Die Macht des Kostüms: Zur textilen Verkörperung der Bühnen-Figur 9783839464755

Die Wirkung von Bühnenkostümen in der darstellenden Kunst wird oft unterschätzt. Dabei prägen sie nicht nur das Aussehen

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German Pages 242 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Das Bühnenkostüm im Zusammenspiel von Mode, Bekleidung und bildender Kunst
1. Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers
2. Die drei Basisfunktionen des Bekleidens
3. Das Zeichensystem der Bekleidung
4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode
5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte
6. Körperverformung durch Bekleidung
7. Die Charakteristika des Bühnenkostüms
8. Der Darstellerkörper im Bühnenkostüm
Zur textilen Verkörperung der Bühnenfigur
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Die Macht des Kostüms: Zur textilen Verkörperung der Bühnen-Figur
 9783839464755

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Susanne Stehle Die Macht des Kostüms

Theater Band 148

Editorial Die deutschsprachige Theaterwissenschaft hat sich in jüngerer Zeit vor allem als Ort der Rezeption und Etablierung kulturwissenschaftlicher Programme verdient gemacht. In diesem Kontext sind zentrale kulturtheoretische Innovationen entstanden bzw. vertieft worden – etwa die Theorie der Performativität. Die Reihe Theater zielt insbesondere auf solche avancierten theaterwissenschaftlichen Studien, die die Erforschung des modernen Theaters in den Kontext innovativer Kulturanalyse stellen.

Susanne Stehle beschäftigt sich seit ihrem Studium der Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München in Theorie und Praxis mit dem Bühnenkostüm, hauptsächlich in der Kostümdirektion der Bayerischen Staatsoper und am Institut für Theaterwissenschaft der LMU.

Susanne Stehle

Die Macht des Kostüms Zur textilen Verkörperung der Bühnen-Figur

Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Michael Gissenwehrer und Prof. Dr. Berenika Szymanski-Düll.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Susanne Stehle Lektorat und Korrektorat: Angelika Wulff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839464755 Print-ISBN 978-3-8376-6475-1 PDF-ISBN 978-3-8394-6475-5 Buchreihen-ISSN: 2700-3922 Buchreihen-eISSN: 2747-3198 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Das Bühnenkostüm im Zusammenspiel von Mode, Bekleidung und bildender Kunst Eine Hinführung .....................................................................7 1.

Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers ..... 21

2. 2.1. 2.2. 2.3.

Die drei Basisfunktionen des Bekleidens.................................... 35 Bekleiden aus Schamgefühl ................................................... 37 Bekleiden zum Schutz ......................................................... 41 Bekleiden als Schmuck ....................................................... 48

3. Das Zeichensystem der Bekleidung ......................................... 53 3.1. Der vestimentäre Code im öffentlichen Leben ................................. 63 3.2. Der vestimentäre Code auf der Theaterbühne ................................. 73 4. 4.1. 4.2. 4.3.

Die Beziehung der Bekleidung zur Mode..................................... 85 Der Modewandel als Indikator des Zeitgeistes .................................. 91 Differenzen im femininen und maskulinen Modewandel ........................ 96 Die Beziehung der Mode zur Kunst ........................................... 100

5.

Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte .........................................................109 Die Typisierung und Stilisierung ................................................111 Die Ausschmückung .......................................................... 118 Die gesellschaftlichen Umbrüche..............................................127 Der Naturalismus ............................................................. 131 Die Retheatralisierung ....................................................... 139 Die Moderne ..................................................................145

5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6.

6. 6.1. 6.2. 6.3.

Körperverformung durch Bekleidung........................................ 151 Variablen im Oberkörper ......................................................157 Zusammenspiel von Kopf, Hals, Schulter und Arm..............................165 Beinraum, Volumengewinnung und Erweiterung des Körpers in den Raum ......174

7.

Die Charakteristika des Bühnenkostüms ....................................187

8.

Der Darstellerkörper im Bühnenkostüm .................................... 205

Zur textilen Verkörperung der Bühnenfigur Ein Resümee ......................................................................215 Literaturverzeichnis ..............................................................219 Abbildungsverzeichnis ........................................................... 237

Das Bühnenkostüm im Zusammenspiel von Mode, Bekleidung und bildender Kunst Eine Hinführung

Ein altertümliches Nachthemd, gebrochen weiß, langärmelig, tiefe Falten im Ellbogenbereich, dazu eine lange Unterhose bis über die Knie, hängender Schritt, helle, handgestrickte Kniestrümpfe, dicke Rippen, vom Tragen ausgeleiert, ein Königsmantel, übergroß, leuchtend rot, schwarz gefüttert, prunkvoll golden bestickt; Symbole ehemaliger, repräsentativer, Ehrfurcht einflößender Pracht treffen in hartem Gegensatz auf die eines gebrochenen Mannes, dessen verletzliche Bekleidung nur mit Unterwäsche seinen jetzigen Seelenzustand verrät. Der Zuschauer1 von Giuseppe Verdis Don Carlo in der Bayerischen Staatsoper sieht einen Herrscher am Tiefpunkt seiner Macht, der Selbstqual hingegeben, die Frau verloren: »Ella giammai m’amò – sie hat mich nie geliebt« singt Roberto Scandiuzzi in der Rolle des Philipp zu Beginn des IV. Aktes, Regie, Bühne und Kostüm von Jürgen Rose.2 Der Fall des Herrschers zeichnet sich auch in seiner Bekleidung ab. Der Sänger kann den Wandel der Figur förmlich am eigenen Leib spüren, denn nach festem Wams, drückendem Mantel, Achterkrause und Krone, beengt, beschwert und beschützt nichts mehr den Körper. Das Bühnenkostüm visualisiert die Figur für den Zuschauer, prägt die Ästhetik der Inszenierung und hilft dem Darsteller beim Einfinden in die Rolle. Das Kostüm, das einzige der gestaltenden Mittel einer Inszenierung, das direkt am Körper des Akteurs wirkt, bekleidet, ja formt ihn und lässt ihn seinen Bühnencharakter fühlen. Dennoch sind Rezensionen des Bühnenkostüms durch Theaterkritiken wie auch eigenständige Analysen in der Fachliteratur 1 2

»Zuschauer«, »Darsteller«, »Akteur«, »Sänger« und »Schauspieler« stehen stellvertretend für Zuschauer, Sänger und Schauspieler jeden Geschlechts. Inszenierung der Bayerischen Staatsoper München, Premiere am 1. Juli 2000.

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Die Macht des Kostüms

marginal. Dem steht im Arbeitsprozess ein durchdachter, detaillierter Kostümentwurf, eine neben Bühnenbild und Lichtgestaltung gleichberechtige Komponente im Regiekonzept und ein aufwendiger Herstellungsprozess gegenüber. Es zeigt sich eine starke Diskrepanz zwischen Außen- und Innenwirkung des Kostüms. Die Bühnenbekleidung ist alles, nur nicht oberflächlich, willkürlich oder beliebig, weshalb die fehlende Wahrnehmung der Stärken des Kostüms umso mehr erstaunt. Diese Studie möchte Sprache und Wirkung des Bühnenkostüms näher erforschen, seine spezifische Gestaltungsform und Ausdruckskraft, die Dimension seines erzählerischen Eingreifens in die Handlung und die Auswirkung, die schließlich das Tragen eines Bühnenkostüms auf den Darsteller hat. Es wird untersucht, inwiefern ein Großteil der Charakterisierung und ein In-dieRolle-Formen bereits im Kostüm steckt. Gerade der Repertoirebetrieb eines Musiktheaters wirft die Frage nach der textilen Verkörperung der Figur im Kostüm auf, die den Sänger als Träger dieser informationsgeladenen Hülle umgibt. Es mangelt – besonders im deutschsprachigen Bereich – grundsätzlich an profunder, aktueller Fachliteratur über das Bühnenkostüm. Die Beschäftigung mit dem Kostüm führt zwangsläufig zu einem Zusammensuchen von Versatzstücken, die sich in Arbeiten über das Bühnenbild, die Theatergeschichte, biografischen Werken von Regisseuren, Schauspielern, Sängern und Bühnenbildnern verstecken. Soziologie, Psychologie und Ethnologie beschäftigen sich ausführlich mit der kommunikativen Wirkung von Bekleidung und ihrer engen Verknüpfung zu gesellschaftlichen Strömungen. Die Kunstgeschichte sieht die Aussagekraft von vestimentären Skulpturen besonders in ihrem Stellvertretertum des abwesenden, menschlichen Körpers. Die Wechselwirkung von Kleidung und Kunst findet in der Literatur Beachtung. Verbindungen zwischen Mode, Kunst- und Kulturgeschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie und Architektur werden in den jeweiligen Fachdisziplinen beleuchtet, aber das Bühnenkostüm wird nicht einbezogen. Die Modewissenschaft verfolgt das eigene künstlerische Vokabular; der Formenwandel und das körperformende Potenzial von Bekleidung wird in der Bühnenkostümforschung bisher kaum beachtet. Die Theaterwissenschaft analysiert das Kostüm isoliert als theatrales Zeichen, ohne eine Verbindung zur gegenständlichen Verwandtschaft der Bekleidung zu ziehen und das Aussagepotenzial der bildenden Kunst zu berücksichtigen. Diese Bereiche sollen hier nun zusammengeführt werden. In Annäherung an die These einer bedeutungstragenden Kostümschale, die einen wandelbaren, austauschbaren Darsteller-Kern umhüllt, wird folgenden

Das Bühnenkostüm im Zusammenspiel von Mode, Bekleidung und bildender Kunst

Fragestellungen nachgegangen: Welcher Tradition folgt das Bühnenkostüm im Laufe der Theatergeschichte und lässt dies auf eine direkte Verwandtschaft mit alltäglichen Bekleidungsgewohnheiten schlussfolgern? Welcher Informationsgehalt und welche Emotionalität wohnen der Bekleidung inne? Zeigt sich hier eine Übertragbarkeit auf das Kostüm? Kann sich die natürliche Körperform ihrer Kleidung unterwerfen und resultiert daraus ein Nutzen für das Bühnenkostüm? Besitzt Bekleidung auch körperlos eine Aussagekraft, die sich im darstellerlosen Bühnenkostüm spiegelt?

Die Verwandtschaft des Bühnenkostüms mit der vestimentären Skulptur In der westlichen Welt, dessen Sprech- und Musiktheater hier im Vordergrund stehen, sind Kleidungsstücke durch ihre Unverzichtbarkeit, ihre ständige Nähe zu ihrem Träger, ihre permanente Begleitung in allen Lebenslagen, als tröstende Schutzschicht, stärkender Panzer, Glück bringendes Accessoire, Stimmung hebendes Alltagsgewand, festlicher Ausputz, treuer, wetterfester Begleiter, ausgeliehener Schatz oder vererbte Kindheitserinnerung untrennbar mit dem Leben verbunden. Durch die Beanspruchung im Gebrauch verleiht der Besitzer dem Kleidungsstück seine individuelle Charakteristik. Stoff wird durchscheinend, Kanten wetzen sich ab, Schmutz und Falten setzen sich fest, Farben verblassen. Die Bekleidung beginnt in diesen Spuren Geschichten zu erzählen, sie steht in einer engen Beziehung zu ihrem Träger. Emotional aufgeladene Kleidungsstücke lassen vergangene Momente aufleben, werden aufbewahrt, vielleicht sogar weitergegeben, antike Kleidungsstücke als historisches Dokument in Museen präsentiert. In der Belletristik helfen detaillierte Beschreibungen der Garderobe bei der Charakterisierung der Figur. Auch die bildende Kunst macht sich die enge, persönliche Verbindung zu Kleidungsstücken zu eigen, um einer menschlichen Geschichte Gestalt zu verleihen. Sie bietet mit dem Kapitel Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers den Einstieg in diese Untersuchung. In ihrer künstlerischabstrahierten Erscheinungsform wird das spezielle Vokabular und die Aussagekraft der Bekleidung deutlich, die – und das ist es, was die Berücksichtigung der Einflüsse durch die bildende Kunst auf das Bühnenkostüm so aufschlussreich macht – auch dann existiert, wenn das Kleidungsstück nicht getragen, sondern ohne Körper präsentiert wird. Neben Beispielen aus der Theaterwelt verdeutlichen daher Arbeiten aus der Kunst die vielgestaltige Formensprache und Themenfülle des Bekleidens. Die meist textilen, skulpturalen Arbeiten und Installationen, die die Thematik der Bekleidung umkreisen, finden

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Die Macht des Kostüms

in der kunstgeschichtlichen Literatur Beachtung. Die leere, hüllenartige Form, die gerade in dieser Verlassenheit und Unbelebtheit eine besondere Nähe zum menschlichen – nicht anwesenden – Körper aufweist, zieht sich wie ein roter Faden durch die Überlegungen. Das Kunstforum International veröffentlicht mit DRESSED! Art en Vogue3 eine ausführliche Aufsatzsammlung zum Thema Mode und textiler Kunst, die die große Bandbreite an visuellen und thematischen Möglichkeiten der Bekleidung aufzeigt. Der Ausstellungskatalog Untragbar – Mode als Skulptur 4 kombiniert die Frage der Untragbarkeit der Mode mit der Aussagekraft der in der bildenden Kunst eingesetzten Kleidungsstücke. Die körperlosen, vestimentären Skulpturen arbeiten mit der gleichen Zeichenhaftigkeit wie das Bühnenkostüm. Der Informationsgehalt, der den trägerlos präsentierten Objekten der Bekleidung innewohnt, wird herausgearbeitet und könnte direkt auf das darstellerlose Bühnenkostüm übertragen werden. Dennoch wird in der Fachliteratur keine Parallele zwischen Arbeiten der bildenden Kunst und dem Bühnenkostüm gezogen. Diese Verknüpfung soll nun mit dieser Untersuchung geschaffen werden. Cora von Papes Kunstkleider: Die Präsenz des Körpers in textilen Kunst-Objekten des 20. Jahrhunderts5 aus dem Jahr 2009 nähert sich am stärksten der mit Emotionen und Informationen aufgeladenen Kostümhülle an. Das Bühnenkostüm ist zwar nicht von Papes Thema, sie vereint die Zeichenfunktion von Bekleidung und ihre Möglichkeit zur Identitätsbildung mit der sogenannten Soft-Art, den textilen Kunstwerken. Ihre Ausführungen über den absenten Träger und die von ihm zurückgelassene, mit dem Kleidungsstück verwobene Erinnerung kann jedoch gedanklich weitergeführt und direkt auf das darstellerlose Bühnenkostüm übertragen werden.

Das Kostüm als Ausformung der Bekleidung Doch worauf stützt sich die große emotionale und symbolhafte Bedeutung sowie die Informationsdichte, die der Bekleidung innewohnt? Das Bekleiden begleitet die Menschheitsgeschichte von Beginn an. Bekleidung übernimmt

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Banz, Claudia, Barbara Til und Heinz-Norbert Jocks. Hg. Kunstforum International: DRESSED! Art en Vogue 197. Roßdorf: TZ-Verlag, 2009. Anna, Susanne und Marcus Heinzelmann. Hg. Untragbar – Mode als Skulptur. Ostfildern: Hatje Cantz, 2001. Pape, Cora von. Kunstkleider: Die Präsenz des Körpers in textilen Kunst-Objekten des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript, 2008.

Das Bühnenkostüm im Zusammenspiel von Mode, Bekleidung und bildender Kunst

schon zu ihren Anfängen nicht nur eine rein praktische Funktion, die des Körperschutzes, sondern hat ein sehr persönliches, schmückendes und soziales Element. Felle wärmen nicht nur ihren Träger, sondern zeugen von Jagdfertigkeit, Tapferkeit und Stärke und werden, – dekoriert mit Zähnen oder Federn –, dem Geschmack entsprechend ostentativ zur Schau gestellt. Kapitel 2 und 3 widmen sich den Grundlagen der Bekleidungstheorien. Das Kapitel Die drei Basisfunktionen des Bekleidens greift die Ursprünge des Bekleidens auf, die aus Scham, zum Schutz und zum Schmuck erfolgt. Diese Basisfunktionen stehen bereits in direktem Zusammenhang mit der Zeichenhaftigkeit der Bekleidung, die das anschließende Kapitel erläutert. Im sozialen Zusammenleben stellt Kleidung ein entscheidendes nonverbales Kommunikationsmittel dar. Kleidung prägt nicht nur den ersten Eindruck auf der Straße und auf der Bühne, sondern sie charakterisiert auch ihren Träger. Ein komplexes System von vestimentären Codes ermöglicht uns, Rückschlüsse auf die soziale Schicht, die Berufsgruppe, eine spezielle Gruppenzugehörigkeit oder auch Interessensschwerpunkte zu ziehen. Der vestimentäre Code im öffentlichen Leben ist auch heute noch signifikant und zeigt den bewussten Einsatz von Bekleidung. Staat, Militär und Kirche arbeiten mit klar verständlichen, plakativen Mitteln, um Rang und Stellung ihrer Mitglieder zu verdeutlichen. Der König, der Papst, der Feuerwehrmann, der Pfarrer, aber auch die Braut erfahren bereits im Alltag eine Kostümierung, die ihre Rolle für alle sichtbar macht. Das Phänomen der Uniformierung etwa hat nicht nur im militärischen Zusammenhang starke soziale Auswirkungen, sondern erzeugt grundsätzlich ein Gemeinschaftsgefühl durch die Vereinheitlichung und Gleichschaltung des Äußeren. Vestimentäre Codes visualisieren die Strukturen einer Gesellschaft. All diese Zeichen können auf das Bühnenkostüm übertragen werden, das macht ihre Untersuchung so grundlegend. Der Kostümbildner bedient sich der Sprache, die der Bekleidung im Alltag entspricht, um dem Zuschauer die Figur auf der Theaterbühne verständlich zu machen. Die Fachliteratur zur Bekleidung und Mode ist umfangreich und weitgefächert vorhanden. Für die Untersuchung des Bühnenkostüms sind besonders die Werke aufschlussreich, die sich mit den soziologischen und kulturwissenschaftlichen Aspekten der Mode beschäftigen. Da die Bühnenkostümgeschichte zeigt, dass das Kostüm vorrangig auf die Alltagsbekleidung zurückgreift, wird Kleidung und Mode als kultureller Bedeutungsträger interessant und macht eine genauere Betrachtung der Aufgaben, Wirkungsbereiche und Zeichenhaftigkeit der Bekleidung notwendig, um die vestimentären Codes

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Die Macht des Kostüms

entschlüsseln zu lernen. Die Listen der Mode6 von Silvia Bovenschen bietet hierzu eine kompakte Aufsatzsammlung, die u.a. Thorsten Veblens Theorie der feinen Leute, Georg Simmels Die Mode und John C. Flügels Psychologie der Kleidung enthält. Eine weitere Textsammlung, die Zweite Haut: Zur Kulturgeschichte der Kleidung7 von André Holenstein aus dem Jahr 2010 über die gesellschaftliche Identitätsbildung der Bekleidung, beinhaltet neben weiteren soziologischen und ethnologischen Schriften Carlo Michael Sommers Der soziale Sinn der Mode. Kleidung und Mode aus sozialpsychologischer Sicht. Die von Gabriele Mentges publizierte Kulturanthropologie des Textilen8 (2005) zeigt Bekleidung als kulturhistorisches Gedächtnis und identitätsstiftendes Medium. Barbara Vinkens Angezogen: Das Geheimnis der Mode9 von 2014 und Ingrid Loscheks Wann ist Mode? Strukturen, Strategien und Innovationen (2007) beschäftigen sich neben soziokulturellen Aspekten verstärkt mit dem Phänomen des Modewandels, der sich als historisch-stilbildendes Instrument im Kostümbild als besonders nützlich zeigt. Anne Hollander beleuchtet in Seeing through clothes10 die Darstellung des bekleideten Körpers in der Kunst – Malerei, Skulptur, Fotografie und Film – von der Antike bis zum 20. Jahrhunderts und verhandelt so den Stellenwert der Bekleidung in der westlichen Kultur. All diese Werke erweisen sich für die Analyse als sehr fruchtbar.

Mode in ihrer Gestaltungsvielfalt und Wandlungsfreude Eine Spezialform der Bekleidung ist die Mode, eine Zuspitzung insofern, da ihr Wert rein sozial ausgehandelt wird. Sie entsteht nur in Interaktion von Träger und Betrachter und hat mit dem tatsächlichen Material- oder Anfertigungspreis wenig zu tun. Die Mode also, als abstraktes, soziales Konstrukt, kurzlebig, aus praktischer Sicht unnötig, aber dennoch oder vielleicht gerade deshalb ein wesentlicher Bestandteil der westlichen Gesellschaft über Jahrhunderte, drückt im 4. Kapitel Die Beziehung der Bekleidung zur Mode, ihren Unterschied zur Bekleidung aus.

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Bovenschen, Silvia. Hg. Die Listen der Mode. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986. Holenstein, André. Hg. Zweite Haut: Zur Kulturgeschichte der Kleidung. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 2010. Mentges, Gabriele, Nina Schack, Heike Jenss und Heide Nixdorff. Hg. Kulturanthropologie des Textilen. Berlin: Edition Ebersbach, 2005. Vinken, Barbara. Angezogen: Das Geheimnis der Mode. Stuttgart: Klett-Cotta, 2013. Hollander, Anne. Seeing through clothes. Berkeley: University of California Press, 1993.

Das Bühnenkostüm im Zusammenspiel von Mode, Bekleidung und bildender Kunst

Die enge Verbindung der Mode mit der sozialen Struktur einer Gesellschaft zeigt sich im unterschiedlichen Rhythmus von Herren- und Damenmode. Oft mit körperlichen Unannehmlichkeiten verbunden, stets der Bewunderung willen erduldet, ist die Mode eine Extremform der Bekleidung, deren Kreationen besonders in den letzten Jahren die Möglichkeiten des Bekleidens ausloten und die klassische Silhouette hinter sich lassen. Diese Grenze zum Untragbaren lässt die Mode oft in der Nähe zur Kunst vermuten, zeigt aber hauptsächlich den enormen Formenspielraum, der einem Kleidungsstück innewohnt. Fashion and Imagination: About Clothes and Art 11 herausgegeben von Jan Brand, José Teunissen und Jos Arts im Jahr 2009 befasst sich zunächst mit der Frage, ob Mode Kunst ist und sein kann und bezieht dabei die AvantgardeBewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ein. Die Rolle des Körpers in der Mode und in ihrer Präsentation, etwa in Defilees, bildet zusammen mit der Analyse von vestimentären Arbeiten in der bildenden Kunst einen zweiten Schwerpunkt. Caroline Evans beschreibt ebenfalls den kompletten Radius der performativen Kraft der Mode und der Bekleidung, der seine Parallelen im Bühnenkostüm findet in Fashion at the Edge: Spectacle, Modernity and Deadliness12 . Aktuelle und historische Modekreationen, die Welt der Modeschauen und textile Arbeiten der bildenden Kunst umgrenzen hier die Möglichkeiten des Bekleidens und des bekleideten Körpers. Die enorme Formenvielfalt, die ein Kleidungsstück annehmen kann, belegt das kreative Potenzial des Bühnenkostüms. Auch beim Nachweis des visuellen Vokabulars des Kostüms muss auf die Mode ausgewichen werden, da eine spezielle Publikation hierzu fehlt. Das 5. Kapitel, Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte, gibt einen chronologischen Überblick über die verschiedenen Richtungen in der Alltags- und Bühnenbekleidung von der Antike bis zur Moderne, die die Beziehung zwischen Bühnenkostüm und alltäglicher Garderobe aufzeigen soll. Für die Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung des Bühnenkostüms in Gegenüberstellung mit dem zeitgleich stattfindenden Wandel in den Bekleidungsgewohnheiten liefert die Modeliteratur ausführliche Erörterungen. Für das Bühnenkostüm sind zwei Themenschwerpunkte in der theaterwissenschaftlichen Fachliteratur, die Beschäftigung mit visuellen

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Brand, Jan, José Teunissen und Jos Arts. Hg. Fashion and Imagination: About Clothes and Art. Arnhem: ArtEZ Press, 2009. Evans, Caroline. Fashion at the Edge: Spectacle, Modernity and Deadliness. New Haven: Yale University Press, 2003.

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sowie geschichtlichen Aspekten zielführend. Die ›aktuellste‹ Kostümgeschichte verfasste Max von Boehn 1921 mit Das Bühnenkostüm: in Altertum, Mittelalter und Neuzeit 13 . Die detaillierte, ausführlich bebilderte Kostümgeschichte von der Antike bis zu seiner Gegenwart stellt die nach wie vor einzige vollständige, chronologische Bühnenkostümgeschichte dar.14 Seit dem 2. Weltkrieg mangelt es einer systematischen Aufarbeitung der Geschichte des Kostüms. Eine Analyse der Ästhetik, ein Aufzeigen spezieller Strömungen oder ein Augenmerk auf die entwerfenden Kostümbildner existiert nicht. Der Begriff »Kostüm« in Buchtiteln ist oft irreführend, denn sie beinhalten größtenteils Mode- und Bekleidungsthemen, wie sich etwa die »Kostümgeschichte« in der Regel als Geschichte der Mode entpuppt. Aus dem Bereich der Publikationen, die sich mit der Ästhetik des Theaters beschäftigen, geben zwei Werke – auch wenn ihre Erscheinungsjahre schon etwas zurückliegen – einen guten Überblick über die Theaterarbeit von Künstlern und Reformern: Bühne und bildende Kunst im XX. Jahrhundert: Maler und Bildhauer arbeiten für das Theater 15 , herausgegeben 1968 von Henning Rischbieter und Bildertheater: Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts als Theaterreformer 16 von Peter Simhandl aus dem Jahr 1993. Eine eigene Abhandlung über die Rolle des Kostüms fehlt in beiden, es findet jedoch neben der Bühnendekoration Erwähnung und die zahlreichen Abbildungen veranschaulichen die visuellen Möglichkeiten der Kostümsprache. Auf ähnliche Weise sind Bildbände einzelner Bühnenschaffender hilfreich, die zwar ohne theoretischen Text zum Kostüm, dafür aber mit Bildmaterial die Forschungsarbeit unterstützen. 13 14

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Boehn, Max von. Das Bühnenkostüm: in Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Berlin: Bruno Cassirer, 1921. In den 1920er Jahre bestand ein großes Interesse am Bühnenkostüm, das erstmals in eigenständigen Abhandlungen untersucht wird. Etwa zeitgleich zu Max von Boehn kombiniert Joseph Gregor 1925 in Das Bühnenkostüm in historischer, ästhetischer und psychologischer Analyse Kostümgeschichte mit dem Zweck der Bekleidung und der Fähigkeit des Kostüms zur Verwandlung sowie Charakterisierung der Rolle, ebenfalls mit großem Bildanhang. Winfried Klara beleuchtet 1931 in Schauspielkostüm und Schauspieldarstellung: Entwicklungsfragen des deutschen Theaters im 18. Jahrhundert die Verantwortlichen des Kostümentwurfes, die Grundkostüme eines Schauspielers unter Einbeziehung der Kostümgeschichte und einen selten gezeigten Aspekt, die Prozesse und Abläufe der Kostümabteilung. Rischbieter, Henning. Hg. Bühne und bildende Kunst im XX. Jahrhundert: Maler und Bildhauer arbeiten für das Theater. Hannover: Friedrich, 1968. Simhandl, Peter. Bildertheater: Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts als Theaterreformer. Berlin: Gadegast, 1993.

Das Bühnenkostüm im Zusammenspiel von Mode, Bekleidung und bildender Kunst

Die historische Analyse von Mode und Bühnenkostüm öffnet den Blick auf eine weitere Eigenheit der Kleidung, der in Kapitel 6, die Körperverformung durch Bekleidung, nachgegangen wird. Mit der Mode ändert sich nicht nur die dekorative Ausgestaltung, Motivik oder Farbgebung, sondern die komplette Silhouette befindet sich im Wandel. Der Leib in seiner anatomischen Grundform verliert an Bedeutung, er wird zu einem kulturell wandelbaren Körper, der von seiner Bekleidung geformt wird. Dieses Kapitel verlässt nun die Chronologie und zeigt im Zeitraffer – auf die einzelnen Körperteile konzentriert – die Wandelbarkeit der menschlichen Erscheinung. Diese nimmt nicht nur mit dem Bereich vom Scheitel bis zur Sohle vorlieb, sondern wächst durch textile Volumengewinnung, begonnen beim weiten Rock bis hin zu den wirbelnden Stoffbahnen einer Loïe Fuller, in den Raum hinaus. Neben zahlreichen, klassischen Geschichten der Mode, zeigt sich in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse an der Wandelbarkeit der Silhouette im Laufe der Modegeschichte. Gerade dieses Eingreifen in die natürliche Physis mit Hilfe von Bekleidung birgt ein enormes Potential für die Verwandelbarkeit des Akteurs durch das Kostüm. Harold Koda verfolgt den Ansatz des Silhouetten-Wandelns durch Bekleidung 2001 in Extreme beauty: The body transformed17 , wobei er seinen Blick mehr auf das moderne, experimentelle Modedesign legt als auf die Historie. Colin McDowells The anatomy of fashion: Why we dress the way we do18 von 2013 analysiert das menschliche Erscheinungsbild vom Kopf bis zu den Füßen und zeigt die erstaunliche Wandelbarkeit der einzelnen Körperteile durch die Jahrhunderte. Fashioning the body: An intimate history of the silhouette19 (2015) von Denis Bruna verfolgt chronologisch vom 14. bis zum 21. Jahrhundert Modeströmungen und ihre Gestaltungsformen des kulturellen Körpers und stellt die dazu notwendigen, modellierende Unterwäsche, auspolsternden Konstruktionen und Rockbauten in das Zentrum seines Schaffens.

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Koda, Harold. Extreme beauty: The body transformed. New York: Metropolitan Museum of Art, 2001. McDowell, Colin. The anatomy of fashion: Why we dress the way we do. London: Phaidon, 2013. Bruna, Denis. Hg. Fashioning the body: An intimate history of the silhouette. New Haven: Yale Univ. Press, 2015a.

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Die Macht des Kostüms

Der Darsteller im Bühnenkostüm Die beiden entscheidenden Charaktereigenschaften der Bekleidung, ihre Informationsvermittlung und ihr Potenzial zur Körperverformung, werden dann auf das Bühnenkostüm übertragen. Kapitel 7, die Charakteristika des Bühnenkostüms, konkretisieren die visuellen Möglichkeiten des Kostüms, das alle dramaturgisch notwendigen Informationen der Rollenfigur in sich vereint, beleuchtet die vielseitigen Methoden der Kostümgestaltung und die handwerklichen Tricks bei der Umsetzung. Erika Fischer-Lichtes Kapitel über das »Kostüm« im 1. Band der Semiotik des Theaters: Das System der theatralischen Zeichen20 ist der einzige, grundlegende theoretische Text, der die Zeichenhaftigkeit, den Moment der Verwandlung und die identitätsstiftende Funktion des Bühnenkostüms in Zusammenhang mit der sozialen und kulturellen Bedeutung der Bekleidung betrachtet. Diese Untersuchung des Kostüms als Zeichen bildet den Ausgangspunkt für Die Macht des Kostüms: Zur textilen Verkörperung der Bühnen-Figur. Die Ästhetik des Performativen21 von Erika Fischer-Lichte, besonders das Thema der Körperlichkeit ist grundlegend für die Überlegungen zur Untrennbarkeit des leiblichen Körpers des Akteurs und seiner Figur und der daraus resultierenden Konsequenz für die Bühnengewandung. Auch wenn der Fokus dieser Arbeit auf dem Bühnenkostüm liegt, legt die Mode im Film. Zur Kulturanthropologie zweier Medien22 von Daniel Devoucoux aus dem Jahr 2007 einen guten, allgemeingültigen Überblick über die Kostümrhetorik, soziokulturelle Eigenschaften und die ästhetischen Werkzeuge von Kostümen vor. Ein weiterer, wertvoller Beitrag aus dem Bereich der Filmkostüme ist Birds of paradise: Costume as cinematic spectacle23 (2013) von Marketa Uhlirova, mit Schwerpunkt auf den Anfängen des Kinos und der Stummfilmära. Reich bebildert richtet sie den Akzent auf das Potential des Kostüms, einen starken, visuellen Eigenwert zu entfalten.

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Fischer-Lichte, Erika. Semiotik des Theaters: Das System der theatralischen Zeichen. 1. Band. Tübingen: G. Narr, 1983, S. 20–131. Fischer-Lichte, Erika. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004a. Devoucoux, Daniel. Mode im Film: Zur Kulturanthropologie zweier Medien. Bielefeld: transcript, 2007. Uhlirova, Marketa. Birds of paradise: Costume as cinematic spectacle. London: Koenig Books, 2013.

Das Bühnenkostüm im Zusammenspiel von Mode, Bekleidung und bildender Kunst

Das Bühnenkostüm ist an dieser Stelle in seiner Komplexität erfasst und wird, im darauffolgenden 8. Kapitel, Der Darstellerkörper im Bühnenkostüm, auf seine Beziehung zum Akteur untersucht. Das Kostüm als Bekleidung einer fiktionalen Figur, getragen an einem realen Körper, beeinflusst Aussehen, Bewegungsablauf und Rollenwahrnehmung des Darstellers. Aoife Monks erkundet in The actor in costume24 dieses In-die-Rolle-Schlüpfen durch das Anlegen des Kostüms und die enge Verbindung der Bühnenidentität einer Person mit ihrer Bekleidung. Ihre These, dass im nicht mehr verwendeten Bühnenkostüm immer eine Erinnerung an die Rolle zurückbleibt, lässt sich dahin weiterführen, das Kostüm als eigentlichen Informationsträger der Figur zu betrachten. Die Analyse bezieht sich auf die ideale Version eines potenziell gelungenen Kostümbildes, das alle ihm innewohnenden Möglichkeiten ausschöpft, um die gewünschte Intention des Regieteams in der Inszenierung deutlich herauszuarbeiten. Der Schwerpunkt liegt auf dem heutigen, westlichen Sprech- und Musiktheater, mit besonderer Gewichtung auf der klassischen Oper, deren Bühnenalltag auf einer bedeutungstragenden Kostümschale aufgebaut ist. Es wird hauptsächlich auf die Bekleidung eingegangen, auch wenn die Gestaltung der Haare bzw. die Wahl einer Perücke und das Verwandeln des Gesichts durch Bühnenschminke Teil des Kostümbildes darstellen. Jedoch eröffnet diese im Theater genannte »Maske« ein zu weites eigenes Forschungsfeld, um es an dieser Stelle näher beleuchten zu können. Sie entspricht aber insofern der Methodik der Arbeit, indem – analog zur im Repertoire existierenden Bühnengewandung – das immer gleiche Make-up und die immer gleiche Frisur zum Einsatz kommt, egal welcher Sänger den Abend bestreitet. Tanzkostüme müssen dagegen einer eigenen Körperlichkeit folgen und nehmen daher – zumindest im klassischen Bereich – eine Sonderrolle ein. Sie werden nur angeführt, wenn sie generell gültige Regeln verkörpern oder einen besonderen Beitrag zur Entwicklung des allgemeinen Bühnenkostüms geleistet haben. Ähnliches gilt für Filmkostüme, deren Sprache in weiten Teilen mit dem Bühnenkostüm übereinstimmt. Die Einmaligkeit eines Filmdrehs stellt allerdings einen maßgeblichen Unterschied zur permanenten Wiederholung einer Theatervorstellung sowie parallelen Verpflichtungen eines Schauspielers in verschiedenen Inszenierungen dar. Daher lässt sich der Körper eines Filmschauspielers gezielt für eine Rolle formen – durch extremes Ab- oder

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Monks, Aoife. The actor in costume. Houndmills, Balsingstoke, Hampshire, New York: Palgrave Macmillan, 2010.

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Die Macht des Kostüms

Zunehmen zum Beispiel – eine entscheidende Möglichkeit, die auf der Theaterbühne fehlt. Das Gebiet der »Hosenrolle« bzw. des »Cross-Dressing«, sowie des Blackfacings wird ebenfalls nur angeschnitten, um das Potential des Kostümbildes zur Verwandlung des Akteurs zu betonen. Beachtet wird lediglich der verkleidende Aspekt, der noch einmal mehr die während einer Vorstellung herrschende Übereinkunft mit dem Publikum bekräftigt, das Gesehene auf der Bühne als wahr anzuerkennen, selbst über Geschlechter- und Hautfarbengrenzen hinweg. Die Geschichte der Schauspielerinnen und Sängerinnen und deren Akzeptanz, die Besetzungspolitik, das Rollenverständnis, das Frauenbild auf der Bühne und die damit verbundene Gender-Debatte können auf Grund des Umfanges dieser Felder nicht genauer berücksichtigt werden. Auch auf die Thematik von Rassismus auf der Bühne, dessen Repräsentant das Blackfacing ist, kann nicht tiefer eingegangen werden. Die Nähe des Kostüms zum Darstellerkörper eröffnet Schnittmengen zu Schauspiel- und Theatertheorien sowie Reform-Bewegungen, die sich mit der Arbeitsweise des Darstellers, der Klassifizierung seines Verwandlungsprozesses, dem Schauspieler als formbares Material und auch seiner möglichen Abschaffbarkeit beschäftigen. Das Thema dieser Untersuchung begrenzt sich ganz bewusst nur auf die Wandelbarkeit des Aussehens eines Schauspielers oder Sängers durch das Bühnenkostüm. Die Schlussfolgerungen beziehen sich auf das klassische, zeitgenössische Sprech- und Musiktheater. Die Eignung des Schauspielers als aufführender Akteur soll nicht diskutiert werden, auch nicht seine Herangehensweise an die Rollenarbeit oder die Frage, inwiefern die unabdingbare Teilnahme seiner Körperlichkeit zu einer Verkörperung oder einer Präsentation der Figur führt25 , da diese Bereiche nicht in direktem Zusammenhang mit dem klassischen Bühnenkostüm stehen. Der Darsteller verändert in jedem Fall durch ein Kostüm sein Äußeres für einen Auftritt und nur das Potential dieser Verwandlung durch das Kostüm steht im Zentrum. Die gezielt gewählte Begrifflichkeit des »Körpers« im Gegensatz zum »Leib«, als Basismaterial des Darstellers, bezieht sich auf Edmund Husserls Gedanken zum Leib, der ausschließlich aus der »Erste-Person-Perspektive«26 wahrgenommen werden kann und Rudolf zur Lippes Definition des von der

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Fischer-Lichte 2004a, Kapitel 4.1. Alloa, Emmanuel. »Maurice Merleau-Ponty II: Fleisch und Differenz.« In Leiblichkeit: Geschichte und Aktualität eines Konzepts, hg. von Emmanuel Alloa et al., 37–51. Tübingen: Mohr Siebeck, 2019, S. 39.

