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German Pages 605 [608] Year 1970
Κ. H A R T M A N N · D I E M A R X S C H E T H E O R I E
KLAUS HARTMANN
DIE MARXSCHE THEORIE EINE PHILOSOPHISCHE
UNTERSUCHUNG
ZU D E N H A U P T S C H R I F T E N
WALTER
DE
G R U Y T E R
&
CO
·
B E R L I N
VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG . J. GUTTHNTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG · GEORG REIMER · KARL J. TRÜBNER · VEIT & COMP.
1970
Archiv-Nummer 35 76701
©
1970 by Walter de Gruyter &: 'Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veic ÔC Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrüdclidie Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Drudi : Franz Spiller» 1 Berlin 36
Vorwort Das philosophische Vorhaben dieses Buches, über das die Einleitung näher informiert, müßte zum Erliegen kommen, wenn man ein Eingehen auf die Fülle der ökonomischen und politischen Einzelfragen wie der Sekundärliteratur dazu verlangte. Es kann sich nur um einen Kompromiß handeln, wie ihn eine zwar ausführliche, aber dodi wesentlich über Grundprobleme meditierende Vorlesung darstellen würde; aus einer solchen ist denn audi das Buch hervorgegangen. Bei den herangezogenen Texten wurde zugänglichen Ausgaben der Vorzug gegeben. So wird Marx zitiert teils nach der Marx-Engels-WerkeAusgabe des Dietz-Verlages, teils nach der Marx-Werke-Studienausgabe des Cotta-Verlages. Ich danke Herrn Dr. Rudolf Hoffmann von der Bonner Universitätsbibliothek für die liebenswürdigste Unterstützung bei der Korrektur und für die Behebung von Kümmernissen bei der Literaturbeschaffung. Ebenso gilt mein Dank dem Verlag für sein großes Entgegenkommen. Bonn, im September 1969
Klaus Hartmann
Inhaltsverzeichnis 1
Einleitung Die moderne Aufwertung des Marxschen Werkes 1 — Der neue Marx 3 — Die philosophische Beurteilung des neuen Marx 5 — Die Fragestellung 6 — Bedenken 8 — Die Durchführung 9. I. Der Zugang zur Kritik und die anthropologische Wendung
13
1. Die Situation der fertigen Philosophie Die Analogie der nacharistotelischen zur nachhegelianischen Philosophie 13 — Die Dialektik von Philosophie und Welt 15 — Die Realisierung der Philosophie 16.
13
2. Überphilosophie Die Totalität der Philosophie 20 — Der dritte Zyklus 23 — Die Realtotalität 25 — Der Ansatz als algorithmischer 27 — Die Praxis 30 — Die Kritik 32 — Praxis das Primäre? Zu den Deutungen von M. Friedrich, G. Hillmann und D. Benner 34 — Philosophie und Praxis 38 — Die anthropologische Wendung 40.
20
3. Exkurs zur anthropologisdien Wendung: Feuerbach . . Feuerbach und Hegel 44 — Feuerbachs Anthropologie 47.
43
4. Exkurs zu Staat und Geschichte: Hegel und die Junghegelianer Hegel 51 — Cieszkowski 52 — Ruge 55 — Geschichte als Korrektur der Hegelsdien Staatsidee 57 — Offene und geschlossene Geschichte 59 — Die Demokratie als Paradoxic 61 — Ruge und Marx 65.
II.
50
Ausblick
67
Der entwickelte Begriff der Kritik
69
1. Die eine Kritik Die zwei Parteien 70 — Die Kritik der Wirklichkeit 73 — Kritik der Philosophie? 76 — Kritik als Eingriff 78 — Die Kritik und ihre Bestimmungen 79.
69
vm
Inhaltsverzeichnis 2. Die Verwirklichung der Kritik Die Wirklichkeit gegenüber der Kritik 81 — Kritik auf der Seite der Wirklichkeit 85 — Die These vom Proletariat 86 — Positiver und negativer Weg 90 — Kritik und Theorie 91.
80
Ausblick
93
III. Die Kritik der Philosophie
95
1. Exkurs zu Hegels Rechtsphilosophie Die Kategorialität der Rechtsphilosophie 97 — Der Staat 99 — Das Demokratieproblem 101.
96
2. Die Kritik der Hegeischen Staatsphilosophie Die Souveränität 103 — Die Regierungsgewalt 106 — Die Legislative 107 — Die Stände 109 — Die Trennung von Gesellschaft und Staat 110 — Die Einheit von Gesellschaft und Staat 112 — Philosophie und Philosophiekritik 114 — Kritik und Philosophiekritik 115.
102
3. Die Kritik der Hegeischen Phänomenologie des Geistes Das Positive an Hegel 119 — Die Entfremdung bei Hegel 120 — Kategorienlehre und Anthropologie 121.
118
Ausblick
124
IV. Die Kritik der Wirklichkeit im Übergang zur Theorie . .
126
1. Anthropologie und Wendung zur Ökonomie Die Anthropologie als paradigmatische Philosophie 127 — Das Ungenügen an der Anthropologie 129 — Positive Motivierung der Ökonomie 132 — Negative Motivierung der Ökonomie 134 — Die Möglichkeit der Kritik als Theorie 136 — Kritik und Nationalökonomie 138.
127
2. Die Theorie im Rahmen der Kritik Das Paradigma 145 — Das Gattungsleben 146 — Entfremdung und Privateigentum 149 — Der Grund der Entfremdung 150 — Der Zirkel in der Erklärung der Entfremdung 151 — Subjektives und objektives Wesen des Privateigentums 154 — Die Rolle des Wesensbegriffs 155 — Der Prozeß des Privateigentums 160 — Abstrakte Einheit des Wesens und konkrete Pluralität 164.
142
3. Die Sozialkonzeption des Kommunismus Der „rohe" Kommunismus 169 — Der „positive" Kommunismus 170 — Die Sozialkonzeption als reduktionalistisdie 173.
168
4. Kritik als Theorie Die Theorie als positive I 177 — Die Theorie als negative 178 — Die transzendentale Linearität 179 — Die Wesens-
176
Inhaltsverzeichnis
DC
logik 181 — Theorie und Geschichte 183 — Die Theorie als positive II 184 — Die doppelte Charakteristik der Theorie 186 — Die Rationalität der Theorie 187. Ausblick V. Die Wendung zur materialistischen Theorie
189 193
1. Ideologiekritik Idee und Ideologie 196 — Marxens Ideologiebegriff 200 — Ideologiekritik und Ideologietheorie 203 — Die materialistische Wendung 204.
195
2. Wirklichkeit und Basis Die Basis 206 — Bewußtsein und falsches Bewußtsein 207.
206
3. Die gesellschaftliche Konkretion des geschichtlichen Prozesses Das Klassentheorem 211 — Proletariat und Revolution 212 — Das Klassenbewußtsein 215.
210
4. Materialismus als Theorie Materialismus und Rationalität 216 — Voraussetzungen und Stadien 219 — Der Begriff des Naturwüchsigen 221 — Ökonomie und Gesellschaft 223 — Das vorstellende Denken und die Dialektik 226 — Theorie der Praxis? 229 — Materialismus und tatsächliche Geschichte 230 — Theorie und Bestätigung 231 — Das quid pro quo im Geltungsgrund 234 — Theorie der sich vollbringenden Kritik 236.
216
Ausblick
237
VI. Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
239
1. Das methodologische Programm Die Produktion als ökonomische Totalität 240 — Das Problem der Erklärung I 242 — Das Problem der Erklärung II 245 — Erklärung und Kritik 248 — Die anfängliche Kategorie 251 — Der doppelte Ansatz 252 — Die Arbeitswertlehre als Einheit des doppelten Ansatzes 253.
239
2. Die ökonomische Fundamentalanalyse Tauschwert und Gebrauchswert 258 — Ware und Arbeit 262 — Die Ontologie der Ware I 268 — Die Ware als transzendentales Prinzip 271 — Arbeit als Ware 273 — Die Ontologie der Ware II 274 — Die Arbeitswertlehre als transzendentale Ökonomiekritik 284.
258
3. Der Prozeß der Ware zum Kapital Der entwickelte Tausch 286 — Das Geld 288 — Wert und Preis 290 — Die Zirkulationsformeln 291 — Geld als Ziel 293 — Der Mehrwert als Implikat 297.
285
Inhaltsverzeichnis
χ 4.
Grundzüge der im Kapital
geübten Methode
299
Die Dialektik als Vermeidung einer affirmativen Synthese 299 — Die Vorherrschaft der objektiven Seite 301.
VII. D i e Mehrwerttheorie 1. Wertbildungs- und Verwertungsprozeß
305
2. Der absolute Mehrwert
308
3. Der relative Mehrwert
315
4. D i e Mehrwerttheorie als Robinsonade
318
VIII. D e r Prozeß des Kapitals
IX.
304
324
1. Phänomenologie des Produktionsprozesses Kooperation 325 — Arbeitsteilung 327 — Soziale Rückwirkungen 329 — Beschreibung und Theorie 330 — Das Kapital als Geschichtssubjekt 332 — Entfremdung und Kapital 333.
324
2. Die Akkumulation des Kapitals Einfache Reproduktion 336 — Die Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter 337 — Soziale Rückwirkungen 338 — Die ursprüngliche Akkumulation 340.
335
3. Der Zirkulationsprozeß des Kapitals Die Interdependenz der Kapitale 346 — Das Problem der Realisierung 353.
345
4. D i e Konkretion des Kapitals Kosten- und Profitgesichtspunkt 358 — Die Reflexion des Kapitals 361 — Der innerökonomische Widerspruch 362 — Organische Zusammensetzung des Kapitals und Profitrate 364 — Wertgesetz und Durchschnittsprofitrate 367 — Innerökonomischer und transzendentaler Widerspruch 368 — Bedürfnis, Angebot und Nachfrage 372 — Die Konkurrenz 376 — Der tendenzielle Fall der Profitrate 378 — Die Schranken des Kapitals und die Krisen 387 — Soziale Rückwirkungen 389 — Der Kampf der Kapitale 393 — Späte ökonomische Themen 398 — Die Konkretion als Schein 401.
357
Ausblick
404
D i e Theorie im Kapital
405
1. Die Theorie der Ökonomie als positive und negative Positive Anthropologie und negative Ökonomie 407 — Die Prinzipiendifferenz in der Arbeitswertlehre 409 —
407
Inhaltsverzeichnis
XI
Die Prinzipiendifíerenz beim Tausch 411 — Die Prinzipiendifíerenz in der Lohntheorie 411 — Die Prinzipiendifíerenz im Theorieaufriß 412. 2. D i e Theorie der Ökonomie als konkrete Dialektik . . Nominalismus und Dialektik 415 — Objektive und negative Dialektik 421 — Die transzendentale Täuschung 424 — Mehrwerttheorie und Linearität 426 — Ursprüngliche Akkumulation und Linearität 430 — Realisierung und Linearität 432 — Widerspruch und Linearität 439 — Kapital im allgemeinen und konkretes Kapital unter dem Gesichtspunkt der Linearität 443 — Transzendentale Täuschung und Transzendentalphilosophie allgemein 450 — Exkurs zu J. Zelenf 452. 3. Die Theorie der Ökonomie nach ihrem kategorialen Aspekt und die transzendentale Kritik des Kapitals im Ganzen Die Wesenslogik 455 — Die Wesenslogik als theoretischer Fehler 458 — Die transzendentale Kritik des Kapitals im Ganzen 460. 4. Die Theorie der Ökonomie nach ihrem gesellschaftlichen und geschichtlichen Aspekt Der Klassenantagonismus 464 — Gegensätzliche Tatsachen 465 — Das Verständnis des Staates 467 — Theorie und Geschichte 470.
X.
415
454
464
Ausblick
473
Theorie der Praxis
475
1. Die Praxis der Arbeiterklasse Kapital und Revolution 476 — Kritik und Philosophie 483 — Revolution oder Reflexion? 484 — Das Revolutionstheorem als transzendentale Täuschung 487 — Die Wendung zum Politischen 489.
475
2. Politik im Übergang zur Revolution Die Voraussetzungen der politischen Praxis als revolutionärer Praxis 491 — Die Konkretion der vorrevolutionären Praxis 492 — Das Problem einer Theorie der vorrevolutionären Praxis 494 — Die Praxis der Partei 498 — Die Partei als Subjekt 501 — Partei und Arbeiterklasse 502.
490
3. Revolution und nachrevolutionäre Politik Die Herrschaft des Proletariats 507 — Die Kritik des Politischen 509 — Das revolutionäre Gemeinwesen 511 — Strukturen des revolutionären Gemeinwesens 512 — Demokratie und Führung 515.
506
XII
Inhaltsverzeichnis 4. D a s Problem einer ökonomischen Positivität des K o m munismus Der ausstehende ökonomische Kommunismus 518 — Die werdende ökonomische Positivität des Kommunismus 519 — Das allgemeine Problem einer ökonomischen Positivität des Kommunismus 524. 5. D a s Problem einer politischen Positivität des K o m munismus Partei und Staat 529 — Herrschaft und Herrsdiaftslosigkeit 533 — Das Niditankommen beim Kommunismus 536 — Das Nichtankommen und der Internationalismus 537 — Das Niditankommen und die permanente Revolution 541 — Seinslogik und Wesenslogik der Praxis 542.
XI.
Die Marxdeutungen und die transzendentale Kritik
517
529
..
546
1. D i e Marxsche Theorie als Materialismus Der historische Materialismus 549 — Der dialektische Materialismus 552 — Materialismus und Theorie 553.
548
2. D i e Marxsche Theorie als Ideologie Das materialistische Ideologieverständnis 554 — Anwendung auf die Marxsche Theorie 556 — Das Ideologieproblem bei einem transzendentalen Marxverständnis 558 — Positives und negatives Ideologieverständnis 561 — Die Verwurzelung der Ideologie im Marxschen Theorieansatz 563 — Der Ideologievorwurf gegen die transzendentale Marx-Kritik 564.
554
3. D i e Marxsche Theorie als Humanismus Die unspezifische Kritik 567 — Die unspezifische Kritik als Legitimation der Kritikpraxis 569 — Der Humanismus als Ideologie 571.
566
4. Schluß: Kritik und Affirmativität Der affirmative Theoriegesichtspunkt am Beispiel des Staates 575 — Das Problem der Geschichte und die Wiederzulassung systematischer, affirmativer Theorie 580.
574
Personen- und Sachregister
586
Einleitung Ein erneuter Versuch, das Marxsdie Werk zu studieren, bedarf einer vorangehenden Besinnung auf seine Berechtigung, hat es doch diesem Werk seit seinem Entstehen kaum je an Beachtung, wenn auch mitunter an philosophischer Beachtung, gemangelt. Zu erinnern wäre etwa an die unmittelbare Fortsetzung bei F. Engels und an die schon entferntere bei Lenin, oder an die Versuche, Marxens Sozialkonzeption in ihrer politischen Bedeutung zu durchdenken, wie sie sich in der deutschen Sozialdemokratie oder bei Rosa Luxemburg finden. Zu nennen wären ferner die ethischen Deutungsakzente bei Austromarxisten wie M. Adler, vor allem aber die vielfach mit Korrekturen und Kritik verbundenen Bemühungen um die ökonomische Theorie, ζ. B. bei E. Böhm-Bawerk, R . Hilferding, Rosa Luxemburg, F. Sternberg, M. Tugan-Baranowsky, W. Sombart, J . Schumpeter oder Joan Robinson. Oder wir denken an die Anstrengungen, besonders in der Sowjetunion, aus Marxens und Engels' Werk eine Philosophie endgültigen, verbindlichen und dogmatischen Charakters zu destillieren, die als Lehre vom historischen und dialektischen Materialismus auftritt. Daneben findet sich audi eine philosophisch kritischere Behandlung Marxens etwa bei Autoren wie J . Plenge, L. Hammadier u. a., deren Wirkung zwar begrenzt blieb, aber mitunter schon überleitet zu einem modernen Marxverständnis 1 .
Die moderne Aufwertung des Marxschen Werkes In neuerer Zeit hat das Marxsdie Werk einen Zuwachs an Wertschätzung erfahren. Seine Aufwertung ist ein allgemeines kulturelles Phänomen in den westlichen Ländern — dessen geistesgeschiditlidie und kulturphänomenologische Motivierung hier entbehrlich ist —, aber sie ist auch eine Erscheinung in der westlichen Philosophie selbst. Hatten früher zwar sympathisierende Kreise nicht nur in der Ökonomietheorie und der Politik, sondern auch in der Philosophie dem Marxismus Beachtung gezollt, so blieb dodi die Universitätsphilosophie bei ihrem Desinteresse2, wenn wir M. WeFür einen Überblick siehe E. Thier, „Etappen der Marximterpretation", Marxismusstudien I (Tübingen 1964) 1—38. * Man erinnere eich nur an die Marxdarstellung noch in der letzten Auflage des Ueberweg, Bd. IV (12. Aufl. 1926 und unveränderte 13. Aufl. von 1951, hrsg. von T . K. Oesterreidi) 227—29.
1
2
Einleitung
ber, M. Sdieler und einige weitere ausnehmen -wollen. Die allgemeinere philosophische Aufwertung Marxens, auch außerhalb einer interessierten Gruppe, läßt sich von dem Zeitpunkt an datieren, zu dem man seine Lehre wieder unterscheiden lernte von einer in mancher Hinsicht unbefriedigenden Metaphysik, dem Materialismus, der als die wesentliche Aussage Marxens verstanden worden war. Es zeigte sich, daß Marx philosophisch tiefer war, als es schien, solange man ihn, unter dem Motto des dialektischen Materialismus', mit einer an der Natur orientierten Metaphysik im Stil von Engels und Lenin oder, unter dem Motto des .historischen Materialismus', mit einer Geschichtsmetaphysik und einem ökonomischen Determinismus identifizierte. Eine besondere Rolle spielen in dieser Entwicklung die Marxsdien Frühschriflen, die einen zwar aus Hegel geschöpften und von Feuerbach mitbestimmten, aber doch eigenständigen, das Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit berührenden Ansatz enthalten und eine erste Durchführung des Themas der Entfremdung und der Wiederherstellung des Menschen bringen. Es kam zu einer Konjunktur dieser — zum Teil erst 1932 veröffentlichten — Schriften, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, und zwar sowohl im Westen als audi in einigen östlichen Ländern, wo dieser junge Marx ein Refugium vor dem offiziellen Marxismus darstellte und doch den Kommunismus anzuerkennen gestattete. Dieses Interesse führte zunächst zur Betonung eines anthropologischen Marx, womit allerdings der Marxsche Theorieansatz zu vordergründig und einseitig gesehen war3. Wesentlicher wurde die einsetzende Diskussion des Problems von Theorie und Praxis, das zum Teil schon vor Bekanntwerden der Frühschriften — so bei K. Korsch und G. Lukács — aufgegriffen worden war. Gerade der Punkt, der die Philosophie früher bedenklich gemacht hatte — die Marxsche Bestreitung einer Autonomie des Denkens, unzureichend charakterisiert als die These von einer Bedingtheit des Bewußtseins durch die .Basis', eine These, die hier als populär bekannt vorausgesetzt und erst später behandelt wird —, wurde nun philosophisch neu bearbeitet. War das Theorem früher der Universitätsphilosophie als erkenntnistheoretischer Relativismus und metaphysischer Determinismus erschienen, so ergab sich jetzt ein Verständnis für die Aufhebung der Autonomie des Denkens und der Philosophie zugunsten einer geschichtlichen Bewegung des gesellschaftlichen Lebens. Engels* metaphysische Verarbeitung der Marxschen Lehre, aber auch deterministische Äußerungen bei Marx selbst, wurden auf s
Wir denken etwa an E. Thier, der an einem „ Menschenbild" des jungen Marx interessiert ist, ferner an H. Popitz und S. Landshut. Wir verweisen wieder auf E. Thiers „Etappen" und auf J. Habermas, Theorie und Praxis (Neuwied 1963) 167—69; 261—335. Vgl. audi M. Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx (Berlin 1960), Einleitung, und G. Hillmann, Marx und Hegel. Von der Spekulation zur Dialektik (Frankfurt 1966), Einleitung.
Der neue Marx
3
ein menschlicheres Format, auf einen Prozeß der Praxis, zurückgebracht. Und gerade diese menschlichere Form der Lehre, die sich von Historismus und geschichtsphilosophischen Morphologemen durchaus unterscheidet, wurde jetzt in Marx wiedererkannt.
Der
neue
Marx
Das Motto, das statt einer Metaphysik des dialektischen und historischen Materialismus nunmehr die Philosophie interessiert, ließe sich Theorie der gesellschaftlichen und geschichtlichen Praxis' nennen. Der historische Materialismus wird nunmehr von einer philosophischen Vorentscheidung zu einem Fragstück, wird in seiner Fassung an der Praxis orientiert und in der Theorie flexibel; der dialektische Materialismus tritt als schlechte Philosophie ganz zurück. Als wesentlich erscheint jetzt, daß die Praxis das Gegenstück zu einer bloß theoretischen Haltung der Philosophie darstellt, die gegenüber einer unvollkommenen Welt selbst unvollkommen ist. Marxens Lehre ergibt sich so als theoretisch gestützte Urgierung von Praxis, als Forderung nach einer Veränderung der Welt. Sie ist in ihrem theoretischen Status verschieden von bloßer Philosophie. Man könnte von einer Theorie sui generis sprechen, die in einem innigen Bezug zur Praxis steht, sidi damit aber verwiesen sieht auf Wirklichkeit und Geschichte als konkretem Medium der Praxis. Oder die Theorie ist, mit Marxens Terminus, „praktischer Materialismus". In gewissem Sinn gerät Marxens Lehre damit in eine Nähe zu Philosophemen der endlichen Praxis, zu Kierkegaard als Exponenten weitgehender Nichtphilosophie, oder zu Heidegger und zum frühen Sartre. Es sind dies zwar noch philosophische Positionen, sie beinhalten aber doch reflektierte Stellungnahmen zu einer allzu optimistischen Autonomie der reinen philosophischen Theorie, für die Hegel als Paradigma gilt. Das Marxverständnis steht jetzt auf der Höhe des seit der Hegelrenaissance eingetretenen Raffinements der philosophischen Diskussion, ja, es ist — was noch größeres Raffinement bedeutet — Reflexion auf die Relativierung der Philosophie zugunsten der Praxis. In gewissem Sinn ist Marxens Lehre andrerseits nicht Rückzug auf den endlichen Menschen gegenüber einer totalen Philosophie, sondern gerade das Gegenteil. Sie gibt dem Menschen ein Transzendieren zu sich als Totalität auf, betont also die Unendlichkeit des zu verwirklichenden Menschen4. 4
Dies Motiv des Transzendierens hat bei einigen Denkern existentialistisdie, theologische und audi mystische Züge angenommen. Vgl. hierzu J. Habermas, Theorie und Praxis 295—305. Hier findet sidi eine kritische Einordnung christlicher, besonders französischer, Mirxdeutungen, aber auch der Positionen E. Blochs, des frühen Sartre und Merleau-Pontys. Zu Bloch ebd. 203—05 und 336—51.
4
Einleitung
Darüber hinaus gewinnt sie Anschaulichkeit: während z. B . Heidegger Geschichtlichkeit zwar berücksichtigt, ja eine Seinsgeschichte, die sich aber wieder nur als Geschichtlichkeit des Seins aussprechen läßt, denkt Marx konkreter an eine in ihrer Gesdiiditlichkeit verstandene Geschichte, aber eben an unsere eine Geschichte. Und ebenso denkt Marx nicht nur an Zuhandenheit, sondern an den gesamten Komplex der Wirtschaft mit ihren Produktionsformen und -Verhältnissen. Diese Konkretion erscheint heute gegenüber existenzialer oder ek-sistenzialer, konkret nur sein sollender Abstraktion anziehend. Marx kommt damit einem populären Interesse an empirisch und doch auch wissenschaftlich Faßbarem entgegen, kann durch Hineinnahme der Ökonomie als Ebene der Theorie audi Strenge geben, und wiederum die Geschichte als Horizont der Praxis und des Selbstverständnisses des Menschen aufnehmen. Konnte das Marxsche Geschichtsdenken einem früheren Marxverständnis als deterministischer Ökonomismus erscheinen, so bedeutet der Akzent auf Praxis gleichzeitig eine Auflockerung einer solchen Fixierung. Man ist in der neuen Perspektive wesentlich orientiert an der Marxschen Kritik ökonomischer Phänomene wie der Warenwelt und der Entfremdung der Arbeit durch das Kapital. Jedoch gibt es, gleichsam in einem eignen Marxismus-Department, auch mehr oder weniger orthodoxe Vertreter des ökonomischen Marx — so etwa P. Baran, P. M. Sweezy, E . Mandel, feinsinniger und philosophischer neuerdings auch R . Rosdolsky —, Vertreter, deren wesentliche Aufgabe es ist, Marxens Theorie vor den oft gegenteiligen ökonomischen Tatsachen und einer diesen besser gerecht werdenden nationalökonomischen Wissenschaft in Schutz zu nehmen. Diesen Bemühungen gegenüber läßt das vorherrschende Interesse am Marx der Praxis die nähere Marxsche Ökonomietheorie und Ökonomiekritik vielfach zugunsten des Praxisthemas, der allgemeinen Kritikabsicht und der praktischen Wahrmachung der Marxschen Lehre zurücktreten. Allerdings gewinnt damit der Gehalt der Marxschen Lehre wieder eine gewisse Abstraktheit. So scheint es jedenfalls in den verschiedenen Versuchen, den historischen Materialismus als ein Ins-Werk-Setzen oder Madien von Wahrheit flexibel zu gestalten und der Kontingenz der Geschichte und dem subjektiven Moment der Praxis als Entschluß und Aktion Raum zu geben 5 . Wir denken an T. W. Adorno, M. Horkheimer, M. Merleau5
Dies im Unterschied zu älteren Autoren wie K. Korsdi und G. Lukács, bei denen das Motiv der Praxis doch noch wieder in einen deterministischen Zusammenhang gerät. Zu Lukács siehe Habermas, Theorie und Praxis 317, 320, 322 f. Zu Korsch siehe unsere Bemerkungen im Text. Genannt sei auch S. Avineri, The Social and Political Thougt of Karl Marx (Cambridge 1968), ein Werk, das zwar Praxis betont, aber nicht einem neuen Ansatz das Wort redet, sondern Marx als Pragmatiker und Taktiker herausstellt.
Die philosophische Beurteilung des n e u e n Marx
5
Ponty, den späten Sartre, J. Habermas und H. Marcuse. Beim späten Sartre — in der Critique de la raison dialectique I — erscheint das neue Marxverständnis zu einer Position reflektiert, die teils kritisch zu Marx steht, teils ihn in einer auf Praxis aufbauenden .strukturellen Anthropologie' tiefer fundieren will. Bei Habermas zeigt sich, ganz anders, ebenfalls ein zu einer eignen Position reflektiertes Marxverständnis, dasjenige einer dialektischen Soziologie, die den Determinismus der Geschichte und der Ökonomie abweist, aber das Moment der Praxis als historisch-materialistisch auslegt. Habermas zeigt auch eine große Aufgeschlossenheit für die Marxsche Ökonomietheorie, die er — weniger phantastisch als H. Marcuse — als historische zu relativieren sucht zugunsten eines an der soziologischen Empirie orientierten Ausblicks auf Ziele der Praxis®.
Die philosophische Beurteilung des neuen
Marx
Die Perspektive, die die neuerliche Aufwertung Marxens eröffnet hat, ist von grundsätzlicher Bedeutung. Ebenso sind es aber auch die Probleme, die der philosophischen Beurteilung Marxens damit gestellt sind. Wir haben im vorstehenden schon immer von ,Lehre' und .Theorie' bei Marx gesprochen, aber muß nicht diese Redeweise wieder in Frage gestellt werden, wenn Praxis gegen Theorie ausgespielt wird? Um was handelt es sich: um eine Philosophie der Praxis? Um irgendwie anders geartete Theorie der Praxis? Um einen Appell an Praxis? Um Geschichtsphilosophie? Vielleicht um all dies zusammen? Wir sprachen von einer ,Theorie sui generis'. Aber was wäre das? Es geht nun nicht darum, an Marxens Werken dasjenige herauszuschälen, was in eine traditionell gefaßte Abgrenzung von Philosophie paßt. Wir müssen vielmehr innerhalb der Philosophie offen sein für ihre eventuelle Negation — etwa weil Philosophie nicht Praxis ist, weil Philosophie Praxis verfehlt —, so daß statt dessen nur Kritik an die Stelle der Philosophie treten kann. Aber was wäre solche Kritik und wie wäre sie zu beurteilen? Was auch immer im einzelnen in Marxens Werken steht, es handelt sich bei diesen Werken nicht nur um einen Appell und einen Impuls, der β
Zu Habermas' Position in der Frage der Ökonomietheorie, siehe in Theorie und Praxis die Aufsätze „Zwischen Philosophie und Wissenschaft. Marxismus als Kritik", 162—214, bes. 188—200, und »Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus", 261—335, bes. 285, 288 f., 317—23. Zu Habermas' Umdeutung der Arbeitswerdehre und der Mehrwerttheorie siehe unseren Exkurs in Kapitel IX, 382 ff. Zum späten Sartre siehe unsere fortlaufende Bezugnahme im Text.
6
Einleitung
auf die Gesdiichte eingewirkt hat und auf unsere Gegenwart einwirkt. Es handelt sich um Lehre. Weiter gilt uns, daß diese Lehre Theorie ist und als solche einer Beurteilung und einer Prüfung ihrer Gültigkeit zugänglich ist. Wir sind uns bewußt, daß unsere Devise den Vorwurf provozieren wird, Marxens Lehre werde dann nur als Philosophie behandelt, während Marx sich doch ausdrücklich von der Philosophie distanziert hat. Hier hätte denn auch die weiche Interpretation des historischen Materialismus ihre Stelle, die auf die geschichtliche Kontingenz und das subjektive Moment des Entschlusses und der Aktion zur Erreichung der Wahrheit, als einer „vérité à faire" (M. Merleau-Ponty), hinweist. Ein auf Praxis und Geschichte abstellendes Verständnis Marxens darf aber eben nicht dazu führen, daß seine Lehre als jenseits aller philosophischen Beurteilung aufgefaßt wird. Die kommende Durchführung einer philosophischen Prüfung der Marxschen Lehre wird diese unsere Überzeugung zwar erst erhärten müssen, aber einiges zu ihrer Stützung läßt sich schon vorweg geltend machen. Es bleibt dem aufmerksamen Leser nicht verborgen, daß Marx Argument auf Argument bringt, daß er philosophische Denkmittel, insbesondere solche Hegels, verwendet, um Thesen zu erhärten und Theoreme aufzustellen, wie er andrerseits eine Generalmodifikation des Hegeischen Denkens ständig fordert. Hier muß also die Möglichkeit einer Beurteilung bestehen, nicht in dem Sinne, ob Marx von Hegel abgewichen sei, sondern ob Marxens Mittel der Theorie das hergeben, was sie sollen, nämlich ein Fazit aus der Geschichte verbindlich zu machen. Es könnte sein, daß die Marxsche Theorie nicht mehr Philosophie ist, aber negativ einer Jurisdiktion der Philosophie unterliegt, ohne daß solche philosophische Jurisdiktion nur petitio, Anmaßung einer Zuständigkeit der Philosophie, wäre. Etwa in dem Fall, daß sich philosophische Fehler zeigten, die konstitutiv sind für das Ergebnis und durch ein über die Philosophie hinausliegendes Ziel nicht wettgemacht werden können. Wäre Marxens Theorie sonst nicht nur Angebot zur unkritischen Hingabe? Nicht eo ipso Einordnung in die Philosophie, aber auch nicht notwendigerweise Kapitulation der Philosophie vor Marx, sondern Prüfung und gegebenenfalls Kritik Marxens durch die Philosophie sind notwendig. Es könnte allerdings sein, daß Marxens Theorie doch wieder zur Philosophie geworden wäre und insofern um so offensichtlicher der Jurisdiktion der Philosophie unterläge.
Die Fragestellung Wir glauben somit also, daß von der Philosophie her zu Marxens Lehre noch etwas zu sagen bleibt, daß das Problem der Theorie bei Marx noch nicht ausdiskutiert ist. Natürlich ist nicht nur ein zugespitztes systemati-
Die Fragestellung
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sdies Problem zu behandeln — etwa das von Theorie und Praxis, von Philosophie und Negation der Philosophie, von gesellschaftlicher Praxis und ökonomischer Determiniertheit —, sondern die ganze Breite der Marxschen Lehre, einschließlich der Ökonomiekritik. Gerade wenn wir bejahen, daß es sich bei Marx um Lehre und Theorie handelt, legt sich dies nahe. Es geht uns um eine gesamthafte Analyse der Marxschen Hauptwerke. Dabei wollen wir die Verstelltheit durch die wuchernde Marxinterpretation und die vielfach herrschende Orientierung an einer untheoretischen, soziologischen und politischen Positivität wegräumen, so paradox es scheinen mag, dies durch eine neue Untersuchung erreichen zu wollen. Wir wollen so tun, als gälte es, Marxens Lehre zu enttechnisieren, zu entpositivieren, erneut auf ihren wesentlichen Gehalt, auf ihre Machart und Dignität, zu befragen. Wir versuchen keine Darstellung des sich wandelnden Marxverständnisses und empfinden unseren Standort auch nicht als einen in einer Reihe von Marxdeutungen oder -Verständnissen. Wir eröffnen erneut die Reflexion auf Marxens Theorie als Theorie, auch um den Preis, vielfach nur in tastender, terminologisch vielleicht nicht zureichender Weise Bekanntes neu zu sehen. (Es versteht sich von selbst, daß wir nicht auf Themen wie die Gesdiichte der Arbeiterbewegung oder der kommunistischen Partei eingehen.) Dieser anscheinend unbekümmerte Neubeginn ist aber durchaus vereinbar mit einer gezielten Fragestellung, und zwar mit einem Akzent auf Marxens Lehre als begründeter, ja sogar als sich selbst begründender, transzendentaler Theorie. Entsprechend ist unsere Untersuchung eine transzendentale Reflexion auf eine transzendentale Theorie. Wir fassen transzendental' dabei weit, so daß auch Hegels spekulatives Denken unter den Begriff fällt. (Auch diejenigen, die den Begriff „transzendental" stärker auf Kant und Fichte eingeschränkt wissen wollen, würden seiner Anwendung auf Marx zustimmen können, insofern sich zeigt, daß bei Marx im Gegensatz zu Hegel wieder ein kritisches, subjektives, praktisches Moment das Treibende ist.) Uns scheint ein solcher Versuch der transzendentalen Reflexion auf Marx in der Literatur nicht befriedigend vorweggenommen zu sein7. Das vorliegende Buch ist für solche Leser geschrieben, die in dem genannten Sinne ein Theorieinteresse haben, für Leser also, die sich die Freiheit nehmen, theoretische Fragen an Marx zu stellen und auch einen gewissen philosophischen Apparat hinnehmen, wenn er Klärung verspricht. 7
So braucht sich unser Versudi denn audi nidit unbedingt getroffen zu fühlen von Habermas' Zensur an den „typischen Reaktionsformen" der Philosophie auf Marx. Siehe Theorie und Praxis 166—69. Vgl. audi ebd. 269—312; 330. — Ein interessanter Versuch transzendentaler Reflexion auf Marx, auf den weiter unten einzugehen ist, liegt in dem Buch von D. Benner, Theorie und Praxis (Wien 1966) vor.
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Einleitung Bedenken
Mit der gekennzeichneten Absicht befinden wir uns im Gegensatz zu dem heute üblichen Plädoyer für Geschichte und Geschichtlichkeit und, näher, zu der weichen Fassung des historischen Materialismus — etwa bei Habermas, aber auch bei anderen oben Genannten —, einer Fassung, die die Marasche Lehre wesentlich mit der Kontingenz der Geschidite, mit soziologischer Empirie und mit der subjektiven Praxis in Verbindung bringt und für eine .vérité à faire' eintritt. Diesem Standpunkt entspricht konsequenterweise eine Ablehnung jeglicher Selbstgründung, sei es der Philosophie, sei es einer Theorie wie der Marxschen8. Habermas glaubt, seinem weichen Standpunkt dadurch Strenge geben zu können, daß er die Angewiesenheit der Kritik auf wissenschaftliche Angaben und Richtigkeiten betont, so daß gewissermaßen dasjenige, was der materialistischen Dialektik an Selbstbegründung mangelt, durch Empirie ersetzt wird. So meint er, daß die materialistische Dialektik „ohne historisch-soziologische Analysen, die den faktischen Geschichtsprozeß allererst,geben', sinnlos" sei®. Wir werden demgegenüber zu zeigen haben, daß Marxens Lehre sehr wohl als transzendentale Theorie mit selbstbegründendem Charakter anzusprechen ist, wenn auch in besonderer, nur auf Marx passender Weise10. Wir befinden uns mit unserem Vorhaben audi im Gegensatz zu der wohl bedeutendsten Marx-Kritik von positivistischer Seite, der von K. R. Popper11. Popper sieht den starken philosophischen Einschlag bei Marx und bestimmt ihn als „Historismus" (historicism, nicht „historism"). Die 8
Vgl. die diesbezügliche Kritik Habermas' an Merleau-Ponty, Theorie und Praxis 304, Adornos Kritik an der Selbstbegründung der Philosophie in seiner Metakritik der Erkenntnistheorie (Stuttgart 1956) 12—49 und in seiner Negativen Dialektik (Frankfurt 1966) 13—63, Habermas' Einordnung Adornos in den Marxschen Zusammenhang, Theorie und Praxis 312 f., wie schließlich Habermas selbst, ebd. 288 f. und 291 f. — Beim späten Sartre ist die Sachlage anders, insofern er durchaus eine sich selbst begründende Theorie geben will. Vgl. hierzu K. Hartmann, Sartres Sozialphilosophie (Berlin 1966) und die laufende Auseinandersetzung mit Sartre im Text. • Theorie und Praxis 312. 10 Habermas selbst spricht immerhin davon, daß der Sinn der Geschidite aus einer Struktur „zunächst transzendental gewonnen wird", die „eine Struktur der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation selbst sein" muß. Theorie und Praxis 311. Das Gegenstück wäre für ihn, daß der Sinn „als allgemeine Struktur des Bewußt»eins oder der Geschichtlichkeit des Mensdien" verstanden würde (Transzendentalismus, Hegelianismus). Diese Disjunktion scheint ungenügend. Es wäre ja denkbar, daß eine Theorie zwar eine transzendentale „Rekonstruktion" der Situation gäbe, aber zu fragen wäre, ob sie diese Situation als Maßstab ihrer in der Rekonstruktion gewonnenen Theorie hätte verwenden sollen. Wir verweisen auf die kommende Analyse. 11 The Open Society and Its Enemies (London 1945, «1966).
Die Durchführung
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Basis für eine Bewältigung der Geschichte ist dabei eine „oracular philosophy", diejenige Hegels, die ebenfalls als historistisch verstanden wird. Der Zentralbegriff für Poppers Marxdeutung ist entsprechend der der Prophezeiung, die historisch nicht zu sichern sei, im Unterschied zu legitimer wissenschaftlicher Prognose oder Induktion. Will Habermas eine lockere Verbindung von dialektischem Denken und kontingenter Geschichte, so bringt Popper die beiden in einen schroffen Gegensatz. Die geschichtliche Theorie bei Marx ist angesichts ihrer Hegeischen Grundlage a fortiori falsch. Unsere Position ist geradezu die umgekehrte: wir halten Hegels Philosophie nicht für „oracular", noch halten wir sie für „historistisch". Vielmehr scheint es uns, daß bei Hegel eine dialektische Ontologie vorliegt. Eine solche Ontologie oder Kategorienlehre kann gerade im sozialphilosophischen Bereich gute Dienste tun: sie kann Gesellschaft und Staat begreifen. Für Popper gilt demgegenüber, daß die Gesellschaft „offen" sei; d. h., sie ist ein Faktum, das sich auf gewisse Paradigmen oder Normen („standards") beziehen läßt, wobei eine Annäherung an solche Normen geschichtlichen Fortschritt bedeutete. Diese Trennung von „facts" und „standards" sieht Popper bei Hegel verletzt (etwa wenn Freiheit und Wirklichkeit in der Bestimmung des Staates in eins gesetzt werden) 12 . Diese Kritik heißt aber nur, daß Popper nicht versteht, was eine Kategorie ist, nämlich ein Begriff, der gewisse Wirklichkeiten als begreifbar setzt. Kategorial kann Hegel mit seiner dialektischen Begriffbildung viel erklären, was Popper entgeht; er kann begründende Theorie geben. Es ist also von einer Bejahung der Hegeischen Denkmittel auszugehen, und von dieser Ebene aus ist die Marxsdie Weiter- und Wegentwicklung, unter Verwendung dieser Denkmittel, zu studieren. Nicht ist schon die nicht-positivistische Philosophie — als kategoriale, ontologisdie, dialektische — lächerlich oder ärgerlich, und so ist erst zu zeigen, daß eine Bemühung um Geschichte deshalb zum Scheitern verurteilt ist, weil kategoriale Denkmittel zugrundeliegen. Uns scheint daher, daß von dem gesicherten Bestand dialektischen Denkens aus eine Marxanalyse und -kritik zu geben ist. Im dialektischen Horizont muß gefragt werden, wie weit es Marx gelingt, Theorie für die Geschichte zu geben. Das heißt nicht, daß eine solche Analyse und Kritik nicht im Ergebnis mit dem Popperschen Urteil über die geschichtlichen Ansprüche des Marxschen Denkens zusammentreffen kann.
Die Durchführung Unser erneutes Studium des Marxschen Werkes stützt sich darauf, daß bei Marx eine große Denkbewegung anzusetzen ist, bei der der Anfang l«
A.a.O. II, 369 ff., bes. 393.
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Einleitung
prinzipielle Bedeutung für das "Weitere besitzt. Wir entscheiden uns also in der Beurteilung der einzelnen Stadien des Marxschen Denkens für die Kontinuitätsthese 18 . Ein Studium dieser Denkbewegung verlangt, so sehr es um die Systematisierung und transzendentalphilosophische Beurteilung eines Ganzen geht, eine Behandlung der einzelnen Hauptschriften. Wir gehen hierin so weit, daß unser Versuch geradezu als kritischer Kommentar zu diesen Schriften verstanden werden kann. Damit ist jedoch nicht dem Referieren das Wort geredet, vielmehr nur der Ermöglichung einer halbwegs umfassenden Analyse und einer sich in ihr entfaltenden Systematisierung und Kritik. Eine gewisse Künstlichkeit ist dabei nicht zu vermeiden: die Analyse wird ein Kompromiß sein zwischen Darstellung, Systematisierung und Kritik. Wir tun so, als ob in der Folge der Werke jedes ein neues Traktandum und eine neue theoretische Variante, eine neue Problemstellung und Problemlösung, beinhaltete. Literarisch mehr oder weniger Gleichzeitiges wird so mitunter in eine Abfolge gebracht, um Probleme und ihre Lösungen in erhellendem Zusammenhang vorführen zu können. Es handelt sich also nicht so sehr um die Werke als um die Positionen an Hand von Werken. Die einzelnen Positionen erfahren je für sich eine kritische Kommentierung, also gerade audi Positionen in frühen Werken, so sehr vielfach eine spätere Schrift Ähnliches sagt wie eine frühere. Gemäß dem theoretischen Fortschritt der späteren Schrift wird die Position dann auf reflektierterer Ebene erneut betrachtet. Vielleicht haben die dadurch bedingten ,himmlischen Längen' auch ihr Gutes. Im Ganzen unterstellen wir bei Marx eine progressive Rationalität, ja wir versuchen sie noch einmal nachzuweisen, wenn auch dies Vorhaben mitunter als Vereinfachung oder Vergewaltigung des philologischen oder geistesgeschichtlichen Tatbestandes erscheinen mag. 18
Die Frage ist verschiedentlich aufgeworfen worden und wird heute, nach Überwindung eines .anthropologischen' Marx und einer Option für den .jungen' Marx, vielfach zustimmend, also im Sinne der Kontinuität, beantwortet. Vgl. A. Schmidt in: Folgen einer Theorie (Frankfurt 1967) 103—29; G. Petrovic, Marx in the Mid-Twentieth Century (New York 1967) 35—51; R.Tucker, Philosophy and Myth in Karl Marx (Cambridge 1964) 165—76. Ähnliches gilt von S. Avineri, in dessen Buch Materialien aus verschiedenen Perioden Marxens zur gegenseitigen Bestätigung herangezogen werden. J. Zelen^ diskutiert die Kontinuität des Marxsdien Denkens gespiegelt an den Etappen der Marxschen Hegelkritik. Siehe Die Wissenschaftslogik bei Marx und »Das Kapital" (Berlin 1968) 274—91. In abweichendem Sinn besteht L. Althusser in Pour Marx (Paris 1965) auf einer „rupture" des Marxsdien Denkens im Jahre 1845 (a.a.O. 233), die die Trennung zwischen ideologischem Humanismus und Wissenschaftlichkeit bedeuten soll. (Entsprechend gebraucht Althusser den Ausdruck „coupure" a.a.O. 25—32 u.ö.). Bei allem Eingehen auf Fragen der Theorie bei Marx stehen Althusser und seine Mitarbeiter (in den beiden Bänden Lire le Capital, Paris 1965) in scharfem Gegensatz zu der hier vertretenen Position wie audi zur Art und Weise der Analyse.
Die Durchführung
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Leitend soll bei alledem sein die Diagnose der Theorie bei Marx, sei diese nun Philosophie oder Nichtphilosophie als Theorie sui generis. Leitend soll also sein der transzendentale Gesichtspunkt der Theorieprüfung. Damit wird die vorliegende Untersuchung wesentlich zu einer systemtheoretischen Untersuchung. Marxens Theorie muß justiziabel sein, muß zumindest im negativen Fall philosophisch beurteilbar sein. Oder es muß klar werden, daß auch eine solche Beurteilung, als dodi noch bloß innerphilosophisches Interesse, wegfallen muß. Mit diesem Ziel wird der frühe wie der späte Marx behandelt, wobei allerdings die ökonomische Theorie mit gröberem Raster gesehen werden muß. Aber auch für sie wird gelten müssen, daß sie als Theorie integrierender Bestandteil der Marxschen Lehre ist und in ihrem Gesamtrahmen beurteilt werden muß. Es versteht sich, daß f ü r unsere Aufgabe auch philosophische Vorgegebenheiten, die f ü r Marx bedeutsam sind, einbezogen und hinzuassoziiert werden müssen, also besonders Hegel, aber auch Feuerbach und einige Junghegelianer. Nicht wird uns Biographie, Geistesgeschidite oder die jeweilige Einflußfrage um ihrer selbst willen beschäftigen, geht es uns doch um die Theorie. Aber gerade f ü r seine Theorie ist Marx von philosophischen Vorgegebenheiten abhängig, die wir in systematisierter Form, zum Teil in Exkursen, beibringen. Es ist davon auszugehen, daß Marx mit vorgegebenen philosophischen Denkmitteln, besonders denen Hegels und Feuerbachs, arbeitet, die, in neue Zusammenhänge eingestellt, neuen Zwecken dienstbar gemacht werden. Insofern bestünde unsererseits ein Interesse am Verständnis dieser .Umfunktionierung', bei der die gleichgebliebenen Mittel vielleicht auch Gemeinsamkeiten der theoretischen Absicht mit sich bringen, nämlich erklärende, begründende, transzendentale Theorie zu bieten, so wenig dies auch von Marx zugegeben werden mag. Man kann uns vorwerfen, daß unser Vorhaben antiquiert sei, da man wisse, was an Marx unhaltbar sei (die Klassenauffassung, die Orientierung an den westlichen Industriestaaten seiner Zeit, die Arbeitswertlehre usw.). Aber vielleicht weiß man es anders als wir, unter Betonung soziologischer und ökonomischer Richtigkeiten von heute, während ein Moment der Theorie bei Marx maßgebend sein könnte, das in seiner theoretischen Dignität nicht eigentlich der Analyse unterzogen wird. Ein Prüfungsinteresse, wie wir es haben, könnte auch der Doktrin des Marxismus in einer seiner späteren Gestalten zugewandt werden; wir gehen jedoch noch einmal auf Marx selbst zurück und behandeln marxistische Weiterentwicklungen n u r dort, wo es angezeigt erscheint, eine Konsequenz der Marxschen Theorie deutlich zu machen. Insofern spätere, moderne marxistische Standpunkte von Marx theoretisch abhängig sind, muß ein Urteil über Marxens Theorie a fortiori diese Standpunkte treffen. Dies durchzuführen ist nur ansatz-
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Einleitung
weise unsere Aufgabe. Es wird allerdings, besonders in den beiden letzten Kapiteln, Gelegenheit sein, die heute vielfach im Vordergrund stehenden Weiterführungen der Marxschen Lehre in aller Kürze heranzuziehen. Im übrigen muß die Subsumtion moderner, an Marx inspirierter Auffassungen unter das hier zu Marx kritisch zu Sagende dem Leser überlassen bleiben.
I. Der Zugang zur Kritik und die anthropologische Wendung Für eine systematisierende Analyse der Marxschen Denkbewegung bietet sich als Ausgangspunkt die Marxsdie Dissertation an. Sie steht nicht nur zeitlich am Anfang, aus ihr läßt sich vielmehr auch ein entscheidender Leitgedanke für die späteren Positionen entnehmen; sie ist als Anfang auch Grundposition, sie ist Ansatz. Für das Verständnis dieses Anfangs desi Marxschen Denkens ist einerseits die Rezeption der Hegeischen Philosophie zu berücksichtigen, andrerseits die des sich entwickelnden Protestes gegen Hegels Philosophie in den späten 30er und beginnenden 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. Wie schon gesagt, geht es uns nicht um eine geistesgeschichtliche Sichtung von Einflüssen, sondern um ein Verständnis des Marxschen Ansatzes und seiner Weiterführung. Wir ziehen Positionen Hegels, Feuerbachs und einiger Junghegelianer nur heran, soweit sie zum theoretischen Verständnis erforderlich sind.
1. Die Situation der fertigen Philosophie Angesichts der Tatsache, daß Marx zugleidi mit Hegels Philosophie erste Gegenpositionen bekannt geworden sind, überrascht es nicht, daß er sich ein Dissertationsthema wählt, das die Formulierung und skizzenhafte Durchführung eines eignen Denkansatzes gestattet. Zwar scheint das Thema abgelegen — der Titel lautet, in Anlehnung an Hegels Schrift von 1801, Über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie —, aber in Marxens Ausarbeitung wird es zu einem Thema mit Bezügen zur zeitgenössischen philosophischen Situation und also audi zu einer grundsätzlichen Stellungnahme gegenüber Hegel.
Die Analogie der nacharistotelisthen
zur nachhegelischen
Philosophie
Geistesgeschichtlich motivierend könnte man darauf hinweisen, daß sich gegenüber dem fertigen Hegeischen System als Objectivum in der nachhegelischen Zeit wieder ein Interesse für das Subjektive, für das Selbstbewußtsein, regt. Schon aus dem Zeitgeist heraus wäre also ein Interesse an Epikur als einem nacharistotelisdien Exponenten des Einzelnen, des
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Der Zugang zur Kritik
Selbstbewußtseins, verständlich. Epikureer, Stoiker und Skeptiker sind „die Philosophen des Selbstbewußtseins'1. Was als Interesse an Epikur lediglich auf Grund einer verwandten zeitgenössisdien Bewußtseinslage genommen werden kann, hat aber seine tiefere philosophische Bedeutung. Ein Interesse für das Subjektive ist für die Junghegelianer nicht nur Interesse, sondern geradezu ein Fazit aus dem Hegelsdien System als ganzem, so wie für Hegel innerhalb des Systems Theorie auf ihrem Kulminationspunkt Rückkehr zur Subjektivität als praktischer wird. Entsprechend läßt sidi Epikurs Philosophie verstehen als Fazit aus einer vollendeten Philosophie, der aristotelischen, und damit ist eine Konsequenz behauptet, die bei Epikur (wie bei den anderen genannten Philosophemen) und in der nachhegelischen Zeit analog ist. In die Deutung Epikurs fließt somit ein Urteil über die Hegeische Philosophie und das aus ihr zu ziehende Fazit ein. Es handelt sich teils um die Diagnostizierung des Subjektiven in Epikurs Philosophie im Lichte des nachhegelischen Standorts — von Demokrit ist im übrigen recht wenig die Rede — , teils um wechselseitige Erhellung, teils schließlich um Kritik der so erhellten zeitgenössischen, nachhegelischen Situation als Fazit. Für eine zureichende Würdigung der Marxsdien Dissertation wäre Vieles anzuführen: etwa der in ihr liegende Gegenzug zur Hegelsdien Deutung Epikurs oder die einzelnen positiven Einsichten in die epikureische Philosophie in Marxens neuer Beleuchtung, so sehr diese sich Hegeischen Denkmitteln verdanken. Wir lassen all dies beiseite und verweisen auf die vorhandenen Interpretationen 2 . Uns ist wichtig, daß es sich bei Marx nicht nur um eine Interpretation auf Grund eines zeitgenössischen Interesses handelt — ein Interesse am Selbstbewußtsein, am Subjekt, am praktischen Wirken, wie es Marx Epikur zuerkennt — , sondern daß Marx zu einer theoretischen These gelangt, die prinzipielle Bedeutung hat, nämlich zu einer Rechtfertigung der Subjektivierung gegenüber einer vollendeten Philosophie 3 . Von einem solchen Gesichtspunkt aus gewinnt Marx an Hand des antiken Themas ein Verständnis der Wendung zum Subjekt, und zwar gerade nicht in dem Sinne, in dem — etwa bei Hegel — Sokrates für eine subjektive Wendung in Anspruch genommen werden kann. Es geht Marx um das Verständnis einer subjektiven Wendung aus der fertigen Philosophie heraus, einer Verwirklichung des Subjekts nicht in der Weise Doktordissertation, Marx-Engels-Werke (Berlin 1956 ff. = MEW) Ergänzungsband, Erster Teil, 309 (Vorrede, Neuer Entwurf). * Vgl. insbesondere G. Hillmann, Marx und Hegel. Dort Verweise auf weitere. 3 Das heißt nidit, daß Marx der einzige oder audi nur der erste wäre, der die Zusammenhänge von fertiger Philosophie und Subjektivierung gesehen hätte. Priorität hat insbesondere A. von Cieszkowski mit seinen Prolegomena zur Historiosophie (Berlin 1838). Vgl. auch etwa A. Ruge in Haitische Jahrbücher, 4. Jg., 1841, I, Vorwort 2 f. und in Deutsche Jahrbücher, 4. Jg. 1841, II, 2 f. 1
Die Situation der fertigen Philosophie
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der sokratisdien Idealität, die nur gleichsam „Behälter der Substanz" wäre4, sondern im Leben, als wirklicher Geist. Und dies Verständnis Epikurs als subjektive Antwort auf eine fertige Philosophie ist gleichzeitig ein Verständnis der nachhegelisdien Aufgabe, mehr noch, ist eine Begründung des aus Hegel zu ziehenden Fazits: eine fertige Philosophie wie die Hegeische führt über sich hinaus zu ihrer Negation im Selbstbewußtsein und in der Wirklichkeit. Die Dialektik von Philosophie und Welt Marx gibt eine schon zur Verallgemeinerung drängende Betrachtung in einem Abschnitt der Vorarbeiten zur Dissertation, in dem von „Knotenpunkten" der Philosophiegesdiidite die Rede ist5, und in einer Anmerkung zur Dissertation selbst®. Beide Male tritt eine wichtige Idee auf, nämlich daß die Philosophie sich „zu einer vollendeten, totalen Welt" abgeschlossen habe7. Die Totalität der Welt ist „dirimiert in sich selbst, und zwar ist diese Diremtion auf die Spitze getrieben, denn die geistige Existenz ist frei geworden, zur Allgemeinheit bereichert... Die Diremtion der Welt ist nicht kausal8, wenn ihre Seiten Totalitäten sind. Die Welt ist also eine zerrissene, die einer in sich totalen Philosophie gegenübertritt. Die Erscheinung der Tätigkeit dieser Philosophie ist dadurch auch eine zerrissene und widersprechend; ihre objektive Allgemeinheit kehrt sich um in subjektive Formen des einzelnen Bewußtseins, in denen sie lebendig ist" 9 . Für die herangezogene Stelle aus den Vorarbeiten und für die Anmerkung zur Dissertation selbst gilt der grundsätzlich Hegeische Gedanke, daß auf Totalität der Erkenntnis Praxis, Subjektivierung, Vereinzelung folgt. Die fertige Philosophie, der frei gewordene theoretische Geist, wird zur „praktischen Energie", wenn Marx dies audi unhegelisch als „psychologisches Gesetz" bezeichnet10, wird zum Willen. „Indem die Philosophie als Wille sich gegen die erscheinende Welt herauskehrt: ist das System zu einer abstrakten Totalität herabgesetzt, d. h., es ist zu einer Seite der Welt geworden, der eine andere gegenübersteht. Sein Verhältnis zur Welt ist ein Reflexionsverhältnis. Begeistet mit dem Trieb, sich zu verwirklichen, tritt * Hefte zur epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie, MEW Ergänzungsband, Erster Teil, 82. 5 Hefte, a.a.O. 214—19. β Anmerkungen zur Doktordissertation, MEW Ergänzungsband, Erster Teil, 326 —30. 7 Hefte, a.a.O. 214. Entsprechend Anmerkungen, a.a.O. 328. 8 Wir lesen mit H.-J. Lieber und P. Furth (in Karl Marx, Frühe Schriften, Stuttgart 1962 = MW Bd. I, 103) „nicht kausal" statt wie bei MEW „erst total". » Hefte, a.a.O. 214—16. 10 Anmerkungen, a.a.O. 327.
16
Der Zugang zur Kritik
es in Spannung gegen anderes. Die innere Selbstgenügsamkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Lidit war, wird zur verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet11." Darin liegt, daß das Andere, Wirkliche, als Moment einer neuen Totalität verstanden wird, die vom Einen, von der Philosophie, aus nicht mehr umfaßt werden kann, sondern nur praktisch einzubeziehen ist (was innerhalb der Hegeischen Philosophie Übergängen von theoretischer Totalität zu absoluter entspricht).12 Indem die Philosophie durch ein Anderes relativiert ist, und dieses durch die Philosophie, ergibt sich die Aufgabe einer neuen Totalität, denn die Philosophie und das ihr gegenüber Andere sind in ihrer Diremtion unvollkommen. Die Philosophie ist, rein dialektisch betrachtet, einseitig, ja widersprüchlich als nicht-totale Totalität, und so ist es das Andere als die Philosophie sich gegenüber habend. Insofern nun die totale Philosophie der Wirklichkeit gegenübergestellt ist, ist das Verhältnis der praktischen Energie, des Willens, zu ihr kein innerphilosophisches Verhältnis mehr. Es handelt sich nicht einfach um einen philosophischen Ausgleich, eine neue gedachte Totalität, so sehr die neue Totalität gerade auch gedacht werden muß, um vorgeschlagen werden zu können; im Denken gefordert ist ein Ausgleich, der über Philosophie hinausgeht: „So ergibt sich die Konsequenz, daß das Philosophisch-Werden zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust, daß, was sie nach außen bekämpft, ihr eigener innerer Mangel ist, daß gerade im Kampfe sie selbst in die Schäden verfällt, die sie am Gegenteil als Schäden bekämpft, und daß sie diese Schäden erst aufhebt, indem sie in dieselben verfällt. Was ihr entgegentritt und was sie bekämpft, ist immer dasselbe, was sie ist, nur mit umgekehrten Faktoren 13 ." Der Ausgleich beider wird als dialektisch gedacht, aber als über einen theoretischen Ausgleich hinausgehend. Es kommt nicht einfach zu einer neuen Progression der Philosophie, vielmehr muß das Andere nichttheoretisch in die geforderte Totalität einbezogen werden.
Die Realisierung der
Philosophie
Bisher ist die Verbindung von Philosophie und Wirklichkeit als „unmittelbare Realisierung" der Philosophie gedacht, und zwar abstrakt gedacht, noch nicht so, wie sich ihr widersprüchliches Wesen in der Er11 12
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Anmerkungen, a.a.O. 328. Auf der Abstraktionsstufe der Logik ließe sich denken an den Übergang von der Idee des Wahren zur Idee des Guten und zur absoluten Idee. Wissenschaft der Logik (hrsg. Lasson, Hamburg 1963, = Logik) II, 477; 483 f.; für die Realphilosophie an die Enzyklopädie (Text von 1830) §§ 468; 469; 482. Vgl. audi G. Hillmann, Marx und Hegel 207—45; 358. Anmerkungen, a.a.O. 329.
Die Situation der fertigen Philosophie
17
sdieinung gestaltet. Marx sagt: „Dies ist die eine Seite, wenn wir die Sache rein objektiv als unmittelbare Realisierung der Philosophie betrachten. Allein sie hat, was nur eine andere Form davon ist, audi eine subjektive Seite. Dies ist das Verhältnis des philosophischen Systems, das verwirklicht wird, zu seinen geistigen Trägern, zu den einzelnen Selbstbewußtsein, an denen ihr Fortschritt erscheint14." Es handelt sich nicht um das subjektive Potential der Kategorie des Geistes im Übergang von theoretischer Bestimmtheit zu praktischer, etwa wenn Hegel, innerphilosophisch, vom „freien Begriff" 16 oder vom „freien Geist" 16 redet. Vielmehr ist zu berücksichtigen das Verhältnis des philosophischen Systems zu seiner Realität, die im Sinne der Zerrissenheit der Totalität selbst subjektiv vereinzelt ist in geistigen Trägern. Die subjektive Seite betrifft die Realisierung der Philosophie „in der Erscheinung" und die Widersprüche, mit denen ihre Realisierung in der Erscheinung behaftet ist. Es zeigen sich Selbstbewußtseine, die „immer eine zweischneidige Forderung haben, deren die eine sich gegen die Welt, die andere gegen die Philosophie selbst kehrt. Denn, was als ein in sich selbst verkehrtes Verhältnis an der Sache, erscheint an ihnen als eine doppelte, sich selbst widersprechende Forderung und Handlung. Ihre Freimachung der Welt von der Unphilosophie ist zugleich ihre eigene Befreiung von der Philosophie, die sie als ein bestimmtes System in Fesseln schlug. Weil sie selbst erst im Akt und der unmittelbaren Energie der Entwickelung begriffen, also in theoretischer Hinsicht noch nicht über jenes System hinausgekommen sind, empfinden sie nur den Widerspruch mit der plastischen Sich-selbst-Gleichheit des Systems und wissen nicht, daß, indem sie sich gegen dasselbe wenden, sie nur seine einzelnen Momente verwirklichen" 17 . Entsprechend erscheint nach der „Diremtion der Philosophie mit der Welt" und der „Diremtion des einzelnen philosophischen Selbstbewußtseins in sich selbst" — eine „äußere Trennung und Gedoppeltheit der Philosophie, als zwei entgegengesetzte Richtungen", oder es erscheinen zwei Richtungen des Verhältnisses zwischen der Philosophie und ihren geistigen Trägern: die „liberale Partei", die „den Begriff und das Prinzip der Philosophie... festhält" und „sich bei ihrem inneren Widerspruch des Prinzips im allgemeinen bewußt [ist] und ihres Zweckes" — sie ist die „Kritik, also gerade das Sich-nach-außen-Wenden der Philosophie" —, und eine andere Richtung, die „positive Philosophie", die den „Nichtbegriff, das Moment der Realität, als Hauptbestimmung festhält". Sie weiß den Mangel nicht als einen der Welt, sondern „als der Philosophie immanent"; bei ihr erscheint die „Verkehrtheit", die „Verrücktheit als solche". „Im Inhalt bringt es nur die liberale Partei, weil die Partei des Begriffes, zu realen Ebd. Enzyklopädie § 468. »Ebd. §§481; 482. 17 Anmerkungen, a.a.O. 329. 14 15
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Der Zugang zur Kritik
Fortschritten, während die positive Philosophie es nur zu Forderungen und Tendenzen, deren Form ihrer Bedeutung widerspricht, zu bringen imstande ist18." Die Festlegung der beiden abstrakt konstruierten Richtungen auf zeitgenössische Strömungen bereitet gewisse Schwierigkeiten. So kann man fragen, ob die liberale Partei Marxens eigne Position bezeichnet19 oder wer mit der ,positiven Philosophie' gemeint ist20. Vom näheren zeitgenössischen Bezug einmal abgesehen besagt Marxens Gedanke, daß das neue Stadium, das unter der Devise einer neuen Totalität steht, nicht nur abstrakt, ,rein objektiv', auf diese hin betrachtet werden darf, sondern daß sich widersprechende und erst auszugleichende subjektive Momente einer Dialektik des wirklichen Prozesses anzusetzen sind. Es handelt sich um eine aufgegebene Hegeische Synthese in dem geschilderten neuen Sinn. Dabei sind die beiden Seiten des Prozesses nicht unmittelbare: Philosophie einerseits, Wirklichkeit andrerseits, sondern jeweils beide in Einheit einander opponiert, als immer schon vermittelte Gegensätze21. Und doch ist die in ihrem Gegensatz allererst zu konkretisierende Sachlage allgemein durch das Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit bestimmbar. Die Philosophie selbst transzendiert die Philosophie, ist praktische Energie, ist Praxis. „Allein die Praxis der Philosophie ist selbst theoretisch. Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz am Wesen, die besondere Wirklichkeit an der Idee mißt22." 18
Ebd. 329 f. " So G. Hillmann, Marx und Hegel 183; 296 f., gegen M. Friedrich. l ® Nach Hillmann ist es das Hegeische „Zentrum", vor allem Cieszkowski und Michelet. Ebd. 299. — Die Einordnung Cieszkowskis überzeugt allerdings nicht redit. Nadi Hillmann (a.a.O. 196) beachtet Cieszkowski die subjektive Bestimmtheit des Prozesses nicht, geht von der Hegeischen Totalität aus und ist bestrebt, sie zu erhalten. Zwar geht er von der Philosophie aus auf die Wirklichkeit, müßte also, so scheint es, der liberalen Partei Marxens entsprechen, aber andrerseits läßt er die Verwirklichung der Philosophie, die soziale Tat, Sache des Staates sein — dies deutlich allerdings erst in einer Schrift von 1842 — und nicht des Subjekts, sei es audi nur eines philosophierenden der liberalen Richtung. 11 Später, in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, wird es in gewisser Weise eine unmittelbare Opposition geben, wenn eine unwissende Wirklichkeit, das Proletariat, von sich aus Philosophie verwirklichen soll. 12 Anmerkungen, a.a.O. 326—328. — Vgl. A. Ruges Begriff der Kritik, Deutsche Jahrbücher Jg. 5, 1842, 761 f.: „Dieser [der einseitig theoretische Standpunct] muß nun aber eben darum, weil er einseitig ist und sein soll, die schreiendsten Widersprüche entwickeln, ja er treibt sich wider Willen über sich selbst hinaus: sobald nämlidi die reine Einsicht wirklich vorhanden und der Wirklichkeit als Kritik lebendig gegenübergetreten ist, kann das praktische Pathos gar nicht mehr gebändigt werden." Ebd. 763: „Der historische Gang ist die Beziehung der Theorie auf die geschichtlichen Existenzen des Geistes, dies ist Kritik und zwar ist die historische Bewegung selbst die objective Kritik . . . " . Ebd. 764: „Gegen diese [Äußerlichkeit oder Existenz], und wäre sie nur seine eigne Denk- und Bildungs-
Die Situation der fertigen Philosophie
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Die Realisierung der Philosophie ist „mit Widersprüchen behaftet", mit dialektischen Parteiungen in der Erscheinung, die ausgetragen werden müssen; und doch ist die Philosophie selbst als theoretische Praxis verstanden. Sie ist „rein objektiv" das, was „in der Erscheinung" die eine Partei, die liberale, ist. Der Ausgang bei der anderen Seite, der der Wirklichkeit, reflektiert als positive Philosophie, kann das Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit nicht bestimmen, noch die Lösung des Widerspruchs ergeben. Nur indem sie sich als Ausgangspunkt nimmt, ist Philosophie, obwohl selbst theoretisch, Praxis, die die Totalität herbeiführt 23 . Die Philosophie ist also Theorie, die praktisch wirkt als Kritik. Die Kritik, soweit bisher von ihr die Rede war, ist eine philosophisdie Besinnung auf die Diremtion von Philosophie und Wirklichkeit, mit einem Ausblick auf die sich konkretisierende Erscheinung, ist also gerade nur philosophische Erfassung des Verhältnisses von Philosophie und Nichtphilosophie. Kritik erscheint als die dialektische Lösung, bei der Philosophie, wiewohl selbst theoretisch, Praxis sein kann. Wir sehen, es ist ein philosophisches Argument geführt zugunsten der Philosophie als Praxis, damit aber auch für eine Abkehr vom bloßen Philosophieren im System, ein Argument also für subjektive Tätigkeit, die mehr ist als Philosophieren. Aber diese subjektive Tätigkeit ist doch wieder nur theoretische Tätigkeit. Es tun sich Fragen auf: einerseits wird das Desiderat, die vollendete Philosophie zu realisieren, noch philosophisch hergeleitet und verstanden, und zwar durch Heranziehung Hegelscher Denkmittel; mit diesen wird zur Philosophie ein Oppositum aufgestellt, das überwunden, aufgehoben, integriert werden muß. Andrerseits wird dies Desiderat außerhalb der Philosophie liegen, werden also die Schritte dorthin praktische Schritte sein. Ist also diese Konzeption Marxens noch Philosophie? Ist sie nicht ein Transzendieren, ein Aufheben der Philosophie, und ist das nicht — mit Habermas — „die Schlüsselthese des Marxismus" 24 ? Wird aber nicht doch dies Transzendieren durch die Philosophie gedacht? Was ist Philosophie, wenn sie sich als Organon einer über sie hinausgehenden Praxis ihrer Verwirklichung versteht, mit der Dialektik als Instrument, gleichzeitig aber diejenige Philosophie, in der dies Instrument heimisch ist, die Hegeische, ablehnt? Offensichtlich ist zu den skizzierten Gedanken Marxens und ihrer ersten Kommentierung eine weitergehende, systematisierende und problematisierende Interpretation angezeigt.
M u
form, muß der Geist sich immer wenden. Das ist Kritik und Praxis. Diese Wendung wehrt Hegel ab. Die Wissenschaft ist ihm nicht zugleich Kritik.. Wir neigen somit zu G. Hillmanns Einschätzung der liberalen Partei als Marzens eignen Standpunkt repräsentierend. Theorie und Praxis 279. Vgl. M. Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx 13; 26.
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Der Zugang zur Kritik 2. Uberphilosophie
Marx entwickelt am Rande seiner Dissertation eine Deutung der Philosophie in ihrem Verhältnis zur Welt. Er wendet Begriffe einer Philosophie, die sich als vollendete ergeben hat, auf diese selbst an: die Philosophie, und zwar die vollendete Hegeische, ist Totalität, und dodi macht sie nur eine Seite der Welt aus, ist als Totalität im Verhältnis zur Welt dirimiert, denn diese steht ihr als Subjektives gegenüber. Ein neuer Gang der Bewegung ist aufgegeben. Es muß einmal darum gehen zu verstehen, was es heißt, die Philosophie sei eine Totalität, und dann, was es heißt, diese Totalität in ein erneutes Oppositionsverhältnis zu bringen mit dem Ziel einer neuen Totalität, und zwar einmal „rein objektiv", wie Marx sagt, also unmittelbar, abstrakt, philosophisch, und zum andern „in der Erscheinung", als von konkreten Subjekten getragener Prozeß. Marx denkt mit einem philosophischen Argument einen Übergang von der Philosophie zu einer neuen Totalität, die noch eingehüllt ist in die ,rein objektive' Abstraktion, und stellt dann die schon über diese Abstraktion hinausliegende Frage nach der Praxis in der Erscheinung, nach dem Prozeß zum Ganzen in der Konkretion. Aber wenden wir uns zunächst der ersteren Frage zu.
Die Totalität der Philosophie Was heißt, eine Philosophie sei vollendet, sei eine Totalität? Eine solche Idee paßt nur zu einer Philosophie, die ihr Fertigsein und Vollständigsein sicherstellen kann. Bei einer Philosophie, die einfach das ihr Wichtige aufgreift, wird man das schwerlich je sagen können. Im Fall einer Philosophie wie der aristotelischen z. B. gibt es zwar eine kosmologisdie Rahmenvorstellung und eine abschließende Gottesvorstellung, aber es ist schwierig, von Vollständigkeit und, bei etwa zugestandenem inneren Zusammenhang, von Vollendung zu sprechen. Erst die Reflexion auf das Desiderat eines inneren Zusammenhangs und auf die Mittel, diesen zu gewährleisten, kann auf eine Philosophie führen, die eine in ihr selbst beschlossene Vollständigkeit, eine in ihr selbst dokumentierte Vollendung hat. Dies wäre eine Philosophie, die Systemcharakter hat, aber — etwa über die Kantische Systematik für die Kategoriendeduktion und die Metaphysikkritik hinaus — auch ein theoretisches Mittel zur Beurteilung ihrer Abgeschlossenheit besitzt. Eine solche Philosophie ist die Hegeische. Es versteht sich also, was den Vorwurf der Marxschen Dissertation angeht, daß eine Parallelisierung von Aristoteles und Hegel als fertiger Philosopheme und entsprechend von Epikur und der nachhegelischen Zeit nicht streng zu nehmen ist. Gerade der entschei-
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dende Punkt der Hegelsdien Philosophie, daß sie eine Philosophie darstellt, die vollständig ist und ihre Vollständigkeit dartun kann, also dargetane Totalität ist, fehlt der aristotelischen, die als Analogie fungiert 25 . Wie stellt sich bei Hegel nun die Totalität näher dar? Hegels Philosophie erreicht ihren Vollständigkeitsnachweis dadurch, daß sie im Medium des Logos, näher im Medium von Kategorien, gehalten ist und eine logische Selbstorganisation der Kategorien aufzeigt. Sie ist Kategorienlehre besonderer Art: sie artikuliert das Sein in kategorialen Begriffen, und zwar in der Weise, daß sie in diesem Medium Weisen der Verknüpfung von Begriffen aufstellt, die, beginnend mit einem voraussetzungslosen Anfang, einen Fortgang und einen Abschluß gestatten. Im Bereich der Begriffe ist der Philosoph gewissermaßen frei, innerbegrifflidie Verhältnisse zwischen zugestandenen Kategorien des Seins aufzustellen, die der Sicherung des Ganzen, seines Anfangs, seiner Verweisung auf Weiteres und seines Abschlusses genügen. Daß der Kategorienbestand zugestanden ist, bedeutet, daß er nicht deduziert, sondern mit den Mitteln der Dialektik rekonstruiert wird. D. h., Hegels Philosophie ist regressiv in dem Sinne, daß sie von Zugestandenem zurückgeht zu solchem, aus dem es rekonstruiert werden kann. Dabei ist das Prinzip für die Rekonstruktion und das Resultat affirmativ; das Resultat ist Grund und Bestätigung der Wahrheit der Rekonstruktion 26 . In seiner Philosophie entwirft Hegel ein Kategoriensystem, in dem die Vernunft Befriedigung findet, in dem dem Bedürfnis der Vernunft Rechnung getragen ist: es wird eine Totalität, eine Vollständigkeit des Logisdien ausgewiesen, und zwar nicht als Aggregat aller aufgeführten Seinsbegriffe, sondern wieder als Kategorie, nämlich des Absoluten, in der das Denken der Kategorien alle Kategorien resümiert und in der es gleichzeitig als Ergebnis der Kategorienlehre erscheint. Die Vernunft hat damit sich selbst verstanden. Es ist dabei bedeutsam, daß diese kategoriale Spitze auf dem Wege über außerordentlich weitgehende Konkretheit der Inhalte erreicht wird. Hegel spricht nicht nur über Sein und Seiendes, oder über Sein und Subjekt, sondern auch über subjektiven, objektiven und absoluten Geist. Diese Philosophie ist also eine Totalität sowohl systemtheoretisch wie inhaltlich, und zwar eine Totalität philosophischer Erfassung des Seins. Das will sagen, sie ist eine Totalität normativer — eben kategorialer — Bestimmungen des Seins oder des Wirklichen, sie ist eine Totalität transzendentaler oder spekulativer Ontologie. Die Bestimmungen des Seins umfassen dabei audh solches, das über die substanzielle Einheit, wie sie die klas15 48
Vgl. G. Hillmann, Marx und Hegel 358. Wichtigster Beleg für die geschilderte theoretische Sachlage ist Hegels Einleitung zur Enzyklopädie, bes. § 9. — Für eine Deutung Hegels in dieser Sicht siehe K. Hartmann, „On Taking the Transcendental Turn", Review of Metaphysics XX, 2 (1966), 223—49. — Vgl. unten zu Marxens regressiver Methode 178 f.; 419 f.
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sisdie Metaphysik oder Naturphilosophie ansetzte, nämlich die des Einzel* wesens, hinausgeht, also plurale Konstitute wie Familie, Gesellschaft und Staat, in denen eine kategoriàle Einheit erblickt werden kann. (Wir sind uns im übrigen bewußt, daß Hegel den Ausdruck ,Kategorie' nur für Bestimmungen der .objektiven Logik' verwendet.) Es wäre reizvoll, hier auf das Hegelbild einzugehen, das Marx und die Junghegelianer hatten. Das kann in befriedigender Weise hier nicht geschehen. Das zeitgenössische Hegelbild, so viel sei nur angedeutet, reicht von systemtheoretischen Charakterisierungen der Hegeischen Philosophie als Identitätssystem (I. H. Fichte, Feuerbach) oder als Philosophie in Form einer einzigen großen petitio principii (sinngemäß Feuerbach), zu einer theologischen Fassung (bei den sog. Rechtshegelianern, besonders C. H. Weisse, kritisch bei Feuerbach). Ein durchgängiges Moment des damaligen Hegelbildes ist, daß die Konkretheit und die Abrundung in sich selbst die Hegeische Philosophie als metaphysische Lehre erscheinen ließ, als eine Welt für sich, die dann als Welt enttäuschen mußte. Wenn nun diese Philosophie selbst einen Begriff von Totalität — das Absolute — aufstellt, in dem sie sich resümiert, so kann man anscheinend die Philosophie, zeitgenössisch als eine eigne Welt vorgestellt, einem Anderen, der wirklichen Welt, gegenübersetzen und die kategoriale Dialektik von Opposition und Totalität als erneut aufgegeben ansehen. Damit kommen wir zur obigen zweiten Frage. Wir erinnern uns an Hegels eignes Verfahren: er hatte eine Logik vorangestellt, die in einem Absoluten — dem Absoluten des Denkens ontologischer Bestimmungen, der absoluten Idee — terminierte, entwarf aber von vornherein eine Fortsetzung zu größerer Konkretion. Die Logik erweiterte sich zum .System'. Hegel betrachtete die Wirklichkeit als erneutes Oppositum zum Gedanken, der in der Logik schon entfaltet war; der Gedanke hat jetzt die Aufgabe, sich durch die Wirklichkeit kategorial differenzieren zu lassen und sie so in Kategorien in sich aufzunehmen. Der Gedanke mußte Kategorien der Natur und des Geistes, als eines Geistes in der Äußerlichkeit des Wirklichen, also die Bestimmungen der Realphilosophie, aus sich entwickeln oder, richtiger, rekonstruieren. Nachdem auch dieser gleichsam zweite, realphilosophisdie Zyklus beendet ist und zur Totalität neuer Stufe — zum Absoluten der Philosophie — geführt hat, ist für Hegel die Sache der Philosophie als Kategorienlehre, als System, zum Abschluß gekommen; dies jedenfalls, insofern wir von den Vorlesungswerken wie der Religionsphilosophie, der Ästhetik und besonders der Geschichtsphilosophie absehen, in denen — dies zeigt schon die Dialektisierung der wirklichen Zeit — das Problem eines anderen, nämlich nicht mehr kategorialen, sondern metaphysischen Verständnisses der Wirklichkeit und im Falle der Geschichte das Problem eines offenen Abschlusses aufgeworfen werden.
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Zyklus
Marx nimmt nun, nachdem die Philosophie ihre Systemtotalität erreicht hat, die wirkliche Welt als erneutes Oppositum, das nach Logik und Realphilosophie gewissermaßen in einem dritten Zyklus durchlaufen werden muß. Die Welt muß philosophisch werden, und dieser Gang der Philosophie ist ein praktischer, ganz so, wie schon bei Hegel innerphilosophisch auf eine theoretische Ganzheit eine Überholung im Praktischen folgt, die erst die vom Objekt bestimmte Totalität der Erkenntnis aufhebt in eine vom Subjekt zu verwirklichende Totalität, und zwar in Kategorien praktischer Einheit, in einer den Subjekt-Objekt-Gegensatz verschwinden lassenden Einheit von Geist und Sein (etwa als objektiver Geist). Aber es ist klar: ein solcher dritter Zyklus, diese Aufgabe des Weltlich-Werdens der Philosophie und des Philosophisch-Werdens der Welt, sieht zwar wiederum aus wie der zweite Zyklus der Hegeischen Realphilosophie, aber er ist eben nun nicht mehr innerphilosophisch, nicht mehr Aufstellung reicherer, wahrerer Kategorien. Gemeint ist vielmehr Verwirklichung. Auch das Subjektivische, das Marx meint, wenn er von den geistigen Trägern des philosophischen Systems, also der vollendeten Philosophie spricht, ist nicht der Philosoph, soweit er die Welt noch besser oder reicher denken soll — dies hat er ja schon zur Vollendung getan; sondern es ist Praxis, subjektive Aktion, Energie, um die Welt zu dem, was die Philosophie über sie kategorial weiß — aber eben als normatives Prädikat nur f ü r den gegebenen Fall weiß — zu realisieren. Es geht also nicht um Kategorien von praktischen Einheiten, sondern um die Umschaffung der Welt, so daß diese den Kategorien entspricht, aber eben nicht nur im gegebenen Fall entspricht, sondern überall und als ganze. Philosophie als Subjekt soll sich Geltung verschaffen in der Welt. Während im kategorialen Denken das Wirkliche miteinbezogen ist, ohne über bestimmte Existenz zu urteilen — Sein ist prinzipiell in den Begriff aufgenommen gedacht als diesen differenzierend, so daß für diese dialektische Einheit von Geist und Sein gar kein Desiderat mehr offen zu sein scheint —, handelt es sich bei Marx um ein reales Geschehen, das eine totale Existenz, ein Totum statt eines Unums, setzt. A. Ruge spricht von einer Gestaltung des „gesamten Daseins" 27 . Die Existenz als Totum der Wirklichkeit ist gedacht als zunächst im Widerspruch " D i e Stelle lautet im Zusammenhang (Deutsche Jahrbücher 4.Jg. 1841, II, 594): „Nicht der Begriff allein, von dem sie ausgeht, sie selbst, die ganze Philosophie ist ihres bloß logisdien Seins müde, und will und muß etwas Anderes sein. In diesem Sinne ist die Hegelsdie Philosophie die Philosophie der Revolution und die letzte aller Philosophien überhaupt. Der Weg zum Anderssein ist angetreten. Das gesammte Dasein muß nun die Gestaltung erhalten, die dem sich selbst begreifenden Gedanken gemäß ist, und worin er sich als gegenständlich zu erkennen vermag..
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Der Zugang zur Kritik
stehend zur Idee, so daß sie der Idee erst angeglichen, mit ihr synthetisiert werden muß. Worin besteht dieser Widerspruch? Darin, daß das Wirkliche die realistisch totale, nicht die nur kategoriale Wirklichkeit, das in den Begriff aufgenommene Sein, bedeutet88. Daß das Wirkliche vernünftig sei, wird nicht mehr kategorial, sondern realistisch verstanden. Die bestehenden Zustände erscheinen als Widerspruch zur Kategorie oder zur Philosophie im Ganzen: teils als ihr real noch nicht entsprechend (im Sinne einer noch unvollkommenen Subsumtion), teils aber auch als ihr gerade entsprechend und doch unvollkommen, da die Bestimmungen der Philosophie einer von ihr dirimierten Welt gelten und insofern falsdi, oder nur von einer unvollkommenen Welt wahr sind. Der Gegensatz von kategorial und realistischtotal erscheint also als Widerspruch des kategorialen und des realen Inhalts, und als Widerspruch von Kategorie und Existenz. Nicht also nur, weil sie immer nodi zu abstrakt ist oder weil sie nach einem logisdi-dialektischen — „idealistischen" — Verfahren vorgeht, sondern weil sie kategorial ist, wird Philosophie abgelehnt zugunsten der Verwirklichung durch Praxis. Zu fragen ist nun etwa, ob sich das Geschehen der Verwirklichung darin erschöpfen muß, von der Philosophie schon Gedachtes zu realisieren, oder ob neue Bestimmungen auf dem Wege zur neuen Totalität gebildet werden müssen. Muß nicht dies dialektische Verhältnis von Geist und Sein, das zur Ausdifferenzierung von Kategorien bei Hegel Anlaß gab, hier ausgeschlossen bleiben, insofern ja Geist und Sein schon in der Philosophie erschöpfend vermittelt sind? Die Frage ist so zwiegesichtig wie der Widerspruch, von dem die Rede war. Es geht nicht um neue Kategorien, sondern um einen Prozeß des Geistes vom Sein her. Geist erscheint unter dem Gesichtspunkt einer aufgegebenen neuen Totalität als Teil der Welt, der sein Getrenntsein verlieren muß. Dabei wird er aber anders, und so müßte der Prozeß auch wieder Stadien der Fortbestimmung durchlaufen, die neu sind. Die praktische Manifestation müßte ein neuer Anschnitt und eine neue Reihe von Gebilden sein, so sehr diese andrerseits von der Philosophie kategorial schon vorgedacht sind. Doch von diesem Prozeß der Verwirklichung des vorerst bei Marx abstrakt Aufgestellten und seiner theoretischen Erfassung wird später die Rede sein müssen. Man könnte nun die Probleme abschneiden und sagen: Hegel treibe Philosophie, Marx dagegen etwas anderes; wozu die Konfrontierung? Die theoretische Pointe bei Marx ist aber, daß eine realistisch gemeinte Totalität dennoch wie eine kategoriale behandelt wird: die realistisch gemeinte Totau
Darin unterscheidet sich Marx von Kierkegaard, der zwar Existenz berücksichtigt wissen will, aber doch die jeweilige, jemeinige Existenz meint und kein realistisches Totum. So bleibt es bei ihm audi bei einer Armut der dialektischen Bestimmungen.
Uberphilosophie
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lität wird von einer Dialektik, also einem logisdien Verfahren für Kategorien, umspannt und soll damit Rationalität und Notwendigkeit besitzen. In einem gleidisam dritten Zyklus der Dialektik wird etwas Philosophiejenseitiges, Wirkliches vorgedacht, das praktisch erreicht wird. So sehr Dialektik nur kategoriale Dialektik, Bewegung im Logos, ist, soll sie hier doch einen Übergang zum realistischen Totum vorzeichnen, ja diesen Übergang als praktischen selbst ausmachen. Damit will Marx dem bloßen Sollen entgehen, das sich sonst, ohne philosophische Vermittlung mit seiner Realisierung, ergeben würde. Die
Realtotalität
Versuchen wir noch einmal eine Klärung, indem wir vom Verständnis einer Hegeischen konkreten Kategorie ausgehen. Eine solche Kategorie beinhaltet einen prinzipiellen Bezug auf Sein, und zwar als auf äußerliches, plurales Sein; plurales Sein ist in ihr als sie differenzierend berücksichtigt. Sie hat Geltung für Jeweiliges, das ihr entspricht, sich in ihr zusammenfassen läßt; sie nimmt Jeweiliges als Eines, als Totalität, impliziert Pluralität, aber nur prinzipiell. Das jeweilige durch sie Kategorisierte hätte nicht noch einen Prozeß durdizumadien, um der Kategorie zu genügen oder zu Recht kategorisiert zu sein — dann wäre ja die Kategorie falsch —, während es andrerseits nicht sinnvoll wäre, alles dieser Kategorie zu unterwerfen: sie paßt, wo sie paßt; aber prinzipiell — in einer Vorgabe des Kategorienbestandes und einer transzendentalen oder spekulativen Rekonstruktion — ist gesichert, daß sie im gegebenen Fall nicht leer ist. Die Verwirklichung einer schon konkreten Hegeischen Kategorie zielt dagegen auf ein bestimmtes Sein, auf eine Gesamtheit von Existenzen (Nation, Menschheit). Die Absicht auf mehr als prinzipielle Seinsimplikation würde, für Hegel, verlangen, dies Sein als Einziges auszuzeichnen, bei dem die Kategorie Sein über die Jeweiligkeit hinaus bindet, gemäß einer Kategorie, die nur Einziges zuläßt (Kategorien des Absoluten: Gott, Weltgeist, Philosophie). Bei Hegel wäre die Ebene eines Einzigen erst auf einer kategorialen Höhe erreicht — Gott, Weltgeist, Philosophie —, auf der ein realistisches Verständnis ausgeschlossen ist, das Problem eines Gesamten im Untersdiied zu einem Jeweiligen also entfällt, das Einzige nidit real ist. Kategorien des Absoluten sind Kategorien von Einzigem und somit nicht mehr nur von Jeweiligem — es scheint, es „gäbe" das Betreffende nicht nur im gegebenen Fall, sondern auf Grund der dargetanen Kategorie, und zwar als vollkommenes —, aber die Kategorien sind nicht mehr Kategorien des Realen; die Äußerlichkeit ist aufgehoben. Hegel vermeidet so das Problem einer Verwirklichung der Kategorie, ein Noch-einmal-mit-dem-SeinVermitteln des schon mit ihm prinzipiell Vermittelten, und zwar im Fall der konkreten nidit-absoluten Kategorie, indem sie Kategorie für Jeweili-
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ges ist, und im Fall der konkreten absoluten Kategorie, indem das Einzige, das sie meint, nicht real ist. (So kann Hegel auch, nur scheinbar paradoxerweise, den ontologischen Gottesbeweis bejahen.) Die Absicht auf Verwirklichung der Philosophie, auf mehr als prinzipielle Seinsimplikation, verlangt die Umgestaltung der Kategorie in eine Gesamtheit bestimmter Existenzen, also in etwas Reales, das die absolute Einheit der Kategorie in der Äußerlichkeit eben der pluralen Existenzen darstellen muß. Dies heißt einmal, der Kategorie in der Äußerlichkeit die absolute Charakteristik geben, also das Totum dodi nach einer Kategorie denken, die Einzigkeit mit sich führt. Man kann von einem Real-Absolutum sprechen. Wir finden es etwa bei Cieszkowski, der die Verwirklichung der Philosophie als Gott anspridit, aber audi als Einheit von subjektivem und objektivem Geist, als absolute Persönlichkeit, organische Menschheit, Kirche29. Die Konzeption ist paradox. Und, es heißt auch wiederum, die Einheit der konkreten absoluten Kategorie sich in Existenzen niederer Kategorie darstellen lassen. Das Gesamte, das Totum, wäre existent in den Vielen, aber nicht, insofern es einen Inhalt hätte, wie er sich nur f ü r Einziges eignet, wie Gott, sondern gerade als reales Gesamtes, als Pluralität von Existenzen niederer Kategorie, ist es Verwirklichung der — nunmehr abstrakt bleibenden — absoluten Kategorie oder der Philosophie. Das Nicht-Absolute soll total, absolut, sein, d. h., es soll niemanden geben, der als Einzelner nicht an der Charakteristik des Gesamten als Einzigen, Absoluten, teilhätte. Aber die absolute Charakteristik ist nicht aufweisbar als inhaltlich und seinsmäßig konstitutiv für die Vielen. Es handelt sich um eine (ihrerseits kategoriale) Paradoxic, insofern diese Existenzen die Einheit nicht sein können, die die Kategorie meint; sie sind ja niederer Kategorie. Man müßte denn diese Existenzen nur wieder als jeweiliges, in der Einheit aufgehobenes Seinsmoment denken, und wäre damit wieder bei Hegel oder Cieszkowski. Im Fall der Ansetzung eines Real-Absoluten bei Cieszkowski, wie im Fall der realistisch-anthropologischen Darstellung der konkreten absoluten Kategorie bei Marx, ist die äußerliche Pluralität von Existenzen als konstitutiv für eine Gesamtheit, wie sie die konkrete, absolute, Kategorie meint, wie umgekehrt die Kategorie als konstitutiv für die Pluralität, nicht verstehbar 30 . M
so
Vgl. Prolegomena zur Historiosophie 153; Gott und Palingenesie (Berlin 1842) 59; 86; 91. — Hegel andrerseits lehnt z . B . den Weltstaat (der ein Real-Absolutum wäre) ab, Rechtsphilosophie §§ 330—37, während das Absolute, der allgemeine Geist als Weltgeist, über die Realität hinausgerückt ist, Rechtsphilosophie § 340. Das ist ein Indiz, daß Hegel die Cieszkowskisdie Paradoxic erkannt und vermieden hat. Der Staat ist besonderer, real, daher immer plural. Vgl. unten die Ausführungen zu Gattungswesen und Gattungsleben und zur Assoziation 146 ff. — Zu Ruge und noch einmal zu Cieszkowski nehmen wir unten in einem Exkurs zu Staat und Geschichte Stellung. Sartres Versuch, in den genannten Fragen weiterzukommen, klammern wir vorerst noch aus.
Überphilosophie
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Cieszkowski, der das Real-Absolute vertritt, ist letztlich Mystiker, während Marx, wie sich später deutlicher zeigen wird, hinter der konkreten absoluten Kategorie zurückbleibt; er wird eine .Assoziation', eine abstrakte Gesamtheit, fordern, die eigentlich nur dadurch bestimmt ist, daß ihre Elemente eine positive Beziehung zueinander haben. Damit soll die konkrete Kategorie oder die Philosophie durch ihr anthropologisches Analogon verwirklicht sein. Umgekehrt kann dann die abstrakt gebliebene Kategorie des Absoluten als Paradigma erscheinen, als Gesolltsein von Absolutheit. Vorerst geht es uns jedoch um den Ansatz als solchen. Hier fanden wir, daß Marx einerseits dialektisch-kategorial, andrerseits realistischanthropologisch denkt. Es wiederholt sich bei ihm einerseits nur ein Hegelscher Zyklus, andrerseits ist Philosophie Forderung an die Realität im Rahmen des kategorial Vorgedachten. Philosophisches Vordenken und Praxis bleiben einerseits genauso getrennt wie in der praktischen' Philosophie oder Ethik, und doch ist dies Vordenken dynamische Einheit seiner selbst und des Vorgedachten: indem es die Wirklichkeit als totale der im Grunde nur kategorialen Forderung unterwirft, ist ein überpkilosophisches, iiberkategoriales Ziel der Praxis anscheinend philosophisch, kategorial, begründet; allerdings nur auf Grund einer Verwechslung von kategorialem Unum und realistischem Totum. Wir könnten auch sagen: das Ziel ist begründet durch einen Kategorienfehler in dem Sinne, daß kategorial-dialektisdies Denken dort angewandt wird, wo es nicht gerechtfertigt ist. Ohne diesen Fehler kämen wir nicht zur notwendigen Setzung der Praxis. Der Fehler liegt, wie gesagt, in der Paradoxic des Versuchs der kategorial-dialektischen Bewältigung eines Totums im Sinn realistischer Existenz. Philosophie ist nur das ,Wesen' der Existenz; sie soll weitertreiben (wie Hegels Logik zur Realphilosophie), andrerseits muß die Wirklichkeit oder die Praxis dies Geschäft übernehmen, das Weitertreiben der Philosophie selbst sein.
Der Ansatz als algoritbmischer Der Ansatz läßt sich, weniger im Sinne kritischer Beleuchtung als pointierter Charakterisierung, nodi einmal anders darstellen: Marxens Ansatz in der Dissertation ist der Versuch, eine Theorie aufzustellen, die in sich ihre Verwirklichung .enthält', ,setzt'. Sie ,denkt' sie nicht als aufgegebene Orientierung an einer Norm, wie die Ethik das täte, sondern begründet sie gleichsam in einem Algorithmus. Die Verwendung dieses Terminus aus der Mathematik wird zunächst befremden. Wir meinen damit folgendes: Algorithmus bedeutet uns im einfachen Fall die Eigenschaft eines Symbolsystems, wonach eine Operation
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mit Elementen dieses Systems ohne Nachdenken, gleichsam mechanisch, bestimmt ist. (Die Operation etwa der Addition ist durch das arabische Stellensystem weitgehend medianisch möglich, bei verständigem Zählen innerhalb von Einern: der Übergang zu höheren Werten führt im dekadischen System einfach zu einer neuen Kolumne zu Zehnern, die wie Einer zu behandeln sind, während man etwa bei römischen Zahlen bei jedem Additionsschritt nachdenken müßte, also kein Algorithmus die Operation bestimmte.) Unser Vergleich hinkt natürlich, ein mathematischer Algorithmus ist nicht paradox, sondern innertheoretische Verknüpfung von Systemeigenschaft und Verfahrensregel81. Wir pointieren weiter mit dein Ausdruck, daß ein theoretischer Ansatz aus sich heraus Anweisung für die Operation oder Praxis ist, so daß ein Rekurs auf Theorie unnötig wird; die Praxis braucht sich nicht denkend an einer Norm, an einem Paradigma — im Marxschen Fall also ,ethisierend' — zu orientieren. Sonst wäre nur wieder ein Paradigma, eine Norm, und die Praxis als ihr gegenüber, philosophisches Thema, so daß Praxis sich erst zu überlegen hätte, ob und wie sie folgen soll. Vielmehr ist sie Ergebnis des Ansatzes durch die theoretische Eigenschaft des Ansatzes. Läßt sich ein Algorithmus allgemein als Verfahren zur Produktion von Lösungen ansehen, bei dem die Lösung gleichsam garantiert ist82, so erscheint Marxens Ansatz als Algorithmus überhaupt, als Verfahren zur Produktion von Lösungen überhaupt, als Ansatz für Praxis. Das Gemeinsame der Analogie ist das Verhältnis von theoretischer Grundlage (Symbolsystem, Regel, Ansatz) und Operation, Praxis, und daß Operation oder Praxis nicht mehr rekurrieren muß auf ein Paradigma, eine Einsicht, eine Rechtfertigung, um erfolgen zu können. Wir sprechen auch von einem .dynamischen' Ansatz, in welchem Wort aber nicht der Vorgriff auf eine Lösung zum Ausdruck kommt. Es handelt sich um eine gezielte Dynamik. Man könnte nun sagen, auch die dialektische Philosophie, soweit sie über Praxis philosophiert, zeige eine solche Dynamik, indem Praxis sich in der Begriffsbewegung als Fazit aus dem Erkennen entfaltet; Praxis ist gewissermaßen in der Theorie ausgelöst als etwas jenseits des Erkennens; dabei ist sie selbst Bestimmungsfortschritt und nicht darauf beschränkt, sich zu einer Norm prüfend und gegebenenfalls übernehmend verhalten zu müssen. Aber mit dieser Hegeischen Parallele befinden wir S1
Wir finden beim Begriff des Algorithmus allerdings auch die Zweideutigkeit von theoretischer Grundlage (Systemeigensdiaft usw.) und Verfahren, eine Zweideutigkeit, die im Begriff der Regel überbrückt erscheint. 82 Vgl. den Artikel „Algorithm" von D. W. Taylor in der Encyclopedia Britannica 1962, vol. 22, 134 Β: „For some kinds of problems, processes are known whidi have the very valuable property that if the problem has a solution, the process will, sooner or later, produce it. Sudi a process is called an algorithm . . . A process that may solve a particular kind of problem, but that offers no guarantee of doing so, is called heuristic."
