ist entscheidend für unsere Operabilität in der Welt. Es ist eben in dem angenommenen Falle einer Bombe nebenan nicht gleichgültig, ob wir hier sitzen bleiben oder das Haus verlassen. Unser Gespräch mag ja auch dem Wert des Realismus folgen. Aber diesem Wert entsprechend ginge pragmatisch eine entschiedene Reaktion unsererseits auf die Bombe vor. Pragmatismus ist tatsächlich auf Werte ausgerichtet, die selber mit den Umständen verbunden sind, unter denen wir uns vorfinden. – Aber Sie haben auch von einer Umkehrung oder einem Umschlag gesprochen. Krüger: Ja, zunächst einfach, um Missverständnissen vorzubeugen und Vorurteile gegen den Pragmatismus als Philosophie in Frage zu stellen. Wie auch immer Enttäuschte können die falsche Hoffnung haben, durch ihre Flucht in einen umgangssprachlich verstandenen Pragmatismus dem Problem des Idealismus entkommen zu können. Das heutige Alltagsverständnis von Pragmatismus liegt nicht ausgerechnet dem Idealismus am nächsten. Und auch die

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amerikanische Tradition pragmatistischer Philosophien weist höchst verschiedene Arten des Pragmatismus auf, von denen nicht jede mit Ihrer kritischen Würdigung der problemgeschichtlichen Tradition von Leibniz, Kant und Hegel vereinbar ist. Sie stellen zum Beispiel im ersten Band Ihrer Trilogie, angesichts der Unvermeidlichkeit des Idealismus, die Hegelian Inversion der Wahrheitsfrage heraus. Dieser Umkehrung zufolge kann nicht mehr induktivistisch aus der Akzeptabilität einer Proposition als wahr auf deren Systematisierbarkeit geschlossen werden. Vielmehr gelte die Umkehrung: Aus der Systematisierbarkeit der Proposition kann auf ihre Akzeptabilität als wahr gefolgert werden. Sie selbst haben ein solches Programm unter dem Titel des Methodological Pragmatism ausgeführt. Sie beziehen sich auch wiederholt auf Charles Sanders Peirce im Unterschied zu William James. Rescher: Richtig. In der pragmatistischen Tradition gibt es zunächst einmal zwei Lager, und ich würde mich mehr mit Peirce assoziieren. Sein Pragmatismus ist ein methodologischer, der – wenigstens in meiner Lektüre – auf die Erklärung der Gültigkeit der wissenschaftlichen Methode ausgerichtet ist, und zwar in dem besonderen Kontext, herauszufinden, wie die Dinge in der Welt arbeiten. Peirce gibt uns eine ganze Reihe von Argumenten, die grundsätzlich die pragmatische Dimension der wissenschaftlichen Methode als einer Methode der Untersuchung (inquiry) unterstützen. James ist im Vergleich mit Peirce eher ein Thesis pragmatist als ein Method pragmatist, wie ich das mal genannt habe. Womit wir laut James pragmatisch befasst werden, dies sind Überzeugungen, und Überzeugungen ermöglichen es uns, erfolgreich zu funktionieren. Um Letzteres zu bewerkstelligen, brauchen wir nicht die Idee der Wahrheit, zumindest nicht in ihrer klassischen Vorstellung. Da wir nicht herausfinden können, worin die wirkliche Wahrheit der Dinge in der Welt besteht, sollten wir James entsprechend die Idee der Wahrheit durch die Idee von Überzeugungen ersetzen, die sich auszahlen, die das ausarbeiten, was wir erfolgreich implementieren. Erfolgreiche Implementierung meint so viel wie die Befriedigung unserer Möglichkeiten, Wünsche und Begehrlichkeiten in diesem Leben. Was James im weiten Sinne für nützlich hält, schließt auch

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religiösen Glauben ein, da dieser die Gläubigen ermutige und ihnen auch in anderer Hinsicht zu mehr Selbstsicherheit verhelfe. Der Fokus von James ist die Aufgabe der Wahrheitsidee zugunsten produktiver Überzeugungen und die Öffnung der Palette solcher Überzeugungen, um vor allem die Phänomene außerhalb des Bereichs der Wissenschaft arrangieren zu können. Peirce will uns demgegenüber sagen, wie wichtig es ist, die Idee der Wahrheit zu haben, und dass sie am besten durch die wissenschaftliche Methode etabliert werden kann. Es ist nicht die Überzeugung, die etwas für gültig erklärt, sondern die wissenschaftliche Methodologie, die eine Überzeugung für gültig erklärt. James’ Nützlichkeitsbegriff führt viele Komplikationen mit sich: Im Kontext des Common Sense kann etwas anderes nützlich sein als im Kontext einer wissenschaftlichen Untersuchung. Da liegt mir Peirce viel näher: Die Schicht, die zwischen den pragmatischen Überlegungen und der Wahrheitsfrage vermittelt, ist eben gerade die Schicht der Methodologie der Untersuchung. Für Richard Rorty scheint demgegenüber James recht zu haben: Das pragmatistische Programm lade uns nicht dazu ein, so meines Wissens Rorty, die nutzlose Ornamentierung durch Wahrheit fortzusetzen, sondern dazu, viel freier in der Idee zu werden, was wir akzeptieren können oder nicht akzeptieren können, auch als wahr akzeptieren oder nicht als wahr akzeptieren können. Rorty entsprechend sollten wir das ganze Programm der Epistemologie verabschieden, das auf die Entdeckung solcher Überzeugungen abzielt, die besser als andere sind, und uns dem hingeben, worüber wir schon mehr Präferenz gemeinsam haben. Rorty läuft auf eine Art synkretistischen Indifferentismus hinaus, über den wir bereits sprachen und gegen den ich opponiere. Der Weg, auf dem ich pragmatisch verfahre, ist ein doppelter: Ich will mit Peirce pragmatische Überlegungen erhalten, nämlich als Weg, Methodologien zu unterrichten. Methodologien, die zu erfolgreich oder effizient implementierbaren Resultaten führen, stellen einen Standard dar, der allen aktuellen Alternativen überlegen ist. Und ich möchte so etwas wie den erwähnten Pragmatismus oder Utilitarismus der Werte-Domäne ausarbeiten. Es gibt fundamentale Werte, denen wir uns selbst durch unsere Situation verpflichtet vorfinden, und solche Werte, die umständehalber von pragmatischem Charakter sind. Wir haben damit zurechtzukommen, als die Art von Wesen effektiv

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und erfolgreich zu funktionieren, die wir sind und die wir nicht gewählt haben zu sein. Erst der Unterschied beider Wertearten kann uns in die Lage versetzen, wenigstens einige vergleichende Evaluationen anzustellen und dadurch auf Verlangen zu kommen, die wir nicht schon durch unsere Situation im Blick haben. Krüger: Wie ist Ihr Verhältnis zum Werk von John Dewey? Rescher: John Dewey ist komplizierter, weil er ein Thema, das auch bereits Peirce und Josiah Royce behandelt haben, einen Schritt weiterführt. Peirces Idee der Effektivität einer Methode ist auf das ausgerichtet, was auf lange Sicht in der Gemeinschaft der Untersucher geschieht, da im wissenschaftlichen Kontext die wirkliche Wahrheit nicht das ist, was wir gerade jetzt denken. Was wir aktual für wahr halten, unterliegt den möglichen Fehlern bei der Erhebung oder Auswertung der Daten, die wir für die Verteidigung unserer Methoden brauchen. Peirce bindet daher den Wahrheitsbegriff an eine idealisierte Untersucher-Gemeinschaft, deren Operationen in the long run für die Wahrheit bestimmend werden, aber in einem konjunktivischen Sinne: Eine Methode wird danach bewertet, wie sie in dieser Gemeinschaft arbeiten würde, wäre sie dort auf lange Sicht in Anwendung. Royce wechselt demgegenüber von der Orientierung an der idealisierten Scientific community zu der an der idealisierten religiös-sozialen Gemeinschaft, an einer Art katholischer Konstruktion der Stadt Gottes. Dewey schließlich will weder die wissenschaftliche noch die religiöse Gemeinschaft idealisieren. Er stellt sich der politisch-sozialen Gemeinschaft hier und heute im Vertrauen auf den Common Sense der demokratisch verfassten Community, allerdings mit einer „kleinen“ Komplikation: Es gelte nicht, diese Gemeinschaft als die zu nehmen, die wir bereits haben, sondern als die, die wir hier und heute haben könnten, wenn wir die gegebene Community einer Reform unterzögen, vor allem einer Bildungsreform, die für Dewey zentral war. Das konjunktivische Sein von Peirce wandert bei Dewey ohne the long run in die Bildungsreform für unsere Kinder, die dann die richtige Gemeinschaft, die als Architekt fungieren kann, konstituieren würden. Dies erfordert einen gewaltigen Glauben an Bildung und einen

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enormen Glauben an den demokratischen Prozess, so dass in dem gebildeten Gebrauch dieses Prozesses konstituiert werden könnte, was richtig ist. Ich halte Deweys Ansatz für ein interessantes Projekt, aber auch für ein utopisches. Wir entkommen auf keine Weise der Pluralität menschlicher Neigungen, Bedürfnisse, Interessen, Affinitäten. Gesellschaft muss an dem Menschenmaterial ansetzen, das uns die Natur wie eine Leihgabe gibt und das sich selbst wie eine Art Priester versteht. Jeder Versuch, durch Arbeit an der aktualen Gemeinschaft eine ideale Community zu verwirklichen, wird mit den alten Vagheiten konfrontiert sein, die dann auf neue Weise als neurotisch, antisozial oder verbrecherisch klassifiziert werden würden. Wer eine idealisierte Gemeinschaft will, wird sie auch in John Rawls Theorie der Gerechtigkeit finden: Worüber sich rationale Leute einigen sollten oder einigen würden, bedarf dann idealerweise der Bedingung, dass sie über ihren sozialen Standort nichts wissen. Sie würden etwas zuhöchst Künstliches kreieren. Solche Idealisierungen bewegen mich nicht sonderlich. Um also aus dieser langen – und noch viel längeren als hier dargestellten – Geschichte eine kurze Botschaft werden zu lassen: Ich verfolge ein pragmatisches Programm, das Peirce am nächsten steht, aber nicht dem Peirce der Idealisierung des in the long run. In gewisser Weise möchte ich seinen Zugang naturalisieren, will sagen: Ich gehe von einer realen Gemeinschaft wie der Scientific community aus, in der es – darüber gibt es doch gar keinen Zweifel – alle Arten von Leuten gibt, wie in jeder anderen Gemeinschaft, mehr oder minder den Aufgaben genügende, motivierte, instrumentierende etc. Natürlich kann es auch umständehalber zu Komplikationen kommen, politischen oder anderen. Aber trotz alledem gibt es in dieser Gemeinschaftsart im Großen und Ganzen eine leicht höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich unter den verfügbaren Alternativen die pragmatisch erfolgreichere durchsetzt, erfolgreich relativ zu den Aufgaben dieser Gemeinschaft. Und was sich so zunächst einmalig durchsetzt, kann sich über die Zeit zu einer gewissen Tendenz verstetigen, so dass die Community in eine Richtung driftet, in der es wahrscheinlicher wird, dass sich die Methode durchsetzt, die effektiver als die anderen – vor allem aber als meine Seele – ist. In diesem schwachen Sinne einer Dynamik, die sich intern in Gang setzt, erhält unter den methodischen