Das Bühnenkostüm im Zusammenspiel von Mode, Bekleidung und bildender Kunst

Kultur erschaffenen, durch Geist und Willen geprägten Körpers im Gegensatz zum instinktiven Leib.27 Nur der eigene Leib kann erfahren werden. Von der Leiblichkeit anderer bleibt lediglich eine Vorstellung, ein Einfühlen, genauso wie sich die Empfindung des eigenen Leibes einem Fremden nur beschreiben, nicht aber konkret übermitteln lässt.28 »Leiblichkeit gibt es sozusagen nur in der ersten Person.«29 »Dieser Leib, den wir nicht nur haben, sondern der wir stets schon sind, unterscheidet sich insofern vom objektiven Körper, als wir nie um ihn herumgehen und ihn entsprechend nie völlig in den Blick nehmen können.«30 Die Perspektive dieser Arbeit nähert sich von der betrachtenden Seite des Zuschauers. Im Fokus der Studie stehen die Sprache und die Signale eines Bühnenkostüms und deren Nachvollziehbarkeit während der Vorstellung. Die Gefühlswelt des Akteures während des Spieles wird angesprochen, allerdings nur aus der externen Sicht. Es kommt kein Sänger oder Schauspieler persönlich zu Wort, der über seine Erfahrung während der Darstellung einer Rollenfigur am eigenen Leib berichtet. Der Darsteller gestaltet sein Äußeres für das Publikum, ihm möchte er seine Rolle vermitteln. Die entscheidende Position ist also eine Außenstehende, die des Zuschauers, der einen fremden Körper beobachtet, den er selbst niemals als Leib wahrnehmen kann. Diesen Körper bedeckt das Bühnenkostüm, oder wie Rudolf zur Lippe es allgemeiner formuliert: »Die Kleidung, heißt es gelegentlich, ist gewissermaßen der Körper des Körpers. Man kann von ihr auf die Haltung der Seele schließen.«31 Ein weiterer Aspekt für die Bezeichnung als »Körper« ist die Konzentration auf einen bekleideten Körper, auf der Bühne, im Alltag, in der Mode, in der Historie. Der Körper schält sich als Kulturprodukt heraus, beherrscht von Bewusstsein und Wille.32 Der kulturelle Körper ist ein bekleideter Körper. Die Mode, das artifizielle Eingreifen in natürliche Körperformen ist ein willentlich gesteuerter Prozess. Der Darsteller verwandelt sich in einen »semiotischen

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Lippe, Rudolf zur. Vom Leib zum Körper: Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl., 1988, S. 9. Vgl. Alloa 2019, S. 39. Alloa, Emmanuel und Natalie Depraz. »Edmund Husserl: ›Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.‹« In Leiblichkeit: Geschichte und Aktualität eines Konzepts, hg. von Emmanuel Alloa et al., 7–22. Tübingen: Mohr Siebeck, 2019, S. 11. Alloa et al. 2019, S. 2. Lippe 1988, S. 59. Vgl. ebd., S. 221.

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Die Macht des Kostüms

Körper«33 . Auch wenn der Akteur das Kostüm am eigenen Leib fühlt34 , umhüllt es doch vorrangig einen kulturellen Körper, der sich dadurch auszeichnet, ein bekleideter zu sein. Die Bekleidungstradition, sozial wandelbar durch die Jahrhunderte, ist wesentlicher Bestandteil der Zivilisation. Die »Figur« ist eine Kunstperson, erfunden aus Leib- und Körperelementen, das Geschöpf eines Autors und wird hier neben dem Begriff »Person« verwendet. Dieser jedoch steht neben der fiktiven Figur auch für die vom Schauspieler dargestellte Figur, was wiederum auch als »Rolle« betitelt wird. Von der Begrifflichkeit des »Charakters« wird abgesehen, da er einen überpersönlichen Teil einer Person umfasst, einen allgemeinen Gemütszustand, eine geistige Eigenheit und nicht ihren sozialen Stand, die körperliche Beschaffenheit und die Bekleidung.35 Es soll nicht diskutiert werden, ob die Figuren oder die Handlung das Geschehen vorantreiben, denn in jedem Fall vereinfacht eine durch das Kostüm eindeutig charakterisierbare Figur dem Zuschauer die Nachvollziehbarkeit der Geschehnisse.

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Vgl. Fischer-Lichte 2004a, S. 132. Selbstverletzende Performances, die den Leib des Darstellers attackieren und somit in den Fokus setzen, finden in der Arbeit keine Beachtung. Die in der Studie angesprochene Performance-Kunst unterscheidet sich vom klassischen Sprech- oder Musiktheater nur insofern, dass sie Räume außerhalb des klassischen Theaters bespielt, keiner literarischen oder musikalischen Vorlage folgt und oft in ihrer Einmaligkeit nicht reproduzierbar ist. Vgl. Asmuth, Bernhard. Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart: J. B. Metzler, 2016, S. 90–91.

1. Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers

Persönlichkeit, Körper und Kleidung verweben sich untrennbar miteinander. Täglich achtlos übergeworfen oder mühevoll zusammengestellt, begleitet die Bekleidung jeden Schritt. Körperliche Tätigkeit, ungeschickte Malheure und die Zeichen der Zeit schreiben ihre eigene Geschichte in den Stoff. Falten, Schweißränder, Risse, unauswaschbare Flecken und fadenscheinig werdendes Material verwandeln ein Kleidungsstück von der Stange in einen sehr persönlichen Gegenstand. Kleidung kommt nicht nur körperlich nah, sondern spricht alle Sinne an: das Sehen, Tasten, Fühlen, Hören und Riechen.1 Die erlebten Stunden stecken in der Faser, diese wandeln sich zum textilen Gedächtnis. Der Moment des Getragenwerdens verbindet sich mit der Kleidung, sein Anblick hat die Kraft, das Erlebte auferstehen zu lassen. Emotional aufgeladene Kleidungsstücke bleiben Repräsentanten des besonderen Anlasses. Ein Hochzeitskleid behält während des Bestandes der Ehe seinen Platz im Kleiderschrank bis zur Entsorgung mit der Scheidung, stellvertretend für die gescheiterte Liebe. Eine Mutter verwahrt die ersten Schuhe des Kindes weit über die ersten Schritte hinaus. Eine subjektive Verbundenheit haftet einigen Kleidungsstücken an, ein irrationales Habenwollen zu Anfang, ein Wohlfühlgefühl während des Tragens oder ein wehmütiger Abschied bei Selbstzerstörung der Faser. Robert Wilson war bereit, tausend Dollar für einen einzelnen Haifischlederschuh zu bezahlen, aus einer Faszination heraus musste dieser seine Schuhsammlung bereichern:

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Vgl. Mentges, Gabriele. »Für eine Kulturanthropologie des Textilen: Einige Überlegungen.« In Kulturanthropologie des Textilen, hg. von Gabriele Mentges et al., 11–54. Berlin: Edition Ebersbach, 2005, S. 32.

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Die Macht des Kostüms

A shoe. For a number of years I have collected shoes. I have shoes of Rudolph Nureyev when he danced with Margot Fonteyn. Soon after he defected. The shoes of George Balanchine, of Jerome Robbins, of Marlene Dietrich, of a Russian princess. Minnie Mouse shoes. This sharkskin single shoe I found many years ago in the flea market in Paris. I paid close to $1000 for it. A lot of money for a single shoe, but for some reason I was attracted to it.2 Kleider sind Gebrauchsgegenstände, aber auch Sehnsuchtsartikel, Sammlerobjekte und Fetische. Analog zu den Berührungsreliquien der christlichen Heiligenverehrung zu denen die Bekleidung der Heiligen, der Mutter Gottes oder Jesus Christus zählen, »erscheint das Gewand als authentischer Beleg für den Körper, weil es dessen Berührung bezeugt«3 . Bekleidung geht eine tiefe Verbindung mit dem Körper ein. »Kleidung steht stellvertretend für den Körper.«4 Dabei spielt der materielle Wert eine untergeordnete Rolle, rein die Empfindung überwiegt: Es war egal, dass sie ein altes löchriges T-Shirt trug, sie war eine Intellektuelle. Sie war die Intellektuelle in dem alten T-Shirt, und damit wurde das T-Shirt zu etwas Besonderem. Ich erinnere mich gut an das T-Shirt. Es war grau und verwaschen durchsichtig.5 Ein Kleidungsstück bleibt körperlos als Erinnerung zurück. Ein haptisch greifbares, zum Teil noch riechbares Andenken an erlebte Geschichte oder mit ihm verbundenen Personen. Kleidung wird gesammelt und aufbewahrt, als Erinnerungsstücke, in denen die Gegenwart des Abwesenden spürbar ist.6 Die bildende Kunst bedient sich dieser Aussagekraft der Bekleidung, die als Objekt – als vestimentäre Skulptur – den Mensch vertritt, wobei immer »[…] mit dem abwesenden Körper ein Verlust reklamiert« wird.7 Sophie Calle, französische Foto-, Installations- und Konzeptkünstlerin beschreibt ihre erste große Liebe 2 3 4 5 6

7

Reynaud, Jacques. »A costume is an actor.« In Robert Wilson: From within, hg. von Margery Arent Safir, 245–250. Paris: Flammarion, 2012, S. 311. Wagner, Monika. Das Material der Kunst: Eine andere Geschichte der Moderne. München: Beck, 2013, S. 89. Devoucoux 2007, S. 79. Leopoldine Core in: Shapton, Leanne, Sheila Heti und Heidi Julavits. Frauen und Kleider: Was wir tragen, was wir sind. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2015, S. 29. Vgl. Teunissen, José. »Beyond the Individual: Fashion and Identity Research.« In Not a toy: Fashioning radical characters, hg. von Vasilēs Zēdianakēs, 14–19. Berlin: Pictoplasma, 2009, S. 17f. Wagner 2013, S. 88.

1. Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers

vom frühen Treffen bis zum Verschwinden des Geliebten anhand eines einzigen Kleidungsstückes: seines weißen Bademantels.

Abbildung 1: Sophie Calle, The Bathrobe, 19818

The Bathrobe I rang the bell. He opened the door. He was wearing the same bathrobe as my father. A long white terry cloth robe. He became my first love. For an entire year, he obeyed my request, and never let me see him naked from the front. Only from the back. And so, in the morning light, he would get up carefully,

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Foto: Jim Rossiter. In: Macel/Calle 2008, S. 191, S. 191. Sophie Calle zeigt 1998 in den Räumen des Freud Museums in London ihre Ausstellung Appointment with Sigmund Freud mit sehr persönlichen Werken. Sophie Calle: »In 1998 was invited to exhibit at the house in London where Sigmund Freud spent the last year of his life. I chose to bring objects that are of sentimental value in my own life and that I have used in my autobiographical stories when I was eighteen years old.« In: Macel/Calle 2008, S. 185.

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Die Macht des Kostüms

turning himself away, and gently hiding inside the white bathrobe. When it was all over he left the bathrobe behind with me.9 In analytischer Manier, mit Fotos belegt, erforscht die Künstlerin menschliche Züge und Abgründe. Neben der Aufarbeitung biografischer Ereignisse steckt ein großes Interesse am homo sapiens. Egal, ob sie Unbekannte in ihrem Bett schlafen lässt und dabei dokumentiert oder als Zimmermädchen getarnt in Schränke und verwaiste Betten unbeteiligter Touristen fotografiert, es geht immer um die großen Themen, das Leben, die Liebe und den Tod. Mit allen drei verwebt sich die Kleidung. Sie ist Teil einer Biografie. Die textile Skulptur tritt erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Erscheinung und benötigt gute acht Jahrzehnte, bis sie vollkommen in Kunstmarkt und Museumslandschaft etabliert ist. Claes Oldenburg zeigt 1962 Blue Pants als eine der ersten vestimentären Arbeiten.10 1980 kuratiert Erika Billeter mit Soft Art erstmals in Europa eine Ausstellung, deren Exponate ausschließlich aus weichen Materialien bestehen und deren Zusammenspiel um den menschlichen Körper kreisen.11 Die im Vergleich zu traditionellen und hochwertigen skulpturalen Materialen wie Marmor oder Bronze fast wertlosen textilen Objekte sind leicht formbar. Abdrücke und Spuren des Körpers imitierend strahlen sie eine emotionale, menschliche Nähe aus. Dessen Abwesenheit scheint stark gegenwärtig. Allerdings galt gerade diese Materialbeschaffenheit im Gegensatz zur klassischen Stein- oder Bronzeskulptur lange als minderwertig und für langfristige Wertsteigerungen nicht dauerhaft. Erst in den letzten Jahrzehnten kann sich die textile Skulptur als gleichwertige Kunst durchsetzen und vom früheren Makel des Kunstgewerbes befreien.12 Denn Kleidung ist ein visuelles Zeichen und liest sich wie figurative Kunst.13 In der Tradition der Ready-Mades können Kleidungsstücke in die bildende Kunst übertragen werden. Der künstlerische Akt dieser schon-bestehenden-Gegenstände liegt nicht in der Produktion, sondern rein in der Auswahl. Marcel Duchamps erklärte erstmals einen Gebrauchsgegenstand 9 10

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Macel, Christine und Sophie Calle. Hg. Sophie Calle: M’as-tu vue. München: Prestel, 2008, S. 191. Vgl. Anna, Susanne. »Die Falte All-over: Untragbar/skulpturale Kleidung als künstlerischer Ausdruckswert im Wandel der Zeiten.« In Untragbar – Mode als Skulptur, hg. von Susanne Anna und Marcus Heinzelmann, 34–45. Ostfildern: Hatje Cantz, 2001, S. 45. Vgl. Pape 2008, S. 26f. Ebd., S. 9. Vgl. Hollander 1993, S. XV.

1. Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers

zum Kunstgegenstand und veränderte somit die Wahrnehmung und das Verständnis von Kunst.14 »Dieser Transfer von Alltagsgegenständen in den Bereich der Kunst hat […] den Kanon kunstwürdiger Materialien gesprengt […].«15 Ein Ready-Made fußt auf der Umkodierung eines Gegenstandes und entspricht so einer Form der Theatralisierung. Die bildende Kunst greift mit dem Ready-made auf die Möglichkeit des Theaters zurück, das sich gerade dadurch von anderen Medien unterscheidet, dass auch dort ein Pissoir in Material und Form ein Pissoir bleiben kann. Es kann der Wirklichkeit ohne medienspezifisch notwendige Veränderung entnommen, auf die Bühne gestellt und dort zum theatralen Zeichen werden.16 Eine zum Bühnenkostüm erklärtes Alltagskleidungsstück ist ein Ready-Made, ausgewählt vom Kostümbildner und in die Welt der Inszenierung gesetzt. Dem Kleidungsstück wohnt durch die Nähe des Gegenstandes sowohl zum Leben als auch zum Körper seines Trägers immer etwas Menschliches, sehr Persönliches inne. Die industriell hergestellten Alltagsgegenstände der ReadyMades, zu denen die Bekleidung zählt, fungieren als »authentische Bruchstücke gesellschaftlicher Verhältnisse«, vergleichbar mit der Fotografie »als Abdruck und als Bezeugung eines Realen, als authentisches Bild«17 . In der bildenden Kunst seit dem zweiten Weltkrieg holt die Bedeutungskraft des verwendeten Materials den Stellenwert der Form ein. Material ist nicht mehr »nur als technische Gegebenheit hinzunehmen, sondern als ästhetische Kategorie zu bewerten.«18 Auch Robert Rauschenbergs »combine paintings«, collageartige Kombinationen aus Malerei, Fotografie und gefundenen Objekten, helfen seit den 1950er Jahren Alltagsgegenstände in der bildenden Kunst zu etablieren. Seine Auswahl der Dinge fällt bewusst, um sich deren in der Alltagswelt aufgeladenen Aussagewert der Materialität zu bedienen: »Mir gefällt die Erfahrung, daß ein Hemd sich verändert, wenn es in die Sonne kommt oder wenn man damit baden geht… Ich mag die Geschichte 14 15 16

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Vgl. Loschek, Ingrid. Wann ist Mode? Strukturen, Strategien und Innovationen. Berlin: Reimer, 2007, S. 206. Wagner 2013, S. 57. Meyer, Petra Maria. »Als das Theater aus dem Rahmen fiel.« In Theater seit den 60er Jahren: Grenzgänge der Neo-Avantgarde, hg. von Erika Fischer-Lichte, Friedemann Kreuder und Isabel Pflug, 135–195, Tübingen: Francke, 1998, 146–147, S. 146f. Wagner 2013, S. 58. Ebd., S. 12.

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Die Macht des Kostüms

von Objekten.«19 Etwa zur gleichen Zeit verarbeitet Joseph Beuys mit Filz ein bis dato in der bildenden Kunst traditionsloses, jedoch im täglichen Leben vertrautes Material.20

Abbildung 2: Joseph Beuys, Filzanzug, 197021

Der Filzanzug »[…] soll hoch über den Köpfen der Museumsbesucher hängen, erhaben und unberührbar, eine weltliche Reliquie, ein Ersatz-Selbstpor-

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Ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 197. Filz, genäht, gestempelt, ca. 170 x 60 cm. In: Schirmer, Lothar. Joseph Beuys. Eine Werkübersicht: Zeichnungen und Aquarelle, Drucksachen und Multiples, Skulpturen und Objekte, Räume und Aktionen, 1945–1985. München: Schirmer/Mosel, 2020, S. 172.

1. Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers

trät.«22 In einer Serie von 100 Stück nach Vorlage eines Originalanzuges, das der Künstler während einer Antikriegsaktion im November 1970 in Stuttgart trägt, erinnert der knopflose, schlichte graue Filzanzug an Beuys, der durch die immer gleiche Kleiderwahl – neben grauem Anzug und Stetson Hut, eine Jagdweste – ein starkes, leicht wiederzuerkennendes Bildnis von sich selbst entwarf.23 Joseph Beuys erweitert in seinem Werk schließlich die Kleidung als autonomes, nicht mehr an den menschlichen Körper direkt gebundenes Kunstobjekt in den Raum. Der Filzanzug ist einer der ersten Kleidung thematisierenden skulpturalen Werke, das zwar deren anthropologische thematische Anbindung nicht verloren hat, jedoch als vom Körper faktisch befreite Skulptur im Raum existiert […]. Mit dieser neu gewonnenen Autonomie des Kleidungsstücks entsteht eine Art von erweitertem, kontextuellem Bezugsfeld der Koordinaten Mensch – Kleid – Körper. […] In seiner »Sozialen Plastik« politisiert Beuys diese Konstellation, indem er der Kleidung ihre Urfunktion zuweist: Vom Menschen getragen zu werden, ihm Schutz und gesellschaftliches Zeichen zu sein.24 Der Filzanzug, ähnlich mit Mythen aufgeladen wie Beuys ganze Persönlichkeit, bewusst erschaffen als Kunstobjekt, kein vorgefundener Alltagsgegenstand, findet seinen Weg direkt ins Museum. Ohne Knöpfe, Reißverschluss oder Futter, eine schlichte Hülle, die pure Idee eines Anzuges, aus hochwertigem, teurem Material gefertigt, war nie zum Gebrauch gedacht, konnte überhaupt nicht benutzt werden. Im Gegensatz zu etwa Sophie Calles Bademantel steht der Anzug nicht stellvertretend für eine abwesende Person, sondern vereint abstrakte, künstlerische Ideen in seinem vestimentären, jedem geläufigen Äußeren. Die genannte direkte Assoziation zum Künstler selbst verbindet sich mit einem seiner essenziellsten Arbeitsmaterialien: dem Filz. Er ist Hauptakteur in Beuys legendärer Rettung durch die Tartaren, die ihm nach seinem angeblichen Flugzeugabsturz mit Fett einbalsamiert und gegen die Kälte in Filz gewickelt das Leben retten. Das Unglück und die damit verursachte Kopfverletzung führt zum zweiten ikonischen Kleidungsstück in Beuys Werk,

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Wagner 2013, S. 387. Vgl. Schacknat, Karin. »Brilliant utopias and other realities.« In Fashion and Imagination: About Clothes and Art, hg. von Jan Brand, José Teunissen und Jos Arts, 314–329. Arnhem: ArtEZ Press, 2009, S. 318. Anna 2001, S. 45.

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dem grauen Herrenhut.25 Nach heutiger Ansicht stützt sich die Nähe zu Filz und Fett eher auf Beuys Wohnort in der Kindheit in direkter Nachbarschaft einer Margarine- sowie Schuhfabrik, deren Lieferungen große Ballen von Filz für Militärstiefel umfasst.26 Den Filzanzug ereilt das von den Gegnern der textilen Kunst angeführte Schicksal der begrenzten Haltbarkeit der Werke. Dem Exemplar der Londoner Tate rückt der Mottenfraß zu Leibe. Die tschechischkanadische Künstlerin Jana Sterbak versuchte während ihrer Ausstellung dort im Jahre 1995, das fragile, stark angegriffene Werk in Zusammenspiel mit ihren eigenen Arbeiten zu präsentieren, was das Museum ablehnte. So entwickelte sie Absorption, Work in Progress, eine aus Papier und Klebeband zusammengeschusterte, mannshohe Motte, deren Ziel, alle Beuys Filzanzüge aufzufressen, in einer Begleittafel erläutert wird: In 1970, nine years before my first wearable pieces, Joseph Beuys created the first of his felt suits. I became aware of this in 1986 and its existence has bothered me ever since … At the beginning of the nineties I conceived of a solution: the absorption of the suit. To this end I have metamorphosed myself into a moth, and proceeded systematically to eat, one after another, the 100 suits Beuys sold to private and public collections around the World. In some cases my activity was temporarily disrupted by misguided conservation efforts… Nevertheless, it would not be immodest or inaccurate to state that I have already put more than one suit out of its exhibition condition. My work is not easy, but it’s not without reward and, what is most important it continues.27 Der künstlerische Hinweis auf die Zerstörung des eigentlich schützenden Anzuges verweist auf die Vergänglichkeit, die auch Sterbaks Fleischkleid28 aufgreift. Beuys beschäftigt sich mit den temporären Prozessen im und um den menschlichen Körper. Gedanken, die er in seinen Aufzeichnungen mit »Zeitfraß«, »Zeitbinder«, »aller Zeiten Mantel« tituliert, während er über seine

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Vgl. Riegel, Hans Peter. Beuys: Die Biographie. Berlin: Aufbau-Verl., 2013, S. 69. Ebd., S. 233. Text der Begleittafel von Jana Sterbak. In: Jana Sterbak: Life-size, hg. von Söke Dinkla, Nina Tabassomi und Jana Sterbak. Wien: Verlag für Moderne Kunst, 2017, S. 30. Siehe 2.2 Bekleiden zum Schutz.

1. Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers

selbst getragenen Mäntel, die in seinen Installationen Verwendung finden, berichtet.29 Zeitgleich mit Joseph Beuys arbeitet auch Louise Bourgeois, noch unbekannt, in ihrem New Yorker Atelier mit Bekleidung. In ihrem Werk, das erst zwanzig Jahre später der breiten Öffentlichkeit bekannt wird, stehen die textilen Arbeiten an einer zentralen Position. Seit den 1980er Jahren verwertet die französisch-amerikanische Bildhauerin und Installationskünstlerin ihre eigenen Kleidungsstücke und die ihrer Mutter, über Jahrzehnte aufbewahrt, hängend präsentiert oder mit Füllmaterial ausgestopft, ein mit der Erinnerung gefüllter Körper. Bourgeois’ Kunst ist sehr autobiografisch, ihre eigene Kindheit, die Beziehung zu Vater und Mutter bleiben präsent. Mit der in ihren Werken verarbeiteten Kleidung erkundet sie ihre Vergangenheit: »Clothing is also an exercise of memory. It makes me explore the past: how did I feel when I wore that. They are like signposts in the search for the past.«30 Ein Blick in den Kleiderschrank ermögliche – so Bourgeois – das Leben auch noch Jahre später zu rekonstruieren und nachzuerzählen. Mode erscheint ihr als die Verkörperung von Zeit. Die damals getroffene Wahl an Schnitten und Farben offenbaren den Zeitgeschmack wie auch den eigenen sozialen Status. Textile Überreste im Schrank erinnern an große Familienfeiern, offizielle Einladungen, einen Sommer am Strand. Kleider zeichnen die gesellschaftliche Rolle, persönliche und körperliche Veränderungen nach.31 Die Haptik und manchmal auch noch der Geruch der Materialien können die erlebten Momente wieder auferstehen lassen. Bourgeois’ »Zellen«, scheinbar begehbare Installationen, erlauben dem Betrachter dann doch nur einen Blick durch einen Türspalt oder das Gitternetz, »ein alchemistisches Theater aus Metaphern«, gefüllt mit persönlichen Assoziationen.32 Gefundene und gesammelte Gegenstände treffen auf angefertigte Objekte. Cell VII aus dem Jahr 1998, eine Konstruktion aus alten Türen, vereint fünf klassische, immer wiederkehrende Elemente ihrer Kunst: Das klei29

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Vgl. Franke, Marietta. »Look Closely to Reality.« In Jana Sterbak: Life-size, hg. von Söke Dinkla, Nina Tabassomi und Jana Sterbak, 100–109. Wien: Verlag für Moderne Kunst, 2017, S. 103. Storr, Robert. »Abstraction/L’Esprit géométrique.« In Louise Bourgeois, hg. von Frances Morris, Paulo Herkenhoff und Marie-Laure Bernadac, 21–130. London: Tate Pub, 2007, S. 76. Vgl. ebd., S. 82. Vgl. Celant, Germano. »Dressing Louise Bourgeois.« In Louise Bourgeois: The fabric works, hg. von Germano Celant und Louise Bourgeois, 13–25. Milano: Skira, 2010, S. 19.

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Die Macht des Kostüms

ne Haus, ein Modell ihres französischen Elternhauses, erinnert an die Kindheit. Ein Teil des Hauses ist der Werkstatt zur Restaurierung von Tapisserie vorbehalten, die die Eltern führen und in der Louise bereits als Kind arbeitet. Die Garnrolle mit dem abgewickelten Faden und den Nähnadeln berufen sich ebenfalls auf diese von Kindheitsbeinen an vertraute, textile Arbeit.

Abbildung 3: Louise Bourgeois, Cell VII, 199833

Louise Bourgeois verinnerlicht eine Reparierbarkeit aller Probleme, ein Ausbessern jeglicher Art von Fehlern mit Hilfe von Schere und Nähzeug. Eine kleine Wendeltreppe führt ins Nichts oder auch in Höheres. Die Spinne, eine Bronzefigur, Symbol für ihre Mutter, die Weberin, schützt alles mit ihrem Netz. Schließlich die wäscheartigen Kleidungsstücke, die in hellem Kontrast zur ansonsten dunkelrot-braun gehaltenen Zelle an Knochen statt Kleiderbügeln von der Decke hängen: And since the fire of the body, which conditions the mind as well, passes through clothing, its material extends on the dress in Cell […] is a frozen and hung epidermis, crystallized and stripped of carnality. This lives elsewhere,

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Metall, Glas, Stoff, Bronze, Stahl, Holz, Knochen, Garn, 207 x 221 x 211 cm. Foto: Christopher Burke. In: Banz/Til/Jocks 2009, S. 271.

1. Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers

stratified in the unconscious »shallows« of the artist who combines and renews it to demolish the »fixity« of fears and torments, illuminating them with a flow of incandescent materials that dissolve, just as the alchemist does, the pathological being and reinvigorates it to embark on other formal and liberating ventures. The empty and hanging cloth is almost an aerial state of the body to which the artist inevitably matches the garment as solid body.34 Die Wahl der Bekleidung erfolgt bewusst, nichts Neues, nichts Unbenutztes, sondern eigene und mütterliche Erinnerungsstücke, die geschichtliche Ereignisse miteinander verstricken, oft – so auch in Cell VII – Nachtwäsche, »because we spend as much time asleep as awake.«35 Die Künstlerin betont das Unmodisch-Sein, dass der Arbeit mit Bekleidung und deren unvermeidbarer Nähe zur Mode automatisch innewohnt. Jedes verarbeitete Kleidungsstück ist mit Beenden des Werkes bereits eines der vergangenen Saison. Ein ähnliches Schicksal ereilt ein zu modisches Bühnenkostüm, das sich bereits in der nächsten Spielzeit als Relikt eines vergangenen Zeitgeistes entpuppt. Das getragene Kleid zieht einen Teil der Vergangenheit in die Gegenwart, in Bourgeois’ Fall immer die kindliche Vergangenheit, deren Faszination und Trauma, die anhaltende Angst des Verlassenwerdens, sie bis ins hohe Alter umtreibt.36 Das textile Kleid vermag nicht geheilte Wunden der Erinnerung zu »reparieren«, so, wie der abgerissene Saum wieder angenäht werden kann.37 Denn alles, was eine Person trägt, gleicht einer flickbaren, »dicken, symbolischen Haut«, die Kleidung als gängige Metapher der zweiten Haut.38 Bekleidung, auch als Skulptur, verbindet sich für Louise Bourgeois immer mit einem persönlichen Erfahrungsschatz. Im Gegensatz etwa zur Literatur, die nur mit dem Geist erfasst und entschlüsselt wird, sind Kleider oder Schuhe erlebbar: »C’est une experience en trois dimenions«.39 Auch Rosemarie Trockels Schaffen kreist, wie bei allen vestimentär arbeitenden Künstlern beobachtet, um den Kern des menschlichen Wesens.

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Celant 2010, S. 18. Herkenhoff, Paulo. »Louise Bourgeois: The unmentionable, blades, fabrics and fashion.« In Fashion and Imagination: About Clothes and Art, hg. von Jan Brand, José Teunissen und Jos Arts, 234–247. Arnhem, 2009, S. 241. Vgl. ebd., S. 244. Celant 2010, S. 14. Herkenhoff 2009, S. 235. Ebd., S. 239.

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Die Macht des Kostüms

Gemeinsamkeiten und Abweichungen im Verhalten stehen am Anfang des Arbeitsprozesses. Der homo sapiens als Rudelwesen zeigt Parallelen zur Tierwelt, die ebenfalls Beachtung in Trockels Werk finden.40 Im Gegensatz zu Bourgeois erschafft Rosemarie Trockel die textilen Objekte ihrer Kunstwerke selbst, greift nicht auf ein vorgefundenes, bereits benutztes oder biofisches Bekleidungserzeugnis zurück. Dies erlaubt ein abstrahierendes Eingreifen in die Kleidungsstücke, die dennoch in ihrer erinnernden Alltäglichkeit lesbar bleiben. Der Schizo-Pullover, ein scheinbar schlichter Rollkragenpullover, aus einem gräulichen Schwarz, in der Regel liegend mit eingefalteten Ärmeln, als schwarz-weiß Fotografie präsentiert, nur selten als Objekt ausgestellt, spannt den Bogen zu Trockels Strickbildern.41 Seine Besonderheit liegt in der Verdoppelung des Halsausschnittes, in der Mehrfachanordnung eine gebräuchliche Formensprache der zeitgenössischen Kunst.

Abbildung 4: Rosemarie Trockel, Schizo-Pullover, 198842

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Vgl. Doherty, Brigid. »Über Eisberg und Wasser: Oder: Malerei und die ›Gattungsmarkierung‹ in Rosemarie Trockels Wollbildern.« In Rosemarie Trockel: Post-menopause, hg. von Rosemarie Trockel und Barbara Engelbach, 42–53. Köln: W. König 2005, S. 43. Vgl. Guinness, Katherine. Schizogenesis: The Art of Rosemarie Trockel. Minnesota: University of Minnesota Press, 2019, S. 1. Foto: Studio Schnaub. In: Anna/Heinzelmann 2001, S. 69.

1. Die vestimentäre Skulptur als Stellvertreter des abwesenden Körpers

Der Schizo-Pullover, in einer weiteren bekannten Darstellung von der Künstlerin selbst und einer Freundin, der Galeristin Esther Schipper, gemeinsam getragen, öffnet mit seinem Titel die Welt der psychischen Krankheit, der Wahnvorstellung, der Frage einer gespaltenen Persönlichkeit, der eigenen Identität im Allgemeinen. Die Doppelträger kommen sich im Pullover sehr nahe, zur Außenwelt mit Wolle abgeschirmt, berührt sich im Inneren die nackte Haut. Die aneinanderstoßenden Arme müssen untergebracht werden, unauffällig verschränkt oder den zweiten Teilnehmer umarmend.43 Der Pullover spaltet nicht nur vermeintlich eine Person in zwei, sondern die Ähnlichkeit der beiden Frauen wurde auch als Doppelung der Künstlerin gelesen. Gleichzeitig vereint er ganz konkret zwei Lebewesen. Rosemarie Trockels Reise zur Erforschung menschlicher Handlungsweise lässt Spielraum zur Interpretation. Ein Kleidungsstück erscheint erneut als anthropomorphische Verbildlichung. Im Werk von Erwin Wurm ist das menschliche Wesen auch in seiner Abwesenheit präsent. Oft mit tiefgründigem Witz und einer für die bildende Kunst ungewöhnlichen Materialwahl – neben einer grasgrünen Strickjacke auch ein Mülleimer, eine Holzleiste – lädt er den Ausstellungsbesucher zur Teilnahme ein. So geben One Minute Sculptures dem Betrachter eine Auswahl von Gegenständen und eine gezeichnete Anleitung zur Ausführung vor. Die Teilnahme erfordert Mut und Humor. Die Stellungen, teils in ausgeklügelter Balance schwer zu halten, müssen 60 Sekunden lang eingenommen werden. Die Lebensnähe der Materialität und die kindliche Freude, den stillen, ehrfürchtigen Verhaltenskodex eines Museums hinter sich zu lassen, sprechen direkt und auf einer emotionalen Ebene an. Die Themen bilden in ihrer Absurdität und Formreduzierung die essenziell Humanen ab, die Fremdwirkung auf andere, die eigene Schamgrenze, »die Tragik menschlichen Scheiterns, körperlicher Schmerz und die Vergänglichkeit des Augenblicks.«44 In einer Abbildung für das Magazin der Süddeutsche Zeitung übernimmt 2020 ein GucciAnzug die für den Museums-Besucher vorgesehene Rolle. Wurm erläutert: Das Bild nimmt Bezug auf meine One Minute Sculptures, die ich vor zwanzig Jahren begonnen habe – mit einem Unterschied: Der Mensch fehlt. Es sieht vielleicht absurd aus, aber eigentlich ist es ein düsteres, fast trauriges Bild 43 44

Vgl. Guinness 2019, S. 4. Schwerdtfeger, Jakob. »Erwin Wurms ›One Minute Sculptures‹ zwischen Komik und Ernst«. In Städel Blog. https://blog.staedelmuseum.de/zwischen-komik-und-ernst-erwin-wurms-one-minute-sculptures. 01.05.2014 [letzter Zugriff am 09.01.2020].

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Die Macht des Kostüms

und wer will, kann sich schon die Frage stellen, wie unsere Erde aussähe, wenn wir Menschen nicht mehr da sind.«45 Wenn wir nicht mehr da sind, bleibt vielleicht Erwin Wurms alltägliche, grasgrüne Strickjacke, zusammengelegt in einem Pappkarton. Auf dessen Schachteldeckel findet sich eine Zeichnung des Künstlers, eine exakten Faltanleitung, wie die Strickjacke in den Karton passt. Daneben stülpt Wurm einen gräulichen Trenchcoat maßgenau über einen Quader, begleitet von einem schlichten Tisch mit vierzehn gewöhnlichen Pullovern einer undurchschaubaren, aber vermeintlichen Ordnung folgend, fein säuberlich an der Wand drapiert. Die grasgrüne Strickjacke und der Trenchcoat finden sich stellvertretend für die Existenz ihrer vermeintlichen Träger ein.46 Ein Kleidungsstück wird zum Kunstobjekt und behält die persönlichen Informationen bei, die auch sein Wesen als Gebrauchsgegenstand ausmachen. Es erzählt so die Geschichte seines vormaligen Besitzers, einer erfundenen Person oder einer fantastischen Begebenheit, ohne dabei die stützende Hilfe eines Körpers zu bedürfen. Der ehemalige Trägerkörper ist überflüssig, da das Kleidungsstück alles Wissenswerte und Emotionale transportieren kann. Der Künstler hat nicht nur die Möglichkeit, diese lebensechten Informationen zu verwerten, sondern sie symbolisch, konträr, humoristisch oder andersartig verfremdet aufzuladen. Das Bühnenkostüm ist somit vergleichbar mit einem zum Kunstwerk erklärten Kleidungsstück. Es vereint alle notwendigen und gewünschten Informationen zur Figur, wandelt sie in ein theatrales Zeichen und kann diese auch unabhängig vom tragenden Körper des Darstellers vermitteln. Der Zuschauer akzeptiert dieses Kostümteil als theatrales Zeichen und sieht in ihm nicht mehr den Alltagsgegenstand, ebenso wie der Betrachter einer vestimentären Skulptur dieses Objekt zur Kunst erhöht.47

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Wurm, Erwin. »Träum was Schönes«. In Süddeutsche Zeitung Magazin 36/2020, 12–32, S. 16. Vgl. Golonu, Berin, Geraldine Barlow, René de Guzman und Erwin Wurm. Hg. Erwin Wurm: I love my time, i don’t like my time. Ostfildern: Hatje Cantz, 2004, S. 69, S. 54, S. 60. Vgl. Loschek 2007, S. 20f.

2. Die drei Basisfunktionen des Bekleidens

»Nackt wird der Mensch geboren, der Lebende aber bekleidet sich« fasst Max von Boehn in Bekleidungskunst und Mode 1918 schlicht zusammen, dass in den meisten Zivilisationen das Bekleiden eine unumgängliche und zweifelsfreie Tatsache ist.1 Der Lebende bekleidet sich ganz selbstverständlich und unabhängig von meteorologischen Faktoren. Der Mensch ist heute, sollte er nicht Mitglied eines Naturvolkes sein, bis auf wenige situationsbedingte Ausnahmen in der Öffentlichkeit bekleidet. »Der soziale Mensch ist ein bekleideter Mensch.«2 Diese Aufgabe – den nackten Körper zu bedecken – erfüllt die Bekleidung. Unter ihre Begrifflichkeit fallen unterschiedlichste körperverhüllende Gegenstände. Es besteht in der Literatur Einigkeit darüber, dass sich der Mensch hauptsächlich aus drei Gründen – aus Scham, zum Schutz und zum Schmuck – beginnt zu bekleiden. Die Idee des Schmuckes zeigt bereits, dass das Bekleiden auf mehr abzielt als auf das konkrete Ansinnen, extreme Witterungsbedingungen oder ungewollt intime Blicke abzuhalten. In der Absicht des Schmückens steckt in der Regel bereits der Wunsch, sich selbst bestmöglich darzustellen. Das eigene Ich wird in subjektiver Weise optimiert, verbildlicht und bekommt dadurch einen materiellen Wert.3 Kleidungsstücke verhüllen nicht nur den Körper, sondern geben eine Vielzahl an Informationen über ihren Träger preis. Ein Kleidungsstück beschränkt sich nur schwer auf die drei Basisfunktionen, seine Aufgabe ist weitaus komplexer, seine Begrifflichkeit erfordert Ausweitung. Kleidung ist ein »dreidimensionales

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Boehn, Max von. Bekleidungskunst und Mode. München: Delphin, 1918, S. 7. Mentges, Gabriele. »Kleidung als Technik und Strategie am Körper: Eine Kulturanthropologie von Körper, Geschlecht und Kleidung.« In Zweite Haut: Zur Kulturgeschichte der Kleidung, hg. von André Holenstein, 15–42. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 2010, S. 18. Vgl. ebd., S. 18.