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uns immer noch wieder auf kategorialer Ebene, auf der Ebene von Kategorien der Praxis. Die Analogie des Algorithmus dagegen legt sich nahe als nidit-kategoriale Analogie, wo Operation selbst als ansatzbestimmt erscheint. Meint man nun vielleicht, schon die Hegeische Dialektik sei algorithmisch, so wäre zu sagen, daß sie nicht die Aufgabe hat, etwas zu ,lösen', es sei denn das selbstgestellte Problem einer Rekonstruktion der Kategorien. Der Ausdruck ,Lösung' ist eigentlich nur sinnvoll in einem Bereich, wo das Ergebnis nicht schon da ist und nur noch einmal nachvollzogen wird. Allerdings kann Marx einem solchen Verständnis der Dialektik nicht entgehen, er muß immerhin in der Abstraktion einen Totalitätsrahmen vordenken. Aber Marxens Dialektik ist algorithmisch als Versprechen einer Lösung, als Anweisung f ü r die Erscheinung, als Aus-sich-Entlassen der Praxis als Lösung mit der Gewißheit eines Ankommens beim Ziel. Die von uns herangetragene verfremdende Analogie beleuchtet noch einmal auf nur scheinbar abseitige Weise das Problem von Theorie und Praxis, wie es sich im Ansatz bei Marx stellt. Denken, Theorie, Philosophie sind unverzichtbar, aber sie sollen über sich hinausweisen. Philosophie selbst steht in dem Konflikt, einerseits dialektisches Denken zu sein, das über jede Einseitigkeit — auch die, bloß Theorie zu sein — hinausführen soll; andrerseits sind ihre Kategorien nur Repräsentationen der Wirklichkeit, trotz aller Dialektizität erscheinen sie als paradigmatische Universalien, so daß die Annäherung der Wirklichkeit an den Begriff — genauer die eines Totums der Wirklichkeit an die kategoriale ,Welt' — nur eine offene, begrifflich nicht zur Notwendigkeit zu erhebende wäre. Fragte man, wie Philosophie im letzteren Fall zur Verbindlichkeit, zum Ernstgenommenwerden, ja zur Effektivität kommen und Wirklichkeit verändern könnte, so wäre die Antwort nur: durch Appell, durch Kritik im Hinblick auf ein Paradigma, durch einen empirisch-faktischen Uberzeugungsprozeß. Die Philosophie wäre das Wesen, das Ideal, zu dem aufgeschaut wird, ohne daß ein Rechnungtragen diesem Wesen gegenüber reale Notwendigkeit hätte. Demgegenüber soll nun der Ansatz Marxens in der Dissertation einen Algorithmus aufzeigen, eine Notwendigkeit der Verwirklichung kraft der Theorie. In diesem Ansatz ist der Algorithmus allerdings noch abstrakt, nur im Grundsatz dekretiert (wenn auch schon für die ,Erscheinung' ansatzweise konkretisiert), die näheren Fragen der geschichtlichen Verwirklichung und damit des näheren Charakters des Algorithmus sind noch offen. Es eröffnet sich aber schon ein theoretischer Horizont für eine ausgeführte Theorie, wie sie in gewissem Sinne schon in den Pariser Manuskripten, letztlich allerdings erst im Kapital vorliegt. Die Forderung nadi einer solchen konkreten Ausgestaltung des bloßen Ansatzes legt sich schon mit der Idee des Algorithmus selbst nahe: man will sehen, wie es genau funktioniert.
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Die Praxis Die Verweisung des Ansatzes für Praxis auf eine genaue Theorie der Praxis ist auf der Stufe der Dissertation zunächst nur gedacht durch die Verweisung auf die .Erscheinung', die erscheinende Praxis mit ihren entgegengesetzten Richtungen. Die ,rein objektiv' vorgedachte Totalität, die sich durch Praxis herstellen soll, ist zu unterscheiden von der .Erscheinung', der subjektiven Urgierung, der subjektiven Praxis. Ebenso muß die Philosophie als Erscheinung, indem sie Praxis ist und etwas urgiert, unterschieden werden von ihr selbst, insofern sie diese Praxis vordenkt. Als Vordenken dieser Praxis ist Marxens Philosophie nicht mehr Praxis als Hegels Philosophie audi; Hegeische Philosophie und Marxsdie Philosophie wären gleichermaßen Praxis im trivialen Sinne, als Philosophieren. Die Kritik, als die sich Marxens Philosophie im Ansatz versteht, wäre Praxis in einem signifikanten Sinne als ,Erscheinung', als Urgierung durch geistige Träger. Sollte dies auch für Hegels Philosophie gelten, so müßte man fragen, was sie denn urgieren könne, hat sie dodi an kategorialer Wahrheit ihr Genüge. Soll sie urgiert werden, so in Richtung auf totale Verwirklichung statt auf Erkenntnis der Wirklichkeit in kategorialer Form. Dies ist dann aber schon die Marxsche oder die von den Junghegelianern angezielte, wenn auch von diesen — mit Ausnahme von Cieszkowski — nicht im Ansatz sdiarf erfaßte Lösung 88 . Hegel mit seiner kategorialen Orientierung hätte selbst diese Position nicht einnehmen können. Soll das Verhältnis von Wirklichkeit und Hegelsdier Philosophie, die ja das Vernünftige als immer schon wirklich erklärt, noch steigerbar sein, so könnte dies nur in der Weise gedacht werden, so scheint es, daß sie, oder ihre Resümierung in einer maßgebenden konkreten Kategorie, als Paradigma für eine weitere Annäherung der Wirklichkeit an sie genommen wird. Dabei wäre ein solcher Prozeß der .Anwendung' der Philosophie oder des Appells, das philosophische Paradigma zu verwirklichen, kein dialektisch formulierbarer Prozeß. Es handelte sich nur um ein ethisierendes, am Sollen festgemachtes Verständnis Hegels. Man meint vielleicht, daß die Frage, ob eine Verwirklichung der Hegelschen kategorialen Theorie durch dialektische Praxis stattfinden kann oder ob die Hegelsdie Theorie Paradigma ist oder ob keins von beiden statthat, in der Geschicbtsphilosophie ihren Platz haben müßte. Die Frage ist aber abwegig, sdion weil die Geschichtsphilosophie in der Gegenwart Hegels als ss
A. Ruge etwa bleibt dodi der bloßen Philosophie sehr nahe, wenn er von einem „neuen Idealismus" spricht, oder von einem „wahren Monismus des Geistes" (Deutsche Jahrbücher 4. Jg., 1841, II, 3). Vgl. audi M. Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx 26.
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Vollendung terminiert. Hegel gibt, besonders in der Kurzfassung der Geschichtsphilosophie in der RechtsphilosophieS4, allerdings auch einen Ausblick auf eine Weiterentwicklung im Sinne von besonderen Varianten — Volksgeistern — innerhalb der Kategorie des Staates; aber dieser Prozeß ist dodi nur eine abstrakt bleibende Progression in Richtung auf einen Ausgleich von Absolutem und Besonderem in der Zeit, ist also ein logisdies Theorem, in die Äußerlichkeit versetzt. Im übrigen gilt, daß die Geschichtsphilosophie mit dem Begriff einer „List der Vernunft" arbeitet. Die zeitliche Wirklichkeit verhält sidi nicht selbst zu ihrer Vernunft, sondern entspricht nur dem logischen Theorem. Wenn auch die Staatskonzeption als immer schon wirkliche nicht schon vernünftig wäre, so hätte die Geschichtsphilosophie doch keinen Raum für eine dialektische Praxis, die die konkrete Kategorie oder die Philosophie verwirklichte. Aber damit sagen wir nur, daß Hegels Geschichtsphilosophie nicht die Marxsche oder, allgemeiner, junghegelianische Position ist. (Wir kommen auf die Frage zurück in dem Exkurs zu Staat und Geschichte.) Das Marxsche Denken will Praxis hergeben in dem spezifischen Sinne, daß es Praxis als Erscheinung begründet durch ein Vordenken in der Theorie. Die erscheinende Praxis ist gefordert aus einem theoretischen Ansatz. Der Marxsche Ansatz übergreift erscheinende Praxis, nicht nur Philosophie als triviale Praxis, sondern Praxis, die Philosophie urgiert. Daher kann Philosophie auch selbst in einem nicht-trivialen Sinne als Praxis gelten, eben indem sie sich als Kritik versteht, d. h. indem sie das Verhältnis von Denken und Sein nicht mehr als kategoriales Problem, sondern als Forderung nach Umgestaltung eines Gesamten oder Totums versteht, und doch so behandelt, als ob sie einer kategorialen Dialektik für die Erreichung der neuen Totalität versichert wäre. So denkt sie zwar Praxis doch wieder kategorial („rein objektiv") vor — als letztliche Totalität durch Praxis —, aber sie meint die Totalität als reales, von pluralen Subjekten konstituiertes Gesamtes. Wie die Philosophie als theoretischer Ansatz, so ist also audi die Praxis als Fazit des Ansatzes an ihr selbst paradox, und zwar als Vordenken, das als Kritik schon immer Praxis ist, und als erscheinende Praxis, die die „Form" der ersteren sein soll. Oder, sie zeigt sich als Argument, das auch — in Form der „liberalen Partei" — erscheinende Praxis ist und durch Kritik relevant sein soll für eine Veränderung der Welt. Die Trennung von Argument und kritischer Ausführung bleibt; eigentliche Praxis ist nodi nicht theoretisiert, noch nicht vermittelt mit der gestellten Forderung. Wir ahnen ein Problem von Kritik und Praxis als Folge des Problems von Philosophie und Kritik. M
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Die Kritik Wenn die Praxis als Fazit aus der Philosophie an ihr selbst einer Paradoxic unterliegt, ist sie doch dies Fazit in Form von Kritik und damit selbst in Form von etwas Theoretischem, so ist der Begriff der Kritik, als Fazit der im Ansatz aufgegebenen Dialektik, ebenso paradox. Dem philosophischen Argument zufolge müßte das, was aus ihm folgt, Praxis sein, so wahr der neue Zyklus über die Philosophie hinaus im Praktischen liegt; umgekehrt ist das Praktische, das folgt, nur Kritik, Theoretisches, Denken, Reden, Schreiben. Die Differenz von Praxis und Kritik ist selbst Funktion der Paradoxie des Ansatzes, und wir können Marxens zentrales Bemühen im folgenden, wie gesagt, darin sehen, diese Differenz, als paradoxe, zu beseitigen, also die Kritik als bloßes Reden oder Philosophieren weiterzutreiben zu einem Algorithmus der Praxis, gefaßt in einer Theorie der Praxis, dergestalt, daß es nicht mehr am Reden der Kritik hängt, ob ein Fortschritt der Praxis erzielt wird. Wir fragen uns allerdings, wie eine solche objektive Theorie den Einwänden wird entgehen können, die Marx gegen Theorie selbst gemacht hat. (Es erhellt aber immerhin schon in diesem Zusammenhang, daß in unserer Sicht der Dissertation ein anderer Ort angewiesen werden kann, als wenn man sie zusammen mit den übrigen Frühschriften als Zeugnis einer (noch) humanistischen Position ansieht (L. Althusser), die dann später von Wissenschaftlichkeit abgelöst wird. Vielmehr wird ihr ein theoretischer Ort angewiesen — der eines Ansatzes zu einer Theorie der Praxis —, von dem aus die künftige Wandlung der Theorie zu einer objektiven Theorie, und zwar als theoretische Konsequenz, schon sichtbar ist. Aber wir sind vorausgeeilt.) Betrachten wir das Problem auch noch vom Gedanken der Aufhebung oder des „Verlustes" der Philosophie durch ihre Verwirklichung. Auch diese These — nicht zu verwechseln mit einer etwaigen Wendung von der Philosophie zur positiven Wissenschaft35 — muß nach dem Ansatz notwendig paradox sein. Nach dem Argument des Ansatzes wäre die These einsichtig im Sinne der Idee einer notwendigen Hegeischen Synthese, in der Wirkliches und Philosophie zusammenfallen. Von der Seite der ,Erscheinung', der Seite der geistigen Träger, her wäre sie gerade nicht einsichtig. Audi wenn wir die Erscheinung', die vorläufige Opposition von Philosophie und Wirklichkeit und die ihr entsprechenden Teilvermittlungen, überwunden dächten, ,gäbe' es Philosophie nach wie vor. So wenig etwa Hegels Philosophie, die ein Wirklichsein der Vernunft setzt, die Wirklichkeit ist und 35
Vgl. hierzu K . Korsdi, der sich in einem allerdings sehr viel späteren Zusammenmenhang des Marxsdien Werkes gegenüber der Orthodoxie der Zweiten Internationale dagegen verwahrt, daß M a r x die Philosophie „durch ein System abstrakter und undialektisdier positiver Wissenschaften" habe ersetzen wollen. Marxismus und Philosophie (Frankfurt 1966) 109.
Überphilosophie
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also aufgehoben wäre, so wenig wäre im Falle der Marxschen Synthese von Philosophie und Wirklichkeit Philosophie aufgehoben. Sie bliebe der ideale Gedanke, der leitend ist für die Aufhebung der Philosophie, bliebe aber auch ein Denken, Reden und Schreiben. Die Marasche These ist nur eine der apriorischen, logischen Konstruktion, wonach ein neuer Zyklus und eine neue Synthese das Frühere hinter sich läßt und aufhebt; sie projektiert nur eine Aufhebung, die als Wirklichkeit genommen paradox ist. Nur wenn Philosophie rückblickend von der gedachten überphilosophisdien Synthese her als der Wirklichkeit gegenüberstehende Idealität, als gleichsam nur Gesolltes, als Ethik, aufgefaßt wird, kann Philosophie aufgehoben gedacht werden, womit sie dann paradoxerweise gerade dem Hegeischen Gedanken eines Wirklichseins der Vernunft nachkäme. Die Marxsdie Position im Ansatz der Dissertation, so ließe sich die theoretische Sachlage, wie sie sich bisher darstellt, zusammenfassen, steht zwischen einer Philosophie als Ethik, die als solche das Sollen, die Distanz zur Wirklichkeit, beibehält und darin nicht algorithmisch ist, keinen dialektisch notwendigen Prozeß zur Verwirklichung des Gesollten angibt, und der Hegeischen Position, die kategorial ist und damit die Wirklichkeit der Kategorien oder die Vernünftigkeit der Wirklichkeit immer schon als gewährleistet ansetzt — beides in sich rationale, nicht-paradoxe Theorien der Praxis. Die Marxsdie Position im Rätselansatz der Dissertation hat an beiden teil: sie setzt eine Spannung von Philosophie und Wirklichkeit, wie die Ethik, macht das Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit aber paradox durch die Aufnahme des Hegeischen Gedankens der dialektisch gewährleisteten Wirklichkeit der Philosophie. Praxis muß beibringen, was der Hegeischen Philosophie, als Ethik aufgefaßt, fehlt, um mit der Hegeischen Position eines Wirklichseins der Vernunft zusammenzufallen. Theoretisch bedeutet das, daß Marx im Gegensatz zur Ethik und zur Hegeischen Position Praxis als Alternative der Theorie auffaßt, Theorie und Praxis alternativ setzt. Die Dissertation gibt dafür den Ansatz, der innertheoretisch die Alternative zur Theorie, die Praxis, zwingend machen will. Der Ansatz ist damit selbst ein Ansatz zu paradoxer Theorie, die in eigentümlicher Weise, anders als die Ethik oder die Hegeische Philosophie^der Praxis gilt. Es wird Marx von diesem Ausgangspunkt aus auch in den späteren Schriften nicht mehr möglich sein, Theorie als mit der Wirklichkeit konsonant und als affirmativ zu verstehen, und insofern ist der Ansatz der Dissertation von prinzipieller Bedeutung für alles Weitere. Da es sich bei Marxens Ansatz um eine wichtige Vorentscheidung handelt, scheint es gerechtfertigt, auf einige neuere Ausleger einzugehen, die einen anderen Akzent setzen.
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Der Zugang zur Kritik Praxis das Primäre ? Zu den Deutungen von M. Friedridi, G. Hillmann und D. Benner
Entgegen unserer Deutung, daß in Marxens Dissertation aus der Philosophie ein Überschreiten der Philosophie hervorgeht, daß also ein philosophisdies Argument für etwas Philosophiejenseitiges vorliegt, ließe sich auch der Standpunkt denken, daß für Marx die Praxis ohnehin das Primäre sei und die Philosophie das Sekundäre, das, wenn es als primär gesetzt wird, sich aufhebt zugunsten der Praxis als Erstem. Auch alle Paradoxien wären dann nur solche der Philosophie und nicht der Praxis. Mit unserer Auffassung des Ansatzes in der Marxschen Dissertation stehen wir zunächst in einem Gegensatz zu der von M. Friedrich — in Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx — gegebenen Deutung. Friedrich sieht in der Dissertation (in einem Vorbilds auf Marxens Position a.a.O. 26) eine Abkehr von der Theoriegläubigkeit der Junghegelianer, die zwar audi die Philosophie verwirklichen wollen, aber der Theorie nodi den Vorrang vor der Praxis geben. Marx dagegen ziehe hieraus und aus dem Feuerbadisdien Standpunkt — der in einer Aufhebung der Philosophie und einer Abkehr von der Theorie bestehen soll — ein Fazit, vermittle die beiden Standpunkte, „indem für ihn die Verwirklichung der Philosophie nur durch ihre Aufhebung, und die Aufhebung der Philosophie nur durdi ihre Verwirklichung möglich wird. Wohl sieht audi er in der Theorie nicht mehr die höchste unter den menschlichen Tätigkeiten, aber er wirft sich keiner blinden Praxisanbetung in den Arm. Die Theorie wird vielmehr bei ihm zum Impuls jener revolutionären Praxis, die sich in der Selbstbefreiung des Proletariats erfüllt." Hier wäre einmal fraglich, ob nicht auch die Junghegelianer die Philosophie aufheben wollten, und dann, ob die Einbeziehung des eigenwillig gedeuteten Feuerbadisdien Gedankens zum Marxschen Ansatz führt. Wir würden eher sagen, daß Marx den Gedanken der Verwirklichung der Philosophie ,auf den Begriff' bringt, und zwar auf einen dialektisch-paradoxen Begriff, und klarer sieht, daß damit Philosophie als solche, als in sich vollendete, aufgehoben werden muß. Aber auch dann bleibt ja die leitende Reflexion seitens der Philosophie auf die Aufhebung der Philosophie. Der Primat der Theorie bei den Junghegelianern läßt sidi wohl nidit gegen Marxens Aufhebung der Philosophie ausspielen, geht es dodi Marx um ein Argument — mehr noch als den Junghegelianern —, um Einsicht in die Aufhebung der Philosophie im besagten Sinne und um die Notwendigkeit von Praxis. Sagt man, für Marx sei Theorie nicht mehr die höchste aller menschlichen Tätigkeiten, so sieht man das Problem schon vom Resultat des Ansatzes her, anthropologisch. Anthropologisch ist Philosophie eine Tätigkeit wie andere auch, die audi bei einer Verwirklichung der Philosophie bleibt, sei sie auch nicht die höchste Tätigkeit. Wichtiger ist vielmehr, daß die Rede von der Aufhebung, wie wir schon oben sagten, innerhalb einer apriorischen oder logischen Konstruktion gilt und daß somit Philosophie bei Marx nicht aufgehoben ist, insofern sie einmal die Idealität des Gedankens ist, der für ihre Aufhebung und im Falle ihrer Aufhebung leitend bleibt, und insofern sie, zum andern, als Tätigkeit nicht durch die logische Konstruktion aus der Wirklichkeit verschwunden wäre. Von daher gesehen genügt uns auch eine Formulierung wie die, daß Marx sich „keiner blinden Pjraxisanbetung in den Arm" werfe, nicht. Wie soll sich denn das Verhältnis von Theorie und Praxis eigentlich darstellen? Als Kompromiß? Als Lavieren? Das ist doch gerade das Problem, bei dem auf die nähere Fassung des Ansatzes, auf das eben dodi philosophische Argument für eine Aufhebung der Philosophie, eingegangen werden muß. Gerade dann erscheint ja erst die anthropologische Perspektive, die eingenommen werden soll, als Resultat eines Arguments.
Oberphilosophie
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An späterer Stelle (a.a.O. 36 f.) heißt es: die Einsicht in das Wehlich-Werden der Philosophie, das gleichzeitig ihr Verlust ist, entbehre „allerdings noch der ausgeführten stringenten Begründung: Die gegenseitige Bedingtheit von .Verwirklichung* und .Verlust' der Philosophie wird nur rein formal aus der Tatsache hergeleitet, daß die Philosophie im Kampf und Akt ihrer Verwirklichung wieder zu einer einseitigen, abstrakten Totalität wird. Wir stoßen auf eine prinzipielle Schwäche von Marx' erster Selbstanalyse, die darauf beruht, d a ß sich sein« Argumentation noch weitgehend bloß formaler . . . Kategorien . . . bedient". Das von Marx Gemeinte sei dagegen in einem Gleichnis umschrieben, wo von der drohenden Verwüstung Athens die Rede ist und von Themistokles' Rat, »es vollends zu verlassen und zur See, auf einem anderen Elemente, ein neues Athen zu gründen" (Hefte, MEW Ergänzungsband, Erster Teil, 216). Hiernach erscheint das strenge Argument, insoweit es formal ist, gerade als unvollkommen, aber das heißt doch, daß dem Ansatz Marxens seine transzendentale, begründende Relevanz bestritten wird. Gerade diese haben wir hervorzuheben versucht. Das Verhältnis Marxens zu den Junghegelianern wird entsprechend für uns einmal darin liegen, daß Marx präzise auf den Begriff bringt, was bei diesen (mit Ausnahme Cieszkowskis) trotz aller Philosophieverhaftetheit unscharf bleibt, daß die Junghegelianer aber ihrerseits — wie wir in einem Exkurs zeigen wollen — den Bereich der Konkretion der Verwirklichung, Dinge wie Staat, Gesellschaft und Geschichte, hereinbringen. Der Brud'i Marxens mit ihnen, den Friedrich wie so viele andere Interpreten betonen, wird im nächsten Schritt der Theorie, in der Entwicklung der Idee der Kritik zur Kritik der Wirklichkeit liegen. Zunächst aber wäre das Gemeinsame bei Marx und den J.unighegelianern wie deren positiver Beitrag zu sehen. — Feuerbach werten wir weniger vom Gesichtspunkt einer Aufhebung der Philosophie her, so sehr auch der Verzicht auf Philosophie bei ihm in Rechnung gestellt werden muß, als von seiner undialektisch-anthropologisdien Lehre her, die sich f ü r eine Fassung der Wirklichkeit zu eignen scheint. (Siehe hierzu den Exkurs zu Feuerbach.) Es ist angezeigt, hier noch weiter auf den möglichen Einwand einzugehen, der etwa lautet, daß wir Marxens Ansatz in der Dissertation nur als apriorische oder logische Konstruktion sähen, und zwar unter näherer Einbeziehung der Ansicht von G. Hillmann. Während Friedrich das Formale bei Marx selbst findet und abwertet und Hillmann den formalen Charakter gerade bestreitet — er liegt f ü r ihn bei Cieszkowski vor; a.a.O. 183; 284 —, könnte es scheinen, daß wir einen formalen Aspekt an Marxens Ansatz isolieren und in ihm geradezu eine Tugend sehen. Dieser Einwand scheint uns nicht gerechtfertigt. Was bei Marx vorliegt, ist, wie wir es nannten, ein ,Vordenken', und zwar der Praxis „in der Erscheinung". Der Ansatz enthält eine Verweisung auf die Praxis in der Erscheinung. Darin daß Marx die subjektiven Träger in der Erscheinung denkt, unterscheidet er sich von abstrakten Vorstellungen mancher seiner Zeitgenossen, dennoch aber handelt es sich um apriorische oder logische Konstruktion. Er hat, streng Hegelisch, eine Dialektik des Konkreten im abstrakten Ansatz aufgestellt, wo alle Momente Wirklichkeit haben, also das philosophische und das Wirklichkeitsmoment, so sehr sie dialektisch verklammert sind, durch eigne Wirklichkeiten (Subjekte) vertreten sind. Man vergleiche Hegels Rechtsphilosophie § 269, wo von der „Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden und zu deren objektiver Wirklichkeit" die Rede ist (ähnlich § 32); ferner § 271, wo vom „Bestehen" der Momente gesprochen wird, und viele andere Stellen. Die Tatsache, d a ß es sich um apriorische oder logische Konstruktion handelt, hindert nicht, daß Konkretion, ja zeitgenössische geschichtliche Konkretion — die beiden „Richtungen", wen immer sie repräsentieren — anvisiert ist. Wichtiger also als die Frage, ob formal oder nicht, ist die Frage, ob der Ansatz als Argument zu betrachten ist
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Der Zugang zur Kritik
oder nicht. Wichtig ist die Frage, was das Erste sei, die Philosophie oder eine Wirklichkeit. In dieser Frage scheint es nun nicht so, daß Marxens „Ausgangspunkt die erscheinenden Widersprüche der Auflösung des Hegeischen Systems sind" (Hillmann, a.a.O. 284), oder daß die „innere Widersprüchlichkeit [des Systems] seine erscheinende Tätigkeit zu einer widersprüchlichen" bestimmte (Hillmann, a.a.O. 195). Es würde dann von einem vorfindlichen Widerspruch zwischen Philosophie und Wirklichkeit in der Erscheinung auf die Widersprüdilichkeit der Philosophie geschlossen; die Dialektik der erscheinenden Praxis der Philosophie würde als Folge der Widersprüchlichkeit des Hegeischen Systems — als getrennt von der Wirklichkeit — aufgefaßt und damit als Ausdruck eines in sich Widersprüchlichen, der Philosophie. So gesehen wäre Praxis nicht durch Argument erschlossen, sondern nur gegen Philosophie ausgespielt, so daß ihre Beziehung zur Philosophie nur Negatives über diese erbringt. Demgegenüber muß daran festgehalten werden, d a ß Marx philosophisch Praxis erschließt, und dazu darf die theoretische Dialektik nicht von der Erscheinung her als widersprüchlich aufgefaßt werden; dazu muß Praxis allererst Resultat der Dialektik sein. Nicht darf man sagen, Dialektik sei widersprüchliches Prinzip der Praxis, nur von Hegel nicht als Widerspruch selbst gefaßt, „um dem unendlichen Progreß zu entrinnen", nicht darf man die theoretische Dialektik also als abgeleitet aus der Praxis verstehen, wie es Hillmann tut (a.a.O. 372). Denn dann fällt ja das Argument des Marxsdien Ansatzes weg. Natürlich ist es umgekehrt: die Hegeische kategoriale Dialektik ist die strenge, und als solche in einem Abschluß konvergierende, nicht-widersprüchliche Dialektik. Die Dialektik kann nicht vornehmlich Marx reserviert werden, während f ü r Hegel die Spekulation in einem pejorativen Sinne übrig bleibt. Hillmann hat recht mit der Marx angesonnenen Tendenz, Praxis als maßgebend aufzufassen; er reproduziert das, was bei Marx Fazit, wahres Resultat, sein soll, nimmt es a¡ber schon als Ausgangspunkt. Und zu dieser Umkehrung von Theorie und Praxis ist kritisch Stellung zu nehmen. Wir glauben also vielmehr, daß die gegebene Auslegung Marx strenger versteht. Die Praxis ist f ü r Marx Ausfluß eines Arguments, und zwar auch gerade als erscheinend konkretisierte. Daran ändert nichts, daß die Dissertation auch das Subjektive, den Einzelnen, als konfrontiert mit einer vollendeten Philosophie, im Blick hat. Sie ist darin nicht nur Ausdrude eines Interesses an Praxis, wie wir schon sagten; Praxis, Subjektivität, ist nicht nur anthropologische oder geschichtliche Prämisse, Erstes, Vorgefundenes, sondern ist Gegenstand eines Arguments. Sonst ginge das von Marx beanspruchte Recht auf die Dialektik der Praxis verloren, sie wäre ein Vorausgesetztes, Angenommenes, ein Aperçu. Aber gerade aus der Hegelsdien Dialektik soll ein Argument für Praxis hervorgehen. Das hindert nicht, daß wir bei Marx audi den Gedanken ansetzen können, aus etwas Falschem (hier: der Philosophie) etwas Wahres folgen zu lassen. (Von diesem Punkt wird im folgenden noch viel die Rede sein müssen, ist er doch maßgebend f ü r die Marxsche Theorie bis hin zum Kapital). Gerade wegen dieser Doppelstellung der Philosophie als Vehikel eines Arguments und als eines Falschen ergibt sich die Marxsche paradoxe Position. Da aber Philosophie das Argument für Praxis liefert, kann man audi fragen, ob diese resultierende Marxsche Praxis mit ihrer Dialektik nicht justiziabel ist, was man nicht fragen könnte, wenn sie Erstes wäre. Entsprechend werden wir Hillmann nicht zustimmen können, daß Marxens Dialektik den Widerspruch zum Prinzip erhebt, daß die Überwindung des Widerspruchs nur in der Praxis geschehen kann und Praxis also auch die Methode und damit die Veränderung ihres eignen Prinzips bestimmt (a.a.O. 374). Dann wäre Praxis ungeleitet, nur um ihrer selbst willen da, nicht justiziabel. Umgekehrt gilt, daß Praxis theoretisch be-
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griffen werden kann, sei es nach Art der .praktischen' Philosophie oder Ethik, sei es nach Art der kategorialen Hegelsdien Philosophie, wie sie audi Marx, in seinem dritten Zyklus, nunmehr paradox, aufgreift. Sagt man schließlich, wie bei Hegel sei bei Marx das Ende, das Resultat, der durch seine Herleitung bestätigte Grund und das Wahre, und dies sei also, über Hegel hinaus, die Praxis und eine Ineinssetzung von Praxis und Philosophie, so sieht man doch, daß aus einem soldien Grund, also aus der Praxis, die — als solche falsche — philosophische Herleitung nicht hervorgeht; das Resultat gestattet es nicht, wieder den Anfang zu setzen. Dies ist nur in einer Bewegung innerhalb des Logischen möglich. Noch ein Hinweis sei gestattet auf die Analyse von Theorie und Praxis, die D. Benner (Theorie und Praxis. Systemtheoretische Betrachtungen zu Hegel und Marx, Wien 1966) gegeben hat. Benner vertritt die These, daß eine dialektische Existenz oder Praxis etwas Ursprüngliches, das Hegeische dialektische Begreifen demgegenüber nur approximative Rekonstruktion sei, die die Unmittelbarkeit der ursprünglichen Existenz oder Praxis nie erreicht. Diese stehe in „transzendentaldialektischer Differenz" zur Hegelsdien theoretischen Fassung. Benner sieht — gestützt auf eine Analyse des spekulativen Satzes bei Hegel, bei dem er einen Regreß für möglich hält — die Dialektik als eine schlecht-unendliche Bewegung, die das Sein nicht erreicht, die transzendental-dialektische Differenz nicht überbrücken kann. Und doch — so ist kritisdi zu sagen — bedarf Benner einer solchen Hegelsdien Dialektik, um die ursprüngliche dialektische Existenz oder Praxis denken zu können: er muß mit Hegeischen Mitteln auf das Ursprüngliche nicht nur „zeigen", sondern es audi „sagen" und gleichzeitig die Hegeische Rekonstruktion wieder negieren. Die praktische Unmittelbarkeit als bloß gezeigte bliebe ein asylum ignorantiae. Praxis mag uneinholbar ,sein', sie als dialektisch bezeichnen heißt, sie in eine theoretische Dialektik einstellen. Es erscheint als Mißverständnis, der Dialektik Unmittelbarkeit als Ziel zu setzen; sie kann nicht Existenz oder Praxis ,sein', sie soll nur denkend fassen. Wir meinen Benner gegenüber denn auch, daß sie dies kann. Benners Vorschlag ist nun weiter der, bei Marx eine Einsicht in die von ihm herausgestellte Diskrepanz von Dialektik und Existenz oder Praxis anzusetzen, einen Versuch, die „Reflexionsproblematik" auszuschalten, das „Labyrinth des Transzendentalismus" zu umgehen, und zwar dadurch, daß Praxis oder Existenz in einem Prozeß der Wirklichkeit erreicht würde. Marxens Versudi wäre es dann, das Problem der transzendentalen Reflexion — das Ergreifen von Existenz oder Praxis im Sein dieser Existenz oder Praxis — ,seinsnäher' zu lösen, eben durch ein Ergreifen der Praxis durch sich selbst in der Wirklichkeit. (Es spielen dann in der Verwandlung dieses Ansatzes zur Theorie, auf die schon hingewiesen worden ist, weitere Probleme mit, von denen wir erst noch zu sprechen haben werden, so das Prozessieren auf der Seite des Objekts statt der der Praxis, also das Problem der objektiven Theorie; Benner diagnostiziert in seiner Perspektive ein Scheitern bei Marx. Aber davon später.) Auf der Ebene des gegenwärtigen Zusammenhangs kann man zu Benner sagen, daß er Marx ein subtiles innerphilosophisches Ungenügen an der Philosophie unterstellt, so daß die Lehre von der Praxis als Antwort auf die transzendentale Reflexionsproblematik erscheint. Dies ist ein feinsinniger Vorschlag, der sich über das Anti-Idealismus-Klischee erhebt und sidierlidi auch richtig ist. Aber: Benners Desiderat wäre erfüllt, wenn die Philosophie besser funktionierte, Koinzidenz mit .Sein' erreichte. Hier liegt kein Programm für ein seinerseits konkretes, gesteigert zu denkendes Sein vor. Die abstrakte ontologisdie Reflexion wäre das Ziel. D a Philosophie diese aber prinzipiell nicht erreicht, ist der Weg über die Praxis ein sich bietender Versudi zur Lösung, ein .Umgehen* der Schwierigkeiten gleichsam,
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Der Zugang zur Kritik
neben einer mystischen, kontemplativen oder existenzphilosophischen Lösung. Marx scheint nicht so sehr von einer angeblichen systemtheoretischen Schwierigkeit der Philosophie auszugehen (wie sie sich für Benner im Regreß der dialektischen Bestimmung zeigt). Er würde nicht, wie Benner, leugnen, daß die Philosophie kategoriale Einheiten aufstellen kann, aber es sind eben nur kategoriale. Marx faßt die Schwierigkeit als Diskrepanz von Begriff und Wirklichkeit, so daß die Seite der Wirklichkeit nicht als Totum das ist, was die Kategorie sagt, und also über das Kategoriale hinaus gesteigert gedacht werden kann zu einem konkreten plus ultra. Marx denkt mit Hegel gegen Hegel, wenn er eine Totalität statuiert, von der her Philosophie unvollkommen ist. Daß Philosophie nur schlecht-unendlich wäre, Einheit nicht erreichte, steht nicht zur Diskussion, nur geht es um eine noch weitere Einheit, die Totalität von Philosophie und Wirklichkeit. Die Dynamik ist eine andere, vom Kategorienproblem her entworfene, und wäre nicht durch die systemtheoretische Kritik Benners an der Philosophie schon in Marxens Sinn erfaßt. Es handelt sich nur um eine Nuance: für Marx ist die Philosophie eine Stufe, die es noch zu überschreiten gilt, für Benner ist sie das Eigentliche, aber Paradoxe, das möglicherweise wie bei Marx durch die Praxis umgangen werden muß, oder sonst mystisch in einer Überphilosophie eignen Typs erreicht wird. Benner verliert mit seiner Interpretation das Algorithmische: die Theorie der Praxis ist ein .Umgehen' der transzendentalen Reflexionsproblematik; nicht Resultat, sondern nur Alternative. Das Resultative der Praxis ergibt sich nur, oder am ehesten, aus der gegebenen kategorial-überkategorialen Deutung, wie wir sie versucht haben. Marx kann sich auf Grund seines Ansatzes ganz der anderen Seite, der Problematik der Praxis und der Wirklichkeit, die die Philosophie wahrmachen soll, zuwenden, ohne daxin einen Ersatz zu sehen. Im übrigen gilt, daß die Konsequenzen aus der Philosophie mit den Mitteln der Philosophie gedacht sind, sowohl die Forderung nach einer Konsequenz wie die Projektierung der Konsequenz, des Prozessierens in der Wirklichkeit. Philosophie bleibt also relevant, es handelt sich um philosophisches Argument. Die Argumentation ist nidit deshalb etwa nicht vorhanden, weil Praxis einfach von vornherein angesetzt wäre, während die Hegeische Philosophie zu ihr keinen Zugang habe; Praxis erscheint vielmehr als Resultat. Die Tragfähigkeit des dialektischen Denkens ist anerkannt. Damit ist der Einwand der mangelnden Unmittelbarkeit abgewiesen, die Unmittelbarkeit selbst, die Benner retten will und die auch Hillmann in der Praxis als ursprünglich ansetzt, schon verlassen und der Theorie Raum gegeben. Nicht ist an Theorie verzweifelt auf Grund von systemtheoretischen Überlegungen. Allerdings haben wir in der Dissertation noch nicht Theorie der Praxis, sondern nur einen Ansatz für Praxis und für Theorie der Praxis. (Vgl. zum Vorstehenden auch K. Haremann, Rezension zu Benner, Theorie und Praxis, in Hegel-Studien 5 [1969] 332—36.)
Philosophie und Praxis Die vorstehende Diskussion hat unsere Überzeugung bekräftigt, daß wir es bei Marxens Dissertation mit einem Argument für Praxis zu tun haben. Die Forderung nach Weiterführung der Hegeischen Philosophie zu ihrem Weltlichwerden ist nicht einfach geschichtlicher Anstoß. Vielmehr gilt: die Philosophie, als vollendete, treibt aus ihr selbst heraus weiter. Es handelt sich um eine zwar geschichtlich illustrierte und motivierte, aber
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systematische Einsicht, was immer ihr Recht ist. Nicht handelt es sich um eine Einsicht in eine geschichtliche Regel, daß nach fertigen Philosophemen die Subjektivität wieder ins Spiel käme. Dies wäre ja eine bloße philosophiegeschichtliche, unausgewiesene Reflexion. Die Stringenz der Philosophie selbst ist maßgebend für das Argument eines Weltlichwerdens der Philosophie. Marx läßt sich auf Hegelsches Denken ein — allgemeiner: auf erkennendes, kategoriales, transzendentales Denken — und sieht von da aus eine Fortsetzung zur Praxis. N o d i so gutes, in sich begründetes, fertiges Denken ist unvollkommen und, im Fall des Hegeischen Denkens kann man sogar, wenn auch zunächst nur sehr abstrakt, zeigen, wie man gerade unter den Auspizien dieses Denkens über es hinauszuschreiten hat. Das Ergebnis dieses theoretischen Arguments ist dann die neue Ebene der Praxis, von der her die Philosophie, die Ausgangspunkt des Arguments war, relativiert, ja aufgehoben erscheint als bloße Philosophie. Wir haben es also mit einer eigentümlichen Fassung des Zugangs zu einem Bereich von zu Begründendem, der Praxis nämlich, zu tun, also mit einer eigentümlichen Fassung der transzendentalen Zugangsproblematik im Fall von Praxis. Die Basis f ü r die Forderung nach Praxis erscheint einerseits als geschichtlich nahegelegt — es ist die Zeit, das Philosophieren mit seiner Verwirklichung zu vertauschen —, dieser Grund würde aber nicht klarmachen, warum man das geschichtlich zu Überwindende — die Präokkupation mit Philosophie, das Sidi-Beruhigen bei der fertigen Philosophie — als systematischen, eben philosophischen, logischen Grund f ü r das Weitere nehmen sollte. Wieso sollte es zwingend sein, daß, wie in der Antike nach Aristoteles, so in der Nachhegelzeit, eine nächste Generation eine subjektive Philosophie und, wenn wir Marx glauben wollen, auch eine subjektive Praxis ergreift? Wieso ziehen diejenigen, die von der fertigen Philosophie betroffen sind, geschichtlich ein solches Fazit? Die Bedeutung der fertigen Philosophie ist offensichtlich eine ungeschichtlich systematische. Offensichtlich muß man sich gerade auch bei Marx auf die Stringenz des Denkens verlassen können, um zu etwas über das Denken Hinausgehendem, zur Praxis als Resultat, zu kommen. Das Ergebnis, der Überschritt vom Denken zur Praxis in Form der Kritik, ist dann aber Aufhebung des Denkens, das sein über es hinausliegendes Ergebnis allererst gesetzt hatte. Die transzendentale Zugangsproblematik hat bei Marx einen eigentümlichen Charakter. Ähnlich wie bei Kant und bei dein Hegel der Phänomenologie des Geistes handelt es sich um die Hinführung zu einer eignen Dimension von einer qualitativ anderen Ebene aus (bei Kant ist es die Empfindung und das Mannigfaltige, was als Ausgang dient f ü r die Erschließung der Apperzeption; bei Hegel ist es die sinnliche Gewißheit, die zur dialektischen Vernunft nötigen soll). Die Ausgangsebene bei Kant und Hegel kann das Geforderte aber nicht leisten. Es ist unmöglich, von außerhalb der Ziel-
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ebene für die Geltung der Zielebene zu argumentieren, ohne nidit immer schon deren theoretische Immanenz anzusetzen. Vielmehr muß zirkelhaft immer schon die neue Ebene (des Verstandes, der Vernunft) in Geltung sein und der Ausgangspunkt von daher als bloßer Änlaß der Erschließung verstanden werden, der als für sich allein nicht schlüssig zurücktritt98. Bei Marx ist die Sachlage insofern genau umgekehrt, als er nicht zur denkenden Vernunft hin, sondern von ihr weg argumentiert; die Immanenz ist eine nicht mehr rationale, philosophische, sondern praktische. Von hier aus wird der Ausgangspunkt der Bewegung, die fertige Philosophie oder die denkende Vernunft, zum anthropologisch-geschichtlichen Ausgangspunkt eines praktischen Prozesses umgedeutet. (G. Hillmann versteht denn audi den Ausgangspunkt bei der Philosophie, allerdings ohne darin eine Umdeutung zu sehen, in dieser Weise als defiziente Praxis und nicht als Philosophie in eignem Recht, und betrachtet umgekehrt die Praxis und ihre Dialektik als das Fundament der Philosophie bzw. Spekulation.) Von einem anthropologisch-geschichtlichen Ausgangspunkt als solchem aus hätte sich ein Argument aber nicht führen lassen. Praxis, auch die defiziente der Philosophie, wäre frei und nicht an die Notwendigkeit eines Resultats gebunden. Zwar wäre der Ausgangspunkt als anthropologisch-geschichtlicher frei von Paradoxie, aber sein Fazit auch nicht schlüssige Konsequenz gewesen. Umgekehrt ist der Ausgangspunkt nur als systematischer begründend. Soll der Ausgangspunkt aber gleichzeitig anthropologisch-geschichtlicher und Ausgangspunkt eines Arguments sein, so wird er paradox, und ebenso wird es die Zielebene, die rationales Resultat und anthropologischgeschichtliches Resultat sein soll. Marx will beides, Argument und geschichtlichen Prozeß.
Die anthropologische
Wendung
Gehen wir auf die von hier aus zu sichtenden Fragen noch etwas näher ein. Denken wir an Hegel, so gab es bei ihm eine Theorie der Praxis, theoretisches Denken über Praxis, insofern Praxis selbst kategorial bestimmt werden sollte. Das Problem, ob Praxis erfolgt, ob sie eine Wirklichkeit zur Totalität umgestaltet, ob Praxis das Wahre wirklich tut (womit das somatische Problem angedeutet wäre), tritt, jedenfalls im ,System', nicht auf. Ähnliches gilt für die praktische Philosophie im Sinne von Ethik. Bei Marx nun wird Praxis, über die Hegeische Problemsituation hinaus, als Übergang von Philosophie zur Wirklichkeit gedacht. Damit tritt einmal, der BestimM
Für eine nähere Darstellung der transzendentalen Zugangsproblematik bei Kant und Hegel siehe K. Hartmann, „On Taking the Transcendental Turn", Review of Metaphysics X X , 2, 223—49.
Überphilosophie
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mung nach, ein neuer Zyklus auf, die Umgestaltung der Wirklichkeit zu einem Totum philosophischer, und d. h. objektiv geistiger, menschlicher Art; zum anderen bindet Marx, der Existenz nach, das Erfolgen durch eine dialektische Klammer, eben wenn Dialektik gilt und Philosophie daher mit der Wirklichkeit vermittelt werden muß. In diesem Erfolgen geht der Ansatz und sein Algorithmus noch über die Dialektik Hegels hinaus, die sonst auch schon algorithmisch heißen könnte. Oder: Existenz ist die vom Algorithmus zu sichernde ,Lösung'. Das sokratische Problem, so könnte man sagen, wenn man auf das Subjektive abstellt, wird angesprochen: Praxis muß erfolgen, das Wahre muß geschehen, insofern man ja das nötige Wissen schon hat, nämlich die Philosophie, die vollendet ist. Damit gerät die Konzeption einer Theorie für Praxis in ein Zwielicht: sie ist Anweisung auf Verwirklichung der Bestimmung, also auf Bestimmung und Erfolgen, mit Notwendigkeit. Aber diese Notwendigkeit ist gerade auch in der Wirklichkeit zu denken als Ins-Werk-Setzen, als aktual und nicht-notwendig, 'als undialektisch, anthropologisch. Wir können ja nicht erwarten, daß die folgenden Schritte Marxens und unserer Analyse nur auf der Ebene soldier theoretischen Erwägungen zum Zweck eines Ansatzes für Praxis liegen werden. Das Ernstnehmen einer Verwirklichung der Philosophie zwingt zu einer größeren Deutlichkeit und Konkretion, wie wir das schon sahen, als wir Marxens Ansatz unter dem Gesichtspunkt des Algorithmus erörterten. Marx muß jetzt an der neuen, für den Zyklus der Praxis maßgebenden Instanz, der Subjektivität als realer, die die Philosophie verwirklichen will, zeigen, was sie ist und sein muß, um die Verwirklichung der Philosophie als Ziel haben und durchführen zu können. Er muß eine Welt außerhalb der Philosophie philosophiegeleitet aufbauen. Das Movens für eine konkretere Ausgestaltung des abstrakten dynamischen Ansatzes bei Marx, d. h. die Wendung zur Anthropologie — die natürlich keine „coupure" im Sinne Althussers darstellt — ist zunächst eine Folge der Verwiesenheit des Menschen, des Subjekts, der Praxis, der Kritik, auf die Wirklichkeit; diese ist also thematisch, und so legt sich eine Aufnahme ihrer Inhaltlichkeit nahe. (Zum andern wird die Inhaltlichkeit der künftigen Position verständlich sein auch von der Philosophiekritik her, denn in der Philosophie, besonders in der Hegeischen, sind die Inhalte der Wirklichkeit explizit vorgegeben.) Wir erwarten also, daß die Lehre anthropologisch wird, den Menschen als das Subjekt, das in dem Konflikt zwischen Philosophie und Welt steht, zum Zentrum des Interesses nimmt, ,positive' Lehre von der Verwirklichung der Philosophie vorn Sein her, von der Seite der Wirklichkeit des Menschen her, wird. Es scheint dann möglich, kruder als Hegel und dezidierter als noch im Ansatz der Dissertation, vom Menschen als Praxis zu sprechen. Gleichzeitig bedingt jedoch eine solche anthropologische Wendung, die sich auch mit einer geschichtlichen verbindet, die Gefahr einer Verkürzung des Problems von Theorie und Praxis zugunsten
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eines einfachen Realismus. Die Dissertation gelangt nodi nicht so weit, sie sieht die subjektiven Träger noch dialektisch verklammert im Rahmen einer apriorisdien Konstruktion des Verhältnisses von Philosophie und Welt, aber die neue Priorität der Praxis wird dahin drängen. Wir sehen nach unserer Analyse einen Grund für die anthropologische Wendung: wenn der Zyklus der Praxis ein zwar philosophisch vorgedachter ist, aber durch reale Praxis, in der ,Erscheinung', bewirkt werden soll, wenn er in einem realistischen Medium spielt, das zum Totum werden soll, so muß diese Praxis, soll sie konkret gedacht werden, der realistischen Bestimmung ihres Mediums, der Welt als eines realistischen Totums, entsprechen. Sie muß für sich auch undialektisch gedacht werden können. (Wir sehen hierbei noch von dem Problem ab, das eine Dynamik, ein Algorithmus, in einer solchen Fassung aufwirft.) Diese anthropologische Wendung werden wir zu verfolgen haben, wie audi die Frage, ob sie nicht doch durch den Gedanken der Kritik, worin ja die dialektische Philosophie ihre Stelle behält, vor Krudität bewahrt wird. Aber schon jetzt ist deutlich, daß nun, anthropologisch gesehen, die Philosophie in einem neuen Sinn einseitige Totalität ist. Von der Anthropologie her ist sie nur Denken, und offensichtlich tut der Mensch noch anderes, er denkt nicht nur, und nicht vornehmlich. Der Unterschied von Kategorienlehre und Praxis verflacht sich zu dem von Idealismus und Realismus oder dem von Denken als einseitiger Theoriepraxis und voller, vorrangiger Praxis. Wir werden also als Resultat der angegebenen Entwicklung des überphilosophischen Standpunkts Marxens im folgenden eine auch naiv lesbare Fassung haben, eine Fassung der Aufgabe von der Realität her. (Sie ist übrigens nicht identisch mit 'der von der Realität ausgehenden „positiven Richtung" mit ihrer Verkehrtheit und Verrücktheit, wie sie die Dissertation als Gegenstück zur „liberalen Partei" zeichnet, denn jetzt soll gerade der von der Philosophie geleitete Weg von der Realität her beschritten werden.) Es handelt sich um eine Fassung der Aufgabe, dergemäß der wirkliche Mensch und nicht der Philosoph im Zentrum des Interesses steht, dabei aber doch vom Programm der Philosophie bestimmt bleibt. Damit ist der Anschluß an Feuerbach hergestellt. Für die philosophische Reflexion erscheinen beide, Philosophie als Kategorienlehre und Philosophie als Anthropologie — oder Transzendentalphilosophie und Realismus der Praxis —, als umgreifende Positionen: von beiden her kann man alles diskutieren, und standpunktmäßige Übergriffe und Prioritätsansprüche sind zwischen beiden immer möglich. Für die Philosophie, die Hegeische oder die in einem weiten Sinn transzendentale, ist damit aber noch nicht eine Symmetrie hergestellt, als ob beide gleichwertig verschiedene Seiten einer Medaille wären. Die Philosophie kann ihren Vorrang als Bemühung um begründete Wahrheit nicht teilen mit einer Gegenposition, in der Begründung paradox wird oder entfällt. Wir
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müssen allerdings, wie dies in der Einleitung geltend gemacht wurde, die Jurisdiktion der Transzendentalphilosophie nicht von vornherein in der Weise urgieren, daß wir Marx wieder zum Philosophen machen. Es wird darauf ankommen, was Marx als wesentliche Fragestellung zuzuerkennen ist. Das Moment der Jurisdiktion, der Verbindlichkeit der Philosophie, äußert sich bei Marx in einem Vorherrschen der Problematik der Kritik vor dem einer nicht mehr philosophischen Theorie der Praxis. Unser Wort ,Uberphilosophie*, statt des Wortes ,Nichtphilosophie' oder ,Unphilosophie', hält sich noch offen f ü r eine nähere Diskussion des darin beschlossenen Problems. Schon jetzt können wir aber die f ü r die Praxis sich abzeichnende anthropologische (und auch geschichtliche) Wendung problematisieren als philosophische Paradoxie unid als Gefahr des Rückfalls in realistisch vorstellendes Denken. Wir müssen uns allerdings dafür offenhalten, daß die anthropologische Wendung Marx zu einer eignen Alternative führt, zu einer Fragestellung und Lösung sui generis, in der dem transzendentalen Gedanken auf eigenartige Weise Rechnung getragen wird. In unserem gegenwärtigen Zusammenhang ging es uns nur um einen Vorblick auf die die Philosophie implementierende Wirklichkeit, die Praxis, im Verhältnis zur Philosophie als Kritik, noch bevor die nähere Ausführung ihres Verhältnisses zur Sprache gekommen äst.
3. Exkurs zur anthropologischen Wendung: Feuerbach Wir haben die anthropologische Wendung Marxens verständlich zu machen gesucht, haben auf den naiv lesbaren Neubeginn hingewiesen, der darin liegt, daß der Mensch zum Zentrum des Interesse wird, wenn Praxis durch den Ansatz gefordert ist. Es ging uns darum, eine Plausibilität zu gewinnen dafür, daß vom Ansatz in der Dissertation aus eine Behandlung des Menschen als Praxis angebahnt ist, die bei aller dialektischen Verklammerung mit der Philosophie eine gewisse Eigenständigkeit und Unmittelbarkeit erlangt. In dem Ansatz liegt eine Verweisung, eine geheime Teleologie auf Anthropologie. Wir können also erwarten, daß Marx eine Anthropologie liefert, so vorübergehend diese Position in thematischer, wenn auch nicht methodologischer, Hinsicht sein wird, m u ß sie doch auf Geschichte, Gesellschaft und Ökonomie ausgeweitet, wichtiger noch: muß sie doch dem Erfordernis der Dynamik, der notwendigen Praxis, dienstbar gemacht werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß unabhängig von Marx und mit zeitlicher Priorität eine sich gegen Hegel wendende Anthropologie entwickelt worden ist, und zwar von L. Feuerbach. Sie ist bekanntlich von
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Der Zugang zur Kritik
großem, auch hemmendem, Einfluß auf Marx gewesen 87 . Ihre bedingte Kongenialität mit Marxens Intentionen macht ihre Rezeption durch Marx verständlich; Marx ist der eignen Ausarbeitung einer Anthropologie zunächst enthoben. Für eine geistesgeschichtliche Betrachtungsweise wäre zu berücksichtigen, daß die Ausbildung des anthropologischen Standpunktes im Gefolge der Hegeischen Philosophie neben Feuerbach noch anderen junghegelianischen Anstößen zu verdanken ist, die zusammen durchaus das Bild einer in sich geschlossenen philosophischen Bewegung ergeben. Dabei ist die durch sie bezeichnete Epoche nicht zureichend durch die journalistische Redewendung vom ,Zusammenbruch' des Hegeischen Systems bezeichnet, als gleichsam einer Nemesis, die diese von Hybris geschwellte Philosophie ereilte. Vielmehr beinhaltet sie eine Abkehr von Hegel durch Weiterdenken und somit auch Neubeginn. Wir versagen uns hier, diese komplexe Kritik an Hegel und die Wandlung dessen, was Philosophie nunmehr sein sollte — bis hin zu ihrer Negation — als geistesgeschichtlichen Prozeß zu beleuchten, da dies für unsere theoretische Absicht nicht erforderlich ist und ausführliche Studien zu diesem Thema vorliegen 38 . Wir beschränken uns auf eine kurze Skizze zu Feuerbach, als Hinweis auf Gedanken, die Marx, ohne sie selbst ausarbeiten zu müssen, sich zueignen konnte, aber ebenso als Hinweis auf bloße Parallelen innerhalb des Feuerbach und Marx gemeinsamen Zeitgeistes.
Feuerbach
und
Hegel
Feuerbach hat in seiner Dissertation von 1828 89 den Geist oder die Vernunft als die eigentliche, die Einzelnen verbindende Wirklichkeit und Wahrheit herausgestellt und damit -den Gedanken betont, daß Vernunft nicht nur als Gemeinsames in den Einzelnen liegt, sondern ihre „tatsächliche Existenz" von „ihrer Einheit und Allgemeinheit nicht zu trennen" sei40, dies im Sinne eines Wahrheitsfundaments gemeint, aber audi im Sinne von Gemeinschaft: „Denn die Vernunft ist Gemeinschaft, Allgemeinheit 41 ." Hier findet sich also schon ein anthropologischer Akzent, eine Betonung notwendiger menschlicher Kommunikation (sei es auch nur zum Ausgleich der menschlichen Endlichkeit, die als solche ohne Wahrheit ist), im übrigen soll damit " Für eine geistesgeschichtliche Darstellung und für die Diskussion von Einflußfragen siehe z. B. S. Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs Philosophie (Berlin 1964) 412—22; 444—47. 88 Z.B. K.Löwith, Von Hegel bis Nietzsche (Stuttgart 1950); S. Rawidowicz, a.a.O.; G. Hillmann, Marx und Hegel. *> Sämtliche Werke ( = SW), 2. Auflage, Bd. IV (Suttgart 1959) 299—363. " SW IV, 346. 41 SW IV, 342.
Feuerbach
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aber nur die Vernunft im Hegeischen Sinne urgiert werden. In seinem Brief an Hegel, den Feuerbach mit seiner Dissertation übersandte42, ist jedoch ein Ansatz zum Weiterdenken, zum Hinausgehen über Hegel entworfen. Feuerbach hat das Bewußtsein, daß seine Dissertation „eine Spur von einer Art des Philosophierens an sich trägt, welche man die Verwirklichung und Verweltlichung der Idee, die Ensarkosis oder Incarnation der reinen Logik nennen könnte"4*. Dies erscheint ihm in Hegels Philosophie selbst begründet, denn sie sei eine „Sache ... der Menschheit", in ihr dränge der Geist dahin, „allgemeine, weltgeschichtliche, offenbare Anschauung zu werden"44. Diese Idee einer Verwirklichung der Hegeischen Philosophie bedeutet also, nicht unähnlich dem (späteren) Gedanken in Marxens Dissertation, daß mit einer Hegeischen, übergreifenden Einheits- und Totalitätskonzeption die ganze Philosophie als Oppositum der Welt gegenübergestellt wird. Feuerbach verweist auf eine „neue Weltperiode", auf ein „Reich der Idee, des sich in allem Dasein schauenden und seiner selbst bewußten Gedankens", spricht von einer „zweiten Schöpfung, wo nicht mehr die Zeit und drüber und draußen der Gedanke, sondern die Vernunft die allgemeine Anschauungsform der Dinge wird . . . Es kommt daher jetzt nicht auf eine Entwicklung der Begriffe in der Form ihrer Allgemeinheit... an, sondern darauf an, die bisherigen weltgeschichtlichen Anschauungsweisen... zu vernichten . . . , und an ihre Stelle als unmittelbar gegenwärtige weltbestimmende Anschauung die Erkenntnisse einrücken zu lassen, die sich in der neueren Philosophie . . . eingewickelt finden"45. Im Unterschied zu Marx geht es Feuerbach, wie man sieht, um Anschauung, Selbstanschauung der Vernunft in der Wirklichkeit, aber noch nicht betont um Praxis. Eine nähere Durchführung der neuen Konzeption findet sich allerdings nicht. Interessant erscheint vielmehr die Akzentuierung der Hegelsdien Philosophie in dem Sinne, daß sie ein Jenseits der Idee offenlasse, eine Zweiheit, während doch die eine Idee, der Geist, verwirklicht werden, Suprematie besitzen müsse. Hier ist auch schon eine durch Argument gestützte antitheologische Wendung vorhanden. Religion wie Gott erscheinen als Hindernis der Einheit, sowohl derjenigen, die für Hegel immanent in seinem System angelegt ist, als auch derjenigen, die über Hegel hinaus die Verweltlichung will. Später erscheint Feuerbach dann Hegels Philosophie selbst als theologisch und auch von daher abzulehnen48. 42
48 44 45 46
Von K.Grün 1874 veröffentlicht, für uns also nur als Indiz des Zeitgeistes und als Verständnishilfe, nicht als von Einfluß auf Marx, interessant. SW IV, 358. SW IV, 359. SW IV, 360 f. SW II, Vorläufige Thesen 239; Grundsätze Nr. 15, 265 ff.; Nr. 21, 275 ff.; Nr. 23, 279 ff. u. ö.
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Der Zugang zur Kritik
Eine grundsätzliche, philosophisch strengere, aber dem Totalitätsgedanken mit seiner Nähe zum Marxschen Gedanken vom Weltlichwerden der Philosophie eher ferner stehende Kritik Feuerbachs an Hegel ist enthalten in dem Aufsatz Kritik der Hegeischen Philosophie von 183947. Hier untersucht Feuerbach Hegels Logik und das System unter methodischem, transzendentalem und systemtheoretisdiem Gesichtspunkt. Er findet, daß das systematische Denken der Hegelsdien Logik das „sidi darstellende Denken" ist und nicht das „Denken an sich, das wesentliche Denken"48. Im sich darstellenden Denken setze ich „das Darzustellende als nidit seiend, idi lasse es entstehen vor meinen Augen, idi abstrahire von dem, was es vor der Darstellung ist. Was idi daher auch setze als Anfang, es ist zunächst das rein Unbestimmte; ich weiß ja nodi nichts von ihm — das darstellende Wissen soll ja erst Wissen w e r d e n . . . Indem nun aber der Anfang das Unbestimmte ist, hat der Fortgang die Bedeutung der Bestimmung. Erst im Verlauf der Darstellung bestimmt sich, offenbart sich, was das ist, womit ich anfange. Der Fortgang ist daher ein Rüdegang, . . . ich stelle die verloren gegangene Identität wieder her" 49 . Feuerbach geht es also um den regressiven Charakter der Hegeischen Dialektik und damit um ihren Charakter als petitio. Er spricht von einem „Monolog der Spekulation mit sich selbst"50. Gegenüber einem solchen nichts voraussetzenden, sich erst darstellenden, sich beweisenden Denken findet er, daß die Darstellung, die das Darzustellende, das Denken, erst bestimmen will, „von dem vor der Darstellung Gewußten" abstrahiert51, dabei aber das Denken schon voraussetzt. Daß Hegels System in seiner Voraussetzungslosigkeit gleichzeitig auf Zugestandenes rekurriert, ja „absolute Selbstentäußerung der Vernunft", „speculativer Empirismus" ist, sieht Feuerbach52. Aber er zieht daraus nicht die Konsequenz, daß Hegels Philosophie damit Aufsuchung der Prinzipien des Zugestandenen — sei es des Denkens oder konkreter Gestalten des Geistes —, also Prinzipienwissenschaft, ist und nicht nur petitio, Voraussetzung des Denkens, das nur noch einmal bewiesen würde. Daß auch eine zirkelhafte Philosophie, ja nur eine solche, erhellend sein kann, hat Feuerbach nicht begriffen. Der Fortgang, das Vorwärtsschreiten von der Voraussetzung des Denkens aus, ist ihm nur petitio, ein Rückgang zum Denken, das schon vorausgesetzt war; er sieht nicht, daß das Resultat in Sein und Wesen die Prinzipien seiner Verstehbarkeit hat, wie sie sich vom Denken aus darstellen müssen. Der Zirkel ist gerade Bedingung der Verstehbarkeit des Denkens durch sich selbst. " SW 48 SW » SW 50 SW " SW »» SW
II, II, II, II, II, II,
158—204. 167. 167. 180. 175. 175.
Feuerbach
Feuerbachs
47
Anthropologie
Für Feuerbach gilt die Konsequenz: „Das Denken ist früher als das Darstellen des Denkens. Der Anfang in der Darstellung ist nur f ü r sie, aber nicht für das Denken das Erste 58 ." Statt dessen ist das Denken „eine unmittelbare Thätigkeit, inwiefern es Selbstthätigkeit ist" 54 . Entsprechend ist das Sein, so wie es in der Spekulation gedacht ist, nicht das Sein; denn es wäre nur wegen des sich darstellenden Denkens wie bei Hegel Nichts. Vielmehr soll gelten: „Nur bestimmtes Sein ist S e i n . . . Das Sein ist eins mit dem Dinge, welches ist 55 ." Feuerbach drängt sich also angesichts der petitio des Hegeischen Denkens die Irreduzibilität des Denkens als menschlichen Vermögens auf, als desjenigen, was an Hegels Geist Realität ist. Ebenso drängt sich ihm damit auf die Irreduzibilität des Seins (Irreduzibilität beide Male verstanden als Nichthinterdenklichkeit). Von dem Gedanken her schließlich, daß im Denken etwas demonstriert oder gezeigt werden soll, erscheint damit auch der Bezug auf den Anderen hereingezogen: „Wenn ich etwas beweisen will, so beweise ich es f ü r Andere 58 ." Damit sind schon die beiden Grundthesen, die realistische Priorität des Seins als eines inhaltlich bestimmten und sinnlichen sowie die anthropologische Ansetzung des Subjekts als Ich und Du aufgestellt, ja in der genannten Schrift auch schon mit einigem Argument versehen und nicht einfach als Standpunkt geltend gemacht. Die auch bei Marx schon nach dem bisher Besprochenen sich ankündigende Wendung zum wirklichen Menschen ist bei Feuerbach auf einem anderen Wege erreicht: tritt ein zur Marxschen Totalitätsspekulation analoges Argument in dem Brief an Hegel von 1828 auch auf, so ist im folgenden die anthropologische Position doch eher Resultat einer systemtheoretischen Kritik Hegels. Nicht wird Hegels Philosophie ,als Philosophie* akzeptiert, wie bei Marx — wenn auch Feuerbach Hegel zuerkennt, der „vollendste philosophische Künstler" zu sein57 —, vielmehr wird Hegels Philosophie in sich kritisiert und aufgelöst. Marx wird später, in der Kritik der Hegelschen Phänomenologie des Geistes, ähnlich vorgehen. Dies Resultat wird weitergeführt in den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1843) wie auch schon in dem Aufsatz Über den Anfang der Philosophie (1841). Feuerbach stößt sich wiederum daran, daß in einem sich selbst begründenden Denken das Sein oder das Sinnliche immer nur als defizient erfaßt werden kann, ein Gedanke, der aus der Kritik an der angeb" SW 54 SW " SW «· SW " SW
II, II, II, II, II,
176. 169. 179. 170. 174 f.
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Der Zugang zur Kritik
liehen Trivialität der transzendentalen oder spekulativen Bemühung Hegels hervorgegangen ist. Feuerbach meint im Gegenzug dazu, nur von einem schon anthropologisch gewendeten Begriff des Denkens — darin eingeschlossen eine abstrakt gefaßte Realpluralität von Ich und Anderem — und einem korrespondierenden Begriff des Seienden als eines bestimmten, sinnlichen, konfrontierenden könnte man die erforderliche Kritik, das Geschäft der Philosophie, leisten. Damit ist das transzendentale Verfahren abgelehnt und eine Position mit (gegenüber Hegel) umgekehrter Priorität im Verhältnis von Denken und Sein eingenommen58. Die Philosophie, ihres transzendentalen Charakters entkleidet, wird realistische Anthropologie, ist aber damit — dies im Unterschied zu Marxens Intentionen — Philosophie geblieben, so sehr Feuerbach auch — 1846 — von der wahren Philosophie als „Negation der Philosophie" spricht8'. Die Philosophie ist wesentlich feststellend, hat aber auch eine „praktische, und zwar im höchsten Sinne praktische Tendenz"60. So ist sie audi Inbegriff ethischer Forderungen, wie besonders der Anerkennung Anderer und der Gestaltung der Welt zur Totalität der Vernunft im Sinne einer Kommunikation Aller. Umgekehrt läßt sich von ihr aus eine Kritik der Religion geben, nun nicht mehr als Ablehnung jedes Rivalen der einen Hegelsdien Vernunft, sondern als Theorie der Projektion einer Chimäre von der primären Basis, vom Menschen aus91. Anstelle von Religion bleibt Anthropologie. So heißt es von der „neuen »8 Vgl. Vorläufige Thesen, SW II 238 ff. und Zur Kritik der Hegeischen Philosophie, SW II 190. Der Feuerbachsdie Standpunkt wird zur .Methode', der sog. ,Umkehrungsmethode', wonach Hegel das Prädikat zum Subjekt gemacht habe und umgekehrt, was wieder umzukehren sei. — Auf ihr Recht hin unbefragt erscheint die Umkehrungsmethode neuerdings an zentraler Stelle in S. Avineris Marxinterpretation The Social and Political Thought o} Karl Marx. Es versteht sich, daß wir, von einem anderen als dem in den meisten Marxdeutungen üblichen Hegelverständnis ausgehend, diese ,Methode* nicht als überzeugend anerkennen können. Für eine Diskussion der Probleme, die unserer Meinung nach bei Marx mit ihr angesprochen sind — wesentlich das Problem des Nominalismus — siehe unten 100; 174; 415 ff.; 553. " SW II, 409—10. Vgl. M. Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx 22. «» Grundsätze Nr. 64, SW II, 319. 61 Die in dieser Hinsicht entscheidende Schrift Feuerbachs ist Vom Wesen des Christentums (1841 und veränderte Neuauflagen 1843 und 1848). Siehe auch unten 196 ff.) Zur Wirkung auf Marx vgl. S. Rawidowicz, a.a.O. 412. Marx wird die Kritik der Religion als eine „Voraussetzung aller Kritik" (MW I, 488) und als Vorarbeit für eine eigne Position ansehen, aber bald auch die sich in der Religionskritik festfahrende Philosophiekritik seiner junghegelianischen Zeitgenossen geißeln (siehe z. B. Die Heilige Familie und Die Deutsche Ideologie). In positivtheoretischer Hinsicht wird die von Feuerbach bestimmte Religionskritik für Marx nicht entscheidend sein. Vgl. M.Friedrich, a.a.O. 82 f.; 90 f., und auch D. Benner, der die Religionskritik in einen Stufenbau der Marxschen Theoriebildung einordnet. Theorie und Praxis 137 ff.
Feuerbach
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Philosophie": „Sie tritt an die Stelle der Religion, sie hat das Wesen der Religion in sich, sie ist in Wahrheit selbst Religion®2." Nimmt man Feuerbachs Inspiration der Religionskritik als zentral, so könnte man sagen, daß sein Plädoyer für die anthropologische Realität als Prius audi der Theorie nidit nur, wie wir es oben darstellten, bestimmt ist von der Kritik an der petitio bei Hegel und dem Erfordernis eines Fixpunkts im Sein, sondern audi davon, daß Hegels spekulative Philosophie als Theologie genommen wird, und also die Kritik einer solchen Projektion zur anthropologischen Basis führt. Es versteht sich, daß dieser Gegensdiluß nicht folgt, wenn Hegels Philosophie als transzendentale, kategoriale Philosophie verstanden wird. Feuerbachs Hinausgehen über Hegel ist scheinbar konkreter als die Andeutungen Marxens in seiner Dissertation. Die realistische Anthropologie hat sich ja dem konkreten Menschen anzubequemen und seine Inhaltlichkeit zu berücksichtigen. Aber solcher Inhalt ist n u r mögliche Illustration: die im Zentrum stehende anthropologische Unmittelbarkeit behält in ihrem theoretischen Gehalt abstrakt-dialektische Züge: die Konfrontation von Mensch und anderen Menschen in der Gattung, und von Mensch und Sinnlichem oder Seiendem 63 , ist eine Fürsichseinsbeziehung oder Totalität, nur daß sie abstrakt bleibt, sich nicht mehr wie bei Hegel zu konkreten kategorialen Gestalten bestimmt, sondern zu Gattung und Existenz in abstrakt Hegelischer Rationalisierung zurückfällt. Dabei bedeutet der Begriff der Gattung, daß eine Einheit auf der kategorialen Ebene der sie konstituierenden Vielheit erreicht werden kann, oder, daß die Einheit durch ein abstraktes Allgemeines (das Gemeinsame in den Vielen bei Existenz von Vielen, Verschiedenartigen) gedacht werden kann®4. Auch nicht liegt in Feuerbachs Fassung des Menschen eine Anweisung, jenseits des Kategorialen zu praktischer Konkretion zu gelangen, wie dies in Marxens Ansatz in der Dissertation doch immerhin erblickt werden kann. Bei Feuerbach ist keine Dynamik, kein Algorithmus, also keine Anweisung zu finden, daß und wie das anthropologische Paradigma sich realisiert und entwickelt. Die Anthropologie ist nur abstrakt-dialektisch, andrerseits als realistische wesentlich undialektisch, und wiederum, trotz allen Realismus, paradigmatisch, idealistisch. Damit ist sie f ü r Marx einerseits kongenial, andrerseits unpassend. « Grundsätze Nr. 64, SW II 319—20. 65 Vgl. Grundsätze Nr. 58; 59; 60; audi 51. SW II, 318; 313 f. Vorläufige Thesen, SW II, 244. 64 Vgl. SW IV, 190. — Wir verweisen bei Marx auf die Begriffe Gattungswesen, Gattungsleben und Assoziation (dazu unten 146 ff.) und die Wendung von der „natürlich verbindlichen Allgemeinheit" in der 6. These über Feuerbach, MEW 3, 6. Vgl. auch M. Friedrich, a.a.O. 24.
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Der Zugang zur Kritik
Allerdings hat Feuerbach auf der Grundlage seiner Lehre auch das Gemeinwesen in seinen Blick bekommen. Er denkt den Staat als Inbegriff aller Realität, als Ganzes, als göttlichen Menschen — also durchaus von Hegel her, aber ohne daß eine andere Struktur deutlidi würde als das Verhältnis der Identität und Ergänzung der Menschen untereinander·5 und ihrer Zusammenfassung im Staatsoberhaupt, vor dem alle »gleich nothwendig, gleich berechtigt" sind"®. Der Staat als Gemeinwesen geht unscharf zusammen mit Gemeinschaft67, die durch das Verhältnis von Ich und Du stellvertretend gedacht ist. Entsprechend ist die Praxis, von der die Rede war, ohne theoretische und auch ohne geschichtliche Bestimmung, wie sie für ein Weltlichwerden der Philosophie, etwa in einem Staat, zu fordern wäre. So erscheint Feuerbachs Anthropologie letztlich als an den engen Themenkreis einer realistischen Philosophie gebundene und wesentlich feststellende Philosophie mit ganz abstrakten normativen Zügen im Rahmen einer sozialen Fürsichseinsbeziehung; sie bleibt damit sogar hinter einer Philosophie der Praxis als Ethik zurück68.
4. Exkurs zu Staat und Geschichte: Hegel und die Junghegelianer Wenn die Ansätze zur Kritik und zum Hinausgehen über Hegel bei Feuerbach doch nur wieder zu Philosophie führen, so ist auf ein weiteres Motiv einzugehen, das dem Gedanken des Weltlichwerdens der Philosophie nahesteht und das über das zu Marxens Dissertation Gesagte hinaus gesondert herauszustellen ist: nämlich die von den Junghegelianern vertretene, in Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie und Geschichtsphilosophie gewonnene These, daß Hegels Konzeption des Staates, des gesellschaftlichen Ganzen, der konkreten Freiheit, ihrerseits der höchste Ausdruck der Philosophie als Realphilosophie, in der Geschichte verwirklicht werden müsse6®. Die These ist konkreter als die eher abstrakte, ontologische These Feuerbachs « SW II, 220. ·« SW II, 244. 6 7 Vgl. Grundsätze Nr. 59; 60. SW II, 318. 6 8 Vgl. hierzu Feuerbachs Brief an A.Ruge vom 20. Juni 1843 in: K.Grün, L.Feuerbachs philosophische Charakterentwicklung I, 358 f. · · Für eine Textauswahl siehe K. Löwith, Die Hegeische Linke (Stuttgart 1962). Vgl. besonders die schöne Einleitung ebd. 7—38, und K. Löwith, Von Hegel bis Nietzsche 96—105. Vgl. ferner G. Hillmann, Marx und Hegel. — Im folgenden eoli keine differenzierende Darstellung der verschiedenen junghegelianischen Standpunkte gegeben werden, sondern nur ein systematisierender Abriß des wesentlich Rugesdien Grundgedankens, dem wir eine Skizze zu Hegel selbst und zu Cieszkowski voranstellen. Im einzelnen wären weiter zu nennen M. Hess, B. Bauer, E. Gans wie, von Angehörigen des Hegelsdien ,Zentrums* neben Cieszkowski, etwa K. Michelet.
Hegel und die Junghegelianer
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von der Priorität des Seins und seine geringen Ansätze zur Sozialphilosophie, aber audi konkreter als die These von der Verwirklichung der Philosophie in Feuerbadis Brief zur Dissertation und in Marxens Dissertation. Die These hat entsprechend bei Hegel einen reicheren Hintergrund. Versuchen wir die Sachlage, die wir schon verschiedentlich gestreift haben, näher zu verstehen. Hegel In seiner Realphilosophie, also im konkreten Teil seines Systems, h a t Hegel bekanntlich unter dem Dachbegrifi des „objektiven Geistes" eine Wirklichkeit dargestellt, die eine geistige Einheit als Pluralität, ein Verhältnis des Geistes zu sich selbst in der Äußerlichkeit ausmacht. Hegel k e n n t verschiedene solche „konkrete Allgemeine", w o Geist sich gegenständlich ist. Die hier wichtigsten wären Familie, Gesellschaft und Staat, wobei der letztere die krönende Totalität solcher Pluralität ist. Hegel sieht in ihm die Entelechie der Vernunft und Freiheit. Der Staat ist als konkretes Allgemeines, als Einheit in der Differenz, als kategoriales N o v u m , das im Einbegreifen aller sozialen Pluralität Einheit ist, die höchste reale Wirklichkeit. Indem Hegel innerhalb der Ontologie, also systematisch ungeschichtlich und dennoch nicht abstrakt, sondern, bezogen auf ein geschichtlich Vorgegebenes, Sozialgebilde behandelt, die Anspruch auf Einheit machen können, aber in eins damit auch das Recht, also Normatives, behandelt, ist der Begriff und die Theorie einer Totalität des Menschen in der Welt gegeben, die entsprechend dem Charakter von Ontologie nicht bloßes Ideal ist. „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig10.' Dies besagt natürlich nichts über die Exemplifikation der Vernunft im gegebenen Fall, über die annähernde oder volle Verwirklichung von so etwas wie Staat. Der Staat der Rechtsphilosophie ist weder Beschreibung oder A k kommodation an bestehende Verhältnisse noch Ideal. Hegel sagt ausdrücklich, daß die Rechtsphilosophie „am entferntesten davon sei, einen Staat, wie er seyn soll, konstruiren zu sollen" 71 . So doppeldeutig dieser Satz ist, der Staat der Rechtsphilosophie ist kein Ideal, denn er ist im Hegeischen Sinne konkret; er ist aber audi nicht in dem Detail dargestellt, daß er als Vorlage f ü r Rechtssatzungen im einzelnen dienen könnte. Die Rechtsphilosophie ist nicht Paradigma, sondern ein Stück bis an die Sachtheorie heranreichender Kategorienlehre. Dabei greift Hegel mitunter zurück auf geschichtliche Illustrationen — etwa, beim Übergang von Gesellschaft zu Staat, auf die Kolonialentwicklung — oder auf zeitgenössische Verhältnisse, den preußischen 70 71
Rechtsphilosophie (Grundlinien der Philosophie des Redits, Jubiläumsausgabe Bd. 7, Stuttgart 1964), Vorrede S. 33. Rechtsphilosophie, Vorrede S. 34 Vgl. § 258.
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Der Zugang zur Kritik
Staat. Die Rechtsphilosophie muß sich einen Staat vorgeben lassen, als zugestanden ansehen, der geschichtlich erst spät entstehen konnte; sie ist die Rekonstruktion eines entwickelten geschichtlichen Zustandes als eines systematischen, systematisierbaren. Andrerseits gibt Hegel auch eine dialektische, auf begründende Erklärung Anspruch machende Lehre vom Staat in einer zeitlichen, geschichtlichen Progression zur Vollkommenheit. Diese schließt er an die Rechtsphilosophie in einer Skizze an und gibt sie noch einmal in größerem Maßstäb in den Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie. So gesehen erscheint jetzt der Staat in geschichtlicher Artikulation; Geschichte ist Entwicklung des Staates. Hegel denkt also einerseits systematisch über den Staat, mit dem Denkmittel des konkreten Allgemeinen, also letztlich des „Begriffs", andrerseits denkt er geschichtlich über den Staat, mit dem Denkmittel der Verzeitlichung der Dialektik — die als solche aber nicht einfach ein ,Immerweiter' meint — auf der begrifflich schon dargetanen Ebene des Staates. Was liegt da näher als wie die Junghegelianer die Differenz von konkretem Allgemeinem und dem anthropologischen, realistischen Gegenstück des konkreten Allgemeinen, also die Differenz von Hegels Staat und Feuerbachsch verstandenem Staat, im Sinne eines Weltlichwerdens der Philosophie als geschichtliche Verwirklichung zu denken? Wir erkennen hierin die geschichtliche Parallele zu Marxens algorithmischem Ansatz, von der schon einmal die Rede war, wobei noch offen ist, wieweit ihr eine entsprechende Dynamik zukommt.
Cieszkowski Gehen wir zunächst kurz auf Cieszkowski ein. Cieszkowski hat zwar den Gedanken eines Hinausschreitens über Hegel nicht allein konzipiert, aber er hat als erster eine theoretische Reflexion darauf angestellt, was es heißt, über Hegel hinauszugehen72. Cieszkowskis Gedanken sind zwar immer schon geschichtlich gemeint, aber von grundsätzlicher Art, wie auch die Andeutungen Marxens in der Dissertation. So haben wir sie auch dort schon herangezogen. Cieszkowski denkt an eine mit der Hegeischen Philosophie noch nicht erreichte Totalität, die die Zukunft bringen soll, an eine 78
Siehe Prolegomena zur Historiosophie und audi Gott und Palingenesie. In letzterer Schrift siehe besonders den problembewußten § 4 zur Frage des Allgemeinen und Kategorialen. — Entsprechend der Priorität Cieszkowskis kann für uns Moses Hess, der stark von Cieszkowski abhängig ist, zurücktreten. — Zum Verhältnis Marx-Cieszkowski siehe S. Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx 124 fi. Marx hat Cieszkowski in seiner Pariser Zeit kennen gelernt, ihn aber in einem späten Zeugnis heftig angegriffen. Brief an Engels vom 12.1.1882. MEW 35, 35 f. Vgl. Brief an E.Bernstein vom 25.—31.1.1882. MEW 35, 267.
Hegel und die Junghegelianer
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Verwirklichung von Kategorien, an einen weiteren Sdiritt, der auf Sinnlichkeit oder Kunst und auf Denken oder Philosophie folgt, nämlich an die praktische Synthese von Sein und Denken. (Cieszkowskis drei Sdiritte sind also anders disponiert als unsere drei ,Zyklen', die Logik, Realphilosophie und Praxis umfassen.) Fragt man, wie diese Verwirklichung näher gemeint ist, so erweist sie sich als eine des Geistes, des Weltgeistes. Cieszkowski differenziert nidit die Frage, wer in der Wirklichkeit die Verwirklichung übernimmt; der Geist schreitet weiter, und das soziale Leben und der Staat gehen ihren Gang, der zur Totalität führt. Dabei wird der Staat auch die Rolle spielen, statt Revolution eine evolutionäre Entwicklung sicherzustellen: „ . . . die Staatsgewalt, ihrer providentiellen Mission eingedenk, tritt selbst als Verteidigung der Bahn [des Weltgeistes] auf, und weist den Wahn eines aufgebrachten unmittelbaren Bewußtseins [des gemeinen Pöbels, eines wissenschaftlichen Terrorismus] zurück73." Am Ende steht die „absolute Persönlichkeit", eine Hegelsdie Synthese von subjektivem und objektivem Geist74, die Sittlichkeit75, eine organisdie Mensdiheit, eine Kirche76. Cieszkowski ist mit diesem Entwurf näher an Hegel geblieben als Marx. Er steht jedoch Marx und den Junghegelianern nahe mit seiner IdealismusKritik 77 und mit der Idee, daß Praxis eine Konsequenz der Hegelsdien Philosophie sei. Er sieht die Wirklichkeit als Ergebnis der Praxis, als eine, die aus dem Geiste ist. Dabei ist die Totalität, wie sie die Philosophie geltend macht, als Totum und Einziges gedacht (als absolute Persönlichkeit, organische Menschheit, Kirche, Gott). Schließlich ist die Realisierung der Philosophie aufgefaßt als ein Weiterschreiten der Hegeischen Dialektik; das Ausdem-Geist-Sein ist Synthese der einseitigen Betonung des Seins in der Kunst und der Sinnlichkeit und der einseitigen Betonung des Denkens in der Philosophie. Dies Moment des Weitersdireitens gemäß der Dialektik ist zwar in Marxens Ansatz auch vorhanden, soweit dieser ein Vordenken der Praxis ist; aber während Marx die Verwirklichung der Philosophie audi auf der Seite der Praxis, vom Subjektiven, Einzelnen, her denkt, ist es bei Cieszkowski der Weltgeist, der kraft der Forderung, Synthese des subjektiven und objektiven Geistes zu sein, prozessiert. Die Gewißheit nun, daß die Geschichte nach Wunsch weiterschreite — in einer „objektiven Dialektik" 78 — leitet sich aus Hegels Dialektik oder seinem Geistbegriff her; der Geist präsidiert bei seiner Verwirklichung. " Gott und Palingenesie 98. Mit dem „wissenschaftlichen Terrorismus" sind die Linkshegelianer gemeint. Vgl. audi Hillmann, Marx und Hegel 196; 311. 74 Gott und Palingenesie 86. 75 Prolegomena 151 ff. 7 * Prolegomena 153. 77 Vgl. Prolegomena 103. 78 Prolegomena 147.
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Der Zugang zur Kritik
Es handelt sich um ein „Hinausgehen der Philosophie über sich s e l b s t . . . in der Form der Philosophie" 79 . Zwar spricht Cieszkowski von einer „Abdication der Philosophie" 80 , auch von einer „Rehabilitation der Materie"81, aber er meint — so sehr die „geistigen Ingenieurs", die Linkshegelianer, (sinngemäß) Umwege durdi Übertreibung gemacht haben —, die Entwicklung komme „im Gebiete der Wissenschaft zur Philosophie der That und des Lebens und im Gebiete der Wirklichkeit zur Lösung der realen thatsächlichen Widersprüche der Zeit, wodurch eben die Theorie ein practisches, die Praxis aber ein theoretisches Resultat erreichen, und die Identität des Vernünftigen mit dem Wirklichen κατ' εξοχήν gesetzt wird" 82 . Auch denkt Cieszkowski daran, daß nunmehr die Philosophie „angewandt" werden müsse83. Soweit so das Paradigmatische anklingt, wäre der algorithmische Charakter abgeschwächt, wie dies auch, wenn audi anders, bei Ruge der Fall sein wird. Es versteht sich, daß mit Cieszkowskis Position die speziellen Probleme, ob die Wirklichkeit die Verwirklichung philosophischer Kategorien ist, die Philosophie also vollkommen und die Kategorien Paradigmen sind, oder ob die Verwirklichung audi eine Modifikation der Kategorien mit sich bringt, nicht geklärt werden. Einige Stellen deuten an, daß die Hegeische Philosophie „classisch" sei und höchstens einige Lücken habe (so kritisiert Cieszkowski Hegels Art, die Geschichte zu dialektisieren), aber nodi nötige Fortschritte der Philosophie gering seien: andere Stellen denken an eine Entwicklung über die Hegelsdie Philosophie hinaus, an ein noch Konkreter-Werden der Philosophie84. Eine Modifikation der kategorialen Bestimmungen wäre aber wohl unwesentlich, denn Cieszkowski benennt die praktischen Stadien mit genau den Begriffen, die bei Hegel kategorial schon entwickelt sind, nämlich Sittlichkeit, objektiver Geist, Absolutes, Religion, Kirche usw. Interessant sind Cieskowskis Bemerkungen zur Utopie. In einer Diskussion Fouriers meint er, dessen Utopie sei Utopie, weil sie noch „mechanisch" sei. Eine „organische" Utopie sei aber keine mehr 85 ; sie hat ja die Anweisung auf ihre Verwirklichung in sich. Die Notwendigkeit der Geschichte, ihr Algorithmus, soll also auch wiederum gelten, eben insoweit die Wirklichkeit organisch, als Eines, behandelt werden kann, wie eine Kategorie. Das vom Sein, von der Realität, her gesichtete Problem einer Verwirk7
' Prolegomena 127. Prolegomena 124. Prolegomena 127. 8t Gott und Palingenesie 99. — Vgl. die Wendung „sociale Widersprüche" Prolegomena 149. Vgl. weiter die Wendung „[d]ie practisdie Philosophie, oder eigentlicher gesagt, die Philosophie der Praxis, ..." Prolegomena 129. 8 ' Prolegomena 129; 131. 84 Vgl. Prolegomena 125 f. 85 Prolegomena 147. 80 81
Hegel und die Junghegelianer
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lichung der Philosophie, wie Marx und Ruge, stellvertretend für die Junghegelianer genommen, es sich stellen, ist doch nur wieder wie Philosophie behandelt, trotz allen Geltendmadiens der Praxis. Betrachten wir also eine junghegelianische Position, die Rugesche, die die Differenz von Hegelscher konkreter Kategorie und Realität durch eine geschichtliche Progression ausgleichen will. Eine etwas ausführliche Behandlung scheint gerechtfertigt.
Ruge Es sei zunädist beim Staatsbegriff als konkreter Kategorie angeknüpft, wie er sich in einigen einprägsamen Formulierungen Ruges zeigt: „Das Princip, um das sich jetzt Alles dreht, ist die Autonomie des Geistes, und zwar im Wissenschaftlichen die Fortbildung des Rationalismus und im Staatlichen des Liberalismus... Die Einheit des geschichtlichen und des reingeistigen Processes, weil sie als dieselbe Bewegung der Vernunft erkannt worden, läßt nichts übrig, als die Welt der Vernunft selbst... Im Politischen wird nun dieser Rationalismus oder diese rationale Bildung der Zeit praktisch. Hier ist das Entsprediende, daß der Staat nicht ein undurchdrungener, verschleierter, geheimer und darum fremder Zustand, sondern ebenfalls die processirende Existenz unseres Selbstbewußtseins oder, wenn das deutlicher wäre, das geordnete und in allgemeinen oder vernünftigen Formen sich selbst bestimmende Volk i s t . . . Der Staat ist sich selbst Zweck. Sein Begriff wird sehr mißverstanden. Denn Staat ist ein schlechtes, todtes Wort, besser ist .öffentliches Leben', Geschichte, Reich des Geistes, Freiheit. Aus diesem Namen sieht man sogleich, das Subjective ist hier das Wesen und der Zweck. Unsere Zeit verlangt nun dieses Reich der Freiheit in seiner selbstbewußten und sich selbst bestimmenden Bewegung, oder die öffentlich und objectiv realisirte Vernunft des Volks. Dies ist die ethische Autonomie der Wahrheit86. " „Das Prius der entwickelten Geschichte ist nun freilich die Geschichte in ihrem Begriffe, oder in der einfadien Bestimmtheit, — der Staat, denn dieser ist das Ei der Geschichte und darum schon selbst in sich geschichtliche Bewegung und gegenwärtige Geschichte. Ohne Zweifel hat nun Hegel das Sein der Geschichte ihrem Werden, den objektiven Geist — seiner wahrhaften Selbstobjectivirung, den Begriff — der Idee voranstellen wollen, also die Rechtsphilosophie der Geschichte; aber die Rechtsphilosophie kann ja nicht bei dem Begriff des Rechts und des Staats stehen bleiben, sie ist ausdrücklicher Weise die Darstellung der wahren Verwirklichung der Freiheit und des Staats; es fällt also die vergangene Gesdiidite vor und in die Rechtsphilosophie, die zukünftige Geschichte aber hinter dieselbe. Es ist ein Hauptmißverständnis 84
Hallische Jahrbücher 4. Jg. 1841, I, Vorwort, 2 f. Vgl. K. Löwith, Die Hegeische Linke, 29 f.
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Der Zugang zur Kritik
des Hegel'schen Systems überhaupt, daß man dasselbe als den Absdiluß der Gesdiidite, als das erreichte Absolute faßt und fürchtet. Hegel giebt allerdings dazu die Veranlassung; er war wirklich der philosophische Absdiluß seiner Zeit, und nun ignorirte er auch die Schranke oder die Negation der Zukunft, weil diese dem absoluten Wissen widerspricht; diese Schranke offenbart sich nun unmittelbar an ihm selber, und diese Negation ist bereits eingetreten: . . . Diese Bewandtnis hat es im Allgemeinen mit der Hegelschen Rechtsphilosophie; sie hat uns den Aufgang der entwickelten Freiheit und den weltbewegenden Anstoß zu dieser großen Eroberung des protestantischen Geistes über gelassen. Der Trunkenheit des Begriffs der Freiheit und des absoluten Systems folgt das System der geschichtlichen Freiheit, die Darstellung der wirklichen -und der zu verwirklichenden Freiheit; an die Stelle des Systems der abstracten und theoretisch absoluten Entwicklung tritt das System der concreten Entwicklung, welches überall den Geist seiner Geschichte erfaßt und ans Ende jeglicher Geschichte die Forderung ihrer Zukunft s e t z t . . . 87 .« Diese Wendung zu einem Weitertreiben des Hegeischen Staatsbegriffs wäre — auch wenn sie nicht nur auf ein Verständnis von Kategorien als bloßen Universalien festgelegt ist — ganz unhegelisch. Hegel will Philosophie, kategoriale Bestimmung und auch Theorie des Staates, und kann eine Verwirklichung im realistischen Sinne nicht zum philosophischen Gegenstand machen. Die Hegeische Dialektik übergreift das Sein immer schon, hat aber kein Mittel, die Seinssetzung noch einmal zu denken. Der Staat ist immer schon, man soll ihn aber „als sittliches Universum erkennen" 8 8 . Eine systematische Progression innerhalb seiner, vom schlechten Staat zum gerechtfertigten guten Staat ist in der Rechtsphilosophie kein mögliches Thema. Der von Hegel in der Rechtsphilosophie gezeigte Staat ist der explizite Staat als sittliche Idee. Ein schlechter Staat, ein geschichtlich unvollkommener Staat, wäre reduktiv vom expliziten Staat her zu verstehen. E r wäre in gewissen Punkten different zum Hegeischen sittlichen Universum, nicht aber wäre es gerechtfertigt, im Fall einer schlechten Gegenwart die Geschichte weiter, über den Staat in der Rechtsphilosophie hinaus, zu einem noch höheren Staat auszuziehen, sei es als philosophisches Konzept, sei es als nur in einer geschichtlich-praktischen Realisierung noch weiter zu steigernde, durch ein Existenzmoment bewirkte Vervollkommnung. Es handelt sich ja um normative Ontologie, und wie könnte diese sich selbst in der Geschichte relativieren wollen? Die geschichtliche Entwicklung in der Staatengeschichte steht immer schon mehr oder weniger defizient auf der Stufe des systematisch dargetanen Staates, was übrigens nicht ausschließt, daß Hegel das Problem einer Genesis, einer Vor- oder Urgeschichte in den Blick "Hallische Jahrbücher 3. Jg. 1840, 1211. Vgl. ebd. 1238. 88 Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 34 f.
Hegel und die Junghegelianer
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bekommt, die er „formelle Realisierung" des Staates nennt . Dabei ist die bisherige Geschichte bis zu Hegel nidit ein Weltlichwerden der Kategorie des Staates — diese ist f ü r Hegel immer schon weltlich —, sondern Abfolge von Modifikationen der Staats idee. Noch wäre ein über Hegels Gegenwart hinausgehendes Ausziehen der Geschichte eine solche Verwirklichung.
Geschichte als Korrektur
der Hegeischen
Staatsidee
Wir sagten oben, eine konkret-reale Kategorie gelte f ü r Jeweiliges, eine konkret-absolute f ü r Einziges, aber Nichtreales. Eine konkret-reale Kategorie legt kein T o t u m der Wirklichkeit fest; die absolute Kategorie scheint eine solche Festlegung zu enthalten, aber um den Preis, nicht mehr Kategorie eines Äußerlichen, Wirklichen zu sein. F ü r die Geschichtsphilosophie bedeutet das, daß sie auf der Ebene der konkret-realen Kategorie — der des Staates — spielt und dort verbleiben muß, andrerseits aber eine Verweisung auf ein gesdiichtsjenseitiges Absolutes in sidi enthält. Die Geschichtsphilosophie hat es zu tun mit einer Entfaltung innerhalb der maßgebenden konkreten Kategorie des Staates, sie gelangt zu dem Punkt, wo alle frei sind in einem konkreten Allgemeinen. Andrerseits enthält sie eine Verweisung auf den Weltgeist, ganz so, wie ein« konkrete Kategorie der Wirklichkeit auf eine absolute verweist. Könnte die Ge5cWcAísp¿t/050/>&te über die Kategorie des Staates zur Verwirklichung hinausgehen, so müßte sie zur absoluten Kategorie k o m m e n und die Realität gerade verlassen. Hegel kann n u r ein Variieren innerhalb der Kategorie, ein Variieren von Volksgeistern u m den Weltgeist als ihr ideelles Zentrum, ansetzen und so in abstrakter Form weitere Geschichte antizipieren. Die von Hegel betrachtete Geschichte steht in gewissem Sinne ,quer' zum Staat, der darin nach einer eignen Dimension von Defizienz und Vollkommenheit behandelt wird. Diese Dimension des dialektischen Fortschritts steht nicht f ü r die ErStreckung von einer Unwirklichkeit des Staates (oder der Philosophie als Inbegriff einer Bestimmung der Welt), im Sinne von Feuerbach oder Marx, zu einer Verwirklichung in der Realität. Staatskonzepte lösen einander in der Geschichte ab, aber die realistische Frage, ob sie auch verwirklicht seien, ist eben realistisch-undialektisch statt kategorialdialektisch im Sinne des konkreten Allgemeinen. N u n ist die Verwirrung dadurch gefördert, daß Hegel bekanntlich selbst seinen systematischen Entwurf des Staates vergeschichtlicht: er meint in seiner systematischen Theorie den Staat der (von ihm als „konstitutionell" in Anspruch genommenen) Monarchie dartun zu können, wie er just 84
Rechtsphilosophie § 349. Vgl. Geschichtsphilosophie (Vorlesungen über die Philosophie der Gesdiidite, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1961) 96 f.
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Der Zugang zur Kritik
auf d e m H ö h e p u n k t des germanischen Reiches u n d des C h r i s t e n t u m s erschienen ist. Dies ist nidit einfach . A k k o m m o d a t i o n ' , sondern ein im Zirkel v o n B e g r ü n d u n g u n d B e g r ü n d e t e m Zugestandenes, f ü r das die T h e o r i e gemacht ist. Es scheint aber n u n , daß die v o n d e n J u n g h e g e l i a n e r n b e h a u p tete Unvollkommenheit des geschichtlichen preußischen Staates der Rechtsphilosophie eben zu einem nodi vollkommeneren demokratischen Staat f ü h ren müsse, u n d z w a r in geschichtlicher F o r t f ü h r u n g des systematischen Staates der Rechtsphilosophie. Sicherlidi eröffnet die zu spezifische (und eben geschichtliche) K o n k r e t i o n des Staatsbegriffs bei Hegel die Suggestion, in der Geschichte das systematische Ende zu sein. Deshalb, w e i l also der Staat der Rechtsphilosophie als geschichtlicher und systematischer erscheint, ist es aber noch nicht legitim, wie die Junghegelianer die Ü b e r w i n d u n g der konstitutionellen Monarchie als künftige Gejcfcic&fe des Weltlichwerdens der systematischen Theorie a u f z u fassen. Genau dies t u n aber die Junghegelianer. Die Rechtsphilosophie wird als geschichtlich beschränkt verstanden, u n d sogar Hegel selbst meint ja, u n t e r Ignorierung des Unterschiedes v o n systematisch u n d geschichtlich, die Philosophie „sei ihre Zeit, in G e d a n k e n gefaßt" 9 0 . W ä r e A n l a ß v o r h a n d e n , den in der Rechtsphilosophie rekonstruierten Staat als unvollkommen a n z u sehen, so w ä r e nicht von jenem geschichtlich zu diesem überzugehen, immer u n t e r den Auspizien der alten Theorie, vielmehr w ä r e f ü r einen anderen S t a a t eine neue Rekonstruktion, eine neue Philosophie, zu geben. Dies ist der Sinn des Hegelsdien dictums. D a s Hegeische dictum gibt aber nun, so scheint es, auch einen Freibrief f ü r die immer erneute Anwendung der Dialektik auf das Bestehende (das doch gleichzeitig das systematisdi W a h r e sein soll), so als müsse man m i t Hegelscher Sanktion das Weltlichwerden der Philosophie u n d die geschichtliche Weiterentwicklung des systematischen Staatskonzepts fordern, so als w ä r e auch f ü r Hegel die geschichtliche Progression f ü r die systematische Konzeption bestimmend u n d in eins damit auch deren Verwirklichung in einem anthropologisch-realistischen Sinne (mit D e mokratie statt konstitutioneller Monarchie als konkretem Allgemeinem). M a n will sich Hegels bedienen und doch weiterschreiten als er, will Wesen in Existenz überführen, unter gleichzeitiger Fortbestimmung des theoretischen Gehalts, will also auch eine höhere systematische Vollkommenheit erreichen 91 . "> Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 35. Vgl. neben den zitierten Stellen Ruges Aufsatz „Die Hegeische Rechtsphilosophie und die Politik unsrer Zeit" im ganzen. Deutsche Jahrbücher 5. Jg. 1842, 755—68. — Über das, was zum vollkommenen Staat gehören müßte, belehrt uns Ruge so: „Um daher den Staat in der Form des Staats zu haben, sind alle jene großen uns Deutschen fast sämmtlkh noch fehlenden Institutionen (Nationalvertretung, Geschworne und Pressfreiheit) nöthig, welche den Menschen in seiner ganzen Würde und im vollen Lichte des öffentlichen Bewußtseins davon zum Schöpfer seiner Freiheit erheben." Deutsche Jahrbücher 5. Jg. 1842, 758.