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Varianten diejenige die größere Überlebenswahrscheinlichkeit, die als die relativ rationalere gelten kann. Nur in diesem schwachen Sinne einer Tendenz höherer Wahrscheinlichkeit lässt sich die Überlegenheit der wissenschaftlichen Methode rechtfertigen, nicht aber, weil in der Scientific community an sich schon immer oder irgendwann künftig der richtige Weltgeist präsent wäre. Es geht um die tendenziell höhere Wahrscheinlichkeit der rationaleren Alternative, und diese Tendenz entsteht mit der Methode selbst, wie der Prozess einer solchen Gemeinschaft in der Zeit abläuft. Krüger: Sie sprachen vorhin von der pragmatischen Transformation oder von der Naturalisierung der Kantschen Formen a priori. Jetzt kamen Sie im Rahmen Ihrer pragmatischen Transformation auf eine gewisse Naturalisierung des Transzendentalen zurück. Ich kann einerseits verstehen, dass Sie die transzendentale Ebene zu fragen und zu antworten nicht mit dem Anspruch einer Letztbegründung versehen wollen. Es ist wohl aus der Differenz zwischen Letztbegründung und transzendentalen Bedingungen der Ermöglichung von Erfahrung die enorme Diskussion über Quasi-Transzendentalien entstanden. Andererseits soll Ihre Naturalisierung auch der kulturhistorischen Relativierung transzendentaler Formen entgegenwirken. Aber was ist dann, bei Ihrer Naturalisierung, noch idealistisch an Ihrem Pragmatismus, oder wieso vertreten Sie dann überhaupt einen pragmatischen Idealismus? Rescher: Nun, diese Frage hat verschiedene Aspekte. Dem transzendentalen Gesichtspunkt komme ich am nächsten bei ethischen Fragen, und wahrscheinlich bin ich ihm dort zugleich auch am fernsten. Ich habe diesen Begriff situationaler Imperative eingeführt: In der menschlichen Situation ist bereits eine Art von Lehrern enthalten, weil die biologische Evolution in unsere Natur so etwas wie ein Programm eingebaut hat. Wir haben eine Vielfalt von Nöten und Bedürfnissen, die wir nicht gewählt haben, die uns aber als Teil der Situation, in der wir uns selbst finden, gegeben sind. Obwohl ich von solchen situationalen Imperativen mehr einen ethischen Gebrauch mache, tauchen sie bei mir auch in epistemologischer Hinsicht auf, wenn ich z. B. Sciencefiction benutze, um zu verdeutlichen, dass von

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der Natur her anders konstituierte Wesen, die unter anderen Umständen existieren und mit einer ihnen entsprechend anderen Umwelt interagieren, auch zu einer grundsätzlich anderen Art von Kognition und Wissenschaft gelangen würden. Sofern etwas entlang dem Wissen und seinem Erwerb möglich wird, sofern etwas den Beziehungen zwischen Menschen entlang ethisch ermöglicht wird, unterhalte ich ein entspanntes Verhältnis zu einer Art von absolutem oder kategorischem Transzendentalismus. Ich möchte Transzendentalien nicht notwendigerweise relativieren, wohl aber kontextualisieren als Aspekte in unserer Situation. Ja, dies ist eine Naturalisierung der Kategorien in nach-kantischer Tradition unter dem Einfluss insbesondere darwinistischer Ideen, insofern nämlich, als es sich nach dieser Naturalisierung nicht mehr um Bedingungen der Vernunft als solcher handelt. Die evolutionäre Story beinhaltet, wie evolutionsgeschichtliche Drücke in unserer physischen und psychischen Begabung gleichsam geronnen sind, ja, wie sie erfreuend und kongenial wirken, sobald wir unsere Anlagen angemessen betätigen. Diese evolutionäre Geschichte stimmt doch mit unseren fundamentalen Verpflichtungen in ethischer und kognitiver Hinsicht überein, eben als den Aspekten unserer Situation in der Natur. Gut, es ist eher eine wissenschaftliche Geschichte als einfach eine a priori. Zumindest werden die Proponenten einer Letztbegründung sie nur für scientific halten. Sie haben die Letztbegründungen erwähnt, die für die westliche Philosophietradition seit der griechischen Antike zentral waren: Die in der Metapher der Begründung enthaltene Analogie zum Erbauen von Gebäuden, mit denen man natürlich am besten beim Fundament beginnt, scheint mir höchst gefährlich, weil irreführend. Durch diese Analogie wird eine Art von Mauerbau mitgeschleppt – freilich am besten der Mauern des Fundaments, da in der Luft nicht gut bauen ist –, von etwas Absolutem, Festem, Einsturzsicherem, Stabilem. Krüger: Luthers Ein feste Burg ist unser Gott … Rescher: … ja, von so etwas wie dem deutschen Protestantismus. Aber auch schon das griechische Modell, bei Axiomen beginnen zu müssen, die von selbst evident seien, und dann natürlich Descartes’

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Modell, bei dem anfangen zu müssen, was für den Geist klar und distinkt ist, damit dann von dort weitergebaut werden könne. Demgegenüber muss ich sagen: Wir finden uns schon immer in unserer Situation vor, die kein Gebäude ist, welches wir errichten könnten. Ich halte diese Vorstellung eines Fundaments, auf das weitere Klinker gebaut werden, für unsere Situation grundsätzlich unangemessen. Unsere ethischen Belange sind durch keine Maurerarbeit zu klären. Auch in kognitiver Hinsicht haben wir m. E. viel mehr von einem Modell zyklischer Prozesse. Das Bau-Modell verleitet zu ständigen Verschalungen, Einrüstungen, Sicherheitsbestimmungen, zu dem endlosen Streit, wer als Erster den Keller gebaut hat. Nach dem zyklischen Modell beginnen wir pragmatisch angesichts eines Problems bei der Vielfalt des Plausiblen, dem, was mehr oder minder vernünftig scheint, aber gerade kein solider Weg sein muss. So können wir erst einmal Strukturen bilden, die einen Sinn ergeben und die Analyse ermöglichen. Es gibt Stücke, die zusammenpassen, und solche, die man erst mal beiseitelegen kann, weil sie in der eingegangenen Wette kaum eine Chance haben. Die Rollenverteilung der Stücke oder Strukturen kommt im Laufe der Analyse und ist noch korrigierbar. Falls sich überhaupt sichere Grundlagen einstellen, nicht am Anfang, sondern am Ende. Im Prozess einer Untersuchung geht es weniger um Grundlagen als vielmehr um ein alternierendes Bild oder Modell davon, wie die Dinge arbeiten, wobei wir Teil dieser Interaktion in der Natur sind. Und es kommt dann auf den Zweck der Untersuchung an, ob es wichtiger ist, Technologien und bezeichnende Apparate zu entwickeln oder intellektuell die Erwartungen neu zu formieren, am besten beides im Wechselspiel. Wir instrumentieren die Welt für unsere Prozeduren der Interaktion, um Informationen zu gewinnen und Feedbacks zu erhalten. Und wenn etwas nicht funktioniert, müssen wir eben das Bild ändern. Das Modell vom zyklischen Charakter des Untersuchungsprozesses orientiert auf dieses vorläufige Probehandeln, das zwischen den funktionalen Instanzen der Datengewinnung und der theoretisch-hypothetischen Erwartungen Problemstellungen und Urteilsbildungen ermöglicht. Ich fühle mich also nicht wohl mit Grundlagen von der Sorte absoluter Sicherheiten, zu denen man auch noch einen unmittelbaren Zugang haben soll, um darauf die Strukturen

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des Wissens aufbauen zu können. Ich glaube auch nicht an absolute Kategorien, weil wir m. E. das kategorielle Bild, auf dem unsere Beschreibung der Welt beruht, zur Charakterisierung von uns selbst in der Welt entwickeln. Auch die Kategorien sind uns nicht ein für alle Mal gegeben, sondern ebenso revidierbar wie unser wissenschaftliches Verstehen der Welt selbst. Beide unterliegen dem Druck der Ereignisse, mit dem pragmatisch umgegangen wird. Wieso ist dennoch der Idealismus unvermeidlich? Weil wir in keinem Stadium dieses zyklischen Prozesses auf direkte Weise der Realität begegnen können. Wir haben es immer mit einer virtuellen Realität zu tun, mit einer Welt, die durch die uns zugänglichen begrifflichen Instrumente vermittelt ist. Und wir können nicht die reale Welt mit dem Modell oder Bild, das wir von ihr haben, identifizieren, weil wir wissen, dass es nicht korrekt ist. Wenn man überhaupt von der Wissenschaft hinsichtlich der Wissenschaft etwas lernen kann, dann dies: Die Wissenschaftler des Jahres 5000 werden unsere Wissenschaft für grundsätzlich mangelhaft halten. Es ist eine ideale und keine reale Struktur, mit der wir arbeiten, um unser Modell der Welt zu formen, in der wir leben. Aber dieser Idealismus ist – eben kraft des Pragmatismus im zyklischen Prozess – ein reiner Idealismus. Wie der Prozess selbst tatsächlich funktioniert, wird nicht durch unser Denken determiniert, sondern – der Interaktion mit der Natur entsprechend – von außen. Diese Konzession mache ich an den Realismus, aber sie hilft diesem nicht viel weiter, weil er so nur als Moment des Pragmatismus vorkommt. Es ist die Frage nach der Angemessenheit der Praxis, die letztlich die Entwicklung weitertreibt. Krüger: Wie verträgt sich Ihr Naturalismus, oder sagen wir besser: Ihr Evolutionismus mit Ihrer Teleologie der Praxis? Sie reden auf der einen Seite von evolutionären Drücken, und das hört sich alles sehr darwinistisch an. Und dann sprechen Sie gleichzeitig von Ethik und Teleologie im besten Sinne der idealistischen Tradition. Aber in einem wirklich darwinistischen Ansatz gibt es keine Teleologie! Rescher: Darin besteht Ihre Provokation: Evolution hat kein Telos! Und das ist richtig. Natürlich hat nicht Evolution als solche ein Telos, aber die Wesen, die durch sie produziert werden, die intelligenten