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Die Macht des Kostüms

Objekt, das eine vielschichtige Materialität besitzt und in enger Beziehung zum menschlichen Körper, seiner Geschichte und zur Umwelt steht.«4 Kleidungsstücke bestimmen im Wesentlichen den ersten Eindruck einer Person und bilden die Grundlage der Fremdeinschätzung des Gegenübers. Dies verleiht dem Bekleiden Bedeutungskraft und Einfluss auf das soziale Miteinander in einer Gesellschaft. Neben dem gewöhnlich unbekleideten Gesicht und den Händen tritt als erstes die alles andere verdeckende Kleidung in Erscheinung. Die Details von Gesicht und Hand, sowie Mimik und feine Gestik tauchen aus kurzer Distanz auf, Bekleidung wirkt jedoch bereits aus einiger Entfernung – noch vor dem ersten Wortwechsel. Es werden wesentlich mehr Rückschlüsse auf eine Person durch ihre Kleidung gezogen als durch die sichtbaren »nackten« Körperstellen.5 Dies gilt sowohl für den Alltag als auch für die Bühne. Die Bekleidung ist Übermittler zwischen Innen- und Außenwelt ihres Trägers. Sie schützt vor äußeren Einflüssen und sendet gleichzeitig Signale nach außen. Kleidung ist »ein Objekt besonderer Art, insofern sie unmittelbar und allgegenwärtig mit dem Körper, d.h. mit dem Subjekt verbunden ist. Sie ›verschmilzt‹ mit ihm.«6 In einem aktiven Entscheidungsprozess werden einzelne Körperteile mit bewusst ausgewählten Kleidungsstücken verdeckt oder entblößt und so einzelne Aspekte der Persönlichkeit herausgearbeitet, verstärkt oder versteckt.7 Ein schmückendes Kleidungsstück erfreut seinen Besitzer, den es gleichzeitig als soziales Wesen kategorisiert. Ein Gewand kapselt seinen Träger in einen schützenden Kokon vor meteorologischen Einflüssen, die Krankheiten auslösen, aber auch im übertragenen Sinn vor der eigenen Paranoia; es ist eine Waffe gegen die restliche Welt, gegen die es sich zu positionieren gilt.8 »Die Kleidung bietet den unmittelbaren Zugriff auf den menschlichen Körper, sie ist das Scharnier, den Körper in kulturelle Prozesse einzubinden, ihn zu disziplinieren, zu gestalten und zu formen.«9 Analog

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Ebd., S. 36. Vgl. Flügel, John Carl. »Psychologie der Kleidung.« In Die Listen der Mode, hg. von Silvia Bovenschen, 208–263. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 208. Mentges 2005, S. 22. Vgl. Lütgens, Annelie. »Zwischen Haut und Kleid.« In Art & Fashion: Zwischen Haut und Kleid, hg. von Markus Brüderlin und Annelie Lütgens, 93–102. Bielefeld: Kerber, 2011, S. 93. Vgl. Celant 2010, S. 14. Mentges 2010, S. 36f.

2. Die drei Basisfunktionen des Bekleidens

dazu bindet das Bühnenkostüm die Figur in das Regiekonzept und die Inszenierung ein, für die sie den Körper des Darstellers sowohl gestaltet, als auch in weiten Zügen formt. Die drei Grundfunktionen des Bekleidens spiegeln sich auch in der ästhetischen Welt der bildenden Kunst wider. Louise Bourgeois etwa beruft sich in ihrem Werk auf alle Basisfunktionen der Bekleidung.

2.1. Bekleiden aus Schamgefühl Kleidung erfüllt also die sogenannten Basisfunktionen von Schutz, Schmuck und aus Schamgefühl.10 Dagegen lässt sich einwenden, dass Scham, insofern sie sich auf das Bloßstellen des Nackten bezieht, nicht zu den Ursprungsfunktionen zählt, da Schamgefühl ein Kulturprodukt ist, das sich spätestens mit dem Alten Testament etabliert. Mit dem vermeintlichen Vertreiben von Adam und Eva aus dem Garten Eden und deren schamhaften Gewahrwerdens ihrer eigenen Nacktheit wird das Bekleiden zum Muss des tugendhaften Menschen. Die Nacktheit, der eigentliche, natürliche Zustand, gilt als zu nahe am tierischen Ursprung der menschlichen Spezies. Als Verkörperung des Triebhaften, Animalischen und somit Sündhaften steht sie der intellektuellen und spirituellen Welt gegenüber, deren Anhänger sie argwöhnisch betrachten. Nur in der Entfernung vom Tierischen und dem Anstreben des reinen Geistes kann sich der Mensch dem Göttlichen annähern. So wandelt sich der intuitive Leib in den kulturell gebändigten, Verstand gesteuerten Körper. In der westlichen Zivilisation geht das Diktat des unreinen und daher zu bedeckenden Körpers so weit, dass es bis ins 19. Jahrhundert hinein selbst im privaten Umfeld der Familie üblich war, sich nie unbekleidet zu zeigen.11 »Das Gefühl der Schamhaftigkeit, welche den Menschen antreibt, sich mit Kleidern zu bedecken«,12 ist also ein anerzogenes und kulturbezogenes. Bis heute zeigen zivilisationsunabhängige Naturvölker, dass eine gänzlich unbekleidete Lebensform durchaus und ohne jedes Schamgefühl möglich ist.13 Auf der Bühne kann es gelingen, den unbekleideten Darsteller als natürlich und dramaturgisch notwendig erscheinen zu lassen. Jürgen Rose schickt Jens Harzer 1999 als Polydoros in Dieter Dorns Inszenierung von Hekabe an den Münchner Kammerspielen bis auf eine

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Vgl. Flügel 1986, S. 209. Vgl. McDowell 2013, S. 7f. Flügel 1986, S. 210. Vgl. Pape 2008, S. 51f.

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Die Macht des Kostüms

Flügelpaarkonstruktion am Rücken und etwas Körperschminke nackt auf die Bühne. Der tote, aus dem Meer geborgene Lieblingssohn der Hekabe scheint als Wesen nicht mehr von dieser Welt, in den nackten Urzustand des Geborenwerdens zurückversetzt, keiner weltlichen Bekleidung mehr zu bedürfen und tritt in voller Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit unbekleidet auf.

Abbildung 5: Jens Harzer in Hekabe, 199914

Aufblitzende nackte Gesäße, die Offenbarung barbusiger Wahrheiten oder andere skandalträchtige Effekthascherei birgt eine Gefahr in sich. Nacktheit auf der Bühne führt die Nähe und Verletzbarkeit des Darstellerkörpers vor Augen, der in diesem Moment, der schützenden Hülle des Kostüms beraubt, sein ganz subjektives Ich-Sein zur Schau stellt.15 Die Urform des instinktiven Leibes scheint durchzublitzen.16 Dem Akteur fehlt der verhüllende Kokon der 14 15 16

Foto: Oda Sternberg. In: Zehle, Sibylle. Jürgen Rose. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2014, S. 288. Vgl. Alloa/Depraz 2019, S. 11. Vgl. Lippe 1988, S. 221.

2. Die drei Basisfunktionen des Bekleidens

Kostümierung, der eine stoffliche und räumliche Distanz zwischen seiner Persönlichkeit als Privatperson und der Rolle aufbaut. Durch die Abwesenheit der die Figur charakterisierenden Kostümschicht besteht die Gefahr, den Zuschauer aus der Bühnenhandlung zu katapultieren. Dieser nimmt nicht mehr die Rollenfigur wahr, sondern den realen Körper des Schauspielers, den des wirklichen Menschen. Neben einem nun gesteigerten Interesse des Betrachtens an dem Akteur als Privatperson kann dies auch ein beschämtes Abwenden verursachen. Entsprechende Reaktionen werden gezielt und bewusst eingesetzt. 2010 etwa sitzen in Alvis Hermanis Inszenierung von Jack Londons Ruf der Wildnis an den Münchener Kammerspielen sechs Hunde mit ihren sechs Herrchen bzw. Frauchen auf sechs Sofas und sprechen über ihr Leben. Im Zuge der Handlung kommt es dazu, dass Benny Claessens selbst auf allen Vieren krabbelnd an einer Leine über die Bühne geführt wird. Die Hose seines Kostüms rutscht dabei so weit nach unten, dass sein offensichtlich eigenes, halbes Gesäß herausschaut und ein entrüstetes Raunen in einem Teil des Publikums nach sich zieht. Das Spiel mit der fremden nackten Haut und dem dadurch hervortretenden, eigenen Unwohlsein funktioniert nicht nur auf der Bühne, sondern auch in der Kunst. Dass es genügt, die Scham zu entblößen, um Scham zu empfinden, beweist 1968 die völlig angezogene Valie Export in ihrer skandalumwitternden Performance mit begleitender Fotoserie Aktionshosen: Genitalpanik (vgl. Abbildung 6). Sie stürmt zuerst in Lederjacke und Jeans, mit ausgeschnittenem Schambereich ein Porno-Kino und lässt sich später in diesem Outfit mit einem Maschinengewehr in der Hand, provokant in die Kamera blickend, ablichten. »Die Aktion, in der Exports Körper als Waffe eingesetzt wurde, um die Vorstellung des Kinos als Freiraum für die Projektion von Männerfantasien anzugreifen, wurde von ihr als ›erweitertes Kino‹ bezeichnet.«17 Das Foto verbreitete die österreichische Künstlerin, die sich intensiv mit Gender-Fragen auseinandersetzte, vielfach, um sich medienwirksam Gehör zu verschaffen.

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Aaronson, Deborag, Diane Fortenberry und Rebecca Morrill. Kunst und Körper, Berlin: Phaidon, 2016, S. 200.

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Abbildung 6: Valie Export, Aktionshose: Genitalpanik, 196918

Unter Scham fällt aber auch viel allgemeiner ein persönliches Unzufriedensein und der damit einhergehende Wunsch, empfundene körperliche Mängel zu verstecken. Sie steht damit in direktem Gegensatz zum Ziel des Schmückens, das gerade positive Merkmale des Körpers hervorheben möchte.19 In beiden Fällen – von Scham und Schmuck – besteht eine Verbindung zur Sexualität. Versucht die Feigenblatt-Methode Sexualität zu unterbinden, besteht ein Großteil des Schmuckes darin, den Blick auf die körperliche Attraktivität zu lenken.20 Der Schmuck spielt eine entscheidende Rolle bei der Verführung.21 Das Verstecken des Körpers schützt hingegen vor der Verlockung und richtet den Fokus auf die geistige Welt des Kleidungsträgers.

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Foto: Peter Hummel. In: Schimmel, Paul. Hg. Out of actions: Zwischen Performance und Objekt 1949–1979. Ostfildern: Hatje Cantz, 1998, S. 267. Vgl. Flügel 1986, S. 212. Vgl. ebd., S. 216. Vgl. McDowell 2013, S. 7.

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Besonders die Frau musste vom Mittelalter bis hin zur Neuzeit ihren Körper, das »Haus der Seele«, gegen Einflüsse des Bösen abschotten, indem sie möglichst viele Stoffschichten um sich herum aufbaut.22 Auch heute verspricht ein Kokon aus Kleidungsstücken Sicherheit und Geborgenheit: »Ich habe gerne viele Lagen zwischen mir und der Welt«, sagt der kanadische Künstler Sherwin Tija.23 Eine Anhäufung von Material verändert die Körperwahrnehmung. Die Gestalt lädt aus, die Bewegungen nehmen mehr Raum ein. Die natürliche Beschaffenheit eines Körpers wird bewusst und zielgerichtet verändert.24 Das textile Volumen kann die Selbstsicherheit seines Trägers erhöhen.25 Das Designer Duo Viktor & Rolf baut in seiner Herbst-Show Russian Doll von 1999 eine raumgreifende Hülle auf. Eine einzige Dame trägt einer Matrjoschka gleich alle acht Entwürfe dieser Kollektion gleichzeitig übereinander. Das Modell steht unbeweglich auf einem sich drehenden Podest in der Raummitte und wird von den Designern selbst Schicht für Schicht bis zu einem halslosen Kegel, aus dem nur noch das Gesicht ragt, angezogen.26

2.2. Bekleiden zum Schutz Die grundsätzliche Schutzbedürftigkeit des Körpers und die Notwendigkeit, ihn durch Kleidung vor gesundheitsschädlichen Faktoren zu bewahren, ist offensichtlich. Bekleidung schützt nicht nur vor Wind, Wetter und Sonnenbrand, sondern speziell entwickelte Kleidungsstücke helfen im Arbeitsumfeld auch gegen ätzende Säure, Stoß-, Schnitt- und Quetschverletzungen. Helme, kugelsichere Westen und Raumanzüge ermöglichen das Arbeiten unter Extrembedingungen. Kleidungsstücken werden über diese konkrete materielle Protektionsfunktion zudem magische Fähigkeiten zugesprochen. Die Urschutzfunktion ist – wie es scheint – untrennbar mit der Urschmuckfunktion verbunden. Das Urkleidungsstück bestand wohl aus Fellen gejagter und erlegter Tiere. Die tierischen Häute wärmen nicht nur den Körper und schützen vor Nässe und Verletzungen, sondern bezeugen gleichzeitig die Jagdfertigkeit

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Vgl. Pape 2008, S. 50. Sherwin Tija in Shapton/Heti/Julavits 2015, S. 145. Vgl. Boehn 1918, S. 51. Vgl. Pape 2008, S. 51. Videodokumentation der Show: https://www.viktor-rolf.com/collection/haute-coutur e-russian-doll-autumn-winter-1999 [letzter Zugriff am 28.12.2020].

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und Tapferkeit ihres Trägers. Neben der praktischen Schutzform dekorieren Pelze zusammen mit Geweihen, Hörnern, Zähnen oder Knochen der niedergestreckten Beute, aber auch der besiegten Gegner, den Körper. Die erbeuteten Schätze symbolisieren den Erfolg des Jägers oder Kriegers.27 Sie dienen als Talisman gegen das Böse. Die Trophäen werden wiederum zur Jagd getragen, um gemeinsam mit Hautbemalungen, Tätowierungen und verschiedenen amulettartigen Gegenständen Unheil abzuhalten und Erfolg bei der Nahrungsbeschaffung zu garantieren.28 »Einige Fachleute neigen zu der Ansicht, dieser magische Zweck der von den Menschen getragenen Gegenstände sei zeitlich noch früher anzusetzen als der ornamentale und stelle daher das eigentliche Motiv der ersten Anfänge der Kleidung dar.«29 Er würde demnach der Theorie entsprechen, »wonach im Allgemeinen die frühesten Formen der Kunst einem nützlichen (d.h. magischen) und weniger einem ästhetischen Zweck dienten.«30 Das Tragen von Schmuckstücken als Glücksbringer, die Erfolg verheißende Wirkung eines gutsitzenden Anzuges oder der das Selbstbewusstsein umschmeichelnde, hohe Absatz stärken auch heute noch ihre Träger im Alltag. Obwohl ich viele Kleider in meinem Leben besaß, gab es ein paar, die eine besondere Rolle spielten – nicht unbedingt die schönsten oder schmeichelhaftesten, sondern einfach Einzelteile, die aus irgendeinem Grund an einem bestimmten Punkt in meinem Leben besondere Kräfte hatten – die Macht, mich zu verwandeln, wenn ich sie anzog.31 Die Bandbreite der Schutzfunktion der Kleidung reicht aber auch hin bis zur extremen Interpretation von Hussein Chalayan in seiner Show Afterwords, aufgeführt im Sadler’s Well Theater in London im Jahre 2000. Der britische Modedesigner und Universitätsprofessor mit türkisch-zypriotischen Wurzeln beschäftigt sich in seiner Arbeit mit abstrakten Versionen des Themas »Reise« und der dabei entstehenden Schutzbedürftigkeit des Menschen. Die Reise des Lebens vom Moment des Geborenwerdens bis in den Tod, die Reise der Selbstfindung, die reisende, flexible Lebensweise des 21. Jahrhunderts mit ständig

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Vgl. Flügel 1986, S. 219f. Vgl. Pape 2008, S. 50f. Flügel 1986, S. 249. Ebd. Die New Yorker Autorin Sadie Stein. In: Shapton/Heti/Julavits 2015, S. 67.

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wechselndem Lebensmittelpunkt und mehr oder weniger freiwilliger Mobilität, wie auch die aufgezwungene Reise durch Krieg und Migration.32 In Afterwords zerlegen die Models eine Wohnzimmer-Sitzgruppe in ihre Bestandteile. Sie ziehen die Stuhlbezüge ab und streifen sie sich als Kleider über, ein Tisch wird zum Rock, die zusammengelegten Stühle mutieren zu Koffern.

Abbildung 7: Hussein Chalayan, Afterwords, Herbst/Winter 200033

Eine Dame tritt in die Tischmitte und faltet sich den Tisch spiralförmig, einem Reifrock ähnlich, bis zur Hüfte auf. In wenigen Momenten wird die Zimmereinrichtung des schützenden Zuhauses »angezogen« und mitgenommen, eine ästhetisch-stilistische Spielerei, aber ebenso symbolische Anspielung auf den überstürzten Aufbruch eines Vertriebenen in einer Kriegssituation. Kleidungsstücke führen die Schutzfunktion eines architektonischen Raumes weiter.34 Die Kleidung als Ersatz einer Wohnstätte – eine multifunktionale Transport- und Überlebensausstattung zur gleichen Zeit – bildet auch den Ausgangspunkt der Arbeit von Lucy Orta, der englischen Künstlerin, die ihre Karriere im Modedesign begann. Auch sie verarbeitet das Leid von Menschen, die ihr Zuhause verlieren und der damit verbundenen Suche nach

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Vgl. Loschek 2007, S. 80ff. Fotos: Chris Moore. In: Violette, Robert. Hg. Hussein Chalayan. New York: Rizzoli, 2011, S. 242 (links) und 246 (rechts). Vgl. Mechelen van, Marga. »Performance in fashion and art.« In Fashion and Imagination:About Clothes and Art, hg. von Jan Brand, José Teunissen und Jos Arts, 104–115. Arnhem: ArtEZ Press, 2009, S. 111.

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einer Überlebensmöglichkeit auf der Straße.35 Orta entwickelt zusammen mit Obdachlosen Modeschauen aus Second-Hand-Kleidung. Die Präsentation der eigenen Person in einem selbst kreierten Äußeren lässt ein positives Körpergefühl wieder aufleben und stärkt das Selbstbewusstsein. Neben dieser direkten Arbeit mit Betroffenen, immer in Zusammenspiel mit vermeintlich für jeden zugänglichen Alltagsgegenständen, verbildlicht die Künstlerin das Schicksal von Menschen am Rande der Gesellschaft anhand abstrahierter Schutzkleidung. Die entstehende Kombination aus Modedesign und Wohnraum mit den Faktoren der notwendigen Mobilität und Funktionalität spiegelt soziale und politische Belange wider. In der Refuge Wear finden – als realer Schutz der Obdachlosen oder Migranten vor Regen und Kälte – moderne, funktionale Materialien Verwendung.36 Die Refuge Wear in ihrer ersten Version, entstanden 1991, beschäftigt sich mit dem Thema, inwieweit ein Kleidungsstück zum »Dach über dem Kopf« seines Trägers werden kann. Zelt- oder auch schlafsackartige Umhänge mit Kapuze und verschiedenen Öffnungen, tragbar auch von mehreren Menschen miteinander, sind Mantel und Haus zugleich. Ortas Nexus Architecture, ebenfalls aus den 1990er Jahren, Ganzkörperoveralls mit Öffnungen und Verbindungsmöglichkeiten an allen vier Seiten, bieten einen schützenden Kokon für den Nomaden. Er kann sich netzartig mit Gleichgesinnten verbinden und findet so Unterschlupf in der »Herde« Mensch. Erstmalig als Experiment auf der Straße mit Passanten durchgeführt, werden fünfzig mit Schutzanzügen Bekleidete ohne jegliche vorherige Verbindung zueinander am Kölner Dom zu den Akteuren in Ortas Performance. Spätere Versionen dieser Arbeit finden mit professionellen Schauspielern und Choreografen statt.37

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Vgl. Jocks, Heinz-Norbert. »Im Aufbruch zur digitalen Identität: Ein Gespräch mit dem Modedesigner Walter van Beirendonck.« In Kunstforum International: DRESSED! Art en Vogue, hg. von Claudia Banz, Barbara Til und Heinz-Norbert Jocks, 100–111. Roßdorf: TZ-Verlag, 2009a, S. 165f. Vgl. Orrell, Paula, Jorge Orta und Lucy Orta. Lucy + Jorge Orta pattern book: An introduction to collaborative practices. London: Black Dog Publishing, 2007, S. 24. Vgl. Heinzelmann, Marcus. »Wie die Mode untragbar wurde.« In Untragbar – Mode als Skulptur, hg. von Susanne Anna und Marcus Heinzelmann, 11–23. Ostfildern: Hatje Cantz, 2001, S. 20f.

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Abbildung 8: Lucy Orta, Nexus Architecture x 50 – Nexus type Operation Life Nexus, 200038

Lucy Ortas Arbeiten verweben Kleidung mit Architektur, politischer Kunst und performativer Interaktion. Im Gegensatz zu Künstlern wie Joseph Beuys oder Louise Bourgeois, deren verwendete Kleidungsstücke biografische Bezüge aufweisen, deren Ästhetik die Geschichte oder die Persönlichkeit der Künstler widerspiegeln, beruft sich Orta stark auf den sozialen Aspekt des Bekleidens. Der Selbstreferenz, dem Stellvertretertum des Kleidungsstückes für das eigene, künstlerische Schaffen, steht ein Arbeiten mit und für einen schutzbedürftigen Personenkreis gegenüber. Lucy Orta rückt eine oft übersehene und marginalisierte Gruppe in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die konstruierten schützenden Hüllen – hier nun stellvertretend für die Hilfsbedürftigen – werden hängend in Museumsräumen präsentiert. Noch ein anderer Gegenstand des konkreten Schutzes des menschlichen Körpers hat in diesem Jahrzehnt traurige Berühmtheit erlangt. Als symptomatische Bekleidung der großen Flüchtlingsströme, wird die orangene Schwimmweste zum Stellvertreter der Vertriebenen. Als mahnendes und oft einzig übriggebliebenes Objekt eines Einzelschicksals an die Strände gespült, als Bild in den Köpfen des Publikums verankert, nimmt sie Einzug in Ausstellungsräume und auf Theaterbühnen als aktuelle Referenz des Zeitgeschehens.

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Foto: Peter Guenzel. In: Anna/Heinzelmann 2001, S. 52.

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Einen ganz anderen, den Körper schützenden Ansatz liefert Jana Sterbak mit Vanitas: Kleid aus Fleisch für eine albinotische Anorektikerin. Sie bedeckt den fleischlichen, menschlichen Körper mit 27 kg rohen, gesalzenen und aneinander genähten Steaks, die während der Performance bzw. der Ausstellung trocknen.39 Sterbak möchte grundsätzlich durch die Wahl ihrer alltäglichen Materialien auch ein Publikum ansprechen, das nicht dem klassischen, vorgebildeten Museumsgänger entspricht.40 Die Künstlerin verhandelt in Installationen, Zeichnungen, Performances, Skulpturen und Filmen das zeitgenössische, zwischenmenschliche Konfliktpotential, das sich zwischen intimem und öffentlichem Leben abspielt. Ihre Materialien sind vergänglich. Eis, Fleisch, Schokolade und Brot, stehen unmittelbar als »Metaphern für gesellschaftliche und physische Prozesse«41 . Das Verwenden von Lebensmitteln in der Kunst gilt als Provokation. Sterbak stellt jedoch mit dem Material »Essen« eine große emotionale, menschliche Verbindung her, da jeder es buchstäblich mit seinen Organen aufnehmen kann. Das Fleisch ist dabei besonders bedeutungsgeladen, nicht nur verzehrbar, sondern als Grundstoff des Menschen. »Ausgangspunkt […] war mein eigenes Unbehagen im Umgang mit dem Fleisch«, so Jana Sterbak.42 Ihre Arbeiten schränken wiederholt den Körper ein und verweisen so auf den moralischen oder gesellschaftlichen Druck auf das Individuum.43 Die Eitelkeit, die Vergänglichkeit, das Weibliche als Stück Fleisch, ungesunde Schönheitsideale, falscher Modekonsum und versteckte körperliche Makel können aus der Arbeit herausgelesen werden.44 Die Künstlerin stellt Vanitas: Kleid aus Fleisch für eine albinotische Anorektikerin für jede Performance neu her, im An-

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Vgl. Sykora, Katharina. »Subtraktion – Addition: Von angetragenen Hüllen und Stoffen, die auftragen.« In Untragbar – Mode als Skulptur, hg. von Susanne Anna und Marcus Heinzelmann, 90–98. Stuttgart, 2001, S. 94. Vgl. Nordal, Bera. »Interview mit Jana Sterbak: The Conceptual Object.« In Jana Sterbak – the conceptual object, hg. von Jana Sterbak und Bera Nordal, 88–96. Malmö: Konsthall, 2002, S. 90. Vgl. Dinkla/Tabassomi/Sterbak 2017, S. 10. Sterbak, Jana und Lena Nievers. »Der Lauf der Zeit: Jana Sterbak im Gespräch mit Lena Nievers.« In Jana Sterbak: Life-size, hg. von Söke Dinkla, Nina Tabassomi und Jana Sterbak, 68–72. Wien: Verlag für Moderne Kunst, 2017, S. 69. Vgl. Banz, Claudia. »Das politische Kleid.« In Kunstforum International: DRESSED! Art en Vogue, hg. von Claudia Banz, Barbara Til und Heinz-Norbert Jocks, 126–149. Roßdorf: TZ-Verlag, 2009, S. 138. Vgl. Brand/Teunissen/Arts 2009, S. 278.

2. Die drei Basisfunktionen des Bekleidens

schluss wird es auf einem Metallständer präsentiert, wo sich der Dörrprozess vollzieht.

Abbildung 9: Jana Sterbak, Vanitas – Kleid aus Fleisch für eine albinotische Anorektikerin, 198745

Die geschnittenen Steaks und deren sichtbaren Nähte des Zusammensetzens evozieren einen gewaltsamen Prozess, den des Zerstückelns, Schlachtens und Tötens. Das Ausdörren des Fleisches – des Kleides und auch des Leibes – hält am Ende den Tod bereit. Selbstzerfleischende Vorgänge stellen die Identität in Frage. Das durch die Haut verborgene Innerste des Körpers scheint nach außen gestülpt, die der Bekleidung innewohnende Funktion des Schutzes ausgehebelt. »Semiotische Gleichzeitigkeit, die Mehrdeutigkeiten und das

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Farbfotografie einer Performance mit Steak, Salz und Faden, 19 x 14,5 cm. Jana Sterbak. In: Banz/Til/Jocks 2009, S. 266.

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Die Macht des Kostüms

Durchkreuzen scheinbar gegenläufiger Interpretationen« durchziehen Sterbaks Werk.46 Lady Gaga trägt medienwirksam zu den MTV Awards 2010 eines dieser Fleischkleider.

2.3. Bekleiden als Schmuck Der Bereich des Schmuckes ist der am breitesten gefächerte der drei Basisfunktionen der Kleidung. Auch wenn die Begriffe Scham und Schutz wesentlich weitläufiger zu verstehen sind als das reine Bedecken der intimen Körperzonen und der Schutz des gesamten Organismus vor Umwelteinflüssen, eröffnet die Kategorie Schmuck die variantenreichsten Möglichkeiten. Im Schmuck zeigen sich die kommunikative Fähigkeit der Bekleidung und ihre soziale Komponente. In ihm findet der Träger das größte kreative Potenzial, das die Kleidung zu bieten hat. Schmückende Komponenten gehen zurück bis zum Beginn des Bekleidens und sind fester Bestandteil in allen Kulturen der Welt. Die traditionelle Tracht einer jungen Frau aus Ladakh zum Beispiel, einer schwer zugänglichen Region im Hochgebirge zwischen Karakorum und Himalaya, deren kulturelles Leben und Bräuche sich seit 2000 Jahren kaum verändert haben, umfasst neben wärmenden Pelzumhängen einen opulenten Schmuck aus Perlen, Türkisen und Bernstein.47 Dass der Schmuck wohl seit jeher über die vorgeblich essenziell-praktischeren Bereiche von Schutz und Scham gestellt wird, beweist auch die Tatsache, dass schon 1500 Jahre vor Christus transparente Kleider – aus praktischer Betrachtung sinnlose Kleidungsstücke – existieren.48 Doch verschönert der Schmuck nicht ausschließlich die äußerliche Erscheinung, er weist auf weitere soziale Prozesse hin. Die Kleidung bindet den »menschlichen Körper in Prozesse der Disziplinierung, Erziehung, Ästhetik, Kommunikation, Medialität und Verbildlichung« ein, sie bildet die »Basis für soziale Hierarchien«49 . Die amerikanische Künstlerin Andrea Zittel beschäftigt sich in ihrem Werk vorrangig mit der Untersuchung der Lebensgewohnheiten der menschlichen 46

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Dinkla, Söke, »I want you to feel the way I do: Emphatie und Material im Werk von Jana Sterbak.« In: Jana Sterbak: Life-size, hg. von Söke Dinkla, Nina Tabassomi und Jana Sterbak, 16–23. Wien: Verlag für Moderne Kunst, 2017, S. 16. Nelson, Jimmy und Mark Blaisse. Before they pass away: Jimmy Nelson. Kempen: teNeues-Verl., 2015, S. 234. Vgl. McDowell 2013, S. 23. Mentges 2010, S. 18.

2. Die drei Basisfunktionen des Bekleidens

Spezies. Da sie sich durch die Notwendigkeit des alltäglichen Bekleidens, des aufgezwungenen, täglichen Schmückens zum Entsprechen gesellschaftlicher Normen einer »Tyrannei des Wechsels« ausgesetzt sieht, entsteht die Six Month Uniform. Die Arbeit erstreckt sich über mehrere Jahre, in denen die Künstlerin ein selbst angefertigtes Kleid über einen Zeitraum von sechs Monate täglich trägt, bis es von einem neu designten Modell abgelöst wird.50 Den sozialen Zwang zur täglichen vestimentären Selbstdarstellung leid, möchte sich Zittel nur noch klimatischen Bedingungen unterwerfen. Sie klammert somit die Bekleidungs-Basisfunktion des Schmuckes größtenteils aus und bedient sich nur der notwendigen, funktionalen des Schutzes. Auch wenn ihre Entwürfe natürlich ihrer eigenen Ästhetik und ihrem Geschmack entsprechen und einer Attraktivität nicht entbehren, folgt Zittel so dennoch konsequent der Leitlinie ihres Schaffens, sich rein auf existentielle Grundbedürfnisse zu beschränken und deren Notwendigkeit zu erforschen: »Vergleicht man die Physiologie von Menschen und Tieren, so fällt auf, wie empfindlich der menschliche Körper ist – und wie sehr unser Überleben von Architektur und Kleidung abhängt.«51 Neben ihren Selbstversuchen, um den sozialen Bekleidungsgewohnheiten zu entfliehen, reduziert sie den benötigten Wohnraum experimentell auf ein Minimum. Eine der ersten bewohnbaren Installationen, ihr sollen noch viele folgen, A-Z Living-Units, entsteht 1993 und umfasst lediglich eine Art kleinen, klappbaren Reisekoffer auf Rollen, handlich, um durch jede Tür zu passen, ein Feldbett mit Stühlen anbietend.52 Die Six Month Uniforms beginnen im Frühjahr 1991 mit einem »einfachen ärmellosen Leinengewand, das den Übergang von einem nicht-klimatisierten Atelier in Brooklyn zu einem Bürojob in einer Galerie in Soho erleichtert.«53 Gefolgt werden sie von der Winterversion 1991/92, mit gleichem, schlichtem Schnitt, aber aus schwerem, warmen Seidenbatist kombiniert mit einer weißen Bluse, Strumpfhose und Stiefel, um dem New Yorker Winterwetter Rechnung zu tragen. Frühjahr Sommer 1992 orientiert sie sich nach wie vor an der Silhouette des Vorjahres und entwirft ein gerades, schwarzes, geschlitztes knielanges Kleid ohne Ärmel aus Seide. Darunter trägt Zittel Leggins mit

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Vgl. Aaronson/Fortenberry/Morrill 2016, S. 75. Zittel, Andrea und Felix Zdenek. Hg. Personal programs – Andrea Zittel. Ostfildern: Hatje Cantz, 2000, S. 34. Vgl. ebd., S. 21. Ebd., S. 26.

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Die Macht des Kostüms

einem gestreiften langärmeligen T-Shirt. So passt sich die Uniform ihren Lebensbedürfnissen an: Im Atelier zieht die Künstlerin das Kleid aus und kann, ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, frei arbeiten, ansonsten ist sie jedoch mit dem Überstreifen des Kleides in der Öffentlichkeit angemessen angezogen. Im Sommer 1993 wandeln sich Zittels Alltagsbeschäftigungen, sie legt sich eine Hühnerfarm auf ihrem Dach zu und muss die Bewegungsfreiheit des Kleides dem Anspruch, eine Sprossenleiter erklimmen zu können, anpassen. Der schmale Rockteil wird daher zu einem weiten, glockigen Rock, den sie über einer Hose trägt. Der Farbe schwarz bleibt sie in der neuen Leinenkombination treu.54 1993 führt zu einem Wendepunkt im textilen Schaffen, die A-Z Personal Panels lösen die A-Z Uniforms ab: Nach dreijähriger Produktion von Uniformen wurde es immer schwerer, jede Saison einen neuen Stil zu entwerfen. Um diesen Prozess zu vereinfachen, waren bestimmte Regeln und Richtlinien nötig. Bedeutenden Einfluss hatten dabei die russischen Konstruktivisten, die vornehmlich aus geometrischen Formen entwickelte Kleidungsstücke schufen. Die Konstruktivisten bevorzugten dieses Design, weil der Stoff in rechteckigen Formen gewebt ist, und sie der Ansicht waren, dass er deshalb nicht zerschnitten und zu fremden Formen zusammengenäht werden durfte. Die A-Z Personal Panels wurden durch diese leicht absurde aber völlig vernünftige Regel inspiriert und führten zu der extremen Schlussfolgerung, nur noch Kleidungsstücke rechteckiger Form zu entwickeln.«55 Diese schürzenähnlichen Umhänge existieren in etwa 45 verschiedenen Varianten. Das scheinbar streng reduzierte Kleidungsstück erlaubt durch die Änderung von Material, Farbe, Verschlussform oder das etwaige Aufbringen einer Tasche unzählige Kreationen, von der Ästhetik einer Gartenschürze bis zu der eines Abschlussballkleides. Um die Ästhetik und Produktion ihrer Gewandung weiter zu minimalisieren, verschärft Zittel ihre eigenen Herstellungsbedingungen. Zunächst entstehen die A-Z Raugh Uniforms: When I was developing my new ideology called Raugh, I realized that I could evolve the Personal Panels to their most logical extreme by using only rectangle of fabric literally torn from the bolt. This reduced my activity in making a dress to a few minute modifications such as using safety pins to fasten a

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Vgl. ebd., S. 26–27. Zittel/Zdenek 2000, S. 28.

2. Die drei Basisfunktionen des Bekleidens

strap to fabric or a single strategic seam. While the Raugh garments require no expertise in both conception and construction, it took skill to make designs that looked both sophisticated and attractive.56 In konsequenter Weiterentwicklung vereinfacht Zittel ihre persönliche Uniform radikal. Nach dem Wegfall jeglicher Zuschnitt- und Näharbeiten der A-Z Raugh Uniforms, setzt die Idee, bereits gewebte Materialien auszuschließen und nur einen einzigen Faden verarbeiten zu dürfen, neue Maßstäbe und die A-Z Single Strand Uniforms entstehen. Alle drei Monate häkelt sich nun Zittel in einer Herstellungszeit von sechs bis acht Wochen mit einer Nadel die rechteckige Basis ihrer Bekleidung. Der vereinfachte Arbeitsablauf erlaubt das Produzieren auf Reisen und erleichtert so abermals den Alltag der Künstlerin. Die aufkommende Angst jedoch, diese eine Häkelnadel zu verlieren, führt zu den A-Z Hand Made Stranded Uniforms, einer werkzeugfreien, komplett unabhängigen Produktionsweise. Ende 2001 hat sich Zittel die Fähigkeit antrainiert, mit den Fingern gleichmäßige Muster zu häkeln. Nach zehnjähriger Entwicklung erreicht die Künstlerin den angestrebten, maximal reduzierten Endpunkt ihres Herstellungsprozesses mit den A-Z Advanced Technologies Fiber Form Uniforms, jeder unnötige Arbeitsschritt, jedes überflüssige Gerät wurde beseitigt. Zittel greift die so erlangte Freiheit in Denkprozess und Form zur Weiterentwicklung in ihren anderen Themengebieten des Lebens und Wohnens auf: Since 1991 the technical and conceptual evolution in the A-Z Uniforms Series has been gravitating towards increasingly direct way of making something. After I had finally reduced the tools of production to simply using my own hands, I then began to consider the material that I was using. What if I could trace the strand of yarn back to its original form as fiber? Now I am finally beginning to make most direct form of clothing possible by hand »felting« wool directly into the shape of a garment, and thereby inventing my own ways to make shirts and dresses. Because the clothing is made as one piece there are no seams involved, and when it is finished, I use a safety pin to connect the two sides so that it will stay on! I have encapsulated this body of work under the heading A-Z Advanced Technologies which plays off of the way that something can be both incredibly primitive and quite sophisticated at the same time. 56

Zittel: https://spruethmagers.com/exhibitions/andrea-zittel-a-z-uniform-series-19912002-munich [letzter Zugriff am 20.12.2020].

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Die Macht des Kostüms

In other areas of A-Z Advanced Technologies I am also beginning to develop new materials and fabrication strategies for making furniture and objects that I use in the practice of my own day to day living.57 Die Reduktion des Arbeitsprozesses, die die dritte Basisfunktion des Bekleidens, den Schmuck, weitgehend ausklammert, führt zu einer neuen künstlerischen Herangehensweise an das Medium Kleidung. Wie Joseph Beuys produziert Zittel ihre Kunst-Kleidungsstücke – die nach ihrem persönlichen Gebrauch als textile Skulpturen im musealen Umfeld ausgestellt werden – neu und auf ihre Bedürfnisse abgestimmt. Im Gegensatz zu Louise Bourgeois’ Arbeiten, die vorgefundene, historisch aufgeladene Kleidungsstücke verarbeiten, befreit sich Zittel von einer alltäglichen Bekleidungstradition. Ihre Kleidungsobjekte ähneln sich gleichwohl durch die eigene Körpererfahrung des Tragens und der stark mit der eigenen Identität verbundenen, konzeptuellen Idee in ihrer persönlichen Aussagekraft.

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https://spruethmagers.com/exhibitions/andrea-zittel-a-z-uniform-series-1991-2002munich [letzter Zugriff am 11.08.2022].