91
Hegel und die Junghegelianer
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Was Ruge und einige andere Junghegelianer also wollen, ist eine Modifikation der Hegeischen Staatsidee in Richtung auf Demokratie durch die Praxis, die nach der Hegeischen Idee einer verzeitlichten, äußerlichen und gleichzeitig doch der Bestimmung nach ein Novum setzenden sich fonbestimmenden Dialektik gedacht wird. Es sind zwei Gedanken, der der systematischen Modifikation und der der geschichtlichen Realisierung, verknüpft, entgegen der Hegeischen Ansicht, daß das .Sein' im Begriff, im konkreten Allgemeinen, schon berücksichtigt sei. Die Sachlage scheint prinzipiell ähnlich wie die im Ansatz von Marxens Dissertation, nur daß die Ebene des Staates und der Geschichte die größere Komplexität des Gedankens der Verwirklichung der Philosophie offenbar macht. Die Aufgabenstellung bei Ruge sieht zwar harmlos aus, denn was könnte selbstverständlicher sein als die These, daß wenn eine Staatsphilosophie oder auch ein ihr entsprechender Staatszustand nicht befriedigt, eben in der Praxis der Staat weiter modifiziert, umgeschaffen werden müsse. Das Problem ist aber, inwiefern hier nicht bloß heuristisch agiert, agitiert und praktiziert werden soll, sondern eine Führung durch einen Ansatz oder eine dialektische Theorie vorliegt, die verbindlich gemacht werden kann und sowohl den Hegelschen Ausgangspunkt (als schon transzendental gerechtfertigten) wie ein von Hegel her gesichtetes, weitergehendes Ergebnis involviert. Es geht um Begründung eines besseren Staates durch die Praxis unter den Auspizien einer systematischen Dialektik. Gehen wir noch einmal etwas näher auf das Problem ein.
Offene und geschlossene
Geschichte
Bei Hegel ist die geschichtliche Betrachtung des Staates kulminierend und nicht einfach eine schlecht-unendliche zeitliche. Die Entwicklung des Staates kulminiert in der Rechtsphilosophie92 wie in der Geschichtsphilosophie, wenn auch weniger deutlich, im Staat nadi der Art Preußens, ist aber audi in gewissem Sinne für weitere Entwicklung offen. Einmal in konkreter Hinsicht: so steht in der Geschichtsphilosophie Deutschland in der Betrachtung zwar am Ende, und doch wind im Zusammenhang mit der französischen neueren Geschichte gesagt, daß die Kollision von formeller Freiheit und Organisation das Problem sei, „an dem die Geschichte steht", der Knoten, „den sie in künftigen Zeiten zu lösen" habe88. Zum anderen ist die Geschichte in einem allgemeineren Sinne offen im Sinne einer Differenzierung und Abfolge von Volksgeistern oder Formen der Freiheit, die in einem Weltgeist oder allgemeinen Geist ihren zentrierenden Bezugspunkt haben: „Die Prin»2 §§ 352—60. " Geschichtsphilosopkie
563.
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Der Zugang zur Kritik
zipien der Volksgeister in einer notwendigen Stufenfolge sind selbst nur Momente des einen allgemeinen Geistes, der durch sie in der Gesdiichte sidi zu einer sidi erfassenden Totalität erhebt und abschließt 94 ." U n d dodi ist die kategoriale Konzeption systematisch schon zuendegefiihrt (wenn sie audi bezeichnenderweise ein gerade Geschichtliches, den Staat Preußens, zum Zugestandenen erhebt) 95 . Einerseits ist die Weltgeschichte „Entwicklung", und zwar des Geistes an sidi, sie ist also offen, insofern die Entwicklung weitergeht als Entwicklung der Formen der Freiheit, die durdi die nationale Besonderheit bestimmt ist, und sie ist geschlossen, da ja das Ansich des Geistes immer schon da ist: der Geist „ist nicht vorbei und ist nicht noch niât, sondern ist wesentlich itzt"w. Die Weltgeschichte ist also als in der Philosophie systematisierte geschlossen, und ihre Geschlossenheit entspricht der Systematisierung ihrer gegenwärtigen Gestalt. Die Idee, daß der Staat in der künftigen Geschichte als seinem Weltlichwerden, seiner Existenzsetzung, erst systematisch zur Vollendung modifiziert wird — n i d i t als bloße Variation auf G r u n d der Besonderheit der einzelnen Völker —, sondern zu einem N o v u m auch der Theorie wird, wie es die Demokratie gegenüber Hegel wäre, beinhaltet ein unhegelisches Verständnis der Dialektik oder ein mangelndes Verständnis von Dialektik überhaupt. Ein solches Verständnis hieße, die Dialektik vom Geist auf das Sein übertragen, sie als negativen Koeffizienten auf das Bestehende anwenden u n d doch die systematische Vollkommenheit des Resultats durch sie befördert ansehen. Hegels Staat dagegen, soweit er in einer offenen Geschichte situiert ist, konvergiert vielmehr in einem kategorial schon Vorgedachten, wenn auch f ü r die Zukunft weniger explizit Vorgedaditen, als es die Konzeption in der systematischen Rechtsphilosophie darstellt. Es ist denn audi nicht fraglich, daß der Gravitationspunkt der geschichtlichen Bewegung bei Hegel schon wegen der Konzeption des konkreten Allgemeinen nicht demokratisch in einem am anthropologischen Realismus orientierten Sinn gedacht sein kann. Im Grunde sind bei Hegel drei Möglichkeiten angelegt oder drei Aspekte vertreten: die offene schlecht-unendliche Geschichte als Anwendung der zeitlichen Dialektik im Sinne eines ständigen Weitersdireitens; die kulminierende Geschichte mit einem Ausblick auf eine Variation und Abfolge der Volksgeister in einer verzeitlich ten systematischen, konvergenten Dialektik; und die systematische Theorie, die aber auf die zeitgenössische Gegenwart bezogen ist und so endzeitlich erscheint. Sicherlich besteht f ü r die VereinbarM M M
Geschichtspbilosophie 119. Siehe audi die ganze Stelle ebd. 88—120. Vgl. Rechtsphilosophie §§ 341—51. Vgl. hierzu Ruge, Halliscke Jahrbücher 4. Jg. 1841, II, Vorwort 2 f. Geschichtsphilosophie 120.
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keit der Aspekte bei Hegel ein Problem . Aber die Lösung von Hegel her ist nicht die junghegelianische, genauer Rugesche, so sehr Hegels Geschichtsphilosophie die Geschichte als Fortschritt der Freiheit denkt. Das Problem der Verzeitlichung der Dialektik, wie es in Hegels Geschichtsphilosophie auftritt, ist nicht identisdi mit dem der Verwirklichung im Sinne von Ruge, denn die Dialektik ist bei Hegel immer nodi kategorial verstanden (oder, in der Gescbichtsphilosophie, auf einer gegebenen kategorialen Ebene, der des Staates, als Formwandel, als Abfolge von Prinzipien der nationalen Besonderheit im Verhältnis zum Absoluten), nicht aber ist sie realistisch verstanden. Die Gescbichtsphilosophie kann nach Hegel nur auf seine dialektische Art ein Begreifen sein; sie hält sich an die Idee 98 . Sucht man nicht in geistesgeschichtlich-verstehender, sondern in begründender Absicht eine Lösung für die gegensätzlichen Aspekte der Hegelschen Lehre zu Staat und Geschichte, ohne eine neue Rekonstruktion, eine neue Philosophie, zu fordern, so vielleicht die, Hegels systematische Theorie zu reinigen von geschichtlicher, zu spezifischer Konkretion und die Verquickung von kategorialer und geschichtlicher Dialektik nicht mehr zuzulassen. Die Trennung von geschichtlicher Dialektik und systematischer Theorie wäre aber gerade der Verzicht auf ein philosophisches, dialektisches Begreifen von Geschichte, ob wir nun der Meinung sind, Geschichte sei ein Variieren im Rahmen der Hegeischen Kategorie des Staates, oder ob wir einen Fortschritt der Geschichte zu einer anderen Form von Gemeinschaft fordern. In beiden Fällen müßte der Fortgang der Geschichte angesichts der verlangten transzendentalen Strenge unbegriffen bleiben. Das junghegelianische wie auch das Marxsche Problem wäre schon vor einer eingehenden Analyse negiert.
Die Demokratie als Paradoxie Demgegenüber glauben die Junghegelianer, mit Hegeischen Mitteln über Hegel hinaus eine Lösung geben zu können. Für sie gilt gerade die Verquickung von Geschichte und systematischer Philosophie und, weiter, 97
99
Vorschläge für eine harmonistische Hegeldeutung zu machen fällt nicht in den Rahmen unserer Aufgabe. Wir verweisen etwa auf K. Löwiths Versuch in Von Hegel bis Nietzsche, wonach Hegel in einer persönlichen Weise eine Bejahung des Christentums mit einer Einholung des Endzeitlichen in die Geschichte verbinden wollte. Vgl. a.a.O. 48; 145. Löwith gelangt so aber nicht zu einer Rechtfertigung Hegels, sondern nur zu einer geistesgeschichtlichen Interpretation. Vgl. auch die Analyse von R. K. Maurer, Hegel und das Ende der Geschichte (Stuttgart 1965) und ders., „Endgeschichtliche Aspekte der Hegeischen Philosophie" in Philosophisches Jahrbuch (Görres) 76, 1 (1968) 88—122. Es ist in unserem Zusammenhang nicht möglich, diese in außerordentliches Detail gehenden Ausführungen angemessen zu würdigen. Vgl. die letzten beide Abschnitte der Gescbichtsphilosophie 568 f.
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Der Zugang zur Kritik
der Gedanke vom notwendigen Weltlichwerden der Philosophie. Darin ist audi der Gedanke der Aufhebung der Philosophie enthalten, wenn audi nidit so streng wie bei Marx auf den Begriff gebracht. Die Verbindung von Philosophie und Geschichte und von Philosophie und Verwirklichung der Philosophie bringt beide Gedanken in ein Ergänzungsverhältnis. Das Hegelisdi Unbegriffene, die Relevanz des Einzelnen, der Praxis, der formellen Freiheit usw., wird gerade der Raum weiterer zu begreifender Geschichte, übergriffen von einer Hegelisdien Totalitätskonzeption. Das Preisgeben des Hegelsdien konkreten Allgemeinen zugunsten von Praxis auf Demokratie hin soll gerade Verwirklichung des konkreten Allgemeinen sein. Ein so konstituiert gedadites konkretes Allgemeines wäre — über das Mißverständnis des Kacegorialen als solchen hinaus — audi kategorial ein Rückfall, und zwar zu einer Opposition von formeller Freiheit und davon getrennter Organisation. Die oben erwähnte Bemerkimg Hegels zur französischen Geschichte könnte allerdings bedeuten, daß ein noch anderes Einheitsverhältnis, als er es in der Rechtsphilosophie denkt, aus dieser Opposition geschichtlich hervorgeht, sicherlich aber dürfte nicht hinter die kategoriale Einheit des konkreten Allgemeinen der Rechtsphilosophie zurückgegangen werden; das geschichtliche Ergebnis könnte nur eine nationale Variante darstellen. Man könnte allgemein die Frage stellen, inwieweit Hegels konstitutionelle Monarchie von seiner Kategorie des Staates her zwingend ist, oder inwieweit hier nicht der Gehalt einer Kategorie in Richtung auf Saditheorie überbeansprucht wird. So ließe sich auch ein republikanischer Staat Hegelisdi verteidigen, wie Hegel es in seiner Frühzeit selbst getan hat. Wichtig wäre nur, den kategorialen Begriff festzuhalten, und in der Sachtheorie Zurückhaltung zu üben. Man mag andrerseits durchaus aus Hegel entnehmen, daß sein Begriff des konkreten Allgemeinen zu einer Theorie der Demokratie in Spannung steht. (Wir kommen auf das Problem später zurück".) In jedem Fall gilt jedoch, daß eine Verwirklichung der Kategorie des Staates im junghegelianischen Sinne nicht der Weg wäre, einen den Hegelsdien Staat übertreffenden demokratischen Staat zu begreifen und das heißt auch, die geschichtliche Praxis als zu seiner Konstitution jenseits der Philosophie notwendige zu begreifen. Die junghegelianisdie Lösung ist, abstrakt gesprochen, paradox, weil sie das in Hegels dialektischer Kategorie schon berücksichtigte Sein noch einmal der Existenz nach berücksichtigen will, dieses Moment der Existenz aber doch dialektisch, wie wenn es etwas Kategoriales wäre, fassen will — es ist grundsätzlich dieselbe Paradoxie, wie wir sie in Marxens Dissertation fanden —, und weil sie damit kategorial hinter die Hegelsdie Kategorie des konkreten Allgemeinen zurückfällt, seinen BeM
Siehe unten 101 f.; 575 ff.
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griff von der formellen Freiheit her nicht mehr erreicht, so sehr diese dessen Weiterentwicklung sein soll. Damit wird f ü r diese Lösung das Hegeische konkrete Allgemeine zum bloß paradigmatischen, platonischen Allgemeinen100, während es sich dodi andrerseits um eine Dialektik handelt, die es auf der Seite des Seins ins Werk setzen soll. Es herrscht ein doppeltes Verständnis der Dialektik: ein Hegelscher Rahmen und eine unhegelsche Implementierung. Dem entspricht, daß, wie wir das früher zu Marx ausgeführt haben, ein Totum der Wirklichkeit intendiert ist, das, als solches unhegelisch, mit Hegeischen Mitteln der Dialektik erreicht werden soll. So sagt Ruge: „Die Philosophie der Geschichte und des absoluten Staates oder der Idee der Freiheit in dieser Fassung, die uns als die historische Negation (und die Negation durch die Historie) der Hegel'schen Ausführung bevorsteht, zu der aber die Hegel'sdie Methode oder das von Hegel entdeckte Princip der vernünftigen Entwicklung und des Verhältnisses der historischen Stufen des Geistes selbst den Schlüssel an die Hand giebt, wird allerdings eine reellere Förderung der Freiheit s e i n . . . 101 ." Unser Einwand zum Verhältnis von Dialektik und Existenz, den wir bei der Analyse von Marxens Dissertation und jetzt erneut vorgebracht haben, gilt für Ruge, insoweit wir bei ihm eine die Verwirklichung umgreifende Dialektik in der Geschichte pointieren und nicht seine gesdiiditsphilosophischen Vorstellungen vom Immer-Anders-Sein der Wirklichkeit. Dies stärker historistisdie Moment dominiert bisweilen und insofern gilt, daß Ruge den Marxschen Gedanken der Dynamik, des Algorithmus, gerade verfehlt oder zumindest nicht klar erfaßt; die Philosophie erscheint als platonisierend-paradigmatisch, der geschichtliche Prozeß erscheint als Veränderung, die man gewähren lassen muß. Umgekehrt erlaubt der Rugesche Ansatz, mit seiner Marx gegenüber konkreteren Fassung, eine nähere Bestimmung der vorliegenden Paradoxie, und zwar als Konflikt der beiden mit der Geschichte ins Spiel kommenden Dialektiken. Das junghegelianische Problem läßt sich theoretisch bezeichnen als der Versuch, die der Existenz oder anthropologischen Realität zuzuordnende zeitliche Dialektik des Immer-Weiter, der Negation des Bestehenden usw., gleichzeitig als konvergente Hegeische Totalitätsdialektik zu verstehen. Vom Geist oder von der Philosophie her betrachtet bietet sich das Bild der Konvergenz und der intendierten Totalität; anthropologisch betrachtet das des Immer-Weiter, des verstandesmäßigen Progresses; Aspekte die bei Ruge durchaus beide vertreten sind. 100
So faßt Ruge Hegels Staat als platonisch: „ . . . der Hegeische Staat (die Verfassungslehre) ist nicht reeller, als der Platonische . . D e u t s c h e Jahrbücher 5. Jg. 1842, 763. 101 Hallische Jahrbücher 3. Jg. 1840, 1218.
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Der Zugang zur Kritik Die
Kritik
Allerdings soll die Bewegung der Geschichte „nicht mehr der Kreislauf wiederkehrender Bildungen, wie die Bewegung der Natur" 102 sein, sondern „Selbstproduction des Geistes" in immer neuen Gestalten, aber der Zusammenhang von Totalitätsdialektik und zeitlicher, negativer Dialektik bleibt Problem und die Lösung eine theoretisch-praktisch zwiespältige. So ist es für Ruge die „Lehre der Geschichte", die Verfassung des Staates „auf die wesentliche Bewegung des menschlichen Geistes einzurichten, ganz allgemein gesagt, die sich selbst regierende Vernunft anzuerkennen, zu organisiren und alsdann gewähren zu lassen"103. Das Begreifen des genannten Zusammenhangs wird für Ruge ersetzt durch die Kritik. So heißt es bei ihm an einer schon einmal herangezogenen Stelle: Der einseitig theoretische Standpunkt (Hegels) „muß nun aber eben darum, weil er einseitig ist und sein soll, die schreiendsten Widersprüche entwickeln, ja er treibt sich wider Willen über sich selbst hinaus: sobald nämlich die reine Einsicht wirklich vorhanden und der Wirklichkeit als Kritik lebendig gegenübergetreten ist, kann das praktische Pathos gar nicht mehr gebändigt werden"104. Ähnlich wie Marx denkt Ruge an einen Begriff der theoretischen Praxis in eins mit einem der wirklichen Praxis. So heißt es: „Erst mit dem Eintreten der Geschichte in das Bereich der Wissenschaft wird die Existenz selbst das Interesse... Die Verfassung des Geistes und des Staates zu den verschiedenen Zeiten hat als diese Existenz ein wissenschaftliches Interesse... es handelt sich um diese Existenz als solche105." Hier wird also auf die Wissenschaft abgestellt, aber auch deren Beziehung zur Kritik behauptet: „Die Theorie kann nur da von dem kritischen Proceß der Geschichte abstrahiren, wo sie ewige Bestimmtheiten vor sich h a t . . . Diese Bestimmtheiten lassen sich allerdings in der Form der Allgemeinheit fassen, Hegel sagt: in ihrem Begriff. So sind sie logische oder metaphysische Bestimmtheiten; ihre Aufstellung führt zu einer Metaphysik des ethischen Gebietes; und in einer solchen kann von der Staatsverfassung und überhaupt von den historischen Formen der Freiheit nicht die Rede sein, ohne daß der Begriff der Freiheitsformen auf die Existenz derselben bezogen wird, d. h. ohne das Geschäft der Kritik. Allerdings ist die jetzige Metaphysik selbst eine historische Existenz, sie kann sich selbst als solche aber nur darstellen, indem sie ihre Begriffe aus der historischen Kritik entspringen läßt, ihre eigne Auflösung muß sie der Zukunft zur Aufgabe machen10'." Theorie im Verhältnis zu Existenz ist Kritik und damit auch praktisch. So heißt es im selben Text an früherer Stelle: Deutsche Jahrbücher 5. Jg. 1842, 762. Ebd. 766. 104 Ebd. 762. 105 Ebd. 108 Ebd. 763. 102
1M
Hegel und die Junghegelianer
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„Sobald aber die Einsidit sich auf die andere Seite, auf die Unvernunft der Existenzen wirft, tritt die Unruhe, das unbefriedigte Wesen, die Forderung und das leidige Sollen der Praxis ein. Nun muß etwas dabei gethan werden, die Vernunft muß audi in dieser Existenz zu ihrem Rechte, sie muß wieder zu sich selbst kommen, der theoretische Standpunct wird verlassen, das Wort der Kritik wendet sich an den Willen der Menschen und obgleich die reine Einsicht in die Sache der Ausgangspunct, so ist doch der Entschluß, die Sache ihr zu unterwerfen, der Endpunct dieses Denkens. Sein Standpunct ist also nicht mehr abstract oder einseitig theoretisch, sondern die richtige Einheit des Denkens und Wollens. Erst das Wollen (versteht sich auf dieser Basis vernünftiger Einsicht) ist das reelle Denken107Die Kritik wendet sich an den Willen der Menschen, spricht in die Wirklichkeit hinein, steht ihr darin aber noch gegenüber, ist subjektiv; andrerseits ist die Wirklichkeit selbst Kritik als objektive Kritik: „Der historische Gang ist die Beziehung der Theorie auf die geschichtlichen Existenzen des Geistes, dies ist Kritik, und zwar ist die historische Bewegung selbst die objective Kritik. . . 108 ." „[D]as praktische Pathos, die Begeisterung für die Idee, der Trieb der Kritik, welche die Progressen des theoretischen Geistes mit den Existenzen zusammenzubringen sucht, muß in den Staat selbst aufgenommen werden10®. " Wir sehen: rein theoretisches (.metaphysisches') Fragen wird von Ruge abgewiesen, und zwar einmal zugunsten eines „Gewährenlassens" der sidi selbst regierenden Vernunft oder der Kritik als Prozeß — dies, insofern der Gang der Geschichte vorgestellt werden soll —, und zum andern zugunsten der Theorie als Kritik. Fragen wir nach dem Recht dieses Ansatzes der Kritik und der darin liegenden Abweisung von Theorie als solcher, so werden wir auf eine Paradoxie geführt, eben die von Begriff und Kritik und von Begriff und Existenz, eine Paradoxie, die in der Praxis behoben werden soll.
Ruge und Marx Der Prozeß der zeitlichen Dialektik selbst als Praxis — im Unterschied zu seiner Setzung durch den Ansatz — ist bei Ruge ähnlich wie beim frühen Marx, nicht näher theoretisiert; Marx ist hierin — mit dem Gedanken der beiden „Richtungen" — auf thematisch abstrakter Ebene eher strenger und bringt das Problem im Ansatz auf den Begriff. Es findet sich bei Ruge, wie wir schon sahen, ein Sowohl als Auch, eine umgreifende Totalitätsdialektik und eine anthropologische Verselbständigung der zeitlichen Dia107
Ebd. 761. "•Ebd. 763. Ebd. 766.
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Der Zugang zur Kritik
lektik als geschichtliches Prozessieren und als Vehikel auf Seiten der Wirklichkeit zur Beförderung des im Grunde geistigen Zieles, der Totalität — eine Problematik, die wir vorblickend audi für Marx schon angedeutet haben. Es soll sich um eine zeitliche Dialektik handeln, die die Totalitätsdialektik implementiert. Die zeitliche Dialektik soll konvergieren in einer ,wahren* Wirklichkeit, in einer Demokratie als im Grunde systematischem Kulminationspunkt; ja der Prozeß in Richtung auf diesen Punkt soll dialektische Notwendigkeit haben. Für diese — gegenüber dem jungen Marx thematisch konkretere — Stellung des Problems können sich die Junghegelianer zum Teil auf Hegel selbst stützen, der die Geschichte paradox faßte, als verzeitlidite Totalitätsdialektik. Im Unterschied zu den Junghegelianern bleibt es aber bei Hegel bei dieser einen Paradoxie, während die andere, die Verwirklichung und Aufhebung der Philosophie zugunsten eines fortbestimmten Totums der Wirklichkeit, vermieden wird. Hegel denkt zwar an Volksgeister, an Besondertes, aber er meint nie einen Fortschritt auf eine Realtotalität hin, sondern doch nur wieder Volksgeister als „Prinzipien", wobei jeweils eines die Höhe der Zeit repräsentiert, während ein allgemeiner Geist durch sie Totalität gewinnt und sich durch sie abschließt. Bei den Junghegelianern, besonders bei Ruge, widerspricht aber gerade die These vom Weltlichwerden, also die anthropologisch-realistische Fassung des Staates und letztlich eines Totums der Menschheit, der Totalitätsdialektik, die vom Kategorialen auch in der Geschichte das bewahrt hat, daß sie eine Form, ein Prinzip usw. meint. Die Paradoxie ist das Mittel geworden, Praxis und Geschichte zu denken. Dabei liegt in dem Akzent auf Geschichte bei den Junghegelianern, daß zwar die Verwirklichung durchaus aus einem Argument heraus als Praxis verstanden, aber doch auch wieder gleichsam von außen, geschichtsphilosophisch, gedeutet und vorgestellt wird. Das Problem ist letztlich das von bloß appellierender Kritik oder von theoretisch aufgestelltem Paradigma (so sehr Ruge platonisches Paradigmadenken gerade Hegel imputiert und in seinem eignen Denken über Hegel hinausgehen will), einerseits, und von praktischer oder objektiver, prozessierender Kritik, andrerseits. Durch das Paradigma einer sozialen Vision in der Geschichte wäre Praxis nicht zureichend motiviert zu handeln. Der Rugesche Standpunkt hat demnach noch nicht klar genug den Gedanken des Algorithmus der Praxis ergriffen. Ruge denkt zwar an Praxis als Kritik der Wirklichkeit durch diese selbst, als Ausgleichung des Defizits der Wirklichkeit gegenüber der Vernunft — und hier ist sein Gedanke dem algorithmischen Ansatz Marxens durchaus nahe —, und doch ist Kritik auch nur wieder die Urgierung eines Paradigmas. (Für Marx steht die theoretische Bewältigung der Dynamik, des Algorithmus der Praxis, stärker im Vordergrund, aber auch für ihn wird dies Problem, die objektive Praxis als vernünftige darzutun, zu weiteren Schritten in der Theorie nötigen.)
Ausblick
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Der Akzent auf dem Staat besagt, daß, während Marx von der Überwindung der Philosophie als totaler ausgeht, die Junghegelianer spezieller eine konkrete, objektive Gestaltung des Geistes auf geschichtliche Realisierung hin betrachten. Der Unterschied ist wesentlich einer der relativen Abstraktheit oder Konkretion der Formulierung des Problems, geht es doch in beiden Fällen um das „gesamte Dasein", um ein gesellschaftliches Gesamtgebilde als Inbegriff der menschlichen Praxis. Allerdings gerät Ruge vom Thema des Staates her leichter in ein historistisches Verständnis der Geschichte, dem die Marxsche Dynamik fehlt. Der Akzent auf dem Staat ließe denn auch unterschiedliche Auffassungen zu in der Frage, wer das Subjekt der Verwirklichung der Philosophie sei — die Einzelnen, wie Ruge nahelegt, oder der Staat selbst, wie Cieszkowski meint. Marx mit seinem Ansatz bei der Philosophie und Ruge mit seinem Ansatz beim Staat und mit seinen Vorstellungen vom Gang der Geschichte gehen hier zunächst in der Betonung der subjektiven Einzelnen durchaus konform.
Ausblick Ist bei den Junghegelianern der Übergang vom Hegeischen Staat zur geschichtlichen Verwirklichung eines besseren Staates anschaulich und eingängig, so ist Marxens mit Hegeischen Mitteln gedachte These vom Weltlichwerden der Philosophie abstrakter, aber strenger: in seinem Ansatz erscheint die Paradoxie eines dialektischen und eines undialektischen Verständnisses von Existenz rein, reduziert auf das Grundsätzliche, nämlich die anscheinend von der Philosophie selbst gesetzte Dynamik, die über sie hinaustreibt. Wir verstehen aber jetzt, daß f ü r die bei Marx noch vermißte und nur zu antizipierende anthropologische und sozialphilosophische Entfaltung sowohl Feuerbach, was Anthropologie angeht, wie auch die Junghegelianer, was geschichtliche Verwirklichung im Bereich von Gesellschaft und Staat angeht, von Bedeutung sein müssen. Marx wird, zumindest zusätzlich angeregt durch das letztere Vorbild, immer auch geschichtlich denken, die Verwirklichung der Philosophie geschichtlich-sozial fassen. Nicht daß sich dies für Marx nicht sdion auf der Stufe der Dissertation abstrakt nahelegte, aber die junghegelianische Bemühung um Geschichte und Staat vertieft die Aufgabenstellung. In beiden Fällen, bei den Junghegelianern und bei Marx, gilt, daß die These von der Verwirklichung als geschichtlicher den Gedanken der Hegeischen systematischen, philosophischen Normativität stört, diese aber dennoch unentbehrlich erscheint und also für ein Weltlichwerden der Philosophie in Anspruch genommen werden muß. Marx scheint dabei Hegel im abstrakten Konzept der Dissertation näher, wenn er die realistische Wirklichkeit in der Dialektik — im abstrakten Begriff —
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Der Zugang zur Kritik
umgreift, allerdings auch sein Thema schon auf der philosophiegeschichtlichen Folie der Antike behandelt, näher als die Junghegelianer, die zwar Hegels Konkretion bewahren wollen, aber über das Verhältnis von Geschichte und Systematik wenig Klarheit besitzen und etwa auf dieser Ebene der Konkretion nicht zeigen können, daß der Terminus eines Hegeischen Weitersdireitens die Demokratie ist. Diese erscheint als undialektisches Paradigma. Marx läßt das nähere Konzept noch offen, gibt nur von Hegel her die Direktiven für eine Überphilosophie. Die Frage für die Junghegelianer wie auch für Marx wäre, wie die Forderung nach einem Weltlichwerden der Philosophie in der Geschichte ihre Form haben und durch die als maßgebend erkannten Hegeischen Mittel gerechtfertigt ins Werk gesetzt werden, ja sich ins Werk setzen könnte. Hier ist wiederum der gordische Knoten einer Verwirklichung, eines Weltlichwerdens der Philosophie, nunmehr schon in konkreter Form, nicht einfach als ein Sich-Überschlagen des dialektischen Hegeischen Begriffs in einer erneuten Opposition zum Wirklichen, bei der für Marx wie für Ruge die Philosophie präsidiert, sondern als Problem einer Vermittlung von Normativität und geschichtlicher Wirklichkeit. Wie bestimmt sich geschichtliche Praxis normativ? Wie muß Theorie der Praxis aussehen, die deren Erfolg nicht nur von der Kritik, vom Reden und Schreiben, abhängig macht? Wir stehen noch immer bei Marxens grundsätzlichem Problem. Er wird nach einer stark von Feuerbach bestimmten Phase mit ihrer Nähe zu Paradigmatik und Undialektizität — gespiegelt in Teilen der Pariser Manuskripte — das Problem radikaler mit Rückbesinnung auf das Problem von Dialektik und Dynamik zu lösen versuchen. Aber zunächst haben wir die Entwicklung des Ansatzes und des Gedankens der Kritik und dann die unmittelbar folgenden, die Anthropologie rezipierenden Stadien des Marxsdien Denkens zu betrachten.
Π. Der entwickelte Begriff der Kritik Wir nähern uns, nadi der Analyse des Programms der Dissertation und nadi Exkursen zu verwandten zeitgenössischen Bestrebungen bei Feuerbach, Cieszkowski und Ruge, einer ersten Plattform mit ausgeführten, wenn auch seinerzeit unveröffentlicht gebliebenen, theoretischen Darlegungen Marxens. Dem bedeutsamsten Ausdruck seiner Position in den sog. Pariser Manuskripten ist noch vorgeordnet das Manuskript Kritik des Hegeischen Staatsrechts, das 1843, nodi vor Marxens Pariser Zeit, geschrieben ist. Bevor wir jedodi auf diesen Text eingehen, der eine einläßliche Kritik eines Teils der Hegeischen Rechtsphilosophie gibt, müssen wir Marxens Begriff der Kritik in seiner weiteren Entwicklung näher betrachten; Marxens Kritik der Philosophie kann nur von einem solchen weiterentwickelten Begriff der Kritik her angemessen verstanden werden. Hierfür greifen wir chronologisch gesehen um ein Geringes vor, um theoretisdi bewußte Aussagen Marxens zitieren zu können.
1. Die e i n e Kritik Der Begriff der Kritik ist uns schon in der Dissertation und bei Ruge begegnet, wenn auch die nähere Bestimmung des Begriffs bisher mehr unserer Analyse als den unmittelbaren Äußerungen Marxens angehört. Ausdrücklich erscheint der Begriff etwas später, in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, und zwar in den als Briefwechsel veröffentlichten Beiträgen von Ruge, Bakunin, Feuerbach und Marx selbst1, sowie in dem Aufsatz Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie2. Zum Verständnis hinzuzunehmen ist eine weitere Äußerung zum Thema der Kritik in der Vorrede zu den Pariser Manuskriptens. Marxens Begriff der Kritik ist das Fazit aus seiner Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Wirklichkeit. Wenn die vollendete Philosophie die in der Dissertation gedachte Stellung zur Welt einnimmt, so liegt darin auch, daß sie einerseits in der Wirklichkeit immer schon (kategorial) enthalten ist —sonst wäre sie ja falsch, als Philosophie verbesserungsfähige 1
MW I, 427—50, bes. 446—50. * MW I, 488—505. Genauer Titel: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. Zum Verhältnis dieses Aufsatzes zum Manuskript Kritik des Hegelschen Staatsrechts siehe unten 95 f. s MW I, 506—10.
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Der entwickelte Begriff der Kritik
Philosophie —, andrerseits die Wirklichkeit von ihr verschieden ist. Der politische Staat etwa enthält „in allen seinen modernen Formen die Forderungen der V e r n u n f t . . . Er unterstellt überall die Vernunft als realisiert. Er gerät aber ebenso überall in den Widerspruch seiner ideellen JJestimmung mit seinen realen Voraussetzungen. — Aus diesem Konflikt des politischen Staates mit sich selbst läßt sich daher überall die soziale Wahrheit entwickeln" 4 . Kritik wäre also „rücksichtslose Kritik am Bestehenden", an der Realität, insofern sie schon, gerade gegenüber einer vollendeten Philosophie, Vernunft enthält. Das Verfahren ist also eines der wirklichkeitsimmanenten konkreten Kritik. Marx spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von „positiver Kritik" 5 . Im folgenden geht es uns wiederum um die theoretische Plausibilität der Entwicklung bei Marx. Betrachten wir also den Zusammenhang, insbesondere die Herausarbeitung der positiven Kritik als Fazit aus dem Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit, genauer.
Die zwei Parteien In einer Besinnung auf die Kritik spricht Marx in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie in Anlehnung an die Dissertation von zwei Parteien: der „praktischen politischen" und der „theoretischen" Partei. In vorläufiger Charakterisierung: die erstere will Negation der Philosophie sein und die bestehenden Zustände kritisieren; die letztere will von der Philosophie her die (deutsche) Welt bekämpfen, verhält sich aber unkritisch gegen sich selbst, indem sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausgeht®. Ziehen wir noch einmal die Dissertation heran: dort sind beide Richtungen oder Parteien objektiv Einheiten von Philosophie und Nichtphilosophie; subjektiv sind sie unterschiedene Richtungen, und zwar jeweils von einem Extrem her orientiert: als liberale Partei, die sich von der Philosophie nach außen wendet, oder als positive, die von der Realität ausgeht und den Mangel als einen der Philosophie sieht. Beide sind dialektisch verschränkt, jede tut, was die andere tun will und was sie selbst nicht tun will. D. h., jede der Parteien ist dialektisch, ist nur innerhalb einer dialektischen Einheit von Philosophie und Nichtphilosophie die Betonung einer Seite in der Erscheinung, die aber als einseitige die andere dialektisch widerspiegelt. Die erstere Partei, die liberale, hat die Auszeichnung, daß sie bei ihrem Widerspruch sich ihres Prinzips und Zwecks bewußt ist; die andere hat diese Auszeichnung nicht, in ihr erscheint Verkehrtheit, Verrücktheit. So 4
MW I, 448 f. MW I, 507. « MW I, 495 f. 5
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macht nur die erstere Fortschritte. Aber allein der darüberstehende, diagnostizierende Philosoph hat die Wahrheit, sieht die Notwendigkeit der Kritik und die gegensätzliche Akzentuierung der Problematik, Philosophie und Wirklichkeit in der Praxis zu vermitteln, er erkennt die beiden Gegensätze in ihrer dialektischen Natur und kann sie beurteilen. Diese Sachlage findet sich in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie in weiterentwickelter Form. Die dialektische Verschränkung der beiden Parteien in der Erscheinung, wie sie der Philosoph sieht, wird einerseits konkreter, bezogen auf die deutschen Verhältnisse, andrerseits dialektisch reflektierter, aufgefaßt. Vorweg fällt auf, daß die neue Fassung gegenüber der Dissertation in erhöhtem Maße paradox ist, insofern als die praktische politisdie Partei, von der man dodi unter dieser Bezeichnung annehmen sollte, daß sie das Richtige tue, da sie Praxis ist, abgelehnt wird, während umgekehrt die theoretische Partei, von der man annehmen sollte, daß sie als bloß theoretische ausscheidet, nicht einfach einer eindeutigen Ablehnung verfällt. Marx sagt von der praktischen politischen Partei: „Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung [der Negation der Philosophie], sondern in dem Stehenbleiben bei der Forderung, die sie ernstlich weder vollzieht noch vollziehen kann. Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes — einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt." Und mit Bezug auf den zeitgenössischen deutschen Fall fährt Marx fort: „Die Beschränktheit ihres Gesichtskreises zählt die Philosophie nicht ebenfalls in den Bering der deutschen Wirklichkeit oder wähnt sie gar unter der deutschen Praxis und den ihr dienenden Theorien. Ihr verlangt, daß man an wirkliche Lebenskeime anknüpfen soll, aber ihr vergeßt, daß der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur unter seinem Hirnschädel gewuchert hat. Mit einem Worte: Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen1." Der deutsche Fall scheint hier mitbeteiligt an der Lösung, da hier die Philosophie Wirklichkeit — im Sinne einer Präokkupation mit Philosophie — ist. Aber das grundsätzliche Wechselverhältnis von Philosophie und Wirklichkeit ist damit nicht bestritten, vielmehr hat es im deutschen Fall eine konkrete Pointe: die zeitgenössische deutsche Wirklichkeit macht sinnfällig, daß Kritik der Wirklichkeit Kritik der Philosophie im konkreten, geschichtlichen Fall ist. Nun geht es Marx nicht etwa dieses historischen Umstands wegen um unphilosophische Aktion, sondern um einen Ansatz für Praxis, Zündung von Praxis von der Philosophie aus, und da kann eine Position, die nicht im Besitz des Begriffs ist, nichts ausrichten. Das Plädoyer für Praxis kann nur von der Philosophie her gesichtet und beurteilt werden. Dies ist das transzendentale Erbe bei Marx. Aber die theoretische Partei ist ebenso zu 7
MW I, 495.
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Der entwickelte Begriff der Kritik
kritisieren: „Sie erblickte in dem jetzigen Kampf nur den kritischen Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt, sie bedachte nicht, daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn audi ideelle, Ergänzung ist. Kritisch gegen ihren Widerpart, verhielt sie sidi unkritisch zu sich selbst, indem sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausging und bei ihren gegebenen Resultaten entweder stehenblieb oder anderweitig hergeholte Forderungen und Resultate für unmittelbare Forderungen und Resultate der Philosophie ausgab, obgleich dieselben — ihre Berichtungung vorausgesetzt — im Gegenteil nur durch die Negation der seitherigen Philosophie, der Philosophie als Philosophie, zu erhalten sind... Sie glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben*." Beide Parteien also erscheinen mit Mängeln behaftet: die praktische politische Partei ist für sich undialektische Negation der Philosophie. Dabei übersieht sie, daß in Deutschland Philosophie zu den bestehenden Zuständen gehört (womit Philosophie nicht kategorial, sondern anthropologisch gemeint ist); die Kritik der bestehenden Zustände wäre also die dialektische Negation der Philosophie. Umgekehrt steht es mit der theoretischen Partei, die, indem sie die Wirklichkeit kritisiert, nicht sieht, daß sie damit sich selbst kritisieren muß, da Philosophie als anthropologisches Vorkommnis zur deutschen Welt gehört. Die Parteien als konkrete Kräfte, als erscheinende, durchschauen sich nicht, verhalten sich insofern undialektisch, sind auf Zustände bezogen, die selbst undialektisch scheinen (Philosophie oder Wirklichkeit, je für sich genommen), aber dialektisch verschränkt sind. Es wird nun jeder Partei nicht an ihrem Gegenstück, der anderen Partei, sondern von ihrem Gegenstand her nachgewiesen, daß sie dialektisch ist: die Kritik des einen, der Philosophie, wie die Kritik des anderen, der Wirklichkeit, ist Kritik von beidem. Es wird also schon eine weltlich vorkommende Philosophie kritisiert, wenn man die Zustände kritisiert. Und umgekehrt, wenn man die Philosophie, etwa die Hegeische Rechtsphilosophie, kritisiert, kritisiert man auch beides, den modernen Staat und die Philosophie, das deutsche politische und rechtliche Bewußtsein4. So passen die beiden Parteien in der Dissertation und die in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie zwar zusammen, indem sie jeweils Gegenstücke von einander sind und dasselbe von entgegengesetzten Seiten betreiben. J a es scheint, daß eine Partei so gut wie die andere ist, daß es sich angesichts des dialektischen Verhältnisses der Parteien zu ihrem Gegenstand, logisch um eine Identität handle. Aber andrerseits wird doch auch der Vorrang der einen, der früheren „liberalen" und nunmehr „theoretischen", bekräftigt. MW I, 495 f. — Von dieser „Aufhebung" oder „Negation" der Philosophie als Philosophie, gilt, was oben gesagt wurde, nämlidi daß die Konzeption, als zwischen philosophischem und anthropologischem Verständnis stehend, paradox ist. » MW I, 496. 8
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Ein Gegensatz zwischen liberaler und theoretischer Partei bliebe, wenn wir die liberale wie Hillmann positiv sehen als Marxens eignen Standpunkt reflektierend (vgl. Hillman, Marx und Hegel 183; 296 f. und oben 18), während die theoretische von Marx deutlicher mit Distanz behandelt ist. Der Vorrang, der in ihr liegt, wird nicht mehr ihr selbst vindiziert (wie im Fall der liberalen), sondern einem sie berücksichtigenden Fazit, von dem noch zu sprechen ist. Friedrich scheint, im Gegensatz zu Hillman, die liberale Partei rückblickend von der theoretischen her zu deuten, also Marxens Position auch von ihr abzuheben (Philosophie und Ökonomie beim iungen Marx 36; 146—50). Im gegenwärtigen Zusammenhang ist die Frage nicht von größerer Bedeutung.
Von der liberalen Partei hieß es in der Dissertation, daß sie im Besitz des Begriffes sei und allein Fortschritte mache; nur war sie noch unmittelbar, stellte noch nicht sich als Philosophie in Frage. Sie war nodi nicht eine wirklichkeitsimmanente Kritik, durch die sie ihre Philosophie — als Teil der Wirklichkeit genommen — mitkritisierte und damit auch der anderen Partei Rechnung trüge. Theorie und Wirklichkeit müssen zusammenkommen. Nach Früherem muß dabei die theoretische Partei der begriffslosen vorgezogen werden. Aber es zeigt sich nun, daß es gerade für eine Kritik beider, der Philosophie wie der Wirklichkeit, nur nodi einer einzigen Kritik bedarf, der von der Philosophie ausgehenden Kritik der bestehenden Zustände, denn darin kritisiert Philosophie auch sich selbst. Allerdings ist dieser Gedanke auf Deutschland gemünzt, wo die anthropologische Wirklichkeit Philosophie ist, statt richtiger Politik, richtiger Geschichte, wie im Ausland.
Die Kritik der Wirklichkeit Die sich selbst in Frage stellende Philosophie ist Kritik der Zustände; nicht bedarf es mehr, so scheint es, einer reinen darüberstehenden Philosophie als Ausgangspunkt. Die Philosophie als Maßstab der Kritik und also auch die theoretische Partei fallen zusammen mit der Kritik der Wirklichkeit, oder sie fallen zusammen mit der praktischen politischen Partei. Diese aber könnte nicht ihrerseits ein solches Zusammenfallen mit der theoretischen Partei verständlich machen; es muß von der theoretischen Partei ausgegangen und zur Kritik der Wirklichkeit innerhalb der Wirklidikeit fortgeschritten werden. Die Kritik der Wirklichkeit als die eine Kritik löst die beiden Parteien ab, so wie sie audi die Überphilosophie der Dissertation ablöst. Die Dialektik der beiden Parteien wird nicht mehr nur vom darüberstehenden Philosophen durdisdiaut; die positive Kritik ist selbst das Fazit dieses Durdisdiauens und erweist sich als die praktisch wahre Position. Sie entspricht einerseits der früheren — von uns so bezeichneten — Überphilosophie, andrerseits entspricht sie der erscheinenden Kritik, aber als nur noch eine Kritik. Oder audi: die theoretische Partei ist selbst dies Fazit, wenn sie einsieht, daß sie Kritik der Zustände von innerhalb der Zustände sein muß.
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Dagegen wäre die andere Partei zwar Kritik der Wirklichkeit und Negation der Philosophie, aber ohne den Begriff. Der Gedanke der Kritik wird im Briefwechsel mit Ruge, Bakunin und Feuerbach und in der Vorrede zu den Pariser Manuskripten audi ohne die Einschränkung auf Deutschland allgemein gefaßt, wobei das kategoriale Motiv, weshalb Philosophie in der Wirklichkeit immer schon enthalten ist, und das anthropologische, daß Philosophie eine besondere Beschäftigung ist, zusammenkommen und verwechselbar erscheinen. Wir geben noch einmal zwei Stellen im ausführlicheren Zusammenhang: „Die Philosophie hat sich verweltlicht, und der schlagendste Beweis dafür ist, daß das philosophische Bewußtsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hineingezogen ist. Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, idi meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden .. . 10 ." Und weiter heißt es, als Antwort auf die — gleich zu behandelnde, f ü r sich zu nehmende — Frage, inwiefern wir uns in der Kritik um Religion, Wissenschaft usw., zu kümmern haben, also mit einer anderen Abzweckung, aber in unserem gegenwärtigen Zusammenhang aufschlußreidi: „Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form. Die Kritik kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln. Was nun das wirkliche Leben betrifft, so enthält gerade der politische Staat, auch wo er von den sozialistischen Forderungen noch nicht bewußterweise erfüllt ist, in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft. Und er bleibt dabei nicht stehen. Er unterstellt überall die Vernunft als realisiert. Er gerät aber ebenso überall in den Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit seinen realen Voraussetzungen. — Aus diesem Konflikt des politischen Staates mit sich selbst läßt sich daher überall die soziale Wahrheit entwickeln. Wie die Religion das Inhaltsverzeichnis von den theoretischen Kämpfen der Menschheit, so ist es der politische Staat von ihren praktischen. Der politische Staat drückt also innerhalb seiner Form sub specie rei publicae alle sozialen Kämpfe, Bedürfnisse, Wahrheiten aus. Es ist also durchaus nicht unter der hauteur des principes, die speziellste politische Frage — e t w a den Unterschied von ständischem und repräsentativem System — zum Gegenstande der Kritik zu m a c h e n . . . Der Kritiker kann also nicht nur, er muß in diese politischen Fragen . . . eingehen 11 ." 10 11
MW I, 447. MW I, 448 f. In der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie fragt Marx: „Kann Deutschland zu einer Praxis à la hauteur des principes gelangen, d. h. zu einer Revolution, die es . . . auf die menschliche Höhe [erhebt] ?" MW I, 497. Marx bejaht also die „hauteur des principes", wenn auch mit einem
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Die Wirklichkeit enthält immer sdion Philosophie, das heißt: die Welt ist immer schon normativ kategorial geprägt, aber audi: Philosophie kommt anthropologisch vor als Tendenz, als Beschäftigung, was soweit gehen kann, daß sie in dem Sinne „wirklich" ist, daß sie als Präokkupation buchstäblich die Wirklichkeit ersetzt, wie in Deutschland in Marxens sarkastischer Sicht. So ist Kritik am Bestehenden auch Kritik an der Philosophie, erfüllt also beide Aufgaben, die vorher unterschieden waren nach zwei Parteien. Derselbe Kritiker vereinigt in sich beide Richtungen in einer einzigen Kritik der bestehenden Zustände. Er ist die Reflexion aus dem Antagonismus der beiden Richtungen, übt die philosophische Kritik an der Wirklichkeit und kritisiert damit die Philosophie selbst. Auf diesem Niveau der Reflexion ist also mit der einen Kritik auch eine Kritik der Philosophie geleistet. Die Interdependenz von Philosophie und Wirklichkeit gewährleistet dies. Die Kritik der Philosophie ist subsumiert unter die Kritik der Wirklichkeit. Wir haben uns nicht nur „um die Realität des wahren menschlichen Wesens", sondern „ebensowohl um die andere Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande zu machen" 12 , wobei Philosophie miteinbezogen gedacht werden kann. Philosophie erscheint dann von der Seite der Welt her, anthropologisiert, als „theoretische Existenz des Menschen", die einer Kritik als Kritik der Wirklichkeit unterliegt. Philosophie ist als Wirklichkeit koordiniert mit sonstiger Wirklichkeit, wenn es heißt: „Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln 13 ." Die Aufstellung des entwickelten Kritikbegriffs stützt sich somit, wie sich zeigt, auf eine subtile Verwechslung von Philosophie als kategorial in der Wirklichkeit enthalten und als anthropologisch in ihr enthalten. Dies kann geschichtlich konkret gedacht sein, wenn am Beispiel Deutschland, wo die Philosophie grassiert, Kritik an der anthropologischen Existenz der Philosophie geübt wird und ihr die Schuld gegeben wird, daß die Philosophie als vorkommende, verwirklichte, in Deutschland gerade nicht verwirklicht sei, nunmehr im anderen Sinne. Die beiden Seiten, das anthropologisierende und das begrifflich-theoretische Verständnis, die wir schon im Begriff der Kritik angelegt fanden, zeigen sich hier in ihrer entwickelten Form und machen dabei gerade, das ist das Schlagende, durch Zusammenlegung des kategorialen mokanten Unterton, aber nidit als isoliert vorgängig, sondern als in der Kritik der Wirklichkeit, gewissermaßen im Vollzug gewonnen. " MW I, 448. "Ebd.
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und des anthropologischen Aspekts eine lapidare Fassung von Kritik als einer einzigen Kritik der bestehenden Zustände möglich1,4. Kritik der Philosophie? Muß sidi die Kritik mit der Philosophie audi als Theorie einlassen, also dort, wo diese glaubt, Begründung für Wahrheit über die Welt geben zu können, wo sie also nicht anthropologisdi zu nehmen ist? Hierzu müßte die Kritik an der Philosophie (Religion usw.) die Unvollkommenheit zeigen, also thecwie-immanent vorgehen. Es wäre vielleicht gerechtfertigt, Feuerbachs oben besprochene Kritik der Hegeischen Philosophie als Beispiel für eine theorie-immanente Kritik zunehmen, so sehr audi der anthropologische Standpunkt schon — aber gleichsam erst als Resultat — herangetragen wird. Marx wird in der Tat eine nicht unähnliche Philosophiekritik geben. Seine Kritik der Staatslehre der Hegeischen Rechtsphilosophie und der Phänomenologie des Geistes ist sich zwar immer schon der Forderung bewußt, Negation der Philosophie von der Wirklichkeit her zu sein, indem die Philosophie ja darin ihre Unvollkommenheit haben muß, daß sie nicht Wirklichkeit ist; seine Kritik der Philosophie erscheint also immer schon bestimmt vom Programm der Dissertation, aber in der Durchführung ist sie immanente Kritik, die sich auf die Gedankenführung Hegels einläßt und darin ihrer eignen Paradoxie untreu wird. Wir werden eine solche Kritik im nächsten Kapitel näher zu betrachten haben. Wie es auch mit dem Recht einer Kritik der Philosophie stehen mag, wo sie theoretische Kritik an einem Philosophem ist, so geht doch die eine Kritik voran. Für eine Kritik der Philosophie bedeutet das die anthropologisierende und geschichtliche Umdeutung der Philosophie. Kritik ist Kritik an der zeitgenössischen Situation Deutschlands, wo Philosophie grassiert und die Menschen so ihr Dasein verfehlen; in solcher Präokkupation soll sich die Unwahrheit der Philosophie zeigen, wenn Präokkupation mit ihr Mißstände mit sich bringt und diese Mißstände der Philosophie im übrigen deren theoretischen Gehalt entsprechen15. Eine solche Kritik der Philosophie ist, wie 14
Vorwegnehmend können wir sagen, daß hier der Reduktionalismus des Materialismus der Deutschen Ideologie angelegt ist: Philosophie ist besonderes theoretisches Phänomen und reduzierbar auf eine Wirklichkeit, die sie ist. Die eine Kritik verlangt schon einen schillernd epiphänomenalistischen und reduktionalistischen Begriff von theoretischem Phänomen und Wirklichkeit. Siehe unten 175 f.; 208 ff.; 217. 15 So entschuldigt sich Marx gleichsam in der Einleitung zur Kritik der Hegelsdien Rechtsphilosophie dafür, daß er wiederum Philosophiekritik geben wird: „die nachfolgende Ausführung" — das (frühere) Manuskript über das Hegelsche Staatsrecht — „schließt sidi zunächst ni-cht an das Original" — die Wirklichkeit —, „sondern an eine Kopie, an die deutsche Staats- und Redits-Philosophie an, aus keinem anderen Grunde, als weil sie sich an Deutschland anschließt". MW I 489.
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gesagt, subsumiert unter eine Kritik der Zustände oder der Wirklichkeit. Diese, oder, wie Marx audi sagt, die „Kritik der Erde", hat als solche, v o m Ansatz her — auch unter Absehung v o n der zeitgenössischen deutschen Pointe — einen Vorrang; mit ihr ist auch eine Kritik der Philosophie geleistet, wenn die Paradoxie, v o n der die Rede war, anerkannt wird. Zwar wäre eine eigentliche Kritik der Philosophie dialektische Alternative zu einer Kritik der Wirklichkeit und so mit ihr als Gegenstück verbunden, und dodi bestünde ein Vorrang der Kritik der Wirklichkeit gegenüber einer Kritik der Philosophie. Kritik der Philosophie wäre noch Philosophie, Gegenstück zur praktischen politischen Partei, die als Negation der Philosophie es nur mit der Realität zu tun hat, und also nur indirekt auf Wirklichkeit bezogen, nur indirekt wirklichkeitsimmanent, und insofern abzulehnen, während die Kritik der Zustände direkt der Praxis zugeordnet ist, die Klammer zwischen Philosophie und Wirklichkeit an ihr selbst aufweist, so sehr sie ihrerseits theoretisch ist. Wir unterscheiden uns in unserer Hervorhebung des Begriffs der entwickelten Kritik als der einen Kritik und der entsprechenden Entbehrlichkeit einer Philosophiekritik — so sehr diese zunächst bei Marx noch vorliegt — von der Auffassung von K. Korsch. Korsch geht es, in Absehung vom Materialismus in seiner vulgärmarxistischen Form, um die These, daß auch Philosophie, ein Teil des Überbaus, eine Wirklichkeit sei, und so sich eine kritische Praxis auf sie richten könne und müsse. Korsch geht mit Marx mit, wenn er die Philosophie als eine bestimmte Sphäre der Wirklichkeit auffaßt (Marxismus und Philosophie 116), und er versteht schon den Ansatz in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie als „revolutionäre Philosophie", die die Aufgabe hat, »den in allen Sphären der gesellschaftlichen Wirklichkeit gleichzeitig gegen den gesamten bisherigen Gesellschaftszustand geführten revolutionären Kampf in einer bestimmten Sphäre dieser Wirklichkeit, in der Philosophie, wirklich zu führen, um auf diese Weise am Ende, zugleich mit der Aufhebung der gesamten bisherigen gesellschaftlichen Wirklichkeit, auch die Philosophie, die dieser Wirklichkeit als ihr wenn auch ideeller Teil mit angehört, wirklich aufzuheben" (ebd.). Damit wäre die Position unserer Schrift als noch philosophische verstanden, so daß sie sich zwar gegen die Wirklichkeit Philosophie, aber als Philosophiekrkik richtete. Marx scheint hier aber eine solche auf das Ideelle gehende Form der Kritik nicht zu meinen. Die Philosophie wird ja gerade anthropologisiert, als Wirklichkeit verstanden, um die Konzeption der einen Kritik möglich zu machen. Es zeigt sich denn auch bei Korsch, daß er an Praxis im Unterschied zu philosophischer Kritik denkt, an ökonomische Aktion und politische Aktion neben philosophischer Aktion (ebd. 135). Solche „geistige Aktion" wäre „revolutionäre wissenschaftliche Kritik", und das kann doch wohl nur heißen: Philosophiekritik als ideelle. In unserem Zusammenhang liegt die Pointe gerade in der einen Kritik, so sehr Marx in einem rivalisierenden Verständnis von Kritik auch Philosophiekritik meint. N u r in einem solchen rivalisierenden Verständnis, für das Basis und Überbau — gegenüber der vorliegenden Konzeption einer .Wirklichkeit* — auseinandertreten, kann man eine doppelte Kritik — als Wirklichkeitskritik oder praktische Aktion einerseits, und als Philosophiekritik andrerseits, fordern, so als ob sie nur zusammen das Werk der Kritik vollbrächten.
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Der entwickelte Begriff der Kritik Kritik als Eingriff
Die geschilderte positive Kritik ist praktisch ausgerichtet. Kritik ist V o r b e r e i t u n g v o n Praxis als ihrerseits theoretische, kritische Praxis, als Praxis, die schreibt u n d redet, aber sich audi als praktisch orientierte Theorie äußert. Die Kritik der Wirklichkeit ist der Bindung der Praxis durch den Ansatz immer schon versichert, da sie den Begriff innehat u n d v o n d o r t h e r das T o t u m der Einheit v o n Philosophie u n d Wirklichkeit vorgezeichnet ist. Die Kritik ist zuständig f ü r die Wirklichkeit, die W i r k lichkeit unterliegt ihr. Der Kritiker h a t den Ansatz v o m PhilosophischWerden der Welt schon hinter sich u n d kritisiert die Wirklichkeit k o n k r e t politisch. Aufschlußreidi f ü r die A r t , wie M a r x sich das Einflußnehmen der K r i t i k auf die Wirklichkeit denkt, ist etwa folgende Stelle: „Indem er [der Kritiker] den Vorzug des repräsentativen Systems vor d e m ständischen entwickelt, interessiert er praktisch eine große Partei. Indem er das repräsentative System aus seiner politischen Form zu der allgemeinen Form erhebt und die wahre Bedeutung, die ihm zugrunde liegt, geltend macht, zwingt er zugleich diese Partei, über sich selbst hinauszugehen, denn ihr Sieg ist zugleich ihr Verlust. — Es hindert uns also nichts, unsere Kritik an die Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche K ä m p f e anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip e n t g e g e n . . . Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue P r i n z i p i e n . . . — Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, d a ß man die Welt ihr Bewußtsein inne werden läßt, daß man sie aus dem Traume über sich selbst aufweckt, daß man ihre eigenen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehen, . . . als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht w e r d e n . . . Es wird sich d a n n zeigen, d a ß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen . . . Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit der Welt und f ü r uns 16 ." Kritik scheint also über die Paradoxie, v o n der wir oben sprachen, h i n a u s z u k o m m e n : nicht ist sie n u r vermeintliche Synthese eines philosophischen Arguments f ü r Praxis u n d einer theoretischen Tätigkeit, als dessen anthropologische Gestalt, als R e d e n u n d Schreiben, sondern sie ist jetzt an die politische A k t i o n angenähert. Sie ist Eingriff. Allerdings ist sie auch jetzt nicht selbst politische Aktion, n u r ist sie enger in den politischen Ablauf eingeordnet gedacht, indem sie „interessiert", indem auf sie eingegangen wird, indem sie mitreißt und diejenigen, die auf sie eingehen, verändert hinterläßt. Ähnlich wie bei R u g e scheint nichts selbstverständlicher, als 10
MW I, 449 f. (Briefwechsel). Vgl. ebd. 491; 497 (Einleitung).
Die eine Kritik
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daß die bestehenden Zustände — darunter audi, in zeitgenössischer Konkretion in Deutschland, die grassierende Philosophie — durch kritische Bewußtmachung angegangen werden können und müssen. Aber die Sachlage ist nicht durch die populäre Idee einer kritischen Praxis erschöpft, so sehr sich diese als Versuchung aufdrängt; die Sachlage ist, insofern ja ein Argument, ein algorithmischer Ansatz hinter der Kritik steht, komplizierter.
Die Kritik und ihre Bestimmungen Kritik steht in einem Verhältnis zur Wirklichkeit, zur Praxis, zum politischen Ablauf. Unter theoretischem Gesichtspunkt stellt sich die Frage: wie kann Kritik diesen Ablauf bestimmen? Wir meinen jetzt nicht die letztlich psychologische Frage, inwiefern Kritik mitreißt, überzeugt und so Einfluß hat, was audi immer sie sagt, sondern die Frage: wie bestimmt die Kritik den Lauf der Dinge in ihrem Sinne? Es bedarf dazu eigner Bestimmungen der Kritik, und eines Laufs der Dinge, der sich bestimmen läßt, nicht nur psychologisch, sondern so, daß der Lauf der Dinge den Ansatz vom Philosophisch-Werden der Welt wahrmacht. In der zuletzt dargestellten Fassung der Kritik setzt Marx „wirkliche Kämpfe" an, mit denen sidi die Kritik „identifizieren" kann, die sie den betreffenden Akteuren „erklärt". Diese Voraussetzung setzt schon dasjenige an, was gezeigt werden müßte, nämlich daß Kämpfe stattfinden und in die geforderte Richtung gehen, so daß sie nur noch bewußtgemadit und auf den Begriff gebracht werden müssen. Ad hoc-Kritik im populären Sinne wäre nicht eo ipso ausreichend; es müßte gewährleistet sein, daß sich die Wirklichkeit in ihren eignen Auseinandersetzungen auf dem Wege zur Vernunft in der Geschichte entweder an sich schon befindet oder durch Kritik darauf gebracht werden kann; ja beides muß eines sein. Dann könnte Kritik das Wahre in der Form der Praxis sein. Dann könnte sie führend sein. Es sind also zwei Fragen zu stellen: wie bestimmt sich Kritik? und wie bestimmt sich die Wirklichkeit? Oder: wie muß die Wirklichkeit gedadit werden, auf daß das Philosophisch-Werden der Welt sich an ihr selbst oder durch Kritik erfüllt? Nehmen wir zunächst den ersteren Punkt. Wäre Kritik nidit, wie auch immer durch ihren Ansatz prinzipiiert, in der konkreten Situation nur programmatisch? Wir haben schon oben, in einem früheren Stadium der Kritikdiskussion nach den Bestimmungen der Kritik gefragt und müssen die Frage nunmehr nodi einmal anschneiden, ob eine immanente Kritik, eine Kritik der Wirklichkeit, die Bestimmungen besitzt, die für ihre Relevanz erforderlich scheinen, wo sie doch der reinen Philosophie nicht trauen darf. Gibt es eine Grundlage der Kritik, die nicht ,rein' im Sinne von Philosophie, sondern wirklidikeitsimmanent ist? Gibt es eine hauteur des principes, die dem Voll-
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zug, dem Eingriff in die Wirklichkeit, immanent ist? Wird sie nicht Zielbegriffe verwenden — Begriffe von Freiheit, Demokratie usw. —, und woher stammen diese, wie kommt es zu ihrer Aufstellung? Die neue Fragestellung einer Kritik der Wirklichkeit sieht ihre Ziele als vernünftige in der Welt partiell, oder in unvernünftiger Form, vorgegeben. Sie sind einerseits von der Philosophie schon immer aufgestellt, andrerseits sind sie in der Kritik nicht rein übernommen, denn diese ist ja nicht bloße Philosophie. Das Gesuchte, von der Kritik Angezielte, ist selbst in der Schwebe zwischen Philosophie und Wirklichkeit. Die Bestimmungen, die der Wirklichkeitskritik immanent sind, stammen zwar aus der Philosophie, werden aber andrerseits gleichsam mit einem Koeffizienten der Wirklichkeit, der Existenzberücksiditigung, versehen sein, also anders zu stehen kommen als die Bestimmungen der Philosophie, aber auch als die der zu kritisierenden Wirklichkeit, deren Gehalt an Philosophie ja gerade verbesserungsfähig, weil der Existenz nach unvollkommen ist. Die Anvisierung des weltlich-philosophischen Zieles wird auf Neuschöpfung, Fortbestimmung von nodi Offenem gehen, nicht auf in philosophischer Selbstbegründung Begründetes. Dabei wird der Welt nicht doktrinär mit neuen Prinzipien entgegengetreten, vielmehr werden der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien entwickelt17. Die Kritik ist so Programm, aber nicht an ihr selbst die philosophische Aufzeigung von Bestimmungen der Kritik oder die Artikulation eines Zieles. Kritik wäre offen für ihre kommenden Schritte und für ihr Resultat, visierte in der Kritik des Unvollkommenen etwas an, das sie selbst nicht philosophisch begründet, denn dann wäre sie ja wieder Philosophie. Kritik wäre so das öffnen eines Horizonts für künftige Wirklichkeit und stünde damit zwischen den Extremen einer Willkür oder eines nur heuristischen Vorgehens und eines Gewährenlassens der Geschichte, wie es bei Ruge anklingt. Wir sehen hier den Ursprungsort für moderne Auffassungen von pragmatischer und dodi auf Marx sich berufender Sozialkritik. Die Frage jedoch nach den Bestimmungen der Kritik und nach ihrer Fortbestimmung unter Geltungsgesichtspunkt ist im gegenwärtigen Zusammenhang bei Marx wie den modernen Fortsetzungen nicht befriedigend beantwortet; das Bestimmungsproblem ist ebenso abstrakt geblieben wie in der Dissertation. Eine normative Kraft des Faktischen würde die Kritik mitbestimmen.
2. Die Verwirklichung der Kritik Aber das Faktische soll ja seinerseits dem Ansatz Marxens unterliegen, nicht einfach offen und kontingent sein. Wir kommen damit zum obigen » MW I, 449.
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zweiten Punkt. Wie muß die Wirklidikeit gedacht werden, auf daß sie von diesem Ansatz vom Weltlich-Werden der Philosophie und vom Philosophisch-Werden der Welt prinzipiiert wird? Prinzipiiert der Ansatz doch nicht nur die Kritik, so inhaltlich unbestimmt auch im einzelnen, sondern auch die Wirklichkeit, die Praxis an ihr selbst. Insofern Kritik, auch als Kritik der Wirklichkeit, nicht mit der Wirklichkeit überhaupt zusammenfällt, stellt sich die Frage der vernunftbestimmten Wirklichkeit. Die Kluft zwischen dem Gang des Denkens als Kritik und dem Gang der Wirklichkeit, zwischen der hauteur des principes, ob inhaltlich dargetan oder nicht, und der Welt, bricht auf gerade auch im Falle einer Kritik, die Erfüllung des Ansatzes sein soll, und doch, als kritische Praxis nicht zusammenfällt mit der Praxis der Wirklichkeit im allgemeinen, deretwegen sie Kritik ist. Kenner der neueren Marxismusliteratur werden hier an den Ausweg denken, den Sartre in seiner Critique de la raison dialectique I gegangen ist, nämlich nicht den Begriff der Kritik in den Mittelpunkt zu stellen, dafür aber die prinzipiierende Praxis und deren systematische Vorstadien zum Prinzip der gesamten sozialen Wirklichkeit zu machen. Das Problem der Relevanz von Kritik für die Wirklichkeit würde sich dann nicht stellen. Und die Leistung Sartres ist, Praxis als Prinzip, als affirmativen Ansatz, bestimmt zu haben. Sartres Theorie in der Critique ist eine positive Theorie (im systemtheoretischen Sinne genommen), die vom Grund der Praxis aus aufbaut. Es bedarf allerdings der Einführung eines Negativen, das zu weiteren Entwicklungen der Praxis Anlaß gibt — es ist bei Sartre die Knappheit des zum Leben Nötigen (rareté), die zur Entfremdung führt —, aber auch dies Negative ist prinzipiell als Oppositum der positiven Praxis in die Theorie systematisch eingefügt und mit der positiven Praxis vermittelt. Die Lehre Sartres heißt allerdings „Kritik", das bedeutet aber nur, daß sie Kritik des dialektischen Materialismus als einer von Sartre abgelehnten marxistischen Philosophie ist, ferner, daß sie Kritik von systematisch aufweisbaren Entfremdungsstrukturen ist, und schließlich, daß sie Kritik ist in dem Sinne, in dem jede transzendentale Theorie kritisch ist, indem sie auf Geltungsfragen abstellt. Sie ist nicht Theorie als Kritik, wenn sie auch zeitgenössische oder vergangene Entfremdrungsstrukturen kritisiert. Umgekehrt wird damit Sartres Anspruch prekär, den Marxismus, den er anerkennt, zu fundieren, denn er tut dies nun in einer positiven Einstellung zur Philosophie, fundiert den Marxismus philosophisch, entgegen der Marxsdien Absicht auf Kritik. Vgl. die etwas positivere Beurteilung des Verhältnisses in K. Hartmann, Sartres Sozialphilosophie 193 ff. Vgl. ferner ders., „Sartres Kritik der dialektischen Vernunft' in Soziale Welt 19 (1968) 2, 183—86. Siehe audi unten 230; 425; 495 ff.
Die Wirklichkeit gegenüber der Kritik Marx scheint Wirklichkeit an wandeln, wie sie oder, wie Marx
sich der Schwierigkeit bewußt zu sein, wenn er auch die ihr selbst bedenkt: die Wirklidikeit muß sich ihrerseits soll, muß sich selbst hinbewegen zum Philosophisch-Sein, sagt: „Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirk-
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lidiung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen18." Schon vorweg ist klar: mit dieser These ist der Rahmen des dialektischen Zusammenhangs von Philosophie und Wirklichkeit, um den es ja geht, verstanden als die Frage, wie die Wirklichkeit für sich genommen, von ihr aus, Philosophie in sich aufnehmen kann. Die Kritik erscheint auf Philosophie zurückgenommen als Gedanke. Philosophie und Wirklichkeit sind wieder undialektisch getrennt. Es handelt sich um die Wirklichkeit als Gegensatz zum Gedanken, als realistisch verselbständigt. Das frühere Problem der zwei Parteien, bei der audi die eine, die praktische politische, begriffslos war, aber doch innerhalb einer Klammer von Philosophie und Wirklichkeit, als uneinsichtige Kritik, dies Problem, das in der Konzeption einer Kritik der Wirklichkeit geschlichtet war, steht wieder auf als Problem von Kritik und Wirklichkeit; die Wirklichkeit ist Gegenpol zu Philosophie und Kritik. Die Frage ist, wie dann die Wirklichkeit in einem Prozeß ihrer selbst philosophisch werden kann. Treten wir in eine nähere Analyse ein. Die Schrift, die uns in unserem Problem leiten muß, ist die Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Verfolgen wir den für uns wichtigen Gedankengang, so sehr er audi auf scheinbar entbehrliche Einzelheiten führt. Marx weiß zu unterscheiden zwischen Kritik und politischer Aktion: „Die Waife der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt", wenn es auch weiter heißt, „allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift19." Marx fordert die „Emanzipation", eine „radikale Revolution", sieht aber andrerseits, daß Deutschland „nur mit der abstrakten Tätigkeit des Denkens die Entwicklung der modernen Völker [d. h. deren Emanzipation] begleitet hat, ohne werktätige Partei an den wirklichen Kämpfen dieser Entwicklung zu ergreifen...". Marx sieht sich auf die Frage geführt, wie es zu solcher werktätigen Parteinahme, zu wirklichen Kämpfen kommen könne. Er macht Schwierigkeiten geltend, nämlich, daß es in Deutschland an der „materiellen Grundlage" fehle, deren die Revolution bedürfe. Damit wird Marx zu einer näheren Festlegung der Bedingungen der Praxis in dem gewünschten Sinne gedrängt. Es ist die Rede davon, daß die Theorie „in einem Volke nur so weit verwirklicht" werde, „als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. Wird nun dem ungeheuren Zwiespalt zwischen den Forderungen des deutschen Gedankens und den Antworten der deutschen Wirklichkeit derselbe Zwiespalt der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Staate und mit sich selbst entsprechen? Werden die theoretischen Bedürfnisse unmittelbar praktische Bedürfnisse sein?" Und hiernach fällt der schon zitierte Satz: „Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Ver18 18
MW I, 498 f. MW I, 497.
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wirklichung dränge, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen20." Es ist weiter die Rede von „Mittelstufen der politischen Emanzipation", die Deutschland nicht gleichzeitig mit den modernen Völkern erklettert habe21. Es scheint demnach, als ob positive Schritte zu tun seien, als ob Bedürfnisse ihre Erfüllung nach sich zögen und in den modernen Völkern eine solche graduelle Entwicklung die Emanzipation zuwege gebracht habe. Andrerseits wird für Deutschland eine radikale Revolution gefordert, und sie kann „nur die Revolution radikaler Bedürfnisse sein, deren Voraussetzungen und Geburtsstätten eben zu fehlen scheinen"22. Damit ist ein negativer Weg angekündigt, ja die radikalen Bedürfnisse scheinen noch gar nicht vorhanden zu sein, so daß sie erst geschaffen werden müßten, um die radikale Revolution möglich zu machen. Der Gedanke einer erforderlichen radikalen Revolution in Deutschland führt dazu, eine „nur politische Revolution" abzulehnen: sie wäre nur eine teilweise Revolution, die die „Pfeiler des Hauses stehenläßt". Sie beruhte darauf, „daß ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft sich emanzipiert und zur allgemeinen Herrschaft gelangt, darauf, daß ein« bestimmte Klasse von ihrer besonderen Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt. Diese Klasse befreit die ganze Gesellschaft, aber nur unter der Voraussetzung, daß die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse befindet, also z.B. Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben kann". Diese Klasse muß als „allgemeiner Repräsentant" empfunden und anerkannt werden, sie muß sich die Herrschaft „im Namen der allgemeinen Redite der Gesellschaft" vindizieren, damit „die Revolution eines Volkes und die Emanzipation einer besonderen Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen . . . [D]azu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer anderen Klasse konzentriert, dazu muß ein bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes . . . sein, dazu muß eine besondere soziale Sphäre für das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten . . . Damit ein Stand par excellence der Stand der Befreiung, dazu muß umgekehrt ein anderer Stand der offenbare Stand der Unterjochung sein"23. Marx denkt an die Rolle des französischen Adels und des Klerus gegenüber der Bourgeoisie. In Deutschland nun fehlt jeder besonderen Klasse „die Konsequenz, die Schärfe, der Mut, die Rücksichtslosigkeit, die sie zum negativen Repräsentanten der Gesellschaft stempeln könnte", wie es auch keinen Stand gibt mit jener „Breite der Seele, die sich mit der Volksseele, wenn auch nur momentan, identifiziert, jene Genialität, welche die materielle Macht zur poli20
MW » MW 22 MW 29 MW
I, 498 f. I, 499. I, 499. I, 500 f.
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tisdien Gewalt begeistert.. ." 24 . Die deutsche Mittelklasse ist nur „die allgemeine Repräsentantin der philisterhaften Mittelmäßigkeit aller übrigen Klassen". Es muß also das radikale Bedürfnis, aber audi die Klasse, die es hätte, erst geschaffen werden. Während in Frankreich eine Entwicklung der Emanzipation möglich war — „[i]n Frankreich genügt es, daß einer etwas sei, damit er alles sein wolle" —, muß in Deutschland die Emanzipation universell sein, nicht von einer besonderen Klasse, partiell, ausgehen. „In Deutschland dagegen, wo das praktische Leben ebenso geistlos als das geistige Leben unpraktisch ist, hat keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft das Bedürfnis und die Fähigkeit der allgemeinen Emanzipation, bis sie nicht durch ihre unmittelbare Lage, durch die materielle Notwendigkeit, durch ihre Ketten selbst dazu gezwungen wird." Die Antwort auf -die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation ist also eine negative; sie liegt „[i]n der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu 'den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat." Für das Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit ergibt sich daraus dieses: „Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen . . . In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie." Dies ist die neue, entwickelte Fassung des Verhältnisses von Philosophie und Wirklichkeit, die 24 25
MW I, 501. MW I, 502—04.
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Kritik und Wirklichkeit vermitteln will. Es müssen dazu „innere Bedingungen" erfüllt sein, es muß also ein Prozeß auf Seiten dea- Wirklichkeit, der Gesellschaft, des Proletariats, ablaufen, dann aber wird „der deutsche Auferstehungstag verkündet werden" und zwar „durch das Schmettern des gallischen Hahns", -d. h. durch die zündende Wirkung der Philosophie der Emanzipation, wie sie in Frankreich schon erfolgt ist 26 .
Kritik
auf der Seite der
Wirklichkeit
Wir haben dieses lange Referat eingefügt, weil es sich gerade auch in unserem Zusammenhang des Begriffs der Kritik um ein zentrales Problem handelt, nämlich um die mögliche Theorie, wie die Wirklichkeit, für sich genommen, der Kritik nachkommt, ihr entspricht. Erwähnt sei hier kurz der geistesgeschichtliche Bezug: der Bruch Marxens mit den Junghegelianern. Wir finden bei Marx eine Wendung zur Kritik der Wirklichkeit im Sinne auch eines politischen Engagements, entgegen der Philosophieverhaftetheit bloßer Kritik, und eine Lehre von der Verwirklichung der Kritik durch die Wirklichkeit. Marx steht damit am ehesten nodi Ruge nahe, entfernt sich aber von anderen Junghegelianern wie B. Bauer und M. Stirner, die, ursprünglich politischem Engagement nicht abgeneigt, sich in reine Kritik zurückziehen 27 . Ein Bruch mit den Auffassungen von Ruge liegt aber dann auf dem Wege Marxens zu einer Lehre, die Kritik der Wirklichkeit mit einer Lehre vom Proletariat verbindet. Die Abwendung Ruges beruht auf einer Option für einen „demokratischen Humanismus" und auf einer Ablehnung der Marxsdien negativistischen Gegenposition 28 . Versuchen wir, aus der stark auf zeitgenössische Verhältnisse in Deutschland abstellenden Argumentation das theoretisch Relevante herauszuschälen. Die oben zitierten Stellen enthalten eine Reihe von Aussagen. Einmal ist wichtig, daß die Praxis der Gesellschaft eingeschränkt gedacht ist auf die Emanzipation, gewissermaßen als zunächst erforderliche negative Praxis, auf Gewalt, „Kritik der Waffen", dergegenüber sonstige, bessernde, positive Praxis vorerst beiseitebleiben muß. Dann scheint es wichtig, daß wesentliche MW I, 504. — Zur Unmöglichkeit einer partiellen Revolution in Deutschland vgl. M. Friedrich, Philosophie und Ökonomie des jungen Marx 85; auch 81. Vgl. ferner H. Popitz, Der entfremdete Mensch (Basel 1953) 99. " Vgl. M. Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx, Kapitel 2, bes. 51 ff., und Kapitel 4. 28 Siehe M. Friedrich, a.a.O. 53 f. — In späterer Zeit kommt es allerdings zu einer positiven Stellungnahme Ruges zum Kapital. Siehe Ruges Brief an Steinthal vom 25.1. 1869, MEW 32, 696, und Marxens Brief an Kugelmann vom 11. II. 1869, MEW32, 589. 86
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D e r entwickelte Begriff der Kritik
Momente einer Theorie soldier Praxis geschichtlich sind, für ein in einem bestimmten Stadium befindliches Deutschland gelten, aber nicht für Frankreich. Die beiden -wesentlichen unid grundsätzlichen Aussagen sind aber wohl einmal, daß die Wirklichkeit als Gegenspieler der Philosophie jetzt durch das Proletariat vertreten ist — und zwar gemeint als Klasse und politisch angebahnt —, wobei diese Wirklichkeit in dieser Form in Deutschland allererst hergestellt werden muß, und dann die Aussage, daß die Philosophie, der Gedanke, in äußerster Distanz zu dieser Wirklichkeit steht, diese Wirklichkeit einen eignen Prozeß, eine Eigenentwicklung, durchmachen muß, bis die „inneren Bedingungen" erfüllt sind, und daß dann der Gedanke, die Philosophie, wie ein Blitz in die Wirklichkeit, in diesen „naiven Volksboden", wie es heißt, einschlägt. Die Philosophie verbindet sich mit der Wirklichkeit gewissermaßen am Ende des internen Prozesses der Gesellschaft im Proletariat (wenn die Wendung von „Kopf" und „Herz" auch die weichere Deutung zuzulassen scheint, daß die Philosophie auch im Verlauf des Prozesses Führerin ist, oder daß das Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit noch nicht so genau ausgedacht ist). Die Lehre der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie ist also wesentlich die, die Kritik als auf der Seite der Wirklichkeit selbst spielend darzustellen. Die Kritik ist nicht nur Einsprechen auf die Wirklichkeit, sozialer Eingriff, sondern Gärungsprozeß innerhalb der Wirklichkeit. Das Drama von Philosophie und Wirklichkeit erscheint als eines innerhalb der Wirklichkeit selbst. Das Erreichen der Philosophie auf diesem Wege, ihre Wiedereinsetzung, erscheint dabei noch irrational, als blitzartiges Ereignis. Theoretisch gewendet: die Abwicklung der Kritik auf der Seite der Wirklichkeit, als Praxis der Wirklichkeit, bedingt ein anthropologisches Verständnis dieser Praxis. Und ist diese Praxis zu denken als Gegenwirklichkeit zum Gedanken, so ergibt sich, wie noch näher zu erläutern sein wird, die These vom Proletariat. Man wird sagen, daß wir eine geschichtlich gemeinte Konzeption überinterpretierten, wenn wir sie in Anspruch nehmen für eine Aussage zum Problem des Verhältnisses von Philosophie und Wirklichkeit. Marx denke an die Emanzipation in Deutschland, das größere Schwierigkeiten habe als andere Länder und gegenüber Frankreich seinen eignen Weg gehen müsse, der allerdings das Besondere hat, ein universeller zu sein. Dies letztere zeigt aber, daß hier auch eine theoretische Aussage gemacht wird, und diese interessiert uns, auch wenn sie zeigte, daß die theoretische Aussage geschichtliche Argumente zu ihrer Stützung heranzieht. Die These vom Proletariat Es ließe sich zunächst denken, daß eine wirklichkeitsnahe Kritik ein Proletariat als universelles vorfindet, das dann Ausgangspunkt für die von
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der Kritik geforderten Schritte zur Wiedergewinnung des Menschen wäre. Sicherlich wird eine Kritik immer auf proletarische Mißstände hinweisen können, wesentlich steht aber der populären Ansicht, daß die Kritik ein universelles Proletariat vorfinde, entgegen, daß gerade im Beispielsfall des zeitgenössischen Deutschland dieses Proletariat allererst gebildet werden muß, auf daß die Kritik eingreifen und so die geforderte Entwicklung stattfinden kann. Offensichtlich ist die These vom Proletariat eine theoretisch geleitete These29. Die Bevorzugung des Proletariats schon in unserem Text, und von nun an immer bei Marx — gegenüber einer Bezugnahme auf eine konkrete, mehr oder weniger pluralistische Gesellschaft oder auf eine allgemeine realistische Anthropologie des Menschen als Praxis, gegebenenfalls auch unvollkommenen Praxis — kann zunächst als der formale Gedanke gesehen werden, bis zum Extrem der begriffslosen Wirklichkeit zu gehen, um dieses mit seinem anderen Extrem, dem Gedanken, zu konfrontieren und dann zu vermitteln. Dies wäre ein theoretischer Gesichtspunkt. Damit soll aber das Suggestive der Illustration und das geschichtlich, nachmalig Aktuelle der Wahl des Proletariats für die genannte theoretische Rolle nicht unterschätzt werden. Für Viele ist dies überhaupt das zureichende, wenn auch nur populäre Moment für den vollzogenen Schritt in der Theorie. Die Auszeichnung des Proletariats, insofern es ein Extrem der Begriffslosigkeit darstellt — zur Not muß ein solches Extrem allererst gebildet werden — geht parallel mit der Überlegung, daß nicht eine besondere Teilwirklichkeit, eine Klasse, die sich — wenn auch im Namen des Allgemeinen — emanzipiert, für die Wirklichkeit stehen kann. Geschichtlich konkret genommen mag es im Fall Frankreichs eine solche von einer besonderen Klasse initiierte, letztlich aber doch universell werdende Emanzipation gegeben haben; im Fall Deutschlands wäre sie nicht universell. In Deutschland wäre eine von der Philosophie konzipierte Wirklichkeit — in einem wörtlichen Sinne Philosophie gewordene Wirklichkeit — innerhalb der Wirklichkeit Gegenspieler der Emanzipation. Das Proletariat muß in einer philosophieverseuchten Wirklichkeit unphilosophisch sein, wenn Philosophieverseuchung das entscheidende Charakteristikum der deutschen Gesellschaft ist. Das Proletariat wäre Disjunktion zur philosophischen Wirklichkeit und doch universell als alleiniger Exponent der Wirklichkeit, und so Exponent der universellen Revolution. Im Briefwechsel vertritt Marx allgemein, nicht nur für Deutschland, diese These von der notwendigen universellen Revolution als Revolution des Proletariats. Grundsätzlich genommen muß sich, für Deutschland oder allgemein, zeigen lassen, wie ein Totum sich emanzipiert, d. h. philosophisch wird. 28
Diesen Zusammenhang sieht auch Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx 140. Vgl. auch die übrigen Ausführungen Avineris zum Proletariat ebd. 41—64; 139—141.
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Damit die voremanzipatorisdie Gesellschaft als ganze philosophisch wird, müßte sie, so scheint es, zunächst als ganze unphilosophisch sein, eben wenn Wirklichkeit und Philosophie lapidar entgegengesetzt werden und wenn das Ganze der Gesellschaft abstrakt als Totalität und Universalität gefaßt wird. Nun gibt es konkret genommen mehr als das unphilosophische Proletariat, es gibt eine strukturierte Klassengesellschaft. Die anthropologisch oder soziologisch konkrete Sehweise und die begrifflich-formale geraten in Konflikt miteinander. Die bloße Besonderheit des Proletariats in anthropologischer oder soziologischer Hinsicht muß die Rolle der Allgemeinheit oder Universalität zuerkannt bekommen. Dies geschieht durch Überlegungen wie etwa die, daß das Leiden beim Proletariat liege80, daß alles Unrecht der Gesellschaft auf es abgeladen werde, daß es auf Menschlichkeit überhaupt pochen muß und nicht auf Privilegien, d. h., daß das Proletariat in seiner Besonderheit, in seinem Konfrontiertsein durch herrschende Gesellschaftsschichten, allgemeiner Repräsentant des Menschlichen überhaupt wird. Das Proletariat ist gleichsam die anthropologische Übersetzung der Universalität als Gegengewicht zur Philosophie oder zu einer philosophisch verseuchten Welt. In dieser Übersetzung stellt sich die Wirklichkeit anthropologisch dar als Negativität im Inhaltlichen, als Konkretion der Unmenschlichkeit. Allerdings ist mit der Designation einer Klasse als der maßgebenden Wirklichkeit im Grunde das Totalitätsdenken der früheren Überlegungen und des Ansatzes vom Philosophisch-Werden der Welt verlassen, und ebenso ist die Idee, daß die Wirklichkeit konkret immer schon Philosophie enthält, verlassen. Dieser Verlust wird ersetzt durch die neue Argumentation, die einer Teilwirklichkeit, einer Klasse, Universalität zuerkennt. Es fehlt nicht an Bemühungen, die mangelnde Überzeugungskraft der These, daß das Proletariat alles Leiden, alles Unrecht auf sich vereinige und deshalb als universeller Repräsentant und als geschichtliches Subjekt aufzufassen sei, zu stärken. So hat ζ. B. Sartre in seiner Critique de la raison dialectique das Proletariat systematisiert als Kollektiv der Menschen, die der Antipraxis der Werkzeuge, ja der Materie allgemein, ausgesetzt sind. Ein anderes Modell, der Marxsdien These Überzeugungskraft zu sichern, stützt sich auf Hegels Gestalt von ,Herr und Knecht' in der Phänomenologie des Geistes. Dort will der Knecht dem Herrn gegenüber sein Dasein wahren, ist — insofern Dasein dem Geist nachsteht — minderwertig, wird aber vom Herrn in Existenzangst versetzt, bildet sich so erst empor und emanzipiert sidi. Für eine marxistische Interpretation dieser Hegeischen Gestalt siehe A. Kojève, Introduction à la lecture de Hegel (Paris 1947) 53—56; 169—95; 491—526. — Allerdings ist bei Hegel das geistige Prinzip das Ziel: der Knecht wird, in der Fassung der Enzyklopädie, die die Phänomenologie etwas rafft, allgemeines Selbetbewußtsein, erhebt sich auf die Höhe einer neuen geistigen Synthese, während für Marx eine anthropologische Sicht der Existenz, Koexistenz und Assoziation, maßgebend ist. Im Briefwechsel gilt noch der Ausdruck „leidende Menschheit", in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie ist dann nur nodi vom „Proletariat" die Rede. Vgl. M. Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx 52 f. — Wir übergehen hier Einflußfragen (z. B. L. von Stein).
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Die Argumentation für das Proletariat, die das angegebene theoretische Motiv zur Grundlage hat und für eine geschichtliche Entwicklung plädiert, erweist sich, wie schon angedeutet, als Konflikt zwischen Anthropologie und dialektischer Philosophie. Anthropologisch gesehen müßte die Besonderheit des Proletariats es disqualifizieren — es wäre nur besonderes, empirisch eigentümliches. Dialektisch-begrifflich wiederum wäre das Proletariat nur Extrem und insofern trivial, als man eben für die Theorie vom Philosophisdi-Werden der Wirklichkeit das Extrem fordert, das im Begriff der behaupteten dialektischen Opposition als abstrakter liegt, ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß die Wirklichkeit immer schon philosophische, d. h. konkretes Allgemeines, ist. Die Aspekte der Anthropologie und des dialektischen Formalismus müssen also verbunden werden: das Extrem muß anthropologisch genommen werden: es muß es anschaulich als besonderes in der Gesellschaft geben, es muß gebildet werden, wo es nicht existiert, und ihm muß dabei die Rolle des Extrems zur Philosophie und der sozialen Universalität, für das Totum der Gesellschaft zu stehen, vindiziert werden. Auch das Moment des aufs allgemein Menschliche überhaupt reduzierten Bedürfnisses und der Existenznot bedeutet ja nur, daß begrifflich das Universelle — das Menschliche —, im Grunde allerdings nur als Existenz, als Abstraktum, pointiert wird, weshalb das Proletariat dann allgemeiner Repräsentant sein kann, statt daß wirklich konkret gedacht und im Proletariat ein mögliches oder tatsächliches Element des Ganzen der Gesellschaft gesehen würde, das mit diesem vermittelt werden müßte und dann aufhörte, Proletariat zu sein. Nur durch eine Verquickung von wirklicher Besonderheit und begrifflicher Allgemeinheit kann das Proletariat als allgemeiner Repräsentant der ganzen Gesellschaft, der Wirklichkeit, gelten. Es herrscht ein quid pro quo von begrifflicher, und zwar abstrakt formaler Dialektik (Extrem, Universalität) und Anthropologie (die besondere Klasse ist der allgemeine Repräsentant, Universalität ist in der Existenz gelegen, der wesentliche Bestand der Gesellschaft ist zum Proletariat eingeebnet). Der begrifflich formale Gedanke ist maßgebend für die Designation des Proletariats (ja, es muß erst gebildet werden, um dem Gedanken zu genügen), aber es muß als konkret, anthropologisch, wenn auch nicht wirklich konkret — denn dann wäre es nur besonderes — genommen werden. Marx kann in der Auszeichnung des Proletariats, als anthropologischer Übersetzung der Gegenwirklichkeit zur Philosophie, Suggestivität gewinnen: man meint, die Kritik habe hierin einen selbstverständlichen Einsatzpunkt, hier sei doch etwas nicht in Ordnung in der Wirklichkeit usw. Aber das ist nur die naive Lesart des Marxschen Gedankens auf Grund seiner anthropologischen Suggestivität. Der Gedanke ist vielmehr komplexer, Verbindung von Anthropologie und Dialektik. Nicht ist die Kritik an Mißständen primär, sondern der Gedanke von Philosophie und Gegenwirklichkeit und die Designation des Proletariats, die anthropologische Ubersetzung der Gegenwirklichkeit, folgt nach. Dies einmal aufgestellt,
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muß das Proletariat allererst universell werden, obwohl es gerade als anthropologisch und soziologisch gefaßtes besonderes ist. Die Paradoxie von Allgemeinheit und Besonderheit wird Motor für die geschichtliche Bewegung von der Besonderheit des Proletariats zur Allgemeinheit, die dann als Totalität philosophisch werden soll. Hiermit ist eine philosophische Kritik an einem philosophisch erschlossenen Gedanken Marxens versucht. Wir stützen uns dabei nicht auf die soziologische Empirie wie J . Habermas (Theorie und Praxis 332—34), so sehr wir selbst geltend machen, daß anthropologisch oder soziologisch das Proletariat nur „besonderes" ist. Für Habermas ist die soziologische Empirie entscheidend, während ihm das theoretische Argument bei Marx zum „dialektischen Schema" herabsinkt (ebd. 333). Für uns, die wir nicht eine neue Position betrachten, sondern Marxens Position, ist die formale und abstrakte Argumentation nicht „Schema", sondern konstitutiv, wenn auch als paradoxes quid pro quo. (Siehe audi unsere späteren Stellungnahmen zu Habermas.)
Das Proletariat ist, begrifflich pointiert, das Begriffslose, und dodi muß es als Wirklichkeit zum Gedanken drängen. Es bedarf also eines Prozesses. Dieser muß Prozeß des Proletariats sein, also Prozeß im negativen Potential sein, ja uneinsiditiger Prozeß sein, jedenfalls nadi der begrifflichen Charakterisierung des Proletariats als begriffslos (sonst müßte es durch eine List der Vernunft beherrscht werden). Es handelt sich nicht nur um ein punktuelles Extrem zum Gedanken, um einen bloßen Gegenpol, als das wir es oben ansprachen, womit es ja doch dialektisch, wenn auch abstrakt, bezogen wäre auf den Gedanken als anderen Gegenpol, sondern um einen Prozeß, und dieser muß eben der Prozeß der Wirklichkeit sein, nicht dialektisch gedachtes Zusammenspiel von Gedanke und Wirklichkeit. Es muß realistisch anthropologisch, mit gewisser Konkretion, gezeigt werden, wie die Wirklichkeit philosophisch wird. Der Gedanke, die Philosophie, schlägt ja erst, wenn die „inneren Bedingungen erfüllt" sind, wenn also der Prozeß weit genug gediehen ist, wie ein Blitz ein. Damit ist der im Grunde prinzipielle, zeitlose Charakter des Ansatzes der Dissertation mit seiner systematischen Diskrepanz von Philosophie und Wirklichkeit eigentlich geschichtlich geworden. Das Proletariat als geschichtlich vorliegendes (oder allerst zu bildendes) muß die nunmehr geschichtliche Diskrepanz von Philosophie und Welt im Progreß austragen. Es garantiert die Diskrepanz und somit die geschichtliche, in der Wirklichkeit zu lösende Aufgabe des Prozesses.
Positiver und negativer Weg Wie schon angemerkt läßt sich die Auffassung von Philosophie und Proletariat als „Kopf" und „Herz" auch verstehen als begleitende Einfluß-
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nähme der Philosophie als Kritik, so daß ein Konflikt entstünde zwischen einer Lesart, wonach die Entwicklung aufsteigend u n d positiv verläuft, Schritt f ü r Schritt Verwirklichung der Kritik ist, u n d der anderen Lesart, wonach der Prozeß begriffslos abläuft, bis er, gleichsam final ferngesteuert, das Ziel der verwirklichten Philosophie wahrgemacht hat. Diese beiden Versionen sind, wenn man will, der systematische Ursprungsort f ü r ein seither bestehendes marxistisches Dilemma, u n d zwar zwischen einem negativen Weg und einem — sich innerhalb des Kritikgedankens haltenden — positiven Weg. Wir meinen den Weg der Verelendung, der negativen Kulmination des Proletariats bis zum Umschlag, den Marx in der Theorie vorziehen wird, wenn auch nicht immer in politisch-pragmatischen Äußerungeil31, und den Weg, den man in einem prototypischen Sinne ,Revisionismus' nennen könnte und der dem Gedanken der Kritik entspricht, insofern Kritik bessernden Einfluß auf den Gang der Gesellschaft gewinnen will. Nicht nur wäre hierbei verlangt, daß es f ü r den „Gedanken" Empfängliche gibt, die über die Begriffslosigkeit hinausragen, Führer, Organisatoren usw. — das will Marx, soweit er politisch-pragmatisch denkt, ohnehin akzeptieren —; vielmehr wäre der abstrakt-begriffliche Gesichtspunkt des Extrems, das das Proletariat darstellen soll, verlassen zugunsten einer konkreten sozialen Bewegung, zugunsten einer Beseitigung des Proletariats. In unserem theoretisch bestimmten Text dagegen schein der negative Weg vorzuherrschen, bei dem die Uberzeugungskraft nur im abstrakt-begrifflichen Gesiditspunkt liegt; der negative Weg ist angelegt in der Auszeichnung des Proletariats als eines allgemeinen Repräsentanten der Menschheit auf der dem Gedanken entgegengesetzten Seite. Der Prozeß des Proletariats spielt sich demnach auf der Seite der Nichtphilosophie ab. Marx entscheidet sich somit für die Paradoxie. Die Kritik oder der Gedanke kann nicht hoffen, von einer begriffslosen Wirklichkeit gehört zu werden; sie stößt ins Leere, wenn die Wirklichkeit als Extrem zum Gedanken gefaßt wird. Diese ist dann nicht Subjekt. Die Kritik integriert sich nicht dem Geschehen als praktisch-politische Kritik. Kritik ist eigentlich der Tendenz des jetzt zur Diskussion stehenden Marxschen Konzepts nach überflüssig, ist nicht mehr sozialer Eingriff.
Kritik und Theorie Soll aber die nunmehr als Extrem gefaßte Wirklichkeit sich zum Gedanken drängen, so bedarf es einer Vergewisserung, einer Begründung im Gedanken dafür, wenn es sich nicht um eine bloße Behauptung handeln soll. D. h., die Wirklichkeit muß wiederum begriffen werden, auch wenn man sie J1
Das Marx-Budi von S. Avineri stützt sich stark auf solche Äußerungen und läßt so audi Marxens Theorie als gemäßigt erscheinen.
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gerade als die Seite des Nichtbegriffs denkt, und so liegt in der neuen Fragestellung ein Übergang von der Kritik als eines theoretischen Ansatzes für Praxis, wie auch immer entwickelt zu einer Kritik auf der Seite der Wirklichkeit, zum Desiderat einer konstitutiven Theorie der Praxis, ein Übergang von einer bloßen Kritik zum Desiderat eines Begreifens der Wirklichkeit, soweit sie von ihrer Seite her sich der Kritik entsprechend auf deren Ziel hin bewegen soll. Deir Begriff der Kritik als Kritik der Wirklichkeit oder der Zustände, so umfassend er zu sein schien, war zu optimistisch, wenn bei ihm an ein Interessieren der politischen Parteien, an eine Bewußtmachung usw. gedacht war als die Weise, wie Kritik zu Praxis wird; er rief vielmehr seinen Gegenbegriff hervor, die Wirklichkeit, die als Extrem auf der anderen Seite Proletariat, unfreie, unphilosophische Existenz oder Praxis ist. Populär könnte man meinen, daß die Idee einer Kritik der Wirklichkeit gerade umgekehrt gut passe zu einer schlechten Wirklichkeit, wie sie im Proletariat gegeben ist. Dann habe man doch in der Tat etwas zu kritisieren. Aber bei theoretischer Durchleuchtung zeigt sich, daß das Gegenteil der Fall ist. Das Proletariat ist auf prekärem Wege allererst durch die Theorie gefordert, auch wo es gar nicht vorliegt. Aber wichtiger noch: die Idee der Kritik setzt in Marxens eignem Ansatz voraus, daß die Wirklichkeit schon Philosophie — Vernunft in unvollkommener Inkarnation — enthalte und eben deshalb Kritik zum Philosophisch-Werden der Welt führen könne. Sonst würde Philosophie ja nur angewandt, ein Gesellsdiaftskonzept als Paradigma der Welt gegenübergestellt und wie ein Universale behandelt, ohne daß ein gesellschaftlicher Prozeß begriffen wäre. So wenig auch die Kritik nach Marxens eignem Ansatz schon über Programmatik oder Pragmatik hinauskommen mag, im Ansatz wäre einmal sichergestellt, daß sie in ihrem Gegenstand etwas immer auch sdion Philosophisches und für Philosophie Empfängliches vorfände, so daß der Kreis von Philosophie und Wirklichkeit sich auf dem Wege über die Wirklichkeit schließen könnte, und weiter wäre durch eine dialektische Klammer ein Algorithmus, eine Lösung sichergestellt. Dies ist für den hier aus der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie isolierten Standpunkt nicht mehr der Fall. Der in höherem, echterem, wenn auch paradoxem Sinne dialektische Gedanke, daß die Wirklichkeit immer schon philosophisch sei und deshalb gerade Kritik zum einzigen Gegenstand die Wirklichkeit haben könne, wie dies im Briefwechsel der Deutsch-Französischen Jahrbücher ausgeführt ist, wie auch, daß die Wirklichkeit als eine schon philosophische die Philosophie verwirkliche, ist mit der lapidaren These vom Proletariat aufgegeben. Es kündigt sich also die Wendung an, daß an Stelle der Kritik der Wirklichkeit als ansatzweise Theorie für Praxis eine ganz andere Stellung des Gedankens einzunehmen wäre, nämlidi ein Begreifen der ihrerseits in einem fremden Medium prozessierenden Wirklichkeit, also Theorie der Wirklich-
Ausblick
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keit oder Praxis. Damit kündigt sich aber audi an, daß eine solche Theorie der Praxis in der Gefahr der Paradoxie stünde, Theorie der Wirklichkeit und der Verwirklichung in der Praxis als ihrerseits unverstehender zu sein, die doch verstehend begriffen werden müßte. Das Aperçu vom „Blitz des Gedankens" zeigt nur die unverstandene Vermittlung von Philosophie und Wirklichkeit32. Es ist — außerhalb der revisionistischen Konsequenz — nicht zu sehen, daß unter Festhaltung des Gedankens der Kritik wie des Gedankens des Proletariats ein commercium von Gedanke und Wirklichkeit besteht, daß etwa die Kritik der Wirklichkeit etwas vorgibt, was diese sich zueignen könnte, oder gar, daß etwa von der Kritik vorgegebene Schritte dieselben seien, die auf der Seite der Wirklichkeit vor sich gehen müssen, soll diese sich zum Gedanken drängen. Wenn Marx von Parteinahme in der Politik, von der Anknüpfung an wirkliche Kämpfe redet, so meint man, er denke an eine Identität der Bewegung der Kritik und der Wirklichkeit, wie dies auch Ruge tat. Aber dem steht nun entgegen die Begriffslosigkeit der Wirklichkeit, des Proletariats, und zwar auf Grund der analysierten Argumentation.