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Wesen haben ein Telos. Die Teleologie kommt nicht durch die biologische Evolution, durch die Natur selbst hinein, sondern durch uns, die wir, sind wir erst einmal geschaffen, nicht anders können, als von innen auf diese Formen zu sehen, aus unserer Teleologie heraus. Wir kommen – wie andere vergleichbare Lebewesen auch – nicht umhin, uns zu ernähren, uns warm und trocken zu halten, Bedürfnisse und Nöte unseres Leibes als Warnsignale, die uns die Evolution mit auf den Weg gegeben hat, ernst zu nehmen. Aber wir befinden uns gegenüber diesem Erbe in einer sehr speziellen Position: Wir haben nicht nur solche Bedürfnisse, sondern sind uns dessen auch bewusst und denken über sie nach. Andere Kreaturen erfüllen Funktionen ihres Programms, während wir mit einer Vielfalt von Alternativen zur Befriedigung unserer Bedürfnisse konfrontiert sind. Ich muss das mir nötige Essen nicht selber anbauen und kochen. Ich kann es auch kaufen oder stehlen. Unsere Weise, Bedürfnisse zu befriedigen, ist nicht mehr oder minder automatisiert vorgegeben, sondern durch das gedanklich geführte Handeln vermittelt. Wir hängen von diesen Handlungsweisen ab, um unseren Platz in der Natur ausfüllen zu können. Theoretisch wäre es natürlich möglich, dass sich Wesen, die Gedanken involvieren, als solche selbst genügen, aber in der Evolution sterben derartige Populationen aus. Dem beugt die Evolution durch Mechanismen des Schmerzes oder der Freude vor. Jedenfalls sind wir, als intelligente Wesen, unheilbar auf teleologische Projekte angewiesen, auf Projekte mit bestimmten Zwecken und Zielen, der Implementierung bestimmter Methoden etc., von Unternehmen der Landwirtschaft und Medizin, die noch nah an den nicht wählbaren Bedürfnissen dran liegen, bis hin zur Philosophie, der Dichtung und der Theaterproduktion, wo die Vermittlungen immer dichter und freier werden. Kurzum: Ja, ich vertrete eine starke Teleologie, aber nicht, indem ich sie der Natur als solcher zuschreibe, sondern indem ich zeige, wie sie unserer Natur geschuldet ist. Krüger: Wenn Sie auf diese Weise den teleologischen und den evolutionären Ansatz kombinieren, wie erklären Sie dann, dass es in der Geschichte der Menschheit Wandel, gegebenenfalls Evolution oder Entwicklung gibt, auch im Hinblick auf das Telos, wenigstens dessen historische Interpretationen?

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Rescher: Ich nähere mich Ihrer Frage erst einmal auf einem Umweg, und wir können dann weiter verfeinern. Zunächst scheint es mir doch merkwürdig, wie selten, oder dass überhaupt nicht in Theorien die Idee vertreten wird, es könnte eine menschliche Gemeinschaft geben, die sich auf eine vollständig stabile Weise reproduziert, deren Bevölkerung zwar ihren Bedürfnissen nachgeht, aber von Generation zu Generation auf eine restabilisierende Weise. Woher käme dieses nicht systematisch erwartete Ereignis? Scheinbar aus nichts. Es könnte sich aber doch manchmal ereignen. Vergegenwärtigt man sich z. B. die schweren Überlebensbedingungen von Eskimos, kann man sich vorstellen, dass alle Energien in der einfachen Mechanik des Lebens – vom Heiraten, Kinder haben und aufziehen bis zum Fischfang – gebunden werden, ohne ein Interesse an oder eine Entwicklungsmöglichkeit von – sagen wir – Ballett, Oper und Konzertmusik zu haben. Es könnte diese Stabilität empirisch vorstellbar geben, aber sie würde auch evolutionistisch-pragmatisch betrachtet einleuchten. Sind erst einmal unter glücklicheren Umständen die Grundbedürfnisse des Lebens befriedigt, müssen wir nicht mehr all unsere Zeit und Energie in die Bewältigung des Nötigsten investieren, haben wir andere Beschäftigungen und Interessen, entstehen Bevölkerungswachstum, ein Druck zu Stadtsiedlungen, neuen Arten sozialer Interaktion, die Möglichkeit, sich zu vergnügen ohne Notwendigkeit etc. Der Impetus zu Neuem, die Neugierde, die evolutionsgeschichtlich betrachtet eine wichtige Überlebensfunktion darstellt, wird von ihrer nächstliegenden Notwendigkeit entblättert, Vermittlungen ausgesetzt, die die neuen Möglichkeiten zur Betätigung eröffnen. Kurz, da Sie sich das Fleisch dieses Gerüstes schnell hinzudenken können: Der Nützlichkeitsbegriff, der für den Pragmatismus wichtig ist, startet zwar immer mit einer Basis, die eine gute evolutionäre Erklärung in der Nützlichkeit für die Spezies hat, um es leicht dramatisch zu sagen. Aber hat sich etwas erst einmal herausgebildet, verschafft es sich auch auf anderen Wegen Ausdruck, oder ist es auch auf neue Weisen verwendbar: Wir brauchen Sprache, um zu kommunizieren, aber kommunizieren wir erst einmal, können wir auch Sorge für unsere Sprache tragen, dichten und uns dem Gesang widmen, bevor es langweilig wird.

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Krüger: Das Grundmuster Ihrer Erklärung zeichnet sich ab, aber Sie haben innerhalb des Telos, sagen wir des evolutionär gedeckten Telos, sich am Leben zu erhalten, das Problem des Wandels der Interpretationen davon, was es bedeutet, sich am Leben zu erhalten, von mir aus, was Gesundheit in den verschiedenen Epochen definiert, ich meine denen unter den günstigeren Bedingungen . Rescher: Ich merke, dass Sie mich hermeneutisch locken wollen, und ich bleibe hier bei einer profanen Art von Hermeneutik, die man ja etwas komplexer nachlesen kann: Die eine Idee besteht darin, dass irgendeine Ressource oder irgendein Werkzeug, irgendeine instrumentelle Beziehung, die eine bestimmte Art von Zweck erfüllt, sich vom Prinzip her selbst aufdrängt, auch in anderen Richtungen gebraucht zu werden, nachdem sie erst einmal existiert. Da gab es einen guten Arzt, der Erbarmen hegte für diejenigen, die nach dem Gesetz hingerichtet werden sollten, Damit man ihnen nicht mehr mit einer Axt den Kopf abschlagen musste, was meistens in den ersten Anläufen schiefging und entsprechend langandauernde Qualen hervorrief, erfand er eine Apparatur, die dies sauber und schnell erledigte. Aber diese diente dann als Instrument des politischen Terrors, mit dem sich die Revolutionäre gegenseitig umbrachten. Oder Sie stellen ein Messer her, mit dem Sie im Wald die für Ihren Hausbau nötigen Balken schneiden können. Nun ist Ihr Haus fertig, und Sie fangen an, das Messer für Schnitzereien dekorativer Art zu verwenden. Jede solcher Vorrichtungen gewinnt für uns, ist sie erst einmal da, historisch eine Palette von möglichen Verwendungsweisen, die über den Gebrauch hinausgehen, in dem und für den sie zunächst propositional und evolutionär in die Existenz getreten ist. Zweitens schließt Evolution ein Überangebot für den jeweiligen Markt ein, führen die Variationsprozesse ein Potential mit, das die aktualen Selektionen übersteigt. Für die Reproduktion unserer Gattung reichte es doch vollkommen aus, wenn wir im Schnitt 40 Jahre alt werden würden, um uns zu vermehren und die Kinder an den Punkt zu bringen, wo sie sich wie selbständige Erwachsene verhalten können. Evolutionär bedeutsam ist nun der relative Überfluss zu diesem für die Reproduktion der Spezies nötigen Minimum. Der evolutionär-

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pragmatische Ansatz bleibt nicht bei diesem Minimum stehen, sondern thematisiert auch die Interessen und Wünsche im jeweiligen Überschuss. Menschen müssen zählen können, weil es einen Unterschied macht, ob von drei Löwen nur ein Löwe, zwei Löwen oder alle drei aus dem Käfig kommen! Sind erst einmal alle drei los, ist es besser, wenn man selbst hineingeht und die Tür schließt. Aber nicht jede Kultur muss höhere Mathematik enthalten. Die alten Römer konnten ihre Aquädukte, großen Gebäude und ihr Riesenreich auch ohne höhere Mathematik bauen. Für die höhere Mathematik zählt dann die historische Kontingenz, bestimmte Bausteine im historisch bereits akkumulierten und verstetigten Überschuss kombinieren zu können. Gewiss muss der evolutionäre Gedanke des Wettbewerbs für Stämme, Völker, Nationen historisch präzisiert werden. Aber dies ändert nichts an der anthropologischen Grundtatsache, dass wir kein quasi automatisches Programm haben. Krüger: Nicht jede Kultur beinhaltet höhere Mathematik oder hat prosaische Ausdrucksweisen wie die des Romans nötig. Und Sie persönlich hätten es lieber gehabt, wie Sie mir bei anderer Gelegenheit erzählt haben, wenn wir bei der Musik von Vivaldi, Telemann und Bach geblieben wären. Aber ein Siegeszug, nämlich der von Wissenschaft und Technik, ist doch auffallend. Wissenschaft und Technik haben, wenn nicht schon ganze Wertebereiche ersetzt, so doch mindestens unterwandert und neu vermittelt. Wie erklären Sie diese Evolution, sagen wir, im Unterschied zur analytischen Tradition und auch zur Sozialgeschichte der Wissenschaft, wie sie im Anschluss an Thomas Kuhn üblich geworden ist? Rescher: Die moderne Wissenschaftstheorie ist viel zu stark an den Texten der Wissenschaft orientiert gewesen. Sie hat die wissenschaftlichen Theorien als deskriptive Strukturen angesehen und vor eine Art Berufungsgericht geladen. Und dort stellte sich – für Pragmatisten nicht ganz so verwunderlich – heraus, dass der Theorienwandel nicht nochmals allein innertheoretisch vorangetrieben worden ist. In diese Lücke sprangen dann alle möglichen soziologischen Modelle über den Wechsel von Moden, von Herrschaftsformen, von Machtansprüchen ein. Nun kann man alle

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diese empirischen Aspekte an den historisch tatsächlichen Phänomenen des Wissenschaftswandels auch aufdecken, insofern es sie eben gibt. Da liegt aber konzeptionell nicht der springende Punkt. Sie müssen überhaupt nicht unvermittelt von der Analyse theoretischer Texte und deren rationaler Rekonstruktion zur soziologischen Beschreibung von Moden und Herrschaftsbeziehungen übergehen, auch nicht das eine gegen das andere ausspielen wollen, wenn Sie konzeptionell den Wissenschaftswandel im Wertewandel platzieren. Versteht man Rationalität nicht nur als eine Frage der intelligenten Optimierung von Mitteln für vorgegebene Zwecke, sondern auch als die normative Frage nach der situationalen Angemessenheit von Zwecksetzungen, geht es nicht einfach um Theorien, Moden oder Herrschaftswechsel, sondern – im objektiveren und rationaleren Sinne – um den Prozess der wissenschaftlichen Innovation. Was den theoretischen Fortschritt in der Wissenschaft grundlegend stabilisiert und vorantreibt, ist der technologische Fortschritt, und in diesem bündeln sich alle Realisierungsprobleme von Werten bis hin zu der Frage nach einer vernünftigen Werteökonomie. Wertetheoretisch werden die „Grenzen der Wissenschaft“, wie der Titel eines meiner Bücher lautet, deutlich, weshalb man mich schwerlich einen Szientisten wird nennen können. Aber nicht minder klar wird so, dass im Innovationsprozess mehr als eine praktisch irrelevante Theoriendynamik oder mehr als ein modischer Glaubenswechsel zum Ausdruck kommt. Kraft der Eigenart unserer Spezies kommen wir nicht umhin, wissen zu müssen, wie die Dinge in der Welt funktionieren. Reichte unsere Gedächtniskapazität nicht einmal aus, den Zusammenhang zwischen Säen und Ernten zu behalten, unterschritten wir – nichtparadiesische Umweltbedingungen unterstellt – gar das zur Reproduktion der Spezies nötige Minimum. Durch den Entwicklungszusammenhang zwischen Wissenschaft und Technik ist – zumindest in den entwickelten Ländern – erstmals ein stetiges Überschusspotential entstanden, wobei nicht einmal sicher ist, dass dieses bei den heutigen Wachstumsraten der Weltbevölkerung ausreichen wird. Bei allen Folgeproblemen, die Innovationsprozesse haben, wodurch neuerliche Innovationsprozesse nötig werden, sollten wir nicht vergessen, welch enormer evolutionärer Fortschritt in der Institutionalisierung des