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

Werner Enninger etabliert 1983 mit seinem Aufsatz Kodewandel in der Kleidung: Sechundzwanzig Hypothesenpaare in der Zeitschrift für Semiotik den Begriff des vestimentären Codes. Sein Ziel war es, im semiotisch wenig erforschten Gebiet der Bekleidung […] einen Satz von Hypothesen zu formulieren, die einmal prinzipiell der empirischen Überprüfung fähig sind, und die zum anderen vielfältige Falsifikationsversuche provozieren. Entsprechend wird in der Folge eine Kette von Behauptungen, Prämissen und Hypothesen zu Objekt, Gegenstand und Methode der diachronen Kleidungssemiotik formuliert deren einziger Zweck darin liegt, in diesem nur punktuell erforschten Bereich einen möglichst großen Erkenntnisfortschritt herauszufordern.1 Auch wenn auf den ersten Blick die Offensichtlichkeit geringer ist als etwa bei der Sprache, spricht Enninger der Bekleidung eine Zeichenfunktion zu.2 Die scheinbar »naturmotivierte« Kleidung, die den Bekleideten vor Wettereinflüssen schützen soll, zeigt sich bereits in den witterungsunabhängigen Verwendungsweisen von Naturvölkern in vergleichbaren Klimaregionen als »kulturell überformt« und »kulturellen Wertungen und Normierungen« unterlegen. »Die positiven und negativen Sanktionen für normkonformes und normdeviantes Kleidungsverhalten«, sichtbar durch alle Jahrhunderte in Kleiderordnungen, militärisch, kirchlichen und institutionellen Kleidungsreglements oder Volkstrachtenbräuchen sind weiter eindeutige Zeichen »der kulturellen Überformung von Kleidung.«3 Enninger weist basierend auf der Kulturmotiviertheit der Bekleidung den vestimentären Code nach, der auf dem »Klei1 2 3

Enninger, Werner. 1983. »Kodewandel in der Kleidung: Sechundzwanzig Hypothesenpaare«. In Zeitschrift für Semiotik 5 1.2, 23–48, S. 23. Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 25.

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Die Macht des Kostüms

dungsrepertoire einer Kultur«, der Summe aller dort existierenden Kleidungsweisen fußt.4 In ihm bündelt sich selbst in freizügigen, zeitgenössischen Gesellschaftsnormen eine Erwartungshaltung, die eine Bekleidungsform mit einem zugehörigen Verhalten verflechtet. Die doppelten (Handlungs- und Aussehens-)Erwartungen an die Rolle konstituieren zwar nicht einen Kode, sie sind aber direkte und persönlich erfahrbare Reflexe eines präexistenten, kulturell geltenden Kodex, der den Kode konstituiert. Auf der Systemebene wird die Menge aller (Kleidungs-)Rollenattribute zu einer zeichenhaften Repräsentation von Werten und Normen, die das Handlungssystem steuern, zu einer »symbolischen Übersetzung des sozialen Systems« zu einer systematischen Signifikation der geltenden sozialen Ordnung.5 Der vestimentäre Code wandelt sich in Stärke und Ausprägung situationsbedingt. Ritualisierte Vorgänge und subkulturelle Gruppierungen bilden deutliche Codes aus, während alltägliche Begebenheiten sich nur gering in der Bekleidung ablesen lassen. »[…] Bewohner von Etagenwohnungen konstituieren keine Kleidungskodes. Touristen entwickeln schwache Kodes wie Freizeitkleidung, bergwandernde Touristen entwickeln stärkere zweck- und kultur-motivierte Kleidungskodes.«6 Vereinsbekleidung, traditionelle Volksund Ordenstrachten und vestimentäre Erkennungsmerkmale von Jugendkulturen sind stark bedeutungsverknüpft, unterstützen die Identitätsbildung ihrer Gruppierungen und heben die Zugehörigkeit ihrer Mitglieder von anderen Gesellschaftsgruppen ab.7 Dorf-, Tal- und Inseltrachten können als das vestimentäre Analogon zu den diachron stabilen Dialekten von Reliktgebieten angesehen werden, mit denen sie als nur eine andere Ausdrucksform lokaler Identität gemeinsam vorkommen; Kleidungsvarietäten jugendlicher Bünde können als Analogon zum diachron relativ instabilen Slang in urbanen Zentren mit rascher altersbedingter Mitgliederfluktuation angesehen werden.8

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Ebd., S. 28. Enninger 1983, S. 30. Ebd., S. 34. Vgl. ebd. Ebd., S. 35.

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

Formalisierte Bekleidungsformen, deren Weiterentwicklung zu einem bestimmten Zeitpunkt gestoppt wird, die sich jedoch in ihrem status quo halten, wie etwa Livreen, können als »gefrorene Zitate«, als »historische Kleidungsäußerungen« betrachtet werden.9 So macht es Sinn, wenn die amerikanische Schauspielerin, Regisseurin und Autorin Lena Dunham feststellt: »Was versuchst du zu erreichen, wenn du dich anziehst? Ich versuche, die Rolle auszufüllen, die ich an diesem Tag spielen muss – Geschäftsfrau, unabhängige Freundin, Tochter bei einer Familienfeier, Autorin in einem Café. Es ist gruselig, aber wahr.«10 Der Mensch zieht sich ein Kleidungsstück an, um seine Alltagsrolle anzunehmen. Ein Körper wird so zum sozialen Wesen, das sich und seiner Umwelt mitteilt, wer er in diesem Moment sein möchte. Die Kleidung kommuniziert meist schon, bevor sein Träger es tun kann und dominiert so den ersten Eindruck einer Person maßgeblich.11 Die sofortige Aussagekraft der Kleidung ermöglicht ein schnelles Lesen und Interpretieren dieser Selbstdarstellung.12 Im minimalsten Raum zwischen Haut und Kleid lauern essenzielle Fragen. Kleiden wir unseren nackten Körper, um uns zu verkleiden? Wann sind wir wir selbst und wer ist das? Werden wir von anderen als der erkannt, der wir sind oder als der, der wir sein möchten?13 Die persönliche Darstellungsform stellt sich dabei als mannigfaltig heraus. »Der ›Signalraum‹ des vestimentären Codes besteht aus Variationen von Material, Farbe und Schnitt und deren Kombination.«14 Das eigene Äußere und die damit evozierte Fremdwirkung kann absichtlich verändert und gesteuert werden. Die Auswahl der Kleidungsstücke, unbewusst oder bewusst getroffen, und die Art ihres Tragens hat Aussagekraft. Das Bekleiden verschafft die Möglichkeit, das wahre Ich hinter der vestimentären Hülle zu verstecken, zu manipulieren oder ungeschönt preiszugeben.15 Die Kleidung trägt entscheidend zur Identitätsbildung ihres Trägers wie auch zur Fremdwahrnehmung 9 10 11

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Ebd., S. 29. Shapton/Heti/Julavits 2015, S. 84. Vgl. Sommer, Carlo Michael. »Der soziale Sinn der Mode: Kleidung und Mode aus sozialpsychologischer Sicht.« In Zweite Haut: Zur Kulturgeschichte der Kleidung, hg. von André Holenstein, 241–253. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 2010, S. 242. Vgl. Hollander 1993, S. 253. Lütgens 2011, S. 93. Enninger 1983, S. 30. Vgl. Mentges 2005, S. 23.

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durch das Gegenüber bei.16 Ein Kind erlernt automatisch die Bekleidungstradition der Gesellschaft, in die es hineingeboren wird. Es entwickelt seine Persönlichkeit nicht nur von sich aus, es nimmt entscheidende soziale Impulse von außen auf. Da die so erlernten Codes jedem in der Gemeinschaft bekannt sind, interpretiert der Betrachter die Zeichen relativ zuverlässig. Der vestimentäre Code klassifiziert ein Individuum und gruppiert es ein.17 Unter »Code« verstehen wir allgemein ein Regelsystem zur Hervorbringung und Interpretation von Zeichen bzw. Zeichenzusammenhängen. Gemeinsame Bedeutungen sind in einer Kultur immer dann gegeben, wenn ihre Mitglieder sich bei ihrer Konstitution alle auf denselben Code beziehen, divergierende Bedeutungen entstehen, wenn unterschiedliche Gruppen hinsichtlich desselben Zeichens unterschiedliche Codes anwenden. Wir unterscheiden zwischen sogenannten internen und externen Codes. Die internen Codes liegen jeweils einem kulturellen System, im Extremfall sogar – wie z.B. beim autonomen Kunstwerk – einer Hervorbringung dieses Systems zugrunde, die externen Codes mehreren – im Extremfall sogar allen – kulturellen Systemen einer Kultur.18 Der vestimentäre Code fächert sich auf in »mehrere koexistierende und teils konkurrierende Variationen (Hypocodes) des gemeinsamen Hypercodes«19 . Ein Zeichen verändert sich, wenn es in einem anderen Kontext verwendet wird, seine Bedeutung unterscheidet sich, wenn es sich auf zwei verschiedene Dinge bezieht, seine Deutung kann eine andere sein, je nachdem wer es benutzt. Auch wenn sich eine Gesellschaft ein Zeichensystem ausgehandelt hat, ist das Lesen der Zeichen nicht starr. Verschiedene Menschen ordnen einem Zeichen unterschiedliche Bedeutungen zu, ohne dass die allgemeine Verständigung zusammenbricht.20 Die Kleidung lässt mitunter Rückschlüsse auf konkrete Angaben wie Geschlecht, Nationalität oder Religion zu. Allerdings sind auch Verweise auf diffusere Bereiche wie persönliche Interessen, Gruppenzugehörigkeiten und gesellschaftlichen Status möglich.21 »Als substantieller Teil der visuellen Kultur übermittelt sie kulturelle Signale, die sich

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Vgl. ebd., S. 22. Vgl. Pape 2008, S. 53f. Fischer-Lichte 1983, S. 10. Sommer 2010, S. 244. Vgl. Fischer-Lichte 1983, S. 8–9. Vgl. Sommer 2010, S. 244.

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

in Worten nicht klar artikulieren ließen.«22 Ein Bekleidungsstück vermittelt so vielschichtige, optische Hinweise, dass es über den Informationsgehalt einer sprachlichen Botschaft hinausreicht und sich weniger als verbale Aussage liest, sondern als figürliche Kunst.23 »Obwohl die Kleidung scheinbar eine unwesentliche Zugabe ist, prägt sie zutiefst unsere Existenz als gesellschaftliches Wesen.«24 Kleidungsstücke sind ein nonverbales Kommunikationsmittel, das sehr schnell und unmittelbar wirkt. »Gestik, Mimik, paralinguistische Ausdrucksformen wie Lautstärke, Betonung, Sprechtempo, Berührungssignale« werden erst nach der Bekleidung wahrgenommen.25 Die Gesellschaft verwendet die vestimentären Codes oft unbewusst, aber allgemein verständlich. Wir greifen heute gewohnheitsmäßig auf einen enormen Zeichenfundus aus Geschichte und Gegenwart zurück. Viele dieser Zeichen und Codes sind Zitate oder komplexe Kompositionen vorhandenen Materials. Im Unterschied etwa zur gesprochenen Sprache oder zu Mimik und Gestik ist der vestimentäre Code besonders träge.26 Die einmal ausgewählte Kleidung sendet kontinuierlich die gleichen Signale. Erst ein Umziehen ermöglicht einen Wechsel der Botschaft. Das Funktionieren eines Kleidungsstückes ist maßgeblich an einen Ort oder ein Ereignis geknüpft. Stimmen Kleidungswahl und Umgebung nicht überein, wird die Bekleidung als unpassend empfunden.27 Es muss zwischen privaten und öffentlichen, kulturellen, sakralen oder profanen, traditionellen oder unkonventionellen Ereignissen unterschieden werden, um sich angemessen zu kleiden.28 Die Konventionen der Gesellschaft schreiben – auch ohne offizielle vom Staat verordnete Kleiderordnung – die Wahl der Bekleidung für bestimmte Situationen vor. Ein Vorstellungsgespräch, eine Hochzeit oder eine Beerdigung verlangen eine unterschiedliche Garderobe. »Denn die Kleidung informiert nicht nur über das zu erwartende Verhalten ihres Trägers, sondern auch über das

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Kaiser, Susan B., Karyl Ketchum und Anna Kuhn. »Mode: Poetische Dialektik.« In Kulturanthropologie des Textilen, hg. von Gabriele Mentges et al., 265–286. Berlin: Edition Ebersbach, 2005, S. 266. Vgl. Hollander 1993, XV. Flügel 1986, S. 209. Pape 2008, S. 55. Sommer 2010, S. 242f. Vgl. Loschek 2007, S. 178. Vgl. Mentges 2005, S. 30.

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mögliche Verhaltensrepertoire im Umgang mit ihm. (Trauerkleidung)«29 Vielleicht liegt der Schlüssel eines als gut angezogen betrachteten Menschen darin, dass er sich als genauer Beobachter und somit als versierter Anwender der vestimentären Codes herausstellt.30 Das Theater und die bildende Kunst greifen auf die gleiche Bedeutungsentschlüsselung zurück wie das kulturelle System, in dem sie sich befinden. Der Zuschauer liest das Bühnenkostüm oder die textile Skulptur wie alle ihm aus dem Alltag vertrauten Kleidungsstücke. Das Zeichensystem fächert sich auf Farbe, Schnitt und Material der Kleidung auf. Schwarz sendet andere Signale als rot, ein Minirock andere als eine Jeans und Leder andere als Seide.31 Die Welt der Farben bestimmt Stimmungen und Atmosphären. Jede Farbe allein transportiert bereits emotionale Botschaften, die Kombination macht durch die Musterwahl den Informationsgehalt noch komplexer. Die gezielte Farbwirkung ist ein wirkungsvolles künstlerisches Mittel. So möchten etwa die Futuristen ihre Umwelt durch eine kantig-spitze, stark farbige Musterwahl optisch in Bewegung setzen.32 Die Mitglieder des Bauhauses versuchen die Raumwirkung durch monochrome Farbgebung zu beeinflussen. Der brasilianische Maler, Bildhauer und Performance Künstler Hélio Oiticica ruft die Teilnehmer seiner Parangolé Performance auf, die Farben zu leben. 1964 beginnt er mit zeltartigen Umhängen in warmen Farbtönen von gelb über orange bis rotbraun zu arbeiten, in die er seine Akteure hüllt.33 Parangolé bedeutet für ihn »Anfang, Keimzelle wenn auch zuerst auf einer universalistischen Ebene der Ideen (die Rückkehr zum Mythos, sinnliche Einverleibung etc.)«34 . Oiticica, der sein ganzes Schaffen mit einer ausführlichen Textarbeit begleitet, notiert am 25. November 1964 zu Parangolé: Seit der ersten »Fahne«, die durch Akte des Tragens (durch den Betrachter) oder des Tanzens funktioniert, wird bei diesen Werken das Verhältnis von Tanz und »Manifestation der Farbe im Umgebungsraum« erkennbar […] Der Betrachter »trägt« den Umhang aus Schichten bunter Stoffe, die sichtbar werden, wenn sich der Betrachter bewegt, wenn er läuft oder tanzt. Das 29 30 31 32 33 34

Fischer-Lichte 1983, S. 125. Vgl. Shapton/Heti/Julavits 2015, S. 9. Vgl. Sommer 2010, S. 242f. Vgl. Mentges 2005, S. 23. Vgl. Brand/Teunissen/Arts 2009, S. 138. Gaensheimer, Susanne und Hélio Oiticica. Hélio Oiticica: Das große Labyrinth, the great labyrinth. Ostfildern: Hatje Cantz, 2013, S. 228.

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

Werk erfordert dabei direkte körperliche Partizipation; über das Bekleiden des Körpers hinaus veranlasst es diesen letztlich zur Bewegung, zum Tanzen. Der »Akt des Einkleidens« selbst, das »Tragen« des Werks, impliziert bereits eine expressiv-körperliche Verwandlung des Betrachters, die ursprüngliche Eigenschaft des Tanzes seine grundlegende Bedingung ist.35

Abbildung 10: Hélio Oiticica, Parangolé, 199436

Das einkleidende Moment des Akteurs funktioniert also zugleich als ein verwandelndes. Auch wenn im Gegensatz zum Bühnenkostüm keine Verwandlung in eine Figur vorgenommen wird, begründet sich doch der Beginn der performativen Aktion im Moment des Verkleidens. Der Betrachter wandelt sich vom passiven Zuschauer hin in ein wirbelndes Zeichen und gleicht

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Gaensheimer/Oiticica 2013, S. 157. Foto: Desdémone Bardin. In: Schimmel 1998a, S. 206.

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sein Äußeres der notwendigen Farbwelt der Aktion an. Begleitet von Samba-Musik tanzen die farbigen Wesen sich und das Publikum in Trance. Die Materialien der Umhänge bestehen aus billigen Wegwerfartikeln wie Folien, Stoffsäcken oder Plastikmatten und spannen somit den Bogen zu den einfachen Baumaterialien der brasilianischen Favelas. Vom Künstler mit Farbe und politischen Botschaften bemalt, umwehen sie in vielen Schichten den Tänzer. Oiticica, ein Kind der Mittelschicht, fühlt sich zum Lebensrhythmus der Favelas hingezogen. Manguerira, die Stadt der Armen, ein Viertel Rio de Janeiros, inspiriert ihn, dem politischen System der brasilianischen Militärdiktatur mit farbigen Botschaften entgegenzutreten.37 Die Ästhetik der Baracken, scheinbar wertloses Material, stellvertretend für deren perspektivlose Besitzer, formt Oiticicas künstlerische Sprache. Er will daraus etwas Neues, Expressives schaffen, das die »Schönheit des Lebens« widerspiegelt.38 Die Umhänge Parangolé, variierend in Botschaft und Aussehen, sind in ihrer Materialität und Farbgebung nach deren Symbolwirkung ausgewählt. Sie verbinden sich mit der Ausdruckskraft und Statur ihrer Träger. Um den Körper wirbelnd ver- und entschleiert der Umhang seine verschiedenen Schichten. Nildo, ein Sambatänzer aus der Favela, brachte das Cape Incorpo a Revolta (die Revolution verkörpernd) zum Leben. [Angezogen] gibt es ein allgemeines Gefühl der Schwere, von etwas, das getragen werden muß. Doch was mit dem Körper in Kontakt tritt, ist weich […]. Der Text ›lncorpo a Revolta‹ ist von einer Haut aus Strohmatten bedeckt, die Ruhe und Trägheit symbolisiert. Diese Lässigkeit liegt über dem Sackleinen, das mit schwerer Arbeit verbunden ist. Die Revolte wird durch den roten Stoff entzündet. Andererseits wird der Kontakt dieser lodernden Revolte mit dem Körper durch die Flachsfüllung gedämpft […]. Der Teilnehmer erfährt diesen Umhang, als sei er ein Spielzeug, das das seltsame Gefühl widersprüchlicher Gewichte auslöst.39 Der Materialität wird, neben der Farbigkeit, in dieser Performance eine entscheidende Zeichenhaftigkeit zugesprochen. Sowohl in ihrer Optik als auch in

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Vgl. Brand/Teunissen/Arts 2009, S. 138. Brett, Guy. »Lebensstrategien: Überblick und Auswahl Buenos Aires – London – Rio de Janeiro – Santiago de Chile 1960.« In Out of actions: Zwischen Performance und Objekt 1949–1979, hg. von Paul Schimmel, 197–225. Ostfildern: Hatje Cantz, 1998, S. 206ff. Brett 1998, S. 206.

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

der Haptik sendet sie Informationen. Der Träger spürt ein anderes Körperempfinden mit Anlegen des Capes. Ähnlich ergeht es dem Bühnenschauspieler oder Sänger beim Anziehen des Bühnenkostüms. Dabei ist auch in komplexeren, abstrakten, künstlerischen Zusammenhängen die Aussage von Material und Farbe verständlich, wie Hélio Oiticicas Parangolé zeigt. Die vestimentären Codes lassen sich auf kleidungsähnliche, aber alltagsfremde Kunstgegenstände übertragen. Die Codes regeln detailliert jedes Merkmal eines Kleidungsstückes – sei es alltäglicher oder künstlerischer Natur. Ein ärmelloses Kleidungsstück beispielsweise eignet sich zunächst besser für ein warmes Klima als für ein kaltes. Dennoch ändert dieses Fehlen des Ärmels das Kleidungsstück derart, dass es trotz schönen Wetters nicht mehr für alle Gelegenheiten geeignet erscheint. Ein ärmelloses Shirt bei Männern vermittelt einen praktischen Aspekt, verbannt es in den Sport- oder Arbeitsbereich und macht es für den Gebrauch bei formellen Anlässen untragbar. Ein ärmelloses Top oder Kleid bei Frauen ist wesentlich vielschichtiger. Zunächst gilt ein ärmelloses Kleid als sehr elegant in der repräsentativen Abendgarderobe, wäre aber auch tragbar als legeres Sommerkleid. Trotz seiner Eleganz fehlt ihm dennoch eine formelle Note. Es wäre nicht standesgemäß, wenn sich die englische Queen sich barärmelig präsentieren würde, selbst bei der ehemaligen First Lady Michelle Obama löste das erste offizielle Portraitfoto 2009 im ärmellosen Oberteil Protest aus.40 Ähnliche Bedeutungsdetails liefern auch Schuhe. Der Zustand und die Qualität von Schuhen geben einen entscheidenden Aufschluss über den sozialen Status seines Trägers, wie auch über seine Charaktermerkmale. Der sauber geputzte Schuh mit nicht abgelaufenen Absätzen hinterlässt noch immer einen ordentlichen und seriösen Eindruck und kann den entscheidenden Impuls in einem Vorstellungsgespräch geben. Die Oberschicht zeigte ihre exponierte Stellung durch die Jahrhunderte mit einer extravagante Schuhmode über die spitzen Sandalen der Ägypter der Antike bis zu den farbenfrohen Schnallenschuhen mit hohen Absätzen der europäischen Königshäuser des 18. Jahrhunderts.41 Die japanische Performance- und Installations-Künstlerin Chiharu Shiota verschnürt 1999 in Dreaming Time Schuhe von Freunden, gefundene Schuhe, alte Schuhe aus Second-Hand-Läden und Flohmärkten mit unzähligen Fäden zu einem Netz aus Andenken. Die Erinnerungen können nicht mehr davonlaufen. Getragene Schuhe funktionieren durch ihr statisches, hartes Äußeres 40 41

Vgl. McDowell 2013, S. 85. Vgl. ebd., S. 138.

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mehr noch als textile Kleidungsstücke als Sinnbild ihrer abwesenden Besitzer, sie ähneln leerstehenden Häusern.42 Eine für Shiota unverwechselbare Arbeitsweise ist das Verweben von Gegenständen und Räumen in eine undurchdringbare, rote oder weiße spinnennetzartige Installation. Sie entwirft eine sehr persönliche Welt, fokussiert auf ihre eigene Identität, die dennoch Raum lässt für das Abbild einer gemeingültigen Menschlichkeit.

Abbildung 11: Jannis Kounellis, Senza Titolo, 200743

Die ausgestellten Objekte symbolisieren jeder für sich ein Einzelschicksal einer abwesenden Person. Der Betrachter wandert durch die Ausstellung durch ein Meer von Erinnerungen. Eingetragenes Leder behält mehr noch als jedes textile Kleidungsstück seine durch den Träger verformte Gestalt. »In welcher Weise der Fuß den Schuh benutzt und damit das Material seiner Formung

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Vgl. Gras Balaguer, Menene. »The Hand Lines.« In Chiharu Shiota: The hand lines, hg. von Menene Gras Balaguer, 8–81. Barcelona, New York, 2014, S. 43. Foto: Manolis Baboussis. In: Kounellis, Jannis und Angela Schneider. Hg. Jannis Kounellis: Jannis Kounellis in the Neue Nationalgalerie. Ostfildern: Hatje Cantz, 2008, S. 137.

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unterworfen hat, wurde der zweiten Haut mit ›monströser Gewohnheit‹ – wie Magritte es einmal ausgedrückt hat – eingeprägt.«44 Der Rohstoff der tierischen zweiten Haut lässt ein Industrieprodukt zum individuellen Gegenstand altern, dessen Deformation »wie in einem Langzeitabdruck« von den Gewohnheiten seines Besitzers erzählt.45 Die Bilder der Berge von getragenen Schuhen als stumme Zeugen des Grauens des Holocaust haben sich im kulturellen Gedächtnis festgesetzt. Auch Yannis Kounellis bedient sich dem starken Bild der Anhäufung zahlreicher alter Schuhe, die durch die abwesenden Körper und deren ungewissem Schicksal ein unangenehmes, beklemmendes Gefühl zurücklassen (vgl. Abbildung 11).

3.1. Der vestimentäre Code im öffentlichen Leben Die weitreichende Bedeutung von Kleidung als non-verbale Kommunikationsform äußert sich darin, dass von der mittelalterlichen bis hin zur frühneuzeitlichen Gesellschaft das Bekleiden in ganz Europa durch Kleiderordnungen vorgeschrieben war. Dem Einzelnen wird in dieser Zeit die Kleiderwahl nicht selbst überlassen, sondern von den Obrigkeiten detailliert und zwingend vorgegeben. Im sozialen Zusammenleben verständigt man sich also nicht nur durch vestimentäre Codes, sondern durch strenge Reglements der Regierenden und Monarchen. Die Kleidung verhilft dem Herrschenden zur Sicherung seiner Macht. Ein nach Vorschrift bekleideter Untertan kann leicht und eindeutig seiner gesellschaftlichen Schicht zugewiesen werden und gibt über Sozialstatus, Geschlecht und Beruf Aufschluss. Jeder Handwerker, eingegliedert in seine Zunft, besitzt einen für ihn charakteristischen Kleidungsstil. Die Kleiderordnungen behandeln penibel jedes Detail der Garderobe. Sie messen dem Schnitt, dem Material, der Farbgebung wie auch den Verzierungen wie Borten oder Spitzen wiederum in Material und Beschaffenheit eine Bedeutung zu. Dies hat auch für alle Accessoires wie Kopfbedeckungen, Taschen, Schuhe und Schmuck Gültigkeit.46 Wer sich nicht an die Kleiderordnung

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Wagner 2013, S. 84. Ebd., S. 86. Vgl. Simon-Muscheid, Katharina. »Standesgemässe Kleidung: Repräsentation und Abgrenzung durch Kleiderordnung Repräsentation und Abgrenzung durch Kleiderordnungen (12.-16. Jahrhundert).« In Zweite Haut: Zur Kulturgeschichte der Kleidung, hg. von André Holenstein, 91–115. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 2010, S. 91f.

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hält, wird strafrechtlich verfolgt. Die Bekleidung soll die von Gott gewollte Ordnung veranschaulichen. Wer sich den Kleidungsvorschriften widersetzt, begeht keinen ästhetischen Fehler, sondern beansprucht für sich einen nicht adäquaten Stand und missachtet somit die menschliche wie auch göttliche Ordnung. Dem liegt das Bestreben zugrunde, die gesellschaftliche Hierarchie in ihrem Status quo erstarren zu lassen und eine Weiterentwicklung des einzelnen in einen höheren Stand zu unterbinden. So können die Herrschenden und der Adel ihre Macht stabilisieren und konkurrierende Strömungen aus der Unterschicht eindämmen. Dies erreichen sie durch den relativ geringen Aufwand eines schriftlichen Erlasses, der den privaten Kleiderschrank des Volkes kontrolliert. Ein reicher Kaufmann könnte sich eine dem Adel vorbehaltene Stoff- oder Pelzqualität zwar leisten, wäre somit von der herrschenden Schicht nicht mehr zu unterscheiden, darf diese Materialien aber durch die Kleidergesetzgebung nicht tragen. Kleiderordnungen wahren die soziale Ordnung, die Ungleichheit der Stände, die Grundlage der Gesellschaft und des Herrschaftsanspruches der Regenten. Eine weitere Funktion der Kleiderordnungen besteht darin, öffentliche Versammlungen, die in revoltenhafter Weise entarten und dem Einfluss der herrschenden Schicht gefährlich werden könnten, zu unterbinden. So ist es beispielsweise während der Gesellenunruhen im 14. und 15. Jahrhundert verboten, dass sich mehr als drei Männer in gleichartigen Hosen, Röcken oder Hüten zeitgleich an einem öffentlichen Ort aufhalten.47 Unter diese sogenannten Luxusgesetze, die die Kleiderordnungen beinhalten, fallen darüber hinaus das Reglement großer familiärer wie auch gesellschaftlicher Ereignisse, so Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen. Spezielle Kleiderordnungen hierzu versuchen mit Verweis auf ein angebrachtes, sittliches Verhalten die Feste in einem überschaubaren Rahmen zu halten, damit opulente Ausschweifungen die Gier nach einem sozialen Aufstieg nicht anheizen.48 Mit der Abschaffung der Zünfte durch Napoleon im Code Civil 1804 verlieren die Kleiderordnungen nach und nach in ganz Europa an Bedeutung.49 Mit dem Durchsetzen demokratischer Staatsformen erwacht die Macht der Mode. Der Einzelne beginnt seine Möglichkeiten zur optimalen

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Vgl. ebd., S. 98f. Vgl. ebd., S. 92f. Vgl. Sennett, Richard. »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: Die Tyrannei der Intimität.« In Die Listen der Mode, hg. von Silvia Bovenschen, 309–352. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 313.

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

Selbstdarstellung zu nutzen. Die Verständigung untereinander funktioniert auch ohne vorgegebene Kleiderordnung. Das Lesen der vestimentären Codes im öffentlichen Leben ist jedoch bis heute leichter als im privaten, wo bestimmte Regeln von Subkulturen oder weiter entfernten Alters- oder Gesellschaftsgruppen nicht jedem gleich zugänglich sind. Das öffentliche Leben – repräsentiert durch den Staat und seinen Apparat, das Militär sowie der Kirche – jedoch ist geprägt von plakativer Kleidungswahl für jeden ersichtlich, für jeden verständlich. Nirgends auf der Welt, so James Laver, ist es irgendjemandem erlaubt, eine prominente Rolle in gleich welcher Zeremonie zu spielen, ohne dieser Position gemäß bekleidet zu sein. Diese Form der Kostümierung ist weit älter als das Theaterkostüm.50 Die Kleidung zeigt somit auch den Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Leben. Die Art, wie ein in einer offiziellen Position Beschäftigter angezogen ist, lässt ihn der ihm angehörenden Welt eindeutig zuordnen, egal ob es sich um die sakrale, administrative, legislative oder kulturelle handelt.51 Die Steifheit des durch Normen und Benimmregeln stark eingeschnürten öffentlichen Lebens spiegelt sich oft in der starren Kleidung wider, die auch den Körper reglementiert. Die Krägen sind fest und körpernah und schränken die Bewegung des Kopfes ein. Die traditionellen Materialien von Anzügen und Kostümen sind unelastisch und üben Druck auf den Träger aus. Der enge Spielraum der moralischen und gesellschaftlichen Konventionen überträgt sich auf das Körpergefühl und macht die Kontrolle spürbar.52 Das öffentliche Leben strukturiert sich in Ritualen und Zeremonien, die die Macht der Herrschenden oder des Staates nicht nur verbildlichen, sondern auch präsentieren und stabilisieren. Parallel dazu stehen die Rituale der Kirchen, die zwar oft einen Staatsakt begleiten, aber darüber hinaus das Jahr für den Gläubigen rhythmisieren. Akte der Vereidigung, der Trauer, der Zeugnisübergabe stärken das Gemeinschaftsgefühl ebenso wie die gemeinsam erlebten Feierlichkeiten einer Hochzeit, Taufe oder Firmung. Dem Mitglied der Gemeinschaft erlauben die Rituale sich seiner Gesellschaft zugehörig zu füh-

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Vgl. Laver, James. Drama: Its costume & décor. London: The Studio Publications, 1951, S. 16. Vgl. Mentges 2005, S. 30. Vgl. Flügel 1986, S. 252f.

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len und gemeinsame Werte zu leben.53 Die Ausführenden dieser Zeremonien kennzeichnen sich durch ihre ritualisierte Kleidung, die ihnen zu Ansehen verhilft, sie von der teilnehmenden Masse abhebt und die Feierlichkeit der Aktion unterstreicht. Die Robe eines Richters, die Schärpe mit jeweiligem Abzeichen eines Würdenträgers oder die Sutane des Bischofs stehen repräsentativ für deren herausgehobene Stellung. Auch die Teilnehmer der Festlichkeiten machen sich mit einer formelleren, eleganteren oder bewusster ausgewählten Garderobe für das sich vom Alltag abhebende Ereignis zurecht. Auch wenn das Zusammenleben der Gesellschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts variabler, unkonventioneller und befreiter von traditionellen Zeremonien und somit entritualisierter abläuft54 , erkennt doch jeder den Richter, den Priester und den Polizisten an seiner Kleidung.55 Oft halten sich die vestimentären Traditionen trotz Ablehnung von Inhalt und Struktur des Rituals. Zahlreiche »moderne« Bräute erscheinen im weißen, langen Ballkleid zu einer standesamtlichen Trauung mit anschließender Party. Nur das Kleid erinnert an eine andere Zeit und die ursprüngliche Idee der reinen Braut, die vor Gott das Ja-Wort gibt.56 Das weiße Kleid ist so bildlich als Synonym für die Ehe verankert, weshalb der Künstler Christo es stellvertretend für die mögliche Bürde, die die Frau während der Ehe schleppen muss, als tonnenschwere weiße Last an den Körper der jungen Frau fesselt. Das traditionell ausladende weiße Kleid, ein oft erhoffter Jungmädchentraum, zu einem Bündel geschnürt, hängt in sehr abstrahierter Form an der Taille der nun nur noch mit Unterwäsche bekleideten Braut (vgl. Abbildung 12). Der Titel der Arbeit – Wedding Dress – macht die Assoziationskette eindeutig nachvollziehbar und lässt das eigentlich elegante, feierliche Kleid im belastenden, aber noch hochglänzenden Stoffberg für den Betrachter durchscheinen.

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Horn, Christian und Matthias Warstat. »An der Grenze zur Gemeinschaft: Zu theatralen Dimensionen rituellen Handelns.« In Ritualität und Grenze, hg. von Erika Fischer-Lichte. Tübingen: Francke, 2003, S. 419. Vgl. Willems, Herbert. »Rituale und Zeremonien in der Gegenwartsgesellschaft.« In Ritualität und Grenze, hg. von Erika Fischer-Lichte, 399–418. 5. Bd. Tübingen: Francke, 2003, S. 402f. Vgl. McDowell 2013, S. 165. Matthews David, Alison. Fashion victims: The dangers of dress past and present. London, New York: Boomsbury, 2015, S. 152.

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Abbildung 12: Christo, Wedding Dress, 196757

Chiharu Shiota macht in ihren textilen Installationen den abwesenden Körper sichtbar, darunter eine weitere Variante des Themas Hochzeitskleid. Die 1999 in Berlin unter dem Titel Under the skin begonnene Serie, 2001 auf der Yokohama Triennale unter dem Titel Memory of skin in ihrer aufwendigsten Version gezeigt, umfasst überdimensionale Kleider, jeweils 13 Meter lang, hängend aufgereiht (vgl. Abbildung 13). Die von der Künstlerin gewebten Gewänder halten sich an den armlosen Händen. Die ursprünglich weißen Kleider, mit Matsch beschmiert, tropfen unter einem endlosen Wasserfluss. Leere, ungetragene Hüllen, die sich die Erinnerung nicht aus der textilen Haut waschen können.58 Memory of skin bestätigt die verschiedenen Lesearten der vestimentären Codes je nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Der westliche Betrachter sieht in ihnen zerstörte Brautkleider, die ehemals helle Farbe der Hoffnung und des Neuanfangs permanent von der braunen matschigen Brühe verunreinigt; ein blasphemischer Akt für das reine Kleid, das die Vergangenheit nicht wegwischen kann. Der asiatische Besucher jedoch verbindet mit der Farbe Weiß den Tod, zwar verborgen unter der Schlammschicht, der aber durch den andauernden reinigenden Wasserstrahl unaus-

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Satin, Seide, Seile. Foto: Ferdinand Boesch. In: Banz/Til/Jocks 2009, S. 246. Vgl. Tatehata, Akira. »The Allegory of Absence.« In Chiharu Shiota: The hand lines, hg. von Menene Gras Balaguer, 150–155. Barcelona, New York, 2014, S. 152f.

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weichlich an die Oberfläche vordringt.59 Die künstlerische Leiterin der Triennale sieht in den Kleidern »empty signs of the wearers absent bodies«, »those who had be once here«60 , eine Interpretation, die der Intention der Künstlerin nahekommt, denn Chiharu Shiota verfolgt ebenfalls die These von Kleidung als zweiter Haut: The dress for me is like a second skin […] The body connects to our first skin. The second skin is the clothes. Sometimes clothes explain the owner, and there are a lot of memories inside a dress. I never use a new dress. For me, with a new dress, I cannot start anything, and I am not interested in using a new dress because there are no memories or stories inside it.61 Die Kleider aus Memory of skin, in die Länge gestreckte und durch diese übermenschliche Größe respekteinflößende, abstrahierte Versionen einer Alltagsgewandung – textile Verwandte von Beuys Filzanzug, ebenfalls über den Köpfen des Betrachters schwebend präsentiert – stellen eine gewisse Sonderstellung in Shiotas textilem Werk dar, weil sie nicht ihrem genannten Anspruch der bereits benutzten, realen Kleidung entsprechen, den sie mit Louise Bourgeois teilt. In dieser Notwendigkeit für die Künstlerin, ihr Schaffen auf getragenen Kleidungsstücken aufzubauen, bestätigt sie die Eigenschaft der vestimentären Skulptur, durch ihre besondere, weiche formbare Materialität, Abdrücke des Körpers aufzunehmen. Shiota nennt die Beschaffenheit von Kleidungsstücken »schwammartig«, in ihrer Art, den Charakter ihrer ehemaligen Besitzer aufzusaugen.62 Jede ritualisierte Bekleidung – wie die der Braut – kann im Alltag als Kostümierung bezeichnet werden, was jegliche Kleidung für einen speziellen Anlass zu einem theatralen Kostüm wandelt.63 Der Mantel des Königs, die Uniform des Feuerwehrmannes, das weiße Kleid der Braut verrichten zwar einerseits als »Arbeitskleidung« ihren Dienst, andererseits verbildlichen sie, dass ihr jeweiliger Träger innerhalb der Gesellschaft die Funktion oder auch die Rolle des Königs, des Feuerwehrmannes und der Braut übernommen hat.64 59 60 61 62 63 64

Vgl. Long, Kelly. »Memory, Dreaming and Death.« In Chiharu Shiota. The hand lines, hg. von Menene Gras Balaguer, 108–121. Barcelona, New York: Actar, 2014, S. 112f. Long 2014, S. 113. Ebd. Ebd. Vgl. Laver, James. Costume in the theatre. London, Toronto, Wellington: George G. Harrap & Co. Ltd, 1964, S. 15. Vgl. Fischer-Lichte 1983, S. 120.