Ausblick Marx muß, so hat sich gezeigt, einen Weg finden, dem Desiderat der Rationalität nachzukommen und eine Theorie der Wirklichkeit als begriffsloser, als negativer, zu geben, und zwar durch eine Rationalisierung ihres Prozesses, wie sie in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie noch fehlt. Es wäre eine Theorie, die über die Programmatik und Pragmatik des dialektischen Ansatzes für Kritik oder Praxis hinauskommt und der Wirklichkeit eine Eigengesetzlidikeit unterlegt, einen objektiven Algorithmus, der — als einseitig auf Seiten der Wirklichkeit sich abspielend — einem Determinismus nahesteht, gleichzeitig aber rational bestimmbar ist. Das Pathos der Wirklichkeitsnähe der Kritik, anthropologisch und geschichtlich, wird sidi verbinden mit dieser neuen Aussicht auf Theorie, die Theorie der Wirklichkeit als begriffsloser ist, also in der Gefahr steht, deterministische Metaphysik zu werden. Auch wäre die Theorie nicht mehr Kritik als sozialer Eingriff. Andrerseits wird die Theorie rational sein, und Marx wird die neue theoretische Konzeption auf Grund des Widerspiels von Kapital und Proletariat — und damit mit einem zu kritisierenden .Helden' Kapital — sogar als Kritik aufstellen können. Wir kommen auf diese Fragen an späterer Stelle zurück. Hier genügt es uns zu sehen, wie auch von der vorstehenden Reflexion aus eine Anweisung 38
Vgl. D. Benner, Theorie und Praxis 157 f.; 162.
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Der entwickelte Begriff der Kritik
gegeben ist für ein Weitertreiben der Theorie zu einer Theorie anderer Art und für eine Praxis, einen Prozeß anderer Art, als ursprünglidi im Ansatz angelegt schien. Vorerst steht die Lehre von der Kritik der Wirklichkeit nur als paradox und irrational da. In ihr liegt allerdings gegenüber einer Kritik der Wirklichkeit im Sinne des Briefwechsels audi ein Prae gegenüber dem positiven Weg, eben die mögliche Objektivität der Theorie. Wir reservieren diesen Punkt einer Diskussion im Zusammenhang mit der Marxsdien Philosophiekritik.
ΠΙ. Die Kritik der Philosophie Betrachten wir als nächstes eine weitere F o r m der Kritik, die für uns schon vom Marxsdien Kritikbegriflf her ihre Stelle hat: die Philosophiekritik. Dies kann nunmehr an einem ausgeführten Beispiel, der Kritik schen Staatsrecbts, philosophie, Geistes,
des
also an der Kritik eines Teils der Hegeischen
wie audi an einer Kritik der Hegeischen Phänomenologie
HegelRechtsdes
geschehen, während Philosophiekritik in den bisher behandelten
Schriften auf einen philosophiekritischen Ansatz
beschränkt war. Die jetzt
gemeinte Kritik steht der Anthropologie Feuerbachs nahe, geht aber in Form einer Prüfung Hegelscher Argumente immanent vor. Die darin enthaltene Lehre ist noch nicht eigentlich geschichtlich, wenn auch nicht darum ungeschichtlich; sie hat denn auch nicht -das Proletariat zum Gegenstand. Insofern, kann man sagen, gehen wir mit unserer Betrachtung gegenüber der Analyse der Einleitung
zur Kritik
der Hegeischen
Rechtsphilosophie
ein Stück zu-
rück. Wir redinen die Kritik des Hegeischen Staatsrechts, um die es jetzt geht, unter Kritik der Philosophie. Man könnte diese Schrift auch stärker von der Thematik her mit den Aufsätzen in der Rheinischen Zeitung zusammenordnen, um dann unter .Philosophiekritik' -wesentlich nur die späteren Schriften zu verstehen, in denen Marx junghegelianische Philosophiekritiker, die Philosophen geblieben sind, kritisiert (Die Heilige Familie, Die Deutsche Ideologie). Ein Beispiel für solche Behandlung ist etwa M. Friedrich. Im jetzigen Zusammenhang wäre also Kritik nach Themen, ob in der Wirklichkeit oder in der Philosophie, zu ordnen. In der Vorrede zu den Pariser Manuskripten spricht Marx selbst davon, daß er „in verschiedenen selbständigen Broschüren die Kritik des Rechts, der Moral, Politik etc. aufeinanderfolgen lassen" (MW I, 506), und das heißt doch wohl also, nach .Themen', und nicht nach einer dialektischen Opposition von Philosophie und Wirklichkeit, vorgehen wolle. Hier zeigt sich das .rivalisierende' Verständnis von Kritik, von dem oben die Rede war. Jedem Thema der Wirklichkeit wäre undialektisch ein Ausdruck in einer Lehre zugeordnet, die sich ideell kritisieren läßt. Wir pointieren unsererseits die Kritik der Philosophie in einem theoretischen Verständnis, als Gegenbegriff zu einer Kritik der Wirklichkeit, und dann ist es erforderlich, sie im Ansdiluß an einen entwickelten Begriff der Kritik für sich zu behandeln. (Später wird sie, im Zusammenhang mit der Ideologiekritik, erneut zu betrachten sein). An der Mikrochronologie der schnell aufeinander folgenden Marxschen Manuskripte und Druckschriften — hierfür siehe M. Rubel, Marx-Chronik (München 1968) — ist angesichts unserer systematisierenden und theoretisch-methodologischen Absicht nicht viel gelegen, so sehr sie auch unserer Behandlung der Kritik des Hegeischen Staatsrechts vor den Pariser Manuskripten entspricht. Wir haben oben denn auch die Einleitung 2ur Kritik der Hegelsdjen Rechtsphilosophie und den Briefwechsel aus den DeutschTranzösisdien Jahrbüchern vorgezogen, um zunächst einen entwickelten Begriff von Kritik exponieren zu können, von dem aus eine Kritik der Philosophie im richtigen
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Die Kritik der Philosophie
L û t , nämlich als letztlich entbehrliches, wenn audi vielleicht nicht bei den Deutschen entbehrliches, Teilvorhaben, erscheint. Vom Inhaltlichen her ließe sich sonst die Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie später einordnen als Schrift, die schon zur Revolutionsthematik übergeht und so den Übergang zum mittleren und späteren Marx bildet. — Der Vorspann der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (MW I, 488 f.), die nach H.-J. Lieber und P. Furth Ende 1843 — Januar 1944, nach M.Rubel im Dezember 1843 geschrieben ist, verweist, wie schon oben zitiert, auf die Kritik des Hegeischen Staatsreckts als „nachfolgende Ausführung", die „sich zunächst nicht an das Original, sondern an eine Kopie [!], an die deutsche Staats- und Rechtsphilosophie" anschließe. Die Tatsache, daß Marx eine auf der Stufe der entwickelten, einen Kritik stehende Schrift als Einleitung für eine auf der Stufe der doppelten Kritik stehende ins Auge gefaßt hat — wenn diese auch unveröffentlicht und Fragment geblieben ist —, gibt auch uns die Lizenz, aus methodologischen Gründen die Reihenfolge in diesem selben Sinne umzukehren. — Die spätere Philosophiekritik Marxens wird uns weniger beschäftigen, dafür aber die Frage, inwieweit Marx später selbst wieder in Philosophie zurückfällt.
Die jetzt zu betrachtende Schrift bringt uns thematisch insofern weiter, als sie das Problemgebiet der Junghegelianer, den Staat, mit deren Betonung der Existenz des Einzelnen und der Demokratie, behandelt. Abgesehen davon, daß wir den Begriff der Kritik als Richtschnur weiterverfolgen wollen, gewinnt nunmehr Marxens Denken für uns an Inhaltlichkeit, auch wenn das neue Stüde gerade nicht der im vorstehenden angebahnten Auffassung von der Wirklichkeit als Proletariat und der für sie erforderlichen Theorie entspricht. Eine unserer Absichten ist ja auch, die wesentlichen Schriften und ihre Themen zu kommentieren, und so haben wir im folgenden den demokratischen' Marx kennenzulernen. (Eine interessante Spekulation in diesem Zusammenhang ist, inwiefern solche Philosophiekritik zu einer Konzeption von Demokratie, Wirklichkeitskritik aber zur Konzeption eines Proletariats führt.) — Hinzuzunehmen unter dem Motto ,Philosophiekritik' ist schließlich ein Fragment zu Hegels Phänomenologie des Geistes, gleichsam im Vorgriff auf die Pariser Manuskripte, zu denen es gehört. Eine Diskussion der Marxsdien Kritik des Hegeischen Staatsrechts setzt unsererseits eine Kenntnis der Hegeischen Rechtsphilosophie voraus, und ein erneutes Eingehen auf sie nach schon verschiedentlichen Bezugnahmen bietet uns willkommene Gelegenheit, eine für Marx und den Marxismus entscheidende Theorie, Hegels Theorie zu Gesellschaft und Staat, näher in den: Blick zu bekommen und auf ihre Unterschiede zu Marxens Betonung der Praxis hin zu sichten. Natürlich können wir, sowohl was Hegel als auch was im folgenden Marxens Kritik angeht, nur einige wesentliche Punkte berühren. 1. Exkurs zu Hegels
Rechtsphilosophie
Das Auszeichnende der Hegeischen Rechtsphilosophie ist, daß sie eine philosophische Theorie der Gesellschaft und des Staates als deren Einheit
Exkurs zu Hegels R e c h t s p h i l o s o p h i e
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oder Totalität darstellt. Sie ist darin in eins Theorie des Redits und des Sozialen. Hegel möchte zeigen, daß die Gesellschaft angesichts der Pluralität, die sie aufweist, eine Einheit besitzt, die aber nicht auf der kategorialen Ebene eben dieser Vielheit dargetan werden kann. Die Einheit ist vielmehr ein kategoriales Novum. Konkreter gesprochen: der Staat kann nicht danach betrachtet werden, daß er gebildet wird aus gewissen Mitgliedern der Gesellschaft (Beamten, Politikern, die keinen anderen Erwerb nötig haben usw.), er kann also nicht ¿««ergesellschaftlich betrachtet werden und auch nicht etwa nach seinem Zustandekommen seitens der Menschen der Gesellschaft, die ihn gründen wollen oder die ihn, in theoretischem Verständnis, .konstituieren'. Er ist vielmehr kategoriales Novum. Der Staat ist eine Ausprägung des Geistes in der Vielheit, ein Organismus auf der Ebene des Geistes in der Äußerlichkeit, ein .konkretes Allgemeines*.
Die Kategorialität
der
Rechtsphilosophie
Schon ein Mensch, ein Denkender oder Handelnder, kurz ein Subjekt, ist eine Ausprägung des Geistes oder der Vernunft: er exemplifiziert eine Einheit seiner selbst und der Welt und seiner selbst und der Anderen; Vieles, was in anderer Hinsicht selbständig ist, ist in dieser Einheit mitbeschlossen. Ein Subjekt muß nach einem Begriff gedacht werden, der Einheit von Subjekt und Anderem (Oppositum) zu erfassen gestattet, kurz durch einen dialektischen Begriff. Ein solcher Begriff, um seinerseits erhellend zu sein, muß verstehbar, erklärbar sein aus einem Prinzip. Das hier maßgebende Prinzip ist das Fürsichsein, der logische Begriff oder die logische Fassung von dialektischer Seinseinheit. Hegel sieht solche Seinseinheit auf der Ebene des Geistes nun nicht nur in der Beschränkung auf realontologisch Selbständiges (also mit der Beschränkung auf den Menschen als Substanz, als Organismus, als höchste Einheit, die der ontologischen Selbständigkeit fähig ist), sondern weitet sie aus auf Vielheit. Er denkt, daß Einheit hier nicht nur die Weise des Aggregats habe, sondern daß der Geist als Einheit von Subjektivem auch .objektiv' sei, d. h. Geist sei, indem er als Vielheit in der Welt besteht, als eigentlich konkretes Allgemeines. Beispiele sind die Familie, die Gesellschaft mit einigen Untergliederungen und der Staat. Wir sind vielleicht überrascht, nun doch auch von der Gesellschaft als Geisteinheit sprechen zu hören. Aber die Gesellschaft, die soziale Vielheit der Menschen, hat audi eine, wie immer unvollkommene Einheit. Hegel schließt sich hier wesentlich an die nationalökonomischen Lehren von A. Smith, D. Ricardo und J. Say an, die ja, bei allen Unterschieden im einzelnen, gerade die Interdependenz der Vielen im Markt, im Produzieren,
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Die Kritik der Philosophie
Verteilen und Erwerben, behandelt hatten. Und was wäre Interdependenz anderes als eine Einheit? Aber diese Einheit ist noch nicht die des Staates. Das Plädoyer für den Staat als nicht-identisch mit der Gesellschaft als ganzer und als nicht-identisch mit einem Teil (oder ,Apparat') der Gesellschaft — kann in verschiedener Form gegeben werden. In der griechischen Philosophie etwa ist die Unterscheidung von Gesellschaft und Staat nodi nicht gemacht, aber es findet sich bei Aristoteles der Gedanke von Stufen einer Gemeinschaft (κοινωνία), die das Leben (ζην) ermöglichen soll — etwa die Dorfgemeinschaft —, im Unterschied zu einer, die das „gute Leben" (ευ ζην) ermöglicht, die Telos der Gemeinschaft ist, Recht (δίκαιον), Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), ja Vernunft (λόγος) mit sich bringt 1 . Der Staat (πόλις) erscheint als Entelechie der Gesellschaft, als Grund, als Vollkommenheit, als Ganzes, als Autarkie des Lebens. Das Ziel des Staates ist hierbei analog zum Einzelnen gesehen: die Glückseligkeit des Staates ist dieselbe wie die des Einzelnen 2 und gleichzeitig Prius, Ganzheit, ohne die der Einzelne keine Glückseligkeit hätte. Der Staat ist kontinuierlich und homogen mit dem Einzelnen und dodi ihm auch transzendent. Die Einheit ist also schon dialektisch aufgefaßt. Der Staat steht für ein Novum gegenüber dem Einzelnen — das Recht — und ist doch in seiner Entelechie mit ihm identisch. In Philosophemen, in denen atomistisch von den Einzelnen ausgegangen wird — etwa Hobbes, auch Rousseau, Pestalozzi — erscheint der Staat (oder sein Exponent, etwa der Fürst) als Extrapolation, als Anzunehmendes, insofern die Gesellschaft der Einzelnen negativ — als Krieg aller gegen alle — zu verstehen ist. Der Staat ist Notstaat. Nicht unähnlich, wenn auch weniger von einer isolierenden Fassung der Einzelnen als vom Rechtsgedanken und seinen Voraussetzungen her, ist Fichte der Meinung (in der Grundlage des Naturrechts), daß das Recht Treu und Glauben oder eine Gesellschaft mit gegenseitiger Anerkennung der Einzelnen zwar schon voraussetze, aber daß dies ohne Zwangsrecht nicht erreichbar sei, also der Staat als Rechtsinstanz, als Instanz des Zwangsrechts, gefordert werden müsse3. Demgegenüber scheint die englische Nationalökonomie die Möglichkeit zu eröffnen, eine Gesellschaft zu denken, in der der Hobbes'sche Satz vom „homo homini lupus" sich von selbst erledigt, indem die gegenseitige Angewiesenheit ökonomisch zu einer gesetzmäßigen Ordnung führt. Damit wäre auch das Weiterverweisen auf den Staat als Grund und Bedingung f ü r Gesellschaft weniger dringend, wenn nicht vielleicht überhaupt entbehrlich. Die ökonomische Version des atomistischen Gesellsdiaftsbe1
2 s
Aristoteles, Politik 1252 b 16—1253 a 1; 1280 a 31—32; 1280 b 32—1281 a 4; 1282 b 14—1283 a 23. ebd. 1323 a 14—1324 a 14. A.a.O. A 165; 178 ff.
Exkurs zu Hegels
Rechtsphilosophie
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griffs enthält daher die stärkste Herausforderung gegenüber einem Plädoyer für den Staat. (Wir werden bei Marx sehen, daß er diesem Gedanken folgt, wenn auch in eins mit einer Kritik der Ökonomie als kapitalistischer.)
Der
Staat
Hegel vermittelt den aristotelischen Entelediiegedanken, den Fichteschen Rechtsgedanken und den englischen nationalökonomischen Gedanken in seiner Lehre. Der Staat ist die Entelechie des Geistbegriffs : hier erst ist der Einheitsmodus vorhanden, der — für den Bereich der Äußerlichkeit — letzte Wahrheit hat. Der Geist ist in ihm analog der Geisteinheit des Einzelnen und der Gesellschaft, aber gesteigert, zu sich gekommen. Der Staat ist damit Grund und Bedingung für die Einzelnen der Gesellschaft, und er ist ein Novum inhaltlicher Art. Allerdings, gerade indem sich Hegel stärker auf die ökonomische Theorie der Gesellschaft stützt, erscheint diese stärker verselbständigt als bei Aristoteles: die Gesellschaft ist eine Sphäre der Subjektivitäten, die gegen ihren Willen zur Kooperation gezwungen sind und — im Unterschied wiederum zu einer Idee bloß nationalökonomischer Gesellschaftstheorie — auch als Geisteinheit gefaßt sind. Die Gesellschaft entwickelt Rechtspflege, ja ist Reflexion auf sich in der Polizei und Wohlfahrt 4 . Gerade mit einem Gesellschaftsbegriff, der, wie in der Rechtsphilosophie, über ein bloß ökonomisches Verständnis schon hinausgeht und die Gesellschaft auch geistig als autark erscheinen läßt, fordert Hegel eine noch höhere Geisteinheit, die Instanz des Rechts ist, Souveränität „nach innen" hat, sich in einem „politischen Staat" zentriert und Subjekt im Außenverhältnis zu anderen Staaten ist. Bei all dem ist der Staat wesentlich Amplifikation des Geistes, in der sich der Einzelgeist und die gesellschaftliche Subjektivität erkennen; dies Verhältnis liegt in der Gesellschaft selbst nicht in ,wahrer' Form vor, Geist wird sich erst im Staat gegenständlich. U m Hegels kategoriale Position im Gegensatz zum Atomismus zu belegen: „Das Sittliche ist nicht abstrakt, wie das Gute, sondern in intensivem Sinne wirklich. Der Geist hat Wirklichkeit, und die Accidenzen derselben sind die Individuen. Beim Sittlichen sind daher immer nur die zwei Gesichtspunkte möglich, daß man entweder von der Substantialität ausgeht, oder atomistisch verfährt und von der Einzelnheit als Grundlage hinaufsteigt: dieser letztere Gesichtspunkt ist geistlos, weil 4
Stärker als in der Rechtsphilosophie noch von einem rein ökonomischen GesellsdiaftsbegrifF nach A. Smith bestimmt, gibt Hegel in der Jenenser Realphilosophie eine kategoriale Bestimmung der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der gegenseitigen Anerkennung der Einzelnen, andererseits aber auch eine Kritik. Das System von Bedürfnis und Arbeit erscheint als ein „wildes Tier", das „einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf" (a.a.O., hrsg. J . HofFmeister, Leipzig 1932, Teil 1 , 2 4 0 ) . Diese „Beherrschung" und „Bezähmung" kann sich nur auf den Staat beziehen.
100
Die Kritik der Philosophie
er nur zu einer Zusammensetzung führt, der Geist aber nichts Einzelnes ist, sondern Einheit des Einzelnen und Allgemeinen." Rechtsphilosophie § 156 Zusatz. — Was Hegel hier „atomistisch" nennt, werden wir im folgenden ,nominalistisdi' oder audi ,anthropologisdi-nominalistisdi' nennen, insofern damit ausgedrückt wird, daß ein Allgemeines .gemeint', aber reduziert auf Einzelnes .gedacht' wird, oder zwar ,gedacht' wird, aber nicht .vorgestellt' werden kann. Wir schließen uns damit dem Sprachgebraudi an, den Sartre in seiner Critique de la raison dialectique befolgt, wenn er von seiner Theorie als einem „nominalisme dialectique" spricht (a.a.O. 132). Der Sprachgebrauch wird sich erst bei der Behandlung des Unterschiedes der Dialektik von Marx -und Hegel als plausibel herausstellen.
Die kategoriale Fassung des Staates wäre an sich unabhängig davon, ob eine demokratische Repräsentativverfassung die Regierung zum .Exponenten' der Vielen macht (wiewohl sie sich darin nicht erschöpft), oder nicht. Zwar könnte man sagen, die Gesellschaft gebe sich in ihren Exponenten selbst den Staat, und so sei der Staat also nicht von ihr (auch) verschieden; aber dann wäre der Staat reduktionalistisdi gefaßt und das Begriffspaar Gesellschaft — Staat nicht mehr im selben Sinn verstanden; man müßte jetzt fiktiv Gesellschaft als vor-staatlich und Gesellschaft als staatsmäßig komplettiert (mit Staatsapparat) unterscheiden. Das Novum des Staats als Rechtsinstanz und in weiterem Verständnis als konkretes Allgemeines, als Einheit, in der sich die Einzelnen ,wahr' gegenständlich werden, die also gerade den Einzelnen der Gesellschaft eine Reflexion ermöglicht, wäre nicht darstellbar. Reduktionalistisdi handelte es sich bei der Einheit der Gesellschaft um eine Einheit, wonach eine innergesellschaftlidie Minderheit (der .Apparat') sich zur Einheit der Mehrheit (und entsprechend zur Rechtsinstanz, Führungsinstanz, Exekutive usw.) deklarierte. Mit anthropologisch-nominalistisch gefaßten Konstituentien ist das neue Ganze nicht erfaßt. Vielmehr muß derjenige Typ von Einheit, den wir,Staat' nennen, unabhängig von realontologisdier Genesis und von seinem Konstituiertsein aus Elementen niederer Kategorie, also den Vielen, aufgestellt werden — als Kategorie, als Was-Bestimmung. Dies tut Hegel, indem er den Staat als Geisteinheit, als Wirklichkeit der sittlichen Idee, als Oppositum f ü r den Einzelgeist, der sich darin erkennt und erfüllt, faßt. Wir dürfen Hegels Staatsbegriff nicht formal nehmen, sondern müssen, wie schon angedeutet, die geistigen Gehalte, die dieser Geisteinheit zugeordnet sind — das N o v u m dieser Einheit — hinzunehmen. Wir meinen das Recht als Staatsrecht, als sanktioniertes sonstiges Recht, als Sittlichkeit, als geistigen Charakter des staatlichen Subjekts gegenüber anderen Staaten. Der Staat hat eine Inhaltlichkeit, die von Hegel weitgehend als apriori artikulierbar angesehen wird. Er gibt also innerhalb seiner Rechtsphilosophie, die ja zunächst Kategorienlehre ist — in erweiterter Fassung des entsprechenden Stücks der ursprünglichen Enzyklopädie — eine eigentliche an Sachtheorie heranreichende Theorie des Staates: er entwickelt seine innere Differenzierung (nach Souverän, Exekutive oder Verwaltung, und Legisla-
Exkurs zu Hegels R e c h t s p h i l o s o p h i e
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tive) vom vorgängigen Einheitsbegriff aus, sozusagen durch apriorische SelbstdifFerenzierung dieser Einheit im Begriff angesichts der Sachlage, daß der Begriff .Staat* eine Geisteinheit der Vielen — der also die Gesellschaftsvielheit innewohnt — darstellen soll. Wir hören von der Legislative, ζ. B. unter dem Gesichtspunkt, daß in ihr das .Moment' der Vielheit oder das .Moment' der Anknüpfung der Einheit des Staates an die Gesellschaft liege. Die Hegeische Position verlangt, wie wir sehen, die Zulassung von Kategorien über einen anthropologischen Nominalismus hinaus. Ist diese reduktionalistische Position oder die Feuerbachsche Umkehrungsmethode nicht schon fraglose Überzeugung, so bedeutet der Hegeische Standpunkt nichts .Idealistisches', im Gegenteil, er ist der aristotelischen Position nahe, unter Einbeziehung eines voller entwickelten Gesellschaftsbegriffs.
Das
Demokratieproblem
Vergleichen wir diesen Standpunkt mit einer an die Gesellschaft anknüpfenden — genetischen, realistischen, anthropologischen — Lehre, die über die Organismus- und Substanzeinheit des Einzelnen nicht hinausgeht, wie bei Hobbes, Rousseau oder Pestalozzi, so sehen wir schnell Schwierigkeiten: wir können jetzt, indem wir den Staat vom Begriff her, insofern gewissermaßen ,νοη oben' her verstehen, ihn nicht mehr von der existenzialen Konstitution, gewissermaßen ,νοη unten' her verstehen. Wir möchten etwa Fragen dazu, wer die Souveränität habe, so beantwortet sehen, daß diese vom Volk ausgehe, funktional also durch Delegation und damit in einem Prozeß der Läuterung der Meinung, also durch Wahlen und Kandidatur, oder, im Falle einer ersten Gründung, durch Zusammenschluß zum Staat gebildet werde. Aber genau dies scheint nicht Teil der Theorie des Staates nach Hegel zu sein. Sie kann anscheinend keine Theorie der Demokratie im Sinne einer Theorie ,νοη unten' sein. Entsprechend kann Hegel ζ. B. nicht die Gewaltenteilung anerkennen, denn sie wäre ein Votum gegen die Geisteinheit des Staates, während in der Theorie ,νοη unten' die Gewaltentrennung (und allgemein alle ,checks and balances') gerade wünschenswert sind vom Gesichtspunkt der Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft oder der Verhinderung von Machtmißbrauch. (Einige weitere Einzelheiten zu Hegels Theorie des Staates bringen wir im folgenden zusammen mit Marsens Kritik. Näher wäre zu unterscheiden das prinzipielle Problem, daß Hegel nicht Theorie ,νοη unten' geben kann, und das speziellere Problem, daß Hegel für natürliche' Unterschiede optiert, für Stände, das Majorat, den erblichen Fürsten, und auch von daher, und nicht nur wegen der mangelnden Organizität der Willensbestimmung von unten, zu einer Distanzierung gegenüber der Demokratie gelangt. (Es wird unten Gelegenheit sein, den Staat als ,νοη
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Die Kritik der Philosophie
unten' zu theoretisierende wie audi als die Gesellschaft ,νοη oben' überformende und die Ökonomie stabilisierende Instanz zu betraditen 5 .) Wir sehen, hier ist Stoff f ü r eine Kritik an Hegel, f ü r ein U m d e n k e n von der Perspektive der anthropologischen Wendung her, dergemäß hier, auf der Ebene der Theorie v o n Gesellschaft u n d Staat, die Priorität der konstituierenden existierenden Einzelnen gegen die apriorische Einheit des Begriffs urgiert w e r d e n muß. U n d so finden wir, w e n n wir den wichtigsten P u n k t herausgreifen wollen, Marx damit befaßt, gegen Hegel eine Theorie der Demokratie zu entwickeln, die nun aber nicht einfach (nach Art von Rousseau) als Zusammentreten der Vielen mit ihrer volonté de tous zur Einheit einer volonté générale, oder sonst auf bloß empirische Weise gemeint ist, sondern sich der gedanklichen Bewältigung des Einheitsproblems stellt. Wir erwarten also eine Diskussion der Gewalten (wo Hegel die fürstliche Gewalt, die Exekutive und die Legislative, nidit aber die Judikative unterscheidet), und z w a r in ihrer Stimmigkeit in sich wie im Verhältnis zur Gesellschaft. Uns interessiert hier besonders die Legislative, also das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in Form einer Instanz im Staat, u n d von daher die Diskussion der Hegelsdxen Theorie unter dem Gesichtspunkt der Demokratie. Aber gehen wir dennoch kurz alle drei Punkte: Souveränität, Exekutive, Legislative in Marxens Kritik durch. Wie schon oben für den Exkurs zu Staat und Geschichte, so könnte auch für das folgende Stück eine Heranziehung von Ruge wünschenswert erscheinen. Audi hier hat Ruge — wie in anderer Weise Cieszkowski — eine Priorität, wobei wir besonders an die Rezension der Neuauflage der Hegeischen Rechtsphilosophie (zusammen mit einem Werk von v. Gagern) in den Hallischen Jahrbüchern denken (3. Jg., 1840, 1201—43, bes. 1221; 1225—30; 1233—40). Ruges Ausführungen sind nodi nicht von einer eigentlichen anthropologischen Position und auch nicht von einer immanenten transzendentalen Philosophiekritik geprägt, wie Feuerbach sie für die Hegelsche Philosophie im allgemeinen und Marx nunmehr für die Rechtsphilosophie durchführt. Er urgiert vielmehr in einem populäreren Sinne demokratische Desiderata gegenüber dem Hegelsdien monarchischen Konstitutionalismus und bringt in theoretischer Hinsicht nicht viel mehr bei als die Skepsis gegenüber zu weitgehenden und ärgerlichen Ableitungen von Einzelheiten (z. B. der Erblichkeit des Monarchen, des Majorats usw.). Wir beschränken uns auf diesen Hinweis; ein Eingehen auf Ruge und auf parallele junghegelianische Positionen würde den Rahmen unserer Aufgabe sprengen. Vgl. K. Löwith, Von Hegel bis Nietzsche.
2. Die Kritik der Hegeischen Staatsphilosophie Zum allgemeinen Teil der Hegeischen Staatsphilosophie bemerkt Marx in seiner Kritik des Hegeischen Staatsrechtsβ zunächst, daß Hegel den Staat 5 6
Siehe unten 575 ff. Der Titel ist redaktionell (H.-J. Lieber und P. Furth). D e r Anfang des Manuskripts fehlt. M W I, 258.
Marx zu Hegels Staatsphilosophie
103
nach abstrakt-logischen Kategorien d e n k e u n d diese Kategorien — Substantialität, N o t w e n d i g k e i t , a b s t r a k t e Wirklichkeit — zu Subjekten, das wirkliche Subjekt dagegen z u m P r ä d i k a t , d. h. zu „ G e w a l t e n " als Begriffsunterschieden, mache 7 . Marxens K r i t i k urgiert hier Feuerbachs ganz allgem e i n geltend gemachte Kritik, w o n a d i Hegel S u b j e k t u n d P r ä d i k a t , Sein u n d Begriff, u m k e h r e , ein Fehler, der durch die U m k e h r u n g s m e t h o d e m i t i h r e r e r n e u t e n U m k e h r u n g v o n Hegelsdiem S u b j e k t u n d Hegelschem P r ä dikat richtig zu stellen sei 8 . I m jetzigen Z u s a m m e n h a n g liegt d a m i t f ü r u n s zunächst eine anthropologische, realontologische Gegenthese u n d noch nicht eine i m m a n e n t e K r i t i k Hegels v o r .
Die
Souveränität
N ä h e r auf Hegels T h e o r i e z u r „inneren Verfassung f ü r sich" eingehend diskutiert M a r x Hegels Gewaltenlehre, die a m T h e m a der S o u v e r ä n i t ä t festgemacht ist. Hegels L e h r e erscheint M a r x als der Versuch, die Allgem e i n h e i t der Verfassung u n d der Gesetze z u r fürstlichen Gewalt, d a m i t aber a u d i z u m wirklichen Willen zu machen. Interessant ist in diesem Z u s a m m e n h a n g der Widerspruch in Hegels Disposition, die ja m i t d e m Allgemeinen, der Legislative, a n f a n g e n m ü ß t e . In der v o r w e g gegebenen Glied e r u n g 9 h a t die Legislative auch diese Stelle, in der D u r c h f ü h r u n g jedoch, die am Souveränitätsgedanken o r i e n t i e r t ist, w i r d diese Disposition u m g e k e h r t , so d a ß die Legislative d e m F ü r s t e n Platz macht 1 0 . I m ü b e r l i e f e r t e n Teil der Marxschen K r i t i k ist dieser P u n k t nicht herausgestellt. M a r x sieht nicht den systemtheoretischen A s p e k t , s o n d e r n n u r d e n sachlichen. V o n der Sache her gesehen ist f ü r M a r x die Souveränität einerseits als „innere N o t wendigkeit, als Idee" konzipiert 1 1 , andererseits als Idee des Willkürlichen, bis h i n z u r „ a b s t r a k t e n , insofern grundlosen Selbstbestimmung des Willens" 1 2 . H i e r ist also ein i m m a n e n t e r Widerspruch der Hegeischen Position geltend gemacht, so wenig M a r x einen Zweifel läßt an seiner o h n e h i n zugrundeliegenden Bejahung der Volkssouveränität, die v o n Hegel (bis auf ein triviales Einverständnis 1 3 ) abgelehnt wird. W e n n Hegel sagt, es sei 7
MW I, 273 ff. Für eine (zustimmende) Interpretation der Marxschen Schrift unter dem Gesichtspunkt der Umkehrungsmethode siehe S. Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx 8—40; 43—52. » ReAtsphilosophie § 273. 10 Red>tsphilosopbie §§ 275 fi., 298 ff. Hegels Bemerkungen § 275 Zusatz und § 279 Anmerkung, S. 383, können nidit als Rechtfertigung gelten. 11 MW I, 282. 12 MW I, 285. Zitat Rechtsphilosophie § 279 Anm., S. 383. Vgl. §§ 280 und 281. 1S Rechtsphilosophie § 279, S. 383. 8
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Die Kritik der Philosophie
gezeigt, „daß dem Staate Souveränität zukomme**14, so gibt Marx zur Antwort: „Als wäre nicht das Volk der wirkliche Staat 15 ." Die Marasche These ist offensichtlich wieder, und nunmehr spezifischer, der realontologischen Auffassung der Prioritäten verpflichtet (während umgekehrt, bei einer vom Begriff ausgehenden Theorie, noch nicht Hegels Auffassung der Souveränität anerkannt zu werden brauchte, schon nicht wegen Hegels bedenklicher Reservierung der Souveränität für den Monarchen und wegen des systemtheoretischen Fehlers in der Disposition). Marxens Auffassung muß sich nun aber dem Hegeischen Argument stellen, daß das Volk ohne seinen Monarchen, also abstrakt als Prius vor der begrifflichen Einheit, die formlose Masse sei16. Marx meint dazu, daß das Volk in der Monarchie ohne Monarchen allerdings formlos ist; macht Hegel also den Vorwurf der Tautologie17. Das Volk sei bei Hegel subsumiert unter seine politische Verfassung; dann müsse das Volk ohne die behauptete Verfassung allerdings formlos sein. Dagegen urgiert Marx die Demokratie, wo die Verfassung nur eine „Bestimmung*" sei, nämlich die der Selbstbestimmung des Volkes18. Die Verfassung ist hier „nicht nur an sich, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirklióe Volk, stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt"19. „Die Demokratie ist die Wahrheit der Monarchie", sie ist das „Wesen aller Staatsverfassung, der sozialisierte Mensch, als eine besondere Staatsverfassung", in der die „Gattung [aller übrigen Verfassungen] selbst als Existenz, darum gegenüber den dem Wesen nicht entsprechenden Existenzen selbst als eine besondere Art erscheint". In ihr ist das „formelle Prinzip zugleich das materielle Prinzip". So ist sie die „wahre Einheit des Allgemeinen und Besonderen"20. Gerade mit den Mitteln der Dialektik Hegels soll also, wie wir sehen, der Vorzug der Demokratie aufgewiesen werden. Wir sehen aber audi wieder, gegenüber Hegel, die Umkehrung der ontologischen Priorität. Das Problem ist nur, wie kann Marx die Einheit und Souveränität ,νοη unten', als mehr denn formal, als mehr denn ein bloßes Aggregat der Vielen, also auch inhaltlich, einem gerechtfertigten geistigen Inhalt nach, begreifen? Sind wir nicht wieder bei Rousseaus „contrat social"? Marx will gerade auch in Hegelscher Perspektive dem Problem des Staates als verstandener Einheit von Allgemeinem und Besonderem, als 14 15
Ebd. MW I, 290.
« Rechtsphilosophie § 279 Amm., S. 383 f. Vgl. auch § 273 Anm., bes. S. 374. " MW I, 291 f. MW I, 292. "Ebd. 10 MW I, 293.
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Marx zu Hegels Staatsphilosophie
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eines Allgemeinen, das gleichzeitig Existenz ist, und eines Besonderen, das Form ist, gerecht werden. Die Schwierigkeit ist, daß der Staat als Besonderes zwar eine Form der Gesellschaft darstellt, die sie sich gibt, aber dann doch nur wieder auf der Ebene der Gesellschaft als die Individuen darstellbar ist, die dies Besondere ausmachen. So etwas wie Staat muß dann also auf ,monistische' Weise, innergesellschaftlich, diskutiert werden, und damit legt sich eine undialektische, ja genetische Fragestellung nahe, wie auch bei Rousseau: wie kommt das Volk, die Existenz der Besonderen, zum Staat? Man muß sagen, es sei schon immer Staat, aber es habe verschiedene Verselbständigungen des politischen Staates in der Geschichte gegeben; die „Abstraktion des Staats als solchen" gehöre erst der modernen Zeit 21 . Hier meldet sich ein geschichtliches Verständnis der Fassung des Verhältnisses von Gesellschaft und Staat, und also auch die Möglichkeit eines Zurückgehens hinter die moderne (und besonders Hegeische) Unterscheidung — wenn auch Verknüpfung — beider. Kritisch kann Marx so Hegel geschichtlich relativieren; positiv kann er ein „Wesen", eine Einheit von Gesellschaft und Staat, geltend machen, der gegenüber der moderne (besonders der Hegeische) Staat nur deriviert und unvollkommen erscheint. Allerdings ist bisher die wesenhafte demokratische Einheit von Gesellschaft, oder „Volk", und Staat nach den Kriterien der Hegeischen Begriffe von Allgemeinem und Besonderem nur erst urgiert. Die Theorie des Staates wäre erst noch zu geben: im Grundsätzlichen, als Verständlichmachung der kategorialen (nicht nur geschichtlich auftretenden gesellschaftlichen) Differenz von Gesellschaft oder Volk und Staat, im Speziellen als eine explizite Theorie des Staates selbst. Es leuchtet zwar ein, daß ein Volk auf Grund seiner formal behaupteten Selbstbestimmung nicht entfremdet, nicht durch einen über ihm stehenden Staat oder einen Fürsten innerlich getrennt wäre; aber dies ist eben nur eine formale Aussage über ein unmittelbares, abstrakt begriffenes Verhältnis von Menschen untereinander. Wir haben zunächst eine unstrukturierte Vorstellung einer von Hegel her gedachten, aber realontologisch uminterpretierten Einheit, wie auch später in der Kommunismuslehre der Pariser Manuskripte. Umgekehrt fällt es Marx leicht, Ungereimtheiten oder zu sehr an tatsächliche Vorlagen angelehnte Bestimmungen in Hegels Theorie aufzuspießen, die vielfach als bloße Akkommodation an die bestehenden Verhältnisse genommen werden so ζ. B. die erbliche Monarchie22. » MW I, 295. Rechtsphilosophie § 286. - Zur „Akkommodation" vgl. Marxens Dissertation, Anmerkungen, MEW Ergänzungsband, Erster Teil, 326, wo ausdrücklich abgelehnt wird, einen Philosophen aus einer Akkommodation zu verstehen, sondern vielmehr die Erklärung aus einer unzulänglichen Fassung seines Prinzips, also aus der Theorie, gefordert wird. Andrerseits wird in unserer Schrift Akkommodation gegen Hegel geltend gemacht MW I, 383.
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106
Die Kritik der Philosophie
Die
Regierungsgewalt
Marxens Stellungnahme zur Regierungsgewalt, die sich anschließt, ist, abgesehen von ihrem existenzialen, realontologischen oder anthropologischen Standpunkt, vielfach technische, aber immanent gehaltene Hegelkritik. Marx zeigt einmal die Schwierigkeit auf, wenn die Individuen der (bei Hegel vorangehenden) Stufen wie Familie und Gesellschaft, die gleichsam ,νοη unten* entwickelt erscheinen, mit den Bestimmungen verknüpft werden sollen, die aus der Differenzierung des Staatsbegriffs, also gleichsam ,νοη oben', fließen. Beides, empirische Existenz und Allgemeines, erscheinen als „konfundiert"; die empirische Existenz, oder, abstrakt gesprochen, das Beschränkte, wird von Hegel „für den Ausdruck der Idee genommen" 2 *. Marx meint, daß bei Hegel die Regierungsgewalt nicht entwickelt sei, daß vielmehr eine Trennung des Staates und der besonderen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft vorausgesetzt werde, die durch die Regierungsgewalt überbrückt sein soll, während Hegel doch eine solche Trennung nach seiner organizistischen Theorie des Staates gar nicht zulassen dürfte und Bestimmungen wie Familie und bürgerliche Gesellschaft als Bestimmungen des Staatsindividuums fassen müßte 24 . Hier kann, wie wir gesehen haben, für Marx nur ein geschichtliches Verständnis erklärend sein, wonach Hegel einen modernen Zustand theoretisch gefaßt hat. Daß die „besonderen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft" als solche betrachtet werden, die „außer dem an und f ü r sich seienden Allgemeinen des Staates liegen", ist „[ejinfache Beschreibung des empirischen Zustandes in einigen Ländern" 2 5 . Da Hegel außerdem die polizeiliche und richterliche Gewalt schon der Gesellschaft vindiziert habe26 — eine mißverstehende Deutung, insofern Hegel beide noch einmal als ,Gewalten' der Regierungsgewalt einordnet —, so bleibt nach Marx f ü r Hegels Theorie der Regierungsgewalt nur die Verwaltung oder Administration übrig und also — wenn diese von der Gesellschaft her, als Apparat, verstanden wird — die Bürokratie. Diese ist — hierin sieht Marx wieder einen Hegeischen Verstoß — den Korporationen (als schon am meisten emporgebildeten Einheiten der Gesellschaft) zugeordnet, was Hegel vornehmlich als Begriffsverwandtschaft verstanden wissen will, aber nun, als konkretes Verhältnis betrachtet, zu wechselseitiger Voraussetzung und zu einem Zusammenspiel beider führt. Die Bürokratie wäre die bürgerliche Gesellschaft (d. h. das Moment der Besonderheit) des Staates, oder die „Korporation des Staates", und als solche nicht nur den 23 24 25
MW I, 310. MW I, 309; 314. MW I, 309.
»MW I, 313. Vgl. Rechtsphilosophie § 287.
Marx zu Hegels Staatsphilosophie
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Korporationen als höchst emporgebildeten Gesellschaftseinheiten verwandt, sondern audi wiederum mit ihnen verschränkt: die Bürokratie wäre der „Spiritualismus" der Korporationen, die ihrerseits der „Materialismus" der Bürokratie sind 27 . Wir sehen wieder den Konflikt der verlangten Entwicklung ,νοη unten* und der ,νοη oben' bei Hegel, welche beiden Entwicklungen hier zu der prekären Zuordnung von Korporationen und Bürokratie führen. Ihrerseits selbst „Materialismus" gegenüber der Einheit des Staates, hat die Bürokratie in der Autorität das Prinzip, das sie vergöttert, ist sie selbst als „Spiritualismus" ein Insistieren auf Gehorsam, ein Mechanismus des formellen Handelns. Als „Spiritualismus", als Moment des Staates gegenüber der Gesellschaft, will sie „Alles machen"; „der Bürokrat hat in der Welt ein bloßes Objekt seiner Behandlung" 2 8 . Das Staatsinteresse wird zu einem besonderen Privatzweck, ist die Regierungsgewalt oder Bürokratie doch gesetzt als die Identität beider. U n d so ist es nicht verwunderlich, daß die Legislative geradezu überflüssig wird, nur zur Beratung der Verwaltungs- und Vollzugsbeamten dient, indem sie ihnen einige konkrete Informationen gibt. In seiner weiteren, zum Teil geradezu amüsanten Diskussion der Hegeischen Beamtenphilosophie 2 ® zeigt Marx, daß, nachdem Hegel einen Gegensatz zur Gesellschaft konstruiert hat, kein Schutz der Gesellschaft vor ihrem Staat und ihren Beamten mehr besteht, läßt Hegel dodh die Beamten durch ihre eigne Hierarchie kontrolliert sein.
Die
Legislative
Ähnlich gerichtet sind Marxens Gedanken zu Hegels Theorie der Legislative30. Wir verstehen schon, daß Hegel hier das experimentum crucis zu leisten hätte, wie Willensbestimmung des Staates ,νοη unten' möglich und mit Begriffsbestimmung ,νοη oben' vereinbar wäre. Nach Hegels Auffassung vom Volk als ohne organische Verfassung „formlose Masse" ist eine Bestimmung ,νοη unten' entsprechend formlos — sie würde ungeistig, quantitativ statt organisch-qualitativ sein —, weshalb er die allgemeine und gleiche Wahl ablehnt. Marx, um immanente Kritik am Detail bemüht, nimmt zunächst einen speziellen Punkt auf, nämlich den Konflikt zwischen der ganzen Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt als Moment der Verfassung, also zwischen der Legislative als „Gewalt, das Allgemeine zu organisieren" und der Legis" MW I, 314. ϊ β MW I, 317. ä» MW I, 323. Vgl. Rechtsphilosophie §§ 291—97. *> MW I, 326 ff.
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Die Kritik der Philosophie
lative als „verfassungsmäßige Gewalt", als Gewalt „innerhalb der Verfassung". Für ihn stellt sich Hegels diesbezügliche Lehre dar als der Versuch, die verfassungsändernde Befugnis der Legislative wegzueskamotieren — die Verfassung sei schon vorausgesetzt und erhalte nur eine weitere Entwicklung 81 ; die Idee einer allmählichen Veränderung helfe aber nicht: es komme vielmehr zu einer neuen Antinomie von faktischem Tun und legalem Tun der Legislative; ihr Tun ist widersprüchlich32. Marx kritisiert entsprechend die Abwertung der Legislative als eines bloßen Formulierungsorgans für Gesetze und die Entleerung ihrer Befugnisse 93 . Bedeutsam sind nun besonders Marxens Ausführungen über das Verhältnis von Legislative und Regierungsgewalt 34 , die gleitend übergehen in eine Kritik am Hegeischen Verhältnis von Legislative und Volk. Hegel behauptet hierzu eine Affinität der Legislative zum ständischen Element 8 5 , schon damit die formlose Masse, die sonst in der Legislative nur reproduziert wäre, schon relativ geformt sei. E r denkt also nach dem Gesichtspunkt der Organizität. Hierbei trifft es sich, daß die Stände, die ,unten' bei der Gesellschaft entwickelt, oder doch behandelt worden sind, nunmehr ,νοη oben' aufgegriffen werden, als ob sie sich von unten nach oben kontinuierten; sie sind eigentlich aber ein gesellschaftliches, kein staatspolitisches Element. Man kann kategorial nicht sagen, daß die für den Staat erforderlichen Gremien existenzial mit Gebilden zusammenfallen, die auf einer anderen kategorialen Ebene, der der Gesellschaft, ihren Platz haben. Gerade die Trennung in verschiedene Ebenen des Begriffs macht eine solche Bindung unmöglich. Begriffsverwandschaft im Sinne relativer Allgemeinheit ist nicht existenziale Bindung, so sehr Hegel für die Stände auf die Sprache hinweist, die die „Vereinigung" von Ständen der bürgerlichen Gesellschaft mit Ständen in politischer Bedeutung erhalten habe. Bei einer solchen Bindung ergibt sich statt einer Anstelligkeit der relativ Allgemeinen für das eigentlich Allgemeine eine Partikularisierung des Allgemeinen durch die relativ allgemeinen Interessen Vertreter. Hegel verstößt nach Marx gegen seine eigne Theorie, wenn er auf diese Stände zurückgreift und ihnen jetzt eine politische Bedeutung gibt (ein — diesmal auch von Marx gesehener — systemtheoretischer Fehler, der in anderem Zusammenhang schon begegnet ist) 36 . Die Grundbesitzer, eigentümlich in eins gesehen mit den Bauern, stehen für das Allgemeine, Sub» MW I, 327. Vgl. Rechtsphilosophie
§ 298.
» MW I, 327 ff.
» M W I, 331. Vgl. Rechtsphilosophie M
MW I, 332 ff.
35
Rechtsphilosophie
§ 311.
§ 301; vgl. § 201.
» M W I, 339; 348—52. — Zu Hegels Verständnis ökonomischer „Stände" vgl. A. Smiths „orders of people", die den drei Preiskomponenten Grundrente, Lohn und Kapitalgewinn entsprechen. The Wealth of Nations (New York, Modern Library, o. J. [1937 und später]) 248.
Marx zu Hegels Staatsphilosophie
109
stanzielle; der bewegliche Teil, die volatilen Gewerbetreibenden, für das Freie und Verständige. Von den letzteren sind aber nidit alle zuzulassen, vielmehr ist bei ihnen Delegation, Repräsentation mit Vorauswahl durch den Stand erforderlich 87 .
Die Stände In einer Analyse der dialektischen Momente von Allgemeinem und Besonderem, von Mitte und Extrem, diskutiert Marx die Schwierigkeiten der Hegeischen Konzeption der ständischen Verfassung, wobei die Stände Ausdruck sind f ü r eine Trennung im Staat, die sie gleichzeitig überbrücken sollen als Identität von Gesellschaft und Staat. Die Verquickung von Begriffsverwandtschaft (gemäß der jeweiligen Stufe der Organizität) mit Vermittlungen im konkreten Zusammenspiel der Gewalten erweist sich für Marx als dankbares Feld der Kritik 38 . War schon die Analyse von Bürokratie und Korporationen zu soldier Kritik geeignet, so handelt es sich jetzt um ein richtiges Karussell von konkreten Vermittlungen, wie sie der Theorie der Gewalten als unter sich begrifflich vermittelten entsprechen. Marxens Kritik läuft wesentlich wieder darauf hinaus, daß der Hegeische Staatsbegriff den politischen Staat in eine Antinomie zur bürgerlichen Gesellschaft bringt, also einen „Widerspruch des abstrakten politischen Staates mit sich selbst" aufstellt. Der Hauptfehler für Marx ist, daß Hegel „den Widerspruch der Erscheinung" (den abstrakten politischen Staat, wie er geschichtlich defizient vorkommt) „als Einheit im Wesen, in der Idee faßt" s e . Der Widerspruch der Legislative bei Hegel ist so die Kehrseite des Widerspruchs des politischen Staates. Schon an früherer Stelle hieß es, noch grundsätzlicher: „In den modernen Staaten, wie in Hegels Rechtsphilosophie, ist die bewußte, die wahre Wirklichkeit der allgemeinen Angelegenheit nur formell, oder nur das Formelle ist wirkliche allgemeine Angelegenheit... Statt daß Hegel zeigte, wie die ,allgemeine Angelegenheit' für sich .subjektiv, daher wirklich als solche existiere', daß sie audi die Form der allgemeinen Angelegenheit hat, zeigt er nur, daß die Formlosigkeit ihre Subjektivität ist, und eine Form ohne Inhalt muß formlos sein" 40 . Die Kritik besagt also, daß mit dem Hegelsdien Staatsbegriff die Legislative, der Existenzgrund des Staates, der besonderer und allgemeiner ist, nur politisch formlos (als Privatstand) und damit als Extrem für die Form als anderes Extrem gedacht wird, und so eine Theorie der Repräsentativverfassung, und erst recht einer eigentlichen Demokratie, unmöglich wird. Hegel setzt eine Trennung, die 57 38 39 M MW I, 604. 105 MW I, 607. 1M MW I, 583. 147 MW I, 594.
186
Die Kritik der Wirklichkeit im Obergang zur Theorie
tiven Aufhebung des Kapitalismus verstanden wird und nicht ärmer sein soll als dessen entwickeltes Stadium, und also auch dialektische Progression gemeint ist. Aber die positive Aufhebung ist audi wieder wesentlich realistisch-positiv gesehen als ein Übernehmen des kapitalistischen Fundus. Es handelt sich also um einen positiven Weg der Verwirklichung des Mensdien, der dialektisiert, aber auch empirisch, realistisch, kausal zu denken ist. Uns geht es im gegenwärtigen Zusammenhang nur um den theoretischen Aspekt. Die mit der positiven Geschichtstheorie verbundenen inhaltlichen Behauptungen wie auch eine weitere Prüfung ihrer Dignität schlagen wir zur Analyse der Deutschen Ideologie. Aber, wie gesagt, schon die Pariser Manuskripte weisen verschiedentlich auf die dort geltend gemachten Gedanken zur positiven Geschichtsentwicklung voraus. (Wir denken besonders an das Zweite und Dritte Manuskript.)
Die doppelte Charakteristik
der Theorie
I n den Pariser Manuskripten kommen als Theorien für denselben Prozeß zusammen eine negative Theorie der ökonomischen Entfremdung und eine positive Theorie — oder doch Betrachtungsweise — der Geschichte. Diese doppelte Charakteristik entspricht dem Hiatus zwischen letztem anthropologischem Grund und negativem Grund; soweit es sich um nur eine Theorie, wenn auch mit doppelter Charakteristik handeln soll, erscheint dieser Hiatus überbrückt durch ein positives, kausales Verständnis von Geschichte im Übergang zur Entfremdung 108 . Die Differenz der beiden Theorien wird in den Pariser Manuskripten bei näherer Analyse zwar sichtbar, aber insofern sie beide demselben Prozeß gelten, ist auch verständlich, daß sie beide f ü r Marx in eins verschwimmen. Dieser Punkt ist für eine kritische Beurteilung der Marxschen Theorie — hier in den Pariser Manuskripten wie auch später — von höchster Bedeutung. In ihm liegen die Zweideutigkeit von positivem und negativem Weg, das eben genannte Problem des Naturwüchsigen, das Problem, ob der Geschiditsprozeß durch subjektive Aktion oder deterministisch vorankomme usw. (Aber davon später). Die Theorie ist ein Zusammenspiel von zwei Perspektiven oder Theorien, wenn die positive Betrachtungsweise als Theorie gelten kann. Wir besitzen bei Marx vorbehaltlich der Deutschen Ideologie, für die entscheidenden Fragen — etwa, ob Ent108
Marxens Stellung zu diesem Übergang, von dem schon mehrfach die Rede war, scheint in den Pariser Manuskripten nodi nicht näher bestimmt. Der Begriff „naturwüchsig" ist noch nidit von Bedeutung; er kommt, in scheinbar fernliegendem Zusammenhang, vor MW I, 508. Er wird die typische Doppelstellung haben, positive und negative Theorie zu überbrücken und einen Übergang von Positivem zu Negativem herzustellen. Schon in unserem jetzigen Zusammenhang sehen wir seinen theoretischen Ort.
Kritik als Theorie
187
fremdung geschichtlich unvermeidlich ist und war, ob Eigentum abgeschafft •werden muß, ob es Klassenkampf geben muß oder nicht vielmehr Reflexion der Sozialpartner und Institutionen — nicht aus einer Theorie die Antwort. Sondern wir haben Kritik (als negative transzendentale Theorie mit anthropologischer Basis) und Geschichtsauffassung, also doch eine Art Geschichtsphilosophie (als realistische Betrachtung des Fortschreitens aus anthropologisch gefaßten Anfängen). Nicht aus den anthropologischen Anfängen geht aber die Theorie der Entfremdung und ihrer Überwindung hervor. Ob die Geschichte so verlaufen muß, wie Marx sagt, ist schon angesichts dieses Hiatus nicht zu zeigen, denn die regressive Theorie verbindet uns ja zu der wesenslogischen Theorie, die philosophisch kritisierbar ist. Hinzu tritt aber die vorstellende Geschichtsauffassung, die die Entwicklung homogen und linear denkt. Und in einem quid pro quo meint man, der Geschichtsauffassung wachse die prätendierte Notwendigkeit der regressiven Theorie zu.
Die Rationalität
der "Theorie
Fassen wir das Gesagte noch einmal mit einer anderen Pointierung zusammen. Die Marxsche Theorie ist Erklärung von Negativem durch Negatives. Dadurch ist ihr Erklärungsgrund einmal diskontinuierlich zu dem anthropologischen Grund, und zum andern ist ihre Erklärung selbst eine entfremdete. Sie erklärt Entfremdetes mit Begriffen für Entfremdung. Allerdings hat sie dazu dennoch Vernunft, Rationalität, nötig. Ihre Erklärung ist denn auch nicht deshalb, weil sie im negativen Bereich spielt, irrational. Aber die Quelle ihrer Rationalisierung bleibt verborgen, liegt sie doch nicht in einem ,guten' Grund — etwa dem gutartigen, anthropologisch gefaßten verstehenden Menschen — oder in einer Hegeischen Vernunft, die Grund und Resultat ist. Dies ist eine Folge des Gedankens der Kritik im Marxschen Sinne. Andernfalls, wenn die Quelle der Rationalität selbst Grund der Theorie wäre, ergäbe sich Philosophie. Im Fall eines anthropologischen Grundes haben wir etwa das Beispiel der Critique de la raison dialectique Sartres, wo alle weiteren Entfremdungsstadien — als systematische, nicht geschichtliche, Stadien, als Sozialgebilde — aus dem Grund begriffen werden, oder, was dasselbe heißen soll, für eine Einzelpraxis verständlich sind. Im Fall eines Vernunftgrundes haben wir die Hegeische Theorie in der Rechtsphilosophie. Beides sind, wenn auch sehr verschiedene, ,positive' Theorien und nicht Kritiken in Marxens Sinn (obwohl Sartres Werk auch diesen Namen trägt) 109 . Der Fall der Hegeischen Geschichtsphilosophie ist oben schon behandelt worden; er 109
Vgl. oben 81.
188
Die Kritik der Wirklichkeit im Obergang zur Theorie
wäre eine .positive' Geschichtsdeutung aus einem ,guten' Grund, der Vernunft, um den Preis, Geschichte als fertig denken zu müssen. Wir verstehen, daß Marxens Konzeption der Kritik, wenn z» "Theorie verwandelt, diesen Charakter der regressiven und negativen Theorie bekommen muß, die Rationalität besitzt, daß der Grund ihrer Rationalität aber verborgen bleibt. Hegels Logik ist also zwar in Anspruch genommen, aber eben nur in Anspruch genommen. Sie ist die anscheinend passende Konzeption für die Theorie des Falschen und gerade als solche verbindlich. Die Rationalität für das Falsche, die Wesenslogik, erweist sidi aber als Rationalität nicht schon als das Richtige, oder erweist nicht schon das Richtige. Wir haben in unserer Analyse der Wesenslogik gesehen, daß sie unter Einbeziehung der simultanen sozialen Pluralität nicht anerkannt werden kann. Man kann allerdings noch darüber verschiedener Meinung sein, ob Entfremdungsformen der Art, wie Marx sie behandelt — Proletariat und Kapital — zumindest als Durchgangsstadien sein müssen, wie auch Sartre meint, oder ob es nur Möglichkeiten und gegebenenfalls Fakten sind. Marx denkt, wie wir wissen, daß nur die kapitalistische Produktion den Reichtum produziert — ursprünglich akkumuliert —, der dann als Erbe dem Kommunismus zufallen kann und dessen Reichtum möglich macht. Somit ist dem Kapitalismus ein geschichtlicher Sinn gegeben, und zwar auf realistische, positive Weise. Aber es folgt nicht als Konsequenz die Überwindung der Entfremdungsverhältnisse im Sinne einer Überwindung der ökonomischen Verhältnisse. Stattdessen bietet sich eine Reflexion im sozialen Bereich an. Man kann den Einwand machen, daß die Wesenslogik dodi begrifflich Durdigangsstadium sei, auch bei Hegel, und also darin eine Autorität auch für Marxens Vorgehen sehen. Aber das ist ja gerade das Problem: daß Marx abstrakte Kategorien zur Deutung von etwas Sozialem, anthropologisch Pluralem verwendet und daraus geschichtliche Schlüsse zieht. Kategorial wäre ja in einer bestimmten Negation, einer positiven Aufhebung, weiterzuschreiten zum begriffslogischen konkreten Allgemeinen. Warum die soziale Sphäre bei der Wesenslogik arretieren, um dann den Ausbrudi, den Rückschritt in die seinslogische Assoziation, die auch Fürsichsein, Totalität, sein soll, tun zu können? Die Adaptation Hegels ist also prekär, dient sie doch nicht einer Übernahme des Vernunftstandpunkts. Wir verstehen, daß die Marxsdie Theorie als geschichtliche gilt, ist sie dodi angeknüpft an ein zeitgenössisches Faktum und versucht sie doch durch Kritik dieses Faktums über es hinauszukommen zur Aufhebung der Entfremdung. Die systematische Theorie scheint ihre Lösung in einem realen Prozeß zu haben. Es ergibt sidi neben der Theorie als Erklärung des Negativen, der Linie der Kritik, eine andere Linie des Verständnisses, von einem positiven anthropologischen Grund über naturwüchsige Entwicklungen zur Selbstwerdung des Menschen. Diese andere Linie bezeichnet eine realistische,
Ausblick
189
positive Theorie der Geschichte, die aber eben nicht eigentliche Theorie, sondern Veranschaulichung, Vorstellung (im Hegelsdien Sinne), ist und nicht dazu dienen kann, Entfremdung und ihre Aufhebung theoretisch zu verstehen. Sie bedeutet, daß das Wesen Kapital, einmal entstanden, fixiert und arretiert erscheint, als solches weiterprozessieren muß, und weiter, daß dies Wesen Kapital die Wirklichkeit und den Reichtum schafft, der im positiven Sinn Bedingung für den neuen Menschen sein soll. Wir verstehen schließlich, daß sich die beiden Linien des Verständnisses kontaminieren, in einem quid pro quo für einander eintreten, um zusammen als geschichtliche Theorie zu erscheinen. Von diesem Zusammenspiel wird im Zusammenhang mit der Deutschen Ideologie noch ausführlich die Rede sein müssen. Vorerst gilt uns als eine Konsequenz der geschichtlich gemeinten Theorie, daß Marx die Stadien der Emanzipation und des Kommunismus nicht theoretisch explizit denken kann. Rationalität kommt nur der Kritik oder der negativen Theorie zu, während das Positive vorgestellt werden muß oder, theoretisch gesprochen, seinslogisch gedacht werden muß, also nicht artikuliert werden kann. Um den Abschluß der Theorie explizit zu denken, bedürfte es einer affirmativen Rationalität, eines .guten' Grundes und eines affirmativen Zieles, das audi Höhepunkt der Rationalität und Explizitheit wäre — systemtheoretische Sachlagen, die bei der Hegeischen Philosophie, was sonst immer ihre Mängel sein mögen, erfüllt sind.
Ausblick Uberschauen wir zunächst noch einmal kurz die Pariser Manuskripte im Ganzen. Sie sind ein großer Schritt über die Dissertation und die verschiedenen frühen Kritik-Schriften hinaus in Richtung auf Theorie. In ihnen ist ein bestimmterer Ausdruck gewonnen für das, was an der zeitgenössischen Wirklichkeit den Forderungen der Philosophie nicht entspricht. Die Entfremdung ist begriffen als wesentlich bedingt durch die ökonomischen Verhältnisse, die das Verhältnis des Menschen zur Natur in der Arbeit und zu seinesgleichen in der Gesellschaft bestimmen. Näher: durch einen Grund, ein Prinzip dieser Verhältnisse, das Privateigentum in zirkelhafter Bedingtheit durch die entfremdete Arbeit. Es soll die ökonomische Entfremdung erklären. Diese im Prinzip systematische Erklärung soll aber auch dem Begreifen der Ökonomie als geschichtlicher Prozeß dienen. Angesichts ihrer noch stark anthropologisch-philosophischen Orientierung fehlt den Pariser Manuskripten gegenüber den späteren Schriften manches ökonomische Detail; zum Teil ist solches Detail zwar vorhanden, aber bleibt ohne rechte Verbindung mit der Theorie. Schon die Disparatheit der einzelnen Manuskripte — über die Grundrente, über Hegels Phänomenolo-
190
Die Kritik der Wirklichkeit im Übergang zur Theorie
gie usw. — zeigt das. Manches später zentrale Thema — so etwa die Ware oder das Geld — ist nodi mit einer gewissen Naivität oder, anders gesagt, in existentieller Sidit behandelt: so ist beim Geld der Hauptakzent, daß es den Menschen korrumpiert, ihm Kräfte leiht, die ihm nicht zukommen 110 . Die Ökonomie ist eigentlich noch nicht in ihrer Konkretion und als System begriffen; es bleibt bei einer Erklärung der Entfremdungscharakteristik der Ökonomie durch das Privateigentum in eins mit entfremdeter Arbeit, und bei einer Einordnung einzelner negativer Erscheinungen der Ökonomie unter humanistischem, anthropologischem Gesichtspunkt. Dagegen wäre zu fragen: wieso ist Geld ein notwendiges Moment der kapitalistischen Ökonomie und wieso kann diese gerade dadurch entfremdend sein? Oder, ist die Habsucht des Kapitals ökonomisch erklären? Muß das alles so sein auf Grund eines erklärenden Prinzips? Der Anspruch, die konkrete Ökonomie von einem theoretischen Ansatz aus systematisch erklären zu können, ist in den Pariser Manuskripten durchaus, entgegen allem bloßen Humanismus, vorhanden, wenn Marx, wie oben schon zitiert, meint, daß wir „den wesentlichen Zusammenhang", nämlidi „zwischen dem Privateigentum, der Habsucht, der Trennung von Arbeit, Kapital und Grundeigentum, von Austausch und Konkurrenz, von Wert und Entwertung der Menschen, von Monopol und Konkurrenz etc." oder den Zusammenhang „dieser ganzen Entfremdung mit dem Geldsystem zu begreifen" haben. Aber dieser Anspruch ist noch nicht eingelöst. Weiter zeigt sich in den Manuskripten der Versuch, die ökonomische Entfremdung geschichtlich nach Hegeischen Stadien des Begriffs des Wesens, also ökonomisch, geschichtlich und doch wesentlich philosophisch, zu deuten, und zwar als Variation und weitere Negativierung des Privateigentums, aufruhend auf einem grundsätzlichen, positiven Verhältnis von Mensch zu Mensch und Mensch und Natur. Die Negativierung, die geschichtlich gemeinte Dialektik, ist ein objektiver Prozeß, der durch den Wesensbegriff artikuliert werden kann: der Kapitalismus erscheint als logischer Schritt, mit dem die Arbeit, ein Subjektives, Grundlage der Ökonomie wird, aber gerade zum Subjekt auf der ,anderen' Seite, zum freigelassenen Kapital führt. Der Gegensatz im »objektiven' Wesen Kapital enthält logisch in sich die Anweisung auf eine Uberwindung dieses entfremdenden Verhältnisses. Die dialektische Kennzeichnung bleibt jedoch höchst abstrakt, und ebenso bleibt das Zusammenspiel von Dialektik und geschehener und geschehender Geschichte ungeklärt. Schließlich ist Marxens Vorstellung von der Überwindung des entfremdenden Verhältnisses — die Emanzipation der Arbeiter — noch summarisch, 110
Man vergleiche etwa die Bezugnahme auf Shakespeare, um sich einer Autorität für den korrumpierenden Einfluß des Geldes auf den Menschen zu versichern. Vgl. kritisch dazu H. B. Acton, The Illusion of an Epoch (London 1955) 230—32.
Ausblick
191
und ebenso bleibt die positive Abschlußvorstellung abstrakt. Sie muß es wegen der anthropologischen Reduktion, der Konzeption vom Mensdien als Gattungswesen, der seinslogisdien Fassung der Gesellschaft anstelle einer Fassung vom konkreten Allgemeinen her. Die Sozialkonzeption des Kommunismus bleibt strukturlos und damit letztlich inhaltslos. Bei aller Abstraktion ist jedoch das Novum der Kritik als Theorie nicht zu übersehen: die geltend gemachten negativen Stadien der ökonomischen und dabei dialektisch faßbaren Entwicklung sind einerseits systematisch gedacht als prinzipielle Abfolge, erklärt aus einem Prinzip, anderseits konkret geschichtlich gedeutet, auf die zeitgenössische Situation wie auf deren Vorstadien bezogen. Damit ist der Zusammenhang der Idee einer Erklärung der Ökonomie mit der Idee einer Kritik, oder mit der Forderung nach geschichtlicher Verwirklichung der Emanzipation und der kommunistischen Anthropologie, hergestellt, ist Kritik zur Theorie umgestaltet. Allerdings bewegt sich die Theorie auf der Ebene der Abstraktion und läßt auch noch als abstrakte Theorie in entscheidenden Punkten Stringenz vermissen. (Wir denken etwa an die mangelhafte Erklärung der Entfremdung aus einem Grund, an das Problem der Linearität, an die Wesenslogik als Präjudiz für die Deutung des Kapitals usw.) Wir sehen nodi nicht, wie sich die Mängel der Theorie in den Pariser Manuskripten im Rahmen des Marxschen Denkens beheben lassen, aber wir sehen Richtungen, in denen sie angegangen werden können. Wir erwarten als Weiterentwicklung der Theorie zweierlei: einmal eine nähere Hinwendung zur Geschichte und ihrer Gesetzlichkeit und dann einen Theoriefortschritt in systematischer Hinsicht. Eine Hinwendung zur Geschichte könnte die Theorie entlasten von den Schwierigkeiten der Erklärung, wie sie die systematische Absicht mit sich bringt; sie wäre gleichsam eine Verselbständigung eines Moment der Theorie, des positiven, in konkreter Fassung. Dies wird in der Deutschen Ideologie sichtbar werden. Zum anderen erwarten wir eine nähere Ausgestaltung der Theorie als verstehender, erklärender oder begründender Theorie in transzendentaler Immanenz — dies wird die Aufgabe der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie und weiter der Grundrisse und vor allem des Kapitals sein —. Wir können vorerst offen lassen, inwieweit bei einer solchen entgegengesetzten Verselbständigung eines Theoriemoments, dem der Erklärung des Negativen, beide Tendenzen, besonders im letzten, definitiven Werk, auch wieder zusammenkommen. Deutlich ist jedoch, daß die Theorie explizite transzendentale Theorie werden muß, wenn die Mängel der Theorie in den Pariser Manuskripten behoben werden sollen. Nur als explizite erklärende Theorie kann die Kritik hoffen, Stringenz zu bekommen. Man kann nun sagen, was für die Theorie erst noch zu erwarten steht, sei in den Pariser Manuskripten im wesentlichen doch schon vorhanden; der Übergang zu den späteren Schriften sei nur ein gradueller, der Fortschritt
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Die Kritik der Wirklichkeit im Ubergang zur Theorie
lediglich einer der größeren Explizitheit und möglicherweise der größeren Stringenz in der Begründung. Aber eben dies wäre theoretisch relevant: innerhalb einer Kontinuität von frühen, mittleren und späten Schriften ergäbe sich aus Ansätzen strenge Theorie. So gesehen ist es überraschend, wie sehr sich die Pariser Manuskripte an das Kapital annähern lassen. Diese Nähe zeigt sidi jedoch nur, wenn man den Theoriefortschritt nicht als Übergang vom Humanismus zur Wissenschaftlichkeit sieht, wie Althusser, sondern ihn systemtheoretisch als Übergang von inexpliziter zu expliziter Theorie versteht. Gleichzeitig sehen wir, wie komplex das Programm einer Kritik der Wirklichkeit geworden ist, wenn sie explizite Theorie sein soll, und wie doch noch eine Welt die Pariser Manuskripte von den späteren Werken trennt. Uns dienen die herausgestellten Probleme — die Armut der Anthropologie, die Diskontinuität von Anthropologie und Ökonomie, die Bedenken gegen die Linearität und gegen die Wesenslogik, der Reduktionalismus, das Verhältnis von Kritik und Philosophie und von Kritik und geschichtlicher Theorie — gleichsam als den Blick schärfende Optik für das Studium der weiteren Marxschen Positionen. Wir müssen sehen, inwieweit Marx die behandelten Probleme in der Deutschen Ideologie und in der ausgeführten Theorie der ökonomischen Kritikschriften löst und inwieweit seine Behandlung der Probleme nicht den Einwänden unterliegt, die wir auf Grund der Pariser Manuskripte vorgebracht haben. Zunächst muß unser Interesse einer hinter der transzendentalen Theorieentwicklung noch zurückbleibenden Fragestellung gelten, der näheren Zuwendung zur Geschichte, wie sie sich in der Deutschen Ideologie findet. Diese Zuwendung ist nicht eigentlich vom Methodenproblem her angebahnt, sondern ergibt sich aus einem zeitgenössischen Anlaß, der mit dem Problemkreis ,Kritik der Wirklichkeit' und ,Kritik der Philosophie' zusammenhängt. Die Zuwendung zur Geschichte wird letztlich in das hier angeschnittene Methodenproblem einzustellen sein, aber vorerst treten wir in eine andere Landschaft ein.
V. Die Wendung zur materialistischen Theorie Die Kritik der Wirklichkeit hatte sich Marx als das entscheidende Erfordernis ergeben, und die Pariser Manuskripte stellen eine erste Durchführung einer solchen Kritik in Form von Theorie dar. Die Kritik der Wirklichkeit beinhaltet, wie wir gesehen haben, auch eine Kritik der Philosophie. Zwar läßt der Gedanke der Kritik ein gesondertes Unternehmen der Philosophiekritik als parallel und korrelativ zur Wirklichkeitskritik zu, ja im Falle Deutschlands könnte Philosophiekritik Wirklichkeitskritik sein —, andrerseits aber ist Philosophiekritik überflüssig, da nicht-praktisch. Marx sieht sich nun zur selben Zeit, in der er die Idee der einen Kritik, der Kritik der Wirklichkeit entwickelt, einer zeitgenössischen Bemühung gegenüber, die Kritik der Philosophie ist, damit auch Kritik an den bestehenden, der Philosophie korrespondierenden Verhältnissen, aber von der Philosophie ausgeht, selbst nodi Philosophie ist und nicht den Marxschen Ansatz der Kritik innehat. Es liegt der Fall vor, den Marx, noch ohne die Differenzierung von Philosophie und philosophischer Philosophiekritik, in der Einleitung zur Kritik der HegelsSen Rechtsphilosophie gegeißelt hatte, nämlich daß bei einem Volk wie dem deutschen Philosophie die Wirklichkeit ausmache, den er nun aber auf einer höheren Reflexionsstufe, mit der genannten Differenzierung, wieder aufgreift und an dem er seine Kritik weiterentwickelt. Die gemeinte Philosophie ist von Hegel her bestimmt, will aber über Hegel hinaus sein, will Kritik an Hegel sein. In Marxens eigner Darstellung: „Die deutsche Kritik hat bis auf ihre neuesten Efforts den Boden der Philosophie nicht verlassen. Weit davon entfernt, ihre allgemein-philosophischen Voraussetzungen zu untersuchen, sind ihre sämtlichen Fragen sogar auf dem Boden eines bestimmten philosophischen Systems, des Hegeischen, gewachsen . . . Die Althegelianer hatten Alles begriffen, sobald es auf eine Hegeische logische Kategorie zurückgeführt war. Die Junghegelianer kritisierten Alles, indem sie ihm religiöse Vorstellungen unterschoben oder es für theologisch erklärten. Die Junghegelianer stimmen mit den Althegelianern überein in dem Glauben an die Herrschaft der Religion, der Begriffe, des Allgemeinen in der bestehenden Welt. Nur bekämpfen die Einen die Herrschaft als Usurpation, welche die Andern als legitim feiern. — Da bei diesen Junghegelianern die Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, überhaupt die Produkte des von ihnen verselbständigten Bewußtseins für die eigentlichen Fesseln der Menschen gelten, gerade wie sie bei den Althegelianern für die wahren Bande der menschlichen Gesellschaft erklärt werden, so versteht es sich, daß die Junghegelianer auch nur gegen diese Illusionen des Bewußtseins zu kämpfen
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Die Wendung zur materialistischen Theorie
haben. Da nach ihrer Phantasie die Verhältnisse der Menschen, ihr ganzes Tun und Treiben, ihre Fesseln und Schranken Produkte ihres Bewußtseins sind, so stellen die Junghegelianer konsequenterweise das moralische Postulat an sie, ihr gegenwärtiges Bewußtsein mit dem menschlichen, kritischen oder egoistisdien Bewußtsein zu vertauschen und dadurdi ihre Schranken zu beseitigen. Diese Forderungen, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d. h. es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen. Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich ,welterschütternden' Phrasen die größten Konservativen" 1 . Marx ironisiert diese Bemühung ausführlich in der Heiligen Familie und der Deutschen Ideologie. Für ihn ist die zeitgenössische Kritik, besonders bei Bruno Bauer, »die als Karikatur sich reproduzierende Spekulation" 2 . Entsprechendes gilt für die Gedanken von Max Stirner, Arnold Ruge und andere. Wir brauchen nicht näher auf Marxens gnadenlose Satire dem Inhalt nach einzugehen; es geht uns um ein theoretisches Verständnis, und da genügt es uns zunächst, daß diese kritisch sein wollende Kritik an der (Hegeischen) Philosophie wie an den bestehenden Verhältnissen, daß diese „kritische Kritik", wie Marx sie in der Heiligen Familie nennt, sich für Marx nodi innerhalb der Spekulation hält und damit als Kritik das Bestehende nur anders interpretiert. Von Marxens Standpunkt einer Kritik der Wirklichkeit aus ist also eine „Kritik der kritischen Kritik" (dies der Untertitel der Schrift Die Heilige Familie) die Antwort. Diese ist schon reflektiert gegenüber dem ursprünglichen Ansatz und gegenüber dem früher behandelten Verhältnis von Wirklichkeitskritik und Philosophiekritik. Es ist Philosophiekritik nicht mehr „parallel" zur Wirklichkeitskritik, sondern Philosophiekritik auf Grund der innegehabten Wirklichkeitskritik in einem nächsten Reflexionsschritt, ist Abwehr eines mißverstandenen Verhältnisses von Kritik der Philosophie und Kritik der Wirklichkeit. Gerade diejenigen, die meinen, nicht mehr in (Hegels) Philosophie verstrickt zu sein, sind es noch, und vom Standpunkt einer Kritik der Wirklichkeit läßt sich eine Kritik daran, eben eine Kritik der kritischen Kritik, geben. Jene Kritik hat das Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit noch nicht begriffen, so daß sie — in der Anwendung der Religionskritik Straußens und Feuerbachs auf Philosophie, Recht, Staat und Moral — selbst in Philosophie befangen bleibt. „Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eignen materiellen Umgebung zu fragen" 3 . 1
Die deutsche Ideologie, MEW 3, 18—20. Die Heilige Familie, MW I, 669. » MEW 3, 20. 1
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Ideologiekritik
E i n weiteres ist, wie sidi zeigt, mit Marxens Kritik der Wirklichkeit angebahnt: nicht nur steht die „kritische Kritik" nicht auf dem Reflexionsniveau, auf dem Marxens Philosophiekritik sidi hält, so daß man ihr nur nadizuweisen braucht, daß sie nodi in Philosophie befangen sei — , vielmehr hat Marxens Kritik der Wirklichkeit ihrerseits, im Gegenzug zur Philosophie, eine Option für die Wirklichkeit getroffen in der Weise, daß Philosophie, kritische Kritik oder ein Sidi-Ideen-Madien auf solche Wirklichkeit zurückgeführt werden können. Die Kritik der Wirklichkeit, die ja bei M a r x zunehmend weniger Kritik und mehr anthropologisch-ökonomische Theorie ist, gelangt dazu, die Wirklichkeit als Unmittelbarkeit, als Basis, zu sehen für Geistiges, für Ideen, Theorien, Philosophie, also auch für „kritische Kritik". Diese können also von Marxens Standort aus erklärt oder, wenn man will, entlarvt werden. W i r haben zweierlei zu tun: einmal die Kritik der kritischen Kritik oder, allgemeiner, der Philosophiebefangenheit, näher zu charakterisieren, und dann, zum andern, die theoretisch in Anspruch genommene Grundlage, zu der diese Kritik führt und mit der sie, so motiviert, einhergeht, die Basis, zum Thema zu madien, die gleichsam als Reaktion auf Philosophie und als Abwehr gegen sie Profil gewinnt, aber auch zum Thema der Geschichte weiterführt, der eigentlichen Domäne der Doktrin des Materialismus.
1. Ideologiekritik Ist die Kritik der Philosophie vom Standpunkt der Wirklidikeitskritik zwar einerseits parallel, korrelativ, zu dieser und somit etwas Positives, der gemeinsamen Sache der Kritik Dienendes, andrerseits aber, als unbezogen auf Praxis, etwas Nachgeordnetes, ja Abzulehnendes, so gerät eine Kritik der Philosophie, die selbst Philosophie bleibt, also nicht in einem dialektischen Verhältnis zur Wirklichkeitskritik, zur Praxis, steht, auf einer neuen, reflektierteren Stufe unter das Feuer der Kritik. Die philosophische Philosophiekritik, die M a r x kritisiert, scheint, indem sie Kritik der Philosophie ist und doch Philosophie
geblieben ist, selbstgenügsam in sich zu kreisen; sie ist so
gleichsam die potenzierte, „gesetzte", Philosophie und also ein nun nicht mehr auch korrelativ zur Wirklichkeitskritik zu fassendes kritisches Phänomen, sondern ein dankbares Ziel der Kritik vom Marxsdien Standpunkt der Wirklidikeitskritik her. Andrerseits gilt, daß diese neuerliche Kritik, da sie ja nidit-praktisdi ist, für M a r x nebensächlich sein muß. Sie ist reductio ad absurdum der Philosophie, auf daß die Kritik der Wirklichkeit oder die anthropologisch-ökoiiomisdie Theorie Platz greifen kann. Die Sachlage, die hier von M a r x behandelt wird, führt ihn zu einer kritischen Begriifsbildung, zum Begriff der Ideologie.
Mit ihm ist nidit nur die
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philosophische Philosophiekritik gekennzeichnet; vielmehr wächst ihm ein allgemeinerer theoretischer Gehalt zu, unter den die Philosophiekritik zu subsumieren ist. Diesen gilt es zunächst zu verstehen.
Idee und Ideologie Da bei Marx der Gebrauch des Begriffs der Ideologie unmittelbar, ohne eine philosophische Reflexion auf seine Deutung, einsetzt, ist es angezeigt, kurz den Hintergrund und die logische Entfaltung des Begriffs zu verfolgen 4 . Ideologie ist historisch zunädist Ideenlehre, Ideenkunde, eine philosophische Bemühung, Ideen, Theorien usw. aufzuklären, also zu beziehen auf etwas, von dem aus sie verständlich werden. Wir erinnern zunächst an die Lockesche Ideenlehre, die anschauliche und begriffliche Gehalte auf konstitutionstheoretische Art aufklärt, sich also fragt, wie sich komplexe Ideen als Konstitute des Subjekts und als zusammengesetzt aus einfachen Ideen darstellen lassen. Daneben steht ein realistisches Verständnis der Idee als ausgelöst von einem Wirklichen, das in primären Qualitäten adäquat erscheint, in sekundären nur in irrationaler, subjektiver Umsetzung. Dieser realistische, von Locke (und auch schon von Galilei) ausgehende Gedanke wird historisch maßgebend. Ideen müssen aufgeklärt werden nach ihrem Ursprung und nach ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit. Ideenkunde oder Ideologie wäre (in ihrer zunächst französischen Prägung bei den idéologues) in einem nicht wirklich erklärenden Sinn Theorie, die Ideen einer als vorrangig angesetzten Grundlage zuordnet oder gar reduktionalistisch auf diese Basis zurückführen will, so daß solche Ideen im Grunde kein Recht hätten (so besonders bei den französischen Materialisten). Die aufklärende Deutung der Ideen erfolgt von einem übergeordneten Standort aus, der nicht der Bedingtheit der untersuchten Ideen unterliegt. ,Idee* ist in ihrer Rüdebeziehung auf eine Sache, eine Basis, selbst verstandesmäßig als Sache, als Phänomen, genommen; ihr Wahrheitsanspruch im Verhältnis zur Sache braucht nicht geleugnet zu werden, ist aber nicht als autonom faßbar. In einem schon entwickelteren Sinn findet sidi Ideologie, wenn auch nicht dem Namen nach, bei Feuerbach. Er ist Ideologe, insofern er die Idee der Religion als Projektion von einer anthropologischen Basis aus erklärt. Religion ist eine ideale Ergänzung des Menschen, der im Menschlichen keine Erfüllung findet, dessen Wirklichkeit also unvollkommen ist. Feuerbach entwickelt zur Erklärung einer solchen Ergänzung eine Wunschtheorie. So heißt 4
Wir verweisen hierzu auf H. Barth, Wahrheit und Ideologie (Zürich 1945), 73 bis 179, bes. 146—64, und auf H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland (Basel 1963) 15 ff. Vgl. auch J. Barion, Was ist Ideologie? (Bonn 1964) 25; 53; 63; 86; 92; 101 und M. Friedrich, Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx 165—71.
Ideologiekritik
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es im Wesen des Christentums: „Gort entspringt aus dem Gefühl eines Mangels; was der Mensch vermißt — sei dies nun ein bestimmtes, darum bewußtes oder unbewußtes Vermissen — das ist Gott"s. Oder es heißt: „ . . . das Jenseits ist nichts weiter als die Wirklichkeit einer bekannten Idee, die Befriedigung eines bewußten Verlangens, die Erfüllung eines Wunsches; es ist nur die Beseitigung der Schranken"e. In Gott »ergänzt sich der Mensch"7. Entsprechendes gilt auch für die Philosophie, besonders für die Hegeische, wird diese doch von Feuerbach in die Nähe der Theologie gerückt8. Derjenige, der sich solche Ideen madit, ist einer Illusion, einer Selbsttäuschung, verfallen; er urgiert seine Idee als wahr, während der Ideologe diesen Sachverhalt auf einer anderen Ebene der Wahrheit deutet, ja entlarvt. Das Ideengebilde ist nicht nur, als Phänomen, sondern madit einen falschen Wahrheitsanspruch. Das Durchschauen der Illusion der Religion ist für Feuerbach allerdings nicht gleichbedeutend mit einer Ablehnung von Religion; vielmehr sieht er, wie es ein schon oben gegebenes Zitat zeigt, die Anthropologie selbst als Religion. Das Menschliche soll dem Menschen die Erfüllung und Vollendung sein, ganz im Sinne einer erneuten Umkehrung derjenigen Umkehrung, die die Religion und die Hegeische Philosophie mit sich gebracht haben. Die Gattung soll, so paradox es klingt, das „unbeschränkte Wesen" sein: „Den Mangel des Begriffs der Gattung ergänzt er [der Mensch] durch den Begriff Gottes, als des Wesens, welches frei ist von den Schranken und Mängeln, die das Individuum, und, nach seiner Meinung, weil er das Individuum mit der Gattung identifiziert, die Gattung selbst drücken. Aber dieses von den Schranken der Individuen freie, unbeschränkte Wesen ist eben nichts Anderes als die Gattung, welche die Unendlichkeit des Wesens darin offenbart, daß sie sich in unbeschränkt vielen und verschiedenartigen Individuen verwirklicht"®. Ein weiteres: Feuerbach will eine „psychologisch-kritische Ergründung des Wesens der Religion" geben10 und hebt sich so ab von historischen Erklärungen im Stil von D. F. Strauß und B. Bauer. Anders gesagt: er sieht die Basis f ü r die Religion (und für die Philosophie) nidit als geschichtliche Basis, sondern als anthropologische, und dabei findet sidi keine Erklärung für die Negativität dieser Basis als Motiv für die Projektion des Besseren. Es gibt 5 SW VI, 90. « SW VI, 215. 7 SW VI, 236. 8 Für das Verhältnis von Hegelsdier Philosophie und Religion bzw. Theologie siehe etwa Feuerbach, Grundsätze Nr. 5, 7, 8, 13, 14, 18 („Die neuere Philosophie ist . . . Theologie"), 21, 23. SW II. Vgl. auch S. Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs Philosophie 103. » SW VI, 190. 10 So S. Rawidowicz, a.a.O. 100.
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„Schranken und Widerwärtigkeiten dieses Lebens", von denen die himmlischen Freuden befreit gedacht sind11, es gibt „wirkliche oder vermeintliche Mängel", von denen die Religion abstrahiert12; dies sind teils faktische, existenzielle, teils prinzipielle, existenziale Möglichkeiten im Wesen des Menschen oder der Menschheit. Insofern der Mensdi an Schranken und Übeln leidet, bildet er Religion (und Philosophie) aus. Es wird eine Wesensaussage gemacht, wenn es heißt: „Der Mensch bejaht in Gott, was er an sich seihst verneint"13, es ist dem Mensdien wesentlich, sich — und sei es im Jenseits — Ganzheit zu geben; unter welchen Umständen das geschieht, ist unwesentlich. Man könnte also zwar in Richtung auf Marxens Deutung pointierend sagen, die religiöse (philosophische) Selbsttäuschung sei in einem andern Sinn Wahrheit über' die anthropologischen Verhältnisse, insofern sie Übel enthalten, so daß Religion und Philosophie, gerade indem sie den Verhältnissen widersprechen, die Wahrheit über die Verhältnisse wären. Aber Feuerbach betont diesen Gedanken nicht, er denkt abstrakt an eine Ganzheit des Menschen und in zweiter Linie an mit dem Wesen des Menschen gesetzte Möglichkeiten von Mißständen. Zwar findet sich bei Feuerbach auch der Gedanke, daß die Religion, die Verlegung des menschlichen Wesens in Gott, das „kindliche Wesen der Menschheit", das „erste und zwar indirekte Selbstbewußtsein des Menschen" sei14. Feuerbach gibt also die Hegeische Deutung einer Entwicklung nach Unmittelbarkeit — Anschauung des Wesens im Anderen — und Reflexion, Rückkehr des Menschen zu sich gemäß der Anthropologie. Dieser geschichtliche Anklang ist aber eben nur ein Hegelisch allgemeiner und logischer; nicht sind die Mißstände und Schranken des Menschen geschichtlich Bezugspunkt und Gegenstand einer Theorie, so daß eine gezielte Veränderung der Zustände ein Verschwinden der Ideen, ja daß eine Gesetzlichkeit der Basis das Ziel herbeiführte. Die bloße Zuordnung von Basis und Idee durch die Wunschtheorie bleibt eine abstrakte Wesensaussage, solange nicht eine prozessuale Gesetzlichkeit beide verknüpft. Dieser Gedanke ist bei Feuerbach noch nicht vorhanden; erst Marx führt ihn ein. In einer ersten Form ist er uns schon in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie begegnet, wo die Philosophie mit der deutschen Geschichte verknüpft wird, wenn auch noch nicht als Funktion von Mißständen, die primär wären, sondern als von der Philosophie induziertes Fehlverhalten einer Gesellschaft. Es geht uns zunächst nicht so sehr darum, daß Marx durch ein neues Theorem — Ideen seien Funktion einer geschichtlich prozessierenden Basis — Feuerbach überholt, sondern darum, daß von hier aus Feuerbachs Lehre noch hinterdacht und neu verstanden werden kann, und zwar als Ideologie. 11 12 13 14
SW SW SW SW
VI, 220. VI, 33. Vgl. ebd. 223 f. VI 33. VI, 16. Vgl. ebd. 184; 326.
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Ausgehend von einem primären Begriff von Ideologie läßt sich das Auftreten dieses Begriffs in der Marxsdien Deutung Feuerbachs und der Junghegelianer zunächst formal als Iteration der Reflexion auf Ideen verstehen: auch Philosophiekritik und ihr positives Gegenstück, die paradigmatischanthropologische Lehre, kann in Beziehung gesetzt werden zu einer Basis, da sie Philosophie, ein Sich-Ideen-Machen ist. Eine Kritik an Feuerbach als primärem Ideologen oder Aufklärer von Ideen Anderer kann dessen eigne Lehre auf der Ebene von Ideen ideologisch erklären. Das Verhältnis von Ideenkritik zu Idee ist iterierbar; es kann einen Kritiker höherer Ordnung geben, insofern ja auch der Primärideologe sich Ideen macht — eben über das Sich-Ideen-Madien und seine Basis —, und die höhere Kritik seine auf Ideen Anderer negative gerichtete Ideologie als ideelles Gebilde, als Idee, positiv zum Thema machen kann. So sagt H. Lübbe: „Marx und Engels verkehren nun die [primäre] Funktion des Wortes .Ideologie', indem sie die junghegelianisdie I-deenforsdiung, etwa die Religionsphilosophie Feuerbadis . . . als ein ideelles Gebilde auffassen, sich also zur .Ideologie' Feuerbachs ihrerseits als .Ideologen' verhalten und dabei das, was sich im Verhältnis zu dieser Ideologie zweiter Potenz als bloße Idee verhält, seinerseits .Ideologie' nennen" a.a.O. 19. Dabei wächst dann dem Wort .Ideologie' das pejorative Moment zu, das die ,Idee' als Gegenstand der Kritik für die Ideenforschung oder Ideologie im primären Sinn bekommen hatte.
Es handelt sidi nun aber nicht nur um Iteration der ideologischen Reflexion. Oder diese hat erst Sinn, wenn eine Ideologiekritik, d. h. eine Kritik an der Ideenkritik, zu einer anderen Wirklichkeit als Bezugspunkt und Basis führt denn die primäre Ideenkritik und diese so relativieren und aus den Angeln heben kann. Feuerbadis Sdiritt zur Kritik der Philosophie ist in ihrem positiven Sinn Option für die Wirklichkeit, Anthropologie, Realismus, aber nicht notwendig Option für die volle Wirklichkeit; vielmehr kann sie sich für eine höhere Kritik als Option für eine begrenzte Wirklichkeit, für eine nur anthropologisch gefaßte Wirklichkeit, erweisen. Diese kann von der höheren Kritik als bedingt durch die volle, gesdiichtlidie Wirklichkeit aufgefaßt werden. So kann der Primärideologe selbst im Entlarven von Ideen bestimmt sein durch eine Basis, die sein Entlarven bestimmt und relativiert. Das ist gleichbedeutend mit der Einsicht, daß der Primärideologe — hier Feuerbach — von einer Idee bestimmt sei, eben der, die er von der Wirklichkeit hat, die aber ihrerseits bedingt ist durch die vollere Wirklichkeit. Er bliebe trotz allem Realismus ideenorientiert, nicht nur negativ in der Kritik der Ideen Anderer (Hegels oder der religiös Gläubigen), sondern positiv, indem er ein Ideengebilde, eine paradigmatische Anthropologie, liefert. So sagt Marx in der 6. These über Feuerbach: „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. — Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: —
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1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt — isoliert — menschliches Individuum vorauszusetzen. — 2. Das Wesen kann daher nur als ,Gattung', als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden" 15 . Die Entlarvung des Ideologen durch die Ideologiekritik geht nun eine Schraubendrehung weiter, nimmt der Reflexionsstufe und der ihr zugeordneten Wirklichkeit nadi einen höheren Standort ein, also nicht, wie Feuerbach, den der Anthropologie oder der nach ihr gedachten menschlichen Wirklichkeit, sondern einen, demgegenüber Anthropologie defizient, abstrakt ist — also den Standort der geschichtlich prozessierenden Wirklichkeit.
Marxens
Ideologiebegriff
Marx prägt entsprechend von seinem Standort aus, von dem her Feuerbach relativiert werden kann, einen reflektierten Begriff von Ideologie, wonach Ideologe ist, wer glaubt, daß Ideen zu kritisieren seien und die Wirklichkeit das Maßgebende sei, damit jedoch ideenverhaftet bleibt und nur eine Wahrheit über seine Basis zum Ausdruck bringt. Ideologie läge gerade dann vor, wenn derjenige, der sich Ideen macht, seinerseits schon in einem primären Sinn Ideologe ist, andere Ideenmacher (Theologen, Philosophen) entlarvt oder kritisiert. Mitgemeint ist die paradoxe Pointe, daß hier gerade einer, der als Kritiker der Philosophie Hegels sich auf Wirklichkeit zu gründen meint wie Feuerbach, dem Ideologieverdikt verfällt. Dieser ist also selbst in diesem subtilen Sinn von Marx Ideologe, und seine Lehre Ideologie, weil er, als Kritiker Hegels, wieder nur eine Philosophie, ein Plädoyer für eine anthropologische Basis, entwickelt, dergemäß Philosophie oder Religion als ein Sich-Ideen-Machen angesichts einer (vom Philosophen als unbefriedigend erkannten) Basis verstanden werden kann. Feuerbach ist selbst bestimmt durch eine geschichtliche, und zwar bürgerliche, Epoche, die Ideen und eine anthropologisch-philosophische Basis für maßgebend hält. So sagt Marx in der 7. These über Feuerbach: „Feuerbach sieht daher nicht, daß das .religiöse Gemüt' selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört" 18 . Der Marxsche Ideologiebegriff wendet sich also gegen eine Entlarvung von Ideen, die selbst auf der Basis von Ideen stattfindet und somit zwar kritische Kritik, aber eben noch Philosophie, ist, also suggeriert, daß es nur der Befreiung von der Idee der Religion (oder des philosophischen Absoluten) 15
1(1
MEW 3, 6. Vgl. aber Marxens eigne Abstraktion in den Pariser Siehe oben 146 ff.; 173 ff. MEW 3, 7.
Manuskripten.