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Entwicklungszusammenhangs zwischen Wissenschaft und Technik für unsere Gattung besteht, und was es ökonomisch, ethisch, ja, an nacktem Überleben kosten würde, hinter diese Institutionalisierung zurückzufallen. Hat man einen derartigen Zugang zum Problem, redet man auch über das kulturelle System von Belohnungen Auszeichnungen und Anerkennungen, das an dieser wie an anderen Institutionalisierungen dranhängt, anders. Es geht dann um mehr als einen Jahrmarkt von Eitelkeiten oder Machtgelüsten, mehr als nur darum, wer welche seiner Schüler wo unterbringt etc. Diese Phänomene gibt es natürlich auch, aber sie signalisieren dann etwas anderes: Nicht, dass Wissenschaft nichts anderes als Haute Couture sein könnte, sondern dass sich bestimmte Institutionalisierungsformen im Selbstlauf befinden und nicht mehr der Problemlösung dienen. Wir haben erst einmal das Problem des wissenschaftlichen Fortschritts zu erkennen. Es geht um die Institutionalisierung von Feedbacks zwischen Wissenschaft und Technik, wodurch Innovation stabilisiert und ein evolutionärer Überschuss akkumuliert werden kann. Dessen Dialektik hat biologisch und ökonomisch grundlegende Dimensionen. Kulturell kommt darin ein zuvor unglaublicher Wandel des Wertegefüges zum Ausdruck: Es entsteht nicht mehr zufällig, sondern institutionell gestützt ein Vertrauen in revolutionäre Situationen. Krüger: Diese größere Einordnung der Problemstellung jetzt mal vorausgesetzt, fungieren Technologien nach Ihrem Verständnis als Faktoren der Selektion von Wissenschaft. Wie ist dies zu verstehen, und was bedeutet dann noch Wissenschaft? Rescher: Wissenschaft hat das theoretische Ziel der Erklärung und Beschreibung und das praktische Ziel der Voraussage und Kontrolle. Man kann das theoretische Ziel nicht erreichen, ohne auf die praktische Seite zu wechseln, und umgekehrt. Sie können nicht herausfinden, ob eine Beschreibung die richtige ist und eine Erklärung funktioniert, ohne zu überprüfen, ob Sie Ihrer Beschreibung und Erklärung gemäß an dem Phänomen etwas voraussagen und kontrollieren können. Krüger: Und umgekehrt ist ein Experiment interpretationsbedürftig.

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Rescher: Genau. Wir beide oder die Eskimos, über die wir schon vorhin gesprochen haben, wären nicht die geeignetsten, um in hochenergetischen Anlagen die Interpretation vorzunehmen. Ohne ein theoretisches Netzwerk, in dem das interpretiert werden kann, was in dem Labor passiert sein könnte, durch die Zeiger angezeigt wird, wissen wir nicht, um welches Experiment es sich handelt. Erfahrung ist ohne Theorie blind, und Theorie ist ohne Experiment nutzlos. Es muss zu einem Zusammenspiel beider Seiten der Wissenschaft kommen. Und genau dieses Erfordernis ist nun das Einfallstor für die Technik, weshalb die Wissenschaft selbst vom technologischen Fortschritt abhängig ist. Durch Technologien entwickeln wir unsere Fähigkeit, sehen zu können, was die Natur in bestimmten Sektoren tut, nicht in geografischen Sektoren, sondern in parametrischen Sektoren, die sich aus den Parametern der Technologie ergeben. Aus der Sicht der Erfüllung wissenschaftlicher Aufgaben brauchen Sie Technologien der Beobachtung, der experimentellen Interaktion und des Prozessierens von Daten. Wenn man jetzt von den Technologien wieder zurückgeht zu den Theorien, dann geht es um die Bildung von Theorien, die das Phänomen, so wie es technologisch vermittelt ist, an unsere kognitiven Strukturen akkomodieren können. Und wenn jetzt die experimentaltechnologische Entwicklung eine neue Beobachtungsdomäne ermöglicht, dann muss eine alte Theorie dementsprechend uminterpretiert oder eine neue Theorie geschaffen werden. Eine raffinierte Thermodynamik ermöglicht eine entwickelte Elektrotechnik, die wieder bessere Instrumente der Beobachtung, Messung und des Experiments ermöglicht. So entstehen Schleifen der Rückkopplung, der vermittelten Selbst-Verstärkung, oder es geht eben nicht weiter. Die Leute mögen im Einzelnen so dumm oder so eitel wie nur irgend möglich sein, grundsätzlich handelt es sich um diese dialektischen Feedbacks zwischen den Theoretikern und den experimentellen Praktikern. Je stabiler eine Seite der Wissenschaft wird, desto tödlicher für die andere, also auch für beide. Das wäre dann eine negative Verstärkung.

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Krüger: Womit wir auch schon wieder bei Ihren Fragen nach der Wissenschaftsökonomie und einer Werteökonomie insgesamt angekommen wären. Rescher: Ja, denn der ökonomische Aufwand für den technologischen Fortschritt kann enorm steigen, so dass die kognitiv möglichen Fragen immer stärker selektiert werden müssen. Denken Sie nur an die Geschichte der Teilchenbeschleuniger, an die Versuche, immer besser ein Vakuum herzustellen etc. Wir können nicht alles kognitiv Mögliche, nicht einmal alles technologisch Mögliche an der Natur untersuchen, sondern wir müssen uns diese Untersuchungsprozesse auch leisten können. Krüger: Erlauben Sie mir – angesichts der wertökonomischen Grenzen Ihrer zeitlichen Belastbarkeit und unserer Druckkapazität – noch zwei andere Rückfragen. Rescher: Aber gewiss doch. Krüger: Wir haben bisher über die pragmatische Unvermeidlichkeit eines Idealismus gesprochen, den Sie selbst in Ihrer Systemtrilogie von einem alten vor-kantschen Idealismus ontologischer oder substanzieller Art unterschieden haben. Ihr Plädoyer für einen begrifflichen Idealismus leuchtet bei all diesen vorwiegend epistemologischen Fragen ein, selbst wenn man diese – wie Sie – als zugleich und primär praktische Fragen behandelt. Was Sie demgegenüber in dem zweiten Band Ihrer Trilogie über The Ontological Obligation to Rationality oder über The Inherent Obligations of Personhood oder The Obligations to Morality schreiben, scheint deutlich darüber hinauszugehen. Wie bewahren Sie diese starke ontologische Wendung unserer Verpflichtung auf bestimmte Werte – wie den der Rationalität, der Selbstverwirklichung als Persönlichkeit, der Moralität – davor, fundamentalistisch wirken zu können? Wir haben schon über die Herausforderung des Pluralismus gesprochen, und die ontologischen Gratwanderungen in der deutschen Philosophie waren nicht gerade glücklich. Ist der

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Evolutionismus nicht auch nur eine mögliche ontologische Auslegung unserer Situation? Rescher: Meinen Sie zum Beispiel so etwas wie: Wie bewahren wir ontologische Verpflichtungen davor, dass in ihrer Realisierung eine Art der Politik von Blut und Eisen herauskommt? Krüger: Ja. Rescher: Das ist keine leichte Frage. Ich versuche es mal auf dem folgenden Wege: Ja, der evolutionäre Pragmatismus hat mit solchen Fundamentalismen gemeinsam, dass er eine bestimmte Art, die historische Situation zu lesen, involviert. Nur sind die evolutionärpragmatischen und die fundamentalistischen Interpretationen unserer historischen Situation doch sehr verschieden. Hegel spricht in der Geschichte von einem unerbittlichen Trend zur Entwicklung des rationalen Systems in der Periode des preußischen Staates und Marx von einer unausweichlichen Tendenz zur Entwicklung der Diktatur des Proletariats. In einer solchen Sicht scheinen sich die Dinge selbst in der ideologisch vorgezeichneten Richtung auszuarbeiten, und der ganze Kosmos dient von vornherein der Bestätigung der ideologischen Zielstellung. Dies ist in der Tat sehr gefährlich und unvernünftig, weil es Lernen verhindert. Das Argument, das ich entwickeln möchte, ist ein anderes: Um erfahren zu können, worin unsere Situation besteht, lassen wir uns am besten auf ein empirisches Programm ein, das den Methoden der wissenschaftlichen Untersuchung entspricht. Diese Untersuchung betrifft sowohl die Beziehungen unter uns selbst als auch von uns zu unserer Umwelt und zu unseren Ressourcen. Die Vielzahl der Untersucher bringt eine Vielzahl von Perspektiven ein, und die Aufgabenstellung, was wir angesichts bestimmter Bedürfnisse und Umstände vernünftigerweise zur Befriedigung unternehmen können, ist so komplex, dass ein Konsens in diesen empirischen Dingen unwahrscheinlich ist. Die Natur dieses wissenschaftlichen Projekts enthält das Nein-Sagen-Können, den bereits erwähnten Spielregeln der Wissenschaft entsprechend, und ist die Organisation von Erfahrungs- und Lernprozessen, also das Gegenteil einer ideologisch geschlossenen und sich nur immer selbst bestätigenden

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Weltsicht. Die Gefahren der wissenschaftlichen Unternehmung, für die ich plädiere, liegen woanders: einerseits in dem Risiko, mit nicht vollständig antizipierbaren Folgen umgehen zu müssen, was sich nur um den Preis der Innovation selbst umgehen lässt, und andererseits – dem evolutionären Ansatz folgend – in der Fokussierung auf Fragen unserer Spezies. Dreht sich alles um die Bedürfnisse unserer Spezies, entsteht die Gefahr der Vernachlässigung oder Unterordnung anderer Spezies, entstehen Wertekonflikte z. B. hinsichtlich der Frage, ob nun Kühe heilig sind oder gegessen werden können. Dieses Vorgehen führt unweigerlich zu ethischen Auseinandersetzungen, so zu der Frage, ob es nicht besser wäre, das Bevölkerungswachstum deutlich zu reduzieren. Solche Maßnahmen können aber wieder die Interessen, Rechte und Werte von Individuen beschneiden usf. Dann sind wir bei einer Grundsatzfrage wie der angelangt, ob sich die individuellen Interessen doch zu einem gewissen Grade zu gemeinschaftlichen ausmitteln lassen, oder ob sie sich antagonistisch ausschließen. Insofern führt das wissenschaftliche Untersuchungsprogramm wieder auf die Frage zu einer Werteökonomie zurück. Aber es erfordert keinen allgemein verbindlichen und vorherrschenden Absolutismus einer bestimmten Wertehierarchie. Vielmehr hält es die Diskussion der Alternativen in Gang. Krüger: Dies mag alles gehen, sofern die wissenschaftliche Methode diesen Status für Problemlösungen hat und demokratische Strukturen allgemein akzeptiert werden. Aber was geschieht, wenn andere dies in Frage stellen, weil ihre Werte damit inkompatibel sind? Rescher: Gewiss, das wissenschaftliche Verständnis, auf welches ich so stark orientiere, mag in einer anderen Kultur einen untergeordneten Stellenwert besitzen. Deren Empathie kann zu einem meditativen Verhältnis zur natürlichen Umwelt führen, worin auch ein ökologischer Vorteil bestehen könnte. Ja, ich habe von der Autonomie der Wertesphäre gesprochen. Theorien können für Menschen wichtig sein, weil sie definieren, auf welchem Weg wir uns selbst sehen. Da kann man nur von innen argumentieren, und es kann für mich selbst reicher sein, wenn in der Welt verschiedene Menschen verschiedene Lebensprojekte verfolgen. Da gilt der Respekt vor dem Recht und den