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Abbildung 13: Chiharu Shiota, Memory of Skin, 2001 65

Die Personen am Hof erscheinen als am augenscheinlichsten theatral. Das Auftreten der Herrschenden ist offensichtlich inszeniert, die symbolträchtigen Zeremonien sollen Untertanen sowie Feinde beeindrucken bis einschüchtern. Die Macht des Oberhauptes wird visualisiert, seine Aura durch sein prächtiges Äußeres hervorgehoben.66 Seine königliche Bekleidung steht stellvertretend für seine Funktion, sie verkörpert die Macht seines Amtes, an ihr orientiert sich das Volk. Wobei zu bedenken ist, dass das Gesicht des Monarchen vor der Erfindung der Fotografie weitgehend unbekannt war seine Kostümierung macht ihn jedoch für alle eindeutig erkennbar zum

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Yokohama International Triennale of Contemporary Art. 5 Kleider, Schmutz, Wasser. Foto: Tetsuo Ito. In: Gras Balaguer, Menene. Hg. Chiharu Shiota: The hand lines. Barcelona, New York: Actar, 2014, S. 205. Vgl. Plaumann, Susanne. »Ritualität und Grenze in Turnier und Adventus: Zur Konzeption von Raum und Körper in der Venusfahrt im Frauendienst des Ulrich Lichtenstein.« In Ritualität und Grenze, hg. von Erika Fischer-Lichte, 381–398, 5. Band. Tübingen: Francke, 2003, S. 382.

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Herrscher.67 Aus Sicht der Untertanen steckt im Mantel mehr »König«, als in dessen nacktem Körper. Ohne seine repräsentative Kleidung wäre er unter Umständen von seinem Volk nicht erkannt worden. Dessen ist sich der Hof bewusst. Die adäquate Darstellung der wertvollen Materialien der königlichen, prunkvollen Garderobe stellt eine der Hauptaufgaben der Hofmaler im Staatsportrait dar.68 Kronjuwelen, der Königsmantel und andere vestimentäre Insignien des Amtes werden von Generation zu Generation weitergegeben. Sie erfüllen ihre Funktion unabhängig vom Körper, der sie gegenwärtig, jedoch immer nur vorübergehend trägt. Ähnliches gilt auch für das geistliche Gewand, das seinen Träger im Moment des Überziehens für alle deutlich zum Würdenträger erhebt. In der körperlosen Informationsübermittlung des klerikalen und monarchischen Gewandes entsteht eine direkte Parallele zur textilen Skulptur und dem Theaterkostüm. Auch die Gewandung der Geistlichen kann, wie etwa bei den Kardinälen, sehr üppig ausfallen und veranschaulicht die Hierarchie und Macht einer Institution. Allerdings reicht die spezifische Art, sich zu kleiden vom hohen Würdenträger bis zum einfachen Mönch in seiner simplen Kutte und hebt so die Mitglieder einer christlichen Gruppierung vom Volk ab, ganz unabhängig der Darstellung von Reichtum. Besonders der den Gottesdienst leitende Geistliche soll in seiner Funktion deutlich gekennzeichnet sein, denn er tut seinen Dienst im Namen der Kirche und nicht als Privatperson. Die Vielfältigkeit der liturgischen Kleidung ist auf die verschiedenen Anlässe und Dienstbarkeiten zurückzuführen und verdeutlicht die Festlichkeit eines Gottesdienstes.69 Die Schönheit der ganzen Feier, der Kirchenräume, der Musik und auch der Gewänder ist nicht »überflüssig«, sondern ist Überfluss, ist ein Hinweis auf Gott, auf Leben in Fülle. Dabei ist Liturgie nicht triumphalistisch. Im Mittelpunkt stehen Tod und Auferstehung Jesu Christi, ein Geheimnis, das alles übersteigt und unverständlich und fremd bleibt. Auch das kommt in der Liturgie zum Ausdruck. Der Mensch verhüllt sich vor Gott – dem ganz Anderen.

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Vgl. Hollander 1993, S. XV. Vgl. Borkopp-Restle, Brigitt und Barbara Welzel. »Material, Licht und Bewegung: Der vestimentäre Auftritt von Erzherzogin Isabella und Erzherzog Albrecht in ihren Staatsporträts.« In Kleidung im Bild: Zur Ikonologie dargestellter Gewandung, hg. von Philipp Zitzlsperger, 99–112. Emsdetten, Berlin: Ed. Imorde, 2010, S. 99. Vgl. Poschmann, Andres. »Parura – Planeta – Pluviale: Liturgische Gewänder zwischen Alltagskleidung und Sakraldesign.« In Zweite Haut: Zur Kulturgeschichte der Kleidung, hg. von André Holenstein, 136–168. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 2010, S. 153.

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

[…] Das liturgische Gewand ist das Kleid der Taufe, das Geschenk des neuen Lebens. In der Taufe haben wir Christus angezogen. Dafür steht das weiße Taufkleid, ebenso das weiße Brautkleid und das weiße liturgische Gewand – die Albe.70 Die oft als verschwenderisch kritisierten Gewänder der Kirchenobrigkeit gleichen der aufwendig gestalteten Livree der Dienerschaft eines Herrenhauses. Die Kleidung verweist nicht auf seinen Träger, sondern auf dessen Herren, also Gott und preist in ihrer Prächtigkeit seine Würde.71 Auch das Volk, nicht nur die Vertreter des Klerus, strebt einst danach, in seinem Äußeren die Demut vor Gott abzubilden und die menschliche Gestalt in ein gottesfürchtiges, keusches Aussehen zu kleiden. Im 16. Jahrhundert negiert die Mode den Körper vollkommen unter schwarzen, steifen Röcken und hohen Stehkrägen. Die Herrschaft Philipp II. von Spanien fällt auf den Höhepunkt der religiösen Macht über weltliche Dinge. Das Körperliche versteckt sich unter einer strengen Hülle und lässt alle Bürger im klerikalen Gewand erscheinen.72 Neben einer großen Gottesfürchtigkeit schwingt aber auch der Wunsch nach Bezähmung der Masse mit. Später sagt Denis Diderot »Uniformität schafft Disziplin«73 . Im einheitlichen Äußeren verschwindet der Einzelne in der anonymen Masse. Ein Prinzip, das Arbeitgeber, Regierungschefs, Gefängnisverwalter oder Diktatoren zum eigenen Vorteil nutzen. »One of the first steps in getting a group of people to act the same way is to get them dressing the same, whether they be the staff of a fast-food restaurant, the security services or a platoon of soldiers.«74 Das Militär ist sicherlich das prägnanteste Beispiel für Uniformierung. Hier bekommt die Basisfunktion der Bekleidung, der Schmuck, eine zusätzliche Bedeutungsebene. Der Schmuck dient der deutlichen Kennzeichnung eines militärischen, kirchlichen oder staatstragenden Ranges. Schmückend

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Poschmann 2010, S. 155. Vgl. Hackspiel-Mikosch, Elisabeth. »Die Theorie der Uniform: Zur symbolischen Kommunikation einer männlichen Bekleidungsform am Beginn der Moderne.« In Zweite Haut: Zur Kulturgeschichte der Kleidung; Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium Generale der Universität Bern im Herbstsemester 2007, hg. von André Holenstein, 65–89. Wien: Haupt, 2010, S. 71. Vgl. Bäldle, Peter. »A Question of Belief: Glaubenssachen.« In Fashion, body, cult: = Mode, Körper, Kult, hg. von Elke Bippus, 144–151. Stuttgart: Arnold, 2007, S. 149. Hackspiel-Mikosch 2010, S. 75. McDowell 2013, S. 161.

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äußern sich Farben, Attribute sowie Rang- und Berufsabzeichen. Das Purpur des Königs etwa oder die Kopfbedeckung des Bischofs sind besonderen Würdenträgern vorbehalten. Allen angesteckten Orden, Symbolen und Schmückereien liegt ein komplexes System zugrunde. Die Masse verliert beim Militär ihre Individualität an die identische Uniform.75 Selbstdefinierung mit Hilfe von Kleidungsstücken kann entweder durch die Verstärkung der Gruppennorm – der ausladendste aller Reifröcke – stattfinden, oder aber durch die Verwendung von Versatzstücken von Hypocodes anderer Gruppierungen – in Richterrobe mit extravaganten Schuhen.76 Diese Möglichkeiten werden dem Soldaten verwehrt, indem ihm die Bekleidung detailliert vorgeschrieben und das Tragen persönlicher Gegenstände verboten ist. Der Soldat wird in seiner Uniform nicht nur zum Teil einer größeren Gemeinschaft, er verdeckt so seine eigene Persönlichkeit und findet leichter in die Rolle des »Kämpfenden« hinein, der in der Lage ist Dinge zu tun, die der zivile Mensch unter Umständen verweigern würde. (Auch das Bühnenkostüm schafft eine stoffliche Schutzhülle und schützende Distanz zur Privatperson des Darstellers, dessen Überzug ihn bemächtigt Handlungen im Namen seiner Figur auszuführen, die er im eigenen Leben scheuen würde.) Die textile Soldatenuniform fungiert im übertragenen Sinne als Schutzmaske im Kampf, was vor ihr im konkreten Sinne die Ritter- oder Turnierrüstung übernommen hatte.77 Im Gegenzug färbt die martialische Wirkung des Kampfes auf das Material ab. Lederbekleidung, zum Beispiel Reithosen oder Fliegerjacken in militärischen Einheiten wie auch lange Mäntel in totalitären Regimen, evozieren Macht, Gewalt und Brutalität. Wenn Motorradgangs in Lederkluft auftreten, dann nicht nur, weil sie das bei Unfällen schützt, sondern auch weil der Mythos der Macht des Machos mitschwingt.78 Ebenso wie die Uniformierung zur inneren Disziplinierung beiträgt, vermittelt sie ein Gruppengefühl, trägt zur Identifizierung mit seinesgleichen bei und das nicht nur beim Militär. Auch der Beamtenapparat arbeitet – wenn auch nicht mehr so offensichtlich wie in seinen Anfängen – nach diesem Prinzip. Zu Beginn des modernen Staates, nach Ende der französischen Revolu-

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Vgl. Flügel 1986, S. 221. Vgl. Sommer 2010, S. 245. Vgl. Plaumann 2003, S. 384. Vgl. McDowell 2013, S. 27.

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tion, gelten die Ziviluniformen der bürgerlichen Gesellschaft als Sinnbild des hierarchisch strukturierten Staates.79 Umfangreiche Anordnungen regulierten die Uniformen für viele Bereiche der öffentlichen Verwaltung. Sie dienten als ein wichtiger Bestandteil der umfassenden Verwaltungsreformen und waren somit eng verbunden mit der Entstehung des modernen bürgerlichen Staates, der auf einen gut ausgebildeten und effizient arbeitenden Beamtenstab angewiesen war.80 Die Funktion der Beamtenuniform übernimmt heute der schlichte Hosenanzug und das Damenkostüm. Sie sollen Selbstkontrolle, Strebsamkeit und Arbeitseifer ausstrahlen. Der Anzug dient als Sinnbild der Tugenden des ordentlichen Bürgers. Er ist attraktiv, funktional und korrekt. Er steht für »Wissen, Macht und Geld«81 . Die Konstruktion des traditionellen Anzugs lässt Brust, Gesäß, Oberarme und Oberschenkel in eleganter Form nur erahnen. Die voneinander unabhängig getragene Jacke und Hose erlaubt dem Stoff immer wieder, glatt in seinen Urzustand zurückzufließen und vermeidet so unordentlich wirkende Faltenbildung.82 Der Anzug und das Damenkostüm dienen auf der Bühne ebenfalls ganz selbstverständlich als Bühnenkostüm dort, wo der Chor einheitlich bekleidet die Masse verkörpert. Eine Ansammlung grauer, blauer und schwarzer Jacken, Röcken und Hosen, hier eine Krawatte, dort ein anders farbiges Hemd, steht stellvertretend für die heutige Gesellschaft. Die Uniformierung bildet auch auf der Theaterbühne eine homogene Masse.

3.2. Der vestimentäre Code auf der Theaterbühne Die vestimentären Zeichen der Bekleidung behalten bei der Übersetzung auf die Bühne ihre Aussagekraft bei. Das Theater, als kulturelles, bedeutungserzeugendes System erschafft »sinnlich Wahrnehmbares, Laute, Handlungen, Gegenstände«, deren Lesbarkeit in der Bedeutungsgrundlage der entsprechenden Kultur liegt.83 »Die Zeichen des Theaters sind […] nicht mit den ent-

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Vgl. Hackspiel-Mikosch 2010, S. 74. Ebd., S. 72. Vgl. Vinken 2013, S. 36. Hollander, Anne. Anzug und Eros: Eine Geschichte der modernen Kleidung. München: Dt. Taschenbuch-Verl., 1997, S. 19. Vgl. Fischer-Lichte 1983, S. 8.

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sprechenden von den kulturellen Systemen primär hervorgebrachten Zeichen identisch, sondern sie bilden sie als ikonische Zeichen ab, sie bedeuten sie.«84 Im Gegensatz zu anderen ästhetischen Systemen, deren Sprache sich auf ein Ausdrucksmittel beschränkt – die Malerei, die Musik, die Poesie – bedient sich das Theater der verschiedenartigen Gegenständlichkeit der Alltagswelt.85 So unterscheidet sich ein Bühnenkostüm in seiner Objekthaftigkeit nicht von einem alltäglichen Kleidungsstück. »Die Funktionen des Theaterkostüms und die Funktionen, welche die Kleidung im sozialen Leben auszuüben vermag, stimmen weitgehend überein.«86 Die Grundbedeutung der wirklichen Welt bleibt erhalten, bekommt aber eine zusätzliche – symbolische – Ebene, da die reale Funktion des Schutzes auf der Bühne hinfällig ist und nichts als die pure Information zurückbleibt.87 Niemand auf der Bühne muss vor Kälte oder Revolverschüssen bewahrt werden, entsprechend bekleidet transportiert der Akteur aber eine eindeutige Botschaft über Klimaregion und Sicherheitslage, die in der Inszenierung herrscht. Ein Wintermantel auf der Bühne schützt nicht mehr vor Kälte und Schnee, er vermittelt aber dem Zuschauer etwas für die Inszenierung Wesentliches: Es ist kalt in diesem Moment. Hier zeigt sich allerdings, dass auch die ins Symbolische übersetzten Funktionen weiterhin sehr reale Auswirkungen beibehalten. Ein dicker Fellmantel, Moonboots und das Übereinanderwickeln verschiedener Jacken und Schals vermitteln zwar das Gefühl der klirrenden Kälte, dem die Figur ausgesetzt ist. Die Sängerin befindet sich jedoch an einem Ort, an dem – bedingt durch den warmen Lichtstrahl verschiedener Scheinwerfer – zum Teil Temperaturen in den oberen Plusgraden herrschen. Da ein schweißüberströmter Auftritt die perfekte Illusion des Wintertages ebenso stören würde wie eine zu leichte Jacke, muss nicht nur die Schutzfunktion der Bekleidung in eine symbolische umgewandelt werden, sondern auch ihre Materialität. Ein Austarieren zwischen visueller Wirkung des Kleidungsstückes und Tragbarkeit für den Darsteller kann zu einer künstlich konstruierten Kompromisslösung führen. Die Bühne nutzt die ihr eigenen Mittel der Täuschung und die theatrale Scheinwelt wird aufrechterhalten. So ist der Mantel vielleicht überhaupt nicht Fell gefüttert, sondern gibt dies nur durch einen auffälligen Fellstreifen am Revers vor. Die übereinander getragenen Jacken stellen sich als eine einzige Jacke heraus mit

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Ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 182. Ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 16.

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gestafellter Vorderfront und Abschlusslängen. Eine ähnliche Materialwandlung durchlebt auch die Schutzfunktion vor militärischen Angriffen. Nur in besonderen – von Regie und Dramaturgie geforderten Einzelfällen – mutet man dem Darsteller etwa das Tragen einer echten Ritterrüstung zu. Leichte, tief gezogene Modelle, in ihrer Optik mit dem schweren metallenen Original übereinstimmend, übernehmen den Auftritt auf der Bühne. Dem Darsteller bleibt dabei die Aufgabe, sich in seinen Bewegungen, der scheinbar schwerfälligen Gewandung anzupassen, um das aufgebaute Bild nicht zu zerstören. So begleitet die Wahl des Bühnenkostüms immer die Frage nach dem visuellen wie auch dramaturgischen Zweck der jeweiligen Szene. Attribute und Accessoires bleiben in ihrer Zeichenfunktion erhalten, täuschen ihre Funktion nur vor und mutieren dadurch zu einem reinen Zeichen. Die Schauspielerin benötigt die Krücke nicht, zeigt aber so ihre Gebrechlichkeit. Die Königskrone hat keinen materiellen Wert, der Akteur entpuppt sich jedoch sofort als Herrscher. Das kulturelle Gedächtnis erlaubt es auch jedem Theaterzuschauer, den Mann auf der Bühne im purpurroten Mantel als König zu identifizieren, der noch nie leibhaftig einem König gegenüberstand. Denn Rot, eine der kräftigsten Farben, Symbol des Blutes, des Feuers, der Macht und der Liebe, war den Herrschenden und Mächtigen vorbehalten als Kleidung noch verordnet und die Wirkung der Farben bewusst eingesetzt wurde.88 Es geht also bei der Umsetzung eines Theaterkostüms immer auch darum, dem Bild zu entsprechen, das im Kopf des Publikums existiert, das vom kollektiven Gedächtnis geprägt und daher vereinheitlicht ist. »Die Aufgabe des Bildes […] ist nicht etwa eine perfekte Nachahmung des realen Königs, sondern vielmehr, eine vollkommene Vorstellung des Königs zu produzieren.«89 Ein königlicher Herrscher suggeriert Macht und Prunk, das muss sich in der Bekleidung wiederfinden. Dennoch ist es kein Zufall, wenn wir zur Bezeichnung der Theateraktion den Ausdruck »Darstellung« oder »Vorstellung« im Sinne von »Repräsentation« benutzen, also denselben, der auch für das Zeichen benutzt wird. Die Theateraktion eine »Show« zu nennen, betont nur ihr Moment der Zurschaustel88 89

Vgl. Brost, Harald. Kunst und Mode: Eine Kulturgeschichte vom Altertum bis heute. Stuttgart: Kohlhammer, 1984, S. 22. Baum, Fanti und Charlotte Pistorius. »Thinking (in) costume: Einige Skizzenhafte Überlegungen zur Verabgründung des Kostümbildes.« In Kostümbild – Lektionen 6, hg. von Florence von Gerkan und Nicole Gronemeyer, 91–101. Berlin: Theater der Zeit, 2016, S. 93f.

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lung einer bestimmten Realität; sie ein »Spiel« zu nennen, betont ihre spielerischen und fiktionalen Züge; sie eine »Performance« zu nennen, betont ihre ausführenden und gestalterischen Momente; aber sie eine »Darstellung« zu nennen, betont den Zeichencharakter jeder Aktion auf dem Theater, wo etwas vorgeführt wird, fiktional oder nicht, durch eine Form von Gestaltung und zu spielerischen Zwecken, aber vor allem, damit es für etwas anderes steht.90 Die Zeichenhaftigkeit des Bühnenkostüms ist mannigfaltig. Es verdichtet alle notwendigen Hinweise zur Charakterisierung einer Person und arbeitet vielschichtig. Es führt psychologische, soziale und emotionale Aspekte der Rollengestaltung in einer Bühnengewandung zusammen und berücksichtigt dabei nicht nur das aktuelle Bühnengeschehen, sondern lässt auch Vorkommnisse aus der Vergangenheit der Figur einfließen.91 Der Darsteller tritt auf und bereits in diesem Moment nimmt der Zuschauer – meist unbewusst – eine Vielzahl von Hinweisen über ihn wahr. Automatisch liest ein Zuschauer die vestimentären Codes, die er aus dem Alltagsleben gewohnt ist. Er erkennt das Geschlecht des Akteurs, grob seine Altersgruppe, seine soziale Stellung, vielleicht seine Berufsgruppe. Der vestimentäre Code wird jedoch auf der Bühne ausgeweitet. Die Aussagekraft des Codes setzt sich aus Form, Material und Farbe des Kleidungsstückes zusammen. Ebenso wie in der Bildenden Kunst bleibt auch auf der Theaterbühne das ursprüngliche Zeichen der Bekleidung verständlich, wenn eine Komponente in stilisierter Form, künstlerischer Adaption oder Abstraktion verfremdet wird. Tritt z.B. ein Schauspieler in einem strengen, gutsitzenden Anzug auf, erkennt das Publikum in ihm den erfolgreichen, fest in der Gesellschaft stehenden Mann. Verliert nun dieser Anzug innerhalb des Spiels an Passform, beult an Knien und Ellbogen aus und erscheint nach einer Stunde als ruiniertes Kleidungstück eines Obdachlosen, wurde der Verfall und Sturz der Bühnenfigur im Kostüm gespiegelt. Andreas Kriegenburg lässt Macbeth in seiner Inszenierung am Thalia Theater aus dem Jahr 2003 diese Wandlung in einem Kostümbild von Johanna Pfau durchlaufen.92

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Eco, Umberto. Über Spiegel und andere Phänomene. München: Dt. Taschenbuch-Verl., 2002, S. 63f. Vgl. Nadoolman Landis, Deborah. »What is costume design?«. In Hollywood Costume, hg. von Deborah Nadoolman Landis, 48–55. London: V&A Publishing, 2015, S. 54. https://www.spiegel.de/kultur/literatur/macbeth-premiere-die-muehen-des-mittler en-managements-a-233406.html [letzter Zugriff am 05.01.2021].

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

Das Aussehen des Schauspielers oder Sängers fungiert als »ein bedeutungserzeugendes System«93 . Das Kostüm lässt in der Charakterisierung der Figur immer auch Rückschlüsse auf die Epoche der Inszenierung und den Ort der Handlung zu. Über das Bühnenkostüm transportiert das Regieteam einen wesentlichen Teil der historischen Informationen.94 Jedes Bühnenkostüm verweist auf eine Epoche. Bereits leichte Anklänge an eine spezifische historische Silhouette verdeutlichen dem Zuschauer seinen geschichtlichen Ursprung. Ein inzwischen unüblich gewordenes Accessoire – der Fächer, die Halskrause, der Spazierstock – lässt die Vergangenheit lebendig werden. Kleine Versatzstücke – ein Rock in Krinolinen-Form, undekoriert und einfarbig, scherenschnittgleich des historischen Originals – genügen zur Informationsübermittlung, es ist kein komplett historisches Kostümbild notwendig. Neben der gewünschten Epoche der Inszenierung verinnerlicht das Bühnenkostüm immer auch eine zweite, zeitgeschichtliche Komponente: das Premierenjahr der Inszenierung. Ungewollt, aber unabdingbar ist, dass man den Kostümen, egal welche historische Vergangenheit sie repräsentieren, immer auch die Zeit ihrer Anfertigung ansieht. Die Wahl der Accessoires, der Farbe, modische Eigenheiten in der Schnittführung – etwas verrät immer ihre Entstehungszeit. Es wird so gut wie nie ein rein historisch korrektes Kleidungsstück umgesetzt. Dies liegt nicht an der Unkenntnis der Designer oder Gewandmeister, es gehört vielmehr zu den Aufgaben eines Kostümbildners – ähnlich denen eines bildenden Künstlers – dem Zuschauer eine fremde Epoche durch leichte Angleichungen der Details an den Zeitgeschmack zugänglich zu machen. Nur so gelingt es dem Publikum, vom Bühnengeschehen angesprochen zu werden und sich einzufühlen.95 Die Hollywood Produktion Shakespeare in Love wurde auch dadurch zum großen Erfolg, dass das mit dem Oskar prämierte Kostümdesign von Sandy Powell nicht etwa besonders originalgetreu erscheint, sondern im Gegenteil ein Liebespaar aus den 1990er Jahren darstellt – mit leichten Renaissance-Elementen – mit dem der ganze Zuschauersaal mitfiebern kann.96 Jedem ist die für seine Zeit typische Silhouette, Farbpalette und Materialbeschaffenheit und Verarbeitung am vertrautesten, daher wird dies für die Bühne nur im Detail verändert.

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Fischer-Lichte 1983, S. 94. Vgl. Monks 2010, S. 21. Vgl. Junkelmann, Marcus. Hollywoods Traum von Rom: »Gladiator« und die Tradition des Monumentalfilms. Mainz: Zabern, 2004, S. 118. Vgl. Devoucoux 2007, S. 22.

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Die Macht des Kostüms

Die maskierten Bälle am Hofe des 16. Jahrhunderts heben sich durch einen Überschwang an Pracht von der Alltagsbekleidung ab, auch wenn es sich bei den Rollen um antike oder mythologische Personen handelt, so kann sich der ebenfalls prunkvoll bekleidete Zuschauer am besten mit den Akteuren identifizieren. Nur teuerste Materialien wie Seide und Brokat finden Verwendung, aufwendig bestickt und mit Perlen verziert. Daran ändert sich auch nichts beim Auftritt einer »armen Schäferin«. Es wurde mehr Bedacht auf Prunk und Farbsymbolik – der Meeresgott musste hauptsächlich tiefblau sein – als auf Realismus gelegt.97 Eine Barock-Inszenierung, heute noch gespielt, aber uraufgeführt in den 1970er Jahren kann ihre Orange-Braun-Grün Töne, die Modefarben ihrer Dekade, in den ausladenden Rockfronten nicht verstecken. Ähnliches ist noch besser beim Film zu beobachten, dessen Existenz zeitlich nicht so beschränkt ist wie die einer Inszenierung. So zieht sich die Wespentaille der 1950er Jahre durch alle Frauentypen in diesem Jahrzehnt und macht auch vor der Römerin im eigentlich glatt fließenden Gewand keinen Halt.98 Der letzte Schrei der aktuellen Tagesmode erscheint »historisiert« auf der Bühne. Auch der Schauspieler soll in seinem Modebewusstsein glänzen, indem er im Stummfilm als römischer Held einen tief in der Stirn sitzenden Reif trägt, ein Relikt des endenden 19. Jahrhunderts, aber keinesfalls ein üblicher Kopfschmuck der Antike. Seine Verwendung verschwindet zusammen mit der Mode der damaligen Zeit, wohingegen sich eine andere Erfindung der 1900er Jahre zäh in der Film- und Theaterausstattung hält: die Armmanschette an beiden Unterarmen. Verschieden dekoriert erscheint sie zunächst an den Armen antiker Römer und Griechen, sowie an Cowboys, Indianern aber auch Rittern. Sie kann sich als Schmuck der Antike etablieren und hält sich bis heute, auch wenn kein Römer oder Grieche sie je getragen hat.99 Sie ist reine Verkörperung der Idee einer antiken Gewandung, die sich in den Köpfen des Publikums festgesetzt hat. Der Theaterbesucher kann all diese Zeichen jedoch nur entschlüsseln, wenn er sich in der sozialen und kulturellen Welt des Standortes des Theaters auskennt.100

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Vgl. Boehn 1921, S. 320. Vgl. Junkelmann 2004, S. 124f. Vgl. ebd., S. 121. Vgl. Bubner, Rüdiger. »Demokratisierung des Geniekonzeptes.« In Ästhetik der Inszenierung, hg. von Josef Früchtl und Jörg Zimmermann, 77–90. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 7.

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

Daraus folgt, dass ein besonders enger Zusammenhang zwischen Theater und Kultur bestehen muss – die Zeichen des Theaters kann nur verstehen, wer die von den kulturellen Systemen der es umgebenden Kultur produzierten Zeichen kennt und zu deuten vermag.101 Der westliche Opernzuschauer muss den Teufel noch nicht wahrhaftig getroffen haben, um den Mann mit Pferdefuß und geweihartigen Hörnern als Luzifer entschlüsseln zu können.102 Der Mensch setzt sich zu sich selbst auf dem Umweg über ein anderes oder einen anderen in ein Verhältnis. Indem er sich im Spiegel als einen anderen oder auch im Spiegel des anderen betrachtet, macht er sich ein Bild von sich selbst. […] Die Schauspieler fungieren als der Spiegel, der den Zuschauern ihr Bild als das eines anderen zurückwirft. Indem die Zuschauer ihrerseits dieses Bild reflektieren, treten sie zu sich selbst in ein Verhältnis. Mit den Handlungen, welche die Schauspieler vollziehen, mit den Rollen, welche sie spielen, werden dergestalt Aspekte und Faktoren in Szene gesetzt, die für die Zuschauer als Repräsentanten der Gesellschaft im Hinblick auf ihre Identität als Mitglieder dieser Gesellschaft von grundlegender Bedeutung sind. Theater ist insofern als ein Akt der Selbstdarstellung und Selbstreflexion einer Gesellschaft zu begreifen.103 Das Theater imitiert die Wirklichkeit und vermag es, dem Zuschauer in dieser »Als-ob«-Welt echte Emotionen zu entlocken.104 Der fantasievolle Umgang mit der nachahmenden Darstellung der Realität und gerade dieser Widerspruch der emotionalen Teilnahme am offensichtlichen Bühnengeschehen bestimmen den Reiz einer Theatervorstellung.105 Im Gegenzug entwickelt die Bühne aber auch feste, wiedererkennbare Erscheinungsbilder für bestimmte Charaktere, die in das Alltagsleben Einzug halten und deren Erkennungsmerkmale so stark sind, dass wenige Details ausreichen, um sie sofort zu identifizieren. Das groteske, ausgepolsterte Kostüm, das schon bei Aristophanes für Lacher sorgt, die Bekleidung des Arlecchino der Commedia dell’arte 101 Fischer-Lichte 1983, S. 19. 102 Vgl. ebd., S. 106. 103 Fischer-Lichte, Erika. Geschichte des Dramas: 1. Von der Antike bis zur deutschen Klassik. Tübingen: A. Francke, 1999a, S. 4. 104 Vgl. Brauneck, Manfred. Hg. Theater im 20. Jahrhundert: Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2001, S. 17f. 105 Vgl. Bubner 2001, S. 86f.

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Die Macht des Kostüms

als Grundstein des Clown-Kostüms, die ähnlich gemusterten Spaßmacher des Karnevals bilden eine Tradition im Bekleiden des Komischen, das sich bis zum Joker im Batman zieht.106

Abbildung 14: Pablo Picasso, Figurine für Pulcinella, 1920107

Abbildung 15: Léonide Massine als Pulcinella, 1920108

Die Typisierung und Stilisierung ist seit Jahrhunderten eine leichte Darstellungsform, um eine enorme Informationsdichte in einer Figur zu vereinen. Der Betrachter eines Theaterwerkes wie auch eines Films, Gemäldes oder einer anderen performativen Form wie der Pantomime oder des Zirkus erfährt durch schnellen Wiedererkennungswert und große Vertrautheit mit der

106 Vgl. Barbieri, Donatella. Costume in performance: Materiality, culture, and the body. London, New York, NY: Bloomsbury Visual Arts, 2018, S. 62. 107 Picasso, Pablo, Olivier Berggruen und Max Hollein. Hg. Picasso und das Theater. Ostfildern: Hatje Cantz, 2006, S. 167. 108 Ebd., S. 164.

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

typisierten Person einen sehr direkten Zugang zum Werk.109 Die Commedia dell’arte baut ihr gesamtes Bühnenschaffen auf stilisierten Typen auf. Picasso bekleidet 1920 Pulcinella für das gleichnamige Ballett von Igor Stravinsky in der Choreografie von Sergej Diaghilev in der Tradition der Commedia dell’arte. Stravinsky nennt Pulcinella als eine der »Produktionen – und die sind selten – bei denen alles harmoniert – bei denen alle Elemente […] ein stimmiges und einheitliches Ganzes bilden«110 . Dennoch entpuppt sich der Arbeitsprozess als beschwerlich. Picasso stellt sich die Personen in zeitgenössischen Kostümen mit ausgebeulten Hosen und hängenden Rocksäumen vor, doch Diaghilev ist mit den ersten Entwürfen nicht zufrieden.111 Schließlich fertigt der Künstler nur das Kostüm für Léonide Massine an, schwarz-weiß mit auffälliger Maske und roter Krawatte (vgl. Abbildung 14/15):112 Picasso war wütend. In einem Wutanfall zerriss er die Zeichnungen für die Kostüme, verschonte allerdings seine Skizzen für das Bühnenbild. Ein paar Tage später, nachdem er mit Diaghilew Frieden geschlossen hatte, erklärte er sich bereit, neue Entwürfe anzufertigen. Machte eine Zeichnung, die eine neapolitanische Straße im Mondlicht zeigte, und bei den Kostümen hielt er sich an die traditionellen Gestaltungsweisen der Commedia Dell Arte.113 Der Stereotyp, als besondere Art der Typisierung, ermöglicht durch seine optische Erscheinung »Sinn, Orientierung und Verständlichkeit zu produzieren.«114 Das durch eine Maske oder Halbmaske verborgene Gesicht verliert zwar an Natürlichkeit und menschlicher Nähe, macht aber die Stilisierung seiner Person komplett. Mit der Typisierung und der vereinfachten Erkennbarkeit der dargestellten Rolle geht ein gewisser Verlust an Charaktertiefe einher, die aber eine Theaterform, die auf »Spiel, Requisit, Verkleidungen, Verwechslungen, Intrige« basiert, wie die Commedia dell’arte oder die Opera buffa, nicht beeinträchtigt. Die Interaktion der Darsteller, der schnelle Wechsel der Auftritte, Überraschungsmomente, das Spiel mit der Verkleidung

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Vgl. Devoucoux 2007, S. 35. Ebd., S. 181. Vgl. Picasso/Berggruen/Hollein 2006, S. 168. Vgl. ebd. S. 170. Schouvaloff, Alexander. »Picassos Romanze mit dem Ballets Russes.« In Picasso und das Theater, hg. von Pablo Picasso, Olivier Berggruen und Max Hollein, 63–75. Ostfildern: Hatje Cantz, 2006, S. 71. Devoucoux 2007, S. 42.

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Die Macht des Kostüms

treiben die Handlung voran, wie etwa in den komischen Opern von Mozart.115 Die Stilisierung artifizieller Kostümgestaltung bereichert wiederum die Aussagefähigkeit des vestimentären Codes. Auf jeder Kostümparty ist der Gast mit hängender Hose, zerbeulter Melone und Spazierstock als Charlie Chaplin zu identifizieren. Wenige Kunstfiguren sind so stark mit ihrer Kleidung verknüpft wie er. Chaplin berichtet, dass auch für ihn der Moment der Entwicklung seines Kostüms zum Schlüsselmoment in der Entdeckung des Charakters war: »I had no idea of the character. But the moment I was dressed, the clothes and the make up made me feel the person he was. I began to know him, and by time I walked on the stage, he was born.«116 Für die La Fura dels Baus Inszenierung von Giacomo Puccinis Turandot unter der Regie von Carlus Padrissa an der Bayerischen Staatsoper mit Premiere am 3. Dezember 2011 wird etwa die Ästhetik von Ridley Scotts Blade Runner als Inspiration genannt, ebenso wie asiatische Werbeplakate und Neonschriftzüge. Die Handlung verlegt sich auf eine künstliche Eisfläche, über allem wacht ein beobachtendes Auge aus 3D-Animationen. Big Brother is watching you. In Strickleiter-Hochhäusern von der Decke hängend, füllen Statisten neben fliegenden Akrobaten den Bühnenraum. Zusammen mit dem Chor und den Solisten treten Eishockeyspielerinnen auf und Breakdancer. Die sehr effektvolle Inszenierung unterhält neben dem Ohr auch explizit das Auge. Die Kostüme fügen sich in plakativer, asiatisch angehauchter Bildsprache in das Bühnenbild ein, ohne hinter ihm zurückzustehen. Der Kostümbildner Chu Uroz entwirft für den Chor Variationen aus einfachen Kutten, klar, stark farbig mit Schriftzeichen und Werbelogo bedruckt, eine individualisierte, aber homogene Masse. Eine Kapuze und ein am Ärmel herabhängender Stoffstreifen entsprechen mehr einem asiatischen Comic-Klischee als einer traditionellen Bekleidung. Liùs oranges Nylonkleid mit grün-goldener Paillettenschärpe, ein transparent-schwarzes Plastik-Folien-Quadrat am Rücken hat nichts Authentisches und ruft dennoch die Assoziation einer Geisha hervor. Die bewusst künstlich wirkende Perücke, aus meterlangen schwarzen, wollenen Zöpfen, mit Holzstäbchen zu seitlich am Kopf sitzenden Haarbergen zusammengesteckt, mit weißem Make-up und spitzem, klein geschminkten Mund

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Georgiades, Thrasybulos. »Das musikalische Theater.« In Texte zur Theorie des Theaters, hg. von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme, 122–127. Stuttgart: Reclam, 1991, S. 125f. Robinson, David. »The costume of silent comedy.« In Hollywood Costume, hg. von Deborah Nadoolman Landis, 95–105. London, 2015, S. 99f.

3. Das Zeichensystem der Bekleidung

runden das Bild ab. Timur passt in einer ähnlichen orangenen Kutte farbgleich zu ihr und zu seinem Rollstuhl, die Sporthaube an den Ohren ausgeschnitten, der weiße, dünne, lange Ziegenbart, einer Karikatur eines chinesischen Gelehrten entsprungen. Turandot selbst beeindruckt durch hochglänzende, skulpturale Krägen an der sich durch das Kostümbild ziehenden Kutte. Das Vokabular des Kostüms ist in diesem Fall nicht detailliert feinsinnig, sondern mit einfachen, schlichten Kleidungsstücken effektvoll und verständlich in Szene gesetzt. In der Ästhetik von La Fura dels Baus, die auf der Suche nach neuen szenischen Alternativen abseits des klassischen Theaters alle technischen Gestaltungsmöglichkeiten voll ausschöpfen, schimmert ein Funke ihrer Anfänge als Künstler des Straßentheaters durch, wo es darauf ankommt durch spektakuläre Effekte das Interesse der Passanten auf sich zu ziehen.

Abbildung 16: Liù (Ekaterina Scherbachenko) mit Timur (Alexander Tsymbalyuk) in Turandot von La Fura dels Baus, Bayerische Staatsoper, München, 2011117

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Bayerische Staatsoper. Hg. Giacomo Puccini Turandot. Ein Fragment. München 2011, S. 28.

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4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode

Wenn Bekleidung erforscht wird, öffnet sich automatisch das Feld der Mode. Ein Kleidungsstück ist ein konkreter Gegenstand, der den Körper umhüllt, der aber nicht unbedingt unter den Begriff Mode fallen muss. Mode bedient sich zwar der Gegenständlichkeit der Bekleidung, ist an sich aber ein abstraktes Konstrukt, das »sozial ausgehandelt wird«1 . Der vestimentäre Code eines Modeobjektes ist feinschichtig, subtil und benötigt einen kundigen Leser seiner Information. »Mode geht nicht in den materiellen Objekten auf, sondern sie entsteht überhaupt erst im menschlichen Handeln. Mode ist in dieser Perspektive ein performatives Phänomen par excellence.«2 Die Käufer der Mode »führen die Kleider auf und führen gleichzeitig sich selbst mit Hilfe der Kleider auf.«3 Die Mode bedarf nicht nur eines Trägers ihrer selbst, sondern unabdingbar auch eines Betrachters dieses Getragenwerdens, der das mit symbolischer Bedeutungskraft aufgeladene Kleidungsstück als Modeobjekt zu lesen vermag.4 Mode entsteht nur in der Kommunikation mit einem Publikum, ein theatraler Prozess übertragen in die Alltagswelt. Mode ist das optimale Medium, um in eine tägliche Verkleidung zu schlüpfen. Sie entspricht einer gehobenen Form der Kostümierung für das Leben, in der sich der Nutzer wie auch der Betrachter seines Stil-Wissens und seiner aktuellen Geschmackssicherheit erfreuen kann. Der Facettenreichtum des vestimentären Codes in der Mode ist beträchtlich, seine Aussagekraft komplexer als die der reinen Bekleidung, sein Beitrag für das Bühnenkostüm unverzichtbar. Das entscheidende Merkmal der Mode ist neben ihrer Losgelöstheit von jeglichem praktischen Nutzen ihr schneller Wechsel. Max Weber definiert die 1 2 3 4

Loschek 2007, S. 13. Lehnert, Gertrud. »Mode und Moderne.« In Kulturanthropologie des Textilen, hg. von Gabriele Mentges et al., 251–263. Berlin: Edition Ebersbach, 2005, S. 259f. Ebd. Vgl. Loschek 2007, S. 13.