Ideologiekritik
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bedürfe, um freier Mensch zu sein, dabei aber selbst eine Idee — eine Idee vom Menschen — zugrundelegt. Damit handelte es sich im Grunde um ein Wichtignehmen von Ideen, das eine Entlarvung anderer Ideen verspricht, während mit dieser Entlarvung gar nicht das Entscheidende gezeigt ist. Auch der entlarvende Ideologe kann nodi unfrei sein, bestimmt durch Verhältnisse im Rahmen einer anderen Totalität, als Philosophie es ist, durch die wirklichen Verhältnisse. Philosophiekritik ist nicht einfach als Negation der wirklichkeitsfernen Philosophie, also als Negation der Negation, schon wahr; sie kann falsch sein, da sie ihrerseits relativ auf eine Basis ist. Bei allem Wahrheitsanspruch, den Ideologie als Kritik der Philosophie und korrelativ als Lehre von der Wirklichkeit macht, ist sie Funktion der Basis, durchschaut aber diese Bedingtheit nicht. Ideologie ist Idee, sich nicht durchschauender Reflex. Gleichzeitig ist sie verstanden als Wahrheit über die Basis, im Falle Feuerbachs etwa als bürgerliches Selbstverständnis — eine Selbsttäuschung, die wahr ist bezogen auf die betreffende Basis der bürgerlichen Wirklichkeit, von höherer Warte aus aber durchschaut werden kann als Unwahrheit. Ja, man kann hier der Ideologie ein Interesse unterstellen, so daß etwa Feuerbach als „Apologet der bürgerlichen Welt" erscheint17. Dies wäre schon eine weitere Reflexionsstufe, auf der die Theologie als Zweddüge erscheint statt als bloßer theoretischer Reflex. Vorerst muß aber der einfachere Fall und das theoretische Verständnis von Ideologie im Vordergrund stehen18. In der Deutschen Ideologie subsumiert Marx die ganze nachhegelische, näher die linkshegelianische deutsche Philosophie unter den Begriff der Ideologie — es handle sich bei ihren Vertretern um die Aufgabe, „das Bestehende anders zu interpretieren" 19 —, gibt allerdings Feuerbach eine Sonderstellung, insofern dieser „der Einzige" sei, der „wenigstens einen Fortschritt gemacht" habe 20 . Feuerbach ist ja nicht nur Philosophiekritiker, sondern meint ja, gleichsam in intentio recta auf die Wirklichkeit als positive zurückgehen zu können. An ihm mußte sich für Marx einerseits die Ausbildung des neuen Ideologiebegriffs am besten zeigen lassen, da eben trotz des anthropologischen Realismus Ideebefangenheit vorliegt. Feuerbach ist gleichsam das experimentum crucis für die Ideologiekritik. Dennoch liegt andrerseits in seiner Ideologie die audi wiederum positiv zu bewertende Intention auf Wirklichkeit. Er hat zwar nicht die Praxis, die Bewegung der Geschichte als " H. Lübbe, a.a.O. 20. 18 Von Lübbe her gesehen wäre das Problem, inwieweit Unehrlichkeit ein konstitutives Moment des Ideologiebegriffs ist. Lübbe meint, Ideologie sei eine „Betrugstheorie, die nur dann funktioniert, wenn man selber daran glaubt". Ebd. 15. Der Begriff erschiene dann von Anfang an als reflektierter Begriff — Betrugsabsidit gegenüber Anderen, mauvaise foi gegenüber sidi selbst —, während auch ein einfacherer Begriff von Ideologie vertretbar ist. Vgl. hierzu H. Zeltner, Ideologie und Wahrheit (Stuttgart 1966) 145. Vgl. audi M. Friedrich, a.a.O. 168. " MEW 3, 20. î0 MEW 3, 18. Die Stelle ist bei Marx im Manuskript gestrichen.
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Revolutionierung des Bestehenden begriffen, sondern bleibt, trotz vereinzelter „Ahnungen" in dieser Richtung, bei einer „,Auffassung* der sinnlichen Welt", will „nur ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes Faktum hervorbringen"; er geht allerdings, wenn er das Bewußtsein der Tatsache etablieren will, daß der Mensch Gemeinmensch ist, daß die Menschen einander nötig haben und immer gehabt haben, „so weit, wie ein Theoretiker überhaupt gehen kann, ohne aufzuhören, Theoretiker und Philosoph zu sein" 21 . Feuerbach sagt allerdings von seiner Anthropologie: „Die neue Philosophie . . . hat unbeschadet der Würde und Selbständigkeit der Theorie, ja im innigsten Einklang mit derselben, wesentlich eine praktische und zwar in höchstem Sinne praktische Tendenz . . ," 2 2 . Es bleibt aber, daß er Theoretiker, Philosoph, ist, daß er auffaßt, interpretiert, betrachtet, den Menschen als sinnliches Wesen, aber nicht als sinnliche Tätigkeit faßt. So ist sein Materialismus für Marx ein „anschauender Materialismus"23. Dem Marxschen Ideologiebegriff gesellt sich hier also zu das Moment des bloßen Auffassens, der theoretischen Einstellung. Der Theoretiker Feuerbach bleibt, schon weil er nicht für die wahre Praxis und Einordnung in die geschichtliche Bewegung optiert — was denn auch nicht mehr nur theoretisch wäre —, Funktion, Reflex, des Bestehenden und dessen Anerkennung. So heißt es bei Marx: „Als Beispiel von der Anerkennung und zugleich Verkennung des Bestehenden, die Feuerbach noch immer mit unsern Gegnern teilt, erinnern wir an die Stelle der ,Philosophie der Zukunft', wo er entwickelt, daß das Sein eines Dinges oder Menschen zugleich sein Wesen sei, daß die bestimmten Existenzverhältnisse, Lebensweise und Tätigkeit eines tierischen oder menschlichen Individuums dasjenige sei, worin sein ,Wesen' sich befriedigt fühle. Hier wird ausdrücklich jede Ausnahme als ein unglücklicher Zufall, als eine Abnormität, die nicht zu ändern ist, aufgefaßt. Wenn also Millionen von Proletariern sich in ihren Lebensverhältnissen keineswegs befriedigt fühlenf,] wenn ihr ,Sein' ihrem [ . . . ] " ! 4 . Ideologie, so zeigt sich, ist also auch Verfehlen der Kritik oder Praxis, und die Marxsche Ideologiekritik ist auch der Vorwurf gegen den Ideologen, nicht praktisch geworden zu sein. Man könnte entsprechend praktischen und theoretischen Ideologiebegriff unterscheiden. Ohne hier schon auf den Materialismus als Theorie des geschichtlichen Prozesses — unseren obigen zweiten Punkt — näher einzugehen, gilt für den .praktischen' Ideologiebegriff, daß er nicht zureichend gesehen ist, wenn Ideen nur auf eine materielle Basis bezogen werden, das Verhältnis von Idee und Basis also theoretisch betrachtet wird, sondern daß vielmehr ein Ver21 22 23
24
MEW 3, 42. Grundsätze Nr. 64, SW II, 319. MEW 3, 7. 9. These über Feuerbach. Vgl. Pariser Manuskripte MW I, 639, wo Feuerbach die „Gründung des wahren Materialismus" zuerkannt wird. MEW 3, 42. Der Text bricht im Satz ab.
Ideologiekritik
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ständnis der Basis nach einem praktischen Materialismus' zugrundeliegt, von dem aus bloßes Auffassen, Interpretieren, als Verfehlen von Praxis kritisiert werden kann. Marx hebt seinen Standpunkt von Feuerbach ab, wenn er davon spricht, daß es „sich in Wirklichkeit und für den praktischen Materialisten, d. h. Kommunisten, darum handelt, die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundenen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern" 25 . Der Gedanke eines praktischen Materialismus' findet seinen einprägsamsten Ausdruck in der 11. These über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern"2β. Ideologiekritik
und
Ideologietheorie
Marxens Ideologiebegriff und seine Ideologiekritik müssen, so scheint es nunmehr, nach einem .praktischen Materialismus', aber auch in einer theoretischen Intention aufgefaßt werden. Erscheint der .praktische Materialismus' als Doktrin der Praxis, die Ideologiekritik ermöglicht, so wäre der .theoretische Materialismus' die Doktrin, die ein Verstehen eines (an sich nicht praktischen) Verhältnisses von Ideen, von Bewußtsein und Theorie, dem sog. „Überbau", und „Basis"27, und also Ideologietheorie ermöglicht. Von dem letzteren Gesichtspunkt aus lassen sich, in einem weiteren Sinne als dem der Philosophiekritik oder Ideologiekritik, generell „,reine Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc." 28 , also Ideengebilde mit autonomem Geltungsanspruch als relativ auf eine Basis vorstellen, lassen sich Basis und Überbau zusammen, als Komplex, zum Wissensgegenstand machen. So gesehen ist die Deutsche Ideologie also auch neutrale Theorie der Ideen und Ideologien, vorausgesetzt, Geschichte ist selbst schon genügend begriffen, auf daß die Rationalisierung der Basis in ihren Variationen Variationen des Überbaus erklären kann 29 . Damit ist das Werk selbst im ursprünglichen, einfachen Sinn Ideologie, Ideenlehre und Ideologielehre, indem es eine (der Intention nach) verständliche, rationalisierte Basis geltend madit für Ideen und Ideologien, diese durch jene erklärt und versteht. Gleichzeitig ist das Werk Kritik an Ideologie. Der Ideologiebegriff erweist sich somit als in sich doppelt und zwiespältig, als einerseits epiphänomenalistisdi, und insofern theoretisch, und als andrerä
= MEW 3, 42. =» MEW 3 , 7 . " MEW 3, 36: „Basis" und „Superstruktur". 18 MEW 3, 31. Man könnte hier den modernen Ausdruck ,Wissenssoziologie' verwenden wollen. Er ist für Marxens Ideologielehre, soweit sie neutral ist und nidit Kritik, schief, insofern die Wissenssoziologie Ideologie historistisdi oder lebensphilosophisch sieht und so dem hier Gemeinten nicht entspricht. Vgl. hierzu H . Plessner und M. Horkheimer bei K. Lenk, Ideologie (3. Aufl. Neuwied 1967) 265 ff. und 283 ff.
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Die Wendung zur materialistischen Theorie
seits kritisch, und insofern praktisch orientiert. In theoretischem Verständnis enthält der Begriff eine Unterscheidung von Basis und Epiphänomen, wonach das Epiphänomen natürlicher und insofern ,wahrer' Ausdruck der Basis ist, aber vielleicht gerade als wahrer Ausdruck einer Basis ein Falsdies, einert wahren Ausdruck einer falschen Basis, darstellt. Damit ergibt sich die Anweisung, wahres und falsches Epiphänomen zu unterscheiden und ihr Verhältnis, auch dem Zustandekommen nach, theoretisch zu verstehen. Der Materialismus, der das leistet, muß Theorie sein. Andrerseits ist die Kritik an einer Idee, an einem Epiphänomen, an einer Ideologie, nidit eine theoretische Frage, sondern Ausfluß des praktischen Materialismus'. In beiden materialistischen Perspektiven, oder in beiden Materialismen, wenn wir so sprechen dürfen, muß sich Kritik darstellen lassen; der Begriff des Materialismus wird ebenso komplex sein wie der Ideologiebegriff.
Die materialistische Wendung Wir sehen in der Deutschen Ideologie eine Wendung zum Materialismus als Theorie des geschichtlichen Prozesses, und es obliegt uns, in einer Untersuchung der Marxschen Theorie, eine solche Wendung der Theorie zu motivieren. Diese Motivierung nun haben wir von Marxens Ideologiekritik her versudit; sie ist also schon gegeben worden. Dabei brachte es das Thema der Ideologiekritik mit sidi, daß wir schon immer auf den Materialismus eingehen mußten; andrerseits konnte dieser für uns gerade von der Ideologiekritik, als entwickelter Form der Gegenstellung der Wirklichkeit zur Philosophie, motiviert erscheinen. Der Marxsche Materialismus hat selbstverständlich auch ohne die Komplikation des Ideologieproblems eine Kontinuität mit früheren Positionen Marxens: der Fassung der Wirklichkeit als Extrem zur Philosophie, dem Prius der anthropologischen Wirklichkeit, oder der Ansetzung einer ökonomischen Wirklichkeit als Bereich, in dem eine objektive Theorie der Geschichte als Kritik möglich sein soll. Ist der Materialismus in dieser Reihe nur eine weitere Nuance, ja wird selbst der Anthropologe Feuerbach von Marx als Materialist bezeichnet, so erscheint er darüber hinaus als ,gesetzter' Gegenhalt zur Ideologiekritik. Die Wirklichkeit ist, gleichsam im Rückstoß gegen Ideologie, zu der ja auch Feuerbachs Philosophie rechnet, noch hinter Feueribach zurückgehende Basis. Für die materialistische Nuance spielt dabei mit der schon von Feuerbachs Position her zu sichtende Gegensatz zum Spiritualismus 80 . Ideologie, der Fall, wo nach Marx Gedanken das so
Der Gegensatz findet sidi beiläufig bei Marx schon in den Pariser Manuskripten MW I, 602 und, karikierend, in der Kritik des Hegeischen Staatsrechts MW I, 314. Siehe oben 107. Feuerbach opponiert im allgemeinen Materialismus und Idealismus.
Ideologiekritik
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wirkliche Leben bestimmen, und beherrschen, erscheint nicht nur als ,Idealismus', sondern auch als .Spiritualismus', als absurde Sonderwirklichkeit gegenüber dem wirklichen, normalen Fall, als „Spuk" 31 . Marx betont im Gegenzug dazu eine Basis als ,materielle'. Der traditionelle, metaphysische Gegensatz von Spiritualismus und Materialismus macht sich geltend; der Gegensatz von Philosophie und Wirklichkeit in der Dissertation ist verengt und verschoben. Die Wirklichkeit ist nunmehr Basis für ein Epiphänomen, darunter die Philosophie, gleichzeitig aber auch praktisch-materialistische Basis, Bereich der handelnden Veränderung des Bestehenden. Als Gegenhalt zum Vorwurf des Spiritualismus' werfen wir — nach früheren Stellungnahmen oben 57 ff. — nodi einmal einen Blick auf Hegels Geschichtsphilosophie, die ja, wie die anstehende Marasche Theorie, Theorie der Geschichte ist. Was Hegels Art der Erklärung angeht, so wäre sie für Marx einmal eine Transposition in ein anderes Medium, in die Idee, und insofern durchaus nodi Erklärung, aber entfremdete Erklärung; sie wäre unwahr, weil sie — wie es von der materialistischen Basis aus erscheint — Funktion tieferer, eben wirklicher Verhältnisse ist, Projektion einer gesellschaftlichen Sachlage, die unwahre Privilegierung einschließt. Es ist klar, daß damit die Hegeische Theorie der Gesdiidite mißverstanden ist und zwar in der Weise, daß statt des Materiellen nun etwas anderes „herrsche", der Gedanke, die Idee; daß Hegel also eine umgekehrte Priorität zur Anthropologie geltend madie, dann aber genauso handfest von Wirklichkeit rede, eben dem Gedanken als Wirklichkeit. Marx versteht den spekulativen oder transzendentalen Gedanken Hegels nicht, der Rekonstruktion, Rationalisierung besagt. Wie sollte diese anders als auf der Ebene des Gedankens möglich sein? Das Problem, das eich für Geschichte stellt, ist dabei allerdings anders als in der systematischen Philosophie; für eine spekulative Rekonstruktion der Geschichte muß die Dialektik .metaphysisch' werden insofern, als der Geist als das Sein in sich umfassend auch die Zeit bestimmt. Hegel weicht also hier von einer bloßen Kategorienlehre ab. Dennoch aber ist die Theorie nicht metaphysischer Idealismus (,Spiritualismus'), gleichsam als Sonderform eines Realismus; sie bleibt spekulativ oder transzendental: d. h., so gedeutet ist Geschichte einsichtig zu machen. Dabei ist dann das Verlangen, diese Einsicht zu haben, eine petitio, und ist ihr Ergebnis — der vollkommene Staat als wirklich — eine petitio. Dieser Staat ist aber nicht schon deshalb illusionär, weil ihm eine Genealogie in der Idee, in der Entwicklung des Staatsbegriffs, gegeben ist; dies ist ja transzendental gefordert. Die Frage müßte etwa sein, ob die Hegelsdie Theorie des Staates audi systematisch befriedigt (wir erinnern an die Bedenken hinsichtlich einer möglichen Theorie der Demokratie), und ob ihre Stützung in einer Philosophie der fertigen Geschichte bejaht werden kann. Die Geschichtsphilosophie Hegels hat auf Grund ihres subjektiven Blidcpunkts eine Affinität zur Praxis. Sie ersetzt für ihren Prozeß Praxis durch ein allgemeines Handeln der Vernunft, um — in einer List der Vernunft — den Erfolg der vernünftigen Geschichte sicherzustellen. Dies ist eine metaphysische Lizenz angesichts des spekulativen Wunsches nach Rationalisierung. Man versteht, daß Marx damit sein Stichwort hat. Nidit aber ergibt sidi im Hegeischen Fall das Problem eines Konflikts von Vergegenständlichung und Praxis, also von objektivem Prozeß einerseits, und Sinngesetz der Praxis, andrerseits. Geschichte ist für Hegel schon zu seiner Zeit 11
MEW 3, 38. — Wir erinnern an das Mißverständnis des kategorialen Denkens bei Marx. Siehe oben 25 ff.
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affirmativ geworden, Vernunft sieht sich in ihr von innen. Bei Marz hingegen stellt sich — auf Grund des kategorialen Mißverständnisses, und dann weiter des Praxisund Kritikgedankens — das Problem von der Seite des Seins, des Materiellen.
2. Wirklichkeit und Basis Der Materialismus ist nicht nur polemische Position zum Zweck der Kritik von Ideologie und Philosophie, er ist vielmehr — als .theoretischer' — der Absidit nach eine positive Fassung der Wirklichkeit, wie sie an ihr selbst ist, Fassung der Wirklichkeit als geschichtlicher Prozeß. In eins damit ist er — als praktischer Materialismus' — Kritik der Wirklichkeit und des geschichtlichen Prozesses. Die Ideologieproblematik scheint in ihm verallgemeinert zum Thema der Wirklichkeit und zur Kritik einer falschen Wirklichkeit. Die Wendung zum theoretischen und praktischen Materialismus gibt eine verschärfte Möglichkeit, auf der Seite der Wirklichkeit — der Basis — Prozeß zu denken, und zwar als wirklichkeitsimmanenten Prozeß. Die Philosophie ist nicht mehr Leitstern, sondern vielmehr Funktion dieses Prozesses als eines materiellen Extrems zur Philosophie.
Die Basis Marx spricht in der Deutschen Ideologie zunächst von „Voraussetzungen", nämlich „aller Menschengeschichte" und damit auch ihrer Darstellung und Theorie: „Alle Geschichtschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen". „Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklidien Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar" 32 . Zu den Individuen kommen hinzu — wir zählen nur auf — Produktion, Teilung der Arbeit, die Unterscheidung von Stadt und Land, Eigentum, die Familie38. Die Voraussetzungen sind damit teils systematisch-prinzipiell, teils schon geschichtlich, so etwa im Fall von Stadt und Land oder Eigentum. Die beiden wichtigsten prinzipiellen Momente, die „Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung" sind einerseits „natürliches", andrerseits „gesellschaftliches Verhältnis". Hier" MEW 3, 20 f. 5S MEW 3, 21; 22 und 33; 22; 22—24; 29.
Wirklichkeit und Basis
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aus geht für Marx hervor, „daß eine bestimmte Produktionsweise oder industrielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens oder gesellschaftlichen Stufe vereinigt ist, und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine ,Produktivkraft', daß die Menge der den Mensdien zugänglichen Produktivkräfte den gesellschaftlichen Zustand bedingt und also die ,Geschichte der Menschheit' stets im Zusammenhange mit der Geschichte der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden muß" 34 . Marx sieht also in den gesellschaftlichen Formen die in der Geschichte maßgebenden Strukturen; er denkt an eine Abfolge von Gesellschaftsstadien in einem geschichtlichen Prozeß — wie wir das schon früher gesehen haben. Nunmehr liegt der Akzent aber nicht so sehr auf einer dialektischen Deutung nach einem Wesen des Kapitals als Widerspiel, so wenig dies aufgegeben wird, als auf einer materiellen Wirklichkeit, die dieser Opposition als ökonomischem Verhältnis nodi vorausliegt. Die Formen des Prozesses sind von der Produktion her verständlich zu machen: „Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion" 85 . Im materiellen Medium wird von den „Voraussetzungen" fortgeschritten zu verschiedenen Stufen und Stadien eines Prozesses, der durch die Arbeitsteilung bedingt ist; diese führt zu ungleicher Verteilung, und beides zusammen erklärt alles Weitere 86 . Marx will somit auch die Genesis einer fremden, dem Menschen gegenüberstehenden Macht durch die Tat des Menschen darstellen — „die eigne Tat des Menschen [wird] ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht" 87 —, wobei er übrigens das Wort „Entfremdung" schon als Konzession an die Philosophen karikiert 88 . Wie nach Früherem verständlich ist, denkt er auch als Abschluß des Prozesses an die Aufhebung der Entfremdung innerhalb der geschichtlichen Basis, an den Kommunismus 89 .
Bewußtsein und, falsches Bewußtsein In diesen Ausführungen über die Wirklichkeit und ihr Überleiten in exemplarischen Stufen zu einem geschichtlichen Prozeß, erscheint spät ein weiteres, aber doch wohl prinzipielles Moment: das Bewußtsein40. Durch u
MEW » MEW M MEW " MEW 38 MEW ·» MEW " MEW
3, 29 f. 3,21. 3, 32. 3, 33. 3, 34. Vgl. ebd. 69. 3, 34 f. 3, 26; 30; 37 ff.
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seine späte Stelle im Aufriß ist einmal zum Ausdruck gebracht, daß für die wesentlichen Schritte des geschichtlichen (und des ihm vorausliegenden, nur exemplarisch unterstellbaren) Prozesses nicht auf das Bewußtsein zurückgegriffen werden muß — d. h., es läßt sich monistisch interpretieren —, andrerseits erscheint es für sich auf einer bestimmten Stufe der Komplikation der Gesellschaft, und damit ist die Basis eben als Basis für Weiteres, Anderes, behauptet. Sie ist zum Grund oder Wesen geworden für ein auf ihr Aufruhendes, Zugeordnetes. Bewußtsein ist in dieser Fassung ein Epiphänomen. Beide Fassungen, monistische und epiphänomenalistisdie, sind hier, wie audi schon früher, vertreten 41 . Das Bewußtsein gilt als „Produkt", es läßt sich aus der Grundlage aufklären oder, wie Marx selbst sagt, „erklären", so sehr audi von einer „Wechselwirkung der verschiedenen Seiten aufeinander", von der „Sache in ihrer Totalität" die Rede ist42. Der Fall des Bewußtseins als solchen läßt es noch offen, ob Basis und Bewußtsein nicht nur zusammenstimmen, sondern sich auch widersprechen. Falsches Bewußtsein wäre ein solches widersprechendes Verhältnis von Basis und Epiphänomen, wie es in der Ideologiekritik als Verhältnis von Philosophie oder Religion usw. und Wirklichkeit in seiner speziellen Form aufgetreten war. Das jetzt wesentlich gemeinte falsche — insofern verallgemeinert ideologische — Bewußtsein ist das bürgerliche. Die Unterscheidung von bloßem epiphänomenalisrischem, ,wahrem* Bewußtsein und falschem Bewußtsein, die hier dringlich wird, bedarf, ebenso wie die Frage eines Zustandekommens des falschen Bewußtseins, einer erneuten Betrachtung. Der Materialismus muß, wenn er Theorie sein will, das Zustandekommen des Falschen erklären, nicht darf es — wie bei Feuerbach — eine Erklärung nur für einen Sonderfall (den der Religion) geben, noch genügt es, ein Ideologem — etwa das Feuerbadis — auf eine Basis nur zu .beziehen', wie dies in Marxens Ideologiekritik zunächst schien. Marx analysiert das Bewußtsein oder Denken als eine Produktion, gewissermaßen als eine Spezialproduktion neben allgemeiner Produktion. Sie bedeutet Freistellung von der Handarbeit, also von der wesentlichen materiellen Produktion, bedeutet damit Widerspruch zur Basis: „Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen — von diesem Augenblicke an ist das Bewußtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ,reinen' Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. über41
Vgl. audi MEW 3,26, wo das Bewußtsein als in die materielle Tätigkeit „verflochten" gedacht wird. « MEW 3, 38.
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zugehen. Aber selbst werm diese Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. in Widerspruch mit den bestehenden Verhältnissen treten, so kann dies nur dadurdi geschehen, daß die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mit der bestehenden Produktionskraft in Widersprudi getreten sind . . ,"4S. Das Bewußtsein wäre also wahr von etwas Wirklichem, das in Widersprudi zur Basis steht. Damit ist dann audi Herrschaft gegeben, Genuß der Arbeit, ohne zu arbeiten, „weil mit der Teilung der Arbeit die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben ist, daß die geistige und materielle Tätigkeit — daß der Genuß und die Arbeit, Produktion und Konsumtion, verschiedenen Individuen zufallen, unid die Möglichkeit, daß sie nidit in Widerspruch geraten, nur darin liegt, daß die Teilung der Arbeit wieder aufgehoben wird" 44 . Die zum Denken Freigestellten herrschen ipso facto, wie umgekehrt diejenigen, die herrschen, die Anderen mit ihrem Denken beherrschen, als „konzeptive Ideologen" gleichsam, denen gegenüber sich die Anderen „rezeptiv" verhalten 45 . Die Verwediselbarkeit dessen, was früher ist, das Denken, auf daß es herrsche, oder die Herrschaft, die sich dann im Denken als Wahrheit setzt, führt in der systematisierenden Rezeption des Gedankens vom Denken als Herrschaft bei Adorno — in seinem Buch Negative Dialektik — dazu, das Verhältnis als Identität und als Analogie zu sehen, so daß Denken immer illustrierbar ist durch Herrschaft, auch wenn es nicht spezifisch als Herrsdiaftsdenken einer Klasse gemeint sein kann. Die vereinfachende Insinuation zerstört den Begriff des Denkens über das Maß hinaus, das sich bei Marx findet: Denken muß sich immer zurücknehmen, wenn es nicht Herrschaft sein will.
Die Erklärung, die Marx gibt, ist derart, daß sie sowohl das Ausdrucksverhältnis wie das Oppositionsverhältnis beibehält. Die Lehre, ausgehend von einer anthropologisdi-reduktionalistisdi gefaßten Basis, besagt, daß das Denken Teil einer arbeitsteiligen Produktion ist, daß also die Sonderung des Bewußtseins und seine Falschheit oder Ideologizität einen materialistisch faßbaren Grund hat. Der Materialismus erklärt demnach, daß das Denken falsch wird, ja Herrschaft wird, denn Denken, anthropologisdi-reduktionalistisch gefaßt, besondert sich sozial, klassenmäßig; es wird dann ,wahrer* Ausdruck seiner Klasse und falscher Ausdruck der Basis (der Produktionskräfte) oder auch des Ganzen. Die Niditrepräsentativität der .herrschenden Gedanken' — etwa des Rechts —, ihre Ideologizität, ist anthropologisch-materialistisch erklärt, der kritische Ideologiebegriff ist anscheinend entwickelt aus der Basis, die zunächst Bewußtsein nur epiphänomenalistisch als wahren Ausdruck bei sich hatte, also aus dem neutralen, theoretischen Ideologiebegriff. Oder: die Kritik von Gedanken ist innerhalb eines theoretischen Materialismus erklärt; der kritische Ideologiebegriff — und die Kritik an der Wirklichkeit — 4
« MEW 3,31 f. Vgl. ebd. 25 f. Anmerkung. MEW 3, 32. 45 MEW 3,46 f. 44
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ist aus dem theoretischen Materialismusbegriff entwickelt; dieser ist maßgebend geworden für ein Verständnis auch des praktischen Materialismus. Die geschilderte Erklärung hat den Mangel der petitio: sie faßt Denken reduktionalistisch als arbeitsteilige Produktion, die in eins damit aber parasitär ist gegenüber der maßgebenden materiellen Produktion, Freistellung von Handarbeit, Herrschaft ist. Die Falschheit des Denkens wird von einer Basis her dargestellt, über deren Verhältnis zum Denken schon vorentschieden ist, indem sie Basis ist. Denken als Produktion, gedacht von der Seite der Basis her, ist damit gleichzeitig Befreiung von der Basis, hört damit auf, wahrer Ausdruck zu sein. Diese Ableitung gelingt nur, wenn Denken reduktionalistisch gefaßt wird und nicht als Wahrheitsanspruch. Im übrigen folgt aus der Marxschen Auffassung, daß jetzt alles ankommt auf die genetische vorstellende Erklärung, wie sich denn eine solche Arbeitsteilung des näheren ergibt, bei der Menschen, von Handarbeit freigestellt, das Denken monopolisieren. Die Auffassung der Geschichte als materialistischer Prozeß verlangt eine Vorstellung, und soweit möglich, historische Beschreibung, der Entstehung von Klassen als Antwort etwa auf die Frage, ob diese Entstehung sozial oder ökonomisch bedingt ist, ob Not zur Herrschaft führt, oder gerade Oberfluß usw. Wir kommen auf die Frage zurück. Die materialistische Erklärung eines falschen, bürgerlichen Denkens, und in eins damit eines sozialen Gebildes wie der bürgerlichen Klasse oder der bürgerlich-kapitalistischen Ökonomie, ist, wie wir hier vorwegnehmend sagen können, noch in anderer Weise nicht-letzte Erklärung. Es bedarf einer strengeren Theorie, so wird sich zeigen, die nicht nur lapidar das Denken als Herrschaft dartut (damit also die Falschheit dieses Denkens zurückführt auf einen Grund, bei dem sich fragen läßt, ob er ökonomisch und nicht vielleicht noch in anderer Weise sozial bedingt ist), sondern die den in Anspruch genommenen theoretischen Gehalt, als Wahrheitsanspruch, kritisiert. Dies wird in definitiver Form die Theorie des Kapitals sein. Vorerst gilt jedoch ein materialistisches Verstehen: das falsdie Bewußtsein steht in einer Epiphänomenbeziehung zur Basis und wird verstanden als Ergebnis eines sozialen und ökonomischen Prozesses. Eine Erklärung auch der fortgeschrittenen Stadien der Geschichte — etwa des Feudalismus, der vorbürgerlichen und der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse — hat auf der Seite der Basis vorzugehen, wobei solche Stadien audi an den zugeordneten Bewußtseinsformen als ihrem theoretischen Reflex faßbar sind.
3. Die gesellschaftliche Konkretion des geschichtlichen Prozesses Die materialistische Fassung der Wirklichkeit als Basis bedeutet für Marx immer auch eine Einbeziehung der gesellschaftlichen Verhältnisse; ja diese scheinen dasselbe wie die Basis zu sein. Dennoch liegt hierin ein neuer, den
Die soziale Konkretion
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Gedanken der Basis differenzierender Akzent. Was in den Pariser Manuskripten vornehmlich von einer ,Logik' der Opposition von Kapital und Arbeit gesehen und rückblickend auf Vorstufen hierzu erstreckt wurde — wenn auch die gesellschaftliche Konkretion immer mitgemeint war —, erscheint jetzt mit stärkerer Betonung des Gesellschaftlichen als Opposition und Polarisierung von Klassen. Der Materialismus bietet dazu die Handhabe, insofern in ihm eine, wenn auch sehr abstrakte, Erklärung dafür liegt, daß es zu einer Trennung von Handarbeit und Denken kommt und gleichzeitig zu einer Herrschaft der Denkenden über die Basis, die eigentlichen Produzenten.
Das
Klassentheorem
Dieser allgemeine Gedanke kann sich verschiedenen Stadien, nach Maßgabe der wirklich geschehenen Geschichte, anmessen: in einem frühen Stadium, dem der Feudalgesellschaft, ist der Klassengegensatz zwischen Adel und den Übrigen noch menschlich, die Herrschaft zerstört nicht ein persönliches Verhältnis zwischen den Klassenmitgliedern. (Wir erinnern daran, daß Marx von solchen mittelalterlichen Verhältnissen als einer „Demokratie der Unfreiheit" sprach4®.) Anders ausgedrückt: der Gegensatz ist als sozialer und ökonomischer noch ein menschlicher. In einem fortgeschrittenen Stadium, in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, tritt der Gegensatz in seiner ganzen Schärfe auf. War die materialistische Erklärung von Klassen zunächst am Denken gegenüber der Produktion entwickelt worden, war sie also an einem Grundmodell sozialer Differenzierung orientiert, die Hand in H a n d ging mit einer ökonomischen Differenzierung (wie immer das Detail hierzu lauten mag und was immer die Berechtigung für diese Ineinsetzung), so will die materialistische Theorie ebenso die (früher aus einer Kritik am Privateigentum stammenden) Gedanken zur ökonomischen Entfremdung im Kapitalismus sich einordnen. Die Opposition von Kapital und Arbeit ist nur eine Form der materialistisch gedachten Opposition von Klassen. Die herrschende Klasse übt durch ihre Freistellung nicht nur einen sozialen Drude aus, bei Bewahrung der sozialen Beziehung im Gegensatz; vielmehr steht sie für ein System der Produktion und für eine ökonomische Ideologie — die Nationalökonomie —, sie steht für einen Automaten der Entfremdung. Mit dieser objektiv gewordenen Opposition von Klassen sind gesellschaftliche Beziehungen völlig durch ökonomische Verhältnisse geprägt und unpersönlich geworden. Dies Bild ist bei Marx nicht neu: schon in der Einleitung zur Kritik der Hegelsdien Rechtsphilosophie war ein Klassengegensatz behauptet, der zu» MW I, 296. Vgl. Kapital I, MEW 23,91 f.
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nächst politischen Charakter hatte und auf einen ökonomischen hinentwikkelt wurde. Ebenso galt für die Pariser Manuskripte ein Klassengegensatz als Analogon des Systems von Kapital und Arbeit. Neu ist in der Deut sehen Ideologie nur die Einordnung dieser Gedanken in einen systematischen Materialismus, in dem ein solcher ökonomisch bestimmter Klassengegensatz bruchlos mit sozial pointierten Stadien der Geschichte und mit lapidaren »Voraussetzungen" der Geschichte, mit einer Basis, in Verbindung gebracht zu sein scheint. Es versteht sich, daß Marx mit der materialistischen Deutung ebenso wie den Gegensatz von Kapital und Arbeit, als auch gesellschaftlichen Gegensatz, so audi die Beseitigung des Gegensatzes denken will, daß also auch eine Emanzipation, wie sie in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie und in den Pariser Manuskripten gedacht war, ihre materialistische Einordnung erfährt. Hier, so scheint es, hat der Materialismus kein wesentlich neues Moment beizutragen. Marx will, wie wir wissen, eine zielgerichtete Dynamik denken, und dazu muß er die aus der Kritik der ökonomischen Entfremdung stammenden Gedanken für den Materialismus übernehmen. Die Aufhebung der Entfremdung ist zwar stärker als Klassenauseinandersetzung, als Klassenkampf, gesehen, sie folgt aber der negativen Theorie der Einleitung und der Pariser Manuskripte mit ihren dialektischen Begriffen. Eine kurze Skizze der materialistischen Einordnung dieser Gedanken mag genügen47.
Proletariat und
Revolution
In der Klassenauseinandersetzung, die die Aufhebung der Entfremdung bringen soll, sind die beiden Klassen, was jetzt gerade materialistisdi einleuchtet, nicht gleichartig. Marx zeichnet diejenige Klasse, „welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat" 4 8 und insofern Basis ist, vor der anderen aus. Hierbei hat die Sadilage, daß die Gesellschaft sich in der angegebenen Weise polarisiert in herrschende und beherrschte, lastentragende Klasse schon einen Verstehenshorizont in der Kritik der Entfremdung in Theorieform. Die beherrschte Klasse ist charakterisiert durch die Zufälligkeit ihrer Existenzbedingungen 49 . Sie ist als Basis einerseits das Wesentliche, andrerseits ist sie .Moment' eines fremden Wesens, des Kapitals, steht also in widersprechenden wesenslogischen Bestimmungen. Gerade aus der Zufälligkeit ihrer Existenzbedingungen soll hervorgehen, daß sie kein besonderes Klasseninteresse hat 50 , das sie gegen die herrschende Klasse durchsetzt. Vielmehr 47
Siehe audi oben 184 ff. MEW 3, 69. 49 MEW 3, 77. 50 MEW 3, 75. Vgl. MEW 4, 472. 49
Die soziale Konkretion
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bekämpft sie und beseitigt letztlidi die andere Klasse, weil sie die universelle Klasse ist. In Marxens Theorem von der obsiegenden Klasse kommen schon bekannte Motive zusammen: da ist einmal die Hegeische logische Überlegung, daß Endliches nur endliche Antagonismen haben kann, also ein Gegensatz von absolut und partikulär zur Deutung des Klassentheorem verwendet werden muß, wenn es sidi nicht wieder nur um einen neuen Dualismus mit anders verteilten Rollen, mit einer neuen herrschenden Klasse, handeln soll. Was bei Hegel kategorial der „allgemeine Stand" ist, der Stand, der die allgemeine Sache, den Staat, zum Beruf hat, muß bei Marx allgemeine Klasse (ansdiaulidi konkret also die „ungeheure Mehrzahl" 15 ) sein. Diese wäre die anthropologische ,Darstellung' des Hegeischen (objektiven) Absoluten, die Menschheit mit ihrem Gattungsleben, die einen Klassendualismus nicht zuläßt. Andrerseits ist sie nur Klasse im Status der Entfremdung, dessen Aufhebung in der Beseitigung des Klassendualismus liegen soll, ist sie unfrei, Moment einer fremden Madit. Sie muß erst als partikuläre etwas tun, um Absolutes zu sein. Da sie aber Basis ist, wird sie auch als existierende, partikuläre, das Verlangte schaffen. Die Deutsche Ideologie führt einen weiteren vermittelnden Gedanken ein: indem in der kapitalistischen Produktion die Individuen von den Produktivkräften losgerissen sind, sich in ihnen nicht mehr selbst betätigen, sind sie zwar abstrakte Individuen geworden, werden aber dadurch erst in den Stand gesetzt „als Individuen miteinander in Verbindung zu treten" 52 . Hier ist also an einen anthropologisdi nicht plausiblen Zusammensdiluß gedacht, der letztlidi die Emanzipation bringen soll: „Der einzige Zusammenhang, in dem sie [die Individuen] nodi mit den Produktivkräften und mit ihrer eignen Existenz stehen, die Arbeit, hat bei ihnen allen Schein der Selbstbetätigung verloren und erhält ihr Leben nur, indem sie es verkümmert. . . Es ist also jetzt so weit gekommen, daß die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen, nicht nur um zu ihrer Selbstbetätigung zu kommen, sondern schon überhaupt um ihre Existenz sicherzustellen... N u r die von aller Selbstbetätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart sind imstande, ihre vollständige, nidit mehr bornierte Selbsbetätigung, die in der Aneignung einer Totalität von Produktivkräften und der damit gesetzten Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten besteht, durchzusetzen . . . Die Aneignung ist ferner bedingt durch die Α π und Weise, wie sie vollzogen werden muß. Sie kann nur vollzogen werden durdi eine Vereinigung, die durch den Charakter des Proletariats selbst wieder nur eine universelle sein kann, und durdi eine Revolution . . ." 5S . " MEW 4, 472. " MEW 3, 67. 5S MEW 3, 67 f.
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Die Wendung zur materialistischen Theorie
Eine Schwierigkeit, die wir schon früher erwogen haben, ist, wie die Arbeiter, als ohnmächtige Objekte des Kapitals, Subjektivität entwickeln können. Marx sieht nicht, daß der Zusammenschluß der Entfremdeten das Problem ist, wenn sie einmal der Theorie halber universell entfremdet sind. Er denkt so im Manifest an eine „revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation" 54 , aber die Theorie dazu besitzt er nicht55. Die nach der Wesenslogik gerade immer mehr zum Moment werdenden Arbeiter müssen eine kollektive Subjektfunktion übernehmen, und die Revolution wäre gerade auch eine .positive* Leistung, eine universelle Übernahme der Totalität der Produktivkräfte, des vom Kapitalismus Angesammelten, nicht oder nicht nur ein dialektisch-negativer Prozeß im Sinne eines Zusammenbrudis des Kapitalismus. Bei Marx ist das Proletariat dies Knäuel von gegensätzlichen Bedingungen — von Universalität, Partikularität, Wirklichkeit, Negativität, Subjektivität, Objektposition, Dialektizität, Undialektizität —, das für die anthropologisch-materialistisch umgedachte Hegeische Bewegung vom Endlichen zum Absoluten gefordert ist. Das Proletariat muß es sein, was das Absolute als Rückkehr aus der Beherrschung durdi das Wesen des Kapitals herbeiführt. Vergegenwärtigen wir uns diese Sachlage nodi einmal an einem Einwand. Wieso treten in der Gesellschaft keine Gegeninstanzen auf, die für Ausgleich sorgen, oder, wieso tritt die Proletarierklasse nicht als Gegeninstanz zum Kapital auf, so daß sie nicht zur absoluten Entfremdung und Zufälligkeit ihrer Existenz käme, etwa, indem sie sidi organisierte? Damit würde ein, wenn auch gesellschaftlich nicht-letztes, Reflexionsverhältnis von Kapital und Arbeit geschaffen, und die Prognosen für den Ablauf der Geschichte wären hinfällig. Entsprechendes würde gelten, wenn eine dritte Instanz — der Staat — in Rechnung gestellt würde. Es heißt hierzu, im Zusammenhang mit einer schon herangezogenen Stelle, daß bei den Proletariern „ihre eigne Lebensbedingung, die Arbeit, und damit sämtliche Existenzbedingungen der heutigen Gesellschaft, für sie zu etwas Zufälligem geworden" seien, „worüber die einzelnen Proletarier keine Kontrolle haben und worüber ihnen keine gesellschaftliche Organisation eine Kontrolle geben kann" 56 . Natürlich ist das nicht möglich, wenn die Proletarier schon als universelle Klasse vorausgesetzt werden. Die Universalität ist das vorstellende, und doch auch dialektische Moment, das nur die Emanzipation, und nicht einen gesellschaftlichen Ausgleich, offen läßt. Nur ein Absolutes, Universelles, kann den KlassengegenMEW 4, 473 f. In diesem Zusammenhang ist wiederum Sartres Critique de la raison dialectique I bedeutsam, wo gerade das genannte Problem der Entfaltung der Initiative aus der Situation der Ohnmacht gesehen und zu einer Theorie der Gruppe entfaltet wird. Siehe dort 355—58; 367; 384 ff. Vgl. auch K. Hartmann, Sartres Sozialphilosophie 124; 129; 136. 5I> MEW 3 , 7 7 .
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Die soziale Konkretion
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satz beseitigen, und das Proletariat ist also als ein solches gefaßt. Diese Klasse beseitigt den Gegensatz nicht quantitierend, reflektierend, sondern absolut. In einer Verstehensbewegung behandelt Marx die Klassen so, daß sich das Gewünschte ergibt. Entsprechend scheint audi die Emanzipation, aus der abstrakten Logik in die Anschaulichkeit übersetzt, als Umschlag, als Rude, als Revolution verstanden werden zu müssen. Allerdings ist Marx nicht in der Lage, das soziologische und anthropologische Detail zu geben, das eine Revolution näher bestimmte. Es finden sich nur vage Formulierungen wie die, daß „sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden" 5 7 . Die Arbeiterklasse setzt den Kommunismus durch, den Fall, wo die „Verkehrsform" selbst produziert wird.
Das Klassenbewußtsein Vom Ideologieproblem her gesehen muß die Arbeiterklasse auch eine Auszeichnung, eine Sonderstellung hinsichtlich der Wahrheit ihres Bewußtseins haben. Sie hat ein Klassenbewußtsein, das — wie sie selbst als Klasse — nicht nur besonderes, sondern universelles Bewußtsein, Wahrheit über die Ideologie der bürgerlichen Klassen sein soll. Die Auszeichnung dieses Bewußtseins ergibt sich materialistisch daraus, daß die Arbeiterklasse f ü r die Basis steht, ihr Bewußtsein also theoretisch repräsentativ, wahr, ist. Es ist zwar selbst .Uberbau', und ist somit entgegengesetzt einem falschen, nicht-repräsentativen Bewußtsein der Gegenklasse. Als ,Bewußtsein' scheinen beide koordiniert als besondere, und das Bewußtsein der Arbeiterklasse ist besonderes, ist Bewußtsein im Sinne eines Eigeninteresses, eben solange die Opposition von Klassen die Arbeiterklasse, bei aller Universalität, auch zur besonderen macht. Aber es hat das Versprechen der Theorie, universelles ohne Gegenklasse zu werden. Die Auszeichnung des Bewußtseins der Arbeiterklasse bedeutet also, daß es, gleichsam .theoretisch materialistisch' .K7 daß Marx, wie Ricardo, die Ökonomie bei aller Bejahung der Arbeitswertlehre letztlich vom Wertthema her betrachtet. Mit dem Ausgang bei der Ware und dem Rückgang auf die anthropologische Arbeit wie auf die abstrakte, ökonomische Arbeit ist an das Selbstverständnis der klassischen Nationalökonomie angeknüpft, andrerseits aber ist über sie hinaus oder, richtiger, hinter sie zurück, eine erklärende Re-
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Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
konstrukdon ermöglicht, die eine Kritik gestattet. Ohne diese Rekonstruktion aus einem zwieschlächtigen Prinzip erschiene die Ware nur als undurdischauter Ausgangspunkt der Analyse, die Richtung der weiteren Theorie bliebe, audi wenn sie auf Arbeit rekurriert, von einem theoretisdi — ontologisdi, anthropologisdi — Nidit-Letzten, etwa eben dem Wertbegriff Ricardos, bestimmt. Bei Ricardo ist denn auch die Arbeit nicht eindeutig als ein hinter das Wertthema zurückreichendes Prinzip verstanden64. Aber warum fängt denn das Kapital (wie auch der Haupttext von Zur Kritik der politischen Ökonomie) mit der Ware und nicht mit der Produktion an (wie die — unterdrückte — Einleitung zur Kritik), wenn doch die Arbeit der eigentliche Angelpunkt ist? Betrachten wir die Antwort auf diese schon oben gestellte Frage nodi einmal. Die Antwort ist eine mehrfache. Da ist zunächst das eben genannte Moment, daß beim Selbstverständnis der Nationalökonomie angeknüpft werden soll, die sich eben nicht vom Wertstandpunkt hat lösen können; die Anknüpfung hieran ermöglicht eine immanente Behandlung der Ökonomie. Indem ihr eine absolute, ontologisdie Arbeitswertlehre unterstellt wird, erweist sich die immanente Behandlung oder Darstellung als Kritik. Da ist weiter das Moment, daß ein Anfang bei der Produktion oder bei der Arbeit zu offensichtlich zu Philosophie (als positiv aufbauender Theorie) geführt hätte. Die Philosophie der Arbeit hätte, wie eine Philosophie der Praxis, die Entfremdung in der Ökonomie gleichsam nur als philosophisches Verstehensprojekt dartun können. Transzendentale Rekonstruktion der Entfremdung ist zwar audi für Marx erfordert, aber sie muß den Anschein der Philosophie vermeiden, muß Kritik sein, und damit an einem zu Kritisierenden, Gegebenen, und nicht beim Prinzip Arbeit ansetzen. So setzt sie an der Ware, an etwas ökonomischem — und in weiterer Hinsicht Geschichtlichen — an, das kritisch hinterdacht wird. Nicht darf die Theorie sich selbst genügende Philosophie als positive Theorie sein. Die Arbeit muß als verknüpft mit solchem, dessentwegen sie abstrakt und entfremdet ist, eingestellt in die gesellschaftliche Konkretion, Prinzip sein; sie muß so in eins mit der Ware, mit dem konkreten Substrat der Warenwelt, erscheinen. Die Ware hat als Ausgangspunkt sogar Vorrang, insofern sie als Unmittelbares dasteht, das gleichsam die Selbstverständlichkeit der Entfremdung als unschuldige Gegebenheit vorstellt. Wir können natürlich nicht erwarten, daß Marx diese Motive selbst anführt. Er sagt zur Motivierung des Anfangs bei der Ware: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ,ungeheure Warensammlung', die einzelne Ware als seine 84
Wir erinnern noch einmal an Marxens Kritik an Ricardo Kapital I, MEW 23, 94 f. Anmerkung. — Umgekehrt wäre hier ein Ansatzpunkt für eine einzelwissensdiaftlidie ökonomische Sadilehre, die wegen der Schwierigkeiten im Arbeitsbegriff, oder seiner kritischen Tendenz, auch den Wertbegriff opfert und auf der homogenen Ebene des Preises operiert.
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Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware" 64 . Dieses „daher" meint also, daß man ein unmittelbar Gegebenes aufzugreifen habe, suggeriert auch, daß man nun vom Elementaren einfach weiterzuschreiten habe zur Entfaltung der Ökonomie. Dies geschieht aber nur gemäß den eben erwogenen theoretischen Überlegungen. Die Ware, indem sie Horizonte zu ihrer eignen Erklärung aufgerissen hat, erklärt nun ihrerseits die Entfremdung des Menseben als Produzent und Teilnehmer des Austauschs von Waren, und zwar als eine Entfremdung, die der Mensch selbst setzt. Die Ware ist Erklärung nicht in dem Sinne, daß sie einfach Letztes wäre. Die Ware ist vielmehr neuer Einsatz, ontologisches Prinzip, und Prinzipiat, das aufgeschlüsselt werden muß, das zurückverweist auf ein tieferes Fundament. Zunächst verweist die Ware auf den Gebrauchswert, der aus gesellschaftlicher Arbeit hervorgeht, damit also letztlich auf die qualitative Arbeit als ontologisch-anthropologisches Prinzip. Auf dies Prinzip bezogen wird die Ware verstanden als Abstraktion vom Arbeitsprodukt; ihr wird analog zum nicht-abstrakten Gebrauchswert ein Prinzip unterstellt, das die Abstraktion des ursprünglichen Prinzips ist, nämlich die abstrakte Arbeit. Arbeit wird ein zwiesdilächtiges Prinzip, das aus der Ware erschlossen ist; die Ware ist ihr Prinzipiat. (Vorausgesetzt ist hierfür der Austausch als gesellschaftliche Struktur, die sich — für die Vorstellung — in exemplarischen Stadien naturwüchsig ausgebildet hat). Auf der Folie der gutartigen gesellschaftlichen, qualitativen Arbeit als Verstehensprinzip und mit dem Gegenhalt der im Austausch gesetzten Abstraktion der Arbeit ist die Ware als Negativum aufgefaßt. Als solches erklärt sie nun ihrerseits, auf der Ebene, wo sie sich geltend macht, Entfremdung. Sie ist ihrerseits Prinzip. Das Negative, einmal eingeführt, erklärt das Negative. Der Zirkel der Entfremdung, ohne strikten Hervorgang des Negativen aus dem Positiven, erscheint in dieser Form gegenüber der Entfremdungslehre der Pariser Manuskripte jedoch zumindest prinzipientheoretisch schärfer artikuliert.
Arbeit als Ware Hinzuzunehmen ist nun — was bei Marx nicht als späte Konsequenz und weiterer Reflexionsschritt zunächst, wie bed uns, zurückgehalten, sondern in eins mit dem Behandelten gebracht wird —, daß die Arbeit nicht nur, im Rückschluß von der Ware aus, als ihr ökonomisch analoger Ursprung erscheint, sondern als Tauschwert selbst bewertet wird, getauscht, angeboten und gefragt wird, also selbst in der sich universell setzenden Sphäre des Austauschs von Waren zur Ware wird — ein Punkt, der vom Wertthema her selbstverständlich bei den englischen Ökonomen behandelt ist. Bei Marx ist « Kapital I, MEW 23, 49.
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aber damit die Warenanalyse mit dem Gesamthorizont der Theorie nunmehr aufs engste verknüpft. Es wird sichtbar, wie die Ware die Entfremdung des Menschen radikal und umfassend erklären soll. Arbeit ist ihrerseits nicht nur denaturiert als Tauschwert, sondern die Paradoxie, wertbildend zu sein und sich selbst im Wert-Haben nicht zu erschöpfen; als subsumiert unter den Wertbegriif ist sie paradox, während sie doch gerade zur Aufstellung des Wertbegriffs diente. Diese Differenz von Arbeit als wertbildend und von Arbeit als wie eine Ware bewertet ermöglicht Marx die auf höherer Stufe der Konkretion angesiedelte Mehrwerttheorie. Die Universalität der Warenebene und Warenperspektive — eine der Konkretion angehörende Sadilage — bedeutet gerade, daß alles, also auch die wertbildende Arbeit, obwohl ontologisdi nicht Objekt oder Gut, wie ein Objekt, wie eine Ware behandelt werden kann. Die Arbeit tritt denn auch in der Tat im Duktus der Theorie zugunsten einer Verfolgung der Ware und ihrer Zirkulation zurück. Mit dem zuletzt Gesagten kündigt sich an, daß die Warensphäre — genauso wie die des Privateigentums, des früher herausgestellten Gegenspielers der Arbeit — auf der anderen Seite liegt, nämlich auf der des objektiven Wesens als Subjekt gegenüber dem Menschen als Subjekt. Die Theorie wird also denselben Bedenken unterliegen, die wir seinerzeit gegen die Wesenslogik des Privateigentums geltend gemacht haben. Der Ausgang von der Ware ermöglicht es aber, dem ,Wesen', das die Ökonomie bestimmt, noch eine Substruktion zu geben. Die Ware und ihr Prozeß ersetzen die frühere unmittelbare Ansetzung des Privateigentums, nicht in dem Sinne, daß sie sie ungültig machten, sondern sie noch unterfangen. In der Theorie der Ware scheint, wie schon gesagt, ein Weg gefunden, den Zirkel von entfremdeter Arbeit als Prius und Privateigentum als Prius für die Entfremdung annehmbarer zu gestalten durch die prinzipientheoretische Artikulation des Tauschwerts, und von daher die Ware weiter in einem Prozeß zu verfolgen, der in strengerer, rationalerer Fassung als beim Prozeß des Privateigentums als Widerspiel des Menschen erscheint.
Die Ontologie der Ware II Marx gibt eine weitere ontologische Betrachtung zur Ware' unter dem Motto eines „Fetischcharakters" der Ware®6. Der Grundgedanke ist, daß die Mensdien im Verhältnis zu Waren eine eigentümliche Gegenständlichkeit vor sich haben, eine „Wertgegenständlichkeit", in der sie als abstrakt arbeitend? sich vergegenständlichen und in der ihre gesellschaftlichen Beziehungen entsprechend eine eigentümliche Form annehmen, nämlich die Form, nur über ·« Kapital I, MEW 23, 85—98.
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die Wertgegenständlichkeit, also über ein Fremdes, vermittelte und somit abstrakte, gesellschaftliche Beziehungen zu sein. „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Mensdien die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge . . . Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist"87. Der Ausdrude „Fetischismus" hat hierbei eine subtile Suggestivität: in ihm liegt einmal der Gedanke an ein irrational bevorzugtes Objekt, dann der Gedanke des Idols, des Götzenbildes als magisch belebter Materie, verallgemeinert schließlich dann der Gedanke eines Doppelwesens, eines ,ontologischen Zwitters', einer Mystifikation. Die Deutung der Ware nimmt Züge der Feuerbadischen Religionskritik an, während andrerseits der Akzent nicht so sehr dem Idolcharakter der Ware gilt, als der Art von gesellschaftlicher Vermittlung, die durch die Ware gegeben sein soll. Versuchen wir eine etwas freiere Analyse. Die Ware erscheint zunächst als ein Apparat, der eine Vergegenständlichung der Menschen von einer menschlichen und daher auch zwischenmenschlichen zu einer dinglichen und daher zwischendinglichen verändert. (Die Frage, wie es dazu kommt, wird ähnlidi wie bei der Frage der Entfremdung durch das Privateigentum in den Pariser Manuskripten beiseitegestellt: „Woher entspringt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst"68). Nun kann man sagen, bei jeder Formierung eines Gegenstandes liege schon eine solche Sachlage vor, wie Marx sie beschreibt, nämlich eine Doppelung von Ding und Obersinnlichem, eine Abbildung des Menschlichen im kategorial Fremden und ein Rückeinfluß dieses Fremden auf den Menschen. Der Gedanke der Vergegenständlichung des Mensdien bedeutet ja genau dies, daß das Ding menschlichen Charakter angenommen hat. Dadurch kann es in eine Fürsidiseinsbeziehung mit dem Menschen eingehen und ist seinerseits, für sich betrachtet, Doppelwesen. Marx denkt im Zusammenhang mit dem „Gattungs«7 Kapital I, MEW 23, 86 f. •8 Kapital I, MEW 23, 86.
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leben" audi an den gesellschaftlichen Fall, wo die Vergegenständlichung in der Natur die Menschen unmittelbar aufeinander bezogen bleiben läßt, obwohl sie sich in den Dingen vergegenständlichen. Wieso ist das bei der Ware anders? Im Fall des Gattungslebens ist alles total und universell: die Vergegenständlidiung erfolgt total in der Natur, die Mensdien sind als Assoziation total. Es tritt keine Partikularisierung der Arbeit ein, auf daß das Produkt für andere fremd wäre, ebenso tritt keine Verselbständigung von Dingen als Tauschgegenständen ein, wodurch ihnen als soldien andere Eigenschaften zukämen denn die der totalen, menschlich gemachten Natur. Die Menschen begegnen sich daher audi nicht in den Dingen, insofern diese nicht-total, Tauschgegenstände sind, sondern sie begegnen sich gerade interpersonal-universell, insofern sie sich in der Natur vergegenständlichen. Die Fürsidiseinsbeziehung in der Vergegenständlidiung wird dadurch affirmativ, daß sie total ist, undifferenziert, abstrakt, .und so Entgegensetzung, Partikularisierung, Differenzierung einer Begegnung über die Dinge als verschieden von einer interpersonalen Begegnung vermeidet. Dies ist das Modell, das der Kritik am Warenfetisch als Folie zugrundeliegt. Im Verhältnis zum Gattungsleben liegt in der Ökonomie eine falsche Universalität und Totalität vor: alle sind universell, indem sie abstrakte Arbeit in die Dinge investieren, die ihnen dann an den Dingen als solche begegnet. Die Begegnung miteinander geschieht am jeweiligen Ding, nicht in einer totalen Natur als Gegenstand einer totalen Menschheit. So läßt sich gerade das Einzelding, die einzelne Ware als solche, herausstellen als Exemplar, an dem sich das Opprobrium findet. Die Ware ist magisch, komplex. Marx kontrastiert die Komplexität der Ware als Odium mit dem einfacheren Fall physischer Dinge (Holz, aus dem ein Tisch gemacht wird, Lidit, das von einem Ding, dem äußeren Gegenstand, auf ein anderes Ding, das Auge, geworfen wird, die chemische Substanz, in der sich kein Tauschwert entdecken läßt). Die Ware als Einzelding, an dem sidi das Odium ihrer gesellschaftlichen Rolle schon in ihrer dinglichen Komplexität zeigen läßt, wird Zielscheibe der Kritik aus einer materialistischen Neigung heraus, die das Univoke, Einfache, bevorzugt und von daher die Ware inkriminiert. Diese Kritik ist zwar suggestiv, aber offensichtlich nicht haltbar; sie spielt nur einen Reduktionalismus gegen ein am Einzelding lächerlich wirkendes Allgemeines aus. Die Kritik muß zurückgenommen werden zu einer Betrachtung der Waren im gesellschafüidien Ganzen. Da die Waren als Einzeldinge im Austausch ein System darstellen — die Sphäre des Austauschs —, vermitteln sie die Mensdien untereinander. Aber dies geschieht nun so, daß jeder nur als abstrakt Arbeitender mit anderen vermittelt ist. Die Waren bedeuten also im System, daß die Vermittlung unter der Hinsicht der abstrakten Arbeit keine interpersonale als unmittel-
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bare, totale, in eins mit der Vergegenständlidiung in der Natur zwischenmenschliche ist, sondern eine, bei der die Dinge nur eine soldie Vermittlung zulassen, in der die Menschen als personal unvermittelte vermittelt werden, also als vereinzelte, aber abstrakt gleiche. Die Menschen sind erst über die Waren miteinander vermittelt, dann aber nur als abstrakte. Die Gesellschaftlichkeit ist nicht unmittelbar und gleichzeitig total, personal und vergegenständlichend, sondern eine von den Dingen als Waren rüdeübertragene dingliche. Die Menschen sind gesellschaftlich, aber nur in falscher, mystifizierter Form. Sie sind als das miteinander vermittelt, was sie eigentlidh — als Gattungswesen mit totaler Natur- und Personenbegegnung — nicht sind, nämlich als das, was sie ohne echte Vermittlung für einander sind, als Unvermittelte, Einzelne. Die „gesellschaftliche Gesamtarbeit" erscheint als ein „Komplex von Privatarbeiten", so daß, da die Produzenten erst durch den Austausch — also über die Waren — in Kontakt treten, audi die „spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches" erscheinen6', also als abstrakte, private, aber nunmehr von Warendingen und der Warenproduktion bestimmte. Sobald der Austausch und damit die Produktion für den Austausch hinreichend entwickelt ist, „erhalten die Privatarbeiten der Produzenten tatsächlich einen doppelten gesellschaftlichen Charakter. Sie müssen einerseits als bestimmte nützliche Arbeiten ein bestimmtes gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen und sich so als Glieder der Gesamtarbeit, des naturwüchsigen Systems der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit, bewähren. Sie befriedigen andrerseits nur die mannigfachen Bedürfnisse ihrer eignen Produzenten, sofern jede besondre nützliche Privatarbeit mit jeder andren nützlichen Privatarbeit austauschbar ist, also ihr gleichgilt"70. Es ist dabei nicht so, daß Arbeit als private die gute Subjektivität wäre, die in den Waren nur einen Oberbau hätte, sondern die Isolierung als privat ist schon Gegenbild der Kommunion der Menschen nur über die Waren. Einerseits sind die Privatarbeiten fiktiv, das, was sich darstellte, wenn man von der Kommunion über die Waren absähe, andrerseits sind sie wirklich, insofern außer der abstrakten Universalität der abstrakten Arbeit eines jeden nichts anderes übrig bleibt als das Private. (Dies ist ein Reflex der Differenz von anthropologischem und ökonomischem Arbeitsbegriff.) Das System der Waren oder die Warenwelt erscheint ihrerseits als beherrschend, sie schlägt in Bann, ganz wie eine theologische Mystifikation. Niemand kann sich diesem Bann entziehen, weil eine ganze Gesellschaft nach diesem System gesellschaftlich' ist. Die Herrschaft der Warenwelt ist gleichsam noch eine unmittelbare, abstrakte — alle nehmen an ihr unterschiedslos teil —; sie wird erst später, bei der Behandlung des Kapitals, zur Funktion einer besonderen Herrschaft, eben der des Kapitals. ·· Kapital I, MEW 23, 87. « Ebd.
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Schließlich deckt die Kritik an der Ware und der Warenwelt nicht nur den Fall, wo Waren als Gegenstände der gesellschaftlichen Vermittlung ,erlitten' werden, wo sie gleichsam als Bedingung des menschlichen Verkehrs gelten, sondern audi den, wo der Einzelne sie als Idol nimmt, sie für sich haben will. Auch hierin vereinzelt und universaliert sidi der Mensdi, indem er zu anderen das Verhältnis der gegenseitigen Ausschließung hat. Marx verfolgt diesen Gedanken jedoch weniger an der Ware, als an einem aus der Ware erst Hergeleitetem, am Geld, und spricht auch von „Geldfetisch" 71 . Aber davon später. Die Marasche Lehre vom Warenfetisch, oder seine ,Ontologie' der Ware, läßt sich aus ihren Voraussetzungen kritisch beurteilen: sie werden deutlich einmal in der Folie der gutartigen totalen Vermittlung der Menschen in der Arbeit, und zum andern in der Erklärung der Ökonomie aus der abstrakten Arbeit. Was die erstere Voraussetzung angeht, so ist es hier nicht erforderlich, sie nodi einmal für sich genommen, als anthropologisches Modell, zu kritisieren; das ist oben schon geschehen. Halten wir uns vielmehr an die Immanenz des Negativen und die damit gegebene Voraussetzung der Kritiktheorie. Hierin wird sich die Verbindlichkeit auch der ersteren Voraussetzung erneut zeigen. Der wesentliche Punkt der Ökonomiekritik am Beispiel der Ware ist die Tatsache, daß Marx, wie wir schon sahen, den Tauschwert isoliert und als so isolierten dem Warending innewohnend ansieht. Dazu gehört als Gegenstück die These von der abstrakten Arbeit, so daß mit beiden Thesen gemeinsam sich eine Struktur ergibt, die die Charakteristik der abstrakten Gesellschaftlichkeit hat. Aber ist es zwingend, die Ware und die Arbeit so zu sehen? Das Problem stellt sidi, wenn man will, so: warum vermeidet Marx das unmittelbare Verhältnis von Bedürfnis und Tausch oder von qualifizierter Arbeit und anderer qualifizierter Arbeit? Oder, warum vermeidet er es, die Waren primär als Mittel der Bedürfnisbefriedigung zu sehen, also als Mittel der Reflexion der Gesellschaft auf sich durdi Reflexion der Einzelnen auf einander? Oder, warum ignoriert er das Positive der Waren, nämlich, daß sie eine Befreiung von der Naturnotwendigkeit ermöglichen? Oder nodi anders, warum vermeidet er es, die ökonomische Gesellschaft als konkretes Allgemeines zu sehen? Angesichts dieser Frage treten die suggestiven Mittel, mit denen Marx die Ware kritisiert — die Analogie zur Religionskritik, die Karikierung der Ware als mystisch auf der Folie eines Materialismus, der nur Univokes anerkennt — zurück. Warum ist die Ware, noch anders gefragt, im Zentrum des Interesses, und sind es nicht die Menschen als durch sie vermittelt? Nun ist dies letztere durchaus auch im Blick, aber eben immer von dem anderen Gesichtspunkt aus, bei dem primär die Ware im Blick ist. 71
Kapital I, MEW 23, 108.
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Die Erklärung für all dies ist zweierlei: einmal eine systemtheoretisdie: das Kapital will, gleichsam auf der anderen Seite im Verhältnis zu den Menschen, einen Prozeß oder eine Genealogie der Ökonomie darstellen, und die Ware ist, wie wir schon sahen, die anfängliche Kategorie, die diesen Prozeß auf der anderen Seite einleitet. Schon aus der Kritikabsicht heraus hat sie so einen Vorrang, wird sie geschildert als das die Menschen Bestimmende. Dies kann allerdings für eine monographische Behandlung der Ökonomie, oder auch für eine philosophische Behandlung, die affirmativ oder doch jedenfalls nicht von vornherein negativ-kritisch ist, keine Rechtfertigung für die Akzentverschiebung auf Sachen, auf die andere Seite, sein. Zum andern liegt die Erklärung, weshalb Marx das konkrete Allgemeine vermeidet in seiner nominalistisdien Einstellung. Von einem solchen Standort aus ist es anstößig, ein Allgemeines im Realen sich darstellen zu lassen. Es wird eine Hypostase gegenüber den von eben dieser Hypostase Entfremdeten (wobei die Hypostase ihrerseits umgedeutet wird in eine Realität, die Mächtigen, den Staat als Apparat usw.). Eine ökonomische Gesellschaft muß dann entsprechend gedacht werden als bestimmt durch eine Hypostase. Diese ist, im Fall der Warenwelt, die alles regierende — aber nodi unmittelbar-universelle, für alle gleichermaßen verbindliche — Hypostase der verdinglichten abstrakten Arbeit, dergegenüber die Menschen entfremdet sind. Es tritt also wohl Vergesellschaftung ein, aber sie tritt auf dem Wege über die Hypostase ein und ist insofern falsch. Gerade hierin, daß Marx von einem anthropologisch-nominalistischen Standpunkt aus für das Fundament der Ökonomie eine Abstraktion — den Tauschwert, die abstrakte Arbeit — hypostasiert, zu einer ,wirklichen' Abstraktion hypostasiert, liegt das Suggestive: dies Analogat zur gutartigen Arbeit und zur gutartigen Vergegenständlichung ist ein Gespenst, an das sicherlich niemand glauben möchte, ein Gespenst, das erst durch Hypostasierung entstanden ist. Es handelt sich um eine anthropologisch-nominalistische — insofern dem anschaulichen Vorstellen entgegenkommende — Verfremdung eines konkreten Allgemeinen. Die Negativa in der Ware, in der abstrakten Arbeit, sind aber dann nur der Reflex eines Konflikts zwischen der Dialektik (als Begreifen des Allgemeinen) und der anthropologisch-nominalistisdien Einstellung, die auf der gutartigen, individuierten und gleichzeitig gesellschaftlich totalen Arbeit insistiert, diese sich also vorstellt, aber mit einem Rudiment von Dialektik als total denkt, da ja alle kategorial höheren Strukturen zu Hypostasen führen würden, die entfremden. Eine solche Verfremdung des konkreten Allgemeinen durch Hypostasierung ist dialektisch auf Grund einer undialektischen Basis, der reduktionalistischen Fassung des Allgemeinen, wie wir dies schon verschiedentlich bei Marx und Feuerbach betrachtet haben. Das Odium der Ware und der Warenwelt ist demnach nur durch einen philosophischen Fehler, eine Ineinssetzung von Dialektizität und Undialektizität, darzutun.
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Es ist also nidit nur nicht zwingend, daß die ökonomische Gesellschaft wie bei Marx theoretisiert wird; im Gegenteil, sie kann nicht nur alternativ dazu als konkretes Allgemeines gedacht werden, sie muß es sogar, wenn dialektisch, transzendental erklärend verfahren werden soll. Daß die ökonomische Gesellschaft bei Marx nidit so gedadit werden kann, oder daß die konkrete Allgemeinheit der ökonomischen Gesellschaft verfremdet wird, ist eine Folge der nominalistischen Perspektive, die sich dennoch die Dialektik zueignen will. (Ganz undialektisdi, positivistisch besdireibend, würde zwar auch die Allgemeinheit nidit erfaßt werden, es ergäbe sidi aber auch nidit Marxens Kritik. In einer positivistisch beschreibenden Haltung würden sich nur empirische Gravamina abzeidinen können). Man kann den Einwand machen, auch Hegel habe die Gesellschaft zwar als konkretes Allgemeines, aber als eines in der Abstraktion, in der Vereinzelung, verstanden, audi er habe die Ökonomie als Negatives gedeutet. Aber: einmal ist ein konkretes Allgemeines in der Abstraktion (d. h., in und durdi Einzelne, die Einzelne bleiben, dargestellt) immerhin ein konkretes Allgemeines: die Mensdien sind als ökonomisch vermittelte menschlich, privat und gesellschaftlich. Bei Marx sind sie nur als verdinglichte gesellschaftlich. Hypostasiert man den Tauschwert nicht, sondern sieht Gebrauchswert und Tauschwert vermittelt, als Allgemeinwerden der Bedürfnisbefriedigung, und hypostasiert man auch die abstrakte Arbeit nidit, sondern sieht sie als qualifizierte nach Graden der Allgemeinheit und Vermittlung, so ergibt sidi das Marxsche Bild nicht. Und im übrigen, wenn Hegel zugesteht, daß die Gesellschaft Nicht-Letztes ist, so liegt darin zwar eine Kritik an der Gesellschaft, aber nidit die These, daß sie im Marxsdien Sinn entfremdet sei, sondern nur die These, daß es zu diesem Allgemeinen noch ein höheres gebe. Wir haben gesehen: Marx sieht auch darin, daß ein solches höheres Allgemeines mit dem ökonomisch-gesellschaftlichen zusammenbesteht, nominalistisdi, auf den einzelnen Menschen bezogen, eine Spaltung in zwei Loyalitäten72. Diese Kritik ist zwar eine andere als die im Kapital an der Ökonomie als Warenwelt gegebene, sie koinzidiert allerdings mit ihr, insofern beides, Hegels Gesellschaft gegenüber dem Staat und die kapitalistische Ökonomie, der unmittelbar-totalen Vermittlung der Mensdien widerspricht. Moniert man, daß bei Hegels Gesellschaft die Menschen doch nur über die Waren miteinander verkehren und daß zur Abhilfe dieses Negativums der Staat ins Feld geführt werde, so gilt, abgesehen davon, daß die Gesellschaft auch für sich genommen affirmativ erscheint und nicht als Funktion der Waren, daß gerade das Vorhandensein der übrigen Bezüge (in Familie, Korporation und Staat) neben den ökonomischen ein Positivum ist. Nur wenn der soziale Bereidi auf nur einer Ebene gefaßt wird — sei es im Kommunismus, sei es 78
Vgl. oben zur Kritik des Hegeischen Staatsrechts 114; 175.
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in der Verabsolutierung der politischen Ökonomie (was ein Reflex der anthropologisch-nominalistischen Einstellung ist) —, ergibt sich hieran Kritik. Diese Koexistenz von Bezügen, die Hegel durch Sonderung in getrennte kategoriale Gestalten nur als Nacheinander zeigt, ist weder ein Ausweis f ü r die Entfremdung der Ökonomie im Marxschen Sinne, noch ein Übel f ü r das Ganze. Und wenn das Ganze eine Koexistenz dieser Strukturen sein kann, wird man annehmen müssen, daß auch ein nicht-nominalistisch gefaßter Einzelner an ihnen in dialektischer Vermittlung teilhaben kann. Das Verfehlen des konkreten Allgemeinen führt im Hinblick auf die beabsichtigte positive Lösung der Produktionsverhältnisse im Kommunismus denn auch wiederum auf die Frage, wie eine strukturierte Gesellschaft möglich ist, wenn andrerseits ein Sich-Begegnen der Menschen unter den Auspizien der Ware, eine Kommunion der Gesellschaft auf dem Wege über die Dinge als Tauschwerte, nicht stattfinden soll. Es heißt hierzu: „Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d . h . des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind"7®. Es steht zu erwarten, daß die Abstreifung des Warenschleiers nur die ärmste nominalistische Abstraktion f ü r den positiven Kommunismus übrigläßt. Unsere These vom Nominalismus Marxens wird nicht in Frage gestellt durch die Tatsache, daß Marx gerade der kapitalistischen Ökonomie eine Vereinzelung der Produzenten unterstellt, so als ob gerade der Kapitalismus Atomismus sei (und also sich selbst nominalistisch deute) 74 . Marx meint, daß der Kontakt der Privatpersonen erst über den Austausch vor sich gehe und also ihr Kontakt nur entfremdet, verdinglicht, mytifiziert sei. Demgegenüber scheint es, als ob Marxens Alternative nicht-atomistisch, nichtnominalistisch sei. Das ist sie aber nicht, wie sich an den Stellen über die nachkapitalistische Gesellschaft zeigt, wo von einem „Verein freier Menschen" und von frei vergesellschafteten Menschen" die Rede ist —, Stellen, 73
Kapital I, MEW 23, 94. Vgl. die Robinsonade in der Schilderung der gutartigen Verhältnisse ebd. 92 f. 74 Vgl. Kapital I, MEW 23,108, wo vom „atomistisdien Verhalten der Menschen" die Rede ist. Vgl. auch Marxens Kritik an der Neigung der politischen Ökonomie zu Robinsonaden, also zu Analysen, die Einzelpersonen in abstrakte Beziehungen zueinander versetzen und so die gesellschaftlichen und geschichtlichen Umstände vernachlässigen. Solche Analysen sollen in ihrem Charakter dem Atomismus des Kapitalismus entsprechen. Eine Kritik am Beispiel Proudhons in Das Elend der Philosophie, MEW 4, 68 6. Vgl. auch S. Avineri, a.a.O. 82 f.
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die kein höheres kategoriales Prädikät beibringen, sondern nominalistisch nach der Anthropologie Feuerbachs gedacht sind 7 5 . D a ß die klassische englische Nationalökonomie selbst ein nominalistisches Verständnis von sich hat, das M a r x kritisiert, wenn er die Robinsonadeh geißelt, besagt nichts gegen unsere These — wie sollte man auch von Smith und Ricardo erwarten können, daß sie dialektisch gedacht hätten — , ändert im übrigen aber auch nichts daran, daß M a r x selbst einen solchen Nominalismus für seine Kritik des Kapitalismus verwendet. D i e Marasche K r i t i k setzt, wie gesagt, eine aus nominalistischen Gründen aufgestellte Hypostase, mit der konfrontiert der Mensch vereinzelt, atomistisdi-gesellschaftlich ist. D e r gesellschaftliche Bezug des Menschen braudit aber durch die Ware nicht unterbrochen und mystifiziert zu sein: durch die Ware bezieht der Mensdi sich auf Andere als solche, die für ihn das Leben und eine Befreiung von der Naturnotwendigkeit ermöglichen; all dies in einer kapitalistischen Ökonomie. I n unserem Zusammenhang — der Ontologie der Ware — kritisiert ein (allerdings dialektischer) Nominalist den Kapitalismus als nominalistisch. U n d so ist audi das Gegenkonzept, der „Verein freier Menschen" nominalistisch gedacht. Es ergibt sich also, daß M a r x in seiner Ontologie der W a r e nicht zeigen kann, daß die W a r e entfremdet oder daß sie ein Fetisch ist. D i e K r i t i k ist selbst Funktion eines dialektischen Nominalismus, eine Position, die als undialektisch-dialektische einen philosophischen Fehler enthält. M a n muß also umgekehrt Marxens Nominalismus als diejenige theoretische Position ansehen, die die von ihm beabsichtigte K r i t i k ermöglicht. N u r mit diesem Präjudiz läßt sich die Entfremdung durch die W a r e in erklärender Theorie zeigen. Erst in einer viel größeren Konkretion könnte die Kommunion der Menschen über die Waren — unter Einbeziehung des Geldes, des Marktes, des Kapitals usw. —
dennoch entfremdende Züge haben, die sich aber
gegebenenfalls durch politische Maßnahmen, philosophisch also durch E i n stellung in ein höheres konkretes Allgemeines, beeinflussen ließen. Aber davon später. I n unserem Zusammenhang gilt, daß man diejenige K o n k r e tion, in der Waren entfremdend sein mögen oder auch nicht, nicht aus einer noch abstrakten
Prinzipienanalyse
der entfremdenden
Ware
entwickeln
kann, nach der sich diese Konkretion dann eo ipso als entfremdend ergibt. Schon hier, w o durch die Analyse der Ware Weiteres pejorativ prinzipiiert werden soll, ist also K r i t i k zu üben. (Die nähere Diskussion des Problems der transzendentalen Linearität, das hier heranzuziehen wäre, kann erst später gegeben werden). Sicherlich gibt es Dinge — und darauf stützt sich die moderne Hochschätzung der Marxsdien Lehre vom Warenfetisch — , bei denen wir es 75
Vgl. Kapital I, MEW 2 3 , 9 2 ; 94.
Die ökonomische Fundamentalanalyse
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nicht gern sehen, daß sie Waren sind, gehandelt werden, kapriziösen Preisen unterliegen usw. Dies Odium gilt etwa, wenn wir vom radikalsten Fall des Verkaufs und Kaufs von Menschen absehen, im gegebenen Fall für Kunstwerke, also für Individuelles, oder für Dinge, die durch Verkauf und Kauf den übrigen Menschen gerade entzogen werden, da sie selten sind. Die Gründe für eine Kritik der Ware, wie sie sich aus diesen Überlegungen ergibt, sind gleichsam die existentielle Version der Gründe in der Marxschen Theorie (Gründe, die übrigens auch anklingen in den Pariser Manuskripten, wo das Geld, wie wir sahen, als existenzielles Odium eingeführt wird). Nun darf das Multiplikable sicher nidit vom Einmaligen her betrachtet werden, die Ware also nicht existenziell kritisiert werden. Aber spricht sich hier nicht doch der Kern der Marxschen Lehre aus, eben daß in der Warenwelt der Produzent nicht als Individuum genommen wird und ebenso sein Werk nicht als individuell (so sehr es bloßes Exemplar von vielen ist)? Sicherlich, aber diese Distanz, die wir zu Anderen einnehmen, wenn wir ihre Produkte als Waren kaufen, ist als ökonomische nicht nur unvermeidlich; sie ist audi in sich nicht ein Fall von Gesellschaftlichkeit als Funktion der Warendinge, sondern Freiheit, affirmativ-gesellschaftliches Verhalten von relativer Abstraktion. Die Abstraktion ist relativ, auch wenn wir den entwickelteren Fall des Geldes als Kauf mittel und den Markt einbeziehen: es handelt sich um Verhältnisse von Kunden und Anbietern, von Kollegen und Arbeitgebern usw. Die Abstraktion der als Markt pointierten Ökonomie ist eine Realität, aber sie ist ebenso Struktur eines menschlichen Ganzen. Nicht kann man diese Abstraktion isolieren und aus der Ware als Prinzip entwickeln, indem man der Ware als solcher und der Warenwelt all die negativen Bestimmungen gibt, die die Abstraktion herzuleiten gestatten. Die ökonomische Gesellschaft ist nicht nur das Negativ einer dinglichen Hypostase, sondern konkretes Allgemeines. Es ist zuzugeben: wenn die kommunistische Alternative konkret wäre, wenn sich zeigen ließe, was unmittelbare gesellschaftliche Totalität ist, wenn dies Konzept allgemein und strukturiert wäre, was gerade seiner Idee widerspricht, so möchte man, zwar nicht auf Grund der Marxschen Kritiktheorie — sie behielte ihre Mängel —, aber aus existenziellen Gründen, die in dem kommunistischen Alternativkonzept ihre Artikulation fänden, an der Ware und, erst recht, an Geld und Markt Kritik üben. Insofern hat die theoretische Beurteilung des kommunistischen Konzepts, die wir oben versucht haben — mehr wird später zu sagen sein —, große Bedeutung. Existenziell motiviert würden wir sonst vielleicht die negative Einschätzung der Gesellschaft als ökonomischer, wie Marx sie gibt, eher billigen und uns nicht auf das Detail der Kritiktheorie einlassen, von der dann ja nur gelten würde, daß sie die Dinge etwas zu negativ darstellt.
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Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie Die Arbeitswertlehre
als transzendentale
Ökonomiekritik
Wenden wir uns von unseren kritischen Bemerkungen zur Ware zum übergreifenden Zusammenhang des Kapitals zurück, so erscheint an der Marxschen Theorie der Ware bedeutsam, daß die Ware einerseits als maßgebliche ökonomische Kategorie anerkannt wird — die Theorie ist also geeignet, Anfang einer ökonomischen Sachtheorie zu sein, die, so sdieint es, wesentlich mit Ware und Wert zu tun hat —, daß die Ware andrerseits aber zurückbezogen wird auf ein tieferes Fundament, auf die Arbeit in ihrem zwieschlächtigen Charakter als anthropologische, gebrauchswertsetzende, und abstrakt-ökonomische, tauschwertsetzende. Die Ware ist, wenn nicht aus Letztem erklärt, so dodi explizit ausgelegt, in die Arbeitswertlehre eingestellt. Die bürgerliche Nationalökonomie hingegen hat nach Marx niemals die Frage gestellt, warum der (in den Formen von Wert und Wertgröße versteckte) „Inhalt jene Form annimmt, warum sidi also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt" 7 *. Die bürgerliche Nationalökonomie erscheint als eine Lehre, die die Warenform naiv verabsolutiert. Für Marx jedoch bietet sich die Möglichkeit, die bürgerliche Ökonomie zu rekonstruieren, darzustellen, und in eins damit durch die Arbeitswertlehre zu kritisieren. Hierzu dient die schon kritisch ausgelegte Ware als Ausgangspunkt; sie ist Prinzip für die Erklärung des Weiteren: des Geldes, des Kapitals, des Preises usw. Wir können hier noch nicht beurteilen, inwieweit sich auf der Ebene der Ware und der abstrakten Arbeit, oder auf der Ebene der Arbeitswertlehre, eine Gesamttheorie der Ökonomie geben läßt. Wir sehen zunächst als Wesentliches nur den Anspruch, daß die Marxsche Theorie Darstellung und Kritik der politischen Ökonomie sein will und daß sie damit erklärenden, durchgängig transzendentalen Charakter haben wird. Marx besitzt eine Prinzipiengrundlage — die Ware und den ökonomischen Arbeitsbegriff, der in einer Differenz steht zu einem anthropologischen Arbeitsbegriff —, mit der er einerseits die ökonomische Konkretion arbeitswerttheoretisch konstituieren will, andrerseits diese Konkretion nicht als gültige anzuerkennen braucht, vielmehr die Arbeit als anthropologische, wie auch den Gebraudiswert, die beide in der Ware als denaturiert erscheinen, geltend madien kann. Die kritische Erklärung der Ware verweist also auf ein Alternativkonzept zur Warenwelt und zur kapitalistischen Ökonomie. Marxens Vorhaben ist damit wesentlich verschieden von dem früherer Vertreter der Arbeitswertlehre, von denen auch gelten muß, daß sie sich um Erklärung der Ökonomie bemüht haben. Smith und Ricardo machen zwar die Arbeit f ü r den Tauschwert verantwortlich (letztlich jedoch mehr '· Kapital I, MEW 23, 95.
Der Prozeß der Ware zum Kapital
285
als Maß denn als Grund), kennen also audi dieselbe Trennung von Gebraudiswert und Tauschwert, übersehen aber die spezifische Wertform, die Warenform — wir können hinzufügen: die Warenform als transzendental nicht-ursprüngliche, zur Kritik herausfordernde. Smiths und Ricardos Aufmerksamkeit ist von der Wertgröße absorbiert77, und so kann etwa Ricardo, trotz seiner Arbeitswertlehre, wesentlich am Wertthema orientiert und Protagonist der Distribution sein78 und die unbefragte Warenebene für absolut halten. Die Theorie hat zwar erklärende Absicht, wird aber in ihrer Erklärung inkonsequent; was bleibt, ist eine Aufsammlung ökonomischer Gesetze. Marx dagegen kann diese theoretische Sachlage begreifen als Selbstverständnis einer Ökonomie, die ihrerseits Widersprüche enthält, Widersprüche, die eine Erklärung von einer tieferen Basis aus unabweislich machen, damit sich aber Kritik zuziehen. Die Theorie ist systematische Theorie in einem strengeren Sinne als bei Smith und Ricardo, aber als Theorie wird sie zur Kritik. Die transzendentale Anlage der Marxschen Kritik der Ökonomie gestattet es als erklärende — im Gegensatz zur Aufsammlung von ökonomischen Gesetzen —, die Ökonomietheorie linear zu durchlaufen bis einer an ihr vollbrachten, und das heißt gleichzeitig, bis zu einer immanent, durch sie selbst vollbrachten Kritik. Nach Früherem ist es klar, daß die Anlage der Theorie mitbestimmt ist vom Gedanken einer .Kritik der Wirklichkeit', also vom Marxschen Kritikprogramm, ebenso also auch von einer Reserve gegenüber philosophischer Theorie: die .philosophische' Grundlage, die Arbeit als anthropologisches Fundament, bleibt in der Hinterhand, dient nur zur Dijudikation oder als Folie der Kritik, bis sie schließlich hervortritt als die Grundlage einer Alternative zur kapitalistischen Ökonomie, die sich anbieten soll, wenn diese ihre Krisis erreicht.
3. Der Prozeß der Ware zum Kapital Auf der in der Fundamentalanalyse erreichten Ebene gibt nun Marx eine Herleitung schon etwas konkreterer ökonomischer Verhältnisse. Dazu entfaltet er zunächst die Ware, die als Leitfaden der Theorie dient. In motivierten Schritten wird zunächst die mit dem Austausch gesetzte Äquivalenz verschiedener Waren behandelt und in eins damit die Wertcharakteristik, die den Warengegenständen zukommen muß. Stufen hierfür " Kapital I, MEW 23,95 Anmerkung. 78 Vgl. Grundrisse 17: „Ökonomen wie Ricardo, denen am meisten vorgeworfen wird, sie hätten nur die Produktion im Auge, haben daher ausschließlich die Distribution als Gegenstand der Ökonomie b e s t i m m t . . D a z u Ricardo, Principles 1: „To determine the laws which regulate this distribution [of rent, profit, and wages] is the principal problem in Political Economy . .
286
Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
sind zunächst die relative Wertform, bei der Wert einer Ware in einer anderen ausdrückbar ist auf der Grundlage der in beiden aufgehäuften Arbeit, und die Äquivalentform, bei der eine Ware als Fixpunkt zur Schätzung anderer Waren gilt, damit an ihr selbst Wertausdruck ist und von Natur Wertform besitzt. Hier ist noch einmal deutlicher das Novum zu fassen, das die Ware setzt, nämlich daß durdi die Äquivalenz, welche Form einer Ware ist, die menschliche Arbeit zu abstrakt menschlicher Arbeit wird; dasjenige, worin die Gebrauchswerte differieren, fällt aus und läßt nur das Vergleichbare, die quantifizierte Arbeit, als Gemeintes übrig. Der so mit der Ware gesetzte Wertbegriff ist konstitutiv für eine Gesellschaftsform, in der sich Menschen unter diesem Gesichtspunkt zueinander verhalten.
Der entwickelte
Tausch
Der Prozeß geht weiter zur Entwicklung einer allgemeinen Wertform, wo die Äquivalenzen der Waren nicht nur je vom Zentrum einer bestimmten Ware aus gesehen sind, so als ob der Tausch von dieser Ware ausginge, sondern wo die verschiedenen anderen Waren untereinander nach der Äquivalentware getauscht werden. Diese Ware ist ihnen gegenüber die „ausgeschlossene" Ware — die sich nicht durch sich selbst bewerten kann, das wäre tautologisch —, aber in der alle übrigen bewertet werden können. Diese Warenart, bei der Naturalform und Äquivalentform gesellschaftlich verwachsen, funktioniert als Geld. Der Marxsche Gedankengang zur Herleitung des Geldes ist nach zwei Punkten hin zu beleuchten: einmal muß gezeigt werden, daß Geld ein notwendiges Korollar zur Ware ist; zum andern geht es um den Nachweis, daß Geld selbst Ware ist, wenn auch eine Ware besonderer Art. Zum ersten Punkt, der Herleitung des Geldes als Implikat der Ware, findet sich bei Marx außerordentliches Detail. Es werden, wie oben kurz resümiert, verschiedene „Wertformen" unterschieden, die in einer Progression bis zur Geldform führen. Der Grundgedanke ist allerdings nur, daß Äquivalente von Waren nacheinander von bloß zufälliger Zuordnung zueinander zu gezielter Zuordnung zu einem Standardäquivalent verfolgt werden, ganz so, wie sich Gleichungen aus einem ungeordneten Zustand nach 1 auflösen lassen. Marx sieht jedoch in dieser Hinführung zum Geld eine Progression von kategorial unterschiedenen „Wertformen", und man kann sich bemühen, hierin von einer Dialektik zu sprechen (von Zufälligkeit der Äquivalente zur Allgemeinheit eines Äquivalents), aber diese Dialektik wäre nur ein Ordnungsgesiditspunkt, der in seinem dialektischen Charakter ein Äußerliches bleiben muß79. n
J. Zelen^ hat sidi um eine minutiöse Kommentierung der genannten Progression unter dem Aspekt der Dialektik bemüht, der wir uns im einzelnen nicht an-
Der Prozeß der Ware zum Kapital
287
Der oben genannte zweite Punkt folgt aus dem ersten: Geld ist selbst Ware, und damit unterliegt es der Arbeitswertlehre. Wie für den Tauschwert bedeutsam war, daß er auf einem realen Wert auf Grund von Arbeit beruht und nidit allein durch den Tausch sich erst bildet und so konventionell wäre80, so gilt beim Geld, daß es genausowenig konventionell ist, vielmehr wie jede andere Ware auch in einem realen Wert fundiert ist 81 ; es ist nicht bloßes Zeichen, jedenfalls ursprünglich, an seiner transzendental frühen Stelle, nicht. Damit erweist sich die lineare Denkbewegung als different für die Deu-' tung der Wirtschaft: festgelegt auf den Arbeitswert muß sie von dort her diejenigen Phänomene der Wirtschaft, die es nahelegen, Tauschwert in der Preisform für autonom und Geld für konventionell zu halten — etwa Angebot und Nadifrage, Konkurrenz —, erst herleiten und in eins damit kritisieren. Dies gesdiieht in Marxens Theorie entsprechend an späterer Stelle (im Dritten Band des Kapitals). Aber zurück zu unserem Überblick, der dem Prozeß von der Ware zum Kapital gilt. Auf der Grundlage des Gesagten ist der Austausch erneut darzustellen. Wenn die Waren soziale Verhältnisse widerspiegeln, die selbst erst durch sie gesetzt sind, wenn also die Menschen sich in Waren und durch Waren zueinander verhalten, so ist zu den Beziehungen der Waren die Beziehung der Menschen hinzunehmen: „Die Waren können nicht selbst zu Markte gehn und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehen.. ," 82 . Es wird also ein Warenbesitzer unterstellt, der sich zu einem anderen Warenbesitzer nach den Gesetzen der Waren verhält. Die Menschen sind für einander Repräsentanten von Waren. Ihr Verhältnis ist ein Rechtsverhältnis, der Vertrag. Dabei verhalten sich die Menschen zueinander als solche, für die die Ware keinen Gebrauchswert hat — die Waren müssen also die Hände wechseln, als Wert „realisiert" werden, bevor sie sich als Gebrauchswerte realisieren können. Das kann individuell betrachtet schließen können. Siehe Die Wissenschaftslogik bei Marx und ,Das Kapital' (Ber-
8® 81 82
lin 1968) 75—94. Für unseren Gesichtspunkt ist die Diagnose der Dialektik im gegenwärtigen Zusammenhang nidit wesentlich. Es genügt, daß für eine linear rekonstruierende Methode auf der Grundlage der Ware das Geld der Ware nachzufolgen und gleichzeitig aus ihr zu folgen hat. Was auch immer für Alternativen in der Geldtheorie möglidi sind, es genügt, daß für die Marxsdie Theorie das Geld als zugestanden gelten kann, die Dialektisierung als soldie also weniger Interesse hat, daß aber die Theorieanlage Mängel bedingt, die am Ergebnis Zweifel aufkommen lassen. Wir kommen auf die Frage zurück. Zu Zelenys Deutung siehe audi unten 452 ff.
Vgl. Kapital I, MEW 23,75. Vgl. Kapital I, MEW 23,105.
Kapital I, MEW 23,99. Nach der linearen Theorieanlage sind die Menschen Funktion der Warendinge, so sehr es sich erweist, daß diese die Menschen nötig haben, die deren Funktion sind.
288
Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
werden, so daß sich zwei komplementäre Bedürfnisträger begegnen (wozu die allgemeine Wertform nicht erforderlich wäre), oder auch eben allgemein: der Verkäufer ist nicht am fremden Bedürfnis interessiert, sondern an der Realisierung des Werts seiner Ware. (Dies entspräche der Äquivalentform). Bezogen auf den Verkäufer ist seine Ware allgemeines Äquivalent für besondere Äquivalente fremder Waren. Aber da dies objektiv bei allen der Fall ist, wird ein objektiv allgemeines Äquivalent, das Geld — als ausgeschlossene Ware, auf höherer Stufe dann als Zahlungsmittel — gesellschaftlich geschaffen. Damit ist die Nützlichkeit der Dinge von der Nützlichkeit zum Austausch geschieden; die allgemeine Äquivalentform der „dritten" Ware hat einen eignen Gebraudiswert, einen „formalen Gebrauchswert" 83 ; es ist der Gebrauchswert, Tauschwert zu sein. Oder: „Der Gebrauchswert des Goldes als Geld aber ist, Träger des Tauschwerts zu sein"84. Damit ist gegenüber der anthropologischen Sicht des Tausches eine Umkehrung eingeleitet. Nicht mehr Tausch nach Bedürfnis, sondern indirekte Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer; sie ist Vorstufe und Voraussetzung des Marktes. Der Tausch überschreitet den Fall, wo Repräsentanten von Bedürfnissen sidi begegnen, wo jede Ware unmittelbar Tauschmittel für ihren Besitzer und Äquivalent für ihren Nichtbesitzer ist. Entsprechend geht die Geldform auf Waren über, die als Gebrauchswert weniger interessieren, aber zum Ausdruck der Wertgrößen geeignet sind, gleichförmige Qualität haben und nach Willkür teilbar sind: die edlen Metalle85.
Das Geld Während im Sinne der früheren Stufe der Analyse die Ware des Verkäufers Geld darstellt, weil von ihr aus sich alle Waren gegen sie kaufen lassen, ist es nun umgekehrt: „Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die andren Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist. Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eignen Resultat und läßt keine Spur zurück. Ohne ihr Zutun finden die Waren ihre eigne Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper. Diese Dinge, Gold und Silber sind zugleich die unmittelbare Inkarnation aller menschlichen Arbeit. Daher die Magie des Geldes"8®. Das Geld ist angebahnt als vom Austausch der Waren her bedingt; es folgt seine eigne Entfaltung. Es dient als Inkarnation von Wert und gleich" Kapital I, MEW 23,104. 81 Zur Kritik, MEW 13,105. 85 Kapital I, MEW 23, 104. Damit kann das Geld, wie als sonstige „dritte" Ware, audi reellen Gebraudiswert haben (als Sdimuck usw.). «· Kapital I, MEW 23,107.
Der Prozeß der Ware zum Kapital
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zeitig als Maß der Werte — wobei das Maß in „aliquote" Teile teilbar und doch fix ist, durch die Arbeitszeit bestimmt, die erforderlich ist, Gold zu beschaffen. Geld ist also für Marx, wie wir schon sahen, nidit konventionelle, abstrakte Recheneinheit — Rechengeld, an der Banknote, am Kreditwesen, am Zeichen orientiert —, sondern Ware. Es dient, indem es Tauschwert ist, als Maß der Werte nadi Arbeitszeit und, indem alles gegen es oder in ihm geschätzt wird, als Maßstab der Preise, als bestimmte Menge Metall 87 . Der Preis ist die „Geldform" der Waren, oder auch der „Geldname der in der Ware vergegenständlichten Arbeit" 8 8 . Es versteht sich, daß danach Geld, wohlgemerkt auf dieser frühen Stufe der Betrachtung, keinen Preis haben kann, definiert es dodi den Preis. Es hat Wert, insofern Arbeit — die Goldförderung — in ihm steckt, und kann im Wert wechseln. Ein Wertwechsel des Goldes beeinträchtigt seine Funktion als Maßstab der Preise nicht; die Warenwerte drückten sich dann nur in höheren oder niederen Preisen aus. Daß Geld selbst einen Preis haben kann, wie sich im Zins und in Währungsrelationen zeigt, muß für Marx ein spätes Thema sein, das erst aus der Arbeitswertlehre für die Waren und das Geld entwickelt werden muß. Interessant in unserem Zusammenhang sind Marxens Bemerkungen zu der These, daß es eine unmittelbare Gleichsetzung von Waren nach der Arbeitszeit ohne den Weg über das Geld, oder eben sog. „Arbeitsgeld", geben könne 89 . Dies bedeutete für Marx, daß Waren nur Produkte unabhängiger Individuen und somit ungesellschaftlich wären, Produkte verein-· zeiter unabhängiger Privatarbeiten. Es gäbe nur Privataustausch. Die „Arbeit auf der Grundlage der Warenproduktion" wird aber erst gesellschaftlich „durch die allseitige Entäußerung der individuellen Arbeiten". D. h. die Eigengesetzlichkeit der Warenwelt muß — als Form der entfremdeten Kommunikation der Menschen — akzeptiert werden, und zu dieser gehört das Geld. Es ist nicht möglich, Waren zu produzieren, ohne sie als Waren auszutauschen, und damit ist das Geld — das „adäquate Dasein des Tauschwerts" — mitgesetzt. „Unterstellt Gray aber die in den Waren enthaltene Arbeitszeit als unmittelbar gesellschaftliche, so unterstellt er sie als gemeinschaftliche Arbeitszeit oder als Arbeitszeit direkt assoziierter Individuen. So könnte in der Tat eine spezifische Ware, wie Gold und Silber, den andern Waren nicht als Inkarnation der allgemeinen Arbeit gegenübertreten, der Tauschwert würde nicht zum Preis, aber der Gebrauchswert würde audi Zur Kritik, MEW 13, 54 f. — Wir halten uns im folgenden mitunter an dieses Werk, wenn seine Formulierungen treffend ersdieinen. Zu seinem Verhältnis zum Kapital vgl. J. Zelenf, a.a.O. 90 f. 88 Kapital I, MEW 23,110; 116. 8» Zur Kritik, MEW 13,66 ff. (zu Gray und Proudhon); Kapital I, MEW 23,109 f. Anmerkung (zu R. Owen). Eine nähere Kommentierung bei R. Rosdolsky, a.a.O. 128—37. 87
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Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
nidit zum Tauschwert, das Produkt würde nicht zur Ware, und so wäre die Grundlage der bürgerlichen Produktion selbst aufgehoben." Soweit will Gray aber nicht gehen, denkt er sich doch eine Nationalbank, die den widersprüchlichen Forderungen von privater Warenproduktion und Austausch der Waren als Nicht-Waren genügen soll. Marx gelangt zu einer scharfen Ablehnung. Allerdings sagt er nicht positiv, was er von den Vorschlägen Grays hielte, wenn die Wirtschaftsform tatsächlich die der kommuni-· stisdien Assoziation wäre. Die nationale Regie bei Gray müßte in dér einen oder anderen Form ja wieder auftreten. Marxens Antwort wäre wohl, daß der zunächst zugestandene Austausch von Waren zu etwas anderem würde, daß also — wie es später in der Kritik des Gothaer Programms heißt — „jedem nach seinen Bedürfnissen" gegeben würde 90 . Das setzte eine Umwandlung der Produktions- d. h. Eigentumsverhältnisse voraus, die vorerst unausgedacht ist. Marx zieht sich an unserer Stelle auf eine im Grunde terminologische Schwierigkeit zurück, daß es keine Waren ohne Geld oder keine ungesellschaftlichen Waren geben könne, dies aber Entfremdung bedeute, so daß im Alternativfall beides verschwinden müßte. Die Frage des Austausches und der Distribution in einem solchen Alternativfall wird nicht näher bedacht. Dieser Fall stünde in Analogie zur Primitivform eines „naturwüchsigen Gemeinwesens"91, aber nunmehr in einem gesamtgesellschaftlichen, entwickelten Rahmen, jedoch dem Prinzip nach in Form der Hauswirtschaft.