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Ansprüchen anderer darauf, ein nach ihren Werten lebenswertes Leben zu führen. Krüger: Aber betrifft dies jetzt nicht die private Sphäre im Unterschied zur öffentlichen? Was machen wir, wenn es nicht mehr nur um individuelle Lebensstile geht, um Distinktionen unter der Voraussetzung gemeinsam anerkannter Strukturen, sondern um das Selbstverständnis ganzer Gesellschaften, um antagonistische Konflikte darüber? Rescher: Für Konfliktfälle so weitreichender Art gibt es vor allem zwei Zugänge: Sie versuchen, der Idee des Konsenses folgend ein Einverständnis zu erzielen, weshalb sie bestimmte Umstände begrenzen oder andere Bedingungen unterstützen werden. Ansonsten könnten Sie nicht die Anzahl derer, die zustimmen, möglichst maximieren. Dieses Verfahren ist gut, wo es funktioniert. Die andere Variante besteht nicht darin, die Anzahl derer, die zustimmen können, zu erhöhen, sondern darin, das Ausmaß, in dem ein ernsthafter Streit tatsächlich zu einem gewaltsamen Konflikt führt, zu minimieren. Dann konzentrieren Sie sich auf die präventive Gestaltung derjenigen Bedingungen, die für den Ausbruch offener Konflikte relevant sind, wodurch Sie ansonsten die Pluralität ermutigen. Wenn keine Aussicht auf eine wertmäßige Verständigung besteht, bleibt Ihnen nichts anderes übrig als Social engineering. Wenn Sie von innen nicht herankommen, können Sie nur noch von außen den Respekt wahren und den Stoff, an dem der Konflikt offen und gewaltsam ausbrechen könnte, entschärfen, um den Frieden zu erhalten oder wiederherzustellen. Im Pluralismus kann man nicht von vornherein konfligierende Sichtweisen und Positionen vermeiden, von denen die Vielfalt ja gerade lebt. Aber Sie müssen der Eskalation solcher unvermeidlicher Differenzen in Gewalt vorbeugen, damit die Menschen friedlich koexistieren können. Krüger: Aber könnte hier nicht die Konsensorientierung auf zweiter Ebene wieder einsetzen, nicht als ein Konsens hinsichtlich der Frage, was inhaltlich als ein gutes Leben zählt, sondern im Hinblick auf

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einen Konsens darüber, dass wir zur Lösung inhaltlicher Konflikte einer Prozedur bedürfen, die den Respekt wahrt? Rescher: Aber hier wiederholen sich dann auch auf zweiter Ebene all die Argumente, die schon auf der ersten inhaltlichen Ebene die Orientierung auf Konsens zweifelhaft werden ließen. Wenn Sie es wirklich mit für die historische Situation unvereinbaren Wertegefügen zu tun haben, warum sollten sich dann die Beteiligten ausgerechnet auf die Prozedur einigen können? Es geht bei wirklich antagonistischen Interpretationen des letzthin Gültigen und Verpflichtenden unter der Bedingung begrenzter Ressourcen – und wir alle leben nur einmal – nicht um die Wiederholung der Rechtsprozedur. Bereits in der Annahme einer solchen Prozedur kann ja die Benachteiligung einer bestimmten Wertekultur bestehen. Ich habe in meinem Buch Pluralism versucht, für diese wirklich antagonistischen Fälle eine Lösung im Sinne des inversen Utilitarismus zu finden. Es kommt dann auf den Punkt an, der für alle Beteiligten das Verfahren als das kleinere Übel gelten lässt, ohne dass man ihnen zumuten müsste, ihren Werten abzuschwören. Krüger: Dann diskutieren wir dies mal gesondert, vielleicht als ein Symposium in unserer Zeitschrift *. Rescher: Ja, gerne. Krüger: Ihre eigene Lebensgeschichte ist von einem antagonistischen Konfliktfall bestimmt worden. Ihr Vater, der als deutscher Rechtsanwalt für den Rechtsstaat eingetreten war, musste mit Ihrer Mutter und Ihnen 1938 in die USA emigrieren, nachdem ihm die Nazis seine Existenzmöglichkeit in Deutschland, in Hagen/Westfalen, genommen hatten. Sie haben als Kind von neun Jahren in den USA ein neues Leben beginnen müssen. Was fühlen Sie, wenn Sie heutzutage Deutschland besuchen? Rescher: Das Deutschland, das ich aus meiner Kindheit kenne, existiert nicht mehr, weder der damalige Familien- und Bekanntenkreis, noch das Deutschland der 30er Jahre, an das ich mich

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nicht gerne erinnere. Es existiert nicht mehr, weder mit seinen guten noch mit seinen schlechten Seiten. Es ist nur noch ein Ort von vielen Orten, an denen ich gelebt habe, hinter dem Filter aus Zeit, nun von sechzig Jahren. Etwas anderes ist Deutschland als ein kulturell andauerndes Projekt, dem ich mit Aufmerksamkeit und Sympathie begegne, und dies meine ich jetzt nicht nur im Hinblick auf die professionelle Philosophie. Ich bin noch im Sinne der alten Schule erzogen worden, die nicht dem Inhalte, wohl aber dem Habitus nach fortwirkt und für die ich höchsten Respekt hege. Die Angehörigen der Generation meiner Eltern und Großeltern waren dem wilhelminischen Deutschland tat sächlich verpflichtet, ja, ich muss aus der historischen Erinnerung von ihnen sagen, auch wenn es pathetisch klingt: Sie hatten ihr Leben Deutschland gewidmet. Mein Vater hat vier Jahre – die besten seines Lebens – an der Westfront im Ersten Weltkrieg gekämpft. Sie haben schon sein Engagement in den 30er Jahren erwähnt, und er hat dann in den USA zweimal die Existenz unserer Familie von vorn aufbauen müssen. Was ich sagen will, ist nicht, dass er historisch in jedem Falle recht gehabt hat, sondern: Er hat überhaupt die identitätsbildende Verpflichtung gegenüber Werten wahrgenommen, auch unter widrigsten Umständen. Ansonsten bin ich natürlich ein fremder Besucher von außen, kein Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Ich komme nach Deutschland als Philosoph zu Philosophen, mit allen Affinitäten und Beziehungen, die dies mit sich bringt, seltener als zum Beispiel nach Oxford. Krüger: Vielen Dank für Ihre Ausdauer, und vielleicht kommen Sie ja auch mal nach Berlin. Rescher: Ja, mal sehen. Es war mir ein Vergnügen.1 Professor Nicholas Rescher, University of Pittsburgh, Department of Philosophy, 1001 Cathedral of Learning, Pittsburgh, PA 15260, USA. Prof Dr. Hans-Peter Krüger, Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben mbH., Forschungsschwerpunkt Wissenschaftsgeschichte und -theorie, Jägerstr. 10111, 10117 Berlin

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AUSWAHLLITERATUR Nicholas Rescher, Mid-Journey. An Unfinished Autobiography, Washington, D. C. (University Press of America), 1983. Nicholas Rescher, Die Grenzen der Wissenschaft, Stuttgart (Reclam) 1985. Nicholas Rescher, A System of Pragmatic Idealism. Vol. 1: Human Knowledge in Idealistic Perspective (1992); Vol. 2: The Validity of Values. A Normative Theory of Evaluative Rationality (1993); Vol. 3: Metaphilosophical Inquiries (1994); Princeton, New Jersey (Princeton University Press) 1992–1994. Nicholas Rescher, Pluralism. Against the Demand for Consensus, Oxford (Clarendon Press) 1993. Nicholas Rescher, Rationalität. Eine philosophische Untersuchung über das Wesen und die Begründung der Vernunft, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1993. Nicholas Rescher, Warum sind wir nicht klüger? Der evolutionäre Nutzen von Dummheit und Klugheit, Stuttgart (S. Hirzel) 1994.

ANMERKUNGEN 1

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans-Peter Krüger, Berlin. Zuerst erschienen in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Bd. 42 (1994), S. 883–904.

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(A

uszug aus dem Artikel von Dieter Sturma in Julian NidaRümelin (Hg.), Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen [Stuttgart: Alfred Kröner, 1991].) R. wurde 1928 in Hagen (Westfalen) geboren. 1938 emigrierte er mit seiner Familie in die USA. R. studierte Mathematik am Queens College in New York (B. S. 1949) und Philosophie an der Princeton University, wo er 1951 den Ph. D. erwarb. Nach dem Militärdienst arbeitete R. von 1954 bis 1956 in der Mathematikabteilung der RAND Corporation (Santa Monica). Nach einer Lehrtätigkeit an der Lehigh University (1957–1961) ging R 1961 an die Pittsburgh University, wo er seitdem als Professor für Philosophie lehrt. 1977 wurde er zum ständigen Mitglied des Corpus Christi College in Oxford ernannt. R. ist Herausgeber und Mitherausgeber einer Vielzahl von philosophischen Reihen und Zeitschriften; unter anderem gibt er den American Philosophieal Quarterly heraus. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat R. über 50 Bücher und eine sehr große Anzahl von Aufsätzen zu Bereichen der theoretischen Philosophie, der Moral- und Sozialphilosophie sowie der Geschichte der Philosophie veröffentlicht. Werk Formaler und systematischer Ausgangspunkt der Philosophie R.s sind philosophische Positionen, die im wesentlichen durch den logischen Positivismus erarbeitet worden sind. Im weiteren bemüht sich R. jedoch darum, die methodischen Fortschritte der analytischen Philosophie in integrative Systemkonzeptionen einmünden zu lassen, die über thematische Verengungen des logischen Positivismus hinausführen und an weitergehende traditionelle und gegenwärtige Problemstellungen

PHILOSOPHISCHES

PROGRAMM.