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Die Macht des Kostüms

Mode, eingegliedert in die Kategorie des Brauchs, wie folgt: ›Mode‹ im Gegensatz zu ›Sitte‹ soll Brauch dann heißen, wenn (gerade umgekehrt wie bei Sitte) die Tatsache der Neuheit des betreffenden Verhaltens Quelle der Orientierung des Handelns daran wird.«5 Im stärksten Gegensatz zur schnellen Wechselhaftigkeit der Mode steht die Dauerhaftigkeit der Tracht. Während das Tragen von Mode gerade die bewusste Verbundenheit ihres Trägers mit der Gegenwart unterstreicht, verwurzelt ihn das Tragen der Tracht in der Vergangenheit aufgrund ihrer traditionellen Herkunft. Eine Tracht behält über Generationen ihr Aussehen und ist so unverwechselbares Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, Region oder eines Stammes.6 Tracht »erzeugt ihre visuellen Projektionen primär, um die Bestätigung des etablierten Brauchs zu illustrieren und den Wunsch nach stabiler Bedeutung zu verkörpern, selbst wenn sich die Sitten ändern – sie ist normativ«7 . Die Mode setzt – im Gegensatz zur Tracht – gerade auf die Veränderung. Die Bekleidung spezieller sozialer Gruppierungen bleibt vom Modewandel ebenfalls relativ unberührt. Der durch eine Musikrichtung inspirierte Kleidungsstil, sei es Punk oder Heavy Metal, oder auch durch persönliche Interessensgebiete – etwa von Motorradclubs – verharrt im Look seiner Entstehungszeit und verändert über die Jahre lediglich kleine Details. Sein Bekleidungskodex fällt somit im eigentlichen Sinne nicht unter Mode, sondern Stil.8 Er ist meist plakativ und auf wenige gut wiedererkennbare Stücke reduziert, welche sie schnell und zuverlässig in einer weltweit einheitlichen Codierung charakterisieren. Ihre wesentlichen Merkmale lassen sich besonders einfach auf das Bühnenkostüm übertragen. Die Mode und ihre Geschichte entstehen nach vorherrschender Meinung der Anthropologie gleichzeitig mit der Kultur im Allgemeinen, beginnend in der frühen Steinzeit mit erster Blütezeit in der assyrisch-babylonischen und ägyptischen Kultur. Historiker betrachten die Bekleidungsart der antiken Völker des Mittelmeerraumes als Ausgangspunkt der westlichen Bekleidung. Die Römer und Griechen hüllten sich hauptsächlich in gewebte Stoffe und

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Schnierer, Thomas. Modewandel und Gesellschaft: Die Dynamik von »in« und »out«. Opladen: Leske + Budrich, 1995, S. 24. Vgl. Flügel 1986, S. 222. Hollander 1997, S. 36. Vgl. Loschek 2007, S. 174.

4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode

nicht in Tierhäute wie ihre Zeitgenossen in kälteren Gefilden.9 Die historische Modeforschung sieht die Anfänge im späten Mittelalter mit seinem starken europäischen Adel und dem wachsenden Bürgertum der Städte.10 Die schnell wechselnde Mode nahm allerdings erst mit der Französischen Revolution ihren Lauf. Auch wenn schon vorher modische Strömungen zu verzeichnen waren, nehmen sie an Stärke und Tempo deutlich mit Ende der Ständegesellschaft, dem Beginn der Klassengesellschaft, dem entstehenden Bürgertum und dem für alle zugänglichen Kapitalismus zu.11 Die Position in der Gesellschaft ist nicht mehr gottgegeben und unveränderlich, abhängig von Erbrechten und Privilegien, sondern hängt vom eigenen Engagement ab. Jeder darf seinen Erfolg öffentlich zur Schau stellen, auch in modischer Kleidung. 1789 gilt als Geburtsstunde der Mode. Das demokratische Prinzip der Gleichheit bei gleichzeitiger Verschiedenheit wird gesellschaftlich sichtbar gemacht. »Mit dem Niedergang der klar abgegrenzten Ständegesellschaft erhielt die Gestaltung des individuellen, modischen Auftritts eine weit höhere Zeichenhaftigkeit und diente als erste Orientierungshilfe bei der gegenseitigen Wahrnehmung.«12 Mit dem Abschwächen der Macht des Adels und dem Aufblühen der Großstädte werden diese zu den Zentren der Mode und bleiben es bis heute. Eine gewisse Saturiertheit der Gesellschaft ist notwendig, damit sie sich den Spielereien der Mode hingibt, deren Motivation rein sozialer Natur ist und in der Nachahmung und Abgrenzung liegt.13 Der einzelne zieht den doppelten Nutzen aus der Befolgung des Modediktats, er ordnet sich der Gemeinschaft unter, »steht bei seinem Handeln nicht alleine«, was – so Georg Simmel – »dem Individuum Sicherheit« gibt. Zeitgleich grenzt er sich aber auch von anderen Mitgliedern der Gesellschaft ab und kann so seiner eigenen Persönlichkeit Bedeutung verleihen.14 Der Modewillige erfreut sich daran, dass seine 9 10 11 12 13 14

Leventon, Melissa. Kostüme weltweit: Das illustrierte Nachschlagewerk der Bekleidung, vom Altertum bis ins 19. Jahrhundert. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 2009, S. 13. Vgl. Loschek 2007, S. 163f. Vgl. Lehnert 2005, S. 251. Rasche, Adelheid. »Zur Ausstellung.« In Ridikül!: Mode in der Karikatur 1600 bis 1900, hg. von Adelheid Rasche und Gundula Wolter, 12–15. Berlin, Köln: DuMont, 2003b, S. 13. Vgl. Simmel, Georg. »Die Mode.« In Die Listen der Mode, hg. von Silvia Bovenschen, 179–207. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 182f. Loschek, Ingrid, »Wann ist schön? Ästhetik des Schönen und des Hässlichen in der Mode.« In Zweite Haut: Zur Kulturgeschichte der Kleidung, hg. von André Holenstein, 43–63. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt, 2010, S. 61.

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Kleidungsstücke zwar noch nicht bei den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft angekommen sind, er also durchaus noch außerordentlich und progressiv erscheint, allerdings bereits – und das ist entscheidend, als bewundertes Vorbild:15 »Das Wesen der Mode besteht darin, daß immer nur ein Teil der Gruppe sie übt, die Gesamtheit aber sich erst auf dem Wege zu ihr befindet.«16 In einer auf das Individuum ausgerichteten Gesellschaft wie der heutigen, die keinen starken familiären oder Obrigkeit geführten Reglements mehr unterworfen ist, muss das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gemeinschaft auf anderer Ebene gestärkt werden.17 »Das den schnellen Wechsel der Moden antreibende Prinzip ist die Nachahmung.«18 Im Zusammenleben der modernen und postmodernen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert sucht der Einzelne das alle verbindende Gemeinschaftsgefühl wie auch die persönliche Abgrenzung als Individuum.19 Nach Georg Simmel kann Mode ohne dies nicht existieren: Wo von den beiden sozialen Tendenzen, die zur Bildung der Mode zusammenkommen müssen, nämlich dem Bedürfnis des Zusammenschlusses einerseits und dem Bedürfnis der Absonderung andererseits, auch nur eines fehlt, wird die Bildung der Mode ausbleiben, wird ihr Reich enden.20 Ein simples Kriterium urteilt in der Mode über die Tragbarkeit eines Kleidungsstücks, der Status »in« oder »out«. Etwas ist modisch oder aber es ist altmodisch, wobei diese beiden Charakteristika nichts mit den geläufigen Begriffen von schön oder hässlich zu tun haben.21 Tragbarkeit der Kreation und individuelle Geschmack des Trägers müssen hinter diesem Diktat zurückstehen. Gegen jede Vernunft erfreuten sich bereits Reifröcke, ausladend gerüschte Stehkrägen oder High Heels allgemeiner Beliebtheit. Die Nachahmungsfreude endet meist erst, wenn die Körperformen krank oder deformiert erscheinen. Hier gibt es eine größere Experimentierbereitschaft in der bildenden Kunst als im Alltagsgegenstand Mode.22 Modetrends lösen 15 16 17

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Vgl. Simmel 1986, S. 189. Ebd., S. 187. Vgl. Mink, Dorothea. »Fashion: The Language of the Self: Mode: Die Sprache vom Ich.« In Fashion, body, cult: = Mode, Körper, Kult, hg. von Elke Bippus, 268–285. Stuttgart: Arnold, 2007, S. 275. Vinken 2013, S. 126. Vgl. Sommer 2010, S. 247. Simmel 1986, S. 185. Vgl. Loschek 2007, S. 34. Vgl. ebd., S. 59.

4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode

einander kontinuierlich ab, wobei das als neu Bezeichnete in der Regel nichts gänzlich Neues ist, sondern vielmehr eine Variante und Kombinationen von zurückliegenden Moderichtungen.23 Es liegt aber, um das Ganze zusammenzufassen, der eigentümlich pikante, anregende Reiz der Mode in dem Kontrast zwischen ihrer ausgedehnten, alles ergreifenden Verbreitung und ihrer schnellen und gründlichen Vergänglichkeit, dem Recht auf Treulosigkeit ihr gegenüber.24 Impulse einzelner Gesellschaftsgruppen können einen Mode-Wechsel auslösen. In Georg Simmels »Trickle Down«-Theorie ahmen die unteren die oberen Schichten nach, geleitet von dem Wunsch, mehr zu erscheinen, als sie eigentlich sind. Die Modetrends tröpfeln von der Oberschicht nach unten. Sobald die Masse ihre modischen Angewohnheiten angenommen hat, bemüht sich die Elite wiederum, sich durch eine neue Ästhetik deutlich abzuheben. Seit den 1960er Jahren verliert diese Theorie jedoch an Gültigkeit, da die zunehmend stärkeren Jugend- und Subkulturen aus der unteren und mittleren Gesellschaftsschicht sich als neuer Mode-Motor etablieren.25 Mode entsteht nun auf der Straße und zieht sich von dort in die konservativeren Schichten, wenn auch zum Teil in abgemilderter Weise. »Man trägt nun vielleicht nicht nabelfrei aber zumindest einen tiefer sitzenden Gürtel.«26 Mit dem ständigen Wandel der Gesellschaft befinden sich auch deren Toleranzgrenzen in permanenter Bewegung.27 Das Manipulationsmodell bezieht sich auf die bewusste Steuerung von Modetrends durch Industrie und Medien.28 Popstars, Schauspieler, Sport- oder Gesellschaftsgrößen präsentieren ein Produkt, das ein Jugend- oder Szenepublikum zum Kauf anregt und dann auf die breite Gesellschaft übergreift.29 Der Einfluss der sogenannten Celebrities ist nicht zu unterschätzen, auch ohne gezieltes Sponsorenverhalten der großen Modekonzerne. Was die Stars und Sternchen auf einem Paparazzo-Foto, dem roten Teppich oder in den sozialen Medien tragen, treibt die Verkaufszahlen in die Höhe.

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Vgl. ebd., S. 107. Simmel 1986, S. 207. Vgl. Kaiser/Ketchum/Kuhn 2005, S. 271. Sommer 2010, S. 248f. Vgl. Loschek 2007, S. 159f. Vgl. Sommer 2010, S. 246. Vgl. Loschek 2007, S. 78.

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Somit übernehmen sie eine Rolle, die Jahrhunderte lang rein dem Adel vorbehalten war. Herzoginnen, Könige und deren Mätressen beeinflussten die Mode mehr als es je ein Schneidermeister vermochte.30 Der Modewandel verläuft nicht ohne jede Regelmäßigkeit. Es ist zwar nicht möglich, jede neue Entwicklung exakt vorauszusagen, die Wandlung verläuft aber nach gewissen Gesetzmäßigkeiten.31 Der amerikanische Anthropologe Alfred Louis Kroeber untersucht das Verhältnis von Rocklänge und Rockweite über mehrere Jahrhunderte. Er setzt diese Maße in Bezug zur Weite der Taille und zur Tiefe des Dekolletés. Grafisch dargestellt entstehen so gleichmäßige rhythmische Schwingungen: Die Röcke sind am schmalsten 1811 und 1926 und am weitesten 1748 und 1860. Eine ganze Wellenlänge beträgt also um die 115 Jahre. Die Taillenweite verhält sich dazu reziprok. Die schmalsten Taillenweiten werden getragen, wenn die Röcke am weitesten sind und umgekehrt.32 »Die großen historischen Brüche und Ereignisse haben, nach Kroeber, nur auf kurze Distanzen gesehen Einfluss auf die zeitliche Dimension der Mode, d.h. sie bewirken nur kurzfristig Stagnationen oder Beschleunigungen des Richtungswechsels.«33 Die Mode unterliegt seit dem Mittelalter einem kontinuierlichen Wandel, deren Abfolge sich im Laufe der Jahrhunderte beschleunigt. Während sich im 15. Jahrhundert ein Modetrend etwa 50 Jahre lang hält, dauert er im 19. Jahrhundert nur noch 8 bis 10 Jahre, in der Gegenwart 8 bis 10 Monate. Das Ausrufen einer neuen Modefarbe gilt seit jeher als effektive und simple Methode eines Modewechsels. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gilt die Farbe den Damen hauptsächlich als Abgrenzungsmittel zur Visualisierung ihres sozialen Status. Bis zur Etablierung des industrialisierten Färbens in den 1850er Jahren sind tiefe Rot- und Violetttöne am teuersten herzustellen und symbolisieren somit den Reichtum und die damit verbundene Macht ihres Trägers. Der Unterschicht bleibt meist der Zugang zu jeder Art von leuchtend farbiger Beklei-

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Vgl. Chalmers, Helena. Clothes on and off the stage: A history of dress from the earliest times to the present day. Detroit: Omnigraphics, 1989, S. 15. Vgl. Vinken 2013, S. 13. Vgl. Richardson, Jane und A. L. Kroeber. »Drei Jahrhunderte Frauenkleider: Eine quantitative Analyse.« In Die Listen der Mode, hg. von Silvia Bovenschen, 264–290. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 264. Bovenschen, Silvia. »Über die Listen der Moden.« In Die Listen der Mode, hg. von Silvia Bovenschen, 10–29. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 21.

4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode

dung aus finanziellen Gründen verwehrt, sie müssen mit dumpfen, dunklen, bräunlichen, grauen oder ungefärbten Materialien vorliebnehmen.34 Die Mode ist ein globales Phänomen, Modetrends sind länderübergreifend sichtbar. Selbst kurz nach den beiden Weltkriegen lassen sich die Moden international vergleichen.35 Die Art sich zu bekleiden ähnelt sich in allen Gesellschaftsschichten der westlichen Welt, die auch sonst einen vergleichbaren, kulturellen und sozialen Lebensstil pflegen. Ein Rechtsanwalt in New York sieht wenig anders aus als sein Kollege in London.36 Die Jugendkulturen sind global nahezu identisch. Die Studenten unterscheiden sich in den Fakultäten mehr als sie es länderübergreifend im vergleichbaren Studienfach tun. Die Bewohner der Großstädte sind in ihren angesagten Bars, Restaurants und Geschäften austauschbar.37 Was in Paris »in« ist, ist es in groben Zügen auch in Berlin und Madrid. Wenn hingegen versucht wird, der Bevölkerung einen Kleidungsstil aufzuoktroyieren, bleibt dies ein zeitlich und räumlich sehr beschränkter Einzelfall, der in seiner Künstlichkeit weder eine Chance auf großflächige Ausbreitung noch auf langfristiges Überleben hat. Etwa die standardisierte Bekleidung mit arbeitstauglichen Unisex-Arbeitsoveralls, die sowohl von den Kommunisten, den russischen Konstruktivisten als auch den italienischen Futuristen ausgerufen wurde, konnte sich nicht durchsetzen.

4.1. Der Modewandel als Indikator des Zeitgeistes Die Kunstgeschichte der Mode lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen: Als eine Geschichte des Körpers, den sie durch Kleider formt, eine Geschichte des Stils, der im Verein mit Kunst und Design das Formbewusstsein einer Zeit offenbart, […] oder auch als eine Geschichte ihrer Rezeption durch andere Medien, wie der Bildenden Kunst oder des Films.38 34 35 36 37

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Vgl. Matthews David 2015, S. 104f. Vgl. Loschek 2007, S. 33. Vgl. ebd., S. 185. Vgl. Böhme, Hartmut. »Zeiten der Mode.« In Kunstforum International: DRESSED! Art en Vogue, hg. von Claudia Banz, Barbara Til und Heinz-Norbert Jocks, 48–83. Roßdorf: TZ-Verlag, 2009, S. 59. Lütgens, Annelie. »Of grey Mice, Models and Mothers: Von grauen Mäusen, Models und Müttern.« In Fashion, body, cult: = Mode, Körper, Kult, hg. von Elke Bippus, 152–169. Stuttgart: Arnold, 2007, S. 153.

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Die Macht des Kostüms

Das starke Verflechten der Mode mit den sozialen Strukturen einer Gesellschaft macht sie zu einem Spiegel ihrer Zeit, sozialer Umbrüche und Erneuerungen, schwelgender Konflikte und neuer Freiheiten. Die Mode kommt dem herrschenden Zeitgeist ganz nahe. In ihrer scheinbaren Oberflächlichkeit und textilen Spielerei lässt sich die soziale Stimmung ablesen. Das Verarbeiten von aktuellen, teils noch im Untergrund oder im Entstehen wabernder Strömungen teilt die Mode mit dem Bühnenkostüm. Die Nähe zu der Gesellschaft, aus der es entspringt, vereint das Theater mit der Mode. Das Kostüm ist das direkte Abbild der herrschenden Bekleidungsgewohnheiten, zeigt die Formbarkeit des Körpers und die veränderbare Ästhetik der Zeitgeschichte. Mode »verwebt Erinnern«, indem sie unablässig alte Stilmuster in neue Impulse umwandelt: »Das Vergangene wird für das Jetzt aktiviert […].«39 Dem beharrlichen Wunsch nach ständiger Veränderung mag die menschliche Neigung zur Langeweile, zur Neugier und ein gewisser Spieltrieb zugrunde liegen. Der unaufhörliche Wechsel der Moden vertreibt augenscheinlich angenehmer die Zeit. Die Mode bedarf im präsenten Moment eines Trägers. Sie kann nicht frei von ihm existieren, da sie nur in der Interaktion zwischen ihm und einem Betrachter entsteht. Der Zweck oder Reiz der Kleidungsstücke liegt nicht in der Alltagstauglichkeit, sondern rein im sozialen Wert, den sie erhalten, sobald sie en vogue sind. Selbst ihr Materialwert ist in der Regel von geringer Bedeutung, einzig der symbolische Wert ist ausschlaggebend. Die modischen Objekte versprechen ab sofort Macht, Wissen, Schutz oder Erotik. Mode durchläuft dabei eine sinnbildliche Aufladung, vergleichbar mit der Bedeutungserhöhung von vestimentären Attributen im Laufe der Menschheitsgeschichte. So wird ein einfacher Stock zum Kommandostab und zum Zepter, auch wenn er sich materiell nur wenig von einem Stock unterscheidet. Eine Kappe entwickelt sich von der Kopfbedeckung eines Priesters zur Krone eines Herrschers. »Attribute erhielten Zeichencharakter: Kopfbedeckungen standen für Macht und Ansehen, Handschuhe wurden Stellvertreter für die rechte Hand und zu Ehre- und Gerichtbarkeitszeichen; wofür der Fehdehandschuh bekannt ist.«40 Mode wird sozial ausgehandelt. Ohne Publikum ist auch Mode nur ein Stück Bekleidung. Überdauert ein Entwurf seine Zeit, entpuppt er sich als stilbildend für seine Epoche, als herausstechender Wendepunkt der Modegeschichte oder ist untrennbar verknüpft mit einem historischen Ereignis, überdauert er die Kurzlebigkeit der Mode. In diesen Fällen wandelt 39 40

Ebd., S. 161. Loschek 2007, S. 188.

4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode

er sich zu einem Sammlerobjekt, einem Museumsstück, Repräsentant eines Zeitgeistes und kann in eine körperlose Ausstellungsform übertreten. Die bloße Hülle der Bekleidung hat sich bereits sozial aufgeladen, die Interaktion von Träger und Betrachter ist abgeschlossen und der Modewert eng mit dem Kleidungsstück verbunden. Das Modeobjekt erreicht – auch trägerlos – einen die Zeit überdauernden Wert als historisches Relikt, Sammlerstück oder Kultobjekt. Die Präsentation im Museum erfolgt jedoch meist auf maßgefertigten Büsten, um die perfekte Passform und den ursprünglich gewünschten Sitz des Kleidungsstückes zu veranschaulichen. Eine leblose Plastikversion ersetzt also lediglich die menschliche. Der vestimentäre Code ist ein sehr instabiler Code innerhalb des kulturellen Systems, im Vergleich etwa zum syntaktischen Code der Sprache.41 Dies bringt den Vorteil mit sich, dass ein Kleidungsstück, mit einem Spielraum von wenigen Jahren, der Zeitspanne seiner Entstehung zugeordnet werden kann. Dies verleiht ihm rückblickend musealen Charakter. Kleidung kann authentisch das Lebensgefühl seiner Dekade repräsentieren und transportieren – zum Beispiel auf die Theaterbühne. Die Bekleidung der 1960er Jahre unterscheidet sich deutlich von der der 70er Jahre. Ein Kleidungsstück trägt also immer die Information seiner Entstehungszeit in sich. Die typischen Merkmale der einzelnen Moderichtungen sind im kollektiven Gedächtnis verankert und lassen sich unbewusst abrufen. Wer eine Schlaghose und ein geblümtes enges Hemd vor sich sieht, denkt automatisch an die 70er Jahre. Kleidungsstücke leben fort in Museen, auf Gemälden, als Fotografien, in Zeitschriften und Büchern und sind so ein Relikt für »Zeitgeist, Lebensform, Ästhetik, Geschmack, Herstellungs- und Textiltechnik« ihrer Zeit.42 Sie fungieren zielgerichtet als Informationsträger, um diesen Zeitgeist, diese Lebensform und diese Epoche heraufzubeschwören. Fällt die Wahl auf ein historisches Bühnenkostüm, ist die zeitliche Einordnung der Inszenierung gewiss. Ganze Epochen können so rekonstruiert werden. Das Spiel mit historischen Kleidungsstücken eröffnet aber ebenso die Möglichkeit, mit einzelnen Versatzstücken signifikanten Repräsentanten ihrer Zeit eine besondere Tragegewohnheit oder Aussagekraft zu vermitteln. Die enge Corsage an einer Frau schnürt automatisch den Körper ein, dies kann auf fehlende persönliche Freiheit verweisen oder lediglich ein erotisches Accessoire bedeuten.

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Vgl. Fischer-Lichte 1983, S. 11. Loschek 2007, S. 176.

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Die Mode wandelt durch verschiedene Methoden ihr Gesicht. Unabdingbar ist der Wechsel in Weite und Länge aller Kleidungsstücke. Röcke, Kleider, Hosen, Jacken und Mäntel müssen je nach Saison kurz oder lang, körperbetont oder weitschwingend sein, ähnliches gilt für Hosenbeine und Jackenärmel. Materialität, Verarbeitung und Farben wandeln sich. Geläufige Elemente erfahren einen Funktionswechsel, ein Reißverschluss schließt dann etwa das Sakko, nicht mehr zahlreiche Knöpfe. Elsa Schiaparelli beraubt den Reißverschluss in den 1940er Jahren seiner Funktion und übersät damit ausschließlich aus Dekorationsgründen Abendkleider.43 Gestaltungsarten sind Reduktion, Dekonstruktion, Doppelung, Kontextverschiebung. Der Dekonstruktivismus, eine Begrifflichkeit, die aus allen künstlerischen Bereichen – Architektur, Design und Musik – bekannt ist, beginnt in der Mode mit Rei Kawakubo und Yohji Yamamoto. Ihre Ästhetik erschüttert die Sehgewohnheiten der 1990er Jahre, die sich noch an fein verarbeiteten, im klassischen Sinn eleganten Kleidungsstücken erfreuen. Die neue Mode jedoch erscheint kaputt, unvollendet, in der Auflösung begriffen. Die Säume und Nähte sind unverarbeitet und geben lang herunterhängende Fransen frei. Dunkle, meist matte Stoffe mit grober Oberfläche scheinen aus Resten patchworkartig zusammengeschustert. Die Silhouette ist weit, kastenartig, oft asymmetrisch und verhüllt den Körper mehr, als dass sie ihn heraushebt.44 Yamamoto und Kawakubo folgen einer neuen Herangehensweise an den Zuschnitt, die Dekonstruktion ist detailliert konstruiert. Hochwertige Materialien setzten sich zu neuen Kleidungsgebilden zusammen.45 Das Kopieren großer Modelabels durch internationale Handelsketten gehört dabei mit zum Spiel der Mode, ganz nach Elsa Schiaparellis Regel: »In dem Moment, wenn die Leute aufhören, dich zu kopieren, bedeutet das, dass du nicht länger gut bist und aufgehört hast, innovativ zu sein.«46 Inspirationsquelle der Modeindustrie, aber auch schon der wohlhabenden und aristokratischen Familien der vorindustrialisierten Zeit, ist alles Ausländische und Exotische. »Grenzüberschreitung ist eines der ältesten Mittel für Innovation in allen

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Vgl. Baudot, François. Schiaparelli. München [u.a.]: Schirmer/Mosel, 1997, S. 10. Vgl. Mears, Patricia. »Fraying the Edges: Fashion and Deconstruction.« In Skin + bones: Parallel practices in fashion and architecture, hg. von Brooke Hodge und Patricia Mears, 30–37. Los Angeles, New York, London: Thames & Hudson, 2006, S. 30. Vgl. ebd., S. 34. Schiaparelli, Elsa. Shocking life: Die Autobiografie der Elsa Schiaparelli. Berlin: ParthasVerl., 2014, S. 87.

4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode

kulturellen Bereichen.«47 Mit verbesserten Fortbewegungsmöglichkeiten und dem Expeditionsdrang der Wissenschaft geben fremde Kulturen den Impuls zu neuen Bekleidungsformen. Expansion von geschäftlichen Handelsverbindungen wie auch kriegerische Feldzüge eröffnen den Blick auf exotische Völker und deren Sitten, Bräuche wie auch Kleidungstraditionen. Das entsprechende Interessensgebiet spiegelt den vorherrschenden Zeitgeist wider. Grundsätzlich gilt: Je weiter entfernt und aufwendiger die Beschaffung der neuen Güter, desto größer das Ansehen ihrer Träger. Die Händler der Seidenstraße brachten das begehrte Textil nach Europa, die Kreuzritter führten aus dem Orient Schnabelschuhe […] in die Burgundische Mode ein, aus Indien kamen im 18. Jahrhundert Chintze und Kaschmirschals und aus Russland der Zobel, die Perlen aus Japan.48 Irrationaler Umgang mit den textilen Objekten der Begierde zieht sich durch alle Jahrhunderte, nicht nur in ihrer Beschaffung, auch in ihrer Tragbarkeit. Auch wenn der Modekonsum in der Moderne – abgesehen von Knochenbrüchen auf Grund von schwindelerregenden Absatzhöhen – zumindest nicht mehr lebensgefährlich ist. Noch bis Ende des 19. Jahrhunderts setzen sich die Modeaffinen beidseitigen Geschlechts wissentlich ernsthaften Gesundheitsrisiken aus. Einige Farben, zum Beispiel ein sattes, tiefes Grün können nur durch schwer toxische Inhaltsstoffe gewonnen werden. So enthält eine Kopfbedeckung im entsprechenden Grün en vogue genug Arsen um zwanzig Hutträger unter die Erde zu bringen.49 Während die Herren diese Gefahr gerne in Kauf nahmen, ist es für die Damen ein allgegenwärtiges Risiko, mit ihren weiten Röcken eine Feuerstelle zu streifen und in Flammen aufzugehen. Zu den bekanntesten Opfern ihrer Dekade gehören die zwei Halbschwestern Oscar Wildes, die beide 1871 an den Folgen ihrer schweren Verbrennungen, erlitten während eines Halloween Balls, sterben.50 Zwei Jahrzehnte später kämpfen liberale Frauenvereinigungen nach wie vor gegen das Tragen bodenlanger Röcke: Der Saum schleife den Dreck der Straßen nach innen und verunreinige so alle Häuser. Zumindest an Regentagen wird aus Gesundheitsgründen zum Tragen kürzerer Röcke geraten, was allerdings auf taube Ohren der modebewussten Damenwelt stößt und zu einem verständnislosen Artikel

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Loschek 2007, S. 134f. Ebd. Vgl. Matthews David 2015, S. 76. Vgl. ebd., S. 163f.

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im Magazin Harpers Bazar führt, da die Hauptaufgabe einer Frau doch darin bestehe »lovely« auszusehen.51 Der soziale Wert der Mode kann als so hoch angesehen werden, dass das Interesse am offenen Zurschaustellen des eigenen – natürlich guten – Geschmackes, die damit verbundenen notwendigen, aber ausreichend vorhandenen finanziellen Mittel und die somit bewiesene Zugehörigkeit zur entsprechenden Schicht, jedes gesundheitliches Risiko überwiegt. Die Karikatur eignet sich, die Dauer eines historischen Modetrends aufzuzeigen. »Spottblätter lassen uns historische Mode durch die Brille der Zeitgenossen sehen.«52 Übertreibungen in der Formgebung, die auch zu Lebzeiten als lächerlich oder unangebracht gesehen wurden, werden aufgezeigt. Besonders beliebte Opfer waren hierbei etwa die durchsichtigen Chemisen-Kleider, überdimensionale Tournüren oder Keulenärmel.53 Auch lässt sich so die Dauer eines Modetrends relativ gut nachverfolgen. Er erscheint in den Karikaturen nur zu Anfang seiner Entstehungszeit, wenn er in den Augen der Betrachter noch als ungewöhnlich und daher lachhaft gilt, sowie am Ende seiner Blütezeit, wenn ihm die Zeitgenossen bereits wieder überdrüssig sind und die späten Nachahmer belächeln.54 Die karikierte Bühnenkostümgestaltung zeigt sich neben den Spaßmachern und komischen Figuren in allen Epochen, besonders bei den unangenehmen, dem Protagonisten übelsinnend gegenüberstehenden, negativ besetzten Personen, die Verachtung bei den anderen Figuren wie auch dem Publikum auslösen.

4.2. Differenzen im femininen und maskulinen Modewandel Ein deutlicher Unterschied von männlicher und weiblicher Mode ist im Laufe der Geschichte zu beobachten. »Der Mann trägt heute eine Tracht, die man Uniform der Zivilisation nennen könnte, so allgemein verbreitet sind ihre Stoffe, Schnitte und Farben über die ganze Erde«.55 Was den permanenten Wan-

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Vgl. ebd., S. 37ff. Wolter, Gundula. »Verdammt, verachtet, verspottet: Schand- und Zerrbilder der Mode.« In Ridikül!: Mode in der Karikatur 1600 bis 1900, hg. von Adelheid Rasche und Gundula Wolter, 18–38. Berlin, Köln: DuMont, 2003, S. 34. Vgl. ebd., S. 34f. Vgl. Rasche 2003b, S. 12. Boehn 1918, S. 93.

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del der Mode betrifft, liegt der Fokus deutlich auf der Damenbekleidung.56 Die männliche Silhouette verändert sich seit der französischen Revolution kaum, die weibliche hingegen wandelt sich mannigfach und zahlreich.57 Die militärische Erfindung des Brustpanzers ändert den Anspruch an die Herrenmode Mitte des 13. Jahrhunderts. Die weiten, langen, teils gewickelten Gewänder der Antike müssen körperbetonenden Kleidungsstücken weichen, die nicht nur das nun strumpfbedeckte Bein betonen, sondern auch die – im besten Fall – gestählte Brust.58 »Die männliche Mode äffte schnell die Formen nach, die die Rüstungsschmiede erschaffen hatten, die wirklich als die ersten Schneider Europas bezeichnet werden können.«59 Die bis in die Antike ähnlich gehaltene Silhouette von Mann und Frau wird in diesem Moment in zwei unterschiedliche Kleidungskonzepte unterteilt. Ab sofort trägt der Mann ein enges, geschnürtes Wams, dem militärischen Panzer entlehnt, zu Strümpfen und kurzen, gepolsterten Jacken in verschiedenen Ausführungen.60 Der Brustpanzer als Teil der geschmiedeten Ritterrüstung steht nach wie vor für Heldenmut und Tapferkeit, auch nachdem die Rüstung mit Zunahme der Feuerwaffen ihre Funktionalität verloren hat.61 Um 1650 hatte sich der Panzer im Krieg als definitiv überholt erwiesen und sogar einen Großteil seiner zeremoniellen Bedeutung eingebüßt; rudimentäre metallene Kragen und Brustschilde wurden weiterhin als Rangabzeichen verwendet. Aber während der qualvollen Zeit des Dreißigjährigen Krieges und des Englischen Bürgerkrieges in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts galt als effektivster Kämpfer der ungeschliffene Soldat, der ausgebeulte Kniehosen und ein locker sitzendes Lederwams trug. Darunter hatte er ein einfaches Hemd mit riesigen Ärmeln an. Er war ausgestattet mit großen Stiefeln, einem großen Hut, einem großen Umhang und einem lose umgebundenen Schwert. Um dieses Aussehen nachzuahmen, ließen elegante

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Es gilt natürlich der Einwand, dass sich dies über die Jahrhunderte rein auf die Oberschicht bezieht. Mit der Industrialisierung wurde zwar Mode für die breite Masse zugänglich, aber erst in den letzten Jahrzehnten ermöglichen globale Modeketten auch Bevölkerungsgruppen mit geringen finanziellen Mitteln Zugriff auf jegliche Art von Bekleidung. Vgl. Vinken 2013, S. 12. Vgl. ebd., S. 58. Hollander 1997, S. 73f. Vgl. ebd., S. 73f. Vgl. Flügel 1986, S. 247.

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Herren ihr Haar lang wachsen und stolzierten herum, lockerten ihre Kragen, ließen ihre Strümpfe Falten werfen und hüllten sich in weite Mäntel.62 Damen und Herrenbekleidung verfolgen einen unterschiedlichen Zweck, woraus die abweichende Verweildauer ihrer Modetrends resultiert. Während die Männermode seit Ende des 18. Jahrhunderts die Seriosität der Herren unterstreichen und unnötigen Schmuck vermeiden möchte, versucht die Damenmode den Körper ihrer Trägerin mit jedmöglicher Verzierung in Szene zu setzen.63 Der Kämpfer im Manne war das große Thema der Männermode bis zur französischen Revolution. Die Welt der Damenmode war die des Geheimnisses, der Schamhaftigkeit und des Verhüllens. Mit der französischen Revolution übernehmen die Frauen von der Männermode das Ostentative.64 Dies war vom 15. bis zum 18. Jahrhundert eine männliche Aufgabe. »Die Männer waren das schöne Geschlecht.«65 Krieger und Könige wollen mit ihrem auffallenden Äußeren beeindrucken und einschüchtern. Der trainierte Soldat soll durch entsprechenden Schmuck noch aggressiver und furchteinflößender aussehen, während gleichzeitig empfindliche Körperteile geschützt werden können. Die Herrscher demonstrieren durch edle und imposante Gewänder ihre herausragende Stellung. Absatzschuhe waren den Männern vorbehalten, die Reiter Persiens imitierend. Nur so konnten deren Soldaten sicher im Steigbügel stehen und zweihändig Bogen schießen.66 Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zum Ende des 18. Jahrhunderts und der damit einhergehenden häuslichen Aufgabenverteilung in einen arbeitenden Ehemann und eine Ehefrau mit repräsentativen Aufgaben, ändert sich zwar die Rolle des Mannes vom Privatier, wie es im Adel üblich war, hin zum Geschäftsmann. Die Stellung der Frau bleibt allerdings unverändert. »Die Muße der Frauen ist Statussymbol, das die Frau zur Dame, den Mann zum Herrn und Bürger macht. Die bürgerliche Frau spielt die Rolle der Adeligen.«67 Sie kümmert sich um die Organisation des Haushaltes und der Familie, kann sich ansonsten aber ausschließlich mit ihrem Äußeren beschäftigen. Die bürgerliche Klasse zeichnet sich dadurch aus, dass der Mann den entsprechenden Reichtum erarbeitet, der der Ehefrau erlaubt, erwerbslos zuhause zu bleiben 62 63 64 65 66 67

Hollander 1997, S. 85f. Vgl. Vinken 2013, S. 76. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 15. Ebd., S. 129.

4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode

und sich ganz ihrer Rolle als Statussymbol ihres Mannes zu widmen. Er trägt den Herrenanzug, der bis heute für finanziellen und gesellschaftlichen Erfolg steht, während sie weiterhin in der ausladenden Kleiderpracht des ehemaligen Adels schwelgt und so den dekorativen Aspekt der Damenmode aufrecht erhält.68 Der Dame des Hauses fällt somit eine ähnliche Funktion zu wie der Dienerschaft, je geschmackvoller, prächtiger und teurer der Diener gekleidet ist, desto höher ist das Ansehen seines Herrn.69 Da die Damen keine körperlichen Anforderungen an ihre Kleider stellen und lediglich der jeweiligen Zeitmode entsprechen möchten, können sich modische Auswüchse halten, die die Frau stark in ihrer Bewegungsfreiheit – bis hin zur Lebensgefahr – einschränken. So sind Fälle bekannt in denen schmale bodenlange Röcke ihrer Trägerin zum tödlichen Verhängnis werden, weil sie in ihrer Enge keine großen Schritte erlauben, was mit dem Fall vor diverse Fuhrwerke endete.70 In den Jahrzehnten nach der französischen Revolution kommt es zu einem der größten Umbrüche im Zuschnitt der Damenmode. Erstmals seit der Antike fallen die Kleider direkt auf den Körper und folgen nicht Form gebenden Untergestellen wie Krinolinen, Korsagen oder Tournüren.71 Die Silhouette nähert sich nach jahrelanger unnatürlicher Ausformung in enge Taille und gebauschte Röcke, sei es an Gesäß, den Seiten oder im Umfang, der natürlichen, biologischen Gestalt an. Die Bekleidung der Frau verfolgt das Ziel, den Körper elegant zu verstecken. Verhüllung und Verschleierung im Zeichen der Tugendhaftigkeit waren oberstes Gebot der Damenmode.72 Auch hier wechseln sich die gesellschaftlichen Konventionen permanent ab: Einmal darf das Dekolleté nicht gezeigt werden, ein anderes Mal der Knöchel oder die Hände. Gemeinsam ist allen Stilrichtungen das Umhüllen von Oberkörper und Beinen mit unzähligen Stoffschichten, die die wahre Körperform nur erahnen lassen. Bei allem züchtigen Verdecken wird jedoch nie aus den Augen verloren, die eigene Erscheinung bestmöglich herauszuputzen. Nicht nur, dass das modische Diktat eine körperliche Einschränkung mit sich führt, bietet die Wahl der Kleidungsstücke oft die einzige Möglichkeit für eine Frau, sich individuell auszudrücken. Dies führt zu abstrusen Kreationen wie überdimensionierten Hüten oder me-

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Vgl. ebd. Hackspiel-Mikosch 2010, S. 72. Vgl. Matthews David 2015, S. 141. Vgl. Vinken 2013, S. 80. Vgl. ebd., S. 27.