Wert und Preis Bevor wir die Marxsche Gedankenentwicklung weiterverfolgen, bedarf es einer allgemeinen Betrachtung des Verhältnisses von Wert und Preis. Marx muß für die transzendental frühe Stufe seiner Betrachtung einen natürlidien Preis ansetzen, der dem Wert konform ist (allerdings nicht „natürlicher Preis" genannt wird 92 ). Der Preis kann ja nicht einfach ignoriert werden, ist doch mit der Ware Austausch und Geld gesetzt und also ein Preis neben dem Wert gegeben. Der Preis darf aber auch nicht als konventionell und dabei als einzige ökonomische Kategorie für den Austausch verstanden werden, muß vielmehr im Wert fundiert sein. Somit müssen beide verschieden und unverschieden, nämlich konform sein. Insofern Abweichungen des Preises, soweit es sie gibt, erst erklärt werden müssen, wird der Preis ein spätes Thema sein. Auf der früheren Stufe der Betrachtung gilt der Preis ,0
MW III, 2,1024. Zunächst allerdings mit dem Übergangsstadium des Tausches von Arbeit und der Verteilung von Gütern mittels Besdieinigungen über geleistete Arbeit. " Vgl. Kapital I, MEW 23, 102. Vgl. unten 519 ff. ,s Vgl. unsere Ausführungen oben 269 und unten 373.
Der Prozeß der Ware zum Kapital
291
als dem Wert konform und wird insofern, als verschieden vom Wert, den Charakter einer bloßen Form, der Geldform, haben, die wenig hervortritt. In nicht-transzendental orientierten Analysen der Marxsdien Lehre wird diese systematisch frühe Auffassung vom Preis als konform mit dem Wert Ansatzpunkt für eine Kritik. Wenn der Preis dem Wert konform ist, wenn er in der Arbeitsmenge fundiert ist, so müßte der Preis gleiche Größen der wertbestimmenden Faktoren in der gesamten Wirtschaft — vorgreifend können wir sagen: denselben Exploitationsgrad — voraussetzen; der natürliche Preis beruhte auf Arbeit bei überall gleichem Exploitationsgrad: „To say that relative prices correspond to relative values is the same thing as to say that the rate of exploitation is equal in all industries" 93 . Da dies in der Konkretion nicht erfüllt ist, da die einzelnen Industrien verschieden viel Kapital einsetzen und doch einheitliche Profitraten erzielen, muß der Exploitationsgrad verschieden sein und müssen damit Wert und Preis differieren: „The rate of exploitation therefore cannot be uniform, and relative prices do not correspond to values" (ebd.). Wir kommen in späterem Zusammenhang auf diese Frage zurück94. Für den jetzigen Zusammenhang gilt, daß nach der transzendentalen Absicht Marxens das Verhältnis von Wert und Preis an früher Stelle anders zu stehen kommen muß als an späterer; eine Konfrontation der abstrakten, wertkonformen Preise mit den konkreten, abweichenden Preisen — die einen Widerspruch aufweisen müßte — ist nicht zulässig. Vielmehr muß gelten, daß die frühe Stufe in der Frage des Preises fiktiv ist, die fiktive Annahme von wertkonformen Preisen machen muß, eben um die Konkretion allererst zu erklären. Dazu gehört, daß zunächst die ökonomisch preisbestimmenden Größen als ohne Einfluß auf den Preis genommen werden.
Die
Zirkulationsformeln
Nachdem nun Ware und Geld dargestellt sind, ist die Zirkulation der Waren und des Geldes die anstehende Aufgabe. Die Zirkulation der Waren ist f ü r Marx ein „gesellschaftlicher Stoffwechsel", der in einem „Formwechsel" vor sich geht, „worin sich die Doppelnatur der Ware als Gebrauchswert und Tauschwert entfaltet, ihr eigner Formwedisel sich aber zugleich in bestimmten Formen des Geldes kristallisiert" 95 . Vorausgesetzt "J. Robinson, Essay on Marxian Economics (London 1960) 15. Hiernach als „Essay" M
zitiert. Siehe unten 365 ff.
»5 Zur Kritik, MEW 13, 69. Vgl. Kapital I, MEW 23,119. — Für das folgende sei hingewiesen auf die nähere Kommentierung an Hand der Grundrisse R. Rosdolsky, a.a.O. 174 ff.
durch
292
Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
ist also eine Welt von Waren, damit auch eine entwickelte Arbeitsteilung, so d a ß Austauschakte überhaupt stattfinden, u n d d a ß „die Waren als preisbestimmte Waren in den Austausdiprozeß eingehen oder innerhalb desselben als Doppelexistenzen füreinander erscheinen, reell als Gebrauchswerte, ideell — im Preise — als Tauschwerte" 96 . Weiter ist vorausgesetzt eine K o n k u r renz, die den Austausch zum normalen macht, d. h. die bewirkt, d a ß keine Ware einem Monopol oder Oligopol unterliegt. Diese Voraussetzung ist hier n u r impliziert und wird erst später, im Dritten Band, eingeholt 97 . M a r x sieht die Zirkulation nach zwei Schemata: W — G — W und G — W — G. Die erste Formel stellt Verkauf und erneuten Kauf dar, u n d zwar zunächst, im einfachsten Fall, Kauf aus dem Erlös des Verkaufs, so daß beide Sdiritte eine Sukzession ausmachen. Die Formel stellt dann den Prozeß einer „Metamorphose der Ware", u n d zwar der im ersten W genannten, dar 9 8 . Beim Verkauf wird ein reeller Gebrauchswert, der ideell Tauschwert (W) ist, zum ideellen Gebrauchswert, der auch reeller Tauschwert (G) ist. Dem entspricht die umgekehrte Bewegung beim Kauf. D a s Schema W — G — W h a t eine abstrakte Einfachheit, indem es unterstellt, es sei nur, von W ausgehend, das Schicksal des in W liegenden Wertes zu verfolgen. Konkreter realisiert heißt das Schema aber auch, daß, wenn W seine erste Metamorphose — zu G — durchmacht, eine andere W a r e schon im zweiten Stadium der Metamorphose ist — schon G geworden w a r u n d nun f ü r die Ware getauscht wird, die ihrerseits Geld wird. W ist nicht nur Voraussetzung f ü r G, sondern G auch f ü r W (was M a r x selbst einen fehlerhaften Zirkel der Voraussetzungen nennt, wie es die Zirkulation sei 99 ). Das Schema W — G — W ist also nicht an ihm selbst konkrete Analyse, sondern die Abstraktion eines Aggregats von interdependenten Austauschprozessen, reduziert auf komplementäre W — G und G — W Prozesse. Der zweite Schritt ist nicht nur sukzessiv, sondern auch gleichzeitig, in einem anderen Wertschicksal als erster Schritt stattfindend, zu nehmen. G kann nun einen Ruhepunkt bilden, also — was später ausgeführt wird — Reservefonds, Schatz, K r e d i t werden oder — im systematisch w
Zur
97
Kritik, MEW 13,69. Vgl. Kapital I, MEW 23, 119. — Das Gesagte wider-
spricht nicht unserem früheren Einwand (oben 262; 266 ; 270 f.), daß für den Marxsdien Warenbegriff die Verschiedenheit der Gebrauchswerte (und der Tauschpartner) abgeblendet wird oder der Gebraudiswert nur als abstrakt-ontologisdie Bedingung fungiert. D i e für die Aufstellung des Begriffs der Ware ignorierten Bedingungen als ökonomisch konkrete werden von Marx in der Zirkulationsanalyse durchaus mitgemeint. Die Analyse erscheint so zwar als konkrete, ist aber doch immer schon betroffen vom negativen Gehalt des abstrakten Warenbegriffs. Kapital III, MEW 25, 187. Böhm-Bawerk hat auf diesen Umstand aufmerksam gemacht a.a.O. 175—78.
»8 Zur Kritik, MEW 13, 69. Kapital I, MEW 23, 120. 99 Zur Kritik, MEW 13, 72.
Der Prozeß der Ware zum Kapital
293
einfachsten Fall — zum Kauf führen. Im Sinne eines durch das Schema dargestellten Wertschicksals erscheint der Kauf als „Schlußmetamorphose" der Ware 100 . Vom Geld ausgehend besteht dabei auf Grund von dessen Allgemeinheit die Möglichkeit, entweder ein einziges Warenäquivalent einzuhandeln, oder auch mehrere, die zusammen das ganze Äquivalent ausmachen. Marx stellt die Sachlage auch von Hegel her dar: W beim Verkauf ist besondere Ware, G ist allgemeine Ware, W als gekaufte ist einzelne Ware 101 , wobei sich die Extreme in der Mitte, der Allgemeinheit zusammenschließen, also im Geld, und so einen Hegeischen Schluß bilden. In der Deutung der Formel W — G — W erscheint dann das zweite W, das Konsumgut, als Ziel, als Einzelnheit. Erst die komplementäre Formel wird einen entsprechenden Akzent auf die Allgemeinheit legen. Die zunächst betrachtete Bewegung W — W ist der „Stoffwechsel". In ihr ist Geld Vermittelndes des Stoffwechsels, ist „Tauschmittel", „Kaufmittel" oder „Zirkulationsmittel"102. Es tritt als Eignes zwisdien W und W, macht den direkten Tausch zum indirekten, und ist damit seinerseits wie W mit einer Identität ausgestattet, die im Wert begründet liegt. Komplementär also zur betrachteten Bewegung kann man die Identität dessen, was zirkuliert, nidit nur von der Ware, sondern auch vom Geld her sehen. Der Prozeß G — W — G erscheint zunächst nur als komplementäre Analyse zu der vorigen — man kann das Wertschicksal von etwas, das als Geld auftritt, verfolgen —, und dies ist sinnvoll etwa für die Analyse der Zirkulationsmittel, wie sie eine Bank anstellen muß. Man betrachtet G also als ein im Geldstück oder in der variierenden Anzahl von Geldstücken oder Noten eine Identität bewahrendes Umlaufmittel. Sein Umlauf kann dann studiert werden nach Menge, Einfluß auf Verkäufe, Käufe und Preise. Es zeigt sich, daß Geld wertmäßig die Warenwerte verdoppeln muß, allerdings abhängig von der Umlaufgeschwindigkeit. (Wir übergehen hier Marxens nähere Ausführungen zur Geldtheorie wie zum Papiergeld, zu Münze, Geldzeichen usw.)
Geld als Ziel Aber der Prozeß hat für Marx, insofern Geld ja Ware ist, auch die Bedeutung, daß der Besitz der Ware ,Geld' Ziel ist. Dies ist auch für den Prozeß W — G — W insofern schon vorausgesetzt, als jemand an G, wenigstens vorübergehend, interessiert sein muß, auf daß der Austausch stattfinde —, die komplementäre Formel G — W — G gestattet aber weiter die Frage, ob nicht Geld als Ziel der Transaktion vorkommt. Man kaufte 100 101 102
Zur Kritik, MEW13, 73. Vgl. Kapital I, MEW 23,124. Zur Kritik, MEW 13, 76. Zur Kritik, MEW 13, 77; Kapital I, MEW 23,128 ff.
294
Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
dann, um zu verkaufen103, und dies erscheint Marx als die „herrschende Form der bürgerlichen Produktion"104. Während nun aber bei W — G — W die Extreme verschiedene Waren von derselben Wertgröße sind, so scheint es „abgeschmackt", Gold gegen Gold auszutauschen105, wenn kein Wertdifferential entsteht. Es ist also, wenn die Bewegung G — W — G sinnvoll sein soll, als beabsichtigt zu unterstellen, daß die Extreme G und G „wenn nicht qualitativ, so quantitativ verschieden" seien106. Es ist ein Austausch von Nicht-Äquivalenten verlangt — wozu Hintergründe in den Produktionsverhältnissen gehören —, der hier nur in seinem Reflex in der Zirkulationssphäre betrachtet wird. Es wird auf den Mehrwert, wie er in der Produktionssphäre anfallen soll, noch nicht eingegangen, wiewohl er die Formel G — W — G in der letzteren Bedeutung, daß in ihr Geld als ein Ziel zum Ausdruck kommt, allererst motivieren müßte. Es könnte nun sein, daß der Zyklus G — W — G nur dadurch zustandekommt, daß immer jemand in der Phase des Verkaufs (W — G) ist, und dann wieder kauft (G — W), so daß G nur funktionell beim Warenwechsel eintritt. Ein nächster wird Geld ,kaufen' wollen mit seinen Waren, um eine neue Ware kaufen zu können, und ein anderer wird Ware kaufen" wollen, also Geld hergeben. So könnte Geld rein funktional den Stellenwechsel der Waren verdoppeln, ohne daß ein Kreislauf G — W — G anders statthätte als so, daß Geld im Interesse des Kaufs und Verkaufs (im Sinne des Kreislaufs W — G — W) eintritt. Die Verfolgung einer gleichsam physischen Identität von G wäre — außer für Probleme des Geldumlaufs, wie sie eine Notenbank angehen — uninteressant, ebenso brauchte kein Eigentümer unterstellt zu werden, der ein Interesse an G hat. Geld wäre eine Hilfskategorie für die Warenkategorie und nidit schon ein Gegenstand eines eignen Kreislaufs. Andrerseits ist schon klar geworden, daß Marx einen absoluten Wertbegriff gerade auch deshalb aufstellt, um das Geld und gleichzeitig seine Kumulierbarkeit dartun zu können. Wenn Geld Form eines absoluten Wertes ist, so wird auch ein Kreislauf G — W — G sinnvoll sein, jedenfalls wird die Absicht bestehen, ihn als solchen darzutun. Es geht also darum, innerhalb der (in transzendentaler Betrachtung frühen) Zirkulationssphäre den Vorrang des Geldes als Ziel plausibel zu machen. (Dies, daß das Geld Ziel ist, kann ja nicht in derselben Weise zugestanden werden wie, daß die Kategorie Ware die Kategorie Geld involviert). Geld ist zunächst Einheit von Wertmaß und Zirkulationsmittel. Es besitzt aber davon unterschieden auch selbständige Existenz; „in seiner einfachen metallischen Leibhaftigkeit ist Gold Geld oder Geld wirkliches Gold". Im Verhältnis zu den anderen Waren: „Alle Waren stellen in ihren 10S
Zur Zur 105 Zur 10 ° Zur 104
Kritik, Kritik, Kritik, Kritik,
MEW MEW MEW MEW
13,101. 13,101. 13,101. Kapital 13,102. Kapital
I, MEW 23,162; 165. I, MEW 23, 165.
Der Prozeß der Ware zum Kapital
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Preisen eine bestimmte Summe Gold vor, sind also nur vorgestelltes Gold oder vorgestelltes Geld, Repräsentanten des Goldes, wie umgekehrt im Wertzeichen das Geld als bloßer Repräsentant der Warenpreise erschien. Da alle Waren so nur vorgestelltes Geld sind, ist das Geld die einzig wirkliche Ware. Im Gegensatz zu den Waren, die das selbständige Dasein des Tauschwerts, der allgemeinen gesellschaftlichen Arbeit, des abstrakten Reichtums, nur vorstellen, ist Gold das materielle Dasein des abstrakten Reichtums ... Gold ist daher der materielle Repräsentant des stofflichen Reichtums . . . Es ist zugleich der Form nach die unmittelbare Inkarnation der allgemeinen Arbeit und dem Inhalt nadi der Inbegriff aller realen Arbeiten. Es ist der allgemeine Reichtum als Individuum" 107 . Es wird „zum Gott der Waren" 108 . Die Magie, die schon in der Kritik des Fetischcharakters Ware anklang, ist näher entfaltet und dem Geld zugesprochen. Die Suggestion ist, daß hier schon ein Motiv vorliege für die folgende Bewegung. Sie muß aber ihrerseits strenger dargetan werden. Geld kann in Ruhe sein zwischen Verkauf und Kauf, suspendierte Münze sein. Es ist gewissermaßen die Überflußform der Werte, wird „Reichtum in präservierter Form", „Schatz", „Kristall des Zirkulationsprozesses" 109 . Seine Allgemeinheit verbürgt seine stete Wirkung; es hat, so sdieint es, an ihm selbst ein Motiv für seine Position in der Bewegung G — W — G als Ziel. Geld läßt sich am besten erhalten, am leichtesten stapeln. Hinzuzunehmen ist das Motiv des Geizes110. Marx meint weiter, als Quantitatives habe Geld, wenn es Schatz wird, keine immanente Grenze, in seinem Begriff liege die unendliche Reihe, die Sdiatzbildung sei ein „endloser Prozeß". Noch anders pointiert: Geld dient nicht qualitativ zu Zwecken; es hat seinen Zweck nur quantitativ, in seiner Vermehrung. Es ist so reflexiv, hat sich zum Selbstzweck: „Ware wird verkauft, nicht um Ware zu kaufen, sondern um Warenform durch Geldform zu ersetzen. Aus bloßer Vermittlung des Stoffwechsels wird dieser Formwechsel zum Selbstzweck"111. Dies ist zunächst nur eine im Geld liegende begriffliche Möglichkeit. Der Übergang zum Geld als Ziel und Zweck, zur Dominanz des Schatzes und letztlich Kapitals, ist damit nodi nicht dargetan. Es handelt sich nur um eine kategoriale Diagnose des Geldes. Und insofern der dahinterstehende Mensch, der Schatzbildner — oder der „rationelle Schatzbildner", der „Kapitalist" 112 , herangezogen wird, wird auf die „Bereicherungssucht" rekurriert — ja beides, Geld und Mensdi, werden verknüpft, wenn es heißt, Geld sei „Gegenstand wie Quelle der Berei107 198
110 111 112
Zur Kritik, MEW 13, 102 f. Zur Kritik, MEW 13,103. Zur Kritik, MEW 13,105 f. Zur Kritik, MEW 13, 106. Kapital I, MEW 23,147. Kapital I, MEW 23,144. Kapital I, MEW 23,168.
296
Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
cherungssudit" 118 —, aber dies ist eine positiv-anthropologische oder audi soziale Motivierung, eine nicht streng ökonomische, die in der Linie der Erklärung in dem vorliegenden Zusammenhang nicht befriedigen kann. Wieso überschreitet ein Schatz oder ein Kapital seinen faktischen U m f a n g ? M a r x spricht von einem „Automaten" 1 1 4 der Bewegung des Tauschwerts, aber konkret liegt darin ein Vorgriff auf so etwas wie Zinsen, also auf gesellschaftliche Verhältnisse, wo ein Bank- und Kreditwesen, und also die Figur G — G ' erklärt sind, oder auf Investition in einer ein Inkrement abwerfenden Produktion, w o die Figur G — W — G' vorliegt, eine Möglichkeit, die ebenfalls noch nicht erschienen ist. Der Übergang v o n einer begrifflichen Möglichkeit (der quantitativen schlechten Unendlichkeit des Geldes) zur gesellschaftlichen Wirklichkeit der Akkumulation von Kapital ist nicht hergeleitet, so sehr letzteres als Folge der vorliegenden Analyse begriffen werden soll. D a ß es G — W — G geben muß, ergibt sich aus einem in Geldform sich abwickelnden Austausch; aber daß G Sdiwerpunkt u n d Ziel wird, verlangte eine andere Motivierung, sonst bliebe es bei der funktionalen Rolle des Geldes als Zirkulationsmittel. Es ist interessant, d a ß Marx auf eine entsprechende aristotelisdie Analyse hinweist, w o von οικονομική und χρηματιστική die Rede ist (die M a r x als W — G — W und G — W — G interpretiert 1 1 5 . Aber auch bei Aristoteles handelt es sich nur um eine Begriffserklärung, nämlich daß Reicht u m im Sinne der χρηματιστική unendlich dem Begriff nach sei, nicht um eine Erklärung, wieso es zu Geld als Ziel kommt. Allerdings gibt es bei M a r x nodi weitere unterstützende Überlegungen, ζ . B. so etwas wie eine Phasenverschiebung von Kauf und Verkauf, die f ü r ihn schon naturwüchsig ist. Im Schatz war Geld NichtZirkulationsmittel, es kann aber auch Zirkulationsmittel sein, ohne Kaufmittel zu sein. D a n n w i r d es Zahlungsmittel. Diese Stufe wird entwickelt aus der Auflösung der Wechselseitigkeit im Prozeß der Zirkulation. Es kann mit künftigem Geld gekauft werden — das Geld ist nur durch den Käufer als Person und seinen Kaufwillen repräsentiert, was M a r x beargwöhnt —, oder es kann eine künftige Leistung vorweg bezahlt werden. Solche „Zeitverkäufe, worin beide Pole des Verkaufs getrennt in der Zeit existieren" — etwa die vorausbezahlte Miete, der Vorgriff auf die Ernte — sind naturwüchsig. Verk ä u f e r und Käufer werden „Gläubiger und Schuldner" auf G r u n d einer Phasenverschiebung von Kauf und Zahlung 1 1 6 . Durch das Auseinanderfallen der wechselseitigen Momente v o n Kauf und Verkauf tritt der Zirkulationsprozeß als gesellschaftlidie N o t w e n d i g 113 114 115 116
Zur Kritik, MEW 13,110. Vgl. Kapital I, MEW 23, 168. Zur Kritik, MEW 13,109. Politik 1257 b 22 f. Zur Kritik, MEW 13,115 Anmerkung. Kapital I, MEW 23, 167 Anmerkung; 179.
Zur Kritik, MEW 13,116—19.
Der Prozeß der Ware zum Kapital
297
keit auf, als Zwang zum Verkaufen, um zahlen zu können. Das Motiv des Verkaufs ist zu zahlen. Damit ist ein Beispiel f ü r die gesuchte Richtung des Zirkulationsprozesses gegeben: Geld ist „Resultat" 117 . Indem dies Auseinanderfallen der Momente, diese Umkehrung der Sequenz von Kauf und Verkauf, auf den Begriff gebradit ist, sdieint sich eine bessere Motivierung dafür zu ergeben, daß Geld Ziel und Zweck ist. Aber audi hier zeigen sich nur Möglichkeiten, ,Gestalten' von ökonomischem Verhalten, ganz abgesehen davon, daß mit ihnen in der Ordnung des Verstehens betrachtet schon ein Vorgriff auf das Kreditwesen enthalten ist, das andrerseits ja erst aus dem Geld in seiner Rolle als Ziel erklärt werden soll. Marx meint, d a ß das Verhältnis von Gläubigern und Schuldnern einerseits die „naturwüchsige Grundlage des Kreditsystems" bilde, „aber vollständig entwickelt sein kann, bevor das letztre existiert" 118 . Aber qua naturwüchsig ist das Verhältnis dann nicht als notwendig verstanden, sondern nur als Gestalt, soweit sie vorkommt, auf den Begriff gebradit. Andrerseits, indem es die Grundlage f ü r das Kreditwesen sein soll, wird dieses aus dem pejorativen frühen Verhältnis gedeutet werden. Die Motivierung von Geld als Ziel ist selbst petitio zur Herleitung dessen, was später, gegründet auf die Motivierung, über viele Zwischenglieder, eine Deutung der konkreten Ökonomie im gewünschten Sinne gestattet, wie wir dies sdion mehrfach feststellten. Die pejorative Abstraktion ist selbst Voraussetzung der Analyse. Dabei ist die Pointe, daß sie das Dargestellte als naturwüchsig, als immer schon vorfindlidi, als etwas, das es gibt, ansetzen kann; die transzendentale Theorie scheint nur der Wirklichkeit nachzugehen, wenn sie eine Vorherrschaft des Geldes statuiert. Aber stellen wir diesen Punkt noch zurück. Marx behandelt im schon Geschilderten und im noch Folgenden eine Prozession von Gestalten, geordnet im Sinne einer zunehmenden Verkehrung des Zwecks des ökonomischen Austausche von Gebrauchswerten über Waren zu Zahlungen und Akkumulation von Geld als Kapital. Beim sich akkumulierenden Geld angelangt, erscheint dies als magisch, und doch scheinbar erklärt als magisch. Es ist auf mehrererlei Weise motiviert in seinem magischen Charakter: durch Bereicherungssudit, durch Phasenverschiebung von Kauf und Verkauf, durch Antizipation der möglichen Vermehrung auf höheren Stufen.
Der Mehrwert als
Implikat
Wird die skizzierte Bewegung zum Geld als Ziel des Austausches zugestanden, so muß, soll diese Bewegung sinnvoll, d. h. transzendental konstitutiv f ü r Weiteres, sein, ein quantitativer Unterschied des ersten und des !" Zur Kritik, MEW 13,119. 118 Zur Kritik, MEW 13,119.
298
Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
zweiten G, also von G und G', bestehen. Diese Nichtäquivalenz, diesen Wandel, muß ein Selbes, eben Geld, vollbringen. Es erscheint damit als Subjekt, als Identisches in der Verschiedenheit, und zwar als „Subjekt eines Prozesses" 118 , wenn auch typischerweise auf dieser Stufe der Analyse nodi nicht zu sehen ist, wie ein Inkrement, ein „Mehrwert" 120 , entsteht. Jetzt meldet sich wieder die Ordnung des Verstehens, wonach eine Vermehrung von Geld erst noch zu erklären wäre. Es kann zwar ungleiche Käufe und Verkäufe geben, aber dies ist der Bewegung W — G — W zufällig, nämlich nur dann der Fall, wenn beide Seiten gewinnen, wenn beiden gedient ist 121 . Ein solcher Fall wäre gegeben, wenn die Gebrauchswerte im Vordergrund des Interesses stehen. Für G — W — G jedoch wird es notwendig sein, daß ungleicher Kauf und Verkauf stattfindet, und also müßte dieser Fall transzendental erklärt werden können. Aber bisher, ohne das Auszeichnende, inwiefern bei G — W — G ein Inkrement entsteht, sind die beiden Formeln nur Aspekte ein und derselben Warenzirkulation, sind funktionale Schemata für diese. Marx wendet sich auf Grund seiner Analyse der Zirkulation ausdrücklich dagegen, daß schon in dieser als solcher ein Inkrement, ein Mehrwert im Sinne eines Aufschlags entstünde, d. h. schon hier systematisch seine Stelle hätte 122 . Es ist nicht einzusehen, daß jemand auf ungleiche Käufe und Verkäufe einginge; es handelte sich um Betrug, der nicht lange durchgehen kann, oder der Aufschlag käme auf den Verkäufer bei der nächsten Transaktion zurück. Oder, für die ganze Zirkulationssphäre betrachtet: auch wenn auf der einen Seite ein Minus und auf anderen ein Plus entstanden wäre — ein Mehrwert wäre nicht entstanden. Im Zuge einer erklärenden Progression darf also in der Zirkulation ein Inkrement nicht geltend gemacht werden. Sein Ort ist erst die (nach der Mehrwerttheorie gedeutete) Produktion und — mit Voraussetzung dieses Theorems — das Handelskapital 128 . Das Handelskapital, bei dem es Margen und Zins gibt, kann also erst später, nachdem der Mehrwert an seinem systematischen Ursprungsort dargetan ist, als erklärbar auftreten (im Dritten Band des Kapitals) und somit auch nicht zur Erklärung des Mehrwerts herangezogen werden. Die Sachlage ist also, daß eine Zirkulation, die in G ' terminiert, ein Widerspruch ist: es besteht eine Forderung nach Gleichheit von G und G', und doch wiederum besteht das Ziel von G', ohne das man G — W — G ja nicht durchliefe; nur durdi G' könnte ein teleologischer Zusammenhang, ein subjektiver Prozeß auf Geld gerichtet sein. Sonst handelte es sich nur I, MEW 23,169.
519
Kapital
120
Kapital I, MEW 23, 165. Kapital I, MEW 23, 172.
121 122 123
Kapital I, MEW 23, 173—78. Kapital I, MEW 23,178—80. — Zu den Merkantilisten, die Preisüberschüsse aus dem Austausch herleiten ebd. 539.
Grundzüge der im K a p i t a l geübten Methode
299
um eine diagrammatiseli vereinfachte Darstellung der Umlaufmittel in einer Wirtschaft 124 . Die Theorie drängt also — durch ihre eigne Abstraktion, bei der sich Widersprüche zeigen, getrieben — weiter zu einer Erklärung des Inkrements als Lösung des Widerspruchs.
4. Grundzüge der im Kapital geübten Methode Wir haben die Darstellung des von Marx selbst aufgestellten methodologischen Programms, der ökonomischen Fundamentalanalyse und des Prozesses der Ware zum Kapital, schon stark mit Reflexionen belastet. Entsprechend der Nahperspektive auf das jeweilige Thema haben wir Fragen nach der zureichenden Motivierung der einzelnen Schritte gestellt, aber auch schon systemtheoretische Punkte in allgemeinerer Form erörtert. Jetzt geht es um eine zusammenfassende, wenn auch noch vorläufige, kritische Stellungnahme zu der in der Fundamentalanalyse und im anschließenden Prozeß geübten Methode, die sich mit dem Programm durchaus nicht völlig deckt. Wir abstrahieren gewissermaßen induktiv die tatsächliche Methode, und zwar nunmehr unter stärkerer Betonung der Dialektik. Im Blick auf das ganze Werk wird diese Stellungnahme erweitert wiederholt und überholt werden müssen.
Die Dialektik als Vermeidung einer affirmativen
Synthese
Wie wir sahen, handelt es sich bei Marx um eine eigentümliche Fundamentalanalyse: kein Fundament wird in ihr als Bleibendes, Wahres, Maßgebendes ausgezeichnet; vielmehr läuft uns ein Prozeß in Richtung auf eine Ökonomiekritik davon. Wir sprachen von einem .Weitertreiben' der Theorie. Eine Reflexion auf die Fundamentalanalyse und den von ihr ausgehenden Prozeß muß es wesentlich mit der Theorie als einer theoretischen Progression zu tun haben. Ziehen wir Hegel zum Vergleich heran: auch bei Hegel gibt es ein Weitertreiben von einem abstrakten Anfang zu immer weiteren und konkreteren Stadien. Was immer die jeweilige Plattform ist, sie treibt als widersprüchlich weiter. Ein jeweils Neues wird gefordert zur Lösung der Widersprüche. Das Neue ist das höhere Ganze, die Synthese einer Differenz, bis hin zu einem letzten affirmativen Ganzen. Die Progression ist Erklärung des Wahren; regressiv gesehen sind solche Prinzipien zur Erklärung gewählt, die das Wahre zur Folge haben. Die Ähnlichkeit zu Marx scheint groß. Die Erklärung, die er geben will, ist, wie auch bei Hegel, das Verhältnis eines regressiv gesichteten Vgl. oben 292 f.
300
Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
Grundes zu einem progressiv Entfalteten. Aber die Marasche Theorie wird — wir rufen damit nur Bekanntes in Erinnerung — durch ihren Charakter als anthropologische, nominalistische, ökonomische und geschichtliche Theorie und durch ihre Absicht auf Kritik anders bestimmt. Haben wir uns oben, im Abschnitt zur Methode, enger an Marxens eigne und einzige Darstellung in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie gehalten, so ist jetzt eine freiere Umschreibung des Vorliegenden am Platz. Das für Marx zu Erklärende ist selber eine negative Wirklichkeit, etwas zu Kritisierendes. Der erklärende Grund dafür ist selbst negativ angesetzt. Wir fanden ihn in der Ware und der zugehörigen abstrakten, ökonomischen Arbeit. Von diesem negativen Grund aus soll nun die Kritik entfaltet werden, d. h. Differenz, Widerspruch entwickelt werden. Somit hat die Theorie Synthese, ausgleichende Faktoren, Affirmativität zu vermeiden zugunsten von sich steigernden Widersprüchen. Jede Gestalt, die die Theorie behandelt, erscheint als in sich widersprüchlich: die Ware ist es, die Arbeit ist es, das Geld ist es, der Austausch ist es usw. Jede Gestalt erweist sich, indem sie in neue Widersprüche eingeht, als nicht-kompromißfähig, als antagonistisch im Verhältnis zu einer affirmativen Struktur, und dabei als irreduzibel, als real. Die Ware ist magisch, das Geld ist magisch, und danach wird sich weiteres bemessen. Die Gestalten haben so die Suggestion bei sich, konkret zu sein, und ebenso hat die Bewegung die Suggestion bei sich, eine exemplarische Realbewegung zu sein, die so vorkommen kann und vorgekommen ist, wenn sie auch nicht als ganze geschichtlich gemeint ist. Darin liegt begründet, daß sich die Theorie in eigentümlicher Weise an die Geschichte adaptieren kann, während sie andrerseits nicht an sie gebunden ist Die Darstellung der Ware, des Geldes, des Austausdis und des Geldes als Ziel führt zu der Vorstellung, dies seien Tatbestände, die reale Implikationen haben, die — darüber muß uns der noch ausstehende Teil des Kapitals belehren — ebenfalls in exemplarischer Realbewegung herankommen. Dabei ist diese Bewegung gleichzeitig eine der Prinzipiierung: die Implikationen, Widersprüche aus Widersprüchen, können nicht weniger negativ sein als die ihnen vorangehenden Gestalten; sie sind Folgen, Prinzipiate aus Negativem. Es ist angesichts der doppelten Charakteristik der Gestalten als realen und als transzendental prinzipiierenden nicht möglich, daß ein affirmatives Resultat auftritt. Dies kann man auch so ausdrücken, daß die Theorie nur Kritik sein kann. Die Ausgangsgestalten und die dialektische Behandlung sind, in regressiver Sicht betrachtet, so gewählt, daß sie nur eine negative Entfaltung gestatten. Da sich die Theorie nicht auf ein abschließendes Wahres, Affirmatives berufen kann, wie Hegels Theorie, von dem her regressiv die dialektische Lösung der Widersprüche bestimmt ist —, liegt alles Gewicht auf der progressiven Bewegung von Gründen aus; der Abschluß als Falsches kann ja eigentlidi nicht als Berufungsgrund auftreten. Jeder Schritt erscheint
Grundzüge der im K a p i t a l geübten Methode
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nicht so sehr als Implikation, wie er gemeint ist, denn als Extrapolation, und zwar des jeweils nächsten Widerspruchs. Ist einmal die Geldzirkulation erschlossen, so muß sie als Widerspruch dargestellt werden können — nämlich, daß sie ohne Inkrement unsinnig ist, andrerseits Geld doch, wegen der Habgier des Besitzers und der schlechten Unendlichkeit des Schatzes, Ziel ist, G — G'. Es muß eine nächste Gestalt extrapoliert werden, die das Inkrement möglich macht. (Eine solche nächste Gestalt ist nicht, wie bei Hegel, als Synthese Annäherung an das Affirmative). Wiederum gilt die Suggestion, daß diese Extrapolation eine exemplarische Realbewegung darstellt. In einem quid pro quo von Anschaulichkeit und Prinzipiierung scheint die Bewegung plausibel. Wir haben zwar geltend gemacht, wie eine soldie Progression im Grunde nur Kategorien ordnet und etwa Geld als Ziel und die Vorherrschaft des Geldes in einem Realzusammenhang nicht dadurch dartun kann, daß sie nur die Begriffe von Geld und Akkumulation aufstellt. Genau die umgekehrte Suggestion liegt aber in dem Verfahren. Es ,gibt' ja solches, wovon auf abstrakter Stufe die Rede ist — etwa Gläubiger und Schuldner —, in der Wirklichkeit und auch früh in der Geschichte, und das alles beherrschende Kapital wird ferne Folge sein auch dieser Diskrepanz der Zirkulation.
Die Vorherrschaft der objektiven
Seite
Betrachten wir, unter Beiseitelassung weiterer theoretischer Themen, die besser nach Behandlung des Kapitals als ganzen aufzunehmen sind, so sehr sie auch schon im behandelten Teil eine Rolle spielen, nur noch ein weiteres Moment der Theorie, das schon mehrfach angeklungen ist. Wir meinen die Tatsache, die uns schon in den Pariser Manuskripten begegnete, daß die Erklärung auf der objektiven, auf der dem Menschen gegenüber anderen Seite spielt, der der Ware, des Geldes und letztlich der des Kapitals. Die Marxsche These ist, daß mit dem Austausch ein Widerspiel des Menschen theoretisch wie praktisch die Vorherrschaft gewinnt. Das soll nicht heißen, daß die Menschen von nun ab ignoriert würden, daß sich bloß ein in metaphysischem Sinne materialistisch-objektiver Prozeß abspiele. Vielmehr sind die Menschen durch die Waren und das Geld miteinander gesellschaftlich vermittelt und werden durchaus geschildert als so zu einer ökonomischen Gesellschaft veränderte. Aber die Gesellschaft wird damit betrachtet als Moment ihres Widerspiels, als Funktion der Waren und des Geldes. Dies Widerspiel liegt zunächst in der Ware als Fetisch, im Austausch, im Geld, schließlich im Geld als Selbstzweck, im Geld, das Subjekt ist. Wir haben auch dies in einer frühen Form schon in den Pariser Manuskripten gefunden. Im Unterschied zur Position der Pariser Manuskripte jedoch, wo das Privateigentum einerseits unmittelbar eingeführt wurde als entfremdend,
302
Die Grundlagen einer Kritik der Ökonomie
andrerseits auf entfremdete Arbeit zurückgeführt worden war, stellt die Theorie in Zur Kritik der politischen Ökonomie und am Anfang des Kapitals eine transzendentale Rekonstruktion des Privateigentums, nunmehr näher als Geld und dann Kapital, allererst dar. Die einzelnen Sdiritte der Analyse führen erst zum Geld als Subjekt. Sicherlich, kategorial ist das hinreichend plausibel: wenn Geld für sich Thema sein soll, dann kann man, wenn es einmal von G — W — G aus angebahnt ist, es darüber hinaus verfolgen, dann kann man auch den Fall formulieren, wo ein Inkrement auftritt, denn sonst wäre es gegen seine Möglichkeit zu eng gefaßt, als bloß funktionales Mittel des Austausches. Wie gesagt, kategorial, wenn wir das Geld als etwas für sich nehmen, muß es mehr sein. Es bestimmt sich dann, in Marxens Dialektik, als Resultat von in sich widersprüchlichen Vorstufen als identisch und quantitativ verschieden von sidi, als G und G', als selbstreflexive Einheit mit sich als anderem, als Subjekt. Aber ist damit schon gesagt, etwas — ein reales Subjekt der Dialektik — sei in Geld übergegangen, dies sei das Wesen, wozu die Mensdien die Momente sind (etwa, wenn es nicht nur als Gegenstand, sondern auch als „Quelle" der Bereicherungssucht angesprochen wird)? Sicherlich, Marx würde sagen, er selbst betone ja den ganzheitlichen Aspekt, nämlich, daß durdi die Ware in ihrem Prozeß die Menschen zur ökonomischen Gesellschaft verwandelt würden, und dies gelte ebenso beim Geld. Aber dennoch wird diese Verwandlung immer schon unter der Vorherrschaft der anderen Seite gedacht. Die Theorie zeigt nur eine begriffliche Entwicklung von Gegenständen der anderen Seite, von Ware über Geld in der Zirkulation zu Geld als Ziel. Wieso ist mit dieser Progression das gesellschaftliche Ganze erfaßt? Sowohl kategorial, als in einem Realprozeß? Der Theorie fehlt eine einsichtige Motivierung dieser Einseitigkeit. Oder sagen wir vorsichtiger: vorwärts, als Argument, gelesen, ohne die Kritikabsicht am abschließenden Falschen zum Berufungsgrund zu machen, fehlt ihr diese, ist diese vielmehr immer schon vorausgesetzt, und die real gemeinten Stufen führen zu immer weiteren Extrapolationen. Rückwärts gelesen liegt die Motivierung der Einseitigkeit in der Prämisse der Kritikabsicht; die Theorie will ja das Negative der Gesellschaft rekonstruieren, und sie denkt dies Negative gelegen im Hingegebensein an ein fremdes Objektives, an Ware und Geld. Wir haben diese Problematik schon in den Pariser Manuskripten vom Begriff des Wesens her pointiert und von einer Wesenslogik gesprochen. Diese hat sich im Kapital in dem bisher behandelten Stück noch nicht näher entfaltet, aber wir sehen schon jetzt, daß dasselbe Problem wiederkehrt. Wir könnten formulieren: die Theorie kann die Angemessenheit und Notwendigkeit einer wesenslogischen Behandlung von Ware und Geld, also ihren dominierenden Charakter für die Menschen — was sich verschärfen wird für das Kapital selbst — nicht zeigen. Die negativ beurteilte konkrete Ökonomie wird regressiv so rekonstruiert; progressiv zeigt sich eine petitio, die nur gemildert scheint durch Rekurs auf
Grundzüge der im K a p i t a l geübten Methode
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naturwüchsige Vorfindlidikeiten und durch die Suggestion der exemplarischen Realbewegung von Stufe zu Stufe. In einem systematischen Verständnis von Theorie, die nicht von vornherein der Kritikabsicht verpflichtet ist, könnte es eine Alternative geben. Aber wir wollen hier späteren Reflexionen nicht weiter vorgreifen. Es genügt der gegebene kritische Hinweis. Wenden wir uns der weiteren Entfaltung der Theorie zu, also der Lösung des Widerspruchs von G und G', der Ermöglichung eines Inkrements, und damit den weiteren ökonomischen Themen. Es bedarf keines weiteren ,Ausblicks', insofern wir uns ja innerhalb einer noch nicht abgeschlossenen theoretischen Position, der des Kapitals, befinden.
VIL Die Mehrwerttheorie Der jetzt zu behandelnde Teil der Marxsdien Theorie, die Mehrwerttheorie in einem ersten, lapidaren Ausdruck, ist nadi dem Vorhergehenden schon motiviert: es muß ein Inkrement von G zu G' ermöglicht werden, so daß die Geldzirkulation Bewegung zum Geld ist, ihre Rechtfertigung im Geld als Ziel, als sich selbst vermehrend, hat und so zu Kapital führt. Die Theorie löst den Widerspruch, der vorliegt, wenn G sich im Rahmen des Austausches zu G' verwandelte, durch eine Extrapolation: der Arbeiter ist die geheimnisvolle Kraft, die ein Inkrement möglich macht. Hierzu ist erfordert, daß Arbeitskraft käuflich und verkäuflich ist, daß also auf beiden Seiten, bei Käufer und Verkäufer, eine Freiheit besteht, einen Vertrag über einen Austausch zu schließen, so daß die Äquivalenz der beiden Seiten im Austausch gewahrt bleibt. „Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun" 1 . Wesentlich ist darüber hinaus erfordert, daß der Wert der Arbeitskraft, der ihren Kauf bestimmt, geringer ist, als der Wert dessen, was sie produziert. Der Wert, der in die Herstellung der Arbeitskraft eingeht, d. h. der Wert auf Grund des Arbeitsaufwands für die physische Reproduktion des Arbeiters, zusammen mit zugehörigen Lasten wie Familie, Ausbildung usw., muß geringer sein als der Produktenwert. Die Arbeitskraft ist „diese eigentümliche Ware", deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besitzt, „Quelle von Wert zu sein"2, und die gesuchte Lösung ist gefunden, wenn der Wert oder Tauschwert dieser Ware geringer ist als der von ihr geschaffene Produktenwert. Diese Deutung der Arbeitskraft ist bestimmt von der oben schon behandelten Diskontinuität — sie kann auch eine ,ontologische Differenz' heißen — im Begriff der Arbeit: Arbeit ist Produktion von Gebrauchswerten und von ökonomischen Tauschwerten. (Dabei liegt in ersterem schon eine andere Differenz — die wir auch die Categoriale' nannten — von Praxis und Produkt, die im gelingenden Fall Kongenialität bedeutet.) Zur Arbeit als Produktion von Tauschwerten wurde analog zur gutartigen 1
Kapital I, MEW 23, 190. * Kapital I, MEW 23, 184; 181.
Wertbildungs- und Verwertungsprozeß
305
Arbeit, die Gebraudiswerte schafft, rückschreitend die abstrakte Arbeit als Prinzip aufgestellt, und damit erweist sich die eine Arbeit als bestimmt durch eine Diskontinuität oder Differenz. In der Eigenschaft als einen Tauschwert setzend ist Arbeit auch bewertbar, tritt sie in die Sphäre der Ökonomie ein. ökonomisch wird sie betrachtet als einen Tauschwert setzend und als einen Tauschwert darstellend. Somit liegt die ursprüngliche (,ontologische') Differenz nunmehr innerökonomisch zwischen der Arbeit als wertbildender (in sich anthropologisch und ökonomisch different) und der Arbeit als bewerteter (ebenfalls in sich anthropologisch und ökonomisch different nach physischer Herstellung und Erhaltung der Arbeitskraft und nach dem ökonomischen Wertausdruck für das, was dazu aufgewandt werden muß). Wertbildung und Bewertung bilden zusammen die ökonomische Spiegelung der ursprünglichen Differenz: Arbeit als ökonomisches Objekt (Arbeitskraft als Ware), das ökonomische Objekte (Waren) setzt. Die Differenz hat auf beiden Seiten Waren, wobei die Arbeit die eigentümliche Ware ist, bei der eine innerökonomische Differenz von Wert dieser Ware und Wert der von der Ware produzierten Waren eintritt. Diese Differenz ist für Marx der verfälschte Ausdruck der anthropologischen Relation von Praxis und Produkt. Das Schöpferische der Praxis oder der anthropologischen Arbeit ist ökonomisch ausgedrückt in der Differenz von Wert der Arbeitskraft und Produktenwert. Diese theoretische Fassung ist zwar keine Erklärung der ökonomischen Entfremdung von der gutartigen Arbeit aus, sie ist nicht prinzipientheoretische Genealogie, aber sie ist, wie wir schon sagten, eine prinzipientheoretische Artikulation der Entfremdungsproblematik. Die entwickelte ökonomische Differenz bildet die Grundlage der weiteren Theorie. Mit ihr ist die Umwandlung von G in G', also das Anfallen eines Mehrwerts — durch Einschieben eines „PÄ zwischen G und G' — eröffnet, ohne die Gesetze der Zirkulation außer Kraft zu setzen, und zwar in einem in den Zirkulationsprozeß eingeschobenen Produktionsprozeß. Dieser Teil der Theorie ist die Mehrwerttheorie. Stellen wir die Mehrwertproduktion näher in ihren ökonomischen Zusammenhang ein.
1. Wertbildungs- und Verwertungsprozeß Marx diskutiert den ökonomischen Zusammenhang als Produktionsprozeß, der gleichzeitig Verwertungsprozeß ist*. Es muß eine von der Zirkulation ganz verschiedene, der Zirkulation entnommene, Symbiose von Kapital und Arbeit stattfinden, in der Wert gebildet und Kapital verwertet, d. h. durch Zusetzung von Mehrwert aufgewertet wird. Der Produktions» Kapital I, MEW 23, 165.
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Die Mehrwerttheorie
prozeß läßt sidi zunächst unter Âbsehung vom Verwertungsprozeß als Arbeitsprozeß sehen, und dabei bietet sich Marx Gelegenheit, einen ganzen bisher nur abstrakt als Produktion oder Praxis gekennzeichneten Bereich konkreter darzustellen. Die Analyse ist entsprechend zunächst eine eigentümlich zwiespältige, ökonomisch-anthropologische. Marx denkt sich den Arbeitsprozeß als „zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und N a t u r . . Die „lebendige" Arbeit schafft einen Gebraudiswert, und zwar — bis auf gewisse Fälle, in denen bloße Naturstoffe Gegenstand der Arbeit sind — schafft sie ihn aus einem Rohstoff, der selbst schon Arbeit enthält. Sie, die lebendige Arbeit, erweckt die „vergangene" (oder „tote") Arbeit, indem sie sie in einen neuen Gebrauchswert eingehen läßt. Die Arbeits- oder Produktionsmittel, die hierfür erforderlich sind, stellen ebenfalls vergangene oder tote Arbeit dar, die in der Schaffung neuer Gebrauchswerte verbraucht, vernutzt werden5. Die Analyse ist eigentümlich zwiespältig: sie bezieht eine beliebige ökonomisdie Konkretion — industrielle Verhältnisse oder primitive archaische — ein, hält aber den Gedanken, inwiefern es Produktionsmittel ohne Verwertungsprozeß geben könnte, fern. Weiter erscheint sie — und dies hängt mit dem genannten Punkt zusammen — als eine Rückprojektion des erst nodi zu behandelnden Wertbildungsprozesses auf den Arbeits- oder Produktionsprozeß, insofern hier das, was vom ,Wert' gilt, vom Gebrauchswert gesagt wird: nämlich, daß er eine eigentümlidie Allgemeinheit und Identität besitzt, indem lebendige Arbeit tote erwecken kann — also Gebraudiswerte deshalb Gebraudiswerte sein können, weil ihnen andere vorausgegangen sind, oder indem, was vom .Wert' gilt, audi für den Gebrauchswert gelten soll, nämlich, daß er übertragen werden kann. Daß ein Gebraudiswert tote Arbeit voraussetzt, müßte aber für ihn gleichgültig sein. Schließlich hat die Analyse etwas eigentümlich zwiespältiges, wenn die Schaffung von Gebrauchswerten als „Stoffwedisel zwischen Mensch und Natur" gefaßt wird. Auch hier ist zunächst die Allgemeinheit des Arbeitsprozesses im Blick: die „allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur" ist „ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam6. Der Begriff „Stoffwechsel" ist aber nicht nur eine Kategorie, die als hochallgemeine die Verschiedenheit von archaischer und industrieller Produktion nivelliert, sondern eine, die das unter einem Gesichtspunkt tut, der nichts mit Gebrauchswerten zu tun hat: * Kapital I, MEW 23, 198. 5 Kapital I, MEW 23, 195—98. • Kapital I, MEW 23, 198. — Wir verweisen hierzu auf A. Sdimidt, Der Begriff der Natur bei Marx.
Wertbildungs- und Verwertungsprozeß
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der Begriff schillert, hermeneutisdi gesehen, zwischen materialistischer, anthropologischer und möglicherweise naturwissenschaftlicher Sehweise 7 . Die Zwiespältigkeit ist auch vom Gedanken der Arbeit her sichtbar: die N a t u r erscheint plötzlich als wesentlich, während in der Konzeption, wonach Gebrauchswerte auf Arbeit beruhen, die N a t u r als Voraussetzung gerade vernachlässigt wurde. Würde diese Voraussetzung f ü r die Werttheorie beherzigt, so ergäben sich recht andere Aspekte, als sie sich in Marxens Werttheorie zeigen. Kurz, die Analyse des Arbeits- oder Produktionsprozesses kann als in mehrerlei Weise prekär gelten. In den geschilderten Arbeits- oder Produktionsprozeß, der von einer bestimmten Wirtschaftsform im Prinzip unbetroffen ist, der sich also auch unter Absehung vom Kapitalisten als industriellem verstehen läßt, schaltet sich dieser ein, indem er ein Inkrement in einem der Zirkulation entnommenen Verwertungsprozeß anstrebt. Der Produktionsprozeß wird gleichzeitig Verwertungsprozeß. Der Kapitalist läßt einen Produktionsprozeß ablaufen, d. h., er beschafft Rohstoffe, Werkzeuge, Anlagen, Arbeiter. Für ihn erscheinen all diese Elemente unter dem Aspekt der quantitativen Bewertung 8 ; er schießt Geld vor, damit Wert entsteht. Es handelt sich nicht mehr um Arbeit, die sich selbst genügt, die nützlich ist, Gebrauchswerte schafft, oder doch nicht um Arbeit unter dem Gesichtspunkt, daß sie Gebrauchswerte schafft oder gar, daß der Mensch seine Wesenskräfte verwirklicht 9 , sondern um Quantität, die als Dauer der Arbeit, als Arbeitszeit auftritt 1 0 . Ebenso ist die Arbeit nivelliert auf Durchschnittsarbeit, und zwar einmal auf „gesellschaftlich notwendige" Arbeit, in der die Unterschiede von ergiebigerer und weniger ergiebiger Arbeit vereinheitlicht sind 11 , und zum andern auf standardisierte Arbeit, bei der die Qualifikation umrechenbar ist auf „Durchschnittsarbeit" 12 . Schließlich kann in „gesellschaftlich notwendiger Arbeit" auch Inbegriffen gedacht werden der Gedanke, daß es sich um Arbeit handeln muß, die von der Gesellschaft benötigt wird, insofern für ihre Produkte ein gesellschaftliches Bedürfnis besteht 18 . 7
Wir erinnern an unsere hermeneutischen Überlegungen zum Gebraudiswert, von dem sich fragen ließ, ob er in der Nähe des Heideggerschen ,Zuhandenen* stehe oder ob er es verfehle. Der Abstand lag in dem von der ökonomietheorie beeinflußten Wertbegriff, so sdiien es, nicht in einer naturalistischen Auffassung. Siehe oben 259. 8 Kapital I, MEW 23, 203 f. • Zur Illustration auf der Ebene des Kapitals kann etwa eine Stelle dienen, w o Marx das griechische Handwerk schildert, w o noch das Exzellieren die raison d'être war. MEW 23, 386 f. 10 Kapitel I, MEW 23, 204. 11 Kapitel I, MEW 23, 210. » Kapital I, MEW 23, 212 ff. Siehe sdion oben 266 und unten 363. » Kapitel I, MEW 23, 121.
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Die Mehrwerttheorie 2. Der absolute Mehrwert
In dem Geschilderten liegen jedoch nur allgemeine Modalitäten des Produktionsprozesses, wie ihn der Kapitalist unter dem Wert- und Verwertungsgesichtspunkt veranstaltet. Bisher ist ein Inkrement nicht ersdiienen: der Wert des vom Kapitalist Vorgeschossenen liegt im Produkt wieder vor. Marx macht sich, von einer solchen Analyse herkommend, ein Vergnügen, den Sinn der Verbindung von Produktionsprozeß und Verwertungsprozeß als unerwartetes Ergebnis herausspringen zu lassen: das Inkrement, der Mehrwert, ergibt sich, indem der Arbeiter länger arbeitet, mehr Wert bildet, als dem Wert seiner Arbeitskraft, also seines Lohnes, entspricht 14 . Der Verwertungsprozeß ist „verlängerter Wertbildungprozeß" 1 5 . Beide Prozesse bilden in der kapitalistischen Ökonomie eine Einheit. Die Forderung nach Äquivalenten ist gewahrt — nicht besteht eine Ungleichheit von Kauf und Verkauf, um zu einem Inkrement zu kommen —, sondern bei Wahrung dieses ökonomischen Prinzips findet eine Vermehrung des Geldes, eine Verwandlung des Geldes in Kapital statt 16 . Zunächst setzt der Gedanke, daß der Produktionsprozeß als kapitalistisdier Verwertungsprozeß einen Mehrwert abwirft, oder: setzt der Mehrwertbegriff als solcher, einen Vergleichsmaßstab, den Wert der Arbeitskraft als bestimmten, und nicht nur die ökonomische Bewertbarkeit im allgemeinen, voraus. Erst ein bestimmter Wert macht es möglich, eine Differenz zwischen Wert der Wertbildung und Wert des Wertbildners aufzustellen. Dieser letztere Wert ist, wie wir schon sahen, mit der Reproduktion der Arbeitskraft, einschließlich der Reproduktion über Generationen, also einschließlich von Familie und Kindern, aber auch einschließlich der Ausbildung, prinzipiell bestimmt. Dieser Punkt ist etwas näher zu betrachten. Schon die klassische englische Nationalökonomie hat sich um einen Begriff des Wertes der Arbeit (labour) bemüht und auch um die Festlegung eines bestimmten Wertes. So hat Ricardo den Wert der Arbeitskraft vom Gedanken der Reproduktion her gesehen: „Labour, like all other things which are purchased and s o l d . . . has its natural and its market price. The natural price of labour is that price which is necessary to enable the labourers, one with another, to subsist and to perpetuate their race, without either increase or diminution 17 ." Dieser Festsetzung eines natürlichen Preises oder — um die f ü r Marx wesentliche Trennung von Preis und Wert im Auge zu behalten — eines natürlichen Wertes der Arbeitskraft, dem ein natürlicher Preis entspricht, schließt sich Marx an: „Die letzte Grenze oder Minimalgrenze des Werts der Arbeitskraft wird gebildet durch den Wert 14
Kapital I, MEW 23, 208 f. Kapitel I, MEW 23, 209. " Kapital I, MEW 23, 209. 17 Ricardo, Principles 52. u
Der absolute Mehrwert
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einer Warenmasse, ohne deren tägliche Zufuhr der Träger der Arbeitskraft, der Mensdi, seinen Lebensprozeß nicht erneuern kann, also durch den Wert der physisch unentbehrlichen Lebensmittel 18 ." Es ist jedoch anzumerken, daß Marx, über Ricardo hinaus, eine gewisse Flexibilität zeigt in der Frage, was als notwendig f ü r den Arbeiter zu gelten hat. Er spricht von einem „Durchschnitts-Umkreis" der notwendigen Lebensmittel und von einem „historischen und moralichen Element", das hier maßgebend sei19. Der entscheidende Punkt des Theorems ist aber die Anwendung der Arbeitswertlehre auf die Ware Arbeitskraft. Ihr Wert wird danach bestimmt, welcher Aufwand von Arbeitskraft oder Arbeitszeit zur Herstellung der Ware Arbeitskraft erforderlich ist. Man sieht, daß Marxens Bestimmung des Wertes der Arbeitskraft, strenger als Ricardos Orientierung am Preis, einen ,reinen Fall' meint, nämlich den, wo weitere Umstände, wie ein Arbeitsmarkt, der den Preis oder Lohn mitbestimmt, vernachlässigt werden können. (Sie sind bei Ricardo vage berücksiditigt, wenn er in der Rede vom Preis audi Angebot und Nachfrage in Rechnung stellt; dies geschieht zwar nur am Rande, da er meint, der Preis der Arbeitskraft habe die Tendenz zum natürlichen Preis 20 ). Bei Marx ist der Wert der Arbeitskraft gegenüber der vermittelnden Position von Ricardo zum strengen, transzendentalen Theorem geworden, dem einer Anwendung der Arbeitswertlehre auf die Ware Arbeitskraft. Gerade insofern vom Wert und nicht vom Preis oder Lohn die Rede ist, kann die Arbeitskraft im Sinne eines reinen, prinzipiellen Falles, unter Absehung vom Markt, betrachtet werden. Nach der bisher allein maßgebenden Arbeitswertlehre ergibt sich der Reproduktionswert (und in antizipierender Konkretion der Subsistenz- oder Reproduktions/o¿«) als grundlegend. Das Minimum des Reproduktionslohns ist systematisch gefordert, wenn Marx auch zugeben kann, daß in der Konkretion der Lohn über diesem Minimum liegt 31 . 18
Kapital I, MEW 23, 187. Kapital I, MEW 23, 185. 20 Ricardo, Principles 53. !1 Es besteht eine gewisse Kontroverse in der Frage, ob Marx den Minimallohn als natürlichen Lohn vertreten habe. Vgl. R. Rosdolsky, a.a.O. 81 Anm. 6; 330—66. Wie audi immer man Marxens Äußerungen zum Minimallohn beurteilt (vgl. etwa Das Elend der Philosophie MEW 4, 83 und Engels* Anmerkung dazu ebd.), es versteht sidi, daß er sidi nicht auf eine prinzipielle Bestimmung des Werts der Arbeitskraft beschränkt, sondern audi die konkretere Bestimmung des Lohnes, und zwar in Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt und von näheren Bestimmungen des Kapitals, behandelt hat (vgl. etwa Kapital I, MEW 23, 557—64 [—88]). Mit zunehmender Konkretion der Theorie sind Abweichungen vom abstrakten Standpunkt zuzulassen. Die Pointe ist nur, daß diese konkretere Ebene ein Prinzipiat der Prinzipienebene darstellt, auf der dem Lohn der Wert der Arbeitskraft als Reproduktionswert zugrundegelegt wird. Audi Rosdolsky hat diese transzendentale Pointe nicht erfaßt. 19
310
Die Mehrwerttheorie
Wenden wir den Gedanken nodi anders: die Arbeitskraft ist eine Ware, die Quelle von Tauschwert ist. Ihr Wert ist also, ontologisch oder anthropologisch zu sein, oder, ökonomisch gesprochen: Gebrauchswert zu sein, der einen Tauschwert hat. Die Arbeitskraft wird also nach dem bewertet, was für sie erforderlich ist, um Gebraudiswert zu sein und zu bleiben: sie wird also nach einer ,Logik' des Gebrauchswerts, nach der Reproduktion eines Ontologicums, bewertet. Dieser Gedanke zeigt sich schon bei Ricardo: „The power of the labourer to support himself, and the family which may be necessary to keep up the number of labourers, does not depend on the quantity of money which he may receive for wages, but on the quantity of food, necessaries, and conveniences become essential to him from habit which that money will purchase22." Was die Arbeitskraft im Tausch für ihre Arbeit bekommt, ist — gesamtwirtschaftlich gesehen — ein Produktanteil, ein Deputat ihrer eignen Produktion. Das Deputat bemißt sich nach einer Gebrauchswertlogik — die Frage ist, wieviel zur physischen und sonst wesentlichen .Herstellung' des Arbeiters erforderlich ist —, nur daß der errechnete Gebrauchswert für den Gebrauchswert Arbeiter ökonomisch als Tauschwert (konkret als Geld, als Lohn) angegeben wird. Die Differenz im Begriff der Arbeitskraft, von der oben die Rede war, zeigt sich ökonomisch expliziter. (Der Aspekt der Gebrauchswertlogik für die Arbeitskraft wird sich später, bei der Behandlung des „relativen Mehrwerts" noch näher bestimmen.) Um zum Mehrwerttheorem selbst überzugehen: in ihm ist zugrundegelegt, daß der Reproduktionswert der Arbeitskraft den Wert ausmacht, den der Arbeiter von sich aus innerhalb der Arbeitsveranstaltung des Kapitalisten durch Arbeit bilden würde, und zwar scheint es, daß er dabei wie im Fall eines Arbeitsprozesses handelte, der nicht Verwertungsprozeß ist. Für diesen war nun nichts darüber ausgesagt, wieviel der Arbeitende arbeitet, es handelte sich um eine kategoriale Analyse, neutral gegen Fragen der Quantität — ob Selbstbehalt des ganzen Produkts oder ob Abgabe, ob primitives archaisches Produktionsniveau und industrielles usw. In einem solchen Prozeß will der Arbeiter allerdings auch gar nicht ,Wert' bilden, und so bleibt offen, wieviel er Wert bilden möchte, wenn er, statt anthropologisch zu arbeiten, Wert bilden muß. Ist aber festgelegt, daß doch nur der Reproduktionswert der Arbeitskraft herauskommt, so will der Arbeiter, so scheint es, auch nur so viel arbeiten und Wert bilden, wie dafür notwendig ist. Nur so läßt sich sagen, der Mehrwert liege im verlängerten Wertbildungsprozeß 23 . Die Assoziation der beiden Prozesse führt darauf, einen schillernd anthropologisch-ökonomischen Maßstab — die Arbeitsleistung, die 22
Ricardo, Principles 52.
" Der Verwertungsprozeß ist „nichts als ein über einen gewissen Punkt hinaus verlängerter Wertbildungsprozeß". Kapital I, MEW 23, 209.
Der absolute Mehrwert
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den Reproduktionswert ergibt — aufzustellen, demgegenüber die Gesamtarbeit Mehrarbeit enthält. Der Begriff des Mehrwerts als Ergebnis eines verlängerten Wertbildungsprozesses — in dieser Fassung heißt er „absoluter Mehrwert" — setzt einen solchen schillernden Maßstab voraus. Der Mehrwert ist „absolut" in dem Sinne, daß er durch eine in absoluter Zeit ausgedrückte Verlängerung der Arbeitszeit, bezogen auf die zur Reproduktion erforderliche Arbeitszeit, entsteht (nicht also aus einer Intensivierung der Produktivität stammt). Der Arbeiter würde in einem Arbeitsprozeß, der nicht Verwertungsprozeß ist, also etwa mit eignen oder gemeinschaftlichen Produktionsmitteln, vielleicht über die Befriedigung des Bedürfnisses, das Reproduktion ermöglicht, hinaus ein „Surplusproduce" erarbeiten 24 — der Fall ist nach der bloß kategorialen Analyse eines solchen Arbeitsprozesses nicht entscheidbar —, aber im Mehrwerttheorem wird unterstellt, daß er dies in einer Arbeitsveranstaltung, die Verwertungsprozeß ist, also mit fremden Produktionsmitteln, nicht von sich aus täte. Der Maßstab ist der Reproduktionswert der Arbeitskraft; die Möglichkeit, in einer solchen Arbeitsveranstaltung ein „surplus produce" zu bekommen, ist ja aus der Prämisse des Werts der Arbeitskraft=Reproduktionswert der Arbeitskraft heraus ausgeschaltet. Also bleibt der Maßstab für die Aufstellung des Mehrwertbegriffs eine Arbeitsleistung, die innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses vom Arbeiter aus so wäre, wie wenn sie außerhalb eines solchen Prozesses nur der Reproduktion dienen sollte. Es versteht sich, daß eine solche Arbeitsleistung, wie sie ohne zu Zwecken der Verwertung bereitgestellte Produktionsmittel möglich wäre, gegebenenfalls nicht verschieden wäre von der verlängerten' Arbeitsleistung innerhalb eines Verwertungsprozesses, und dasselbe kann vom Ertrag oder Selbstbehalt gelten. Das ficht die Theorie jedoch nicht an: die Analyse des Arbeitsprozesses als solchen war ja nur kategorial; an ihm konnte man nicht sehen, ob Last und Ergebnis quantitativ unbefriedigend sind: es war kein Mangel sichtbar, qualitativ war alles in Ordnung; im Kapitalismus hingegen liegt eine Verlängerung' der Arbeit über den — gar nicht quantitativen — anthropologischen, qualitativen Fall hinaus vor. Die Suggestion· — nach der geschilderten Verquickung von kategorialer und quantitativer, oder von anthropologischer und ökonomischer, Zurechtlegung — ist also: wenn der Kapitalist nicht den Mehrwert einstriche, so würde der Arbeiter, wenn er will, nach dem Schema des Arbeitsprozesses ohne Verwertungsprozeß, aber bei einer Produktivität wie im Produktionsprozeß, der Verwertungsprozeß ist, ein Mehrfaches dessen behalten, was er vom Kapitalisten tatsächlich bekommt. 24
Grundrisse 506 Anmerkung.
312
Die Mehrwerttheorie
Wir haben noch davon abgesehen, daß die Marasche Prämisse vom Lohn als Deputat in Höhe des Reproduktionswerts weggedacht werden könnte, so daß dann Arbeit von industriellem Niveau auch mehr erbrächte, als dies Deputat, und audi mehr als Arbeit auf nidit-industriellem Niveau mit eigenen oder gemeinschaftlidien Produktionsmitteln, daß aber andrerseits Produktionsmittel, die einen höheren Lohn ermöglichten, auch ökonomisch berücksichtigt werden müssen, die These von der .Verlängerung' also anders zu stehen käme. Wir kommen darauf zurück. Im gegenwärtigen Zusammenhang geht es uns um ein Verständnis der Suggestivität des Mehrwertbegriffs, und zwar soweit dieser das geschilderte Theorem auf der Seite des Arbeiters beinhaltet. Die Lösung, so läßt sich ahnen, wäre, daß Produktionsmittel auf kapitalistisch-industriellem Niveau zu einem nichtkapitalistischen Arbeitsprozeß gehörten. Dies wäre geschichtlich, nachdem der Kapitalismus dies Niveau geschaffen hat, durchzusetzen. Aber vorerst geht es erst um die Theorie des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst. Die Weiterverfolgung der Mehrwertproduktion verlangt audi ein entsprechendes Theorem auf der Seite des Kapitals, das ja durch den Mehrwert erklärt werden soll. Zunächst einige Begriffsbestimmungen. Marx unterscheidet konstantes Kapital und variables Kapital. Zum konstanten Kapital gehört der Teil des Kapitals, „der sich in Produktionsmittel, d. h. in Rohmaterial, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel umsetzt"25. An späterer Stelle heißt es, daß zu ihm gehören „fixes Kapital: Maschinen, Arbeitswerkzeuge, Baulidikeiten, Arbeitsvieh etc." und „zirkulierendes konstantes Kapital: Produktionsmaterialien, wie Roh- und Hilfsstoffe, Halbfabrikate etc."28. Daß auch zirkulierendes Kapital zum konstanten Kapital gehört, erklärt sich daraus, daß der Arbeiter ja den Wert der Rohstoffe usw. auf das neue Produkt überträgt, so daß ihr Wert erhalten bleibt zuzüglich eines Neuwerts. Das Kapital bleibt also im Produkt erhalten; Produkte sind Kapital in Warenform, bis sie verkauft, realisiert, sind. Variables Kapital dagegen ist der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals27. Der Ausdruck „variables Kapital" ist nicht sehr glücklich, wenn wir in ihm nicht sogar eine Vorentscheidung zugunsten der Mehrwerttheorie sehen wollen: im Grunde ist das variable Kapital konstant, denn Marx will ja nidit sagen, es schwanke, d. h. es würden variable Löhne gezahlt. In gewisser Weise erscheint der Ausdruck als eine Metonymie: das variable Kapital gilt einem Faktor Arbeit, in dem eine Verwandlung vorgeht, nämlich von einem Gebrauchswert Arbeitskraft zu Tauschwerten, die größer sind als der Tauschwert des Gebrauchswerts Arbeitskraft. Etwas verändert sich ontologice. (Ontologisdi ist denn audi nicht dies variable Kapital, son15
Kapital I, MEW 23, 223. " Kapital II, MEW 24, 395. 27 Kapital I, MEW 23,223 f.
Der absolute Mehrwert
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d e m die gekaufte Arbeitskraft produktiv.) Aber qua Kapitalwert variiert das variable Kapital gerade nicht, es sei denn bei Schwankungen der Lohnsumme, vielmehr wird das Inkrement, das es erbringt, dem anderen („konstanten") Kapitalteil zugeschlagen. Genau dies soll ja die Mehrwerttheorie zeigen, d a ß der Mehrwert der Akkumulation des Kapitals führt. Entsprechend wäre dann audi das konstante Kapital unglücklich benannt, denn es vergrößert sich ja. Aber: bevor Marx bis zu diesem Nachweis gelangt, wird der Mehrwert auf das variable Kapital bezogen, der Begriff des variablen Kapitals ist komplementär zu dem des konstanten Kapitals noch vor einer Vermehrung durch den Mehrwert; alles im konstanten Kapital nicht Vorhandene gehört zum variablen, und insofern ist es produktiv. Auch ist das konstante Kapital nicht etwa beschränkt auf fixes Kapital, denn das zirkulierende Kapital geht ja nicht verloren; der Wert der Rohstoffe wird auf das P r o d u k t übertragen. Die begriffliche Disjunktion ist so angelegt, daß derjenige Kapitalteil, der dem Lohn gilt, nicht auf das Gesamtkapital bezogen w i r d ; abgespalten als variables Kapital vermehrt sich dieses und nur dieses um den Mehrwert im Neuwert der Produkte; es ist insofern variabel. Die Pointe der paradoxen Begriffsbildung ist somit, das konstante Kapital beiseitezustellen. So sagt M a r x denn auch: „Wir setzen also zunächst den konstanten Kapitalteil gleich Null 2 8 ." Zu präzisieren ist hier die zweifache Auffassung vom konstanten Kapital, die sich schon im Zitat angedeutet hat, und zwar als exklusive des fixen Kapitals und als inklusive des fixen Kapitals. Im ersteren Fall bestünde es, genauer, aus Rohstoffen und demjenigen Teil des fixen Kapitals, der verschleißt und dessen Wert daher als in das Produkt eingegangen (also als abgeschrieben) betrachtet werden muß 2 e . Dies letztere konstante Kapital w ä r e als wertbildender Faktor zu vernachlässigen, weil es im Produkt erhalten ist — es ist „vorgeschossenes" Kapital —, während das eigentliche fixe Kapital zu vernachlässigen ist, insofern dieses, als bloß katalysatorisch, wiederum nicht wertbildend in Erscheinung tritt, sondern als nicht-abgeschriebenes erhalten bleibt. Ist im Ersten Band des Kapitals das konstante Kapital als zirkulierendes und als auf G r u n d von Verschleiß abzuschreibendes fixes Kapital verstanden, so wird es später, abweichend davon, als zirkulierendes und fixes zusammengenommen f ü r die Aufstellung des Profitbegriffs und des Begriffs der sog. „organischen Zusammensetzung" des Kapitals eingeführt» 0 . M a r x sieht durchaus, daß konstantes Kapital — ein Faktor der klassischen Nationalökonomie — erforderlich ist: „Damit das variable Kapital M
Kapital I, MEW 23, 229. » Kapital I, MEW 23, 218. Vgl. J. Robinson, Essay 6. so
Vgl. J. Robinson, Essay 7. Allerdings muß dies doppelte Verständnis des konstanten Kapitals nicht, oder nicht nur, als „Konfusion" genommen werden (so J. Robinson), sondern als transzendental bedingte These, eben daß das konstante
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Die Mehrwerttheorie
funktioniere, muß konstantes Kapital in entsprechenden Proportionen, je nach dem bestimmten technischen Charakter des Arbeitsprozesses, vorgeschossen werden. Der Umstand jedodi, daß man zu einem diemisdien Prozeß Retorten und andre Gefäße braucht, verhindert nicht, bei der Analyse von der Retorte selbst zu abstrahieren. Sofern Wertschöpfung und Wertveränderung für sich selbst, d. h. rein betrachtet werden, liefern die! Produktionsmittel, diese stofflichen Gestalten des konstanten Kapitals, nur den Stoff, worin sich die flüssige, wertbildende Kraft fixieren soll. Die Natur dieses Stoffes ist daher auch gleichgültig, ob Baumwolle oder Eisen. Auch der Wert dieses Stoffes ist gleichgültig".81 Das konstante Kapital erscheint als additive Konstante, das vom Standpunkt der Arbeitswertlehre, wonach Wertbildung allein von der Arbeit ausgeht, vernachlässigt werden kann; ja mehr noch, es muß erst von einer Ebene, auf der es vernachlässigt worden ist, hergeleitet, prinzipiiert werden. Schon die terminologische Fassung von „variablem" und „konstantem" Kapital enthält also in der Tat eine Vorentscheidung zugunsten dieses Theorems. Das variable Kapital variiert von einem Ausgangswert ν zu ν + Mehrwert, zu ν + m. Dies ist der arbeitswerttheoretisdie Ausdruck für die transzendentale Herleitung einer Akkumulation des Kapitals. Mit Marxens Zurechtlegung ist eine Formulierung der Mehrwerttheorie, als Theorie der Kapitalakkumulation, eröffnet auf der Grundlage desjenigen Kapitalteils, der der Reproduktion der Arbeitskraft gilt, im Unterschied also zu einer Theorie des Profits, die die beiden Kapitalteile zusammennimmt und also den Ertrag bezogen auf konstantes Kapital c (inklusive fixes Kapital) und variables Kapital ν — zusammen = C — als entscheidende Größe nimmt 32 . In Marxens Theorie spricht sich, wie wir sdion sahen, aus, daß die Arbeitswertlehre bestimmend sein soll für die Deutung der kapitalistischen Ökonomie, und zwar in transzendentaler Form, so daß solches, was scheinbar dieser Lehre nicht entspricht, aus der Lehre erst erklärt werden muß. Es ist theoretisch entscheidend, daß der Mehrwertbegriff als grundsätzlicherer, als transzendentales Prius, angesetzt wird 33 . So kann
31 32 33
Kapital im letzteren Sinne erst aus dem variablen Kapital — unter Ansetzung des ersteren Begriffs von konstantem Kapital — entwickelt werden muß. Wir kommen auf den Punkt zurück. — Zu erwähnen ist schließlich ein Umredinungsmodus für das konstante Kapital im ersteren Verständnis. Werden Verschleiß des fixen Kapitals und Umschlagszeit spezifiziert, so lassen sich Koeffizienten finden, mit denen multipliziert das konstante Kapital im ersteren Sinne gleich dem im letzteren Sinne ist. Siehe J. Robinson, Essay 7. Kapital I, MEW 23, 229. Vgl. Kapital III, MEW 25, Kap. 1—5, 33—114, bes. 51—58. Vgl. Kapital III, MEW 25, Kap. 2, bes. 54 fi. „In der Tat ist der Profit die Erscheinungsform des Mehrwerts, welcher letztre erst durch Analyse aus der erstem herausgeschält werden muß" ebd. 58. Für „Erscheinungsform" sagen wir ,Prinzipiat'.
Der relative Mehrwert
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theoretisch nicht berücksichtigt werden, daß konstantes Kapital für den Anfall von Mehrwert erforderlich ist; solches Kapital wird nur anschaulich hinzuassoziiert, aber für Zwecke der Theorie gleich Null gesetzt. Es kann für die Bestimmung des Mehrwerts nicht berücksichtigt werden, ob eine Arbeitsveranstaltung nicht nur mit einem erheblichen Aufwand von c möglich ist. Der Begriff der Arbeit als Wertbildung liegt allgemein, anthropologischökonomisch abstrakt, zugrunde. Die Suggestion ist also, daß es in einem konkreten industriellen Milieu normal wäre, wenn der Arbeiter nur seinen Reproduktionswert erarbeitete. Bei dieser Analyse muß der Mehrwert als die ursprüngliche Abweichung vom Normalen gelten. Hier liegt der Kern des Marxschen Begriffs der Ausbeutung, die für Marx den Kapitalismus definiert. Profit als Gesichtspunkt, unter dem das konstante Kapital mitberücksichtigt wird, also auch der Faktor der Investitionen und Anlagen, der bei Marx an transzendental früher Stelle indifferent ist, ist ja transzendental später und wird erst, als Prinzipiat der Prinzipien des Ersten Bandes, im Dritten Band des Kapitals behandelt. Interessiert beim Kapital die Rate des Ertrages oder Profits, so ist Marx, entsprechend dem grundsätzlichen Vorrang des Mehrwertbegriffs, an der Mehrwertrate interessiert. Sie ist ein Ausdruck für den „Exploitationsgrad" der Arbeitskraft, ablesbar an der Arbeitszeit, die zur Reproduktion notwendig ist, im Verhältnis zur darüber hinausgehenden ArbeitsEs kann so, im Unterschied zu der auf c + ν bezogenen Profitrate, die streng zu unterscheiden ist, sehr hohe Mehrwertraten geben, wenn auch die Masse des Mehrwerts = der Masse des Profits ist oder auf einer gewissen Abstraktionsstufe doch so betrachtet werden kann. 35 Die Berechnung nach der Mehrwertrate ist selbst suggestiv für die Ausbeutungsthese. (Ohne diese theoretische Absicht bestünde kein Grund für die Bevorzugung des Quotienten — gegenüber — τ ~ ~ )· 3β ν
3. Der relative Mehrwert Die Mehrarbeit ist zunächst gedacht als Nötige hinaus verlängerter Arbeitstag. Eine wäre ein Weg zur Steigerung des Mehrwerts, Grenze des physisch Möglichen. Aber auch braucht eine Steigerung des Mehrwerts keine " Kapital I, MEW 23, 232. 35 Kapital III, MEW 25, 58; 147; 176. se Vgl. J. Robinson, Essay 16.
über das zur Reproduktion sich steigernde Verlängerung aber sie käme schnell an die bei gegebener Verlängerung weitere Verlängerung zu be-
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Die Mehrwerttheorie
deuten. Audi bei Ansetzung eines konstanten Arbeitstages, der ein Quantum Mehrarbeit schon einschließt, läßt sich das Verhältnis von notwendiger Arbeit und Mehrarbeit verschieben: der zusätzlich zum angenommenen absoluten Mehrwert angesetzte Mehrwert heißt „relativer Mehrwert" 87 . Er wird dadurch möglich, daß das Verhältnis von Reproduktionslohn und Mehrwert sich wandelt, etwa dadurch, daß ein doch de facto über dem Reproduktionslohn stehender Lohn herabgesetzt wird, oder — dies wäre der wichtigere Fall — die Produktivität gesteigert wird. Dadurch würde das Mehrprodukt zwar insgesamt nicht mehr Neuwert enthalten (konstanter Arbeitstag unterstellt, also konstante Wertschöpfung), aber ein kleinerer Prozentsatz des Ausstoßes würde zur Reproduktion des Arbeiters genügen. Die relative Senkung der Lohnkosten oder die Steigerung des relativen Mehrwerts hängt davon ab, daß die Güter, bei deren Produktion der relative Mehrwert steigt, auf die Lebensfristung des Arbeiters Einfluß haben (also etwa Hemden, Lebensmittel usw. darstellen 88 ). Die Steigerung der Produktion liefert also nicht eo ipso, sondern primär nur in der Konsumgüterindustrie und sonst nur sekundär, gesamtwirtschaftlich, durdi die Auswirkung auf den ganzen Markt, durdi relative Verminderung der Lohnkosten in anderen Branchen, eine Steigerung des relativen Mehrwerts. Die Konzeption des relativen Mehrwerts ist ein Prinzip zur Erklärung der Expansion des Kapitals. Sie beruht wesentlich darauf, daß der Lohn des Arbeiters nach einer Gebraudiswertlogik gedacht wird — der Reproduktionslohn gilt nicht als Kostenfaktor des Kapitals, sondern als Quantum von Gebrauchswerten, gleichsam als Deputat, das mehr oder minder konstant ist, insofern ja der Gebrauchswert Arbeitskraft mehr oder minder fixe Bedürfnisse zur Reproduktion hat. Sinkt also bei Produktivitätssteigerung und größerem Produktenausstoß auch der (arbeitswerttheoretische) Wert je Produkteinheit, so braucht der Arbeiter zur Lebensfristung deshalb nicht mehr Produkteinheiten zur Reproduktion als zuvor. Wenn die Produktivität steigt, sinkt ν relativ; die Güter, die zur Reproduktion erforderlich sind, sind etwa gleich groß geblieben, sie haben aber weniger Tauschwert, ν ist kleiner im Verhältnis zu m, der relative Mehrwert ist gestiegen. Damit, daß das, was in der konkreten Ökonomie der Lohn ist, nach einer Gebrauchswertlogik, als Deputat, verstanden wird, ist als Prinzip der kapitalistischen Ökonomie unterstellt — gleichsam als reiner Fall —, daß der Arbeiter prinzipiell nicht an der Expansion des Kapitals partizipiert und also das akkumulierende Kapital immer größer wird. Auf einer konkreteren Ebene, der des Kostengesichtspunkts, aber auch schon auf einer Ebene, wo nur der Arbeitsmarkt für die Lohngestaltung mitberücksichtigt " Kapital I, MEW 23, 334. 38 Kapital I, MEW 23, 334.
Der relative Mehrwert
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wird, kann sich der Lohn anders darstellen39. Aber das unterstellte Prinzip läßt einen nach solchen Rücksichten anders beschaffenen Lohn doch als Prinzipiat des Prinzips des relativen Mehrwerts erscheinen. Der relative Mehrwert erweist sich gerade als pejoratives Prinzip für die Konkretion; nur einer akzidentellen Arbeitsmarktlage wegen wird das Kapital davon abweichen und selbst eben durch das Prinzip den ursprünglichen Zustand wieder herstellen, wie wir noch näher sehen werden. Es ist für Marx klar, daß der Lohn, audi wenn er faktisch vom Prinzip des Reproduktionsdeputats abweicht, zum Niedriglohn gravitiert (wie das übrigens schon Ricardo an der oben zitierten Stelle und auch Smith meinen). Nicht wird daran gedacht, daß das Kapital selbst ein Interesse an höheren Löhnen haben könnte, und Marx sagt selbst: »[Der Arbeitslohn] steigt nie verhältnismäßig mit der Produktivität der Arbeit" 40 . Die Konzeption des relativen Mehrwerts dient dazu, die gesteigerte Expansion des Kapitals unter Voraussetzung der schon extremen Exploitation der Arbeitskraft (im Sinne des absoluten Mehrwerts) zu erklären. Sie ist gleichsam das dynamische Prinzip gegenüber dem absoluten Mehrwert als statischem Prinzip. Das Prinzip des relativen Mehrwerts findet jedoch sein Gegengewicht in einem anderen Aspekt der Arbeitswertlehre, wonach der Neuwert sich nach der im Produkt aufgehäuften Arbeitsmenge bemißt. Bei einer Steigerung des relativen Mehrwerts wird ein immer größerer Teil des Kapitals zu c, zu nicht-multiplikativem Kapital, anders gesagt: der Mehrwert wird auf einen immer kleiner werdenden Teil des Kapitals berechnet, die Profitrate sinkt. Marx hat damit ein theoretisches Mittel, die Produktivitätssteigerung einerseits als im Interesse des Kapitals liegend zu betrachten, andrerseits darin einen Widerspruch zu sehen, der sich zunehmend negativ geltend macht, einmal in Krisenzyklen oder auch nur Sdirumpfungs- und Expansionszyklen, andrerseits in einer letztlidien Nemesis41. Sdion vor einer ausführlicheren Behandlung in späterem Zusammenhang wäre auf Vorbehalte aufmerksam zu machen. Man kann daran zweifeln, ob die Zwickmühle von Steigerung des relativen Mehrwerts und sinkendem Neuwert pro Produkteinheit, wie sie sidi nach der Arbeitswertlehre ergibt, zwingend ist, wie Marx meint. Ein über den arbeitswerttheoretischen Wert hinausliegender Wert (im Sinne von: realisierbarer Preis) der Produktion liegt, wie Marx durchaus sieht42, ohnehin beim Anlaufen einer rationelleren Produktion vor, bis der Preis durch Angleichung bei allen Produzenten sinkt. Aber ein Abgehen vom Arbeitswert, vom Wertgesetz, könnte grundsätzlicheren Charakter haben. Es könnte der Fall sein, daß Produktivitäts39
Vgl. etwa Kapital I, MEW 23, 641. Kapital I, MEW 23, 631. 41 Siehe unten 396 f.; 437; 476 ff.; 484 ff. « Kapital III, MEW 25, 275. 40
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Die Mehrwerttheorie
Steigerung nicht nur über die Senkung der relativen Lohnkosten verstanden werden müßte — entsprechend der Deutung des Lohns als Deputats —, sondern absolut mehr Wert — im Sinne von realisierbarem Preis — der Gesamtproduktion erbrächte. Würde vom Reproduktionslohn abgegangen, würde unterstellt, daß das Kapital am Absatz und somit an der Kaufkraft,' audi seiner eignen Arbeiter, interessiert ist, könnte es einen Medianismus der Produktionssteigerung geben, der weder in absoluter Verlängerung der Arbeitszeit, noch in relativer Mehrwertsteigerung, sondern in einer solchen Erhöhung der Produktivität, der Arbeiterzahl und der Löhne besteht, die eine Optimierung des Sozialprodukts und für das Kapital eine damit vereinbare Rentabilität ermöglicht. Wir haben sdion oben vorgreifend gesehen, daß der natürliche Parallelismus von Wert und Preis bei Marx auf der transzendental frühen Stufe nicht konkret ist. Eben dies Erfordernis der Konkretion würde im jetzigen Zusammenhang bedeuten, daß auf Preise rekurriert werden muß, um die Rolle des Kapitals für die Produktivität und Produktivitätssteigerung zu verstehen. Dieser Zusammenhang läßt sich aber nicht dadurch angemessen kritisieren, daß man eine solche Sachlage als Abweichung von der ontologisdien Grundlage des Wertes kritisiert43. Dagegen ist die Marxsche Analyse allein an der arbeitswerttheoretischen und mehrwerttheoretischen Deutung des Kapitals interessiert; sie ignoriert daher die ökonomische Konkretion, es sei denn als prinzipiiert durch diese Grundlage. So übersieht sie auch geflissentlich die Rolle von Gegeninstanzen wie die Konsumtion, die Absatzsidierung, um nur diese zu nennen. Aber davon später.
4. Mehrwerttheorie und Robinsonade Es ist auf der gegenwärtigen Stufe der Untersuchung nicht möglich, die Mehrwerttheorie in ihrem Charakter zu erschöpfen. Für eine vorläufige zusammenfassende Deutung halten wir uns an noch relativ vordergründige Aspekte. Wir sahen, daß für die Theorie ein Produktionsprozeß als Verwertungsprozeß angesetzt wird, der schon kapitalistisch industriell verstanden ist. Wir sahen weiter, daß die Reproduktion des Arbeiters gemäß der Arbeitswertlehre als Wert der Arbeitskraft angesetzt wird und daß damit 43
Vgl. auch J . Robinsons Bemerkung, daß Marxens Arbeitswertlehre keine Theorie der Preise liefere {Essay 17). Wenn konstantes Kapital arbeitswerttheoretisch keinen Wert schafft, so kann es dennoch preistheoretisdi „wert"-sdiöpfend sein. Zwar wird diese Ebene von Marx im I I I . Band des Kapitals erreicht, aber dadurch, daß sie vom Wert her prinzipiiert gedacht ist, lassen sich nicht audi die Preise bestimmen. Siehe audi unten 373.
Mehrwerttheorie und Robinsonade
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ein Maßstab für Bestimmung des Mehrwerts gegeben ist. Dieser Maßstab unterstellt den Arbeiter als Gebraudiswert, damit aber als Ontologicum, als Größe, die — in einem quid pro quo von arbeitswerttheoretischer Sicht der Arbeitskraft und anthropologischer Sidit der Arbeit — alle nidit der Reproduktion dienende Arbeit als entfremdende Mehrarbeit erscheinen läßt. Eine anthropologische Auffassung vom Arbeiter wird einem zeitgenössischen, kapitalistisch industriellem Produktionsprozeß unterlegt, wobei die Differenz von Arbeitszeit für die Reproduktion und Mehrarbeit im industriellen Produktionsprozeß eine pejorative Deutung erhält. Die Mehrwerttheorie zieht ihre Plausibilität daraus, daß sie einerseits Beschreibung des industriellen Produktionsprozesses sein will, andrerseits aber suggeriert, der Arbeiter würde, läge es nicht am Kapitalisten, die anthropologisch notwendige Arbeitszeit arbeiten — und zwar unter industriellen Verhältnissen, also nur ganz kurz arbeiten —, und im übrigen freier Mensch sein; oder nur unter nicht-kapitalistischen Verhältnissen mehr arbeiten. Dieser Auffassung entspricht, von der Seite des Kapitals her gesehen, die Deutung des Produktionsprozesses als Verwertungsprozeß, bei dem das konstante Kapital zwar vorausgesetzt, aber als indifferent für Zwecke der Theorie außer Betracht bleibt, so daß die Verwertung des Kapitals nur nach ν und m erörtert wird. Hier ergibt sich wiederum die Insinuation, daß es auch bei ν sein Bewenden haben könnte und m nicht zu rechtfertigen sei. Eine solche Auffassung ist abstrakt; sie übersieht für Zwecke einer Kritik geflissentlich, daß bei ν ohne m die Arbeitsveranstaltung unterblieben wäre, nicht nur aus kapitalistischem Egoismus, sondern weil c, das fixe Kapital und das Material, nicht berücksichtigt sind. Die Bedingung, daß es zu einer industriellen Arbeitsveranstaltung kommt, ist also in dem Maßstab, nach dem sie betrachtet wird, ignoriert. Das konstante Kapital ist gleich 0 gesetzt. (Transzendental betrachtet deshalb, weil es von der Arbeitswertlehre her gesehen am weitesten von der Arbeit als wertbildend entfernt ist und noch nicht erklärt worden ist.) Andrerseits muß das konstante Kapital, wenn es sich um einen industriellen Prozeß handelt, vorausgesetzt werden. Marx stellt sich an späterer Stelle44 vor, daß der Arbeiter ursprünglich seine Produktionsmittel selbst besessen hätte, aber dann expropriiert worden sei und nunmehr, nachdem durch die Expropriation konstantes Kapital gebildet worden sei, unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten müsse. D. h., für das transzendental unerklärte und ignorierte, aber anschaulich vorauszusetzende c muß eine „ursprüngliche Akkumulation" geltend gemacht werden, c muß geschichtlich, im Sinne einer Genesis, vorgestellt werden. (Wir kommen auf dies Thema der ursprünglichen Akkulation im thematischen Zusammenhang mit der Kapitalakkumulation später 14
Kapital I, M E W 2 3 , 7 4 2 f.
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Die Mehrwerttheorie
zurück45. Hier geht es zunächst nodi nicht darum, die Akkumulation als Resultat der Mehrwerttheorie darzustellen, und auch nodi nicht um das Problem, ob eine historische Darstellung von c durch ursprüngliche Akkumulation theoretisch befriedigt, sondern um die mit dem Begriff des Mehrwerts gegebene Sachlage, die ein solches ferneres Resultat der Theorie fundieren soll). Marx unterstellt mit dem Mehrwertbegriff, von der Seite der Arbeit her gesehen, man könne, wie im Fall eines Arbeitsprozesses als solchen, die Produktionsmittel neutral setzen — ob vorhanden oder nicht —, und bei vorliegenden industriellen Produktionsmitteln innerhalb eines Verwertungsprozesses nur ganz kurz, für das Reproduktionsdeputat arbeiten. Der bloße Begriff der verlängerten Arbeitszeit ist täuschend. Es ist so nicht berücksichtigt, daß die Arbeit die Verbindlichkeit hätte, für solche Produktionsmittel aufzukommen, was aus dem Modell des Arbeitsprozesses als solchen aber herausfällt, weil dieses abstrakt ist, auf beliebiger Ebene der Produktivität spielt. Entweder wäre solche Arbeit primitiv — oder, ge j schichtlich vorgestellt, archaisch —, dauerte bei selbem oder geringerem Ertrag für den Arbeiter ebensolange wie die im kapitalistischen Produktionsprozeß — dessen Arbeitszeit wäre also nicht verlängert' —, oder es bedürfe einer Erklärung, wie auch bei ganz kurzer Arbeit industrielle Produktionsmittel möglich sind. Das ist natürlich nicht gemeint: die Produktionsmittel müssen entweder durch Ausbeutung aufgebaut werden, so daß sie nach Beseitigung des Kapitalismus .geerbt' werden können, oder eine gesellschaftliche Kontrolle würde dafür sorgen, daß doch eine verlängerte Arbeitszeit stattfände, ein Mehrwert, nunmehr unter gesellschaftlicher Kontrolle, eingestrichen würde. Man kann aber nicht mit zweierlei Maß messen. Auch für den Kapitalismus müßte Arbeit für die Produktionsmittel eingeredinet werden. Dann würde das Problem ein ganz anderes: ob auch noch ein Profit für den Kapitalisten abfallen solle. Aber die Antwort auf diese Frage ist immer schon abhängig von der Mehrwerttheorie. Die so suggestive Idee der verlängerten Arbeitszeit und entsprechend des Mehrwerts hat ihre andere Stütze, von der Seite des Kapitals her gesehen — in der aus der Arbeitswertlehre abgeleiteten These, daß das Kapital nur einen Reproduktionslohn — wenn auch mit faktischen, marktgemäßen Abweichungen — zahle. Wenn wir uns aber nicht auf den ,reinen Fall' oder die transzendental bedingte Abstraktion der Theorie einlassen, so wäre gerade in der kapitalistischen industriellen Produktion die Möglichkeit, ja bei konkreter Berücksichtigung von Gegeninstanzen und einer Reflexion der Sozialpartner aufeinander die Notwendigkeit, gegeben, daß der Arbeiter im Verhältnis zur primitiven Situation mehr als den Reproduktionslohn oder mehr als den Ertrag der Primitivarbeit erhält. Wir wieder" Siehe unten 340 ff.; 430 ff.
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holen es: wir meinen nicht, daß Marx den Lohn in der ökonomischen Konkretion ignoriert habe, die Pointe ist nur, daß transzendental ein abstrakter Begriff vom Reproduktionsdeputat die Deutung der Konkretion beherrscht. Die Abweichung vom Reproduktionsdeputat ist faktische Konzession, und dabei nur Erscheinung eines tieferen Widerspruchs, Prinzipiat der Grundlage, die mit dem Mehrwertbegriff gelegt ist. Wir brauchen uns hier nicht mit einer Alternativtheorie zu beschäftigen, die der Erfahrung geredit wird, daß nicht nur der Kapitalist, sondern auch der Arbeiter unter industriellen Verhältnissen — auf Grund von c — ein Plus machen kann; aber wie auch immer eine solche Theorie aussähe, es gilt, daß der für die Dijudikation des Kapitalismus gebrauchte Mehrwertbegriff in irreführender Weise abstrakt und pejorativ ist. Der Mehrwertbegriff ist gegenüber dem Profitbegriff abstrakt, transzendental früher, und der Profit, die Anrechnung des Mehrwerts auf c und v, ist später; aber der Profitbegriff ist insofern primär und früher, als er konkret ist, ν und c einbezieht, also die Anlagen und das Material berücksichtigt, die allein die Produktionsform möglidi machen, in der mehr als das zu Reproduktion Nötige entsteht. Lassen wir uns, wie gesagt, nicht auf die transzendentale, arbeitswerttheoretische und, in weiterer Verfolgung mehrwerttheoretische, Deutung der kapitalistischen Ökonomie ein, so ist die Beurteilung von Lohn, Profit und Wohlstand wieder offen. Die Mehrwerttheorie ist, so zeigt sich, auf einer Abstraktion aufgebaut, aus der täuschend Pejoratives geschlossen wird. Näher handelt es sich um den Kontrast eines anthropologisch Abstrakten zur Dijudikation eines ökonomisch Konkreten, das auf der anthropologischen Folie pejorativ erscheinen soll. Oder, wenn wir die Ausgestaltung durch die sozialgeschichtliche These von der Expropriation hinzunehmen, die Abstraktion also sozialgesdiiditlich fundiert vorstellen, so erscheint sie statt geschichtlich als anadironistisch, auf einer Robinsonade aufgebaut. (Diese Einschätzung ist nicht sdion deshalb verfehlt, weil Marx selbst mitunter die Robinsonaden bei anderen Autoren der klassischen Nationalökonomie karikiert 46 ). Es ist ja klar, daß ein Arbeiter im Besitz seiner Produktionsmittel nicht derselbe Mensch ist, der in einer Fabrik arbeitet. Für die geschichtliche Epoche, wo Fabriken existieren, ist eine Produktion mit solchen Produktionsmitteln, die vom Einzelnen besessen werden können, nicht möglich; sie " Die Robinsonade muß nicht Ausgangspunkt, urgesdiiditlidies Grundmodell, einer Theorie sein, wie sich das der englischen Nationalökonomie imputieren läßt. Der Begriff kann auch, allgemeiner, für die Verwendung von abstrakten Modellvorstellungen im Zusammenhang mit einer Theorie — etwa für eine Abstraktion von bedingenden, koexistierenden ökonomischen Faktoren — gebraucht und also auf Marx selbst angewandt werden. Nur ist bei Marx die Rolle der Robinsonade versteckter und subtiler als bei der englischen Nationalökonomie. — Vgl. zur Robinsonade auch S. Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx 82 f.