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anknüpfen. R. will vor allem der durch die Konzentration auf Einzelanalysen eingetretenen Aufsplitterung der Philosophie entgegenwirken. Formale Analysen können ihm zufolge ihren Sinn nicht ausschließlich in der Verbesserung argumentationstechnischer Mittel haben, sondern müssen sich in übergreifende philosophische Problemlösungsversuche integrieren lassen. Die systematischen Bemühungen R.s sind dadurch gekennzeichnet, daß sich in seiner Philosophie auf eigentümliche Weise kohärenztheoretische, pragmatische und idealistische Argumentationsperspektiven vereinigen. Im Zentrum von R.s Wahrheitstheorie steht der Grundgedanke der idealistischen Tradition, daß Wahrheit als System begriffen werden muß. Zwar ist Wahrheit auch für R. durch ein Korrespondenzverhältnis definiert, seine entscheidende wahrheitstheorctische These ist aber die, daß das Kriterium von wahren Aussagen ihre systematische Kohärenz ist. Kohärenz ist insofern eine kriteriologische Bestimmung, die die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs nicht im ganzen erschöpft. Auch im Rahmen der Kohärenztheorie der Wahrheit muß eine Korrespondenz zwischen wissenschaftlichen Aussagen und extra linguistischen Fakten unterstellt werden. Die mit derartigen Korrespondenzverhältnissen zusammenhängenden Problemstellungen eines metaphysischen Realismus werden von R. gleichwohl aus methodischen Gründen ausgeklammert. Vorrangige Zielsetzung ist vielmehr, ein Verfahren zu entwickeln, durch das eine Menge wahrer Aussagen von inkonsistenten Sätzen unterschieden werden kann; dabei rückt die Bewertung des systematischen Zusammenhangs von Aussagen und Aussagenkomplexen zwangsläufig in den Vordergrund. R. grenzt sich in seiner Kohärenztheorie der Wahrheit nachdrücklich von fundamentalistischen Ansätzen ab. KOHÄRENZTHEORIE

DER

WAHRHEIT.

BEGRIFFSIDEALISMUS. R.s kohärenztheoretischer Ansatz beruht

nicht zuletzt auf einem Begriffsidealismus, der sich an einer durch Kants Erkenntniskritik und den Pragmatismus vorgezeichneter Argumentationsperspektive orientiert. In dieser Theorieperspektive erweisen sich Vorstellungen einer wie auch immer gearteten „Realität

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an sich“ als nicht theoriefähig; damit soll aber weder behauptet werden, daß sich Erkenntnisprozesse nicht rechtfertigungsfähig auf eine extralinguistische Welt beziehen können, noch daß diese Welt kausal von subjektiven Erkenntnisstrukturen abhängig ist. Der konzeptuale Idealismus stellt nur den Sachverhalt heraus, daß Identifikations- und Erkenntnisprozesse sich über Begriffe und Kategorien vollziehen müssen, die strukturell durch Subjektivität vermittelt sind; ein neutraler Erkenntnisstandpunkt ist deshalb schon aus epistemologischen Gründen nicht konstruierbar. Daraus folgt letztlich auch, daß Erkenntnisprozesse und wissenschaftlicher Fortschritt notwendig unabgeschlossen bleiben müssen. Kohärenztheorie der Wahrheit und Begriffsidealismus konvergieren bei R. in einer Theorie des methodologischen Pragmatismus. Ihn setzt R. von der Position eines „Thesen-Pragmatismus“ traditioneller Art ab, den er unter anderem auch Peirce unterstellt. Im Gegensatz zum „Thesen-Pragmatismus“ sind dem methodologischen Pragmatismus zufolge wahre Sätze nicht einfach Funktionen einer direkt bestätigten Anwendung; stattdessen wird die Frage nach der Geltung und Rechtfertigungsfähigkeit methodischer Standards und Kriterien, die in Erkenntnisprozessen angewendet werden, in das Zentrum der Untersuchung gerückt. Pragmatischer Erfolg bestätigt nach R. nicht einzelne Aussagen, sondern die methodischen und theoretischen Perspektiven. die ihnen zugrunde liegen. Auch wenn die erfolgreiche Anwendung im Einzelfall kein Wahrheitskriterium sein kann, so ist der in langen Zeiträumen gut bestätigte pragmatische Erfolg wissenschaftlicher Methoden und Untersuchungen gleichwohl ein deutliches Wahrheitsindiz, denn ohne ein reales Korrespondenzverhältnis von wissenschaftlichen Aussagen und extralinguistischen Tatsachen wären Erkenntnis und Fortschritt der Wissenschaft über die Zeit hinweg nicht möglich gewesen. METHODOLOGISCHER

MORALPHILOSOPHIE.

PRAGMATISMUS.

Die grundsätzliche Problemstellung der Moralphilosophie besteht nach R. in der Frage, wie die kulturelle Vielfalt von Werten und Normen verstanden werden kann, ohne dabei auf Positionen eines ethischen Relativismus oder Indifferentismus

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festgelegt zu sein. R. greift in dieser Problemsituation auf einen Begriff absoluter Moral zurück. Moralische Prinzipien haben nur in dem Sinne absolute Gültigkeit, daß sie Personen universelle, invariante und unveränderliche Forderungen und Verpflichtungen auferlegen; moralischer Pluralismus stellt sich dagegen erst auf der Ebene der Anwendung moralischer Regeln unter den Bedingungen bestimmter sozialer und kultureller Kontexte ein. R. bestreitet die Möglichkeit von alternativen Moralitätskonzepten, die indifferent gegenüber den Bedürfnissen lind Interessen von anderen Personen sind. Moralität ist für R. nicht auf Eigeninteresse reduzierbar. Die Rationalität moralischer Einstellungen ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß sie die Interessen von anderen in Rechnung stellen. Rezeption R.s Werk dürfte in seinem Umfang einzigartig in der Gegenwartsphilosophie sein. Thematische Schwerpunkte seiner vielen Bücher und Aufsätze sind die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die philosophische Logik, die Moral- und Sozialphilosophie sowie die Geschichte der Philosophie, insbesondere die arabische Philosophie des Mittelalters sowie die philosophischen Systeme von Leibniz und Kant. Exponierter Bezugspunkt der Rezeption von R.s Werk ist die theoretische Philosophie. Neben den wissenschaftstheoretischen Arbeiten hat vor allem die Kohärenztheorie zustimmende Aufnahme gefunden; sie hat in besonderer Weise auf die gegenwärtigen Bemühungen um eine philosophische Theorie der Wahrheit gewirkt. Die systematischen Intentionen R.s richten sich ferner auf die Entwicklung und Verteidigung des methodologischen Pragmatismus und des Begriffsidealismus. R. bewegt sich mit diesen systematischen Schwerpunkten zwischen einer Vielzahl von Konfliktlinien der gegenwärtigen philosophischen Diskussionen. Die Stellungnahmen zur Philosophie R.s sind denn auch stark durch den jeweiligen argumentativen Ort in diesen Auseinandersetzungen bestimmt. Eine übergreifende Bewertung von R.s Werk zeichnet sich noch nicht ab; auch in Sammelschriften zu seinem Werk stehen Detailuntersuchengen im Vordergrund.

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NICHOLAS RESCHER

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XVII BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER 1960 On the Epistemology of the Inexact Sciences. Santa Monica, CA (RAND Corporation) 1960; RAND Research Monograph R353. Co-authored with Olaf Helmer. 1962 Al-Farabi: An Annotated Bibliography. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1962. 1963 Al-Farabi’s Short Commentary on Aristotle’s “Prior Analytics”. Translated from the Arabic, with Introduction and Notes. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1963. Studies in the History of Arabic Logic. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1963. 1964 Al-Kindi: An Annotated Bibliography. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1964. The Development of Arabic Logic. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1964. Reprinted in Cleveland (J. T. Zubal), 2009. Hypothetical Reasoning. Amsterdam (North-Holland Publishing Co.; “Studies in Logic” series edited by L.E.J. Brouwer, E. W. Beth and A. Heyting.), 1964.

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1969 Essays in Philosophical Analysis: Historical and Systematic. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1969. Reissued in 1982 by the University Press of America (Washington, D. C.) Introduction to Value Theory. Englewood Cliffs (Prentice Hall), 1969. Reissued in 1982 by the University Press of America (Washington, D. C.). Many-Valued Logic. New York (McGraw-Hill), 1969. Reprinted: Aldershot (Gregg Revivals), 1993. 1970 Scientific Explanation. New York (The Free Press), 1970. 1971 Temporal Logic. New York and Vienna (Springer-Verlag), 1971. Co-authored with Alastair Urquhart. 1972 Welfare: The Social Issues in Philosophical Perspective. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1972. 1973 The Coherence Theory of Truth. Oxford (The Clarendon Press/Oxford University Press), 1973. Reissued in 1982 by the University Press of America (Washington, D. C.). Conceptual Idealism. Oxford (Basil Blackwell), 1973. Reissued in 1982 by the University Press of America (Washington, D. C.).

Nicholas Rescher • Philosophische Vorstellungen

356

The Primacy of Practice. Oxford (Basil Blackwell), 1973. Translated into Spanish as La Primacia de la práctica, Madrid (Editorial Tecnos), 1980. 1974 Studies in Modality. Oxford (Basil Blackwell), 1974. (American Philosophical Quarterly, Monograph Series.) 1975 A Theory of Possibility. Oxford (Basil Blackwell), 1975. Copublished in the USA by the University of Pittsburgh Press. Unselfishness: The Role of the Vicarious Affects in Moral Philosophy and Social Theory. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1975. 1976 Plausible Reasoning. Amsterdam (Van Gorcum), 1976. 1977 Dialectics: A Controversy-Oriented Approach to the Theory of Knowledge. Albany (State University of New York Press), 1977. Translated into Japanese as Taiwa No Roni Tokyo: Kinokuniya Press, 1981. Leibniz: An Introduction to his Philosophy. 1977. Methodological Pragmatism. Oxford (Basil Blackwell), 1977. Copublished in the USA by the New York University Press.

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BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER

1978 Peirce’s Philosophy of Science. Notre Dame (University of Notre Dame Press), 1978. Scientific Progress: A Philosophical Essay on the Economics of Research in Natural Science. Oxford (Basil Blackwell), 1978. Co-published in the USA by the University of Pittsburgh Press. Translated into German as Wissenschaftlicher Fortschritt (Berlin: De Gruyter Verlag, 1982). Translated into French as Le Progrès Scientifique (Paris: Presses Universitaries de France, 1993). 1979 Cognitive Systematization. Oxford (Basil Blackwell), 1979. Copublished in the USA by Rowman & Littlefield. Translated into Spanish as Sistematización cognoscitiva (Mexico City: Siglo Veintiuno Editores, 1981). Leibniz: An Introduction to His Philosophy. Oxford (Basil Blackwell), 1979; APQ Library of Philosophy. Co-published in the USA by Rowman & Littlefield. Reprinted in 1986 by the University Press of America (Lanham, MD). Reprinted in 1993 by Gregg Revivals (Aldershot, UK). The Logic of Inconsistency: A Study in Nonstandard PossibleWorld Semantics and Ontology. Oxford (Basil Blackwell), 1979; APQ Library of Philosophy. Co-authored with Robert Brandom. Published in the USA by Rowman & Littlefield (Totowa, NJ; 1979). 1980 Induction. Oxford (Basil Blackwell), 1980. Co-published in the USA by the University of Pittsburgh Press. Translated into German as Induktion (Munich: Philosophia Verlag, 1986).