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terbreiten Rockkonstruktionen. Die Damen versuchen sich gegenseitig auszustechen, was die bewegungsunfreundliche Mode auf die Spitze treibt. Mit der Emanzipation einhergehend gleichen sich männliche und weibliche Moden immer mehr an. Auch die Damen kleiden sich zweckmäßiger und unauffälliger. Das Businesskostüm der arbeitenden Frau unterscheidet sich kaum vom klassischen Herrenanzug. Nur die Abendgarderobe erfordert von der Frau noch Kreativität, während der Mann – immer gleich – auf »white tie« zurückgreifen kann.73

4.3. Die Beziehung der Mode zur Kunst Mode in ihrer Eigenart der Unbrauchbarkeit und praktischen Sinnlosigkeit zeigt sich gerne in inszenierter Form über der Realität schwebend. Sie stellt sich dar auf Laufstegen und Fotostrecken.74 Außergewöhnliche Kreationen, die kunstvoll zusammengestellt durch die Modefotografie in Szene gesetzt und einem internationalen Publikum präsentiert werden, wecken Begehrlichkeiten, auch wenn sie für die wenigsten im Alltag als geeignet und brauchbar erscheinen. Das ist die Intention der Mode. Sie unterwirft sich keinen praktischen Anforderungen. Das reine Habenwollen ist ihr Motor.75 Damit lässt die heutige Designermode die Grenze zwischen Kleidungsstück und Kunstobjekt verschwimmen; Modedesigner und Textilkünstler treten in einen wechselseitigen Dialog. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Charles Frederick Worth ihren Anfang nahm. Worth beginnt in den 1860er Jahren als erster Couturier Kleidungsstücke unter seinem eigenen Namen zu produzieren und legt so den Grundstein für einen eigenen, angesehenen Berufsstand. (Es ist nicht verwunderlich, dass auch die Namen der Kostümbildner bis dato zum Großteil im Verborgenen bleiben, wenn die künstlerische Urheberschaft von Bekleidung nicht nennenswert ist.) Bis zu diesem Zeitpunkt werden Kleidungsstücke im gegenseitigen Austausch von Kunde und Schneider, der spezielle Wünsche in Materialauswahl und Zuschnitt einbezieht und das Kleidungsstück eigenhändig herstellt, kreiert.

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Mit Worth trennt sich nun die geistige, kreative Arbeit des Entwurfes von der Tätigkeit des Zuschnittes und der Verarbeitung, die der Designer nur noch überwacht, in der Regel aber nicht mehr durchführt.76 Worth etabliert einen eigenen wiedererkennbaren Stil, signiert seine Arbeit ähnlich einem bildenden Künstler und versieht jedes Kleidungsstück mit seinem Namensschild.77 Er macht aus der Ware Kleidung als banalem Gebrauchsgegenstand, dessen Handwerker im Unbekannten bleibt, einen bewusst gestalteten und in seiner Einzigartigkeit begehrenswertes Objekt. Zu seinen Kundinnen zählen nicht nur der Adel und das französische Königshaus, sondern auch die Stars der Pariser Theater.78 Neben Elisabeth »Sissi« von Österreich trägt auch Sarah Bernhardt zum sich ausbreitenden Ruhm von »Monsieur Charles« bei. Sie erscheint in seinen Roben auf der Bühne, ausführlich dokumentiert im Programmheft. Die Presse überschlägt sich und nährt die Schlangen vor Worths Atelier. Der liefert der Schauspielerin mehr seiner glanzvollen Kreationen, die wiederum für ihre elegante Erscheinung gefeiert wird. So vollzieht sich ein sich wechselseitig befruchtender Prozess der gegenseitigen Marktwertsteigerung. Es war nicht nur der Beruf des Modedesigners geboren, sondern auch die Haute Couture, »Interpretation von Körper, Saison, Zeitgeist« auf höchstem Niveau der Schneiderkunst.79 Modeschauen präsentieren einer ausgewählten Klientel die exklusiven Modelle, angefertigt im Anschluss nur auf Bestellung und nach Maß. Die Kleidungsstücke einer Haute Couture Laufstegpräsentation zählen zu den elaboriertesten und oft auch extravagantesten Entwürfen eines Hauses, wodurch sie zum Teil nicht für den Gebrauch geeignet und reines Repräsentationsobjekt des Modelabels sind. Sie erzielen dafür aber die gewünschte Aufmerksamkeit und kurbeln den Verkauf der tragbareren und preisgünstigeren Pret-à-porter-Modelle an.80 Ihre inzwischen oft ins Extreme ausschweifenden Entwürfe heben die natürlichen Grenzen der menschlichen Silhouette auf. Yohji Yamamoto, Vater der dekonstruktivistischen Mode, Anhänger des Unperfekten – »I want to see scars, failures, disorder… I think perfection is ugly«81 – möchte, dass seine Kreationen Geschichten erzäh76 77 78 79 80 81

Vgl. ebd., S. 214. Vgl. Lehnert 2005, S. 257. Vgl. Majer, Michele. Hg. Staging Fashion 1880–1920: Jane Hading, Lilly Elsie, Billie Burkee. West Haven, Connecticut, USA, 2012a, S. 28. Lütgens 2011, S. 93. Vgl. Koda 2001, S. 11. Yohji Yamamoto zitiert nach: Hodge, Brooke und Patricia Mears. »Parallel Practices: Architects and Designers in the Exhibition.« In Skin + bones: Parallel practices in fashion

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len. 1998 verarbeitet er in seiner gesamten Kollektion, nicht wie üblich nur beim letzten, gezeigten Kleid, das Thema Hochzeit. Viellagige, wandelbare Kreationen in Weiß und Schwarz umkreisen spielerisch das Sujet Braut, darunter ein zarter weißer Reifrock. Die historische Referenz scheint unter der Leichtigkeit der zeltartigen Konstruktion zu verhallen. Das unterrockartige Kleid verbirgt in eingearbeiteten Rocktaschen alle für eine Hochzeit wichtigen Accessoires – Schuhe, Hut, Schleppe, Blumenstrauß und Handschuhe – die das Modell während der Show auf die Bühne zaubert und anzieht. Die Modeschauen einzelner Designer wie etwa auch Alexander McQueen, Hussein Chalayans oder auch von Viktor & Rolf werden nicht nur als reine Präsentation einer Modekollektion angesehen, sondern in ihrer Aufwendigkeit, narrativen Struktur oder komplexen Bildsprache als eigene performative Kunstform.82 Vivienne Westwood, John Galliano oder Alexander McQueen entführen ihre Kunden in historisch inspirierte, opulente Welten.83 Die gezeigten Kleidungsstücke sind dabei so mit Informationen aufgeladen, dass jedes Outfit eine eigene Geschichte erzählt. Dies ist vergleichbar mit der Arbeitsweise eines Bühnenkostüms mit dem Unterschied, dass eine rein fiktive Geschichte, ein ästhetisches Konzept oder eine historische Analogie die Gestaltung prägen und nicht die Charakterisierung einer Bühnenfigur. Die direkte Übertragung eines Laufstegmodelles auf die Theaterbühne ist daher schwierig. Die Handschrift eines modischen Entwurfes kann zu stark sein, um sich der Dramaturgie unterzuordnen. Die ästhetischen und konzeptuellen Möglichkeiten jedoch, die die Mode der Bekleidung aufzeigt, machen ihr kreatives Potenzial deutlich und tragen zur gesteigerten Wertschätzung der häufig als oberflächlich und unnötig betrachteten Spielereien der vestimentären Sprache bei. Die experimentelle, neuartige Formensprache der Mode bereichert auch die Gestaltungsmöglichkeiten des Bühnenkostüms. Die Untragbarkeit der Haute Couture in Alltagssituationen löst eine Diskussion über den Stellenwert der Mode als Gebrauchs- oder Konsumgegenstand aus und regt ihre Verschiebung hin zur bildenden Kunst an. Die Mei-

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and architecture, hg. von Brooke Hodge und Patricia Mears, 50–259. Los Angeles, New York, London: Thames & Hudson, S. 251. Vgl. Oakley Smith, Mitchell und Alison Kubler. Mode ist Kunst: Eine kreative Liaison. München: Prestel, 2013, S. 17. Vgl. Steele, Valerie. »Abstraction and the Avant-Garde: Abstraktion und die Avantgarde.« In Fashion, body, cult: = Mode, Körper, Kult, hg. von Elke Bippus, 24–29. Stuttgart: Arnold, 2007, S. 25.

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nung, ob dies gerechtfertigt ist oder aber die Mode nicht über den Status des Kunsthandwerkes oder der angewandten Kunst hinausreichen kann, gehen auseinander. Besonders die Haute Couture, aber auch die Pret-à-Porter Modelle, zählen durch ihren Preis, hochwertige Materialien und die aufwendige Verarbeitung zu den Luxusgütern. Mode schwebt zwischen Konsum und gestalterischem Schaffen. Produziert für den Verkauf ist ihre Herstellung im Gegensatz zur bildenden Kunst nie frei von ökonomischen Zwängen. Mode verfolgt jedoch ein künstlerisches, kreatives Konzept. Geleitet von der Sehnsucht nach Erneuerung ist sie fließend und wandelbar, ein Prozess ohne feste Form, einer ästhetischen Idee folgend, nur von kurzem Bestand. In ihrer Entstehung ähnelt sie der Kunst. Wie auch sie blickt sie auf eine eigene visuelle Geschichte zurück. In selbstzerstörerischen Zyklen, gleich der bildenden Kunst, erneuert sich die Mode, indem sie ihre aktuelle Herstellungstechnik, Motivik oder Wahrnehmungsweise für nichtig erklärt und gegen konträre ersetzt.84 Durch ihr Bestreben, Alltagsgegenstände in eine ästhetische Form zu bringen, gehorcht sie den Richtlinien der Avantgarde der Moderne »die Kunst ins Leben und das Leben in die Kunst zu überführen«85 . Mode, konzipiert für eine Saison mit einer maximalen Haltbarkeit von wenigen Monaten, erreicht nur in Sonderfällen den Status eines Sammlerobjektes. Kunst hingegen ist auf lange, wertsteigernde Sicht ausgelegt.86 Ein großer Unterschied zwischen Mode und Kunst liegt im kulturellen Wert, den die beiden in der Gesellschaft genießen.87 Während die bildende Kunst zur Hochkultur zählt, fällt Mode lange unter geschäftemachende Oberflächigkeit, was sich seit den 1990er Jahren mit einer zunehmenden Anzahl von Modeausstellungen in der hochrangigen MuseenWelt88 zu ändern beginnt. Mit der Etablierung textiler Arbeiten als skulptu-

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Vgl. Böhme 2009, S. 57. Lehnert 2005, S. 256. Vgl. Jocks 2009a, S. 103. Vgl. Teunissen, José. »Fashion and art.« In Fashion and Imagination: About Clothes and Art, hg. von Jan Brand, José Teunissen und Jos Arts, 10–25. Arnhem: ArtEZ Press, 2009, S. 13–14. »Als Ausstellungsbeispiele gelten: Chanel im Metropolitan Museum of Art, New York, Armani im Guggenheim Museum, New York und Neue Nationalalerie, Berlin, Versace im Metropolitan Museum of Art, New York […].« In: Loschek 2007, S. 244f.

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rales Werk auf dem Kunstmarkt erfährt ebenso die Mode eine zunehmende Anerkennung als Kulturgut.89 Gerade die vermeintliche Untragbarkeit der Mode erweitert ihre Formensprache und mit ihr auch die Sehgewohnheiten der Konsumenten und des Publikums. Ähnliches kann ein bildendes Kunstwerk vollbringen.90 Das Aufbrechen üblicher Verarbeitungs- und somit auch Trageformen lotet das Untragbare immer wieder neu aus und lässt ungekannte Silhouetten entstehen. Die Bereitschaft der Gesellschaft, neue Modeströmungen mitzuleben endet, wenn sich der Körper zu anomalen Formen verzerrt. In der Welt der Kunst ist der Spielraum wesentlich größer.91 In den letzten fünfzig Jahren hat sich die Mode weiterentwickelt von ihrer bis dahin alleinigen Funktion des Einkleidens, mit dem Ziel, ihre Kunden möglichst attraktiv erscheinen zu lassen. Seit den 1980er Jahren testet die Mode ihre Grenzen aus und entwickelt neue Formensprachen. Das Kleid muss nicht mehr nur »hübsch« sein. Der Trägerkörper verliert an Gewichtung, da die Mode nicht mehr auf die Herausarbeitung seiner Vorzüge und die Vertuschung seiner Mängel abzielt. Der Modeentwurf hat nun einen künstlerischen Eigenwert. Die konzeptuelle Arbeitsweise der Modedesigner, basierend auf der Ausformulierung einer abstrakten Idee, hat die Mode vorangebracht. Der Körper ist nur noch Ausgangspunkt für diese Überlegungen, nicht mehr das Ziel. Das Formenspiel der Bekleidung exerziert verschiedene Körperwahrnehmungen durch. Persönlichkeit, Kleid und Körper spielen mit ihrer Identität, beleuchten Selbst- und Fremdwahrnehmung und finden zu neuen Ausdrucksformen. Damit beschäftigt sich die Mode in ihrem neuen Körperausdruck mit einem Thema, das auch die performativen Künste bewegt.92 Abstraktion gilt in Kunst und Mode als Mittel zur Sprengung der althergebrachten Formensprache.93 Darüber hinaus hat ein Designer wie auch der Künstler die Möglichkeit, das Augenmerk seines Betrachters auf Themen zu lenken, die er für relevant erachtet, die im allgemeinen Konsens aber noch nicht präsent sind. So bestätigt auch Alexander McQueen ein ähnliches Inter-

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Vgl. Jocks, Heinz-Norbert. »Mimi Smith: Über Bekleidung, die durch das Leben begleitet.« In Kunstforum International: DRESSED! Art en Vogue, hg. von Claudia Banz, Barbara Til und Heinz-Norbert Jocks, 150–163. Roßdorf: TZ-Verlag, 2009b, S. 157. Vgl. Loschek 2007, S. 208f. Vgl. ebd., S. 59. Vgl. Teunissen 2009, S. 13. Vgl. Steele 2007, S. 29.

4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode

esse wie Yamamoto am Unschönen, Unperfekten: »I find beauty in the grotesque, like most artist. I have to force people to look at this.«94

Abbildung 17: Rei Kawakubo/Comme des Garçons, Herbst/Winter 1983/8495

Häufig zirkulieren die sogenannten Minimalisten, wie Rei Kawakubo oder Yohji Yamamoto, fernöstliche Bekleidungseinflüsse verarbeitend, im Grenzbereich zwischen Haute Couture, Gebrauchsgegenstand, Schutzhülle, Skulp94 95

Bolton, Andrew. Hg. Alexander McQueen: Savage beauty. New York: Metropolitan Museum of Art, 2011, S. 240. Beiger Filzwollmantel; dunkelblauer Flanellrock aus Wolle/Nylon, »Die fünfte Kollektion von Comme des Garcons zeigte mehrere Kleidungsstücke, die mit dem Gegensatz von Volumen und Flächigkeit spielten. Gefaltet bildet dieser ponchoartige Mantel ein geometrisches Schnittmuster aus geraden Linien (s.o.). Er wurde aus zwei rechteckigen Bahnen geschaffen, wobei die kleinere durch einen Schlitz in die größere gleitet und seitlich vom Brustkorb herabhängt. Es gibt keine Knöpfe oder andere Verschlüsse, und das Stück erinnert an traditionelle japanische Reisemäntel, die aus erschwinglichen Materialien wie Papier gefertigt sowie simpel und praktisch im Gebrauch sein mussten. Am Körper verändert sich der Mantel: Der überschüssige Filz hängt vorn steif und schwer herab, während der Schlitz aufgeht und mit den beiden Bahnen wellenförmig ein skulpturhaftes Volumen bildet. Der bewusste Einsatz von zerknittertem, ungebleichtem Filz lässt das ästhetische Prinzip des ›wabi-sabi‹ mit einfließen in die Ästhetik des Unfertigen«. Foto links: Taishi Hirokawa, Foto rechts: Naoya Hatakeyama. In: Ince, Catherine, Akiko Fukai, Barbara Vinken, Susannah Frankel und Hirofumi Kurino. Hg. Future Beauty: 30 Jahre Mode aus Japan. München: Prestel, 2011, S. 70–71.

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Die Macht des Kostüms

tur und Kunst.96 Sie stellen die Definition von Mode immer wieder neu zur Diskussion, indem sie traditionelle Trage- und Verarbeitungsgewohnheiten wie das in der asiatischen Welt übliche Wickeln eines Kleidungsstückes, mit neuen technologischen Möglichkeiten verbinden. Funktionalität steht dabei nicht mehr im Vordergrund. Issey Miyake geht so weit – eine für die Mode ungewöhnliche Arbeitsweise – die Form der flach präsentierten Kleidungsstücke der getragenen Form am Körper vorzuziehen. Irving Penn vermittelt durch seine Fotografien die eigenständige Körperlosigkeit von Miyakes in einer speziell entwickelten Technik plissierten Kreationen.97 Die Kleidungsstücke aus Rei Kawakubos fünfter Kollektion aus den frühen 1980er Jahren gleichen zweidimensional, liegend präsentiert, monochromen, abstrakt formalistischen Gemälden, die auch am Körper ihr konstruiertes Wesen beibehalten (vgl. Abbildung 17). Wie abstrakte Kunst konzentriert sich abstrakte Mode auf die formalen Eigenschaften einer Arbeit und nicht auf ihren repräsentativen Charakter. Abstrakte Mode erforscht Form und Struktur, Material und Farbe, Proportion und Volumen. So hat Rei Kawakubo von Comme des Garçons […] eine ganze Kollektion formalen Variationen des Rocks gewidmet.98 Die meisten großen Namen der Modebranche betrachten sich selbst nicht als Künstler, sondern explizit als Modedesigner, mit Ausnahme von Paul Poiret oder Elsa Schiaparelli.99 Deren größte Rivalin Coco Chanel betitelt sie als »that Italian artist who’s making clothes«, was nicht als Kompliment zu verstehen ist. Cristobal Balenciaga und Anaïs Nin sehen allerdings in ihrer kunstaffinen Arbeitsweise durchaus ihre kreative Stärke.100 Wenn Elsa Schiaparelli einer Dame einen umgedrehten schwarzen Absatzschuh als Hütchen auf den Kopf setzen lässt, ruft dies neben dem ästhetischen Reiz auch eine kurze, gewollte Irritation hervor und bringt ihre Mode in direkten Zusammenhang zur Arbeitsweise der Surrealisten (vgl. Abbildung 18).101 Symbolgeladen ist auch Schiaparellis Kleid für Wallis Simpson, getragen bei der Bekanntgabe der Vgl. Dimant, Elyssa. Minimalism and fashion: Reduction in the postmodern era. New York: Enfield, 2010, S. 31. 97 Vgl. Oakley Smith/Kubler 2013, S. 75. 98 Steele 2007, S. 25. 99 Vgl. Kedves, Jan. Talking Fashion: Von Helmut Lang bis Raf Simons; Gespräche über Mode. München, London, New York: Prestel, 2013, S. 189. 100 Vgl. Blum 2003, S. 125. 101 Vgl. ebd., S. 124.

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4. Die Beziehung der Bekleidung zur Mode

Abdankung Edwards VIII., weiß mit einem leuchtend orangen, überdimensionalen Hummer, »der bei Freud die lüsterne, potenziell kastrierende Natur der weiblichen Sexualität symbolisiert. Mrs. Simpson war keinesfalls naiv, und man sollte das Ganze als spottende Geste gegenüber jenen verstehen, die in ihr eine Femme fatale sahen.«102

Abbildung 18: Elsa Schiaparelli, SchuhHut, 1937103

Der ökonomische Einfluss auf künstlerische Entscheidungen ist jedoch heute zu groß, um von Mode als freier Kunst sprechen zu können, wie Miuccia Prada deutlich macht: Dress designing is creative, but it is not an art. Art is about pure self-expression untainted by commercial implications. Of course, every artist wants to 102 Watt, Judith. Vogue on Elsa Schiaparelli. München: Coll. Rolf Heyne, 2013, S. 113. 103 L’Officiel, October 1937. Foto: George Saad. In: Bolton, Andrew und Harold Koda. Schiaparelli et Prada: Impossible conversations. New York, NY [u.a.]: Metropolitan Museum of Art, 2012, S. 148.

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Die Macht des Kostüms

make money, but the origin of his or her ideas should be pure. Fashion designers may – and often do – have ideas that are pure. But, at the end of the day, these ideas are always hindered by commercial considerations. Artists can do whatever they want. They have a completely open field. Fashion designers make clothes and they have to sell them. We have less creative freedom. There are more limits in our profession.104 Experimentelle zeitgenössische Herangehensweisen im Modedesign lassen zwar Vorstellungen eines klassischen Körperideals und einer alltagstauglichen Tragbarkeit hinter sich, können sich aber nicht von der tragenden Hülle des Kleidungsobjektes lösen. Ein Kleidungsstück, auch wenn es sich von den Körperproportionen emanzipiert hat, kann nur getragen und in Bewegung seine Wirkung entfalten. An einem Bügel hängend, nimmt das Kleid nie die gewünschte Gestalt ein.105 Auch seine trägerfreie Form ist für den Körper gedacht und muss in hängendem, fließendem, umwehendem oder einengendem Bezug zu ihm gesehen werden. Ein Kleidungsstück, das ganz frei von der körperlichen Gestalt existiert, kann nicht mehr Mode sein, sondern wird zu Skulptur oder Objekt.106 In der bildenden Kunst verwendete Kleidungsstücke wie Joseph Beuys Filzanzug wurden nicht für das Anziehen konzipiert. Ihre Ausstellung möchte das Kleidungsstück als informationsgeladenes skulpturales Objekt begreifen, das stellvertretend nicht gefüllt für den Träger Mensch steht. Louise Bourgeois’ an Bügeln hängende Kleider sollen nicht die Schönheit ihres einstigen Schneiderhandwerkes veranschaulichen, sondern die Erinnerung an eine Existenz mit all ihren Emotionen, Schwachstellen, Höhen und Tiefen wachrufen.

104 Ebd., S. 144. 105 Vgl. Lehnert 2005, S. 256f. 106 Vgl. Loschek 2010, S. 46.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

Alltagsbekleidung stellt immer den Ausgangspunkt des Bühnenkostüms dar. Die prunkvollen Gewänder des Adels finden sich in den aufwendigen Inszenierungen bei Hofe wieder, die Kleider der fahrenden Theatergruppen entsprechen denen der einfachen Bürger, die im Publikum stehen. Die Oper, zu ihrem Beginn der Hofgesellschaft vorbehalten, unterscheidet sich noch bis zum 20. Jahrhundert in ihrer opulenten Ausstattung stark von anderen theatralen Formen.1 Der optische Genuss fußt auf den technischen Verwandlungsmöglichkeiten der reich dekorierten Bühne, die artifiziell illuminiert in Szene gesetzt wird. Die Bekleidung der Sänger entspricht dem aufwendigen Putz ihres wohlhabenden Publikums. Heute beobachtet der schlicht gekleidete Zuschauer den ebenso alltäglich gekleideten Sänger. In den letzten Jahrzehnten gleicht sich die Ästhetik der Musiktheater an vielen Häusern der moderateren des Schauspiels an. Die Ausstattung muss nicht mehr zwangsläufig opulent sein, eine karge Bühne hat Einzug auf den deutschen Opernhäusern gehalten. Der leere Raum erobert die Guckkastenbühne2 des Musiktheaters zurück, nachdem er sich seit der Antike über die Bretterbühnen der Commedia dell’ arte, des Shakespeare-Spiels und der fahrenden Truppen des 16. und 17. Jahrhunderts über diverse Reformbestrebungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts konsequent und erfolgreich in der Theatergeschichte gehalten hat. Leere, klare Bühnenräume, die in der Vergangenheit mitunter finanzielle oder praktische Gründe hatten, werden Ende des 20. Jahrhunderts zum Stilmittel. Bei beschränkten Möglichkeiten der Dekoration konzentrieren sich die Darbietungen auf die Akteure. Der Darsteller im Kostüm fungiert als einziger Träger der Handlung mit Hilfe seiner Körpersprache und einzelner Requisiten 1 2

Vgl. Uhlirova 2013, S. 105. Vgl. Eckert, Nora. Das Bühnenbild im 20. Jahrhundert. Berlin: Henschel, 1998, S. 18.

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Die Macht des Kostüms

ohne unterstützende Wirkung der Bühnendekoration oder des Lichts.3 Besonders die Wanderbühnen oder kleine, finanzschwache Schauspieltruppen aber auch feste Theaterbauten wie das Globe Theatre, die unter freiem Himmel bei Tageslicht spielen, arbeiten über Jahrhunderte mit einem einfachen Vorhangsystem zur Schaffung von Auftrittsmöglichkeiten hinter einer neutral gestalteten Bühne ohne weitere Dekoration mit wenigen Requisiten.4 Das Kostüm muss so nicht nur als Informationsträger dienen, sondern auch das Auge des Publikums unterhalten und erfreuen.5 »Die frühen Theaterformen beginnen mit einer Vervollkommnung des Kostüms und wenden sich erst im Verlauf der Entwicklung zur räumlichen Ausstattung«.6 Das Bühnenkostüm durchläuft verschiedene Etappen der ästhetischen und inhaltlichen Gestaltung. All diese Strömungen hinterlassen Form gebende Elemente, die sich im Laufe der Jahrhunderte zur komplexen Sprache des Kostüms summieren, wie sie heute auf der Bühne zu finden ist. Zur Stilisierung und Typisierung der Anfänge des klassischen Theaterspiels findet sich die Freude an dekorativer Ausgestaltung des Barocks, das Annähern an eine lebensnahe, alle Schichten betreffende Darstellungsart nach der französischen Revolution führt über eine analytische Realitätsnähe des Naturalismus mit direktem Dagegenhalten einer symbolischen, auch das Seelenleben der Figuren spiegelnden Richtung, die unter Einbeziehen fast aller kunstgeschichtlichen Strömungen wie etwa dem Im- und Expressionismus, Kubismus oder Futurismus sowie einer reichen experimentellen Phase der Theaterreformen, die im Extremen die Möglichkeiten der visuellen Bühnenmittel austesten, um zu einer vielgestaltigen, eigenen künstlerischen Formensprache des Bühnenkostüms zu finden. Die so entstandenen mannigfachen visuellen Möglichkeiten bieten ausreichend Gestaltungsfläche, um dem Zuschauer eine konkrete Charakterisierung der Rolle unter Einbeziehung der vestimentären Codes, zwischenmenschlichen Schwingungen und atmosphärischen Grundstimmungen zu vermitteln.

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6

Vgl. Rischbieter 1968, S. 11. Vgl. Lemmer, Klaus Joachim. Französisches Barocktheater im Bild. Berlin: Rembrandt, 1963, S. 6. Vgl. Burde, Julia. »Das Bühnenkostüm: Aspekte seiner historischen Entwicklung.« In Kostümbild – Lektionen 6, hg. von Florence von Gerkan und Nicole Gronemeyer, 106–189. Berlin: Theater der Zeit, 2016, S. 135. Klara 1931, S. 1.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

5.1. Die Typisierung und Stilisierung Dem Bühnenkostüm von der Antike bis zum 15. Jahrhundert fällt durch die Tatsache, dass sich bis auf wenige Ausnahmen nur Männer zu Spiel und Gesang auf der Bühne befinden, eine besondere Funktion als Verwandler zu. Dies ist eine dem Publikum vertraute und nicht außergewöhnlich erscheinende Tatsache, die als Bühnenwahrheit akzeptiert und nicht weiter in Frage gestellt wird. Von der Antike bis zu Bernardo Buontalentis Feierlichkeiten für die Medicis tragen die männlichen Darsteller Damenbekleidung, vom Publikum als reiner Akt der Verwandlung respektiert, ohne jede komödiantische Intention. Der männliche Körper darf in die Rolle einer Frau schlüpfen, die hautfarben bemalten Pappmaché-Brüste nur von leichten Schleiern umweht.7

Abbildung 19: Figur der Tragödie, spätrömische Kaiserzeit8

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Vgl. Barbieri 2018, S. 38. Boehn 1921, S. 1

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Die Macht des Kostüms

Das Kostüm der antiken Bühne spiegelt die Alltagsgewandung wider. Zur gesteigerten Fernwirkung für die großen Freilichtbühnen wird in die natürliche Proportion des Körpers eingegriffen, indem die Schauspieler etwa Kothurne, überlange Ärmel oder Masken tragen.9 Die konstruierte Drapierung der Gewänder, der überzeichnete Ausdruck der Masken und die Verwendung charakterisierender Attribute formen das Aussehen des Schauspielers wie eine Elfenbeinstatuette aus der spätrömischen Kaiserzeit zeigt (vgl. Abbildung 19).10 Die Römer arbeiten mit Farbsymbolik, die die Figur für den Zuschauer erkenntlich macht, alte Männer tragen beispielsweise Weiß im Gegensatz zur bunt gekleideten Jugend. Leichte Damen kleiden sich auf der Bühne wie im wirklichen Leben in Gelb.11 Ab dem Mittelalter ist eine Stilisierung des Bühnenkostüms erkennbar, die bis zum Barock stark zunimmt. Biblische oder allegorische Personen sind dem mittelalterlichen Publikum aufgrund ihrer Masken oder speziellen Requisiten vertraut. »Die Zeichenhaftigkeit ihrer Attribute abstrahierte die Figuren selbst zum Zeichen.«12 Feste Typen beherrschen die Bühne: der König im purpurnen Gewand mit Hermelin-Besatz; Maria, die Mutter Gottes, traditionell blau gekleidet; der Apostel in schwarzem langen Mantel und Rock; der Narr, geschmückt mit Schellen und Glöckchen; der Engel im schlichten Hemdkleid mit Flügeln am Rücken; der böse Geist und andere Schreckgestalten im zotteligen Fellanzug; der Teufel – in seinen Farben Rot und Schwarz – trägt zusätzlich noch eine Furcht einflößende Maske, Hörner, Krallen, Beulen und einen Schweif.13 Versatzstücke der Attribute halten sich bis heute im Bühnenkostüm. Eine Teufelsmaske aus den deutschen mittelalterlichen Passionsspielen scheint als direkte Vorlage von Hannibal Lecters diabolischem Aussehen im Film Schweigen der Lämmer (Regie: Jonathan Demme, 1991) gedient zu haben. Da sich die Lesegewohnheiten des heutigen Publikums weg von einer rein allegorischen oder typisierenden Darstellung bewegt haben, wohnt Teufelshörnern oder Engelsflügeln oft etwas Märchenhaftes, bewusst theatral Bildhaftes inne.

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Vgl. Burde 2016, S. 114. Vgl. Boehn 1921, S. 1. Vgl. Burde 2016, S. 116. Burde 2016, S. 118. Vgl. Tintelnot, Hans. »Bühnenkostüm III«. In RDK Labor. 1950, 70–81. https://www.rdkl abor.de/w/?oldid=81058 [letzter Zugriff am 22.02 2016].

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

Abbildung 20: Teufelsmaske, Mittelalter14

Schauspieler, die Soldaten oder das Volk verkörpern, tragen alltägliche Kleidung. Der Kleidungsstil ändert sich von der Antike bis zur Renaissance nur sehr schleppend, was auf den aufwendigen, vorindustriellen Herstellungsprozess zurückzuführen ist. Die römische Kombination aus Toga und Tunika für Männern und die aus Tunika und Stola für Frauen führt langsam zu zwei bis drei übereinander geschichteten Kutten, bis sich schließlich Mieder bei Frauen und Wämser bei Herren durchsetzen. Den Kopf bedecken Hauben und Hüte.15 Bei relativer gesellschaftlicher Gleichstellung von Mann und Frau, einem ähnlichen Zugang zu Bildung und einer vergleichbaren sozialen Repräsentationspflicht, wie sie in der Renaissance besteht und in der Gegenwart zu finden ist, neigt keines der Geschlechter zur Übertreibung im Ausputz. Im Gegensatz dazu stehen die Epochen, in dem die Frau eine rein repräsentierende Funktion übernimmt.16 Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts ist den Damen der Schauspielerberuf noch verwehrt. Insofern ist der bekannte Einzelfall von der Herzogin Anna Sforza 1492 bemerkenswert, die nicht nur am Hof von Ferrara bei einer Theatervorstellung auftritt, sondern dabei bereits eine Hosenrolle übernimmt.17

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Laver 1964, S. 56. Vgl. Leventon 2009, S. 47. Vgl. Vinken 2013, S. 127. Vgl. Ponte, Susanne de. Ein Bild von einem Mann – gespielt von einer Frau: Die wechselvolle Geschichte der Hosenrolle auf dem Theater. München: Ed. Text + Kritik, 2013, S. 29.

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Die Macht des Kostüms

Ein Verfahren, das sich mit dem Durchsetzen weiblicher Schauspielerinnen in Italien um 1560 behauptet. Ab der ersten Stunde bestreiten professionelle Schauspielerinnen und Sängerinnen männliche Bühnenparts in der klassischen Hosenrolle.18 Die Akzeptanz und Bühnenwirksamkeit des Kostüms macht es den Darstellern möglich, Rollen jedweden Geschlechts anzunehmen ohne den Willen des Publikums, der Handlung zu folgen, zu verlieren. Die Hosenrolle etabliert sich fest in der klassischen Oper, wo sie zur Freiheit in der musikalischen Gestaltung, der Solistin im Sopran eine weitere hohe Stimmlage zur Seite stellt. Die noch bis ins 20. Jahrhundert übliche strikte Verkleidung in ein stereotypes Männerbild mit Schnauzbart und strenger Frisur weicht sich über die Jahrhunderte auch aufgrund der vereinheitlichten Bekleidungsgewohnheiten von Mann und Frau im Alltag auf.19 Die Stilisierung des Kostüms ist eng mit dem Typuskostüm in Tragödie und Komödie verknüpft, wie es seit dem 16. Jahrhundert verstärkt auftritt. Eines der prominentesten Beispiele ist die Commedia dell’arte, die zu dieser Zeit ihren Siegeszug durch Europa mit grotesk bis satirisch überzeichneten Typen antritt.20 Das Publikum erfreut sich an den üblichen Handlungsschemen und wohlbekannten Personen, ganz wie in einer heutigen Seifenoper.21 Kleidung spielt vom 14. bis zum 18. Jahrhundert nicht nur in der Mode eine große Rolle, sondern auch in der Politik. Die Art sich zu kleiden wird nicht nur mit einem ästhetischen Auge betrachtet, sondern sozial und politisch interpretiert. Die höfische Gesellschaft, allen voran in England, Frankreich und Spanien, investiert große Summen in ihre Garderobe, genauestens in den Geschäftsbüchern notiert, wie alle anderen Ausgaben des Hofes auch. Die prächtig gearbeiteten Gewänder aus wertvollen Materialien und üppigen Stickereien aus Gold- und Silberfäden mit Perlendekoration, Juwelen und Pelzbesatz zählen in ihrem Wert bereits zum Schatz des Adelshauses. Gezielt der Öffentlichkeit präsentiert demonstriert ein solches Kleidungsstück den Reichtum und die Macht des Hauses nicht nur dem untergebenen Volk, sondern auch den konkurrierenden Familien. Der Vorteil von reich geschmückter Kleidung liegt im Gegensatz zu prunkvollen Palästen oder Ländereien in seiner mobilen Einsatzmöglichkeit. Die exquisite Garderobe vermag auch auf Reisen

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Vgl. ebd., S. 15. Dies zeigt das zeitgenössische Beispiel von Vincenzo Bellinis I Capuleti e I Montecchi in Kapitel 7. Vgl. Burde 2016, S. 120. Vgl. Gronemeyer, Andrea. Theater. Köln: DuMont, 1998, S. 64f.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

zu beeindrucken, sie trägt den Reichtum ihrer Träger auf die Straße hinaus und erlaubt auch niederen Gesellschaftsgruppen oder entfernteren Adelsfamilien, die keinen Zugang zu den Räumlichkeiten des Hofes haben, einen entsprechenden Eindruck über die erhabene gesellschaftliche Position.22 Der Adel, die Spitze der Gesellschaft, besticht durch sein exklusives Äußeres, das allerdings nicht in modischer Willkür liegt, sondern in bewusstem Reglement. »Kleider dienten der Feier der gottgeschaffenen kosmischen Ordnung.«23 Alle Untergebenen haben sich »angemessen« zu kleiden, was bedeutet, sich nach den strengen Kleiderordnungen zu richten, um sie in ihre Schranken zu weisen und die Macht der Herrschenden nicht zu gefährden.24 Im 16. Jahrhundert hat Spanien in Stilfragen die Vorherrschaft, es dominiert eine hochgeschlossene, schwarze Strenge. Enge Ärmel, steif gesteppte Wämser und ausgepolsterte Ballonhosen lassen das Körperliche nur noch erahnen. Albrecht der Fromme und die Infantin Isabella Clara Eugenia erscheinen würdevoll, aber unbeweglich in ihren bis auf Gesicht und Hände alles verdeckenden Ausputz. Die Halskrausen auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung lassen die Köpfe erhaben über dem Körper schweben (vgl. Abbildung 21).25 Die Damen verschwinden hinter ausladenden Röcken, festen Korsagen und großen Krägen. Auch im reformierten Deutschland und den Niederlanden verhüllen schwarze Gewänder ihre Träger. Marguerite de Valois interpretiert die spanische Mode auf ihre eigene Weise und ist ihrer Zeit insofern voraus, dass sie die Freizügigkeit des französischen Barocks vorwegnimmt, bevor Versailles die kulturelle Führung in Europa übernimmt. Marguerite öffnet die strenge spanische Halskrause vorne zu einem anschaulichen Dekolleté und lässt sie am Hinterkopf kokett auffächern.26 Elisabeth I. übertrifft die strenge Form der spanischen Vorbilder bis zur körperlichen Unbeweglichkeit, verwei-

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Vgl. Slanicka, Simona. »Das Loch in der Hose des Wildschweinjägers: Kleidersymbolik in der ›Très Riches Heures du duc de Berry‹ und der französische Bürgerkrieg.« In Kleidung im Bild: Zur Ikonologie dargestellter Gewandung, hg. von Philipp Ziztlsperger, 83–98. Emsdetten, Berlin: Ed. Imorde, 2010, S. 83. Vinken 2013, S. 51. Vgl. Sennett 1986, S. 311. Vgl. Racinet, August. The complete costume history/Vollständige Kostümgeschichte/Le costume historique: From ancient times to the 19th century/Vom Altertum bis zum 19. Jahrhundert/Du monde antique au XIXc siècle. Köln, London: Taschen, 2003, S. 351. Vgl. Lehnert, Gertrud. Mode. Köln: DuMont, 1998, S. 56.