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Die Mehrwerttheorie
wäre zu primitiv, zu wenig ergiebig. Sie ist audi nicht die Wirklichkeit, die in Marxens Kritik der Wirklidikeit Thema ist. Die Heranziehung einer robinsonadenartigen Produktion als Alternative und Maßstab läßt die Wirklidikeit auf zu billige Art pejorativ erscheinen. Die Folie der gutartigen Arbeit, die der Entfremdung untergelegt wird, wird, auf die konkrete Arbeitssituation bezogen, zur Robinsonade. J a , die Robinsonade wird dadurdi noch zur Utopie gesteigert, daß suggeriert wird, soweit der Arbeiter mehr arbeiten wolle, würde er die Möglichkeiten der industriellen Produktion für solches zusätzliches Einkommen zur Verfügung haben. Es ist denn auch kommunistische Auffassung, daß die vom Kapitalismus in einer erneuten Expropriation übernommenen und geerbten Produktionsmittel solches Mehreinkommen, solche größere Menge an Gebraudiswerten für den Arbeiter, ermöglidien würden. Man könnte nun noch einmal geltend machen, die Mehrwerttheorie sei nicht transzendental, sondern denke nur die wirkliche, zeitgenössische Wirklichkeit nach; die Theorie sei also empirisch fundiert. Abgesehen davon, daß die Theorie dann in Zeiten, wo aus innerökonomischen wie außerökonomischen Gründen Wohlstand besteht, obsolet wäre, bleibt es eine irreführende Unterstellung, die Fabrikarbeit — sei sie geschichtlich noch so sehr durch Expropriation zustandegekommen — nach einer Robinsonade zu beurteilen. N u r ein transzendentales Interesse, Theorie als Kritik zu geben, kann verständlich machen, daß M a r x so denkt, kann aber andrerseits vergessen machen, daß die industrielle Produktion die Alternative der vorgestellten ursprünglichen Produktion nicht mehr hat und also nicht nach diesem Maßstab beurteilt werden kann. Wir haben wieder einen Fall des Zusammenspiels von transzendentaler und vorstellender Methode, wie wir das schon früher verschiedentlich beobachteten. Wenn wir aber dem geschichtlichen Moment, das M a r x einführt, gerecht werden wollen, müßten wir sagen: die Mehrwerttheorie, indem sie die Alternative des Besitzes der Produktionsmittel und der Arbeit nur zur Reproduktion als Maßstab unterstellt, setzt eine Identität zwischen den Arbeitenden als solchen, zwischen Arbeitenden in geschichtlich angeblich ursprünglicher Situation, oder in anthropologisch prinzipiellen Verhältnissen, und den zeitgenössischen Arbeitern. Sie ,setzt' ein Geschichtssubjekt ,Arbeiterklasse', so daß sie dann, gestützt auf die Identität, sagen kann, die Produktionsbedingungen in der kapitalistischen Industrie beruhten auf Expropriation (hätten also ein Schicksal der Arbeiterklasse zur Erklärung) und seien selbst auf dieser Folie laufende Expropriation (Ausbeutung) der Expropriierten —, statt daß die systematischen Bedingungen des Kapitals erklärt würden. D a s Geschichtssubjekt Arbeiterklasse' leiht zusätzliche Plausibilität dafür, daß die Arbeitsleistung im Produktionsprozeß an der robinsonadenhaften Arbeit — aber unter industriellen Bedingungen — gemessen wird und daß die Produktionsmittel akzidentell sind (im anthropo-
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logischen Modell vom Arbeitsprozeß beliebig, sind sie für die Vorstellung nur primitiv; als Elemente eines Verwertungsprozesses, als konstantes Kapital, werden sie == 0 gesetzt). Ebenso scheint es plausibel, daß die Arbeiter die anthropologisch notwendige Arbeit, aber auf kapitalistischem Produktionsniveau, leisten und im übrigen freie Menschen sein oder, vielleicht, auf kapitalistischem Produktionsniveau, aber nicht unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen, mehr produzieren möchten. Aber so sind die industriellen Produktionsmittel nicht in einer erklärenden Theorie verständlich zu machen, und die These von der ursprünglichen Akkumulation zeigt denn auch, wie wir noch näher sehen werden, ein Ausweichen vor einer transzendentalen Erklärung des konstanten Kapitals. Die Kritik der kapitalistisdien Ökonomie ergibt sich, soweit die Mehrwerttheorie in Betracht kommt, erst durch eine Setzung, die die geschichtlichen und prinzipiellen anthropologischen Ursprünge urgiert, aber darin gerade eine Robinsonade ist, die die Funktion hat, Kritik möglich zu machen. Die Theorie ist damit, daß sie ein Geschichtssubjekt setzt, nicht mehr falsifizierbar: befriedigt die systematische Erklärung nicht, tritt die geschichtliche ein. Es handelt sich um ein quid pro quo von transzendentalem und vorstellendem, von systematischem und geschichtlichem Denken. Mit einem solchen Geschichtssubjekt .Arbeiterklasse' — das rückblickend von der Industriegesellschaft früheren Jahrhunderten imputiert wird, so wie die' begriffliche Allgemeinheit .Arbeit' geschichtlich nach rückwärts erstreckt werden kann — hat die Mehrwerttheorie allerdings eine Sprengkraft, die der praktischen Kritik des Kapitalismus zugutekommt. Aber die Theorie hat sich die Erlaubnis hierzu selbst erteilt. Wir werden später im Zusammenhang mit einer Reflexion auf die ganze Theorie des Kapitals eine noch einläßlichere Analyse der Mehrwerttheorie versuchen. Aber betrachten wir zunächst den weiteren Fortgang der Theorie.
VIH. Der Prozeß des Kapitals Die Mehrwerttheorie ist der versuchte Nachweis, daß Geld Ziel des ökonomischen Prozesses ist; sie eröffnet somit die eigentliche Theorie des Kapitals, und zwar in einer vom Mehrwert prinzipiierten Entwicklung. Die Erklärung des Kapitals durch den Mehrwert einmal zugestanden, wird der ,Prozeß' des Kapitals kategorial entfaltet. Der Prozeß ist in vielem auch ein geschichtlicher: das Kapital zeigt ζ. B. geschichtlich die Stadien, die sich systematisch von der Steigerung des relativen Mehrwerts her erklären lassen. Dies erinnert an Ausführungen in den Pariser Manuskripten, die schon Stadien der Wirtschaftsformen in Ansatz gebracht hatten, und zwar gedeutet als Abfolge von Stadien des Wesens Kapital. Die jetzige theoretische Durchführung ist jedoch völlig neu: Marx besitzt einmal das Theorem vom relativen Mehrwert zur Erklärung des Prozesses, zum anderen wird der geschichtliche Ablauf dadurch konkreter artikulierbar. Die Theorie beinhaltet einen Übergang von exemplarischen Stadien zu geschichtlichen, und entsprechend liegt die schon öfter beobachtete doppelte Begründung durch transzendentale Herleitung und durch Beschreibung oder Vorstellung — oder auch deren quid pro quo — vor; der Prozeß des Kapitals erscheint, nunmehr in näherer Durchführung, als transzendental theoretisiert und als geschichtlich beschrieben. Im übrigen gilt, daß die Progression der Kategorien innerhalb des Kapitals, oder auch dessen kategoriale Entfaltung, nicht mit der geschichtlichen Progression zusammenfällt, sondern eigner Art ist1. Beginnen wir mit einer Darstellung des Produktionsprozesses in seiner Entwicklung zum Verwertungsprozeß.
1. Phänomenologie des Produktionsprozesses Marx gibt zunächst eine Darstellung des Prozesses des Kapitals unter dem Gesichtspunkt der Produktion von relativem Mehrwert, was anschaulich bedeutet: unter dem Gesichtspunkt fortschreitender Rationalisierung. Wir können von einer Phänomenologie der Produktionsgestalten und, in ihrem dynamischen Verständnis, von einer Phänomenologie des Produktionsprozesses sprechen. Da hierfür mit weitgehender Bekanntheit gerechnet werden kann, geben wir nur ein kurzes kommentierendes Referat und daran anschließend eine kritische Reflexion. 1
Siehe oben 248 ff.
Phänomenologie des Produktionsprozesses
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Kooperation Die Phänomenologie geht zunächst auf die Arbeitsverhältnisse, also Produktionsverhältnisse im Sinne von gesellschaftlichen Verhältnissen ein. In einem vorerst noch systematischen Verständnis steht obenan die Kooperation. Sie ist gegenüber einer bloß quantitativen Summation von Arbeitenden qualitativ höherstufig2. Mit ihr erst ist eine bestimmte Ebene der Produktion möglich. Marx sieht dabei Kooperation entsprechend dem systematischen Ausgangspunkt nicht von vornherein unter der Alternative von freiem Zusammenschluß und entfremdeten Kollektiv, sondern rein als qualitatives Novum, und stellt auch die Verbindung her zum Gattungsvermögen des Arbeiters im planmäßigen Zusammenarbeiten mit Anderen 3 . Das Motto ist „gesellschaftliche Produktivkraft" 4 . Die Ausführungen über die Kooperation entsprechen also der früheren Lehre vom Gattungsleben und stellen eine schillernd anthropologisch-ökonomische Ausgangsposition dar. Über das Kapital als „Kommando" kommt aber nun eine Entfremdung in die Kooperation hinein. Ohne im gegenwärtigen Zusammenhang allererst eine Herleitung exemplarischer oder systematischer Art zu geben — wie wir sie heute, ebenfalls auf transzendentaler Basis, in Sartres Critique de la raison dialectique besitzen — setzt Marx gleichsam als Rahmen, in dem sich das Weitere abspielt, den Umstand, daß ein Dritter — als Aufsicht oder Kommando, als an der optimalen Verwertung Interessierter, der von Handarbeit entbunden ist — eine Pluralität von kooperativ Arbeitenden betrifft 5 . Zwar deutet Marx eine genetische Herleitung an, die er später etwas ausführlicher nachholt, nämlich, daß aus einem Kleinmeister ein Kapitalist werde, wenn der Mehrwert ausreiche, ihn von der Handarbeit zu entbinden, aber der systematische Gedanke ist im Vordergrund, wenn Marx meint: „Alle unmittelbar gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Arbeit auf größrem Maßstab bedarf mehr oder minder einer D i r e k t i o n . . . Diese Funktion der Leitung, Überwachung und Vermittlung, wird zur Funktion des Kapitals, sobald die ihm untergeordnete Arbeit kooperativ wird" 6 . Anscheinend ist Kooperation nunmehr nur Funktion des Kapitals: „Als unabhängige Personen sind die Arbeiter Vereinzelte, die in ein Verhältnis zu demselben Kapital, aber nicht zueinander treten. Ihre Kooperation beginnt erst im Arbeitsprozeß, aber im Arbeitsprozeß haben sie bereits aufgehört, sich selbst zu gehören. Mit dem Eintritt in denselben sind sie dem Kapital einverleibt. Als Kooperierende, als Glieder eines werktätigen Organismus, sind sie selbst nur eine besondre Existenzweise des Kapitals. Die Produktiv2 3 4 5 6
Kapital Kapital Kapital Kapital Kapital
I, I, I, I, I,
MEW 23, 347 f. MEW 23, 349. MEW 23, 353. MEW 23, 351. MEW 23, 350.
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D e r Prozeß des Kapitals
kraft, die der Arbeiter als gesellschaftlicher Arbeiter entwickelt, ist daher Produktivkraft des Kapitals. Die gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit entwickelt sich unentgeltlich, sobald die Arbeiter unter bestimmte Bedingungen gestellt sind, und das Kapital stellt sie unter diese Bedingungen. Weil die gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit das Kapital nichts kostet, weil sie andrerseits nicht von dem Arbeiter entwickelt wird, bevor seine Arbeit selbst dem Kapital gehört, erscheint sie als Produktivkraft, die das Kapital von Natur besitzt, als seine immanente Produktivkraft" 7 . Gibt es Kooperation schon bei Gemeineigentum und Stammesverhaftetheit sowie bei unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen, so erscheint die kapitalistische Kooperation „nicht als eine besondre historische Form der Kooperation, sondern die Kooperation selbst als eine dem kapitalistischen Produktionsprozeß eigentümliche und ihn spezifisch unterscheidende historische Form" 8 . Die kapitalistische Kooperation ist die Entelechie, nach der das Phänomen der Kooperation überhaupt verstanden werden muß. Marx stützt sich also auf das Phänomen von immer schon negativer, entwickelter, kooperativer Produktion, zu der es eine abstrakte Kategorie, eine einfache Gestalt der immer schon von der negativen Entelechie her zu verstehenden Kooperation gibt, die Prinzip ist und in einem entwickelten Stadium der Ökonomie in ihrer Abstraktheit konkret als besondere Form' erscheint9. So fehlen entsprechend verständliche Ubergänge vom Positiven zum Negativen. Die Kooperation ist einerseits positiv, aber primitiv oder archaisch, andrerseits immer schon negativ; die Idee einer gesellschaftlichen Produktivkraft bleibt als Folie der entfremdeten Produktionsverhältnisse erhalten, so daß eine solche Produktivkraft auch unter einem gutartigen Kommando, oder ohne solches, in jedem Fall ohne die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Industrie, dieselbe Produktivkraft sein könnte. Marx äußert sich zu einem solchen positiven Fall, wenn er in späterem Zusammenhang von den Kooperativfabriken und der Entbehrlichkeit des Kapitalisten als Eigentümer spricht: „Die Kooperativfabriken liefern den Beweis, daß der Kapitalist als Funktionär der Produktion ebenso überflüssig geworden, wie er selbst, in seiner höchsten Ausbildung, den Großgrundbesitzer überflüssig findet. Soweit die Arbeit des Kapitalisten nicht aus dem Produktionsprozeß als bloß kapitalistischem hervorgeht, also [nicht] mit dem Kapital von selbst aufhört; soweit sie sich nicht auf die Funktion beschränkt, fremde Arbeit zu exploitieren; soweit sie also aus der Form der Arbeit als gesellschaftlicher hervorgeht, aus der Kombination und Kooperation vieler zu einem gemeinsamen Resultat, ist sie ganz ebenso unabhängig vom Kapital, wie diese Form selbst, sobald sie die kapitalistiKapital Kapital • Kapital 7 8
I, M E W 23, 352 f. I, M E W 23, 354. I, M E W 23, 355.
Phänomenologie des Produktionsprozesses
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sehe Hülle gesprengt hat. Sagen, daß diese Arbeit, als kapitalistische Arbeit, als Funktion des Kapitalisten notwendig sei, heißt nichts, als daß sich der Vulgus die im Schoß der kapitalistischen Produktionsweise entwickelten Formen nicht vorstellen kann, getrennt und befreit von ihrem gegensätzlichen kapitalistischen Charakter" 10 . Marx selbst liefert jedodi die verlangte Vorstellung nicht. Aber gehen wir zu unserem gegenwärtigen Zusammenhang zurück. Es ist mit der Konzeption der Kooperation nur der Rahmen abgesteckt, der einerseits prinzipiell an der Entelechie der ökonomischen Kooperation, der kapitalistischen Produktion orientiert ist, andrerseits die anthropologische Kooperation durchscheinen läßt, die Gleiches können soll und am Ende können wird. Die Orientierung an der Entelechie umgreift — wie wir es schon in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie gesehen haben — spezifische historische Formen, die von ihr her als defizient und vorläufig interpretiert werden. Die historische Entwicklung erscheint so systematisierbar. Die Kooperation ist dabei „die erste Änderung, welche der wirkliche Arbeitsprozeß durch seine Subsumtion unter das Kapital erfährt. Diese Änderung geht naturwüchsig vor sich. Ihre Voraussetzung, gleichzeitige Beschäftigung einer größren Anzahl von Lohnarbeitern in demselben Arbeitsprozeß, bildet den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion. Dieser fällt mit dem Dasein des Kapitals selbst zusammen" 11 . Die weitere Darstellung bei Marx verfolgt diesen naturwüchsigen Prozeß als positiven, anschaulichen Prozeß, der gleichzeitig ein Sichvollbringen der Kritik ist.
Arbeitsteilung Die weitere Analyse setzt an bei der Arbeitsteilung, wie sie in dem ersten, nicht mehr amorphen Kooperationsverhältnis — der Manufaktur — vorliegt. Im Zuge einer Phänomenologie der Produktionsgestalten erscheint sie in doppelter Form: einerseits ist sie pluralistischer Zusammenschluß, andrerseits ist sie ein Sich-Zusammenfinden von Produzenten einer Spezialität, eines Gleichartigen. Es wird also unterschieden zwischen „organischer" und „heterogener" Manufaktur 12 . Hier fallen interessante Bemerkungen Marxens über den Teilarbeiter und sein Werkzeug, die Verbesserung der Arbeitswerkzeuge, die Verstümmelung des Teilarbeiters 13 . Auch erscheint das Gesetz der Arbeitszeit schon als maßgebend für die Manufaktur, und zwar als bedingt durch die Kooperation. 10
11 12 15
Kapital III, MEW 25, 400. — Wichtig ist, daß die gutartige, aber entwickelte Kooperation «¿¡^kapitalistisch ist. Vgl. auch oben 312. Kapital I, MEW 23, 354. Kapital I, MEW 23, 356 ff.; 362. Kapital I, MEW 23, 361; 382.
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Der Prozeß des Kapitals
In einer genetischen Betrachtung wird die Arbeitsteilung hergeleitet aus dem Austausch am Rande von autarken Gemeinwesen14 und dann verfolgt zum Stadium einer Arbeitsteilung im Innern der Gesellschaft, die Analogien zur Teilung der Arbeit innerhalb der Werkstatt habe 15 . Es zeigt sich schon ein Gegensatz von gesellschaftlicher Disponibilität (Amorphismus, Anarchie) und Despotie 16 , eine Beobachtung, die später, in der Analyse des Industriekapitalismus, entfaltet wird, bei dem disponible Massen Voraussetzung, aber auch Produkt, des Kapitals sind. Mit der Arbeitsteilung gewisser Höhe wird das Kapital, gleichsam als konkretere Ausprägung seiner Funktion als Dritter, dirigierend. Es wird organisches Subjekt, insoweit die Teilarbeiter dies nicht mehr sind17. Es zeigt sich menschliche Verkrüppelung auf der einen Seite, Planung auf der anderen Seite19, als Vorstufe einer Einbeziehung sogar der Wissenschaft auf der Stufe der eigentlichen Industrie. Marx sieht audi etwa, daß — was der Arbeitsteilung unter der Regie eines Dritten entspricht —, mit dem Kapital in der Manufaktur eine hierarchische Gliederung unter den Arbeitern selbst entsteht 18 . Die Manufaktur ist schon eine kapitalistische Produktionsform, und die klassische politische Ökonomie ist in ihrer Theorie an einer manufakturmäßigen Produktionsform mit ihrer Teilung der Arbeit orientiert 20 . Es besteht also ein Interesse an der Verwohlfeilerung und an der Akkumulation: bei demselben Quantum Arbeit mehr Ware (dies entgegen einer antiken Auffassung, die nicht an Quantität und Tauschwert orientiert war, sondern am Gebrauchswert und entsprechend am Exzellieren des Talents als Rechtfertigung der Arbeitsteilung 21 ). Die Manufaktur erscheint als Schranke, weil sie zu sehr auf dem Handwerksgeschick der Arbeiter basiert und diese ihrerseits widerspenstig sind: sie brauchen eine gewisse Lehrzeit, besitzen eine Exklusivität als Fachleute, sind also nicht genügend disponibel; auch arbeitet die Familie nicht mit 22 . Kurz: die Manufaktur besitzt noch „kein von den Arbeitern selbst unabhängiges objektives Skelett", wie dies im Kapitalismus der großen Industrie vorliegt. Der Übergang zur großen Industrie wird gedacht als Ausbildung eines Widerspruchs von Entwicklungsgrad und Produktionsbedürfnissen; der Entwicklungsgrad ist gehemmt durch die genannten Faktoren 14
Kapital I, MEW 23, 372—75. Kapital I, MEW 23, 375—78. "> Kapital I, MEW 23, 377. 17 Kapital I, MEW 23, 382. 18 Kapital I, MEW 23, 385. 18 Kapital I, MEW 23, 381. 20 Kapital I, MEW 23, 386. 21 Vgl. die schon oben erwähnte Stelle Kapital I, MEW 23, 386 f. 22 Kapital I, MEW 23, 389. 15
Phänomenologie des Produktionsprozesses
329
auf Arbeiterseite, während die Produktionsbedürfnisse steigen. Aber auch die Produktivkräfte steigern sich dadurch, daß die Manufaktur Arbeitsinstrumente (Maschinen) produziert, die die handwerksmäßige Tätigkeit aufheben 28 . Dabei ist die eine Erklärung teleologisch (das Steigen der Produktionsbedürfnisse, worin eine Antizipation der modernen Gesellsdiaft liegt), die andere kausal (die Leistungsfähigkeit der Maschine). Marx gibt in diesem Zusammenhang eine phänomenologische Analyse der Maschine im Verhältnis zu den Arbeitern 24 , weiter des Maschinensystems und des objektiven Gesamtprozesses, in dem das subjektive Prinzip der Teilung der Arbeit mit verschiedenem Werkzeug, je nach Funktion, wegfällt 25 . Der Arbeiter findet einen objektiven Produktionsmechanismus vor, er ist zur Kooperation gezwungen. Damit hat sich ein naturwüchsiger Übergang von der Manufaktur zur großen Industrie vollzogen 28 . Die neue Produktionsweise entspricht der Arbeitswerttheorie: die Wertabgabe an das Produkt je Einheit wird vermindert, die Produkteinheit wird billiger 27 . Die Maschine ist also je weniger Wert abgebend desto produktiver 28 . Ihre Grenze liegt in den Arbeitskosten, die bei ihrer Herstellung entstehen 29 .
Soziale
Rückwirkungen
Zur Konkretion der Industrie gehört auch ihr Einfluß auf die Arbeiter in sozialer Hinsicht allgemein, und so finden wir bei Marx eine konkrete Phänomenologie der Entfremdung in der zeitgenössischen Industrie: es kommt zur Aneignung zuschüssiger Arbeitskräfte, also zu Frauen- und Kinderarbeit, zur Verlängerung des Arbeitstages — der Automat Maschine muß genutzt werden 80 — und zur Intensivierung der Arbeit. Die Arbeiter sind hilflos von der Maschine abhängig; statt, wie in der Manufaktur, sich des Werkzeugs zu bedienen, dient der Arbeiter der Maschine 81 . Ein paralleles Phänomen ist die Freisetzung von Arbeitskräften durch die Maschine32. Marx kritisiert in diesem Zusammenhang die Theorie, die eine Freisetzung kompensiert glaubt durch Expansion — ein Thema, das schon eine genauere Auffassung von der Akkumulation des Kapitals voraussetzt. Es versteht sich aber schon hier, daß Marx die ,KompensationsKapital Kapital 25 Kapital 28 Kapital 27 Kapital 28 Kapital » Kapital *> Kapital 81 Kapital 32 Kapital 28
21
I, MEW 23, 403. I, MEW 23, 391—98 (—407). I, MEW 23, 401. I, MEW 23, 403. I, MEW 23, 414. I, MEW 23, 411. I, MEW 23, 414. I, MEW 23, 426. I, MEW 23, 445. I, MEW 23, 454; 461—70; bes. audi 640 ff.
330
Der Prozeß des Kapitals
theorie' ablehnt; er sieht nicht die Möglichkeit einer Expansion auch arbeitsintensiver Industriezweige oder audi der Dienstleistungsberufe — in diesem Zusammenhang denkt er nur an „Haussklaven" 38 —, ist er doch orientiert an der industriellen Produktion. Die Ausdehnung der Arbeit in andere Industriezweige, zu der die Expansion „treibe", erscheint ihm geradezu als Notlösung, statt als Positivum 84 . Vielmehr denkt er an eine Fluktuation der disponiblen Arbeiter 85 . Demnach herrscht ein sich selbst stabilisierendes System der niedrigen Löhne, ein Regelkreis, wobei bei steigendem Arbeiterbedarf auf einer gegebenen technologischen Stufe die Löhne steigen und mehr Arbeiter angezogen, bei Rationalisierungsmaßnahmen, d. h. bei Steigerung von c, pro c-Einheit weniger, wenn audi nidit absolut weniger Arbeiter benötigt werden. Marx denkt also an Besdiäftigungszyklen parallel zu Zyklen von c-Expansion, v-Expansion, erneuter c-Expansion usw., bei fortschreitender relativer Abnahme von v 8e . Wir übergehen hier weitere Analysen, etwa der Heimarbeit 37 und des Verhältnisses von Industrie und Landwirtschaft 38 , wiewohl dies Themen sind, wo Marx am ehesten sich von einer industriellen Sicht der Arbeit in der kapitalistischen Zeit lösen muß. Ebenfalls in unserem Zusammenhang zu übergehen sind Ausführungen über den Lohn, in denen Marx an der Bewertung der Arbeit, die anthropologisch nicht Ware ist, Anstoß nimmt, wie wir das schon in den Pariser Manuskripten fanden.
Beschreibung und Theorie Wie gesagt lassen sich die skizzierten Analysen als eine Phänomenologie des Produktionsprozesses verstehen. Das Entscheidende, das mit dieser Phänomenologie dargetan sein soll, ist, daß der Produktionsprozeß in Einheit mit einem Verwertungsprozeß des Kapitals geschichtlich prozessiert. Marx versucht, den Prozeß des Kapitals in einer verstehenden Erfassung des Produktionsprozesses und der gesellschaftlichen Verhältnisse zu entwickeln. Er holt gewissermaßen die positive Theorie nach39. Er glaubt damit auch die ökonomische, geschichtliche Zwangsläufigkeit des Kapitals dargetan zu haben. Die Phänomenologie gibt sidi als eine Beschreibung, die positive Bestände sichtet, audi Übergänge als verständlich vorführt, aber geleitet ist 33
Kapital I, MEW 23, 469. Kapital I, MEW 23, 469. Überhaupt kann man von einer mißverstehenden Bewertung der Expansion sprechen. Vgl. bes. ebd. 462; 640 ff.; 473; 589 ff. 35 Kapital I, MEW 23, 470—82. 36 Kapital I, MEW 23, 473. 37 Kapital I, MEW 23, 489—93. 38 Kapital I, MEW 23, 527—30. 3 » Vgl. oben 177 ff.; 184 ff.; 228 f. 34
Phänomenologie des Produktionsprozesses
331.
von einer negativen Theorie, hier: der Steigerung des relativen Mehrwerts zwecks A k k u m u l a t i o n des (negativen) Kapitals. Anders als bei einer eigentlichen Phänomenologie, oder auch als bei einer positivistischen Soziologie, steht bei M a r x die genannte negative Theorie in einer S p a n n u n g z u r positiven Beschreibung. W i r haben, wie oben schon geltend gemacht w u r d e , ein Zusammentreffen v o n positiv-undialektischer u n d negativ-dialektischer Theorie, von anthropologischer, gesellschaftlicher, ja technologischer u n d ökonomischer Theorie, v o n Empirie u n d Theorie. Die R a t i o n a l i t ä t dieser Phänomenologie steht im G r u n d e in Konflikt mit der Dialektik, sei sie nun negativ derart, wie die Marasche es ist, oder affirmativ-dialektisch wie die Hegeische. Die Phänomenologie des Kapitals ist bezogen auf dasselbe Thema, das von der ökonomischen Theorie dargetan werden soll. Wenn wir oben schon der Mehrwerttheorie unterstellten, d a ß mit ihr den Arbeitern eine geschichtliche K o n t i n u i t ä t unterstellt wird, d a ß sie also z u m Geschichtssubjekt werden, z u r Hypostase, so ist dies jetzt auch f ü r das Kapital, den Inbegriff der Produktionsverhältnisse, behauptet. Das K a p i t a l ist Gescbicbtssubjekt, geschichtliche Hypostase. Es bewegt sich durch die Geschichte, es macht die Geschichte, soweit sie Vorgeschichte ist, d. h. noch nicht im Reich der Freiheit angekommen ist. In eins damit erscheinen die Arbeiter als das Moment in dieser Geschichte, als mit dem K a p i t a l verwoben, als Geschichtssubjekt im Schatten des anderen, wesentlichen Geschichtssubjekts. D e r Ü b e r g a n g von ökonomischen Formeln, v o n der Systematik, z u r K o n k r e t i o n der Gesdiichte mit d e m aktiven A k t e u r K a p i t a l u n d dem passiven A k t e u r Arbeiter ist vollzogen. W i r haben eine polare oder duale Sozialsituation im Unterschied etwa z u der pluralen Faktorenanalyse von Smith u n d Ricardo, bei der den Wertanteilen im P r o d u k t oder den „Revenuen" gesellschaftlich „orders", Klassen, entsprechen 4 0 . Für die Erfassung des geschichtlichen Prozesses dient eine eigentümliche Verbindung v o n anschaulicher Deskription, oder Phänomenologie der technologischen Veränderungen, u n d Theorie. Wir wiesen schon darauf hin, d a ß der Ü b e r g a n g von M a n u f a k t u r zu großer Industrie einmal als kausal, in beschreibender Darstellung, und z u m andern als teleologisch, in theoretischer Darstellung, erscheint. W a r diese Teleologie d o r t an den Produktionsbedürfnissen orientiert, so ersdieint sie sonst als eine des Kapitals, seiner Gewinnoptimierung d u r d i Steigerung des relativen Mehrwerts. G a n z nach dem P r o g r a m m einer K r i t i k der Wirklichkeit, die Theorie geworden ist, soll die Beschreibung, die Empirie, als Theorie maßgebend sein. Sie w i r d angew a n d t auf vergangene Wirklichkeit wie auf die zeitgenössische, v o n der als entwickeltster F o r m sie ihre Gesichtspunkte bezieht —, u n d damit soll in 40
Vgl. A. Smith, The Wealth of Nations 248 („orders"; siehe auch 47 ff. und 52) und D. Ricardo, Principles 1 („classes").
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Der Prozeß des Kapitals
der Geschichte auch die dialektische Theorie des Wesens des Kapitals, eben gleichsam deskriptiv, aufgewiesen werden. Es erscheint dann selbstverständlich, daß die Veränderung der Produktionsverhältnisse einerseits in der Wirklichkeit als Kausalprozeß abläuft, als Veränderung des Arbeitsprozesses auf Grund eines technologischen Sachzwanges, andrerseits sich aus der negativen Entelechie des Kapitals versteht.
Das Kapital als Gescbichtssubjekt Entscheidend für das Zusammenspiel der beiden Theorieaspekte ist die Bedingung, die die Theorie selbst als erfüllt setzt: nämlich daß es sich beim Kapital, zusammen mit den ihm untergeordneten Arbeitern, um ein dominantes Geschichtssubjekt handelt, das also einerseits konkrete Wirklichkeit, andrerseits Hypostase der Theorie ist. Die Theorie hat sich selbst die Erlaubnis erteilt zu ihrer These, indem sie die Hypostase setzt. Ist ein solches dominantes Geschichtssubjekt zugestanden, dann kann es keine Falsifizierung der Theorie mehr geben; alles in der Welt der Ökonomie Vorkommende muß als Ausbeutung erscheinen. Es wäre nicht denkbar — und auch nicht beschreibbar —, daß es eine nicht-duale, pluralistische Gesellschaftsstruktur oder daß es eine gleichgewichtige Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit gäbe, welche Ausbeutung verhindert, einen Ausgleich, ein konkretes Allgemeines, denn: das Geschiehtssubjekt .Kapital' ist nicht durch einen systematischen Gegenentwurf in der Theorie zu transzendieren; was auch immer als Gegenmöglichkeit behauptet wird, müßte sich geschichtlich unter der Regie des Kapitals abspielen. Und da das Kapital die Regie hat, Wesen des ökonomischen Prozesses ist, muß die systematische Gegenmöglichkeit auch theoretisch ausgeschlossen bleiben; das Verhältnis von Kapital und Arbeit ist durch Wesen und Moment, wie sie dem Geschichtsprozeß unterstellt werden, kompromißlos erfaßt. So erscheint auch eine Lösung geschichtlich nur als Zuendespielen der Bewegung des Kapitals möglich41. Die Einheit der Theorie des Geschichtssubjekts Kapital und der Deskription der Produktion ist derart, daß eine Ablösung beider Momente von einander nicht möglich zu sein scheint. Es herrscht das schon früher geltend 41
Es ist im übrigen zu berücksichtigen, daß wir uns bei Marx auf der Ebene des Kapitals als Wesen befinden nicht nur in dem Sinn einer Vorherrschaft des Kapitals über das Unwesentliche, sein „Zubehör", die Arbeiter, sondern auch in dem Sinn eines .Kapitals im allgemeinen' gegenüber den Einzelkapitalen. Die Konkretion im Sinne einer Pluralität von Kapitalen und die andersartigen Verhältnisse, die durch deren Berücksichtigung hereinkämen, sind abgeblendet, sind die vielen Kapitale doch Exemplare, aber ebenso auch Prinzipiate, des .Kapitals im allgemeinen'. Wir nehmen zu dieser Sachlage später Stellung. Siehe unten 443 ff.
Phänomenologie des Produktionsprozesses
333
gemachte quid pro quo von gesellschaftlicher, in weitem Sinne anthropologischer, jetzt auch technologischer, Analyse und ökonomischer Theorie. Ist im Grunde nicht gezeigt, daß wegen gesellschaftlicher und produktionsmäßiger Wandlungen — etwa einer Komplikation des Arbeitsprozesses — die ökonomische Konzentration im Wesen Kapital zwingend ist, so tritt die Idee der Maximierung des relativen Mehrwerts dafür ein. Die Unterstellung dieses Zusammenhangs, das Zusammen treffen beider Gedanken, erscheint f ü r gewöhnlich als Tugend der Marxschen Theorie. Aber der Zusammenhang ist höchstens de facto, in der Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert, erfüllt (der Geltungsgrund wäre die Empirie), nicht theoretisch gezeigt (die Tendenz auf die Wesenslogik ist nicht zwingend). Nicht insofern der Prozeß industrieller Prozeß ist, ist er auch schon pejorativ-kapitalistischer Prozeß. Marx meint aber umgekehrt, daß die Entfaltung des Arbeitsprozesses nur den Weg über einen kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozeß gehen kann. Der Begriff „naturwüchsig", der f ü r die Entwicklung vom Positiven zum Negativen, aber andrerseits f ü r die Entfaltung der Produktion steht, ist so gestellt, daß er beides schon immer als anscheinende Selbstverständlichkeit beinhaltet. Solange nicht eine gesamtgesellschaftliche Organisation der Produktion statthat, handelt es sich um eine Entwicklung auf der anderen Seite, einen Prozeß des Kapitals als negativem Wesen, bis hin zum Resultat seiner dialektischen Auflösung. Andrerseits handelt es sich um eine natürliche, .positive* sich von selbst machende Entwicklung der Produktion mit anschaulicher Plausibilität. Die Entfaltung der Produktion kann nur über den Kapitalismus gehen, so scheint es, um erst danach sich davon zu emanzipieren.
Entfremdung
und
Kapital
Man könnte etwa, als Gegenprobe, die Frage stellen, was von den phänomenologischen Analysen der kapitalistischen Produktion zurückzunehmen wäre, wenn die Industrie nicht mehr kapitalistisch organisiert wäre. Inwiefern kann die prinzipiell gutartige „Kooperation", oder ein gutartiges „Kommando", die Dinge übernehmen, und doch nicht zurückfallen zu primitiven Verhältnissen? Diese Frage ist von der Theorie her nicht zu beantworten, und Marx selbst gibt nur gelegentlich einen programmatischen Ausblick, so wenn er über allseitige Ausbildung der Arbeiter, über technologischen Unterricht und die Familie 42 spricht, wie sie als Alternative zur kapitalistischen Situa« Kapital I, MEW 23, 512; 514.
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Der Prozeß des Kapitals
tion zu denken wären, oder wenn er, wie wir sdion sahen, die kooperativen Fabriken lobend herausstellt. W i r sehen jetzt noch einmal von einer neuen Seite: die Theorie kann diese Fragen höchstens abstrakt-programmatisch beantworten, weil sie selbst, als K r i t i k der Wirklichkeit, Konkretion nur mit negativen Termini denkt und die Affirmativität nicht theoretisieren kann. D a f ü r muß die Vorstellung eines positiven Anschlußprozesses eintreten. Nachdem die Produktion und die Kooperation kapitalistisch entwickelt ist, folgt die gesamtgesellschaftliche Organisation, die als unmittelbare Kooperation nicht möglich war. Die Theorie sieht ein nachkapitalistisdies Stadium vor, das sie vorstellend als positives Stadium versteht, dialektisch aber als „Negation der Negation" 4 8 bestimmt. Dabei soll das gutartige anthropologische Fundament der Arbeit wieder zum Vorschein kommen, gleichsam nach dem modus tollendo ponens. Aber gleichzeitig bedeutet diese nachkapitalistische, kommunistische Alternative auch ein Fazit aus dem Kapitalismus, ein Beerben, eine Übernahme der Produktionsbedingungen. Die Kooperation ist auf dem Weg über den Kapitalismus gelernt worden. Es handelt sich um eine zwiespältige Inanspruchnahme der Dialektik, als wesenslogisch orientiert und zurückkehrend zur Seinslogik (Assoziation) und gleichzeitig als fortschreitend zur Hegeischen Begriffslogik (Synthese, Aufhebung im positiven Sinn). D e r Kommunismus soll als Optimum die Errungenschaft des Kapitalismus in sich bewahren, also Produktion auf höchster Stufe sein. D i e Extrapolation dieses Zustandes ist an der Eigentumsfrage orientiert, also am gesellschaftlichen Eigentum der Produktionsmittel. D i e Phänomenologie der Produktion hat aber Dinge als mit dem Kapitalismus eng verknüpft ausgegeben, die indifferent sind gegen die Eigentumsfrage, so die Umstände der industriellen Produktion (die M a schine, die Bedienung der Maschine usw.). D i e anthropologische Entfremdung ist also — dies zeigt die Gegenprobe — nicht mit der Lösung der Eigentumsfrage schon beseitigt, also wird audi das Eigentum nicht notwendig für die Rolle verantwortlich sein, die M a r x ihm zuweist. Aber die Theorie muß dies behaupten, weil sie das Kapital als geschichtliches Durchgangsstadium der Entfaltung des Produktionsprozesses sieht, der gleichzeitig dem Wesen K a p i t a l als Verwertungsprozeß unterliegt. Die Theorie kann Produktion nur in einer K r i t i k theoretisieren, und die systematische Dignität dieser K r i t i k kommt der Notwendigkeit des Kapitalismus als geschichtlichen Phänomens zugute. Die Verbindung von geschichtlich-faktischem Prozeß — der Entfremdung der Produktion durch das K a p i t a l — und Theorie der Entfremdung wäre harmlos, wenn daran nidit die These hinge, daß eine gutartige kapitalistische oder eine sonstwie nicht-kommuni45
Kapital I, MEW 23, 791. — Im Gegensatz zu Althusser {Pour Marx 205) halten wir diese — strukturalistisdi nidit akzeptable — Konzeption einer „Negation der Negation" bei Marx für durchaus wesentlich. Siehe audi unten 397; 476 ff.; 489.
Die Akkumulation des Kapitals
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stisdie Alternative unmöglich ist. Dies letztere zeigt die Theorie nicht, oder nur durch ein quid pro quo. Die Theorie befindet sich in einer Schwierigkeit: sie muß sich ein nachkapitalistisdies Stadium ansetzen, kann es aber nur (und zwar abstrakt) vorstellen. Dies nachkapitalistisdie Stadium läßt sich nur vom Kapitalismus als notwendiger Voraussetzung her bestimmen; darüber hinaus läßt es sich nur, im besseren Fall, heuristisch, im schlechteren Fall, dogmatisch behandeln (wir denken etwa an das Konzept der Kooperativfabriken). Die Theorie meint, von der Theoretisierung des Kapitals her Strenge zu besitzen, besitzt sie aber für die affirmative Alternative nicht.
2. Die Akkumulation des Kapitals Die geschichtliche Phänomenologie des Prozesses des Kapitals nach seinen Produktionsformen hat in ihren letzten Stadien schon vorgegriffen; vom ökonomischen Standpunkt aus muß das Wachstum des Kapitals, sein „Akkumulationsprozeß", erst vorgeführt werden. Dabei ergibt sich für die konkreteren Stadien die schon betrachtete Konvergenz mit der Phänomenologie des Produktionsprozesses. Beide Analysen bleiben aber doch zweierlei. Wir geben für die nunmehr anstehende Analyse des Akkumulationsprozesses ein kurzes kommentierendes Referat. Eine allgemeine Bemerkung sei noch vorausgeschickt. Für die Betrachtung schon des Bisherigen, der abstrakten Begründungsschritte, aber vielleicht noch deutlicher beim Folgenden, der konkreteren ökonomischen Theorie, bei der das Interesse zunehmend der Koexistenz des nacheinander Entwickelten gelten muß, macht sich der Nachteil bemerkbar, der darin liegt, daß wir die sukzessive, transzental-lineare Theorie unsererseits nacheinander durchgehen. Einmal bedingt dies Verfahren in der Darstellung Wiederholungen; zum anderen ist es schwierig, die Mängel, die durch das Nacheinander der Marxsdien Theorie hereinkommen, angemessen in Anlehnung an dies Nacheinander zu untersuchen, ist doch dies Nacheinander die crux der Theorie. Wir können diesen Weg jedoch nicht vermeiden, da wir Marxens Theorie, und zwar als die transzendental-lineare Theorie, die sie ist, verfolgen müssen. Die Theorie der Akkumulation des Kapitals ist die Theorie seiner Entelechie, Subjektivität und Selbstzweckhaftigkeit. Für die Analyse sieht Marx von relativierenden (oder koprinzipiierenden) Faktoren ab, setzt also z. B. voraus, daß der Verkauf der produzierten Waren gelingt44, ferner, daß der Kapitalist der Eigentümer des ganzen Mehrwerts ist, also die 44
Kapital
I, MEW 23, 589. Zu diesen Voraussetzungen vgl. sdion oben 273; 291f.
336
Der Prozeß des Kapitals
A u f s p a l t u n g des Mehrwerts auf mehrere Kapitalisten (Kreditgeber, G r u n d besitzer, a u d i den Fiskus), also Zins, Handelsgewinn, Grundrente, Steuer vernachlässigt w e r d e n können. D a s sind spätere — transzendental spätere — Themen, die erst mit der eigentlichen K o n k r e t i o n des Kapitals in den Blick kommen, M a r x will, wie schon bisher, die „innere N a t u r " des K a pitals herausarbeiten. E r betrachtet die A k k u m u l a t i o n abstrakt u n d meint, jene A u f s p a l t u n g des Mehrwerts „ ä n d e r t nichts a n seiner N a t u r " 4 5 ; die Zerspaltung des Mehrwerts, also die Konkretion, v e r d u n k l e vielmehr die „einfache G r u n d f o r m " des Akkumulationsprozesses. Ebenso gilt, d a ß das K a p i t a l verstanden w i r d als voll produzierend, als seine K a p a z i t ä t voll n u t z e n d ; es ist ja prinzipiell K a p i t a l . D a s P r o b l e m der Kapazitätsausn u t z u n g u n d eventueller Rückwirkungen mangelnder Auslastung k a n n keinen Einfluß auf die Theorie haben. (Das h a t Bedeutung f ü r spätere Themen wie Angebot u n d Nachfrage, K o n k u r r e n z u n d Krisen. Aber davon später.)
Einfache
Reproduktion
Systematisch erstes Thema ist die sog. einfache Reproduktion des K a p i tals. Sie ist definiert als der Fall, w o die Einkünfte des Kapitals periodisch verzehrt werden, wie sie gewonnen w u r d e n , so d a ß n u r die Produktionskosten bezahlt werden, der P r o d u k t i o n s a p p a r a t nur weiterläuft 4 8 . Dieser einfache Fall wäre der I n d i f f e r e n z p u n k t , w o das K a p i t a l noch keine spezifisch kapitalistische Daseinsberechtigung h a t ; es w ä r e vielmehr n u r „eine besondre historische Erscheinungsform des Fonds v o n Lebensmitteln oder des Arbeitsfonds, den der Arbeiter zu seiner Selbsterhaltung und R e p r o d u k t i o n b e d a r f " 4 7 ; das was dem Arbeiter selbst gehören könnte, w i r d ihm nun v o m K a p i t a l vorgeschossen. D a s K a p i t a l leistet d a r ü b e r hinaus nichts; es verwandelt n u r den W a r e n w e r t in Geld in F o r m v o n Lohn. Seine Dazwisdienkunft ist im G r u n d e entbehrlich, so sdieint es, u n d verweist f ü r seine Rechtfertigung auf Späteres, auf die Entelechie des Kapitals. D i e Folgen aber schon des Lohnarbeitsverhältnisses als solchen sind schwerwiegend: der Bereich der individuellen Konsumtion des Arbeiters w i r d der p r o d u k t i v e n Konsumtion (seiner Arbeitskraft durch das K a p i tal) dienstbar. D e r L o h n wird gezahlt zur R e p r o d u k t i o n des Arbeiters als Produktionsmittel u n d dient so d e m Kapital 4 8 . Die Arbeiterklasse ist „ Z u b e h ö r " des Kapitals 4 9 . Das K a p i t a l arrangiert die Arbeitsbedingungen, sei 45
Kapital " Kapital 47 Kapital 48 Kapital 49 Kapital
I, MEW 23, 590. I, MEW 23, 592. I, MEW 23, 593. I, MEW 23, 597. I, MEW 23, 598.
Die Akkumulation des Kapitals
337
es durch Verhinderung der Emigration, sei es durch sonstiges Hinwirken auf eine Überzahl von Arbeitskräften wie Entlassungen usw.
Die Reproduktion
des Kapitals
auf erweiterter
Stufenleiter
Die einfache kreisförmige Reproduktion des Kapitals wird zur „Spirale", in dem ein Teil des Mehrprodukts in Kapital verwandelt wird 50 , in Produktionsmittel und Löhne. (Marx sieht noch ab vom Eigenkonsum des Kapitalisten — von diesem ist erst im Zweiten Band die Rede — und auch von der Form der Reinvestition — ob als Zuschlag zum ursprünglichen Kapital oder als Tochtergründung; er setzt allseitige kapitalistische Produktion und die gesamte Handelswelt als geschlossenen Bereich, gleichsam als N a tion voraus 51 ). Die Analyse der Akkumulation als Reproduktion „auf erweiterter Stufenleiter" (wie Marx mit einem Anglizismus analog zu „on an enlarged scale" stets sagt) erfolgt unter der Perspektive des Mehrwerts, daß nämlich das Zusatzkapital vom Arbeiter produziert ist 52 . Obwohl das Prinzip des Warenaustauschs gewahrt ist, da der Arbeiter seine Arbeitskraft verkauft und der Kapitalist sie kauft, schlägt dies „Gesetz des Privateigentums durch seine eigne, innere, unvermeidliche Dialektik in sein direktes Gegenteil um. Der Austausch von Äquivalenten, der als die ursprüngliche Operation erschien, hat sich so gedreht, daß nur zum Schein ausgetauscht wird, indem erstens der gegen Arbeitskraft ausgetauschte Kapitalteil selbst nur ein Teil des ohne Äquivalent angeeigneten fremden Arbeitsproduktes ist, und zweitens von seinem Produzenten, dem Arbeiter, nicht nur ersetzt, sondern mit neuem Surplus ersetzt werden muß" 5 3 . Die Idee ist also, daß bei der Akkumulation der Lohn nur ein Teil des Mehrwerts ist, mit dem dann wieder ein über den Wert des Lohnes hinausgehender Mehrwert produziert wird. „Eigentum erscheint jetzt, auf der Seite des Kapitalisten, als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite 3es Arbeiters, als Unmöglichkeit, sich sein eignes Produkt anzueignen" 54 . Die Scheidung von Eigentum und Arbeit wird zur Konsequenz eines Gesetzes, das scheinbar von ihrer Identität ausging. Das Dargestellte ist im Gegensatz zur einfachen Reproduktion des Kapitals ein multiplikatives Phänomen und gilt vom akkumulierenden Kapital schon bei fixer Zuwachsrate. Mehr nodi, unter dem Mehrwertaspekt erscheint das Anfangskapital als additive Konstante; es ermöglidit die Mehrwertproduktion, Kapital Kapital " Kapital " Ebd. » Kapital 50 51
I, MEW 23, 606 f. I, MEW 23, 607. I, MEW 23, 609. I, MEW 23, 610.
338
Der Prozeß des Kapitals
wird aber zur „verschwindenden Größe", insofern es sich darin multipliziert55. Marx will so gezeigt haben, daß der Mehrwert das konstante Kapital, das bei der Mehrwerterörterung nicht berücksichtigt, vielmehr nur vorausgesetzt und gleich Null gesetzt wurde, erst setzt5*. Das konstante Kapital ist transzendental später. Es erscheint als pejoratives Prinzipiat des Mehrwerts. Marx versucht, der These der englischen Nationalökonomie zu begegnen, daß aller Mehrwert, der in Kapital verwandelt wird, zu Lohn, also zu variablem Kapital würde57. Audi der Regreß zu ferneren Lohnempfängern, die Produktionsmittel und Material herstellen, kann für Marx nicht bedeuten, daß das Mehrwertkapital sich voll in Lohn umsetzt; vielmehr teilt es sich in konstantes und variables Kapital; die vom Mehrwertkapital gegen Lohnzahlung angeeignete Leistung enthält jeweils wieder einen Mehrwert Die Schwierigkeit ist dabei nur, daß dann das Kapital als träger Rest, als Sdiatz, angesehen werden müßte. Eine Lösung läge darin, eine Phasenverschiebung anzunehmen, so daß aller Mehrwert wohl zu Lohn wird, aber so, daß der Mehrwert einer gegebenen Stufe einer neuen dient und nie die Lohnempfänger der Stufe, auf der der Mehrwert anfällt, den ganzen Mehrwert zurückerhalten. Damit wäre Raum für eine Expansion des Kapitals als notwendigen Vorrats und für ein Agio des Kapitals gegeben und doch die Idee eines unnützen Kapitals vermieden.
Soziale Rückwirkungen Im Falle der Steigerung der Produktivität, also des relativen Mehrwerts, ist es für Marx schon nach dem Vorangegangenen klar, daß der Lohn nie im Verhältnis zur wachsenden Produktivität steigt58, obwohl er andeutet, daß bei faktischer Knappheit auf dem Arbeitsmarkt ein Steigen der Löhne eintreten kann59. Die Akkumulationstheorie verlangt die These vom Subsistenz- oder Reproduktionslohn, die These vom Lohn als Deputat aus dem Produktenwert, als transzendentales Theorem: der Reproduktionslohn, der zu Akkumulation führt, folgt aus der inneren Natur des Kapitals. Erst später erklärt die Konkurrenz Abweichungen vom Reproduktionslohn; aber solche 55
Kapital I, MEW 23, 614. ** Siehe Kapital I, MEW 23, 605 fi. Es handelt sich um eine zentrale These, die uns weiter beschäftigen wird. " Kapital I, MEW 23, 614—17. «8 Kapital I, MEW 23, 631. M Kapital I, MEW 23, 641. Wir erinnern erneut an R. Rosdolskys Ausführungen zur Marxsdien Lohntheorie, a.a.O. 111—12 und 330—66.
Die Akkumulation des Kapitals
339
Abweichungen werden nur faktische Abweichungen gegenüber der inneren Natur des Kapitals sein, das akkumuliert, voll produziert, unbetroffen vom Problem des Absatzes und der Realisierung. (Während in einer entwickelten kapitalistischen Produktion der Lohn in ganz anderer Weise bestimmt wird und es sogar zu einer Annäherung an den Fall der einfachen Reproduktion auf Grund hoher Löhne kommen kann, möchte Marx auf dem Weg über eine in sich widersprüchliche progressive Akkumulation des Kapitals den geschichtlichen Zusammenbrach des Kapitals motivieren.) In Ausführungen über den Einfluß der kapitalistischen Akkumulation auf die Arbeiterklasse kommt Marx weiter auf Themen, die schon im Zusammenhang mit der Phänomenologie des Produktionsprozesses ihre Stelle hatten: so die Schaffung eines Proletariats, einer Reservearmee von Arbeitern, die Idee eines Regelkreises von ansteigendem Arbeitspreis, Abnahme der Akkumulation, Entlassung, sinkenden Löhnen, erneuter Einstellung usw.60. Das Kapital erscheint wiederum als Instanz, die disponible Arbeitskräfte zu Bedingungen beschafft, die einen gewünschten Mehrwert ermöglichen. Daß dabei Zyklen unausweichlich sind und sich immer stärker ausprägen — Kritisches zu solchen am Wechselspiel von Kapital und Reservearmee orientierten Zyklen wird später geltend zu machen sein61 —, ist unter dem Gesichtspunkt zu sehen, daß die „innere Natur" des Kapitals betrachtet wird. Das Kapital ist das Prius; Gegeninstanzen wie das Erfordernis des Absatzes, also die effektive Nachfrage und die Kaufkraft der Arbeiter selbst, ganz zu schweigen von weiteren Gegeninstanzen, wie etwa dem Staat, werden ignoriert. Die Gewerkschaften als Gegeninstanz figur rieren kurz, ohne jedoch für die Theorie ernst genommen zu werden6*. Transzendental gesehen versteht sich das aus dem abstrakten Ort der gegenwärtigen Behandlung des Kapitals. Hierzu gehört auch die Polarisierung der Gesellschaft in zwei Klassen68. Ein erneutes Eingehen auf die sozialen Rückwirkungen in einem der Absicht nadi konkreteren Zusammenhang findet sich im Dritten Band des Kapitale. «» Kapital I, MEW 23, 640 ff. Die These ist hierbei, daß das Kapital das Proletariat vermehre (ebd. 642), während gleichzeitig gilt, daß günstige Perioden ebenfalls die Bevölkerung vermehrten (vgl. ebd. 664 gegenüber 666 f., 668,671 f.). Übervölkerung herrscht also anscheinend in jedem Fall. Andrerseits soll, im Gegensatz zu Malthus, der vom Wachstum als solchem ausgeht, das Wachstum vom Kapital her erklärt sein. Vgl. hierzu W. Barber, a.a.O. 58—64; 136; 142; 144. Vgl. auch A. Smith, a.a.O., 79 ff. und Ricardo, Principles 264 ff. " Siehe unten 387 ff.; 391 ff.; 438. " Kapital I, MEW 23, 669. " Dies im Unterschied zu den drei Ständen bei Smith, Ricardo und Hegel wie zu einer konkreten Bestandsaufnahme der Gesellschaft. 64 Siehe unten 389 ff. Wir verschieben unsererseits ein weiteres Eingehen auf die einschlägigen Fragen bis dorthin.
340
Der Prozeß des Kapitals
Die ursprüngliche
Akkumulation
Die bisherigen Ausführungen Marxens zur Akkumulation — als Nullfall bei der einfachen Reproduktion und als Reproduktion „auf erweiterter Stufenleiter", also als eigentliche Akkumulation — operierten immer sdion auf einer Ebene, wo es konstantes Kapital gibt. Dieses war sdion für den bloßen Begriff des Mehrwerts (als Prinzips der Akkumulation) vorausgesetzt, andrerseits gleich Null gesetzt, sollte dodi das akkumulierte Kapital erst aus dem Mehrwert erklärt werden, während es andrerseits Voraussetzung für den Anfall von Mehrwert war. Zwar sdiien der Theorie dadurch Genüge getan, daß bei einer einmal eingespielten Akkumulation das Anfangskapital, die additive Konstante, zur „verschwindenden Größe" wird. Dennoch besteht das theoretische Bedürfnis, das konstante Kapital einzuholen, insofern es zwar Prinzipiat des Mehrwerts, aber gleichzeitig schon Voraussetzung des Mehrwerts ist. Marx ist sich sogar bewußt, daß hier ein Zirkel vorliegen könnte: „Diese ganze Bewegung [der Akkumulation] scheint sich also in einem fehlerhaften Kreislauf herumzudrehn, aus dem wir nur hinauskommen, indem wir eine der kapitalistischen Akkumulation vorausgehende ursprüngliche* Akkumulation (.previous accumulation' bei Adam Smith) unterstellen, eine Akkumulation, welche nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt 65 ." Marx gibt, diesem Desiderat entsprechend, eine Analyse der „ursprünglichen Akkumulation" als des Ursprungs cles konstanten Kapitals (oder des Kapitals C, das über c verfügt und ν vorschießt). Die Einholung des vorausgesetzten Kapitals nimmt in diesen Ausführungen Marxens die Form einer genetischen Betrachtung an; es wird die „Genesis des Kapitals" behandelt. Hatten wir sdion aus der Marxschen Analyse des Produktionsprozesses — und aus früheren Analysen — entnommen, daß dem Kapital eine Kontinuität, eine Rolle als Gesdiiditssubjekt zuerkannt wird, so erscheint jetzt eine gesdiiditlidi vorgestellte oder, im gegebenen Fall, audi zu belegende erstmalige Ausbildung des Kapitals, eine Entwicklung, die mit einem Prozeß der Scheidung der Arbeiter vom Eigentum an seinen Produktionsmitteln einhergeht 66 . Es handelt sidi um die Genesis einer systematischen Voraussetzung für den kapitalistischen Produktionsprozeß — wir erinnern an die Bedingung, daß der Kapitalist von der Handarbeit freigestellt sein muß — und damit um eine Urgeschichte des Kapitals. Marx gibt eine Darstellung der englischen Entwicklung, und zwar eines Übergangs von Bauern im Eigentum ihrer Produktionsmittel zu Pächtern und schließ" Kapital I, MEW 23, 741. «· Kapital I, MEW 23. 742.
Die Akkumulation des Kapitals
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lidi zu extensiver Landwirtschaft und Entvölkerung des Landes, was zur Bildung von disponiblem Arbeitskräftematerial führt®7. Es ist klar, daß für die Darstellung der ursprünglichen Akkumulation hinter die bisherige, geschichtstypologische Betrachtung des Kapitals zurückgegangen werden muß (wie es etwa in der Linie über die Zünfte, das Wucherkapital, das Kaufmannskapital, die Entfesselung des Kapitals durch Beseitigung des Feudalismus, die Entdeckung der Gold- und Silberminen in Amerika, das Kolonialsystem, die Abhängigkeit des Staates von Kapitalisten als Geld- und Kreditgebern usw. nachgezeichnet wurde). Das Kapital soll ja erst in einer ersten Genesis dargestellt werden. Damit wird die Erklärung des Kapitals auf eine Existenzfrage verschoben; die Existenz von Kapital einmal gegeben, gilt dann die Mehrwerttheorie als Erklärung der Kategorie .Kapital*. Weiter muß für die genetische Fragestellung, soweit über kontingente Existenz hinaus etwas verstanden werden soll, hinter eine ökonomische Analyse zurückgegangen werden zu einer sozialbistorischen Analyse. Die ursprüngliche Akkumulation kann nur gedacht werden als soziale Ausbeutung, als Abzweigung eines Produktanteils oder eines Arbeitszeitanteils (etwa bei Pacht, Fronarbeit usw.) durch den Mächtigen. Nicht ist — über das für den Arbeiter im Besitz seiner Produktionsmittel zur Subsistenz nötige Produkt hinaus — ein Mehrprodukt durch Kapital erzielt. Allerdings ist ein gewisses Plus beim Arbeiter vorausgesetzt, das entfremdet werden kann, ohne daß diesem schon das Leben unmöglich gemacht würde (wenn wir von extremen Formen der Sklaverei absehen, die aber nicht unbedingt in eine Genealogie des Kapitals gehören). Wesentlich ist in jedem Fall, daß die Erpressung eines Mehrwerts auf Grund sozialer Macht nicht auf Grund von Kapital geschieht, das eine ins Gewicht fallende Differenz von Deputatlohn und Produktenwert erzielen könnte. Die ursprüngliche Akkumulation wäre soziale Ausbeutung als Bedingung eines ersten Anfangs von Kapital. Die soziale Ausbeutung setzt immer schon eine soziale Polarisierung, eine Freistellung der einen Seite von Handarbeit, voraus oder verlangt ihrerseits die Rückverfolgung auf eine Genesis, die nicht-ökonomisch ist®8. Sicherlich gibt es Ausbeutung ohne schon vorhandenes konstantes Kapital, jedenfalls im Grenzfall der reinen Herrschaftssituation (etwa bei Fronarbeit). Die Genesis des Kapitals wäre nach einem solchen Fall vorgestellt, " Kapital I, MEW 23, 775. M
Vgl. Kapital I, MEW 23, 249 f. — Vgl. audi oben 223 ff. Marxens Standpunkt steht A. Smith nahe. Vgl. The Wealth of Nations 65 f. Die Hegeische Analogie ist die Kontingenz der Teilung des Vermögens in „allgemeine Massen" (vgl. Rechtsphilosophie § 201), wiederum eine nicht-ökonomische, dabei aber die soziale Genesis nur ganz allgemein fassende Konzeption. Wir erinnern auch an den hypothetischen Charakter der Vorstellungen von Marx und insbesondere derer von Engels, was die Entstehung der Klassen angeht.
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Der Prozeß des Kapitals
wäre soziale Unterdrückung, Expropriation, mit der weiteren Annahme, daß der Unterdrücker das Gewonnene für die Bildung von Kapital benutzt. Nur so könnte man denn audi sagen, die Fronarbeit ζ. B. diene dem späteren Kapital, sei ursprüngliche Akkumulation. Aber diese Kapitalbildung bleibt gerade offen, man kann nicht theoretisch zeigen, daß der soziale Oppressor das Beutegut für die Bildung von konstantem Kapital, letztlich also für industrielle Anlagen, verwendet. Die sozialhistorische Auffassung enthält die Schwierigkeit, daß sie sich auf die Empirie oder die Vorstellung verlassen muß. Ein weiteres: man kann zwar auch bei der ursprünglichen Akkumulation, oder beim sozialhistorischen Aufweis einer Bildung von Kapital, von Mehrwert sprechen: es wird durch Unterdrückung ein Anteil an Arbeitszeit oder an Produkten abgezweigt für den Unterdrücker (ein Fall, bei dem Mehrwert ohne konstantes Kapital anfiele). Aber dieser Mehrwert wäre nur durch sozialen Druck, durch vorzustellende oder gegebenenfalls historische nachzuzeichnende Geschehnisse, dargetan. Im Begriff des Mehrwerts innerhalb einer ökonomischen Analyse oder Theorie, wie Marx sie im Kapital gibt, liegt dagegen, daß die Äquivalente des Tausdies (von Arbeitskraft und Deputat) eingehalten werden und daß die Differenz von Arbeit zur Reproduktion des Arbeiters und Produktenwert auf Grund des Vorhandenseins von konstantem Kapital ins Gewicht fällt. Das konstante Kapital ist Bedingung für Mehrwert, wenn die Analyse ökonomisch- und nicht nur vorstellend oder schildernd sozialhistorisch sein soll. In der ökonomischen Analyse ist daran gedacht, daß Geld sich verwertet und daß ein Produktionsprozeß mit konstantem Kapital solche Verwertung allein möglich macht. Der sozial erpreßte Mehrwert, der die Genesis des Kapitals erklären soll, ist nicht der ökonomische Mehrwert, der in der Theorie des Kapitals Prinzip der Akkumulation ist. Aber der nicht-ökonomische Mehrwert liegt nunmehr gerade dem ökonomischen zugrunde, was dem Vorrang der ökonomischen Betrachtung in der Kritik der Ökonomie widerspricht. Die ursprüngliche Akkumulation ist ein Ubergang, der nur als naturwüchsig hingestellt werden kann und gerade als solcher die Theorie fundieren muß. Wir haben in dieser Konzeption die entfaltete Problematik vor uns, von der früher, im Zusammenhang mit der Deutschen Ideologie, die Rede war69. Man kann nach dem Ausgeführten das Problem methodologisch wenden und sagen, daß in den Ausführungen über die ursprüngliche Akkumulation die transzendentale Theorie des Kapitals verlassen wird zugunsten einer sozialhistorischen und vorstellenden Betrachtungsweise, die eine transzendental nicht eingeholte Voraussetzung nachliefern soll. (Bei Smith ist die Konzeption einer ursprünglichen Akkumulation als Konzeption des vorstellenden βί
Siehe oben 220 ff. Vgl. audi zu geschichtlichen und systematischen Stufen oben 245 ff. und unten 430 ff.
Die Akkumulation des Kapitals
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Denkens, ohne klare Scheidung von systematischer Erklärung, nur allzu verständlich. Bei Marx sind jedoch strengere Maßstäbe anzulegen.) Das Umkippen in eine historische Darstellung erscheint, trotz des quid pro quo, das wir sdion öfter bemerkt haben, vielleicht als Tugend der Marxschen Theorie, als anscheinend erwiesene Abhängigkeit der Kritik als Theorie von der Geschichte, aber es gilt streng genommen, daß Mängel der transzendentalen Theorie auf die Geschichte und das vorstellende Denken nur abgewälzt werden. Es scheint ein inniger Zusammenhang von Theorie und Geschichte zu bestehen, gerade weil nur geschichtlich die ursprüngliche Bildung von Kapital vorstellbar ist. Aber für die transzendentale Theorie bleibt der fehlerhafte Zirkel. Weiter fragt sich, ob die Theorie gehalten sein soll, das pejorative Moment der sozialen Unterdrückung als Voraussetzung der Ökonomie auch systematisch anzuerkennen. Dies ist natürlich Marxens Wunsch: wer einmal unterdrückt hat, oder Erbe eines — geschichtlich — kontinuierlichen Unterdrückers ist, hat damit den Geldautomaten in der Hand; ein immer schon schuldiges Geschichtssubjekt Kapital wälzt sich weiter. Die Frage der rein systematischen Erklärung des Kapitals aus den Prinzipien der Arbeitswert- und Mehrwerttheorie tritt insoweit zurück. Ohne die Verquickung der sozialhistorischen und ökonomischen, oder der vorstellenden und der transzendentalen, Aspekte muß gelten, daß das Kapital in der ökonomischen Konkretion zu betrachten ist, und dort bildet es sich nicht so sehr in geschichtlicher Kontinuität, oder gar in der Kontinuität eines Geschichtssubjekts, mit Ursprung in der ursprünglichen Akkumulation, in sozialer Unterdrückung, vielmehr bildet es sich ebenso fortgesetzt neu ohne solchen Ursprung, durch Enthaltung vom Konsum, durch „Abstinenz" und Vorratbildung — diese von Marx lächerlich gemachte Tatsache70 muß wieder gewürdigt werden. Ebenso bedarf es der Berücksichtigung des Zinses, der bei Marx als spätes Thema zunächst ausfallen muß: Kapital bildet sich innerökonomisdi durch Sparen und Kredit, dessen Zinsen aus der durch das Kapital ermöglichten Produktion zurückgezahlt werden. Für diese Bildung von Kapital hat Marx keine Theorie, denn solche Bildung von Kapital wäre immer schon Funktion von Kapital, ein Zirkel, den Marx ja gerade linear auflösen möchte. Er hat andrerseits selbst keine Möglichkeit, die Bildung von Kapital aus der Mehrwerttheorie herzuleiten, denn diese setzt das schon gebildete Kapital als Wesen immer schon voraus. Die Frage ist bedeutsam, denn es ist für eine Theorie des Kapitals entscheidend, ob es als affirmativ zu beurteilendes Kapital geben kann oder nicht. Es ist bedeutsam nicht, ob es soldies affirmatives Kapital in der Geschidite hätte geben können — diese Frage wäre für die geschehene Geschichte nur im Marxschen Sinne interessant, nämlich ob die naturwüchsige Entwicklung zum negativen Kapital unvermeidlich, aber auch notwendig war für ein 70
Siehe Kapital I, MEW 23, 617—25.
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Der Prozeß des Kapitals
späteres, nichtkapitalistisches Positivum —, sondern, ob nicht eine von der Geschichte unbetroffene, oder diese gegebenenfalls kompensierende, affirmative Form des Kapitals möglich ist, und dann schließlich auch, ob es sie nicht längst gibt. Die Verquickung von transzendentaler und historischer Sicht macht uns glauben, dies sei nicht möglich71. Im Rahmen der Verquickung von sozialhistorischer und systematischökonomischer, transzendentaler Analyse, die einen geschichtlichen Prozeß der Ausbeutung in die Theorie einordnet, findet sich nunmehr — dies ist nicht zu übersehen — auch deutlicher eine gewisse Korrektur an den sonst als Folie unterstellten gutartigen Produktionsverhältnissen, und zwar in Ausführungen über das Eigentum der Arbeiter an den Arbeitsmitteln. Es heißt jetzt, daß solches Eigentum auch eine Beschränkung bedeute, nämlich die Zersplitterung des Bodens und der übrigen Produktionsmittel 72 . Es erscheint geradezu als teleologische — aber eben sozialhistorische und in die systematische Theorie eingeordnete — Konsequenz, daß es zur Expropriation durch den Kapitalisten kommen mußte. Die kapitalistische Produktionsweise ist somit nicht einfach entbehrliches Ärgernis, sondern — wie sich schon bei der Behandlung der Kooperation zeigte — positiv gesehen Steigerung der Produktion, die sonst nicht möglich wäre, und damit notwendiger Schrittstein ist für ein nachkapitalistisches Stadium. Der Kapitalismus erscheint als Vorstufe zum gesellschaftlichen Eigentum, das die Pluspunkte des Eigentums der Arbeiter an den Produktionsmitteln mit der Produktivität des Kapitalismus verbinden soll, im Sinne einer Hegeischen Synthese. Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln wäre Negation der Negation, Expropriation der Expropriateure 73 . Wiederum gilt, daß es gerade in Frage steht, ob der Gegenschluß, die Unmöglichkeit eines affirmativen Kapitals, dadurch erwiesen ist. 71
Das Nähere, ob nicht das Kapital, auch wenn wir es affirmativ in Ansatz bringen wollen, ökonomisch beherrschend ist, reduzierte sich dann auf die konkreten Spielregeln in der Konkretion, wonach Eigentumsbildung möglich oder nur schwer möglich ist —, Umstände, die in entwickelten Verhältnissen zur Wiederannäherung des Kapitals an die einfache Reproduktion, zur Rolle einer der Gesellschaft dienenden Maschine, gehen könnten. Der moderne Einwand, ob nicht das Kapital zu einer Wohlstandsentfremdung führt, so daß es doch als akkumulierend dann überflüssig sei, oder ob nicht das Kapital in Reduktion auf einfache Reproduktion in gesellschaftliche Regie genommen werden müßte (vgl. Habermas, Theorie und Praxis 198 f.), wird bei Marx selbst nicht gemacht und kann hier ausgeklammert bleiben. Vgl. unten 469; 523 f. A 94. 72 Kapital I, MEW 23, 789. — Es versteht sich, daß damit die für den bloßen Begriff des Mehrwerts und zur Dijudikation negativer Sachverhalte in Ansatz gebrachte anthropologische Abstraktion nicht für Zwecke der Theorie wieder rückgängig gemacht ist. Vielmehr hängt die Theorie als begrifflich gefaßte Kritik nach wie vor daran. 7 » Kapital I, MEW 23, 791. Vgl. den Gedanken der „positiven Aufhebung" MW I, 593. Dazu auch oben 170 f. und unten 396 f.; 414; 476 ff.; 479 f.; 483 ff.
Der Zirkulationsprozeß des Kapitals
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3. Der Zirkulationsprozeß des Kapitals Thematisch wie theoretisch ist mit der Darstellung des Produktionsprozesses des Kapitals nodi nicht alles getan. Der Produktionsprozeß mit der Doppelrolle des Kapitals als Akkumulationsprozeß und Produktionsprozeß unter kapitalistischer Regie entspräche zwar sdion einer Formel G — W . . . ( P ) . . . W — G' 7 4 , aber es war unterstellt, daß der Verkauf der Waren gelingt und daß hierbei keine den Produktionsprozeß des K a pitals bedingenden Faktoren zu berücksichtigen sind. (Ebenso war volle Produktion und volle Kapazitätsausnutzung unterstellt. Diese Aspekte werden bei Marx auch später nicht einer Analyse unterzogen.) Nunmehr müssen die Zirkulationsvorgänge,
die zum vollständigen Kreislauf der
Akkumulation erforderlich sind, einmal als Themen oder Kategorien in einer transzendentalen Progression erschlossen, zum anderen theoretisch nach ihrem Einfluß auf den (zunächst lapidar, seiner inneren Natur nach geschilderten) Produktionsprozeß des Kapitals betrachtet werden. Es kommen demnach Themen zur Sprache wie: fixes und zirkulierendes Kapital — eine klassische Unterscheidung, die bei Marx zunächst zugunsten der des konstanten und variablen Kapitals zurückgetreten war — , der Kreislauf des Geldkapitals, das Verhältnis von Kapital und Umlaufszeit, Umschlagszeit der Waren usw., Themen, die wir hier als ökonomisch-monographische Titel übergehen. Festzuhalten ist für uns nur das theoretisch wesentliche Moment, das mit der jetzigen Ebene der Darstellung des Kapitals gegeben ist. In der Zirkulation ist das Kapital nicht mehr nur, wie in früheren theoretischen Stadien, nach weiteren Formen zu betrachten, die es annimmt, also etwa danach, daß Warenkapital wieder zu Produktionsmitteln, Arbeitskraft und Geldakkumulation führt. Es wird jetzt vielmehr darauf abgestellt, daß die vorher zugestandene Bedingung, wonadi W wieder in G verwandelt wird, selbst eine Voraussetzung war, die entwickelt werden muß. Das heißt also, daß nicht nur weitere monographische Titel als ergänzende, noch konkretere, Bestimmungen des Kapitals aufgestellt werden, sondern daß das Kapital innerhalb seiner selbst in eine Differenz tritt, in ein im Sinne der Architektonik des Werkes neues Stadium, das besondere Forderungen an ein Gelingen der Kapitalakkumulation stellt: Kapital einer bestimmten Form muß in einem bestimmten Verhältnis zu Kapital einer anderen Form stehen; dies ist Bedingung für seine Akkumulation. Es treten Probleme des Absatzes, des Bedarfs, der Proportion von Produziertem und Benötigtem auf. Damit macht sich auch das Moment des Gebraudiswerts in der Zirkulation geltend 75 .
74 75
Diese Formel tritt zu Beginn des II. Bandes des Kapitals auf M E W 24, 3 1 ; 39. Auf diesen Aspekt madit besonders Rosdolsky aufmerksam a.a.O. 5 3 4 — 3 7 .
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Der Prozcß des Kapitals
Die Interdependcnz
der
Kapitale
Die Betrachtung der Zirkulation des Kapitals kulminiert in einer Analyse des gesamtgesellschaftlichen Austausche, also der Zirkulationsbedingungen für die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Hierfür wird auf der gegebenen Stufe der Theorie nunmehr genauer die Seite der Käufer der Produkte, also der Produktionsmittel und Konsumgüter, berücksichtigt, damit also besonders auch die Konsumtion, die sich aus dem variablen Teil des Kapitals als Lohn ergibt. Damit wird die Analyse konkreter. Dennoch ist die Thematisierung der Zirkulation, was die Konkretion angeht, noch Übergang: es ist nicht schon die Konkurrenz, die konkrete Pluralität von Kapitalen und Verbrauchern, eingeführt, sondern nur die Existenz von Austauschbeziehungen zwischen zwei Abteilungen der Industrie — der Produktionsmittelproduktion (Abteilung I) und der Konsumtionsmittelproduktion (Abteilung II). Wir haben logisch schon Zweiheit, und damit eigentlich schon Mehrheit 76 , aber es wird darauf abgestellt, einen noch nicht letztkonkreten Aspekt zu thematisieren, so als ob das, wovon die Rede sein soll, noch zum ,Kapital im allgemeinen' gehörte, nämlich die Zirkulation als das Kapital beeinflussend, aber audi als es in seiner Konkretion erst produzierend 77 . Dabei soll sich die Zirkulation als eine Schranke des Kapitals erweisen78. Wie sich schon ergeben hat, stellt Marx die Dinge nicht so dar, als ob nun im Sinne einer neoklassischen oder orthodoxen Auffassung die Gegeninstanz von Absatz und Konsum und somit die Kaufkraft der Käufer in einer Marktanalyse generell dem Kapital gegenüberzustellen seien, sondern er sieht Absatz und Konsumtion als Verstrickung des Kapitals mit sich selbst, und zwar näher — insofern Marx vom Kapital als Produktion ausgegangen war und also als Käufer die Industrie selbst oder eben Lohnempfänger unterstellt — als Zusammenspiel von Produktionsmittelindustrie (bei der alle Kapitale kaufen) und Konsumtionsmittelindustrie (von der alle Konsumenten kaufen). Damit kreuzt sich dann der generelle Gegensatz von Produzenten und Konsumenten als Klassen, als Konsumentenklasse und Produzentenklasse. (Die Vertreter beider Klassen sind ja in beiden Industriezweigen vorhanden; und auch das Kapital beider Abteilungen fungiert zum Teil als Konsument.) Das Zusammenspiel von Produktion und Konsumtion auf dieser Ebene der Betrachtung wird also von einem in die Differenz getretenen allgemeinen Kapital aus gesehen, und zwar als differenziert in der Form der — eigentlich wesentlichen — Produktionsmittelproduktion und der sich mit ihr vermittelnden Konsumtionsmittelproduk7
· Rosdolsky, a.a.O. 93. Vgl. Rosdolsky, a.a.O. 65 f.; 95. 78 Rosdolsky, a.a.O. 66. 77
Der Zirkulationsprozeß des Kapitals
347
tion. Der Lohn ist zugeordnet der Konsumtionsmittelproduktion, die, indem sie die zur Beschaffung von Konsumgütern verwendeten Löhne — und zwar die Löhne der Arbeiter beider Abteilungen — einbringt, dieses Geld bei der anderen Abteilung wieder für Produktionsmittel ausgeben kann. Das Kapital hat also den Konsumenten. Der Konsument erscheint gar nicht als eigenliche Gegeninstanz, sondern als Marionette zweier Kapitalzweige, der Produktionsmittelproduktion und der Konsumtionsmittelproduktion. In gewissem Sinne ist das Thema eines von Angebot und Nachfrage, nur daß beide dargestellt werden als Verstrickung zweier Kreisläufe innerhalb des Kapitals: des von c und ν bei der Produktionsmittelproduktion und bei der Konsumtionsmittelproduktion, wobei bei beiden ν als Lohn die Konsumtionsmittelproduktion in Gang hält, während bei beiden c die Produktionsmittelproduktion ermöglicht. Die Beispiele zeigen, daß, wenn die Unterscheidung in I und I I so gemacht wird, wie Marx sie macht, also I und II als Produktionsmittelproduktion und Konsumtionsmittelproduktion bestimmt werden, dann auch eine c-orientierte und eine v-orientierte Industrie in stabilem Verhältnis stehen können. Die Schemata sehen ja f ü r II jeweils ein offenes Verhältnis von Konsumtionsfonds und Akkumulation vor; diese kann sich immer nach den Erfordernissen des Gleichgewidits mit I richten. Die Beispiele sind definitorisch f ü r ein zu erzielendes Gleichgewicht, oder sind eine „rechnerische Illustration'' 7 9 . Es wäre denn auch merkwürdig, wenn Marx in der Zirkulationssphäre ein Ungleichgewicht, d. h. ein Plus auf einer Seite, anerkannt' hätte, wenn gleichzeitig die Geschlossenheit der Zirkulationsphäre als gesamtgesellschaftlicher, d. h. des Kapitals im Ganzen, behauptet ist. D a ß das nicht möglich ist, w a r ja eine Grundthese für die Erschließung des Mehrwerts außerhalb der Zirkulation. Das Problem der sog. Reproduktionschemata liegt in ihrer Deutung. Sie sind natürlich nicht als Beschreibung der Wirklichkeit gemeint — etwa als These über ein ständiges Gleichgewicht des Kapitalismus 80 . D a f ü r sind sie ungeeignet einmal, weil sie nur Beispiele f ü r ein Gleichgewicht aufzeigen, und zum anderen, weil sie auf ihrer relativen Abstraktionsstufe andere, konkrete Faktoren vernachlässigen. Marx unterscheidet, wie schon früher, zwei Fälle: den Fall der einfachen Reproduktion und den der Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter, also den Fall der progressiven Akkumulation. Nehmen wir zunächst den ersteren Fall der einfachen Reproduktion. Abteilung I liefert Werte in der Höhe der Produktionsmittel, oder des konstanten Kapitals, von I und I I ; also I(c + ν + m) = Io + I l e Abteilung I I liefert Werte in der H ö h e der Löhne und des nichtproduktiven Kapitalistenkonsums von I und II ; also II (c + y + m) ™ Rosdolsky, a.a.O. 531. Vgl. Rosdolskys Hinweis auf Kautsky, Hilferding und andere a.a.O. 530—34.
80
348
Der Prozeß des Kapitals
=
I(v + m) + Π(ν + ηι)· Beide Male ergibt sich, daß das Kapital von II gleich ist den Löhnen und dem nichtproduktiv konsumierten Mehrwert von I ; also II C = I(v + m)81· Damit ist ein Gleichgewicht zwischen den Abteilungen I und II bestimmt durch eine Proportionalität der beiden Industrien oder von Produktion und Bedarf von Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln. Schon in diesem Fall des vorausgesetzten Gleichgewichts sieht Marx einen Platz für Störungen. Die Störungen, die hier gemeint sind und auf denen eine abstrakte Form der Krisentheorie aufgebaut ist, sind solche, die rein vom Kapital, ohne Rekurs auf die effektive Nachfrage, verständlidi sein sollen und sich in der gesamtgesellschaftlichen Zirkulation niederschlagen. Die Produktionsbasis unterliegt einem Umschlagsprozeß — teils natürlicher Art, durch natürlichen Verschleiß, teils einem „moralischen Verschleiß", „lange bevor [die Produktionsmittel] physisdi ausgelebt sind" 88 . Die reguläre Erneuerung von Maschinen, technische Neuerungen zur Steigerung des relativen Mehrwerts wie die Disproportionalität der Erneuerung in den einzelnen Industrien wären der Grund für Disproportionalitäten zwisdien fixem und zirkulierendem Kapital der beiden Abteilungen. Die Störungen wären bedingt durch ein Mißverhältnis zwischen der Erneuerung des fixen Kapitals und der Ansammlung von Abschreibungsfonds in II. Überwiegt die Erneuerung, so flösse Geld von II an I ohne Warenaustausch, die Produktion von I müßte sich vergrößern, ohne daß eine genügende Warenmenge in II vorhanden wäre (nach der Voraussetzung ist ja die Summe des fixen Kapitals in II konstant). I müßte expandieren oder es wäre ein Defizit der Reproduktion da, ein größerer Teil von I m wäre nicht in Ware II umsetzbar. Im andern Fall, in dem die Erneuerung hinter den Abschreibungen zurückbleibt, müßte I kontrahieren oder eine Überproduktion in Kauf nehmen. Der erstere Fall würde eine Konjunktur bewirken, mit einer Erhöhung von I v eine Erhöhung von II V und II m hervorrufen. Der letztere Fall würde eine Depression bedeuten 83 . Die Kapitale müssen auf den auswärtigen Handel ausweichen, womit die „Widersprüche" nur auf einen „größren Spielkreis" verlegt werden 84 . Dies Störungsmodell enthält allerdings eine gewisse Schwierigkeit, insofern der Anlaß in der Erneuerung des fixen Kapitals gesehen wird. Marx denkt an einen Konjunkturzyklus von zehn oder zehn bis elf Jahren 85 entsprechend der Lebensdauer der Maschinen. Aber die Lebensdauer ist unterschiedlich, so daß sich die einzelnen Erneuerungen mehr oder weniger 81
82 85 84 85
Kapital Ganzen Kapital Kapital Kapital Kapital
II, MEW 24, 401 ; 424. Für eine Marx gegenüber klarere Darstellung de» siehe J. Robinson, Essay 45 f. II, MEW 24, 185. Vgl. ebd. 515. II, MEW 24, 463—65. II, MEW 24, 464. II, MEW 24, 185; 515.
Der Zirkulationsprozeß des Kapitals
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ausgleichen würden8®. Audi werden Maschinen verschieden schnell obsolet, so daß die eigentliche Lebensdauer einer Maschine nicht maßgebend ist. (Ist die Spanne von zehn Jahren eine der künstlichen — „moralischen" — Obsoleszenz, so wird das Argument f ü r den Zyklus tautologisch oder zur bloß psychologischen These.) Der von Marx mit dem Konjunkturzyklus identifizierte Zyklus ist also problematisch, ganz abgesehen von der zusätzlichen Identifizierung mit dem Beschäftigungszyklus oder der Bewegung der Reservearmee. Für M a r x ist es jedoch so, daß eine erste, abstrakte Krisenund Störungstheorie sich an ein Mißverhältnis in der Produktion von fixem und zirkulierendem Kapital heftet und ein solches Mißverhältnis mit einem Zyklus der Erneuerung von fixem Kapital verknüpft ist. Marxens Pointe ist, d a ß ein solches Mißverhältnis schon im Rahmen der einfachen Reproduktion vorliegen kann, ja muß 8 7 . Dennoch ist diese Behauptung nur auf eine faktisch mögliche Disproportion gegründet. Andere Faktoren müßten hinzukommen, um die notwendige Disproportion des Kapitals zwingend zu machen. (Die Disproportion denkt sich Marx überwindbar im kommunistischen System durch eine Uberproduktion unter der Kontrolle der Gesellschaft 88 ). Gehen wir zum zweiten Fall über, dem der Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter oder der Netto-Investition. Für eine solche Akkumulatiort muß ein Teil des Mehrwerts (soweit er nicht konsumiert wird) den Abteilungen I und I I zugesetzt werden. Marx gibt zwei zahlenmäßige Beispiele (für verschiedene Stadien der kapitalistischen Entwicklung, d. h. f ü r verschiedene — in späterem Zusammenhang sogenannte „organische" — Zusammensetzungen der Kapitale nach c und v : im ersten Beispiel I 4 : 1 , I I 2 : 1; im zweiten Beispiel 1 5 : 1 , I I ebenfalls 5 : 1 ) . Gemäß der Formel f ü r die einfache Reproduktion, wird davon ausgegangen, d a ß I( v + m) = II C ist; es handelt sich also nur um die Abwandlung, die durch die Werte von I m (verteilt auf c — Konsumtionsfonds und Akkumulation — und v) und von I I m entsprechend hineinkommen. Ein weiterer Parameter ist eine Mehrwertrate von 1 0 0 % . Die zahlenmäßige Aufstellung 8 9 zeigt (abgesehen von einer Unregelmäßigkeit der Akkumulation in II f ü r das erste Jahr 8 0 eine konstante Akkumulation in I von 50 °/o und in I I von 30°/o, entsprechend der verschiedenen Zusammensetzung von I und II im 1. Beispiel, und also ein Gleichgewicht. Entsprechend im 2. Beispiel. Aber die Schemata scheinen weitere inhaltliche Thesen zu enthalten oder doch Ausdeutungen zu gestatten. Sie sind der Ausdruck (in Termini der M
Siehe J. Robinson, Essay 46. Kapital II, MEW 24, 465. Ebd. 8 » Kapital II, MEW 24, 505—10. oo Vgl. Rosdolsky, a.a.O. 528 f. 87 88
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Der Prozeß des Kapitals
Zirkulation von Waren) für einen Stoffwechsel der Gesellschaft, der sich in den Gebrauchswerten Produktionsmittel und Konsumtionsmittel darstellt. So gesehen liegt der Akzent auf dem Mißverständnis der Abteilungen I und II ihrer absoluten Größe nach, oder auf dem Mißverhältnis von Produktion und Konsumtion und der Verschärfung dieses Mißverhältnisses bei gleicher und konstanter Akkumulationsrate. Man kann dies dann so auffassen, als ob die Schemata den Zwang zur kapitalistischen Akkumulation unter Vernachlässigung der Konsumtion (im Sinne von Konsumtionsmittelkonsumtion) darstellten. Sie zeigten somit die kapitalistische Lösung (wenn auch, wegen der Abstraktionsstufe provisorische Lösung) des Realisierungsproblems, indem sie das Verhältnis bestimmen, in dem Mehrwert in Produktionsmittelproduktion und Konsumtionsmittelproduktion eingehen muß, um ein Gleichgewicht, um Realisierung, zu ermöglichen. Die Insinuation der Unterkonsumtion wäre dabei insofern verfehlt, als der Mehrwert, der nicht in Konsumtionsmitteln konsumiert wird, in Produktionsmitteln konsumiert wird. Die Schemata geben als solche gerade keine Auskunft über eine fehlerhafte Distribution des Kapitals in dem Sinne, daß eine Störung des Gleichgewichts und der Realisierung entstünde.. Das können sie schon als zahlenmäßige Beispiele für ein Gleichgewicht nicht zeigen. Sie zeigen nur, unter Voraussetzung der erweiterten Stufenleiter, eine Expansion des Kapitals in beiden Abteilungen. Die Realisierung wird ermöglicht durch proportionale Expansion beider Abteilungen. Die Schemata zeigen aber nicht, daß eine solche Expansion, oder die kapitalistische Produktionsweise im ganzen, widersprüchlich wäre und ihre Widersprüche durch Expansion nur immer weiter hinausschöbe und dabei auf immer höherer Stufe reproduzieren müßte91. Eine weitere Insinuation, die das Problem der Realisierung betrifft, wäre jedoch, wie schon im früheren Fall der einfachen Reproduktion, der Gedanke der Störungen auf Grund der Erneuerung des fixen Kapitals und der disproportionalen Erneuerung in den beiden Abteilungen. Für Marx ist ihr »Gleichgewicht — bei der naturwüchsigen Gestaltung dieser Produktion — selbst ein Zufall"92. Die Reproduktionsschemata erschienen dann als Darstellung des Kapitals in den „Zwischenpausen" der Störungen93, während dieselben Schemata zeigten, daß Störungen in der Expansion einen immer größeren Maßstab annähmen, „daß die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, die in eben diesen Störungen . . . ihren Ausdruck 91
Vgl. Rosdolsky, a.a.O. 540 f. Rosdolsky zieht für diese These Gedanken Marxens zur Schranke des Kapitals heran, die nicht strikt zu den Reproduktionsschemata gehören.
92
Kapital II, MEW 24, 491.
93
Rosdolsky, a.a.O. 595. Ähnlich J. Robinson, Essay 48.
Der Zirkulationsprozeß des Kapitals
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finden, immer wieder auf höherer Ebene reproduziert werden, bis schließlich die ,Spirale' der kapitalistischen Entwicklung ihr Ende erreicht" 84 . Wir können hier weitere theoretische Deutungen der Reproduktionsschemata übergehen, zumal Rosdolsky eine ausgezeichnete Darstellung der wichtigsten Positionen gegeben hat 9 5 . Es genügt darauf hinzuweisen, daß die Deutungen entweder die Schemata als harmonistische These über die mögliche Stabilität und Autarkie der kapitalistischen Produktion fassen (Bulgakow, Kautsky), oder die Frage der Konsumtion durch die Schemata so gelöst sehen, daß auch bei sinkender Konsumtion Gleichgewicht möglich ist (Tugan-Baranowsky). Die Frage wäre also etwa, ob die Proportionalität von I und II das Gleichgewicht allein gewährleistet, oder ob Marx im Dritten Band des Kapitals weitere Faktoren — nämlich den Konsum von Konsumtionsmitteln — f ü r mangelndes Gleichgewicht verantwortlich macht. Auch wenn der Konsum in die Bedingungen der Proportionalität aufgenommen würde (Lenin), wären die Störungen und Krisen nicht schon von den Schemata her darzutun. Soweit Störungen zu den Schemata hinzugenommen werden, handelt es sidi bei Marx jedoch nicht nur um Störungen aus faktischer Disproportionalität der beiden Abteilungen in ihrer verschiedenen Expansion und Erneuerung des fixen Kapitals, sondern darüber hinaus um ein grundsätzliches Mißverhältnis der beiden Abteilungen, wobei Abteilung I die maßgebende ist. Dies Motiv spielt bei Marxens Behandlung der Reproduktionsschemata immer schon suggestiv mit, obwohl es von diesen selbst zu unterscheiden ist. (Es ist gerade das f ü r Marx Typische, daß einerseits ein Nacheinander der Theorie vorliegt, hier also eine frühe, noch abstrakte, aber prinzipiierende Theorie der Störungen und Krisen gegeben werden soll, andrerseits aber anschaulich-konkret ein Syndrom verschiedener Faktoren in Anspruch genommen wird, das nicht aus den Schemata oder aus den Störungen auf Grund von Disproportionen in der Investition entnommen werden kann.) Die kapitalistische Industrie beider Abteilungen führt zu einer zu geringen Kaufkraft (nach dem arbeitswerttheoretisch betrachteten Lohn), dann zu einem Zurückbleiben der Konsumtionsmittelindustrie; damit ist aber auch eine Beschränkung der Kapitalgüterindustrie vorhanden. D a mit verbunden wäre eine Tendenz zu chronischem Ungleichgewicht zwischen den beiden Industrien. Die kapitalistische Industrie enthielte in sich eine Schranke, die zu Krisen f ü h r t " . M
Rosdolsky, a.a.O. 596. An der ausgelassenen Stelle spricht Rosdolsky von dem tendenziellen Fall der Profitrate, einem späteren Thema, das für uns nodi zurückzustellen ist. ·* Rosdolsky, a.a.O. 541—96. Siehe audi Rosa Luxemburg, Der Akkumulationsprozeß des Kapitals (Berlin 1913). " Vgl. Kapital III, MEW 25, 254 f., 501 (allgemein zum Thema der Krisen auf Grund der Konsumbeschränkungen der Massen). Die Stellen führen schon zur
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Der Prozeß des Kapitals
Das Thema führt uns, über die speziellere Frage des Verhältnisses von Produktionsmittelindustrie und Konsumtionsgüterindustrie hinaus, auf ein allgemeines Problem der Marxschen Theorie, das der Realisierung. In ihm liegt das die Theorie eigentlich weitertreibende Motiv. Zuvor sei noch eine Reflexion auf den transzendentalen Ort der Reproduktionsschemata eingeschaltet. Die Tatsache, daß Marx die Schemata getrennt von der Frage des Konsums oder der effektiven Nachfrage als Störungsfaktor betrachtet, ist in sich selbst Problem und führt auf die Frage, inwiefern Marx das Kapital für sich — auch auf der schon angebahnten Ebene der größeren Konkretion der gesamtgesellschaftlichen Zirkulation oder des Kapitals in Differenz — hat betrachten können und inwieweit auf Grund dieses antecedens (das in den Schemata als mögliches Gleichgewicht erscheint) das Problem der Realisierung doch negativ zu stehen kommt. Die Frage stellt sich, inwieweit die Darstellung der Bedingungen des Gleichgewichts in der Theorie antecedens für Negativa, für eine negative Fassung des Realisierungsproblems sein können. Die Abstraktion würde in diesem Fall an ihr selbst nicht zeigen, daß Negatives aus ihr hervorgeht. Rosdolsky scheint in dieser Frage zu gutgläubig, wenn er die Schemata als „Etappe der Analyse" sieht*7; nur wenn die Abstraktion dodi schon zu Pejorativem disponierte, könnte sie als Etappe in Anspruch genommen werden. Oder, wir kommen auch von einer systemtheoretischen Überlegung her dazu, die Reproduktionsschemata nicht als theoretisch relevant anzusehen, eben insofern sie nur eine Möglichkeit, und zwar eine affirmative, behandeln, also nicht der kritischen Theorie entsprechen, die jeweils anschaulich Negatives in Anspruch nimmt. In diesem Sinne wäre die Bedeutung des Abschnitts im Zweiten Band des Kapitals nur, die Möglichkeit von Störungen auf Grund von Disproportionen einzuführen. Im übrigen, was die Wahrscheinlichkeit von Störungen angeht, so dürfte zu ihrer Abschätzung der Kredit nicht ignoriert werden, wie es bei Marx geschieht. Es handelt sich dabei um Geld, das transzendental, in der kategorialen Progression, noch nicht erschlossen ist; aber in der Konkretion ist das Kreditsystem so eng mit der Warenzirkulation verbunden, daß Phasenverschiebungen oder Disproportionen zwischen Abteilung I und II nicht vorkommen müssen. (Sie können vorkommen aus mangelndem Interesse an Investitionen bei ungünstiger Absatzerwartung. Das Konjunkturphänomen ist offensichtlich ein anderes). Die Störungen in der Abstraktion sollen etwas
weiteren These von der fallenden Profitrate hinüber, von der weiter unten zu sprechen sein wird. — Vgl. im übrigen J . Robinson, für die ohne Heranziehung weiterer Faktoren wie der effektiven Nachfrage die Krisen auch bei einem U n gleichgewicht der beiden Abteilungen vermeidbar wären. Essay 50. Voraussetzung wäre ein Investitionsverhalten, wonach Kapitalisten audi bereit wären, bei geringerer Gewinnerwartung in der Investitionsgüterindustrie zu investieren. " Rosdolsky, a.a.O. 533 f.
Der Zirkulationsprozeß des Kapitals
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in der Konkretion erklären, was in eben dieser Konkretion nicht gestört sein muß und nicht durch die abstrakt geltend gemachten Faktoren gestört sein muß.
Das Problem der
Realisierung
Die Marxsche Analyse des Zirkulationsprozesses wirft ein Thema auf, das im Ersten Band vernachlässigt worden war, nämlich das der Realisierung des Mehrprodukts, also des Absatzes der Waren und ihrer Umwandlung in Kapital und dadurch der Verwertung des Kapitals 98 . Die bisherige Theorie hatte sich wesentlich darum bemüht, das Kapital aus Arbeit und Mehrwert aufzubauen — gleichsam in einer Ontologie des Kapitals als Wesen —, während andere Probleme weitgehend abgeblendet wurden.» Sicherlich war f ü r die Zirkulation in den Formeln von W — G — W und G — W — G die Realisierung zugestanden, um einen einfachen Fall von Kapital aufstellen zu können, wo Zirkulationsmodalitäten und -Schwierigkeiten nicht berücksichtigt werden müssen. Dies Thema wird aufgeworfen, nachdem das Kapital aufgestellt ist. Es zeigt sich hierbei, daß es sich nicht nur um die Hinzunahme größerer Konkretion handelt, sondern um das Nachholen einer — nach dem Sayschen Gesetz erforderlichen, aber f ü r das Kapital möglicherweise widersprüchlichen, konstitutiven Bedingung (die zunächst in den Formeln abstrakt als erfüllt zugestanden war) 99 . Das Kapital muß sein Mehrprodukt realisieren. Dies Problem wird bedeutsam, gerade wenn das Kapital aus dem Mehrwert begriffen wird: die Mehrwerttheorie unterstreicht das Mißverhältnis zwischen dem Wert des Produkts, den der Arbeiter als Lohn erhält, und dem überschießenden Mehrwert, den das Kapital zu maximieren trachtet. Die zum Aufbau des Kapitals verwendete Theorie scheint also ohne Rücksicht auf eine — möglicherweise für die Theorie des Kapitals selbst differente — entscheidende Kehrseite des Kapitals aufgestellt: die der Realisierung des Mehrwerts als Mehrprodukt, die nun gerade im Sinne einer Kritik prekär erscheint. Marx gerät also in die Nähe einer Unterkonsumtionstheorie wie der Sismondis 100 , 88
Für die Termini „Realisierung* und „Verwertung" vgl. Kapital III, MEW 25, 259; 268; 299 f. 09 Nach dem Sayschen Gesetz — in seiner üblidi gewordenen Vereinfachung — schafft Produktion die entsprechende Nachfrage, jedenfalls in der Ökonomie als ganzer. Die Gesamtproduktion schafft die entsprechende Gesamtnachfrage. Absatzschwierigkeiten würden nur bedeuten, daß eine gewisse Produktion über ein bestimmtes Ausmaß hinaus nicht nützlich wäre. Siehe J.-B. Say, Traité d'économie politique II (Paris 1819) 487. Siehe audi die Wiedergabe der Sayschen Thesen bei Ricardo, Principles 187f., besonders Punkt 8. Vgl. auch W. Barber, a.a.O. 68 f. und unten 432 if. 100 Vgl. Rosdolsky, a.a.O. 384; zu Sismondi ebd. 379 f.; 539 f.
354
Der Prozeß des Kapitals
sieht aber andrerseits, daß die Realisierung nicht, wie bei Sismondi, letztlich unmöglich sein darf. Marx diagnostiziert hier einen Widerspruch, eben den, daß das Kapital den Mehrwert maximieren möchte, aber gerade deshalb die Konsumtion beschränkt 101 . Die Frage der Unterkonsumtion wurde sdion differenziert durch die Berücksichtigung verschiedener Produktionszweige und ihrer Proportionalität — was im Zweiten Band des Kapitals in den Reproduktionssdiemata zweier Abteilungen der Industrie abstrakt wiedergegeben wird —; sie läuft grundsätzlich darauf hinaus, daß das Kapital sich nidit bei sich selbst, sondern bei den Arbeitern anderer Kapitale, anderer Industriezweige, seine Konsumenten und also die Realisierung seines Mehrprodukts erhofft. Eine Nachfrage seitens der Arbeiter anderer Kapitale ist nun zwar vorhanden, aber letztlich ist von dem betreffenden Kapital eine Nachfrage vorausgesetzt, die die Nachfrage der Arbeiter übersteigt. Marx denkt sich hier einen scheinbaren Ausweg dadurch, daß „eine Produktion die andre in Bewegung setzt und sich daher Konsumenten in den Arbeitern des fremden Kapitals schafft". So „erscheint f ü r jedes einzelne Kapital die Nachfrage der Arbeiterklasse, die durch die Produktion selbst gesetzt ist, als ,adequate demand*. Diese durch die Produktion selbst gesetzte Nachfrage treibt sie voran über die Proportion, worin sie in bezug auf die Arbeiter produzieren müßte, einerseits; muß sie darüber hinaustreiben; andrerseits verschwindet oder schrumpft zusammen die Nachfrage exterior to the demand of the labourer himself, so tritt der collapse ein" 102 . Die Realisierung des Mehrwerts wäre also nur möglich um den Preis von Störungen der Proportionalität und damit der Krisen. Die Realisierung ist nur eine perspektivische: f ü r ein Kapital „erscheint" die Nachfrage der Arbeiterklasse als adäquat. Es handelt sieh im Grunde nur um ein Überspielen der Unterkonsumtionsauffassung, die leitend bleibt. Die Realisierung erweist sich bei Marx auf Grund seiner Deutung des Kapitals als ein nicht stabil lösbares Problem. Das Problem ist nur dynamisch lösbar, durch die zeitweilige Vorhand eines Kapitals, eines Industriezweigs, in der Produktion und im Absatz, bis die Störung eintritt. Etwa kann der auswärtige Handel als vorläufige Lösung eintreten, wie sich an früherer Stelle zeigte. Dadurch würden aber die „Widersprüche" nur auf größerer Stufenleiter reproduziert 103 . Für das jetzige Stadium der Theorie im Kapital gilt, daß die Zirkulationsproblematik von der der Nachfrage (als Thema des Dritten Bandes) unterschieden wird, und dodi sind die Ausführungen des Zweiten Bandes 101
Siehe Grundrisse 324 f. Vgl. Rosdolsky, a.a.O. 383 f. Grundrisst 323. Vgl. Rosdolsky, a.a.O. 386 f. ios Vgl. 0 ben den Hinweis auf Rosdolsky, der sdion die Reproduktionssdiemata mit der Realisierungsfrage verknüpft und die Realisierung nach den Schemata nur durdi Potenzierung der Widersprüche gelingen läßt.