Nicholas Rescher • Philosophische Vorstellungen

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The Logic of Inconsistency Oxford (Blackwell), 1980. Scepticism. Oxford (Basil Blackwell), 1980. Co-published in the USA by Rowman & Littlefield. Unpopular Essays on Technological Progress. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1980. 1981 Leibniz’s Metaphysics of Nature: A Group of Essays. Dordrecht and Boston (Reidel), 1981. 1982 Empirical Inquiry. Totowa, N. J. (Rowan & Littlefield), 1982. Copublished in Great Britain by Athlone Press (London, 1982). 1983 Kant’s Theory of Knowledge and Reality: A Group of Essays. Washington, D.C. (University Press of America), 1983. Mid-Journey: An Unfinished Autobiography. Lanham MD (University Press of America) 1983. Risk: A Philosophical Introduction to the Theory of Risk Evaluation and Management. Washington, D. C. (University Press of America), 1983. 1984 The Limits of Science. Berkeley and Los Angeles (University of California Press), 1984. Translated into German as Grenzen der Wissenschaft. Dietzingen: Reclam Verlag, 1985. Translated into Spanish as Las Limites de la Sciencia (Madrid: Editorial Tecnos, 1994). Translated into Italian as I Limita della Sciencia (Rome:

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BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER

Armando Editore, 1990). Second (revised and enlarged) edition (Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1999). The Riddle of Existence: An Essay in Idealistic Metaphysics. Washington, D.C. (University Press of America), 1984. 1985 Pascal’s Wager: An Essay on Practical Reasoning in Philosophical Theology. Notre Dame (University of Notre Dame Press), 1985. The Strife of Systems: An Essay on the Grounds and Implications of Philosophical Diversity. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1985. Translated into Italian as La Lotti dei Sistemi (Genoa: Marietti, 1993); into German as Der Streit der Systeme (Würzburg: Königshausen und Neumann, 1997); into Spanish (in progress). 1986 Ongoing Journey: An Autobiographical Essay. Lanham MD (University Press of America) 1986. 1987 Ethical Idealism: A Study of the Import of Ideals. Berkeley, Los Angeles and London (University of California Press), 1987. Forbidden Knowledge and Other Essays on the Philosophy of Cognition. Dordrecht (Reidel Publishing Co.), 1987. (Episteme Series, No.13). Scientific Realism: A Critical Reappraisal. Dordrecht (Reidel Publishing Co.), 1987.

Nicholas Rescher • Philosophische Vorstellungen

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1988 Rationality. Oxford (Clarendon Press), 1988. Translated into German as Rationalität (Wuerzburg: Koenigshausen & Neumann, 1993); into Spanish as La Racionalidad (Madrid: Editorial Tecnos, 1993); into Italian as Razionalità (Rome: Armando Editore, 1999). 1989 Cognitive Economy: Economic Perspectives in the Theory of Knowledge. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1989. Moral Absolutes: An Essay on the Nature and the Rationale of Morality. New York (Peter Lang Publishing Co.), l989. A Useful Inheritance: Evolutionary Epistemology in Philosophical Perspective. Savage, MD (Rowman and Littlefield), 1989. Translated into German as Warum sind wir nicht klüger (Stuttgart: Hirzel Verlag, 1994). 1990 Human Interests: Reflections on Philosophical Anthropology. Stanford (Stanford University Press), 1990. 1991 Baffling Phenomena and Other Studies in the Philosophy of Knowledge and Valuation. Savage, MD (Rowman and Littlefield), 1991. Frank Plumpton Ramsey: On Truth, ed. by Nicholas Rescher and Ulrich Majer (Dordrecht: Kluwer, 1991). Human Knowledge in Idealistic Perspective. Princeton (Princeton University Press), 1991.

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BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER

Leibniz’s Monadology: An Edition for Students. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1991. Co-published in the United Kingdom by Routledge (London). 1992 The Validity of Values: Human Values in Pragmatic Perspective. Princeton (Princeton University Press), 1992. 1993 Pluralism: Against the Demand for Consensus. Oxford (Clarendon Press), 1993. Standardism: An Empirical Approach to Philosophical Methodology. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 1993. Reissued in paperback, 2000. 1994 American Philosophy Today, and Other Philosophical Studies. Savage, MD (Rowman & Littlefield), 1994. Animal Conversations: A Collection of Fables. Verona PA (NAP Publications), 1994. Metaphilosophical Inquiries. Princeton (Princeton University Press), 1994. 1995 Essays in the History of Philosophy. Aldershot, UK (Avebury), 1995. Luck. New York (Farrar, Straus & Giroux), 1995. Translated into German as Glück (Berlin: Berlin Verlag, 1996); into Spanish by

Nicholas Rescher • Philosophische Vorstellungen

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Carlos Gardini as Suerte, azard destino: Aventuras y desaventuras de la vida cotidiana (Santiago de Chile: Editorial Andrés Bello, 1997). Also translated into Japanese and Korean. Process Metaphysics. Albany (State University of New York Press), 1995. Satisfying Reason: Studies in the Theory of Knowledge. Dordrecht (Kluwer), 1995. 1996 Instructive Journey: An Autobiographical Essay. Lanham MD (University Press of America), 1996. Priceless Knowledge? An Essay to Economic Limits to Scientific Progress. Savage, MD (Rowman and Littlefield), 1996. Public Concerns: Philosophical Studies of Social Issues. Lanham, MD (Rowman & Littlefield), 1996. Studien zur naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre. Würzburg (Königshausen & Neumann), 1996. 1997 Objectivity: The Obligations of Impersonal Reason. Notre Dame (University of Notre Dame Press), 1997. Predicting the Future. Albany NY (State University of New York Press), 1997. Profitable Speculations: Essays on Current Philosophical Themes. Lanham MD (Rowman & Littlefield), 1997.

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BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER

1998 Communicative Pragmatism: And Other Philosophical Essays on Language. Lanham MD (Rowman & Littlefield), 1998. Complexity: A Philosophical Overview. New Brunswick NJ. (Transaction Publishers), 1998. 1999 Kant and the Reach of Reason. Cambridge (Cambridge University Press), 1999. Razón y valores en la era cientifico-tecnológica. Barcelona (Editorial Paidos), 1999. Realistic Pragmatism: An Introduction to Pragmatic Philosophy. Albany (State University of New York Press), 1999. 2000 Inquiry Dynamics. New Brunswick, NJ (Transaction), 2000. Nature and Understanding: A Study of the Metaphysics of Science. Oxford (Clarendon Press), 2000. 2001 Cognitive Pragmatism. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 2001. Minding Matter and Other Essays in Philosophical Inquiry. Lanham, MD (Rowman & Littlefield), 2001. Paradoxes. Chicago, Ill. (Open Court Publishing Co.), 2001. Philosophical Reasoning. Oxford (Blackwell), 2001.

Nicholas Rescher • Philosophische Vorstellungen

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Process Philosophy: A Survey of Basic Issues. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 2001. 2002 Enlightening Journey: An Autobiographical Essay. Lanham MD (Lexington Books, 2002). Fairness. New Brunswick, NJ (Transaction Publishers), 2002. Rationalität, Wissenschaft, und Praxis. Würzburg (Königshausen & Neumann), 2002. 2003 Cognitive Idealization: On the Nature and Utility of Cognitive Ideals. Uxbridge, UK: (Cambridge Scholars Press) 2003. Niagara-on-the-Lake as a Confederate Refuge. Niagara-on-theLake, Ontario, Canada (Niagara Historical Society Museum), 2003. On Leibniz. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press) 2003. Sensible Decisions On the Ways and Means of Rational Decision. Totowa, N.J. (Rowman & Littlefield) 2003. Rationality in Pragmatic Perspective. Lewiston, N.Y. (Mellen Press) 2003. Epistemology: On the Scope and Limits of Knowledge. Albany NY (SUNY Press) 2003. Imagining Irreality: A Study of Unrealized Possibility. Chicago, Ill. (Open Court Publishing Co.) 2003.

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BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER

2004 Value Matters: Studies in Axiology. Frankfurt (Ontos), 2004. 2005 Cognitive Harmony. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 2005. Common Sense. Milwaukee, WI (Marquette University Press) 2005. [Aquinas Lecture] Cosmos and Cognition. Oxford (Oxford University Press), 2005. Epistemic Logic. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press) 2005. Realism and Pragmatic Epistemology. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 2005. Reason and Reality: Realism and Idealism in Pragmatic Perspective. Lanham, MD. (Rowman & Littlefield), 2005. Scholastic Meditations. Washington, DC (Catholic University of America Press), 2005. What If? Thought Experimentation in Philosophy. New Brunswick, NJ. (Transaction Books), 2005. 2005–2006 Nicholas Rescher: Collected Papers, 10 Bd.; Frankfurt (Ontos), 2005: Studies in 20th Century Philosophy, Studies in Pragmatism, Studies in Idealism, Studies in Philosophical Inquiry. 2006: Studies in Cognitive Finitude, Studies in Social Philosophy, Studies in Philosophical Anthropology, Studies in Value Theory, Studies in Metaphilosophy, Studies in the History of Logic.

Nicholas Rescher • Philosophische Vorstellungen

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2006 Metaphysics: The Key Issues from a Realistic Perspective. Amherst, N.Y. (Prometheus Books), 2006 Essais sur les fondements d’ontologie du procès. Edited by Michel Weber. Frankfurt (Ontos), 2006. Process Philosophical Deliberations. Frankfurt (Ontos), 2006. Presumption and Tentative Cognition. Cambridge (Cambridge University Press), 2006. Philosophical Dialectic: An Essay in Metaphilosophy. Albany, NY. (SUNY Press), 2006. Epistemetrics. Cambridge (Cambridge University Press), 2006. Error. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press), 2006. 2007 Is Philosophy Dispensable? And other Philosophical Studies. Frankfurt (Ontos), 2007. Conditionals. Cambridge, Mass (MIT Press), 2007. Interpreting Philosophy: The Elements of Philosophical Hermeneutics. Frankfurt (Ontos), 2007. Dialectics: A Classical Approach to Inquiry. Frankfurt (Ontos) 2007.

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BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER

2008 Epistemic Pragmatism: And Other Essays in the Theory of Knowledge. Frankfurt (Ontos) 2008. Being and Value: And Other Philosophical Essays. Frankfurt (Ontos) 2008. Issues in the Philosophy of Religion. Frankfurt (Ontos) 2008. 2009 Aporetics. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press) 2009. Free Will. New Brunswick, NJ (Transaction Books) 2009. Ignorance. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press) 2009. Reason, Method, and Value: A Reader on the Philosophy of Nicholas Rescher. Edited. by Dale Jacquette. Frankfurt (Ontos) 2009. Unknowability. Lanham, MD. (Lexington Books) 2009. Wishful Thinking and Other Philosophical Reflections. Frankfurt (Ontos) 2009. Epistemological Studies. Frankfurt (Ontos) 2009. 2010 Ideas in Process: A Study of the Development of Philosophical Concepts. Frankfurt (Ontos) 2010. Reality and its Appearance. London (Continuum) 2010. A Free Will Bibliography. Frankfurt (Ontos) 2010.