102
Der Zirkulationsprozeß des Kapitals
355
zur Zirkulation schon mitbestimmt von einer Unterkonsumtionsauffassung, die — anders als die Auffassung von den Störungen im Zusammenhang mit den Reproduktionsschemata als Störungen zwischen Kapitalen — Störungen in der mangelnden Konsumtion auf Grund der beschränkten Nachfrage der Arbeiter ansetzt. (Diese letztere Fassung der Disproportionalität und der Störungen ist im Zweiten Band transzendental zwar durch die Mehrwertlehre grundgelegt, aber in der Konkretion noch nicht erschlossen.) Marx hat, streng genommen, zwei Realisierungsauffassungen, eine des Kapitals in Differenz und für sich, und eine des Kapitals mit den Konsumenten, die an den Reproduktionslohn gebunden sind. Die erstere Auffassung gestattet es, Fakten wie Nachfrage auszuklammern und vom Kapital prinzipiell zu sprechen, bei voller Produktion und voller Kapazitätsausnutzung. Die zweite wird, so sehr später Einschränkungen zu machen sind, die Nachfrage miteinbeziehen, sie aber wegen des Theorems vom Reproduktionslohn als zu gering ansehen. Dann kann es Krisen geben wegen dieser Disproportion allein, also wegen Unterkonsumtion. Rosdolsky sieht bei Marx eine „einzigartige Synthese" einer Auffassung, bei der Realisierung gesichert ist (etwa im Anschluß an Ricardo) und der Unterkonsumtionsauffassung (bei Sismondi)104. Wir können auf Grund unserer Analyse gerade nicht von Synthese sprechen, sondern finden — in einer linearen Bewegung auseinandergezogen — gegensätzliche Stellungnahmen. Die Position von Band II beschränkt sich auf das Kapital und ist in den Reproduktionsschemata affirmativ, will allerdings notwendige Störungen schon begründet sehen in der Zirkulation zwischen Kapitalen; die Position im Dritten Band wird auf einer noch konkreteren Stufe dagegen einen Gegenpol des Kapitals — den Bedarf, den Konsum — jedenfalls der Absicht nach einbeziehen und dann negativ dazu Stellung nehmen, also die Unterkonsumtion anerkennen, so sehr deren Folgen für die Realisierung durch Ausweichen auf neue Märkte und auswärtigen Handel auf eine fernere Ebene verlegt werden mögen. Diese letztere Auffassung von der Unterkonsumtion ist anschaulich-konkret auf den früheren Stufen im Zweiten Band, in einem Syndrom von Motiven, immer schon mitgemeint. Sie ist dort in einer Anmerkung Marxens resümiert: „Widerspruch in der kapitalistischen Produktionsweise: Die Arbeiter als Käufer von Ware sind wichtig für den Markt. Aber als Verkäufer ihrer Ware — der Arbeitskraft — hat die kapitalistische Gesellschaft die Tendenz, sie auf das Minimum des Preises zu beschränken. — Fernerer Widerspruch: Die Epochen, worin die kapitalistische Produktion alle ihre Potenzen anstrengt, erweisen sich regelmäßig als Epochen der Überproduktion; weil die Produktionspotenzen nie so weit angewandt werden können, daß dadurch mehr Wert nicht nur 104
Rosdolsky, a.a.O. 540.
356
Der Prozeß des Kapitals
produziert, sondern realisiert werden kann; der V e r k a u f der Waren, die Realisation des Warenkapitals, also audi des Mehrwerts, ist aber begrenzt, nicht durch die konsumtiven Bedürfnisse der Gesellschaft überhaupt, sondern durch die konsumtiven Bedürfnisse einer Gesellschaft, wovon die große Mehrzahl stets arm ist und stets arm bleiben m u ß " 1 0 5 . Wir
müssen,
wie
gesagt,
die
letztere
Realisierungsauffassung
als
direkte Folge der Mehrwerttheorie ansehen. Die Alternative einer Betrachtung der Realisierung auf der Ebene der Kostenrechnung, auf der der Lohn in einem rein quantitativen Verhältnis zu anderen Faktoren steht, also — abgesehen von der transzendentalen Unterstellung der Mehrwerttheorie
—
kein Grund besteht, das Verhältnis von Lohn und zu realisierendem Wert nicht so zu gestalten, daß die Realisierung stabil gewährleistet ist — eine solche Alternative wird angesichts der Theoretisierung vom Mehrwert aus nicht in Betracht gezogen. Stellen wir jedoch die Alternative zur Diskussion, so zeigt sich, daß es nicht so selbstverständlich ist, das K a p i t a l als Konflikt von Mehrwerthecken und Realisierung zu betrachten, ist dodi dieser K o n flikt — ohne die transzendentale Unterstellung — ein rein quantitatives, neoklassisches Optimierungsproblem auf der Ebene der Kostenrechnung. U n d ebenso ist dann wieder offen, wie sich Abteilung I und Abteilung I I verhalten. Soweit ein größenmäßiges
Mißverhältnis zwischen beiden
vorliegt,
könnte es stabil sein. Wesentlich ist das Gleichgewicht, und die Distribution, die optimalen Konsum möglich macht, ist innerhalb dieses Gleichgewichts ein Desiderat 1 0 8 . Hingewiesen sei allerdings a u f Marxens Eingehen auf Vertreter der klassischen Auffassung der Realisierung als einer immer gewährleisteten, z. B . auf J . Mill, Ricardo, Say, McCulloch. Marxens K r i t i k besteht darin, daß diese Autoren die Überproduktionskrisen leugneten. Diese Marxsche K r i t i k ist aber nicht genügend grundsätzlich. D a ß diese Autoren die Krisen nicht erklären können oder leugnen, bedeutet j a noch nicht, daß sie als Folge einer Betrachtungsweise vom Mehrwert her nun umgekehrt apriori sein müssen. Die Gründe könnten peripherer N a t u r sein, die Störungen in mangelnder Proportionalität liegen bei grundsätzlicher Stabilität, wie sie vom Mehrwertgedanken aus nicht darstellbar ist, oder in faktisch — statt prinzipiell — zu niedrigen Löhnen. Kurz, die grundsätzliche Theorie muß der Störungstheorie vorausgehen, nicht braucht die Realisierung überhaupt nur unter Inkaufnahme von Störungen möglich zu sein. Demgegenüber gilt Kapital II, MEW 24, 318 Anmerkung. Von der Anmerkung sagt Marx selbst: „Dies gehört jedodi erst in den nächsten Abschnitt". Daß sie dennoch in Marxens Manuskript an dieser Stelle, an der von Problemen des Umschlages des variablen Kapitals die Rede ist, eingeschaltet ist, wie Engels schreibt, ist symptomatisch für die Vermischung der Motive der Realisierungskritik, ιοβ Vgl. dazu J. Robinson, Essay 33; 50; 72. Wir kommen auf diese Fragen im Zusammenhang mit Band III zurück.
105
Die Konkretion des Kapitals
357
positiv ein Übergang von adäquater Konsumtion durch ,dritte Personen* zur adäquaten Nachfrage auf Grund höherer Löhne107.
4. Die Konkretion des Kapitals Mit der skizzierten Ebene der Zirkulation als vorläufiger Konkretion ist die Theorie nodi nicht abgeschlossen. Wir erinnern uns: zunächst war Thema die Produktion unter der Regie des Kapitals und damit die Produktion des Kapitals, als genitivus subjectivus und genitivus objectivus verstanden. Oder, Thema war das Kapital in Unmittelbarkeit. Dann kam die Zirkulation, wiederum des Kapitals, wiewohl nun schon duale Beziehungen zwischen den beiden wesentlichen Abteilungen von industriellem Kapital als Vermittlung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses vorkommen. Wir sprachen vom Kapital in Differenz. Schließlich muß nun für Marx der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, also die Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozeß, Gegenstand der Darstellung und Kritik werden. Nach der Betrachtung der verschiedenen Seiten des Kapitals ist also gemeint eine Totalität als Prozeß des Kapitals. Die Totalität ist einerseits die Entfaltung oder Entelechie des .Kapitals im allgemeinen', andrerseits der Inbegriff der vielen besonderen Kapitale. Mit der Darstellung des Gesamtprozesses ist also beabsichtigt eine Darstellung und Kritik der konkreten Formen, die mit der Pluralität des Kapitals gegeben sind — eine konkrete Kategorienlehre der Ökonomie —, wie auch eine Darstellung und Kritik der Bewegung des Kapitals als ganzen. Der Gesamtprozeß ist also einerseits plural, andrerseits total. Er müßte plurale Konkretion, Aggregatcharakter, haben und Einzelnes — im Hegelschen Sinne der Rückkehr des Allgemeinen über das Besondere — sein. Man kann hier fragen, ob dies bei Marxens einerseits Hegelscher, andrerseits nominalistischer Inspiration möglich ist. Rosdolsky weist betont darauf hin, daß das .Kapital im allgemeinen' ein beliebiges Kapital sei und also auch als Gesamtkapital gedacht werden kann, im Unterschied zu besonderen Einzelkapitalen 108 . Er vermeidet aber eine Stellungnahme zur Nominalis107
108
Diese Konzeption von .dritten Personen', die aus nidit lohnabhängigen, eignen Mitteln kaufen können — so bei W. Woronzow und P. von Struve — erklärt zwar nicht den eingespielten Fall adäquater Konsumtion, wohl aber den Anlaufsfall. R. Luxemburg kritisiert die Inanspruchnahme soldier .dritter Personen' (Die Akkumulation des Kapitals, 261 ff.), kommt aber selbst zu der These, daß „nichtkapitalistische Abnehmer" für das Kapital notwendig seien (ebd. 338). Sie entwickelt daraus den Marxsdien Widerspruch von Mehrwert und Realisierung und kann sich nidit vorstellen, daß es die Mehrwertkonzeption sein könnte, di« zu dieser Widerspruchsthese führt. Rosdolsky, a.a.O. 61—71; 89; 92.
358
Der Prozeß des Kapitals
mus-Frage und wehrt vielmehr nur den Gedanken ab, daß der Gesamtaspekt des Kapitals die empirisdie Konkretion zu sein habe 109 . Es versteht sich im übrigen, daß die Konkretion auch die früher behandelten, einfacheren abstrakten Formen als besondere aufweisen kann, die zufällig nicht modifiziert worden sind von der höheren Entwicklungsstufe; d. h. es gibt Konkretes, das abstrakt geblieben ist110. Was die Konkretion als solche angeht, so spricht Marx auch von der „Oberfläche" der Gesellschaft, der er sich jetzt nähere 111 . Hier wäre dann der Ort für die Darstellung der durch das Vorausgehen der Zirkulationsthematik eröffneten Pluralität, von Angebot und Nachfrage, Konkurrenz und ihrer bestimmenden Funktion für Produktion und Akkumulation. Ebenso wäre hier der Ort für die Vervollständigung der Selbstinterpretation der Wirtschaft in einer von rein quantitativen Gesetzen beherrschten Theorie der Distribution und des Austausches. Marx erreicht also die Herleitung des Selbstverständnisses der Produktionsakteure, ihres Bewußtseins von dem, was sie ökonomisch tun, wie des Selbstverständnisses der Ökonomie, des Bewußtseins der Nationalökonomen von den Gesetzen der Ökonomie, wie sie ihnen erscheinen (eben als quantitative Gesetze von Angebot und Nachfrage, ohne den anthropologischen Boden, den die Marasche Theorie zusammen mit dem Wertgesichtspunkt geltend macht).
Kosten- und
Profitgesichtspunkt
Die neue Ebene der Konkretion wird eröffnet mit dem Gedanken, daß das früher gleich Null gesetzte konstante Kapital Berücksichtigung findet. Ging es Marx im Ersten Band des Kapitals darum, daß der Wert in der aufgewandten Arbeit liegt, und also der kapitalistischen Produktion imputiert wird, daß die wirklichen Kosten der Ware sich nach der Ausgabe in Arbeit bemessen112, und wurde von da aus die Akkumulation konstruiert, so gelangt die Theorie im Dritten Band zu einem Punkt, wo der Aufwand für die Produktion der Ware die einzelnen Faktoren wie c und ν als gleichartig, als „Kosten" erscheinen läßt. Sind im Ersten Band die Arbeit und der Mehrwert für das Kapital konstitutiv, wird also das Kapital erst einmal arbeitswerttheoretisch fundiert (wenn auch mit der Schwierigkeit der ursprünglichen Akkumulation als sozialhistorischer Konzeption), so ist jetzt beides, Arbeit und Kapital als ausgeglichen, als homogen, gesetzt. 109
Rosdolsky, a.a.O. 90. Wir kommen auf diese Fragen zurück. Siehe unten 443 ff. Vgl. hierzu Kapital III, MEW 25, 33. Von solcher abstrakten Konkretion war schon in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie die Rede. 111 Kapital III, MEW 25, 33. 112 Kapital III, MEW 25, 34.
110
Die Konkretion des Kapitals
359
Dies ist schon enthalten in der These, daß für das Kapital der Arbeiter ein Produktionsmittel ist, oder daß er Ware ist, gekauft wird, wie audi das Material und die sonstigen Produktionsmittel. Jetzt ist es aber gesetzt, daß der Arbeiter nur ein Kostenelement unter anderen ist und so in den Preis als Faktor eingeht. Inwiefern hat die Theorie diese Ebene als neue hergeleitet und eröffnet? Die Theorie hat diese Ebene generell vorbereitet dadurch, daß sie ihr die Zirkulation, die auf die kapitalistische Produktion folgende Ebene, voranschickt. Unter dem Gesichtspunkt, die Voraussetzungen dafür, daß W zu G wird, zu entwickeln, treten nicht unmittelbar arbeitswerttheoretische Größen auf; das Produkt verursacht neben seiner Herstellung gewisse Kosten, bis es zu G werden kann. Für den Absatz spielen nur die Gesamtkosten eine Rolle. Es ergibt sich somit die Einordnung der Arbeitskraft unter die Kostenfaktoren, und also die Nivellierung der einzelnen Kostenfaktoren, im Kostpreis113. Der Kostpreis (und dann der Profit) hat seinen transzendentalen Ort nach der Theorie der Zirkulation, ist ihr Fazit. Mit ihm ist, wie gesagt, gesetzt, daß auf einer konkreteren Ebene der Wirtschaft oder der Nationalökonomie Produkte und Arbeit unter den Kostengesichtspunkt subsumiert werden. Der Begriff des Kostpreises eröffnet einen neuen Gesichtspunkt, den der Rentabilität, unter dem die Ökonomie erneut, als jetzt erst konkret werdende, durchlaufen wird. Der Weg, wie er sich im Preisbegriff spiegelt, geht vom Gestehungspreis oder, wie Marx mit dem Anglizismus stets sagt, vom „Kostpreis", zu konkreteren Preisbegriffen wie Produktionspreis, Marktpreis, Kapitalpreis fort. Grundsätzlich genommen ist als Neues behauptet die Eigendignität des Preises gegenüber dem Wert. Hier erst kann Marx absehen von der früheren abstrakten Annahme, daß der Preis, als unmittelbarer, dem Wert folge. Inwiefern er abweicht, oder sogar grundsätzlich anders ist, wird erst noch zu zeigen sein. Überhaupt kann die Frage an dieser Stelle noch offen bleiben, inwieweit für Marx eine Preistheorie möglich ist, wenn damit gemeint sein soll, daß Preis und Wert in ein erklärbares Verhältnis gesetzt werden. Ein Weiteres ist bedeutsam: indem der Kostengesichtspunkt als maßgebende Ebene der Ökonomie erscheint, ist die Kostentheorie für die Ökonomie als maßgebende Betrachtungsweise etabliert. Es kommt für den Preis darauf an, was eine Ware gekostet hat, nicht, ob sie gefragt ist. Dies ist eine wichtige Vorentscheidung für die weitere Theoretisierung der konkreten Ökonomie. Marx ist Kostentheoretiker. Das steht nicht in Konflikt mit der Tatsache, daß er Arbeitswerttheoretiker ist. Vielmehr ist der kostentheoretische Standpunkt für ihn eine Fortsetzung und gleichzeitig Umkehrung des arbeitswerttheoretischen Standpunkts. Der kostentheoretisdie Standpunkt ist der .konkretere' Standpunkt des Dritten Bandes des Kapi11S
Definition Kapital III, MEW 25, 46.
360
Der Prozeß des Kapitals
tals, und für diejenigen, die das Kapital nicht als Kritiktheorie, sondern einzelwissenschaftlich ökonomisch sehen, eine Festlegung neben möglichen anderen. Der Zusammenhang der kostentheoretisdien Position mit Marxens Auffassung in der Realisierungsfrage ist jedoch ohne weiteres deutlich. Entsprechend dem Kostengesichtspunkt ist der Uberschuß des Kapitals über den Kostpreis, oder der Mehrwert, neu zu betrachten 114 . Er erscheint ebenfalls als auf das ganze Kapital, auf c und v, bezogen. Mehrwert stellt sich nun nicht mehr dar als Ergebnis der Aneignung von Arbeitszeit (und Vermehrung von v), sondern als Uberschuß des Preises über den Kostpreis, als dem fixen und zirkulierenden Bestandteil des Kapitals entspringend115, damit als Profit, bezogen auf alle Kostenfaktoren, als Ertrag von c und v. Selbstverständlich ist die Rate des Profits (im Gegensatz zur Masse) eine von der Mehrwertrate ganz verschiedene, im allgemeinen viel kleinere Größe. (Wird ein anteiliger Profit pro Produkteinheit zum Kostpreis hinzugerechnet, so ergibt sich ein konkreterer Preis, der Produktionspreis, zu dem jedodi weiter gehört, daß die Profitrate eine Durchschnittsprofitrate ist. Diese — und dazu die konkreteren Preisbegriffe — sind erst nodi zu entwickeln. Ebenso ist nur vorwegnehmend darauf hinzuweisen, daß die Masse des Profits zunächst zwar = der Masse des Mehrwerts ist, aber davon abweichen kann, insofern sich eine Durchschnittsprofitrate ausgebildet hat und im gegebenen Fall eine Produktion mehr Profit abwirft als sie Mehrwert produziert 116 .) Mit Kostpreis und Profit ist eine homogene Ebene der ökonomischen Phänomene errreicht: nicht mehr kommt die Arbeitskraft zu gesondertem Ausdruck; vielmehr gibt es eine die Unterschiede von Arbeitskraft und konstantem Kapital nivellierende Kostenrechnung, ein Preisdenken. Die Ebene, auf der Kostpreis und Profit maßgebend sind, ist nicht mehr am Mehrwert und letztlich an der anthropologischen Differenz von Arbeit und Produktionsmittel orientiert (worin eine Differenz von Anthropologie und Ökonomie fortlebt), so sehr Marx die neue Ebene doch immer wieder vom Mehrwert her versteht. Die Trennung der ökonomischen Konkretion von der arbeits- und mehrwerttheoretischen Grundlegung wird sichtbar. Oder, umgekehrt: es geht Marx darum zu zeigen, daß im Begriff des Kostpreises und des Profits der Mehrwert „verschleiert" ist117. Im Mehrwert ist das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit „bloßgelegt"; im Begriff des Profits erscheint „das Kapital als Verhältnis zu sich selbst"119. 114 115 116 117
118
Kapital III, MEW 25, 44 ff. Kapital III, MEW 25, 46. Vgl. Kapital III, MEW 25, 25; 47; 58; 867 u. ö. mit ebd. 177. Kapital III, MEW 25, 58. — Wir erinnern an die oben zitierte Engelssdie Auffassung dieser Sachlage 254 f.
Kapital III, MEW 25, 58.
Die Konkretion des Kapitals
361
Die Reflexion des Kapitals Die Idee Marxens, daß eine transzendentale Theorie die homogene Ebene des ökonomischen Rechnens als späte Konsequenz des Begriffs des Kapitals — der auf dem Mehrwert und somit der Arbeitskraft aufgebaut ist — behaupten kann, ist als feinsinnig zu bezeichnen. Der Mehrwert erscheint als reflektiert, gesetzt, als transzendentales Prius für die Erklärung der Ökonomie gleichzeitig bestätigt und negiert. Die konkrete Ebene der Ökonomie in ihrer Selbsteinschätzung nach Kosten und Preis ist erklärend und fundierend hergeleitet von einer anderen Ebene her, der Wertebene, die ihrerseits als zwiespältig anthropologisch-ökonomische ein Moment des Gattungslebens (Arbeit und Gebraudiswert) enthält und das aus ihr Hergeleitete zur Kritik geraten läßt. Mit der Erklärung des Selbstverständnisses der Ökonomie aus Arbeitswertlehre und Mehrwerttheorie ist in der Theorie thematisch die Stufe der Reflexion erreicht: das Kapital ist Reflexion auf sich, es ist als Kapital produktiv, ist Quelle des Reichtums; es interpretiert sich immanent oder innerkapitalistisch als ein Inkrement, jetzt Profit genannt, produzierend. Damit ist die Theorie des Inkrements auch in anderen Zweigen als denen der Produktion eröffnet: Handelsgewinn des Warenhandlungskapitals, Zins und Grundrente sind solche nunmehr transzendental erklärbaren Folgen der Reflexion des Kapitals auf sich, in denen es ein Inkrement produziert, gleichgültig, worin es investiert ist. Die thematische Entfaltung dieses Bereichs der Ökonomie gibt Marx erst an späterer Stelle im Dritten Band, schon weil er die Theorie des Profits noch einheitlich — als prinzipielle Theorie vor dem Auseinanderfallen in verschiedene gegeneinander verselbständige Kategorien 119 — darstellen möchte. Wir können die Thematik für unseren Zweck am Rande lassen. Wesentlich ist für uns, daß dieser Bereich keinen bestimmenden, modifizierenden Einfluß auf die Deutung des Kapitals (als noch vor dieser Explikation seiner „inneren Natur" nach betrachtet) haben wird. Es handelt sich um eine linear fortgeführte Kategorienlehre, nicht um ein Inbeziehungsetzen des Konkreteren, Späteren, mit dem Übrigen, schon Exponierten. Dieser Sachverhalt wird uns noch zu beschäftigen haben 120 . Das Selbstverständnis der Ökonomie in der ihr entsprechenden Nationalökonomie ist, wie sich zeigt, gegensätzlich zu den erklärenden Grundlagen, wie sie Marx, aber mit gewisser Zurückhaltung und gewissen Unstimmigkeiten schon die klassische englische Nationalökonomie selbst und auch Hegel gegeben haben. Man hat hierin einen Widerspruch der Marxsdien Theorie gesehen. Vorblickend, vor einem näheren Eingehen auf diese »» Kapital III, MEW 25, 224. 120
Vgl. unten 398 ff.; 418 ff.
362
Der Prozeß des Kapitals
These vom Widerspruch, können wir von unserer Deutung der Marxschen Theorie als transzendentaler Ökonomiedarstellung und -kritik sagen, daß diese Theorie ihre eigne Negation begründet, daß dies aber ein eigentümlicher Fall von Widerspruch sein wird, da es sich um die Konsequenz einer negativen oder Kritik-Theorie handelt. Diese muß, wenn sie einerseits Hegelisch die Reflexion des zu Kritisierenden auf sich selbst aufstellt als Resultat, andrerseits es damit kritisiert, zu etwas Falschem als Resultat kommen. Dies Resultat ist, wie bei Hegel wahrer, so bei Marx falscher als seine Prinzipien. War schon die Arbeitswertlehre und das Wertgesetz ökonomisch und somit falsch, abstrakt, kritikwürdig, so ist es das Resultat — das Kapital, das selbst Quelle des Reichtums ist — erst recht. Oder, in unserem spezielleren Zusammenhang: das Kapital ist Reflexion auf sich selbst, also Reflexion des Negativen auf sich selbst. Das Negative ist dabei als Wirkliches nominalistisch arretiert und wird so nicht mit Hegel Affirmation, sondern Setzung des Negativen als eines Negativen (Schein, Oberfläche usw.). Die transzendentale Interpretation hebt also, so scheint es, den gegen Marx vorgebrachten Vorwurf des Widerspruchs, oder doch wenigstens dessen Odium, allerdings um den Preis eines nunmehr auftretenden Problems, nämlich der Beurteilung eines solchen Typs von Theorie. Innerhalb der transzendentalen Theorie scheint die Marxsche Stufe der Reflexion konsequent. Was Marx nur noch zeigen müßte, wäre, so scheint es, daß diese Ebene des Resultats selbst unstabil ist, eben als Konsequenz ihrer Falschheit.
Der innerökonomische
Widerspruch
In einem nicht-transzendentalen, vielmehr innerökonomischen Verständnis, demgemäß jede Position der Theorie, ob in der Begründungsbewegung früh oder spät, eine reale ökonomische Bestimmung ausmacht, die mit anderen Bestimmungen als simultan konfrontiert werden kann, stellt sich die Sachlage jedoch anders dar. Stellt man Wertgesichtspunkt und Kostenund Preisgesichtspunkt nebeneinander, so zeigt sich ein Widerspruch. Die Theorie im Ersten und Zweiten Band des Kapitals war davon ausgegangen, daß die Ökonomie vom Wertgesichtspunkt, näher von der Arbeitswertlehre her, zu theoretisieren sei. Daher war angenommen worden, daß die Preise den Werten konform sind (bis auf unwesentliche zufällige Abweidlungen). Dies ergibt sich schon aus der Deutung des Preises als Geldausdruck für den Wert und aus den Zirkulationsformeln. Arbeit ist demnach die einzige Wertschöpfung und der einzige Bestimmungsgrund der Austauschverhältnisse, und der Preis entspricht dieser Tatsache. Diese Konformität des Preises zum Arbeitswert — oder diese Ausschließlichkeit des Bestimmungsgrundes für den Preis — wird aber im Dritten Band des Kapitals für die ökono-
Die Konkretion des Kapitals
363
mische K o n k r e t i o n aufgegeben, eben indem das K a p i t a l die Preise unter Nivellierung v o n c u n d ν u n d unter Einrechnung eines anteiligen Profits, als bezogen auf C oder das ganze Kapital, festsetzt. Preise sind nicht mehr (arbeitstheoretisch gefaßten) Werten k o n f o r m , u n d z w a r nicht nur nicht im Sinne zufälliger Abweichungen, sondern prinzipiell. Dies ist das zentrale Argument der innerökonomischen Kritik, wie sie in theoretisch eindrücklichster F o r m E. von Böhm-Bawerk gegeben hat 1 2 1 . Das A r g u m e n t w i r d bei Böhm-Bawerk in verschiedenen Richtungen verfolgt, schon in der Absicht, es nicht n u r bei einer Widerspruchsthese bewenden zu lassen. So w i r d etwa auf die arbeitswerttheoretische G r u n d legung abgestellt u n d auf die Schwierigkeit hingewiesen, die sich aus der Wertbestimmung angesichts der qualifizierten Arbeit ergibt, die ihrerseits schon eine nicht-arbeitswerttheoretische Preisbestimmung voraussetzt 1 2 2 . Eine Reduktion der qualifizierten Arbeit auf Durchschnittsarbeit, ein Austauschverhältnis nach Proportionen, wie sie „durch das H e r k o m m e n gegeben" scheinen, macht die E r f a h r u n g , und damit den M a r k t , das erst zu Erklärende, zur Erklärung. Die E r k l ä r u n g des Wertes auf dem G r u n d der Arbeit w i r d nichtig 123 . Böhm-Bawerk geht weiter auf aus dem Kapital entnommene Argumente ein, die den Konflikt von Wertlehre und Preislehre beheben sollen 124 . Diese Argumente, ebenso wie die konkretere Fassung des Widerspruchs der Positionen von Band I und I I gegenüber Band I I I , setzen aber spätere, noch nicht behandelte Theoreme Marxens voraus, u n d so können sie erst in späterem Zusammenhang behandelt werden. Vorerst gilt es nur festzu121
E. von Böhm-Bawerk, Zum Abschluß des Marxschen Systems, a.a.O. 109—112; 171; 174; 191. 122 Siehe oben 266. 12S Böhm-Bawerk, a.a.O. 164—75. Hiergegen, wenig überzeugend, R. Hilferding in Marx-Studien, 1. Band, 13—23. — Im übrigen besteht für Böhm-Bawerk, wie wir schon oben 266 A 52 sahen, die Schwierigkeit, daß die arbeitswerttheoretische Unterstellung trivial ist. Das den Tauschwerten Gemeinsame ergibt sich nach Abzug aller anderen Eigenschaften der Tauschobjekte. Bei dieser Reduktion wird vom Gebrauchswert abgesehen — so daß Naturgegebenheiten ausfallen und für alle Waren die Arbeit als einziges Gemeinsames hingestellt wird. Genausogut könnten andere Eigenschaften als Gemeinsames isoliert werden. Gebrauchswerte selbst können nach ihrer Größe verglichen werden usw. Die Arbeitswertlehre erscheint als Vorurteil. Böhm-Bawerk, a.a.O. 151—64. Hiergegen, wiederum wenig überzeugend, Hilferding, a.a.O. 3—13. — Wir haben oben allerdings schon gesehen, daß die Arbeit nicht nur in einem Eliminationsverfahren als gemeinsamer Nenner der Tauschobjekte übrigbleibt, sondern daß eine transzendentale Theorie der Ökonomie vorliegt, die die Arbeit als Ontologicum in Differenz zur tauschwertsetzenden allgemeinen Arbeit verlangt. Böhm-Bawerk hat durchaus recht, daß diese allgemeine oder abstrakte Arbeit nicht, wie es in der Marxschen Darstellung geschieht, als einziges Gemeinsames der Waren aufgestellt werden kann, eben wenn man von der Marxschen Theorieabsicht absieht. 124 Böhm-Bawerk, a.a.O. 112—46.
364
Der Prozeß des Kapitals
halten, daß die These vom Widerspruch sich ergibt, -wenn in der Theorie frühe ökonomische Phänomene als konkret und simultan mit anderen ökonomischen Phänomenen genommen werden, arbeitswerttheoretische Bestimmung von Preisen also mit qualifizierter Arbeit, mit Preisen unter Berücksichtigung von c usw., konfrontiert wird.
Organische Zusammensetzung
des Kapitals und Profitrate
Auf der Kostenebene bietet sich ein Vergleidi der Größen von c und ν an, sind sie dodi nicht mehr qualitativ verschieden, sondern nur noch quantitativ. Kapitale haben — neben einer Mehrwertrate oder einem Exploitationsgrad und neben einer Profitrate — eine sog. „organische" Zusammensetzung", die je nach dem Verhältnis von c und ν differiert 125 . Bei gleichem Exploitationsgrad kann das Kapitalerfordernis in verschiedenen Industrien sehr verschieden sein. Die Akkumulation durch Mehrwert bei einer bestimmten Mehrwertrate ist an sich unabhängig von der organischen Zusammensetzung im absoluten, industriespezifischen Sinn: man kann sich Zusammensetzungen von 10c und 90T oder von 90 c und 10 v vorstellen; die Profitrate wäre entsprechend sehr verschieden, bei 10c und 90 v (und einer Mehrwertrate von 1 0 0 % ) 9 0 % , bei 90 e und 10v (und derselben Mehrwertrate) 10% 1 2 e . Die verschiedensten organischen Zusammensetzungen können also einer konstanten Mehrwertrate entsprechen; es kann einfach der Fall sein, daß viel Kapital nötig ist für einen gegebenen Exploitationsgrad, oder wenig Kapital. Andrerseits kann eine Erhöhung des Exploitationsgrads eintreten durch Steigerung der organischen Zusammensetzung (Steigerung von c im Verhältnis zu v), d. h. durch Steigerung des relativen Mehrwerts. Diese Steigerung des relativen Mehrwerts wäre bedingt durch höhere organische Zusammensetzung, wenn mehr Kapitaleinsatz die Produktivität steigert, während der Lohn als Deputat verstanden ist und nicht anteilmäßig mit dem Gesamtprodukt steigt. Eine Verschiebung zugunsten einer höheren organischen Zusammensetzung bedeutet also eine Steigerung des relativen Mehrwerts, gleichgültig, was die absolute Ausgangsposition der betreffenden Industrie war, wenn die höhere Zusammensetzung (mehr Kapital pro Mann) der Produktivitätssteigerung dient. (Dabei nimmt Marx wenig Notiz davon, daß produktivitätssteigernde Erfindungen auch bedeuten können, daß weniger Kapital nötig ist für größere Produktivität pro Mann. 125
Kapital III, MEW 25, 155. — Diese Unterscheidung war sinngemäß schon im Zweiten Band gemacht, wo das Verhältnis von Abteilung I und Abteilung II nach verschiedenen Verhältnissen von c und ν diskutiert worden war. Siehe oben 349.
Kapital III, MEW 25, 158. Vgl. ebd. 173.
Die Konkretion des Kapitals
365
Er sieht, d a ß Erfindungen den Kapitalanteil wie die Lohnkosten p r o P r o dukteinheit senken können; dies w i r d konstruiert über eine E n t w e r t u n g des (alten) Kapitals, die die Tendenz zu höherer organischer Zusammensetzung hemmt. E r n i m m t aber an, d a ß f ü r eine Produktivitätssteigerung im allgemeinen mehr K a p i t a l p r o M a n n nötig ist 127 . Bei einer E r h ö h u n g der organischen Zusammensetzung w i r d der E x ploitationsgrad steigen, eben je mehr K a p i t a l a n g e w a n d t w i r d (höhere P r o duktivität, größerer Ausstoß, kleinerer Anteil des Deputatlohns am P r o d u k t e n w e r t bei konstantem Reallohn). U m g e k e h r t m ü ß t e n , w e n n der E x ploitationsgrad k o n s t a n t bleibt, die Löhne bei steigender P r o d u k t i v i t ä t steigen 128 . M a r x geht jedoch v o n einem konstanten Exploitationsgrad aus. Das ist verständlich aus der ursprünglichen Idee eines Preises, der dem Wert k o n f o r m ist; er gilt ja gerade bei konstantem u n d überall gleichen E x p l o i t a tionsgrad 1 2 9 . N u n ändert sich aber der Exploitationsgrad durch Steigerung des relativen Mehrwerts oder durch höhere organische Zusammensetzung (wenn diese die P r o d u k t i v i t ä t steigert u n d der Reallohn konstant bleibt). M a n k a n n also nicht eine Steigerung der organischen Zusammensetzung diskutieren unter Verhältnissen, in denen der Exploitationsgrad k o n s t a n t bleibt u n d der Reallohn ebenfalls k o n s t a n t bleibt (bei konstanter U m schlagszeit) 130 . Es m ü ß t e eine Variable zugelassen werden, d a m i t das eine oder das andere zutreffen k ö n n t e : nämlich steigende Reallöhne, also Löhne, die nicht mehr a n den G e d a n k e n des D e p u t a t s gebunden sind und nur de facto nach der Arbeitsmarktlage etwas d a v o n abweichen, oder ein steigender relativer M e h r w e r t . Die bloße Verschiedenheit der organischen Zusammensetzung bei gleichem Exploitationsgrad ist nun möglidi, ja gegeben, nicht aber kann der Exploitationsgrad gleichbleiben bei einer Verschiebung der organischen Zusammensetzung. Dies Problem w i r d dringlich erst bei Einbeziehung d e r Profitrate. Bei verschiedener gegebener organischer Zusammensetzung w i r d die Profitrate verschieden sein (bei gleichen sonstigen Bedingungen w i e Mehrwertrate, Arbeitsintensität usw.). Aber die konkrete K o n f r o n t a t i o n der K a p i t a l e auf dem M a r k t , die K o n k u r r e n z der Kapitale unter dem Gesichts187 128 1M
1S0
Vgl. J. Robinson, Essay 35. J. Robinson, Essay 36. Vgl. J. Robinson, Essay 15: „In a system in which prices correspond to values the net product of equal quantities of labour is sold for equal quantities of money. Thus (given uniform money-wage rates) surplus, in terms of money, per unit of labour is everywhere equal. To say that relative prices correspond to relative values is the same thing as to say that the rate of exploitation is equal in all industries". Vgl. J. Robinson, Essay 36, die diesen Sachverhalt im Zusammenhang mit der fallenden Profitrate diskutiert.
366
Der Prozeß des Kapitals
punkt der Profirate, bedingt für Marx einen Ausgleich der Profitraten™1. Damit ist nun eine Verschiebung der organischen Zusammensetzung gefordert. Die organische Zusammensetzung, industriespezifisch verschieden, wird jeweils so verändert werden, daß eine Durckschnittsprofitrate erzielt wird. Hierbei ist es dann nicht mehr möglich, daß der Exploitationsgrad überall derselbe bleibt. Marx nimmt nun dennoch eine gleichmäßige und konstante Mehrwertrate an, während diese nur mit gleicher Profitrate vereinbar ist, wenn gleidie organische Zusammensetzung bestünde 182 . Besteht diese aber nicht, so ist der Weg offen für eine variierende Mehrwertrate: die gleiche Profitrate könnte sich erklären aus steigendem Exploitationsgrad in verschiedenen Industrien bei gleichbleibendem Reallohn, oder aus sinkendem Reallohn bei gleichem Exploitationsgrad, oder aus Erfindungen, die weniger Kapital pro Mann bedingen usw. Der Profit bemäße sich nicht nach ν bei gleichem Exploitationsgrad, sondern wäre eine Funktion von ν und der Produktivität auf Grund eines gegebenen c. Die Höhe der Profitrate hinge davon ab, ob die Kapitalerhöhung mehr Profit pro Produkteinheit ermöglicht. Ebenso kann die Profitrate gleich sein durdi Variation der Mehrwertrate derart, daß höhere Profite durch höheren Reallohn ausgeglichen werden. Theoretisch wichtig ist, daß damit die These vom Preis als konform mit dem Arbeitswert für die ökonomische Konkretion aufgegeben werden muß, oder, daß diese These der Konkretion widerspricht. Die Schwierigkeiten der Theorie der organischen Zusammensetzung und des Profits resultieren aus der Geltendmachung des Wertgesichtspunkts auf der Ebene der Konkretion. Das Wertgesetz ist verletzt. Die These vom Wertgesetz im Ersten Band des Kapitals ist transzendental früh und abstrakt. Marx ist gehalten, die Preise als den Werten konform anzusehen. So gehen Exploitationsgrad und Werte und Preise zusammen. Schon der Begriff des relativen Mehrwerts führt aber auf eine Abweichung von dieser dreifachen Entsprechung, eben wenn nicht alle Kapitale den relativen Mehrwert gleichmäßig steigern. Die Idee eines konstanten Exploitationsgrades ist nicht mehr für die Konkretion verpflichtend, sie ist vielmehr nur eine abstrakte Prinzipienbasis für die dieser widersprechenden Erscheinungen in der Konkretion. Kapital III, MEW 25, 167. " s J. Robinson, Essay 15. Das obige Zitat geht wie folgt weiter: "But if capital per man employed (the organic composition of capital) is different in different industries, -while profit per man (the rate of exploitation) is the same, profit per unit of capital must vary inversely with capital per man. It would be possible for both the rate of profit and the rate of exploitation to be equal in all industries only if the ratio of capital to labour employed were also equal". Die im anderen (Marxsdben) Fall eintretende Paradoxie findet sich rechnerisch präzisiert etwa bei M. Blaug, Economic Theory in Retrospect (Homewood, I 11. 1968) 230—36.
131
Die Konkretion des Kapitals
367
Es sei darauf hingewiesen, daß Rosdolsky die These bestritten hat, daß Marx bei der Bildung der Durchschnittsprofitrate von einer konstanten Mehrwertrate ausgehe. Es kann nun einerseits gar kein Zweifel sein, daß Marx eine gleichmäßige Mehrwertrate unterstellt (Kapital III, MEW 25, 165—67; 176; 184), wenn audi Rosdolsky Stellen geltend macht, wo Marx eine Variation der Mehrwertrate im Verν hältnis zur Profitrate voirsieht: »Wie wir oben bei den Variationen von — sahen, daß eine und dieselbe Mehrwertsrate sidi in den verschiedensten Profitraten ausdrücken kann, so sehn wir hier, daß einer und derselben Profitrate sehr verschiedne Mehrwertsraten zugrunde liegen können (Kapital III, MEW 25, 77; Rosdolsky, a.a.O. 435. Vgl. audi Rosdolsky, „Zur neueren Kritik des Marxsdien Gesetzes der fallenden Profitrate" in: Kyklos, IX, 1956, Heft 2, 208 ff. Dazu Habermas, a.a.O. 190). Das Problem ist aber nicht, ob es eine solche gegenseitige Variation der beiden Raten geben kann, sondern, daß Marx diese Variation wohl kennend für die Darstellung der Durchschnittsprofitrate von einer gleichmäßigen Mehrwertrate ausgeht. Um von der auf der Mehrwertlehre aufgebauten Profitlehre zur Ausgleichung der Profitrate zu kommen, muß Marx alle Faktoren außer dem Profit unverändert ansetzen, sonst hätte die für die Ausgleichung verantwortlich gemachte Konkurrenz nichts erklärt, wäre eine beliebige Auffassung von der Profitrate möglich. Es geht ja gerade darum, die Eigenbewegung der Profitrate gegenüber der Mehrwertrate darzustellen und dazu muß die Mehrwertrate als gleichmäßig festgehalten werden. Und gerade diese im Interesse einer linearen Erklärung gemadite Annahme ist widersprüchlich. Im übrigen spielt der Gedanke der ursprünglichen Konformität von Arbeit, Wert und Preis (ak frühe Unterstellung für Abweichungen davon) mit, ja für Marx ist diese Konformität und damit eine „allgemeine Rate des Mehrwerts" eine „tatsächliche Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise" {Kapital III, MEW 25, 184). Insofern ist J. Robinsons Kritik berechtigt. Nur läßt sich die bei Marx vorliegende Paradoxie aus seinem transzendentalen Erklärungsverfahren noch verstehen. Wir unterscheiden uns hierin von J. Robinson, daß wir nicht auf dem Widerspruch von konstanter Mehrwertrate und konstanten Reallöhnen insistieren, vielmehr diese doppelte Annahme nur als transzendentale Bedingung der Erklärung der Durdischnittsprofitrate ansehen, eine Annahme, die dann aufgegeben werden muß.
Wertgesetz
und
Durchschnittsprofitrate
Die andersartige Konkretion zwingt zu einer Extrapolation, um den Widerspruch scheinbar zu vermeiden, nämlich des Produktionspreises als desjenigen Preises, in den das konstante Kapital ebenso wie die Durchschnittsprofitrate eingehen. Marx löst das Problem, daß bei sich ausgleichender Profitrate die organische Zusammensetzung verschieden ist und somit Wert und Preis entgegen den transzendentalen Ansetzungen auseinandergehen, so, daß die Industrien mit höherer organischer Zusammensetzung höhere Preise auf Kosten derer mit niederer Zusammensetzung erzielen, während im Ganzen die Preise immer noch den Werten entsprächen1*3. "» Kapital III, MEW 25, 166 f.
368
Der Prozeß des Kapitals
Der Wertstandpunkt soll seine Geltung darin behalten, daß die Preise für die Ökonomie im Ganzen den Werten konform bleiben, in diesem Sinne — nun nicht mehr abstrakt, sondern konkret — „natürliche" Preise seien, nur daß in den verschiedenen Industrien Abweichung stattfinden je nach der organischen Zusammensetzung. Der Produktionspreis wäre das theoretische Novum, das Ventil, bei dem die Rolle des Kapitals und die Durchschnittsprofitrate berücksichtigt sind, entgegen dem Wertgesetz, und dodi dem Wertgesichtspunkt Genüge getan sein soll, indem im Ganzen der Ökonomie Preise und Werte konform sind. Das Kapital ist als einzelnes nicht wertkonstitutiv, sondern nur preiskonstitutiv, aber im Ganzen gilt das Wertgesetz" 4 .
Innerökonomischer
und transzendentaler
Widerspruch
Die geschilderte vermeintliche Lösung läßt sich verstehen aus der Äquivokation des Kapitals als Kapital im allgemeinen und der Konkretion der vielen Kapitale. Es scheint, daß die vielen Kapitale kategorial eben doch nur als das Kapital behandelt werden können. Wird das plurale Kapital als ,Kapital im allgemeinen' behandelt, so unterliegt es, wie im frühen Fall des ,Kapitals im allgemeinen', dem Wertgesetz. So heißt es: „Da nun der Gesamtwert der Waren den Gesamtmehrwert, dieser aber die Höhe des Durchschnittsprofits und daher der allgemeinen Profitrate regelt — als allgemeines Gesetz oder als das die Schwankungen Beherrschende —, so reguliert das Wertgesetz die Produktionspreise 135 ." (Eine ähnliche Argumentation konnte den Analysen der Zirkulation im Zweiten Band unterstellt werden, wo das Kapital nach zwei Abteilungen eines .Kapitals im allgemeinen' analysiert wird und nichts anderes herauskommen kann als die Komplementarität der beiden Abteilungen eines, oder des, Kapitals. Jetzt nun geht es nur nicht um Zirkulationsvorgänge, sondern um Wert und Preis.) Man kann das Wertgesetz schon beim .Kapital im allgemeinen' angreifen: es stimmt nie konkret und kann nur von der 154
Logisch müßte die Lehre von der organischen Zusammensetzung bedeuten, daß Industrien mit kleinem c der Tendenz nach eine höhere Profitrate hätten, bis diese durch Kapitalverlagerung auf diese Industrien sänke. Dies widerspricht der Erfahrung: „Die heute noch am ehesten florierenden Produktionszweige sind z. T. gerade solche mit sehr hoher Kapitalzusammensetzung, wie Bergwerke, chemische Fabriken, Bierbrauereien, Dampfmüllereien etc. Sind das Gebiete, aus denen sich Kapitalien zurückgezogen haben, ausgewandert sind, bis die Produktion entsprechend eingeschränkt wurde und die Preise stiegen?" W. Sombart, „Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx", Archiv für soziale Gesetzgebung, Bd. VII, 586, zitiert bei Böhm-Bawerk, a.a.O. 133. Dazu Hilferding, a.a.O. 39—42. 135 Kapital III, MEW 25, 189.
Die Konkretion des Kapitals
369
transzendentalen Absicht her verstanden werden, die Arbeit als Prinzip auszugeben; es gibt dagegen immer andere preisbestimmende Faktoren 138 . Ebenso kann man aber die Art und Weise angreifen, wie das Wertgesetz in der nun audi bei Marx thematischen Konkretion gerettet werden soll. Es liegt einmal eine Äquivokation vor: das konkrete Kapital ist die Negation seines Prinzips, des .Kapitals im allgemeinen', und dodi fällt es andrerseits unter dieses sein Prinzip, insofern es audi .Kapital im allgemeinen' sein soll. Es liegt zum anderen ein Widerspruch vor, der sich nur überbrücken läßt, wenn als Ventil „Abweichungen" im Fall des konkreten Kapitals, hier näher: in den Produktionspreisen zugestanden werden, die sich aber im Ganzen kompensieren sollen, um das Wertgesetz, das Prinzip des Kapitals im allgemeinen, zu halten. Demgegenüber ist die Regulierung (oder Prinzipiierung) der Preise durch die Werte nicht dargetan. Böhm-Bawerk hat dies, wenn audi ohne Rekurs auf die transzendentale Problematik, richtig gesehen. Er weist auf vier Argumente bei Marx hin, die ihm als Versuche gelten, den Widerspruch zu vermitteln. So kritisiert er das Argument, daß wenn auch die einzelnen Waren von ihren Werten abweichen, doch die Summe der Produktionspreise der produzierten Waren gleich der Summe der Werte sei (a.a.O. 113; Kapital III, MEW 25, 169) oder, „daß die Preissumme, die für das gesamte Nationalprodukt zusammen gezahlt wird, mit der in letzerem krystallisierten Wertoder Arbeitssumme völlig zusammentrifft" (a.a.O. 117), und daß deshalb das Wertgesetz gelte. Die Kritik lautet, daß diese These tautologisch sei, denn „auf diesem Wege ließe sich ebenso gut — oder vielmehr ebenso schlecht — auch jedes beliebige andere .Gesetz', z. B. das .Gesetz' verifizieren, daß sich die Güter nach dem Maßstab ihres spezifischen Gewichtes vertauschen!" (a.a.O. 117. Dazu Hilferding, a.a.O. 30—34). Das Argument, es spräche für das Wertgesetz, daß mit dem erheischten Arbeitsaufwand auch die Preise steigen und fallen (a.a.O. 113; 120 f.; Kapital III, MEW 25, 186), verlangt nur, daß die Arbeit ein Bestimmungsgrund der Preise ist, nicht dagegen, daß das Wertgesetz die Preise reguliert (a.a.O. 121. Dazu Hilferding, a.a.O. 34). Auf die Kritik eines weiteren Arguments, das historischen Charakter hat, kann hier nur kurz hingewiesen werden. Es behandelt Marxens Konzeption eines Austausdis nach dem Wertgesetz bei unterschiedlichen, nodi unausgeglichenen Profitraten in einem systematisch und historisch ursprünglichen Zustand (a.a.O. 113; Kapital III, MEW 25, 185 ff.). Böhm-Bawerk geht es darum zu zeigen, daß diese fiktive Illustration für die Konkretion nichts Plausibles aussagt, ja unglaubwürdig ist, wenn sie die Unterschiede der Profitraten für gleichgültig erklärt, andrerseits aber den Zeitfaktor ignoriert, der bei verschiedenen Produktionen unterschiedliche Wartezeiten bis zur Gewinnentnahme aus dem fertigen Produkt bedingt und also ein Motiv zum Ausgleich der Profitrate abgibt (ein Motiv, das audi bei BöhmBawerks Agio-Theorie maßgeblich ist) (a.a.O. 122 ff. Dazu Hilferding, a.a.O. 34—42). Zu dem (schon oben herangezogenen) Argument Marxens schließlich — daß das Wertgesetz wenigstens indirekt und in letzter Instanz die Produktionspreise reguliere, da der Gesamtwert der Waren den Gesamtmehrwert, dieser aber die Höhe des Durchschnittsprofits und daher der allgemeinen Profitrate regle (a.a.O. 113) — zeigt Böhm-Bawerk, daß die Anwendung des Wertgesetzes auf die Bestimmung des ,MWir
verweisen auf die frühere Diskussion oben 314 f.; 318 ff. und auf BöhmBawerk, a.a.O. 140—42.
370
Der Prozeß des Kapitals
Gesamtwertes aller Waren inhaltslos ist: „Wenn man, wie es ja doch audi Marx thut, den Begriff und das Gesetz des Wertes auf die Austauschverhältnisse der Güter münzt, so hat es keinen Sinn, Begriff und Gesetz auf ein Ganzes anzuwenden, welches als solches in jene Verhältnisse nie eintreten kann: für den nicht stattfindenden Austausch dieses Ganzen gibt es natürlich weder einen Maßstab noch einen Bestimmgrund, und daher kann es auch keinen Inhalt für ein .Wertgesetz* geben" (a.a.O. 139 f. Dazu Hilferding, a.a.O. 31—34; 42). Wir sind oben (269 f.) schon einmal auf diese Frage eingegangen und können sie auf der jetzigen Stufe der Betrachtung weiter präzisieren. Das Problem ist, ob der Wert = Tauschwert ist, oder, anders gesagt, ob der Marasche Wertbegriff, der kategorial am Tausch von einzelnen Gütern gewonnen wurde, audi eine davon losgelöste Größe darstellt. Die Kategorie Tauschwert verdankt sich dem Tausch, ihr ist aber ein ontologisches Absolutum, die Arbeit, unterstellt, und so ist Tauschwert selbst ein Absolutum „Wert" geworden, von dem gilt, daß es quantitativ beliebig in Rechnungen eingehen und daß auch ein Gesamtwert in Anspruch genommen werden kann. Es scheint dann, daß die kategoriale Grundlegung des Kapitals im Wertbegriff es auch rechtfertigt, den Einfluß des Wertgesetzes auf den Gesamtwert — die Regulierung der Profitrate des Kapitals — zu behaupten. Marx meint den Wertbegriff zweifellos so. Das Bedenken ist dabei nur, ob die Fundierung des Wertes in der Arbeit, um ihn über den Tauschwert hinaus zu verselbständigen, gerechtfertigt ist. Lehnen wir die Böhm-Bawerksche Kritik am Gesamtwert und damit am Wertgesetz als ein Ganzes regulierend ab, so verschiebt sich die Frage auf die Kritik Böhm-Bawerks an der Arbeitswertlehre als einer Lehre, die nicht zeigen könne, daß Wert nur auf Arbeit beruht. Entsprechend verfolgt Böhm-Bawerk das Problem, ob es denn stimme, daß die Arbeit für den Gesamtwert aufkomme und kritisiert die Vernachlässigung der anderen Faktoren bei Marx. Gehen wir indessen der Kritik Böhm-Bawerks am Marxsdien Wertbegriff weiter nadi, so gilt für ihn, daß der Marxsdie Wertbegriff, indem ein Gesamtwert konzipiert wird, schon an den des Preises herangerückt ist (a.a.O. 116 f.; vgl. Hilferding, a.a.O. 33). So gesehen wird der Gesamtwert tautologisdi, er steht nur für die Gesamtsumme der Preise oder das Nationalprodukt, das Wertgesetz erklärt nichts. Der Preis, als nicht-arbeitsgebundene Größe, besagt nichts über die in den Gütern verkörperte Arbeit, und steht so in Konflikt mit Marxens Wertbegriff. Die Problemverschlingung ist perfekt. Ein Wertbegriff, der aus dem Tausch hergeleitet ist, ist relational und unselbständig ( = Tauschwert von einzelnen Gütern) und gestattet keinen Gesamtwert. Wird er aber so verselbständigt, daß dies möglich ist, so bedarf es der ontologischen Substruktion der Arbeit als Unterpfand für die Objektivität des Wertes, die nicht stichhaltig ist. Es bliebe nur übrig, den Wert als Preis zu sehen. Dieses, Wert oder Preis, würde aber nicht in einer einfachen arithmetischen Beziehung zur Menge stehen, so daß man einen Gesamtwert einfach als Addition fassen könnte, sondern wäre komplizierter durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Der Wertbegriff müßte die entscheidenden Veränderungen erfahren, die die Konkretion — mit .Wert'schöpfung durch Kapital, Angebot, Nachfrage und Grenznutzen — mit sich bringt. Der Fehler Marxens wäre der Fehler, ein tranzendental Frühes als identisch mit einem transzendental Spätem auszugeben. N u r hingewiesen sei auf einen weiteren Punkt, daß die Ausgleichung der Profitrate, die sich für Marx ergibt, zu grob gesehen ist. Für die Konkretion muß in Rechnung gestellt werden, daß die Kapitale selbst eine Hierarchie bilden, nach der sich der Zugang zu Kapitalen mit höherer Profitrate bemißt, eine Tatsache, die jedoch nicht in die Richtung des
Die Konkretion des Kapitals
371
Marxsdien Wertgesetzes deutet, im Gegenteil. Der Profit ist dort am größten, wo der Aufwand an konstantem Kapital am größten ist137. Unsere früher angestellten Überlegungen zur Frage des Widerspruchs in Marxens Theorie stellen sich jetzt in einer expliziteren Form dar. Wir haben oben versudit, den Widerspruch von der Theorie fernzuhalten und ihn als „innerökonomischen" Widerspruch gelten zu lassen. Jetzt möchten wir sagen: das Verhältnis des Kapitals im allgemeinen und der vielen Kapitale ist auch in der Theorie ein Widerspruch, nämlich der Negation des Prinzips bei gleichzeitiger Subsumtion unter das Prinzip. Das der konkreten Kategorie widersprechende Prinzip, die abstrakte Kategorie des .Kapitals im allgemeinen', wird auf die konkrete Kategorie angewandt, diese unter jene subsumiert. Dann muß Widersprechendes vom konkreten Kapital gelten. Dieser Widerspruch ist „innerökonomisch", insofern Kapital im allgemeinen und konkretes Kapital koordiniert, ohne transzendentalen Abstand, gesehen werden. Was jetzt in unserer Überlegung hinzukommt, ist also, daß die transzendentale Theorie selbst den Widerspruch erzeugt, indem sie das konkrete Kapital unter das abstrakte subsumiert. Das vom Wertgesetz prinzipiierte Kapital ist preisorientiert und doch vom Wertgesetz reguliert. Marx will eine Vermittlung des Widerspruchs von Wertgesetz und konkretem Kapital behaupten — nämlich, daß sich die Produktionspreise im Ganzen kompensieren —, aber dieser Versuch ist mißlungen. Auch würde er bedeuten, daß das Kapital als nicht-widersprüchlich gebilligt wäre durch die Theorie, während es doch kritisiert werden soll. Wir halten an dem Gedanken, daß die Theorie eine Darstellung des Kapitals und Kritik desselben sein soll, fest, sehen nur in unserem jetzigen Zusammenhang, daß dies nicht ohne Widerspruch möglich ist. Man kann natürlich sagen, etwas als widersprüchlich hinstellen, und sei es durch widersprüchliche Theorie, heiße, es kritisieren. Aber man kann so nicht ausschließen, daß etwas wie das Kapital an ihm selbst nicht-widersprüchlich ist, man kann nicht sicherstellen, daß es nur wegen einer prekären Vermittlung — durch die Kompensation der Produktionspreise — oberflächlich nichtwidersprüchlich sei. Der Widerspruch, dessen Überbrückung das Kapital darstellen soll (theoretisch vertreten durch ausgeglichene Produktionspreise, die doch durch das Wertgesetz reguliert werden), ist denn auch nicht einer, von dem aus sich zeigen ließe, daß das Kapital unstabil ist, daß er also 137
Siehe J . Robinson, Essay 56—59, und Böhm-Bawerk, a.a.O. 131 f. Auch BöhmBawerk neigt noch eher zu einer Bejahung der Ausgleichung der Profitrate. E r sieht zwar (beim Marxschen Beispiel einer primitiven Produktion mit ungleichen Profitraten), daß „die verschiedenen Produktionsmittel nicht allen Produzenten gleichmäßig zugänglich" sind (a.a.O. 127), er stimmt auch in historischer Hinsicht dem Vorrang von Produktionen mit großem konstanten Kapital zu, aber er ist zu sehr bemüht, die Ausgleichung der Profitrate als Argument gegen das Wertgesetz zu nutzen, als daß er im Zusammenhang mit seiner Marxkritik auf die Einschränkungen einer solchen Ausgleichung in zureichendem Maße einginge.
372
Der Prozeß des Kapitals
wieder aufbricht, ganz wie sich dies auch von den Reproduktionsschemata nicht zeigen ließ. Hierzu werden andere Motive gesucht werden müssen. Wir unterscheiden uns von den Analysen Böhm-Bawerks und J . Robinsons darin, daß wir uns nicht darauf beschränken, einen innerökonomischen Widerspruch zu behaupten. Für J . Robinson leiden die frühen theoretischen Grundlegungen im Kapital an „Konfusion", „Dogmatismus" oder „Mystizismus"138 — d. h., sie ergeben, konfrontiert mit der Konkretion, innerökonomische Widersprüche —, und so hält sie sich an den Marx des Zweiten und besonders des Dritten Bandes, in denen am ehesten eine konkrete Ökonomie ohne Konflikt mit früheren Grundlegungen Thema ist. BöhmBawerk stellt demgegenüber stärker ab auf eine Konfrontation von frühen Ausführungen und späten als innerökonomisch betrachtet gleichzeitigen, zeigt also immer den innerökonomischen Widerspruch auf. Er hat aber mehr Verständnis für die theoretischen Motive bei Marx; er will nicht einfach Marx mit dem Nachweis eines Widerspruchs erledigen: dies „kann eine notwendige Etappe, darf aber nie das Endziel einer sachlichen und fruchtbaren Kritik sein" 13 ". Er fragt sich, in Auseinandersetzung mit W. Sombarts Marxdarstellung, ob der Marxsche Wert eine „gedankliche Tatsache" sei, oder tatsächlich gemeint sei140, ja er versteht den Duktus der Marxschen Theorie so, daß ihr eine Ausnahme zugrundegelegt, dann die Konkretion entwickelt, und, wenn diese mit der Ausnahme nicht harmoniere, dann die Konkretion kritisiert werde, weil sie der Ausnahme nicht entspreche141. Hier liegt die Andeutung eines systemtheoretischen Verständnisses vor. Dieses haben wir näher zu entfalten versucht. Es ist nicht nur eine „Ausnahme", die hier zu einem falschen Ergebnis führt, sondern von der Theorieanlage und ihren Prinzipien her muß klar werden, daß die Theorie einer Kritik unterliegt. Wir kommen auf diese Frage in größerem Zusammenhang im nächsten Kapitel zurück.
Bedürfnis, Angebot und
Nachfrage
Eine weitere Stufe der Konkretion erschließt sich für Marx durch Einbeziehung des Bedürfnisses in die Betrachtung. Es hat Einfluß auf den Preis. Der Preis ist nicht mehr nur Produktionspreis (also der Preis von Produkten bei ausgeglichener Profitrate, also bei entsprechender organischer Zusammensetzung des jeweiligen Kapitals, und unter Einbeziehung des 158
139 140 141
J. Robinson, Essay 7; 10; 12; 15 Anm. 2. In ihrem ist die Rede von einer „metaphysical theory" S. 40. Böhm-Bawerk, a.a.O. 146. Böhm-Bawerk, a.a.O. 188. Vgl. ebd. 192 f.; 197 f. Böhm-Bawerk, a.a.O. 172. — Für eine Abweisung J. Hypolite, Études sur Marx et Hegel (Paris 1955)
Budi Economic Philosophy Vgl. oben 313 f.
der Widersprudisthese vgl. 157.
Die Konkretion des Kapitals
873
Profits in den Preis), sondern Marktpreis, dem Marx noch einen Marktwert unterlegt. Der Marktwert ist ein „gesellschaftlicher Wert", verknüpft er doch die Kapitale mit dem gesellschaftlichen Bedürfnis. Er bestimmt sich durdi eine Ausgleichung der Kapitale in den verschiedenen Sphären durdi die Konkurrenz. (Diese Konkurrenz hatten wir schon bei der Bestimmung des Produktionspreises und der Ausgleichung der Profitrate kennengelernt.) Zum Marktwert gehört weiter, daß durch den Drude verschiedener Verkäufer aufeinander so viel Waren auf den Markt geworfen werden, wie das gesellschaftliche Bedürfnis es erheischt 142 . Der Marktwert ist so ein unter den genannten Bedingungen gegebener Wert, der vom Marktpreis unter- oder überschritten werden kann, je nach der Variation der Nachfrage oder der Zufuhr 14 ®. Bei Gleichgewicht wäre der Marktpreis der natürliche Preis, der „natural price" der englischen Ökonomen. Wert und Preis wären (wie im Ersten Band) einander konform, wenn Nachfrage und Z u f u h r sich decken. Nachfrage und Z u f u h r sind also vom Wert her gesehen. So elementar im Sinne einer nationalökonomischen Theorie diese Gedanken auch sein mögen, sie deuten darauf hin, daß Marx die Einseitigkeit der Behandlung des Kapitals — ökonomisch gesehen als kostentheoretische — im Zuge der Gewinnung größerer Konkretion um die Seite der Nachfrage vervollständigt. Das gesellschaftliche Bedürfnis ist einerseits eine ökonomische Größe, eine K a u f k r a f t , andrerseits ist sie anthropologisch fundiert, nun aber nicht mehr notwendig bezogen auf bloße Reproduktion. Wird das Bedürfnis nicht als fix, sondern als offen-unendlich genommen, so wäre es allerdings immer über die Nachfrage (die an K a u f k r a f t gebunden ist) hinaus; als effektive Nachfrage ist es aber andrerseits durch den Preis begrenzt. Der Marktpreis wird ja bestimmt vom Bedürfnis und den auf dem Markt sich herstellenden Preisen. Das Bedürfnis erscheint als „zahlungsfähiges gesellschaftliches Bedürfnis", als quantitative Nadifrage, bezogen auf die Preise. Marx scheint einer Gleichgewichtstheorie der Preise zuzuneigen. In seiner Analyse wendet er sich aber gegen die Annahme, d a ß die Preise sich nur nach Angebot und Nachfrage richteten. In einem solchen Fall wäre die Bestimmung der Preise tautologisch, weil der Preis ja den Ausgleich von Angebot und Nachfrage bedeutet, also die Neutralisierung von Angebot und Nachfrage, ohne daß weitere Faktoren die Preishöhe erklärten. Stattdessen meint Marx, d a ß Angebot und Nachfrage nur Abweichungen vom wahren Marktpreis erklärten, nicht aber die Preisfindung selbst 144 . Die These ist ein Plädoyer für den kostentheoretischen Standpunkt und damit für den letztlich in der Arbeit fundierten Wert, von dem aus Kapital III, MEW 25, 190. "» Kapital III, MEW 25, 200. 144 Kapital III, MEW 25, 195—97; 199 f. Hierzu Hilferding, der bestreitet, daß Marx die Preisfindung überhaupt im Auge gehabt habe a.a.O. 21 f. Vgl. Rosdolsky, a.a.O. 650 Anm. 64.
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Der Prozeß des Kapitals
für Marx auch allein das Geld entwickelt werden konnte; der Wert ist die Voraussetzung für eine Abweichung des Preises vom Wert der Ware, da er Fundierung der absoluten Größe des „wahren" Preises ist. Nehmen wir beides, Bedürfnis und Arbeit, zusammen, so haben wir in Angebot und Nachfrage eine höhere Form der früheren Kategorien: es wiederholt sich im Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr „erstens das Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert, von Ware und Geld, von Käufer und Verkäufer; zweitens das von Produzent und Konsument.. ,"145. Mit anderen Worten: wir haben die konkretere Fassung des Zusammenhangs von Wert und Preis vor uns, der im Ersten Band maßgebend war. Das Wertgesetz soll wiederum die konkreten Verhältnisse bestimmen. Dort nun aber war der Markt zugestanden als Bedingung, die erfüllt sein muß — es muß ein Markt bestehen und damit auch eine ideale Konkurrenz, ein vollkommener Wettbewerb, das Gegenstück zu jeglicher Verzerrung durch Knappheit oder Monopole —, auf daß sich Waren gegen Waren oder Geld so tauschen, daß die Modalitäten des Verkaufs auf die „innere Natur" des Kapitals keinen Einfluß haben. D. h. die Konkurrenz war schon für die Anfangsstadien des Austausche vorausgesetzt und damit neutralisiert und ignoriert14®. Jetzt aber geht es gerade um diese Modalitäten, also um den Einfluß von Konkurrenz und Nachfrage auf den Preis. Beide müssen als zu entwickelnde Voraussetzung eingeholt werden. Böhm-Bawerk hat zurecht darauf aufmerksam gemacht, daß die These von der Neutralisierung von Angebot und Nachfrage, so daß ein anderer Faktor für den Preis — der Wert und damit das Wertgesetz — geltend gemacht werden muß, falsch ist. Es folgt ja nicht, daß, wenn zwei Kräfte im Gleichgewicht sind, sie aufhören zu wirken, im Gegenteil, ihre Wirkungen machen das Gleichgewicht möglich (BöhmBawerk, a.a.O. 178—87, bes. 179 ff.). Die Regie des Wertgesetzes läßt sich so nicht dartun. (Entsprechende Rückschlüsse auf die Geldtheorie, bei der ebenfalls das Argument gebracht worden war, daß es ohne einen Fixpunkt im arbeitswerttheoretisch gedachten Wert sich nicht erklären lasse, können hier unberücksichtigt bleiben.) Die Böhm-Bawerksche Kritik bedeutet, daß Marx mit dem Wertgesetz keine Preistheorie geben kann (was denn auch J. Robinson feststellt Essay 17. Vgl. audi ebd. 19 f.; 73 f.). Weiter gibt sie den Blick frei auf eine Preistheorie im Sinne einer orthodoxen oder neoklassischen Auffassung und, näher, der Grenznutzenslehre. Von hier aus erst läßt sich auch das Verhältnis von Bedürfnis und Preis verstehen, während umgekehrt die Arbeitswertlehre jede marginalistische Theorie unmöglich macht.
Marxens Behandlung der effektiven Nachfrage ist im Grunde der Versuch, in einer ökonomischen Kategorienlehre einen Ort für den konkreten Preis zu finden, während die Nachfrage als mit dem Kapital simultaner Faktor, der dieses konfrontiert und bedingt, nicht behandelt werden kann. Vielmehr hält sich die Nachfrage im Rahmen der Dominanz des Kapitals, das durch die Nachfrage gar nicht betroffen ist. Das Kapital produziert »« Kapital III, MEW 25, 203. " · Vgl. oben 292.
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maximal, und Says Gesetz, wonach für die Produktion audi ein Abnehmer dasein wird, ist gewahrt und bejaht (wenn das Kapital audi auf den auswärtigen Handel ausweichen muß). Eine Konkurrenz der Kapitale über den Preis im Angesicht der Nachfrage ist nicht eigentlich behandelt. (Der früher schon genannte Begriff der Konkurrenz, nach dem die Profitrate sich ausgleicht, war einer, der maximale, von Nachfrage unbetroffene Produktion unterstellte.) Noch einmal: man könnte meinen, daß in Marxens konkreterer Darstellung des Kapitals in seinem Verhältnis zur Nachfrage die vom Mehrwert ausgehende Deutung als maximale Akkumulation zurücktritt zugunsten eines Gleichgewichts von Akkumulation und Realisierung, und auf der anderen Seite die vom Mehrwert ausgehende Deutung des Arbeiters als „Zubehör" des Kapitals zurücktritt zugunsten eines Widerspiels von Kapital und Konsument auf dem Markt. Weiter, daß die Realisierung in den beiden Abteilungen jetzt nicht nur als apriorisches Rechenexempel, sondern als Theorie der Nachfrage seitens des Kapitals und der Konsumenten eingelöst würde, also die Bedingungen eines Gleichgewichts von Nachfrage und Realisierung behandelt würden. Wir erwarten, mit anderen Worten, daß Marx die eigentliche Realisierungstheorie gäbe, zu der der Zweite Band mit seiner Realisierungsauffassung noch nicht gelangte147. Aber die Prinzipien des Kapitals als Prius bleiben in Geltung; die Konkretion verschleiert nur die Grundlage. Marx meint entsprechend nicht, daß mit dem gesellschaftlichen Verhältnis von Angebot und Nachfrage derjenige Ausgleich von Kapital und Arbeit vorliegt, den wir oben vermißt haben. Kapital und Arbeit sind nach wie vor so gefaßt, daß ihr Verhältnis das von Wesentlichem und Unwesentlichem ist. Auf der Ebene von Angebot und Nachfrage oder von Produktion und Konsumtion scheint es zwar so, als ob ein Ausgleich beider Ziel des Kapitals und der Ökonomie sei — insofern dann auch die andere Seite, die Kaufkraft, Faktor der ökonomisdien Optimierung ist. Aber dies ist nicht Marxens Meinung, ist doch die „innere Natur" des Kapitals, sein Prinzip, das Prius. Es handelt sich um eine innerhalb des Kapitals bestehende Struktur; die Kapitale bleiben dominant und produzieren um die Wette für maximalen Profit, bei vollkommenem Wettbewerb und bei voller Kapazitätsauslastung ohne alle Elastizität. Die Behandlung der Nachfrage hält sich im Rahmen einer Profittheorie ohne Berücksichtigung der effektiven Nachfrage. Als Folge einer abstrakten Fassung des Kapitals ignoriert Marx den Normalfall, die meist mangelnde Auslastung der Kapazität und den unvollkommenen Wettbewerb, also die Möglichkeit eines Kapitals, audi bei mangelnder Kapazitätsauslastung in der Produktion zu bleiben. Hinzu kommt, daß, ebenfalls als Folge einer abstrakten Fassung des Kapitals, 117
Vgl. oben 350 ff.; 353 ff.
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Der Prozeß des Kapitals
die Mehrwerttheorie zum Subsistenzlohn prädisponiert, also zur Unterkonsumtionstheorie führt. Die Schwierigkeit ist dabei, daß volle Kapazitätsauslastung und maximale Produktion bei maximalem Profit die Bejahung von Says Gesetz implizieren würde; es dürfte also keine Unterkonsumtion bestehen. Liegt aber dennoch mangelnder Absatz und somit Krise vor, wäre zu fragen, ob nicht eine höhere Kaufkraft der Verbraucher, also ein Abgehen vom Subsistenzlohn, helfen würde? Dies würde aber nach Marx den Profit mindern und also wiederum gerade Krise bedeuten 148 . Die Marxsche Behandlung von Angebot und Nachfrage ist also bestimmt von zwei Annahmen, die sich widersprechen: von der Prinzipiierung der Kaufkraft und der Nachfrage durch die Mehrwerttheorie — was zur Unterkonsumtionstheorie führt und die Geltung des Sayschen Gesetzes negiert —, und von der Dominanz des Kapitals, wonach dieses prinzipiell genommen wird als maximal produzierend, was die Geltung des Sayschen Gesetzes voraussetzt. Man wird hier nicht sagen können, daß dieser Widerspruch die Wirklichkeit des Kapitals zum Ausdruck bringt. Die Vermittlung des Widerspruchs ist vermieden, um Kritik geben zu können; aber es ist nicht zu sehen, wieso das konkrete Kapital ihn nicht vermeidet. Andrerseits sehen wir, wie gerade die transzendentale Sachlage, Marxens Orientierung an einem dialektisch-undialektischen Begriff des Wesens, erklärt, was rein ökonomisch betrachtet nur eine Paradoxie, ein schlechter Widerspruch, wäre.
Die
Konkurrenz
Die Behandlung der Nachfrage hat ihren wesentlichen Sinn in der Aufstellung eines noch konkreteren Begriffs des Kapitals. Die innere Natur des Kapitals, die Akkumulation, die Weiteres aus sich hervortreibt, erscheint jetzt in der Konkretion der Konkurrenz. Wie wir allerdings schon sahen, ist diese Konkurrenz keine Konkurrenz über den Preis im Angesicht der Nachfrage. Sie ist eine Konkurrenz unter Ignorierung der effektiven (also den Preis mitberücksichtigenden) Nachfrage, eine Konkurrenz der Kapitale untereinander allein nach der Profitrate. Mit diesem Begriff der Konkurrenz ist nun in der Marxschen Kategorienlehre der Ökonomie eine Reflexion des Kapitals auch in dem Sinne erreicht, daß dies Stadium Grund, negativer Grund, für die bisherige Bewegung wird. Die Konkurrenz erscheint jetzt als die konkrete Erklärung der Akkumulation, als Grund für die Notwendigkeit der Akkumulation. Die arbeits- und mehrwerttheoretische Erklärung scheint rückblickend unvollkommen gegenüber der Konkretion: mußte auf früheren Stufen eine Vermehrung des Kapitals durch absoluten 148
J. Robinson, Essay 86. Wir zitieren die Stelle in späterem Zusammenhang, unten 393. Vgl. auch Essay 51.
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und relativen Mehrwert irrational aus der Habsucht verstanden werden oder aus der kategorialen Möglichkeit der Akkumulation, dem potentiell unendlichen Charakter des Geldes, eben soweit wir nodi nicht vom Ende des zu Erweisenden und zu Kritisierenden her denken konnten, so erscheint jetzt auf der Stufe der Konkretion als der eigentliche Grund der Kapitalgebarung die Konkurrenz. Kein Kapital kann es sich leisten, nicht maximal zu akkumulieren, der anderen Kapitale wegen. Das Interesse des einzelnen Kapitals ist konkurrentielles, besonderes Interesse, aber andrerseits hat jede besondere Sphäre des Kapitals dasselbe Interesse am Gesamtkapital. Der Einzelkapitalist ist ökonomisch am Gesamtkapital beteiligt, denn die Durchschnittsprofitrate hängt ab von dem Exploitationsgrad der Gesamtarbeit durch das Gesamtkapital. Konkurrenz ist Dissoziation der vielen Kapitale und dennoch Reflexion auf ihre Gesamtheit14*. Der treibende Charakter der Konkurrenz ist bei Marx ganz richtig gesehen, aber es ist für Marx nicht möglich, die Akkumulation in ihrer Bezogenheit auf die Realisierung, und also auf die effektive Nachfrage, zu bestimmen. Führt die Konkurrenz zwischen den Kapitalen zu einer immer größeren Produktion bei gleichzeitigem Zurückbleiben der Nachfrage? Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt, daß die Konkurrenz zur Erhöhung der effektiven Nachfrage und (gemäß einer Profithierarchie der Kapitale) zu einer Differenzierung des Profits in verschiedenen Industrien führt? Ist Realisierung das besondere Interesse des Einzelkapitals und Unterkonsumtion das allgemeine Interesse des Gesamtkapitals? Systemtheoretisch läßt sich fragen, ob mit dem Erscheinen der Konkurrenz sich diese Erklärung für die Akkumulation des Kapitals nicht abschließt gegen die gegebene andere, genealogische Erklärung aus dem Mehrwert, da ja die Konkretion, als bestimmt durch Produktionspreis und Marktpreis, das Gegenteil der Wertlehre besagt. Man kann, mit anderen Worten, fragen, ob das transzendentale Prius der inneren Natur des Kapitals nicht auch im Sinne eines Erklärungsgrundes negiert ist, daß die — nun nicht mehr .innere' — Natur des Kapitals erst verständlich wird aus der konkreten, konkurrentiellen Stufe. Diese erklärt ja anscheinend erst eine Entwicklung und Steigerung der Akkumulation. Andrerseits soll auf Grund einer ,inneren Natur' des Kapitals gelten, daß Phänomene, die die Konkurrenz auf die effektive Nachfrage verweisen, abgeblendet bleiben können. Die Theorie führt also erneut auf den Zweifel, ob die innere Natur des Kapitals für die Deutung seiner Erscheinung theoretisch maßgebend sein kann, ob nicht erst ein Rekurs auf die Konkurrenz das Kapital zureichend bestimmt, oder, ob die innere Natur des Kapitals als Ausbeutung und "» Siehe Kapital III, MEW 25, 207 f. — Wir erinnern hier an die allgemeinere Fassung der Konkurrenz unter dem Begriff der Andersheit oder Serialität in Sartres Critique de la raison dialectique I 239—45; 254 f.; 261—71.
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Der Prozeß des Kapitals
Akkumulation aus Habsucht nicht zu korrigieren wäre durch die konkrete Erscheinung, dann aber die ganz konkrete Erscheinung, einschließlich der effektiven Nachfrage. Dann wäre die bisherige Erklärung hinfällig, soweit sie das Kapital gerade zum Prinzipiat der Ausbeutung macht. Die Konkurrenz wäre neu zu bestimmen unter Berücksichtigung der effektiven Nachfrage. Bisher ist die Erörterung eine statische gewesen in dem Sinne, daß die Konkurrenz für die Aufstellung konkreterer Begriffe (Durchschnittsprofitrate, Marktpreis) dienen sollte, so sehr wir für die Ausgleichung der Profitrate schon von einer .Eigenbewegung' der Profitrate sprachen. Dynamisch wird die Erörterung aber nun, wenn die Akkumulation des Kapitals unter den Bedingungen der Konkurrenz gleichsam kollektiv, in ihrer makroökonomischen Entwicklung, verfolgt wird. Wenden wir uns diesem Thema zu.
Der tendenzielle Fall der Profitrate Das Kapital ist als konkretes nicht nur statisches, kategorial faßbares Reflexionsverhältnis zu sich selbst oder zu seinesgleichen, sondern es besitzt eine Dynamik; es ist ja für sich Akkumulation innerhalb des Verhältnisses zu Andern. Diese Akkumulation ist durch die Konkurrenz erst eigentlich verständlich als Tendenz zur Steigerung des Profits oder zumindest zum Nicht-Zurückbleiben hinter einer maximalen Durchschnittsprofitrate. Hier tritt nun aber für Marx ein wichtiges, das Kapital kollektiv betreffendes Gesetz auf, das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate" 150 . Wenn auch die Mehrwertrate als konstant angesetzt wird, ist die Profitrate dadurch nicht festgelegt, da in ihr der Mehrwert ja bezogen ist auf das ganze Kapital (c + v) und Gründe dafür bestehen, daß es zu einer zunehmend höheren organischen Zusammensetzung kommt 151 . Das Gesetz ist dann die direkte Folge der These von der Vergrößerung von c, und zwar auf der Ebene, auf der die Einbeziehung von c als Kostenfaktor erschlossen, andrerseits durch die Konkurrenz eine Erklärung des Strebens nach vergrößerter Produktivität aufgetreten ist. Unter den konkreten Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie verlangt Akkumulation Produktion bei geringeren Kosten pro Produkteinheit. Dann wäre arbeitswerttheoretisch gesehen der Neuwert zwar nicht gestiegen, wohl aber wären mehr Produkteinheiten und ein Anlaufgewinn gegeben, bis andere Produzenten sich auf rationellere Produktion umgestellt haben152. Die Produktion bei vergrößerter Produk'M Kapital 151 Kapital 158 Kapital
III, MEW 25, 221—77. — Vgl. schon oben 364 ff. III, MEW 25, 223. III, MEW 25, 275.
Die Konkretion des Kapitals
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tivität bindet ein größeres konstantes Kapital. Bei konstanter Mehrwertrate verschlechtert sich das Verhältnis von m zu C ; die Profitrate sinkt 1 5 3 . Allerdings muß sie nur sinken, wenn die Mehrwertrate als konstant angesetzt wird, d. h., wenn keine kompensierende Verbilligung des Reproduktionsdeputats bei Produktivitätssteigerung eintritt. Es ist Marxens Meinung, daß erst mit seiner Formulierung von konstantem und variablem Kapital, der Unterscheidung von Mehrwert und Profit (und zwar rein, ohne die Differenzierung in Bestandteile wie industrieller Profit, kommerzieller Profit, Zins, Grundrente) und der Verschiedenheit der organischen Zusammensetzung, eine Lösung des Rätsels von der fallenden Profitrate gelingt, die die klassische englische Nationalökonomie audi vertritt, wenn audi anders, und die M a r x daher als ein demonstrandum und explanandum auffaßte 1 5 4 . Die Sachlage ist für M a r x so zu resümieren: „ D a die Masse der angewandten lebendigen Arbeit stets abnimmt im Verhältnis zu der Masse der von ihr in Bewegung gesetzten vergegenständlichten Arbeit, der produktiv konsumierten Produktionsmittel, so muß auch der Teil dieser lebendigen Arbeit, der unbezahlt ist und sich in Mehrwert vergegenständlicht, in einem stets abnehmenden Verhältnis stehn zum Wertumfang des angewandten Gesamtkapitals. Dies Verhältnis der Mehrwertsmasse zum W e r t des angewandten Gesamtkapitals bildet aber die Profitrate, die daher beständig fallen m u ß 1 5 5 . " N o d i anders formuliert, lautet das Gesetz so: „Irgendein bestimmtes Quantum des gesellschaftlichen Durchschnittskapitals, z. B . ein K a p i t a l von 100 genommen, stellt sidi ein stets größrer Teil desselben in Arbeitsmitteln und ein stets geringrer Teil desselben in lebendiger Arbeit dar. D a also die Gesamtmasse der den Produktionsmitteln zugesetzten lebendigen Arbeit fällt im Verhältnis zum W e r t dieser Produktionsmittel, so fällt auch die unbezahlte Arbeit und der Wertteil, worin sie sich darstellt, im Verhältnis zum W e r t des vorgeschoßnen Gesamtkapitals 1 5 6 .'' Die theoretische Pointe ist, wie gesagt, daß durch die Marxsdie Analyse der Grund für den (zugestandenen) Fall der Profitrate klar werde. A u f iss w ¡ r blenden hier schon früher gegebene Einwände nodi einmal ab, etwa den, daß höhere Produktivität nidit unbedingt höheres c pro Mann bedeuten muß, und stellen den Marxsdien Standpunkt zunächst zusammenhängend dar. 154 Der Grundgedanke bei den Engländern ist eine Verteuerung der Güter der — nicht beliebig auszuweitenden — landwirtschaftlichen Produktion, wodurch sich die G ^ i n n e zugunsten des Grundbesitzes verschieben, die Nominallöhne steigen und der Profit in der Industrie sinkt. Vgl. Ricardo, Principles 64 ff. Für Smith gilt neben diesem Punkt audi die (Marx näher stehende) Erwägung, daß der Profit sinkt auf Grund der Konkurrenzierung der Kapitale selbst. The Wealth of Nations 87; 336. Marx sieht eine entsprechende Ahnung auch bei Ricardo. Kapital III, MEW 25, 269 f. Vgl. W. Barber, a.a.O. 43 f.; 67; 88; 145. 158 Kapital III, MEW 25, 223. 158 Kapital III, MEW 25, 225 f.
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der Ebene der bloßen Kostenrechnung würde die spezifische Wirkung von Ausgaben für Anlagen im Unterschied zu solchen für Arbeitskraft (die ja produktiver wird, relativ immer mehr vergegenständlichte Arbeit liefert, ohne daß diese mehr „wert" ist) nicht erklärt. Nur der Rückgang auf die Mehrwerttheorie erklärt demnach das Gesetz. Marx entfaltet das Gesetz zu seinen „inneren Widersprüchen" 157 . E r formuliert den entscheidenden Widerspruch als Konflikt von Produktion und Ausdehnung der Verwertung des Kapitals. Marx denkt, daß eine Produktivitätssteigerung eine Erhöhung des konstanten Kapitals verlangt (mehr c ist beteiligt an der Herstellung von Waren, die nicht mehr Neuwert enthalten als früher bei gegebener Arbeitskraft), andrerseits aber auch vor handenes Kapital — Produktionsanlagen und Rohstoffe — entwertet. Die größere Produktivität muß also zunächst mit dem verminderten c neues Kapital erwirtschaften, akkumulieren. Anfänglich stiege dabei die Profitrate, da sie bezogen wird auf ein vermindertes c, sinkt aber dann, da c wieder steigt (bei gegebener Arbeitskraft). Damit kann Marx formulieren: „Der Widerspruch, ganz allgemein ausgedrückt, besteht darin, daß die kapitalistische Produktionsweise eine Tendenz einschließt nach absoluter Entwicklung der Produktivkräfte, abgesehn vom Wert und dem in ihm eingeschloßnen Mehrwert, auch abgesehn von den gesellschaftlichen Verhältnissen, innerhalb deren die kapitalistische Produktion stattfindet; während sie andrerseits die Erhaltung des existierenden Kapitalwerts und seine Verwertung im höchsten Maß (d. h. stets beschleunigten Anwachs dieses Werts) zum Ziel h a t . . . Die Methoden, wodurch sie dies erreicht, schließen ein: Abnahme der Profitrate, Entwertung des vorhandnen Kapitals und Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit auf Kosten der schon produzierten Produktivkräfte 1 9 8 ." Das Kapital kann seine Masse nur erhöhen, wenn eine Steigerung der Produktivkraft durch technologische Neuerungen, die ja das vorhandene K a pital entwertet, wieder zu einer Erhöhung der Profitrate führt. Diese wird aber wieder sinken gerade durch die Vergrößerung von c zwecks weiterer Produktivitätssteigerung. Es kommt zu periodischen Bewegungen, Stockungen, Krisen 1 5 9 . 157 158 1M
Kapital III, MEW 25, 251—77. Kapital III, MEW 25, 259. Kapital III, MEW 25, 258; 260. — Vgl. die frühere Krisentheorie auf Grund der Disproportionalität in der Erneuerung des fixen Kapitals der beiden Abteilungen in Band II. Siehe oben 350 f. — Es sei hier angemerkt, daß die Idee von „heftigen akuten Krisen" im Sinne von „plötzlichen Stockungen" (Kapital III, MEW 25, 264; 260) und damit die Behauptung einer mangelnden Stetigkeit des Kapitals nicht befriedigend dargetan ist. Für abrupte Erscheinungen des Kapitals bedürfte es der Hinzunahme der Börse als Instanz, die gleichsam psychologisch Geschäftserwartungen potenziert und zu abrupten Erscheinungen Anlaß gibt. Die Börse gehört aber für Marx erst zu den späteren Themen, ist Prinzipat der
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Die Tendenz des Falles der Profitrate hat ihre Hemmung in einer (allerdings nicht beliebigen) Steigerung des Exploitationsgrades der Arbeiter, d. h. in der Steigerung der Produktivkraft bei Erhöhung des relativen Mehrwerts oder, bei Beibehaltung des relativen Mehrwerts, durch Lohnsenkungen, und in der Entwertung des konstanten Kapitals; aber die Tendenz bleibt, so ist Marxens Meinung, konstitutiv für die kapitalistische Produktion. D i e Produktivkräfte geraten in einen Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandenen Kapitals 160 . Eine Kritik kann von der Kritik am arbeitswerttheoretischen Standpunkt Marxens ausgehen. Wenn die früher gegebene Kritik am Wertbegriff anerkannt wird, dann ist zu fragen, wieso für die Betrachtung des Profits der Wertbegriff verbindlich bleibt, wie dies bei Marx geschieht, wenn der Profit vom Mehrwert (oder v o m arbeitswerttheoretisch gedachten Neuwert im Produkt) her, bezogen auf das ganze Kapital, gesehen wird. Es ist dies Verhältnis, das sich zunehmend verschlechtert mit steigendem konstantem Kapital. Ist aber die Arbeitswertlehre nicht mehr maßgebend, so ist es wiederum offen, wieviel das Kapital c zur Wertschöpfung, oder jetzt besser: zu realisierbaren Preisen für die Produkte, beiträgt. Je nach dem Preis des Kapitals kann dieser Beitrag so in den realisierbaren Preis des Produkts eingehen, daß die Profitrate steigt oder konstant bleibt. Offensichtlich muß hier eine Grenzproduktivitätsüberlegung maßgebend sein 161 . Die These von der tendenziell fallenden Profitrate ist Gegenstand lang andauernder Auseinandersetzungen und Rettungsversuche gewesen, ja ist es noch. Es mag hier genügen, zwei Stimmen anzuführen. Rosdolsky (der zu diesem Thema die neuere Kritik des Gesetzes von der fallenden Profitrate — J. Robinson und P. M. Sweezy — diskutiert) glaubt, das Gesetz in ein besseres Licht rücken zu können, indem er nachzuweisen versucht, daß in dem Gesetz die Voraussetzung einer konstanten Mehrwertrate nidit gemacht ist (a.a.O. 472). Und doch ist das Problem nur eines des Ausmaßes, in dem Faktoren dem Fall der Profitrate entgegenwirken (a.a.O. 476),
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früheren, auch der jetzt behandelten Sachlage und kann so theoretisdi nicht als Erklärung herangezogen werden. Ohne Börse jedoch wären die Krisen vielfach nur Fluktuationen mit Stetigkeit. Es steht theoretisch im übrigen nichts im Wege, daß eine immer größere Reflexion der Kapitale auf einander (zuzüglich außerökonomischer Einwirkung) das Moment der Abruptheit der Krisen, auch bei vorliegender Börse, mildert. Kapital III, MEW 25, 259 f. — Man könnte sagen, daß nach der Arbeitswertlehre das Kapital von einem bestimmten Punkt an eigentlich kein Interesse an einer Produktivitätssteigerung haben könnte, nämlich dort, wo die Steigerung des relativen Mehrwerts den Fall der Profitrate nicht mehr wettmacht und mir ein Anlaufgewinn bleibt, den wahrzunehmen das Kapital die Konkurrenz zwingt. So gesehen hätte die Konkurrenz die entscheidende Funktion, das Kapital gegen sein eigentliches Interesse noch rationeller produzieren zu lassen, um sich kurzfristig zu behaupten, um kurzfristig den Profit hochzuhalten, während er langfristig sinkt. Vgl. etwa J. Robinson, Essay 37. Vgl. die ganze Stelle 36—40.
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nämlich die Entwertung des Kapitals und das Steigen der Mehrwertrate. Zum ersteren ist die These, die Rosdolsky mit Marx-Zitaten belegt, daß ein« Verwohlfeilerung der Maschinerie und der Rohmaterialien statthat, aber die Gesamtmasse der Maschinerie enorm im Preis steigt und die Verwohlfeilerung der Rohmaterialien schwieriger wird (a.a.O. 477 f.). Das Argument ist offensichtlich rein empirisch. Zum anderen stützt sich Rosdolsky auf Marx-Stellen aus den Theorien über den Mehrwert, wonach „der Wert der Arbeitskraft nidit in demselben Verhältnis fällt, wie die Produktivkraft der Arbeit oder des Kapitals steigt". Denn „diese Steigerung der Produktivkraft vermehrt auch in allen Zweigen, die nidit Lebensmittel direkt oder indirekt produzieren, das Verhältnis des konstanten zum variablen Kapital, ohne irgendeine Änderung im Werte der Arbeit hervorzubringen. Die Entwicklung der Produktivkraft ist nicht gleichmäßig. Es liegt in der Natur der kapitalistischen Produktion, daß sie die Industrie rascher entwickelt als die Agrikultur" (478; zitiert nach Theorien über den Mehrwert III, hrsg. K. Kautsky, aber mit unverständlicher Paginierung). Das Argument wäre also, daß die Verbilligung des Reproduktionsdeputats, wegen der Irrelevanz der Industrieprodukte hierfür, nicht einträte (vgl. oben 316). Daß eine solche Verbilligung aber in der Industrie überhaupt nicht einträte, ist aber gerade fraglich, denn nach Marxens eignen Prämissen würde ein höheres c größeres Gesamtprodukt bedeuten, und dieses, wenn es nidit wörtlich als Naturaldeputat, sondern als Deputat in Geldform verstanden wird, würde den Wert der Arbeitskraft als Anteil am Gesamtprodukt, wenn auch nicht so direkt, wie in der Lebensmittelproduktion oder in sonstigen Produktionen, die auf den Bedarf des Arbeiters Einfluß haben, senken. Hier tritt dann nur der klassisch-englische Gedanke ein, daß „Ackerbauprodukte" immer teurer würden. Es handelt sich also um kein haltbares Argument, sondern nur um einen einschränkenden Zusatz, wie er in der Deputatauffassung vom Lohn liegt. Vielleicht würden relativ geringe Produktivitätssteigerungen in der Industrie die Mehrwertrate noch nicht im selben Verhältnis beeinflussen, aber eine unendliche Steigerung des relativen Mehrwerts wäre nicht gehindert. Rosdolskys Ausführungen zu diesem Thema gelten allgemein einer Verteidigung der Marxschen Wertauffassung, es bleibt kein Raum für eine Wertschöpfung des Kapitals. Es heißt, die Mehrarbeit des Arbeiters habe bestimmte Grenzen, dies entgegen dem Argument von J . Robinson, daß der Mehrwert ins Ungemessene steigen könne. Interessanter ist die Meinung von J . Habermas, der die Kritik J . Robinsons rezipiert, auch einsieht, daß die Profitrate bisher nidit gesunken ist, und dodi innerhalb der Marxschen Mehrwerttheorie verbleiben möchte. Für ihn stellt sich das Problem so dar, daß für eine Beurteilung der Frage, ob die Profitrate fällt, die Verwendung des konstanten Kapitals für produktivitätssteigernde Maschinen in die Formulierung des Gesetzes eingehen müßte. Würde angenommen, daß „aus Produktionssteigerung per se Wert entspringt" (a.aO. 196), so wäre das Problem der Profitrate mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen; der Mehrwert könnte „unter Umständen ausreichen", „eine angemessene Profitrate und ein steigendes Niveau der Reallöhne zugleich" zu sichern (ebd.), womit dann auch das Problem der Realisierung gelöst wäre. Habermas verweist auch auf eine Stelle in den Grundrissen (592), wo Marx erwägt, die Wertschöpfung auf die „Agenden" zu gründen, „die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden . . . " (zitiert bei Habermas a.a.O. 192; vgl. 194). Dieser Gedanke habe aber nidit Eingang gefunden in die endgültige Fassung der Arbeitswertlehre. Habermas' Kritik an Marx scheint Ähnlichkeit zu haben mit der oben gegen Marx geltend gemachten Mehrfältigkeit und Simultaneität wertschöpfender Faktoren (wie dies in den klassischen und neoklassischen Theorien urgiert wurde). Aber Habermas denkt sich nun die Wertsdiöpfung der übrigen „Agenden" arbeitswert-
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theoretisch interpretiert: „Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate würde mithin die Einführung arbeitssparender Maschinen erst dann spezifisch berücksichtigen, wenn in den Wertausdruck für das aufgestockte konstante Kapital auch der darin umgesetzte „advance in technical knowledge" explizit einginge. Dann könnte allerdings jener Typus von Arbeit werttheoretisdi nicht länger ignoriert werden, der, obwohl nicht selber produktiv, darauf verwandt wird, „den Produktivitätsgrad der Arbeit zu steigern" (Habermas, a.a.O. 191). Es sind also „Vorbereitungsund Entwicklungsarbeiten", die auf den Prozeß der Wertbildung Einfluß haben (a.a.O. 192) und die in der Marxschen Arbeitswerttheorie nicht berücksichtigt seien. Habermas meint, durch Einbeziehung einer produktivitätssteigernden Arbeit als eigenem Typ von Arbeit den tatsächlichen Wertzuwachs im Kapitalismus und das Ausbleiben des Falles der Profitrate erklären zu können. „Daher empfiehlt sich aus empirischen Gründen die Erwägung, ob nicht Rationalisierungsarbeiten als produktive Arbeit zweiter Ordnung verstanden und gewertet werden sollten — als eine zwar unselbständige, weil auf produktive Arbeit erster Ordnung angewiesene, aber zusätzliche Quelle der Wertbildung. Diese Arbeiten sind einerseits nicht produktiv im Sinne der unmittelbaren Gütererzeugung; gleichwohl verändern sie deren Voraussetzungen derart, daß aus ihr nicht nur mehr Mehrwert, sondern insgesamt mehr Tauschwerte hervorgehen. Die Gleichgewichtsbedingungen des Wertgesetzes würden dann nur für einen gegebenen Stand der technischen Produktivkräfte gelten" (a.a.O. 193). Wie gesagt, Habermas' Kritik an Marx scheint Ähnlichkeit zu haben mit der Gegenthese zu Marx, daß Kapital wertschöpfend ist. Näher meint er aber, daß man den Faktor des Kapitals, der für arbeitssparende Maschinen steht, im Sinne der Arbeitswertlehre auf Arbeit reduzieren müsse. Da nun aber solche Arbeit wieder vom Kapital bezahlt würde, schiene die Arbeitswertlehre und auch die Mehrwertlehre gehalten, und doch auch revidiert. Die Mansche Arbeitswertlehre wäre in ihrem historischen Charakter erkannt (a.a.O. 194) und ergänzt um eine Variante, um die Phänomene zu retten. Die Habermas'sche Auffassung hätte so den Charakter einer .Abwehrtheorie' für die Beibehaltung der Arbeits- und Mehrwertlehre. Die Auffassung muß sidi, so sehr sie arbeitswerttheoretisch vorgeht, zu der These bekennen, daß es das Kapital ist, das die zusätzliche Wertschöpfung ermöglicht, eben wenn es für die Herstellung arbeitssparender Maschinen ausgegeben wird. Die Wendung, „daß aus Produktivitätssteigerung per se Wert entspringt", verschleiert den Sachverhalt, ob es si