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Quantitative Philosophy. Frankfurt (Ontos) 2010. Philosophical Inquiries. Pittsburgh (University of Pittsburgh Press) 2010. Infinite Regress. New Brunswick, NJ (Transaction Books) 2010. Axiogenesis: An Essay in Metaphysical Optimalism. Lanham, MD (Lexington Books) 2010. Studies in Quantitative Philosophy. Frankfurt (Ontos) 2010. Philosophical Textuality: Studies on Issues of Discourse in Philosophy. Frankfurt (Ontos) 2010. On Rules and Principles. Frankfurt (Ontos) 2010. Finitude: A Study of Cognitive Limits and Limitations. Frankfurt (Ontos) 2010. Beyond Sets: A Venture in Collection-Theoretic Revisionism. Frankfurt (Ontos) 2010. Mit Patrick Grim. 2011 On Certainty: And Other Philosophical Essays. Frankfurt (Ontos) 2011. Philosophical Explorations. Frankfurt (Ontos) 2011. Philosophical Episodes. Frankfurt (Ontos) 2011. 2012 Productive Evolution. Frankfurt (Ontos) 2012. Pragmatism. New Brunswick, NJ (Transaction Books) 2012.

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BÜCHER VON NICHOLAS RESCHER

Reflexivity: From Paradox to Consciousness. Frankfurt (Ontos) 2012. Mit Patrick Grim. Explaining Existence. Frankfurt (Ontos) 2012.

XVIII BÜCHER UND PUBLIKATIONEN ÜBER NICHOLAS RESCHERS WERK I. BÜCHER 1. Ernest Sosa (ed.), The Philosophy of Nicholas Rescher. Dordrecht (D. Reidel), 1979. [A collection of critical essays with brief replies by N.R. [The contributors include: Annette Baier, Stephen Barker, Nuel D. Belnap, Jr., Laurence BonJour, Robert E. Butts, Roderick M. Chisholm, L. Jonathan Cohen, Jude J. Dougherty, Brian Ellis, R.M. Hare, Hide Ishiguro, George Von Wright, and John W. Yolton.] 2. Heinrich Coomann, Die Kohaerenztheorie der Wahrheit: Eine kritische Darstellung der Theorie Reschers von Ihrem historischen Hintergrund. Frankfurt am Main (Verlag Peter Lang), 1983. 3. Robert Almeder (ed.), Praxis and Reason: Studies in the Philosophy of Nicholas Rescher. Washington, D.C. (University Press of America), 1982. [A collection of critical and expanding essays with brief replies by NR. The contributors include: Timo Airaksinen, Robert Almeder, Antonio Cua, John E. Hare, Risto Hilpinen, John Kekes, Gerald J. Massey, Jack W. Meiland, Mark Pastin, Friedrick Rapp, James Sterba, and Dennis Temple.] 4. Andrea Bottani, Verità e Coerenza: Suggio su’ll epistemologia coerentista di Nicholas Rescher. Milano (Franco Angeli Liberi), 1989. [A systematic study of NR’s coherence theory of truth.]

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5. Michele Marsonet, The Primacy of Practical Reason: An Essay on Nicholas Rescher’s Philosophy. Lanham, MD (University Press of America), 1995. 6. Axel Wüstehube and Michael Quante (eds.), Pragmatic Idealism: Critical Essays on Nicholas Rescher’s System of Pragmatic Idealism. Amsterdam (Rodopi), 1998. [Critical essays on NR’s “Pragmatic Idealism” trilogy by eighteen contemporary philosophers in Europe and the USA.] 7. Martin Carrier et. al. (eds.) Science at the Century’s End: Philosophical Questions on the Progress and Limits of Science (Pittsburgh and Konstanz: University of Pittsburgh Press and University of Konstanz Press, 2000). [Pp. 40-134 contains a symposium devoted to NR’s work on the Limits of Science with contributions by Robert Almeder, Laura Ruetsche, Juergen Mittelstrass, and Martin Carrier.] 8. Lotfallah Nabavi Avicennan Logic Based on Nicholas Rescher’s Point of View (Tehran: Scientific and Cultural Publication Co., 2003). 9. Michel Weber (ed.). After Whitehead: Rescher on Process Metaphysics. Frankfurt (Ontos Verlag), 2004. 10. Nicholas Moutafakis, Rescher on Rationality, Values, and Formal Responsibility. Frankfurt (Ontos Velag), 2007. II. WEITERE PUBLIKATIONEN 1. Lorenz Puntel, Einführung in Nicholas Rescher’s pragmatische Systemphilosophie, in Nicholas Rescher Die Grenzen der Wissenschaft. Ditzingen (Redam), 1985, German translation of The Limits of Science.

373 BÜCHER UND PUBLIKATIONEN ÜBER NICHOLAS RESCHERS WERK

2. „On Nicholas Rescher’s Work on Argumentation.“ A special issue of Informal Logic, vol. 14 (1992) No. 1, S. 1–58. [Critical discussions of NR’s work by Bryson Brown, David Goodman, Harvey Siegel, and Douglas Walton, with responses by NR.] 2. „Book Symposium“ on Nicholas Rescher’s trilogy, A System of Pragmatic Idealism. Philosophy and Phenomenological Research, vol. 54 (1994), June issue. [Critical discussions of NR’s „Pragmatic Idealism“ triology by Cornelius Delaney, Jack Meiland, Timothy Sprigge, John Kekes, Terrance McConnell, Joseph Margolis, and Johanna Seibt.] 4. „Symposium on Nicholas Rescher’s Pluralism, “ Deutsche Zeitschrift für Philosophie, vol. 42 (1994), S. 291–334. [Critical discussion of NR’s Pluralism by Hans-Peter Krüger, Lothar Schäfer, Logi Gunnasson, and Axel Wüstehube.] 5. Timo Airaksinen, „Methodological Pragmatism: The Pragmatic Epistemology of Nicholas Rescher“, in Pragmatik: Handbuch Pragmatischen Denkens ed. by Herbert Stachowiak, Vol. V. Hamburg (Felix Meiner), 1995, S. 179–95. 6. Wenceslao J. González, „Racionalidad científica y actividad humana Ciencia y valores en la Filosofía de N. Rescher“ the introduction to NR’s Razón y valores en la Era científico-technológica. Bacelona (Editorial Paidós), 1999, S. 11–44. 7. Paul Damian Murray, Reason, Truth and Theology in Pragmatist Perspective, R. Rorty, N. Rescher, and D. MacKinnin (Leuven: Peeters, 2004). [A theological study dealing substantially with NR’s ideas.].

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8. „Symposium on Nicholas Rescher’s Pragmatism“, Contemporary Pragmatism, vol. 2 (2005), S. 1–61.

NicholasRescher

Nicholas Rescher

Autobiography Second Edition

This revised edition of his Autobiography brings up-to-date Rescher’s account of his life and work. The passage of years since the publication of an autobiographical work makes for its growing incompleteness. Moreover, the passage of time is bound to bring some new perspectives to view. This new edition comes to terms with these circumstances. Since the publication of the previous version Rescher’s philosophical work has made substantial progress, betokened by the publication of over a score of new books that mark an ongoing expansion of his philosophical range. Then too, the internet has brought to light interesting new information about Rescher’s family background and antecedence. Overall the book affords a detailed, vivid, and highly personalized picture of the life and work of someone who counts as one of the most prolific and many-sided contemporary thinkers.

ontos verlag

Frankfurt • Paris • Lancaster • New Brunswick 2010. 419 Seiten Format 14,8 x 21 cm Paperback EUR 49,00 ISBN 978-3-86838-084-2

P.O. Box 1541 • D-63133 Heusenstamm bei Frankfurt www.ontosverlag.com • [email protected] Tel. ++49-6104-66 57 33 • Fax ++49-6104-66 57 34

Ontos

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Nicholas Rescher

Collected Paper. 14 Volumes Nicholas Rescher is University Professor of Philosophy at the University of Pittsburgh where he also served for many years as Director of the Center for Philosophy of Science. He is a former president of the Eastern Division of the American Philosophical Association, and has also served as President of the American Catholic Philosophical Association, the American Metaphysical Society, the American G. W. Leibniz Society, and the C. S. Peirce Society. An honorary member of Corpus Christi College, Oxford, he has been elected to membership in the European Academy of Arts and Sciences (Academia Europaea), the Institut International de Philosophie, and several other learned academies. Having held visiting lectureships at Oxford, Constance, Salamanca, Munich, and Marburg, Professor Rescher has received seven honorary degrees from universities on three continents (2006 at the University of Helsinki). Author of some hundred books ranging over many areas of philosophy, over a dozen of them translated into other languages, he was awarded the Alexander von Humboldt Prize for Humanistic Scholarship in 1984. ontos verlag has published a series of collected papers of Nicholas Rescher in three parts with altogether fourteen volumes, each of which will contain roughly ten chapters/essays (some new and some previously published in scholarly journals). The fourteen volumes would cover the following range of topics: Volumes I - XIV STUDIES IN 20TH CENTURY PHILOSOPHY ISBN 3-937202-78-1 · 215 pp. Hardcover, EUR 75,00

STUDIES IN VALUE THEORY ISBN 3-938793-03-1 . 176 pp. Hardcover, EUR 79,00

STUDIES IN PRAGMATISM ISBN 3-937202-79-X · 178 pp. Hardcover, EUR 69,00

STUDIES IN METAPHILOSOPHY ISBN 3-938793-04-X . 221 pp. Hardcover, EUR 79,00

STUDIES IN IDEALISM ISBN 3-937202-80-3 · 191 pp. Hardcover, EUR 69,00

STUDIES IN THE HISTORY OF LOGIC ISBN 3-938793-19-8 . 178 pp. Hardcover, EUR 69,00

STUDIES IN PHILOSOPHICAL INQUIRY ISBN 3-937202-81-1 · 206 pp. Hardcover, EUR 79,00

STUDIES IN THE PHILOSOPHY OF SCIENCE ISBN 3-938793-20-1 . 273 pp. Hardcover, EUR 79,00

STUDIES IN COGNITIVE FINITUDE ISBN 3-938793-00-7 . 118 pp. Hardcover, EUR 69,00

STUDIES IN METAPHYSICAL OPTIMALISM ISBN 3-938793-21-X . 96 pp. Hardcover, EUR 49,00

STUDIES IN SOCIAL PHILOSOPHY ISBN 3-938793-01-5 . 195 pp. Hardcover, EUR 79,00

STUDIES IN LEIBNIZ'S COSMOLOGY ISBN 3-938793-22-8 . 229 pp. Hardcover, EUR 69,00

STUDIES IN PHILOSOPHICAL ANTHROPOLOGY ISBN 3-938793-02-3 . 165 pp. Hardcover, EUR 79,00

STUDIES IN EPISTEMOLOGY ISBN 3-938793-23-6 . 180 pp. Hardcover, EUR 69,00

ontos verlag Frankfurt • Paris • Lancaster • New Brunswick 2006. 14 Volumes, Approx. 2630 pages. Format 14,8 x 21 cm Hardcover EUR 798,00 ISBN 10: 3-938793-25-2 Due October 2006 Please order free review copy from the publisher Order form on the next page

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