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gert allerdings das Schwarz und imponiert ihrem durch Kleiderordnungen gemaßregelten Volk in opulent verzierten, farbigen Kleidern.27

Abbildung 21: Juan Pantoja de la Cruz, Albrecht der Fromme, 1600 und die Infantin von Spanien, 159928

Mit Aufkommen der Renaissance entsteht ein Interesse an der individualisierten Ausstattung einer Inszenierung, die langsam die Typisierung des Kostüms verdrängen wird. Die tiefenraumwirksame Zentralperspektive setzt sich in der Bühnendekoration durch und neben dem Bühnenbild soll nun das Kostüm einer einheitlichen künstlerischen Idee folgend einen eigenen ästhetischen Beitrag leisten. Die Höfe lassen sich die nun aufwendigen Aufführungen viel Geld kosten und präsentieren stolz die eigens für die Inszenierung angefertigten Gewänder. Während des Karnevals 1499 am Hof des Ercoles I. von Ferrara präsentieren sich die Schauspieler vor einer Terenz- und Plautusvorstellung in einer Modeschau dem Publikum aus der Nähe, damit

27 28

Vgl. ebd., S. 54f. Bayerische Staatsgemäldesammlungen. Hg. Alte Pinakothek München. Erläuterungen zu den ausgestellten Gemälden. München: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, 1999, S. 82.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

die 277 individuell für jede Rolle entworfenen Kostüme im Detail bewundert werden können. Eine historisch und inhaltlich korrekte Kostümausstattung gewinnt an Wert. Die Gewänder erscheinen Reliefs und Abbildungen entsprungen, die dem von der Antike begeisterten Publikum vertraut sind.29 Der gewachsene Stellenwert des Bühnenkostüms zeigt sich in der Überlieferung zahlreicher Kostümzeichnungen von hochrangigen Künstlern wie Raffael, Michelangelo oder da Vinci.

Abbildung 22: Albrecht Dürer, Thronende Maria mit Kind und zwei Engeln, 148530

Die Bekleidung beginnt in der darstellenden Kunst zu Beginn des 16. Jahrhunderts an künstlerischem Eigenleben zu gewinnen. Albrecht Altdorfer (1480–1538) und Matthias Grünewald (1470–1528) setzen neue Maßstäbe in 29 30

Vgl. Tintelnot 1950. Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz – Kupferstichkabinett. In: Hess, Daniel und Beate Böckem. Hg. Der frühe Dürer. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum, 2012, S. 512.

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der Darstellung von Stoffen. Besonders in der Form der Drapierung und des Faltenwurfs beherrschen sie eine Technik, die das Material wehend, leicht, elegant und naturalistisch zugleich in attraktivem Lichtspiel wiedergibt. Albrecht Dürers (1471–1528) Madonnen und Kreuzigungen bilden den Höhepunkt dieser Strömung. Die virtuos drapierten Stoffmengen übernehmen eine Hauptrolle in der Bildgestaltung (vgl. Abbildung 22).31 Kupferstiche und Miniaturen bekannter Motive kursieren in der Bevölkerung; schon die vornehmen Damen im 16. Jahrhundert können sich so über Modetrends informieren. Die faltenlosen Mieder über der makellosen Brust setzen bereits damals einen künstlich hohen Standard, dem die Dame zwar nacheifert, den ihr menschlicher Körper aber nie zu erreichen vermag. Den Bogen von der meisterhaften Technik sowie der künstlerischen Freiheit des Malers schließt nun die am Computer bearbeitete Modefotografie.32

5.2. Die Ausschmückung In Florenz tritt ein erster, noch heute namentlich bekannter Ausstatter in Erscheinung: Bernardo Buontalenti (1536–1608). Er übernimmt für die prunkvollen Feste und Darbietungen der Familie Medici nicht nur die Gestaltung aller Dekorationen und Kostüme, sondern entwickelt auch eigene Bühnenmaschinerien, um das Publikum mit noch nie gesehenem szenischem Spektakel zu verzaubern.33 Die gezeichneten Damen in zarten grün-rot und blau-roten Farbtönen, wahrscheinlich dargestellt von männlichen Akteuren, sind Teil der 28-tägigen Hochzeitsfeierlichkeiten von Ferdinando I. de Medici mit Christine von Lothringen, deren komplette Ausstattung auf Buontalenti zurückgeht. Der Höhepunkt des 2. Tages, die Vorstellung von La Pellegrina con Intermezzi, einer Komödie von Girolamo Bargagli mit sechs prachtvoll ausgestalteten Zwischenspielen, komponiert von Cristofano Malvezzi, Luca Marenzio, Giulio Caccini, Giovanni de’ Bardi, Jacopo Peri und Emilio de’ Cavalieri geht in die Theatergeschichte als Vorläufer der klassischen Oper ein. Ihre 286 Kostüme, 320

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Vgl. Hollander 1993, S. 21. Hollander 1997, S. 57. Vgl. Gronemeyer 1998, S. 63.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

Kopfputze, 43 Masken und 150 Paar Schuhe machen noch heute jeder großen Opernausstattung alle Ehre.34

Abbildung 23: Bernardo Buontalenti, Figurine für die Intermezzi, 158935

Die Dokumentation der Intermezzi erhielt sich außergewöhnlich gut und vier der Originalzeichnungen können im Victoria and Albert Museum in London besichtigt werden.36 Über 4300 m Stoff finden Verwendung, 700 m fließen in weiche, transparente Gaze für Schleier, Haarschmuck und die Kostüme der Sirenen und Hamadryaden, jeder Atemzug ein Anschwellen der Diamant klaren Stoffmenge. Die Götter tragen hautfarbene Seide, Nacktheit vortäuschend und hüllen sich in drapierte Stoffbahnen. Gut ausgebildete, textile Handwerker bemalen und bestempeln Samt und Seidentaft für die göttlichen Charaktere. Steifer Batist und Leinen kombinieren die zeitgenössische Bekleidungsart mit antiken griechischen Kostümen. Die Kleider der Meerwesen schmücken

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Vgl. Barbieri 2018, S. 38–39. Victoria and Albert Museum, London. In: Laver 1951, S. 94. Vgl. Laver 1951, S. 78.

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Perlen, Muscheln und Korallen. Der Teufel kleidet sich in Leder, die Sirenen in Federn. Als Ausschmückung sind Borten, Fransen, Pailletten, Glöckchen, Spitze, Knöpfe, Lametta und Bänder überliefert. Kostümmaler bearbeiten malerisch die Gewänder, die sich übergangslos in die Dekoration eingliedern. Manche Kostüme sind so aufwendig und änderungsunfreundlich, dass die Auswahl der Darsteller nach dem Kriterium erfolgt, wer in welche Bekleidung passt und nicht wie üblicher Weise umgekehrt.37 Inspiriert durch das 1583 eröffnete Teatro Olimpico in Vicenza ziehen viele Theater in geschlossene Innenräume. Der Unterschied zum Theaterspiel unter freiem Himmel bei Tageslicht ist beachtlich, da das künstliche Beleuchtungssystem aus Kerzen eine ganz andere Bühnenwirkung und Farbwahrnehmung erzeugt. Mit dem Einzug der künstlichen Beleuchtung in die Welt des Theaters, sei es mit Kerzenschein oder einer heutigen hoch technisierten Beleuchtungsanlage, verändern sich die Anforderungen an Bühnendekoration und Kostüm erheblich. Das Licht prägt entscheidend die Farb- und Materialwirkung. Um funkelnde, prächtige Gewänder der höfischen Inszenierungen trotz finanziellen Beschränkungen der Theatertruppen wie zum Teil auch der Höflinge gewährleisten zu können, wird bei den Materialien getrickst und etwa Bergkristalle statt Diamanten oder vergoldetes Leder statt Edelmetall verarbeitet.38 Mit der veränderten Farbanforderung an das Bühnenkostüm im künstlichen Kerzenlicht beschäftigt sich Inigo Jones (1573–1652) als erster. Da Blau wie Schwarz und Grün wie Braun wirkt, seien diese Farben zugunsten von klaren, starkfarbigen und somit gut sichtbaren Tönen zu vermeiden – so sein Credo. Der bedeutende Architekt des englischen Klassizismus und einer der ersten Theaterausstatter gilt als Vater der englischen Innenraumbühne. Seine magischen Verwandlungen der allegorischen Festspiele der Stuarts waren so beeindruckend, dass Inigo Jones 1631 als Gewinner einer Auseinandersetzung über die Vormachtstellung von Dichtung oder Dekoration hervorgeht.39 Die Ansprüche an die Ausstattung der höfischen Feste steigen über die Jahre derart, dass nur noch Experten in künstlerischer Gestaltung wie auch technischer Umsetzung der inzwischen erwarteten Hebe-, Senkund Verwandlungsmaschinerie gewachsen sind. Zu den gefragtesten zählt

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Vgl. Barbieri 2018, S. 38. Vgl. Burde 2016, S. 124. Vgl. Gronemeyer 1998, S. 62.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

neben Jones und Buontalenti der italienische Maler und Architekt Giuseppe Arcimboldo (um 1526–1593).40 Das Barock, das alle Aspekte des täglichen Lebens gestaltet und in Szene setzt, das Bühneneffekte wie das Trompe l’oeil oder die falsche Perspektive in Kirchen, auf öffentlichen Plätzen und in Privaträumen anwendet, das Gärten nicht mehr natürlich wachsen lässt, sondern mit Fontänen, geschnörkelten Wegen und symmetrischen Blumenbeeten in künstliche Gebilde verwandelt, bringt natürlich auch ein Theater hervor, das theatraler und opulenter ist als das jeder anderen Epoche.41 Die ganze Welt wird zum Theater ganz im Sinne von Calderón de la Barcas Großem Welttheater und die Mode darin zum Spektakel. Der Körper verschwindet unter Schichten von Rüschen, Blumen und Bändern, die natürliche Form unkenntlich, in Reifröcken und Justaucorps. Damen wie Christina von Schweden, vom Vater Gustav II. wie ein Kronprinz erzogen, mit ungekämmtem Haar, Hosen und Stiefel tragend, gehören zur absoluten Ausnahme.42 Auch wenn sich die Geschlechter in der Dimension des Ausputzes nicht unterscheiden, gehört der weit ausladende Rock und ein tiefes Dekolleté unverzichtbar zum weiblichen Erscheinungsbild. Die europäische Bevölkerung ist in allen Bereichen des täglichen Lebens von einer allgegenwärtigen Theatralisierung umgeben. Hof und Kirche inszenieren sich selbst in Festen, die sich über mehrere Tage erstrecken. Besonders die katholische Kirche setzt sich theatral in Szene, aufwendige Prozessionen schmücken die Feiertage. Hier ist die spanische federführend, die in Fronleichnamszügen und Autodafés zur Ketzerverbrennung eindrucksvoll ihre Macht zur Schau stellt. Der Adel besucht die höfischen Opernhäuser und das Volk unterhält sich bei Vorstellungen der fahrenden Truppen überall im Land.43 Antriebskraft sind die kulturellen Veranstaltungen der Königshäuser. Neben Opernvorstellungen, die bis zum zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts dem Hofe vorbehalten sind, bevor erste venezianische Opernhäuser ihre Tore jedem Publikum öffnen, prägen die höfischen Feste die performative Aufführungsform.44 Sie bilden eine Variante und Ausweitung des barocken Bühnenwerkes als Teil der Theatralisierung der europäischen Hofzeremonielle. Das

40 41 42 43 44

Vgl. Burde 2016, S. 122. Vgl. Laver 1951, S. 111. Vgl. Ponte 2013, S. 63. Vgl. Fischer-Lichte 1999a, S. 154f. Vgl. Jansen, Johannes. Oper. Köln: DuMont, 2002, S. 11.

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Die Macht des Kostüms

Erscheinen des Königs und des Hochadels, sei es in Wien, Madrid oder Versailles wird bis ins letzte Detail inszeniert. In den höfischen Festen verwandelt sich die Ballnacht in eine Bühne, im Anschluss an eine theatrale Darbietung, mit Tanz und Musik, bleiben die Mitwirkenden, unter ihnen auch der König, in ihren Rollen, die sie bis zum Ende des Festes verkörpern.45 Hier spielt der französische Hof, der an Opulenz in seiner Bekleidung von keinem anderen übertroffen werden kann, eine Vorreiterrolle.46 Louis XIV. regiert nicht nur sein Land, sondern auch die von ihm erschaffene Fantasiewelt in Versailles. Er wählt die Besetzung aus und überwacht das Spiel. Wer dem Sonnenkönig missfällt, verspielt seine Einladung zum nächsten Fest, besondere Leistungen erfahren Belohnung durch eine hervorgehobene Rollenbesetzung.47 Der König selbst glänzt meist in mehreren Rollen.48 Die Opulenz der Darbietung steht stellvertretend für die soziale und auch politische Macht des Gastgebers. Meist bildet eine Opernvorführung das Zentrum der Festivität, von der man eine gigantische Unterhaltungsshow erwartet.49 Es beginnt ein Wettstreit der Bühnenausstatter, angeführt von dem Theateringenieur Lodovico Ottavio Burnacini (1636–1707) aus Wien, bei dem immer neue Erfindungen »Versenkungs-, Hebe- und Flugapparate, Wasserund Feuerinstallationen, Graben für Schiffe und Seeungeheuer, bewegliche Prospekte, Wolkensoffitten und abdunkelbare Lampen« zum Einsatz kommen.50 Es stört sich damals noch niemand an den wabernden Rückwänden der bemalten Prospekte, Hauptsache die Optik beeindruckt.51 Das Bühnenkostüm darf der Dekoration in nichts nachstehen. Fantastische Wesen, tanzende Allegorien oder einzig und allein prächtig gekleidete Sänger übertreffen sich in Ausputz, Überschwang und bühnenwirksamen Kreationen. Im Zuschauerraum etabliert sich das System von Rängen und Logen, hierarchisch unterteilt nach sozialer Stellung.52 Der Zuschauerraum der Hoftheater bleibt jedoch während der Vorstellung erleuchtet, nicht nur zur Bewunde45 46

47 48 49 50 51 52

Vgl. Fischer-Lichte 1999a, S. 155. Vgl. Berckenhagen, Ekhart und Gretel Wagner. Bretter die die Welt bedeuten: Entwürfe zum Theaterdekor und zum Bühnenkostüm in fünf Jahrhunderten. Berlin: Reimer, 1978, S. 89f. Vgl. Fischer-Lichte 1999a, S. 190. Vgl. Boehn 1921, S. 307. Vgl. Lemmer 1963, S. 5. Gronemeyer 1998, S. 63. Vgl. Laver 1951, S. 212. Vgl. Gronemeyer 1998, S. 63.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

rung der modischen Gestaltung der Darsteller, sondern auch des Publikums. Die Damen kopieren Elemente der Bühnenkostüme für ihre eigenen Festtagsgewänder. Sängerinnen und Schauspielerinnen verwandeln sich zu Stilikonen und das Publikum zu Mitwirkenden der Inszenierung.53 Die Kleidungsstücke der zeitgenössischen Mode, wie der Reifrock, das Wams, die Halskrause, der Mantel mit Schleppe, alles schon im Alltag reich mit Blumen, Federn und Schleifen verziert, eignen sich sehr gut, um in variierenden Mustern, mal der Antike, mal dem Exotischen entlehnt, die Atmosphäre des Stückes widerzuspiegeln.54 Die der Handlung angepasste Dekoration lässt sich jedoch lediglich in drei Typen einteilen: das römischantike, das türkisch-orientalische und das rein moderne Zeitkostüm. So sollen dem Handlungsort und Zeitpunkt des Bühnenstückes Rechnung getragen werden, wobei es sich keinesfalls um eine historisch oder geografisch korrekte Kostümierung handelt. Reifrock und Perücke der aristokratischen Mode bleiben bestehen, lediglich Verzierungen und Versatzstücke weisen auf den Typus hin.55 Spielt ein Stück in Übersee oder dem asiatischen Raum, greift es auf das türkische Kostüm zurück, meist ein Turban und ein langer Mantel. Die Antike repräsentiert, ungeachtet geografischer Zuordnung, ein Brustpanzer aus Samt oder Brokat mit Gold- und Fransenverzierung sowie ein Kopfschmuck aus Straußenfedern.56 Der Herr trägt natürlich auch auf der Bühne Perücke, auch hier helfen lediglich Details wie ein goldener Helm oder der exotische Turban, in die entsprechende Rolle einzutauchen. Im Gegenzug haben die weiblichen Bühnengrößen ein Recht darauf, nicht nur in den neuesten Modekreationen aufzutreten, sondern diese auch nach jedem Akt zu wechseln.57 Eine Dame bleibt auf der Bühne vor allem eine Dame, weder Publikum noch Theatermacher fordern klassentypische Unterschiede oder historische Korrektheit.58

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58

Vgl. Devoucoux 2007, S. 48f. Vgl. Boehn 1921, S.238. Vgl. Mayerhofer-Llanes, Andrea. Die Anfänge der Kostümgeschichte: Studien zu Kostümwerken des späten 18. und des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum. München: Scaneg, 2006, S. 53. Vgl. Lemmer 1963, S. 21. Vgl. Wehinger, Brunhilde. Paris-Crinoline: Zur Faszination des Boulevardtheaters und der Mode im Kontext der Urbanität und der Modernität des Jahres 1857. München: Fink, 1988, S. 127. Vgl. Klara 1931, S. 129.

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Die Macht des Kostüms

Die Bühnengesellschaft wäre in ihrer Aufwendigkeit und Pracht auch auf jeder Hofgesellschaft willkommen gewesen.59 Gerade in tragischen Stücken verkörpert diese hervorgehobene Eleganz den elitären Charakter, das Übermenschliche und Erhabene der dargestellten Figur.60 Der Akteur auf der Bühne soll hauptsächlich heldenhaft erscheinen, je nach Thema göttlich, legendär oder königlich, eine tiefere Charakterisierung der dargestellten Rolle erwartet der Zuschauer nicht.61 Armut oder niedere Schichten will niemand auf der Bühne sehen. Handwerksberufe oder die Dienerschaft werden stark beschönigt dargestellt, jeder Zimmermann trägt Samt und Seide. Eine Zofe muss sich lediglich eine Schürze über den reich dekorierten Reifrock binden.62 »Im Jahre 1753 trat Madame Favart einmal als Arbeiterfrau aus der Provinz in Sandalen, mit grobem Kleid und nackten Beinen auf; das Publikum war empört.«63 Die Komödien hingegen steigern besondere modische Merkmale ins Übertriebene und somit Lächerliche, die Perücke erscheint monströs oder die Schuhe übergroß.64 Eine im 16. Jahrhundert entstandene und sich größter Beliebtheit erfreuende Form der Komödie – das Verwechslungsstück – gründet seine ganze Handlung auf die offensichtlich vertauschte Kleidung, für den Zuschauer sichtbar durchgeführt, und die daraus resultierende Verwirrung auf der Bühne. Gerne wird dabei der Herr willentlich mit seinem Dienstboten verwechselt, beliebt in verschiedenen Varianten von amourösen Verbindungen.65 William Shakespeare stützt seine äußerst beliebten Verwechslungskomödien auf die überwiegend männlichen Schauspieler, die eine Frau darstellen, die sich während des Stückes aber als Mann ausgibt. Das elisabethanische Theater findet Freude an dieser Vermischung von gesellschaftlichen Konventionen mit

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Die höfischen Feste von Versailles können auf 1381 Kostümteile zurückgreifen, sorgfältig aufgelistet in der Inventarliste des Königshofs von 1754, siehe das Inventaire Général des habits des Ballets du Roy. (Vgl. Dotlačilová, Petra. »Louis-René Boquet’s Work for Opera and ballet in the Second Half of the Eighteenth Century.« In Dance Body Costume, hg. von Petra Dotlačilová und Hanna Walsdorf, 103–158. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2019). Vgl. Lemmer 1963, S. 21. Vgl. Hollander 1993, S. 250. Vgl. Lemmer 1963, S. 23. Sennett 1986, S. 318. Vgl. Fischer-Lichte, Erika. Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen: Francke, 1999c, S. 240f. Vgl. Boehn 1921, S. 250.

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der auf offensichtlicher Verkleidung gründenden Darstellungstradition auf der Bühne.66 Aus heutiger Sicht ungewöhnlich ist, dass nur »Ausgehkleidung« auf der Bühne Verwendung findet. Der Darsteller ist stets für den Auftritt im öffentlichen Raum gekleidet, einschließlich Perücke und Hut. Sein Äußeres entspricht somit dem des Zuschauers, auch wenn es sich auf der Bühne um eine sehr intime Szene in den Privaträumen der Figur handelt. Die Bekleidung richtet sich mehr nach den sozialen Regeln der Gesellschaft und des Publikums als nach den dramaturgischen Anforderungen.67 Die gleichen Kostüme finden nicht nur für verschiedene Stücke Verwendung, der Sänger trägt auch an zwei aufeinanderfolgenden Abenden verschiedene Kleidung für die gleiche Oper, um sein wiederkehrendes Fanpublikum mit unterschiedlichen Outfits zu unterhalten.68 Grundsätzlich gehören zum privaten Fundus eines Darstellers, abwechselnd für alle Inszenierungen einsetzbare […] moderne französische Staatskleider, Kleider für Schäfer, […], Priester, Gerichtspersonen, Mantelrollen und andere italienisch-französische Masken, Ausrüstungsstücke zu antiker und orientalischer Kostümierung, Panzer, Mäntel, Reifröcke, Helme, Turbane, Schals, Schleier, Waffen.69 Nur in beim Publikum sehr beliebten und daher permanent aufgeführten Werken kommt manchmal eine festgesetzte Kleidungsauswahl zum Einsatz.70 Besonders die Damen auf der Bühne werden zur Stilikone ihrer Zeit. Mit der Beschäftigung von Schneiderinnen an den Theaterhäusern eröffnen sich den Sängerinnen die Möglichkeit, neue Entwürfe auf der Bühne vorzuführen. Einem Teil des weiblichen Publikums wird unterstellt, mehr um der Modeschau Willen die Vorstellung zu besuchen als um des Bühnenwerkes. Je bekannter der Star, desto spektakulärer und extravaganter fällt seine Kleidung aus und direkt proportional steigt die Schar der Nachahmer.71 »Dress to impress« scheint hier geboren. Mit Vorliebe experimentiert die Bühne mit neuen Perückenformen, Orten für Schönheitspflästerchen und Schmuckkreationen,

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Vgl. Ponte 2013, S. 64. Vgl. Monks 2010, S. 46. Vgl. ebd., S. 44. Klara 1931, S. 15. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Monks 2010, S. 45.

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bevor sich das Gesehene in die Ballnächte der gehobenen Gesellschaft ausbreitet.72 Die Oper des 18. Jahrhunderts verfügt über die deutlich größeren finanziellen Mittel als das Schauspiel, sowohl ihre Bauten als auch ihre Ausstattungen sind wesentlich prächtiger.73 Von einer künstlerisch ausgereiften, dramaturgisch ausgearbeiteten oder auch nur einheitlichen Bühnenausstattung ist die Oper zu Beginn des 18. Jahrhunderts trotzdem noch weit entfernt.74 Dennoch vererbt sie der Nachwelt – besonders dem Musiktheater bis in die 2000er Jahre – eine Freude an opulenter Bühnenkostümgestaltung und Ausstattung. Ein entscheidender Aspekt des Bühnenkostüms des Barocks, mit seinen Wurzeln in der höfischen Kunst und Mode, ist jedoch die Ausformung einer eindeutig artifiziellen Bühnenbekleidung. Diese bereichert seitdem in verschiedensten Formen die performative Welt. Bekleidet, um aufzufallen, nicht um eine Figur darzustellen, erscheint der Akteur in unübersehbaren Kreationen. Dieses Show-Kostüm zeichnet sich aus durch eine bühnenwirksame Fernwirkung, extravagante Ausgestaltung, Modetrend setzende Gewagtheit und einem spielerischen Umgang mit dem Selbstdarstellungsdrang des Auftretenden. Sein Grundkonzept liegt im offensichtlichen Kostüm-Sein und sein Sinn einzig darin, das Auge zu überraschen und bewundernd zu unterhalten. Neben spektakulärer Schnittführung soll seine Materialbeschaffenheit die Blicke auf sich ziehen, außergewöhnlich, glitzernd, funkelnd oder zumindest in schriller Farbigkeit und wahnsinnigem Mustermix. Der Akteur hat sich ohne Zweifel für den großen Auftritt ver- bzw. bekleidet. In dieser Eigenschaft ähnelt es dem Aufzug eines Königs, allen voran Louis XIV. Diese Art des Kostüms idealisiert seinen Träger, arbeitet seine körperlichen Vorzüge heraus und glorifiziert so den Auftretenden. Analog zur prunkvollen Bekleidung eines Königs, die der Bilderbuch-Vorstellung des Volkes von einem herrschenden Oberhaupt entspricht, wird hier die ideale Version des großen Auftritts kostümiert. Eine angehimmelte Person präsentiert sich in einem Abbild, auf das der Zuschauer seine Sehnsucht projizieren kann. Dieses Prinzip verstanden bereits die Königshäuser, ihm folgt auch Lady Gaga und David Bowie in bewusst ausgewählten Showoutfits.75

72 73 74 75

Vgl. Sennett 1986, S. 319f. Vgl. Boehn 1921, S. 324. Vgl. Hollander 1993, S. 250f. Vgl. ebd.,S. 262.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

Dem Musikstil entsprechend oder auch der meist über Jahre hinweg aufgebauten künstlichen Bühnenpersönlichkeit, formiert sich die visuelle Sprache. Diese geht über die Alltagsbekleidung bewusst hinaus. Ein paar Glitzerhände an David Bowies Floor Kostüm oder Lady Gagas Fleischkleid, verleihen dem Auftritt eine surreale, schockierende, provozierende, aufreizende oder einfach noch nie gesehene Note, die von der Presse diskutiert, das Umschwärmen des Stars weiter vorantreibt. Die Glitzerhände werden wahrscheinlich bei Bowie bleiben, das Netzhemd hingegen feiert ab sofort in zahlreichen Clubs mit. Ein neuer Trend ist geboren.

Abbildung 24: David Bowie, The 1980 Floor Show, 197376

5.3. Die gesellschaftlichen Umbrüche Mit Marie Antoinette und Louis Philippe Joseph de Bourbon, duc d’Orléans, kurz genannt Philippe Égalité, tritt trotz ihrer Gegensätzlichkeit und gegensei76

Foto: Mick Rock. In: Broackes, Victoria und Geoffrey Marsh. Hg. David Bowie. München: Knesebeck, 2013, S. 87.

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tigen Abneigung in Frankreich, in Modefragen unangefochten eine Stilwende ein. Beide setzen sich mit ihrem Interesse für Mode über Standes- und Landesgrenzen hinweg. Marie Antoinette beherrscht die opulente Kleidermode ihrer Epoche par excellence. Sie übertrifft jede Überdekoration an bestickten Ornamenten, gerüschten Borten und Schleifen, drapierten Kunstblumen, gepuderten, künstlichen Hochsteckfrisuren mit eingeflochtenen Szenerien und grellen Hütchen in so exzessiver Weise, dass sie den Tadel einstecken muss, nicht einer Königin würdig zu sein, sondern sich wie eine Schauspielerin in großer Beliebig- und Austauschbarkeit zu kleiden, nicht ihren Stand verkörpernd, sondern nur auf den großen Auftritt ausgelegt.77 Marie Antoinette ist jedoch die erste, die in den 1770er Jahren einen radikalen Gegenentwurf zu tragen wagt. Sie erscheint in einem hellen, hemdartigen Kleidchen aus feinem Musselin, weich am Körper fließend, der Kontrast in Silhouette und Material zu den ausladenden farbig geschmückten Ballroben könnte nicht größer sein. Die weit ausgeschnittenen, kurzärmeligen, äußerst durchsichtigen Kleider mit sehr hoher Taillenlinie werden unter der Bezeichnung ChemisenKleider, »Chemise à la Reine« – zu Ehren Marie Antoinettes, »Mode à la grecque«, »Nuditätenmode« der Modetrend nach der französischen Revolution.78 Mutigere Damen tragen darunter hautfarbene, enganliegende Ganzkörpertrikots, alle anderen greifen auf blickdichte Unterkleider zurück. Die natürlich fallenden »einfachen« Kleider entsprechen dem neuen Geist der Aufklärung. Die steifen Corsagen und viellagigen Unterröcke verschwinden. Die natürlichen Körperformen schimmern deutlich sichtbar durch die zarten Kleidchen. Die herrschende Antikenbegeisterung, hervorgerufen durch Johann Joachim Winckelmann, spiegelt sich in der antikisierten Silhouette der ChemisenKleider wider. Das Zusammenspiel von Körper und Kleidungsstück ändert sich grundlegend und in einer für die Modegeschichte außergewöhnlichen Sprunghaftigkeit. Die Mode à la Grecque erobert ganz Europa, besonders beliebt ist sie in England, dessen Herrenmode zu diesem Moment bereits federführend ist.79

77 78 79

Vgl. Vinken 2013, S. 66. Vgl. Rasche 2003a, S. 82. Vgl. Jöhnk, Carsten. »›Die französische, garstige Nudität‹: Karikaturen zur Nacktmode der Zeit um 1800.« In Ridikül!: Mode in der Karikatur 1600 bis 1900, hg. von Adelheid Rasche und Gundula Wolter, 69–78. Berlin, Köln: DuMont, 2003, S. 69.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

Philippe d’Orléans wendet sich als einer der ersten Franzosen dem englischen Stil zu.80 Bereits Ende des 17. Jahrhunderts erstarkt das englische Bürgertum, wodurch sich das politische und wirtschaftliche Gleichgewicht gegenüber der Monarchie zu seinen Gunsten verschiebt. Durch seine wachsende Macht, finanziellen Mitteln und das damit verbundene Selbstbewusstsein emanzipiert es sich von der Verschwendungssucht des Adels und etabliert einen eigenen Stil, der auf hohem Arbeitseifer und bürgerlichen Werte basiert. Einfache und solide Kleidungsstücke sollen die für die arbeitende Bevölkerung unpraktische, überdekorierte Mode aus empfindlichen Stoffen wie Samt und Seide ablösen. Wollstoffe, zwar nicht billiger, aber strapazierfähiger und alltagstauglicher, bilden die Alternative für den Herrn. Die Damen verzichten auf Reifröcke und bauschen ihre leichten, unauffällig dekorierten Baumwollkleider nur mit kleinen Gesäßpolstern auf oder raffen sie mit schmalen Schärpen. Das Eigenhaar wird eingepudert und perückenlos gezeigt. Die Begeisterung der Generation für die Antike und eine gewisse Naturverbundenheit spiegelt sich in der Kleiderwahl.81 Ab 1750, mit der Verbreitung von Montesquieus und Voltaires Schriften, die die englische bürgerliche Kultur über die französische Monarchie-Vormacht stellt, wird die englische Lebensweise und mit ihr die englische Mode zum Vorbild in Frankreich »mit ihren Leitbegriffen Natürlichkeit, Rationalismus und sozialer Mobilität«82 Philippe Égalité verweigert sich der Kniebundhosen mit Seidenstrümpfen, der Farbenpracht und der Schmuck-, Spitzen- und Federndekoration sowie der gepuderten Perücke seiner Zeit und trägt lange, schlichte Hosen und dunkle Farben zu einem Kurzhaarschnitt und ungeschminktem Gesicht. Er ist seiner Zeit weit voraus, verkörpert ein neues Zeitverständnis und greift der späteren klassischen Herrenmode vorweg. Das verspielte Rokoko muss der bewussten Untertreibung der klassischen Eleganz der aufkommenden Republik weichen.83 Philipp Égalité läutet eine neue Epoche der Herrenbekleidung ein, die sich bis heute in Form des Herrenanzuges fortsetzt und beendet die Zeit, in der sich der Mann auffällig schmückt und die Herrenmode häufig wechselt. Die französische Revolution ordnet nicht nur Europa neu, sondern legt auch den Grundstein für die heutige Mode. Mit dem Niedergang der Monar-

80 81 82 83

Vgl. Vinken 2013, S. 66. Vgl. Rasche/Wolter 2003, S. 168. Rasche 2003a, S. 81. Vgl. Vinken 2013, S. 56.

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chie, dem Ende der gottgewollten Ordnung, deren Repräsentant der menschliche Körper ist, eine vergängliche Hülle, verlegt sich die Macht in die Institution des Staates. Seine Mitglieder führen ab sofort ein Amt aus, verkörpern es aber nicht mehr. Das Kollektiv der Bürger ist das Entscheidende in der Republik und der Einzelne soll sich nicht mehr durch pompösen Schmuck hervorheben, sondern in der dienenden Einheitsmenge verschwinden. Die Privilegien der Geburt verlieren ihre Bedeutung, Fleiß und gute Arbeit führen nun zu Erfolg und Ansehen. Die festgefügte Ständegesellschaft bricht in sich zusammen, abgelöst von der wesentlich flexibleren Klassengesellschaft. Die Bekleidung wird nicht mehr vorgeschrieben, sondern kann frei gewählt werden. Die Dynamik der Mode beginnt.84 Der Mann muss sein Kleidungskonzept überdenken, die aristokratische Mode ist für seine neue Funktion nicht mehr angemessen, er muss sich für die Arbeit neu einkleiden. Anders als der aristokratische Mann stellt der bürgerliche Mann nicht sein Sein zur Schau, sondern definiert sich über seine Leistung. Hatten die herrschenden Klassen bis zur Revolution gar nicht daran gedacht zu arbeiten, so wurde die funktionale Einfachheit der Kleider jetzt durch das neue Ideal des arbeitenden Mannes befördert.85 Als letztes Relikt der vormals farbigen Westen und Krägen und Tüchern aus Samt und Seide, aufwendig bestickt, bleibt die Krawatte als kleiner Farbfleck im dunklen Anzug, als der Mann beginnt, sich mit langen Hosen und schlicht geschnittenen Jacken zu bekleiden.86 Seine Silhouette ändert sich in den nächsten zwei Jahrhunderten kaum, während die der Frau alle dem Körper möglichen und fast unmöglichen Formen annimmt.87 Selbst die extravagante Modeerscheinung des Dandys zu Beginn des 19. Jahrhunderts orientiert sich stilistisch an sportlichen und militärischen Vorbildern, etwa den englischen Jägern und bleibt in ihrer Grundform dem zeitlosen Herrenanzug verbunden.88 Beiden Geschlechtern gemeinsam ist durch alle Jahrhunderte das Prinzip, durch elegante Kleidung nicht nur einen gewissen Reichtum zur Schau zu stel-

84 85 86 87 88

Vgl. Vinken 2013, S. 33ff. Ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. Hollander 1997, S. 88.

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len, sondern zu unterstreichen, dass ihr Träger nicht zu körperlicher Arbeit verpflichtet ist. Elegante Kleider zeichnen sich für Damen und Herren schon immer dadurch aus, dass sie dieser nicht standhalten würden. Die Stoffe sind dünn oder glänzend, Abnutzungserscheinungen und Schmutz wären sofort sichtbar. Lackschuhe, Zylinder und Spazierstock schließen jede harte Arbeit aus. Nur das unbeschmutzte, weiße Hemd kennzeichnet einen Gentleman.89 Saubere Kleidung und das Folgen eines gewissen Modediktats, zählen unverändert zur Grundlage des zivilisierten Mitgliedes der Gesellschaft.

5.4. Der Naturalismus Zu Beginn des 18. Jahrhunderts ertönt Kritik an rein dekorativen, realitätsfernen und Stück-unabhängigen Einheitsausstattungen. Im Geiste der voranschreitenden Aufklärung verbreitet sich in der Gesellschaft langsam ein größeres Geschichtsbewusstsein, das in der populär werdenden Historienmalerei und dem zeitlich etwa ein halbes Jahrhundert später einsetzenden Realismus in der Literatur seine Ausprägung findet.90 Die Theaterschaffenden wie auch die Zuschauer entwickeln eine wachsende Sensibilisierung für geschichtliche Themen und werden zunehmend firmer in historischen Details.91 Anfänglich stoßen die Bestrebungen, einen Naturalismus auf der Bühne zu etablieren, bei einem großen Teil des Publikums auf Ablehnung, zu sehr ist es an eine oberflächliche, schönmalerisch gestaltete Unterhaltungsform gewöhnt. Die Konfrontation mit der eigenen – auch hässlichen – Identität schockiert.92 Die Oper bleibt dem schönen Schein zunächst verwachsen. Im Bestreben einer »Natürlichkeit« wird jedoch die Notwendigkeit der bis dahin auf den Bühnen gefeierten Kastraten wegen ihrer unmenschlichen Behandlung in Frage gestellt. Die Mezzosopranistinnen ersetzen ihre Stimmlage und die echte Hosenrolle etabliert sich in der klassischen Oper.93 Mit Friederike Caroline Neuber beginnt eine neue Ära: Sie wendet sich auf der Suche nach einer lebensnahen Theaterform mit ihrer Theatertruppe in den

89 90 91 92 93

Vgl. Veblen, Thorstein. Theorie der feinen Leute: Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1958, S. 167. Vgl. Laver 1964, S. 186. Vgl. Gronemeyer 1998, S. 113. Vgl. ebd., S. 119. Vgl. Ponte 2013, S. 99.

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1730er Jahren von der Gepflogenheit der Hoftheater ab, französische Werke mit Gesang und Tanz auf die Bühne zu bringen, und spielt stattdessen für das bürgerliche Publikum relevante Stücke in deutscher Sprache von Johann Christian Gottsched und Gotthold Ephraim Lessing. Gottsched hebt die schauspielerischen Qualitäten Neubers hervor, die die männlichen und weiblichen Parts übernimmt: Wenn ihr doch […] die verschiedenen Personen gesehen hättet, die daselbst auftraten! […] Vor allen anderen, vier Burschen von den berühmtesten sächsischen Academien, waren so unvergleichlich characterisiret, daß ich mein Leben lang nichts Schöneres gesehen hab. Ich will Euch von diesen vier letzten nur so viel sagen, dass der Jeneser Ungestümm, der Hallenser Fleißig, der Wittenberger Haberecht und der Leipziger Zuallemgut geheissen, und dass diese vier verschieden Leute, nemlich ein Schläger, ein Freund der morgenländischen Sprachen, ein Zänker und ein galant homme von einem viermal verkleideten Frauenzimmer so herrlich vorgestellet worden, dass ihnen nichts als eine männliche gröbere Stimme gefehlet.94 Es etabliert sich eine bürgerliche Theaterkultur, angetrieben von neu entstehenden, städtischen Theaterhäusern und einem neuen Abonnementsystem. Theater öffnen ihre Türen auch für Bevölkerungsschichten außerhalb des Adels. Die Menschen auf der Bühne sollen nun ein realistischeres Bild ihres bürgerlichen Publikums abgeben, da auch die dargestellten sozialen Konflikte nichts mehr mit dem prunkvollen Spektakel des Barocktheaters zu tun haben.95 Der Naturalismus wird zunächst beim Kostüm eingeführt, bevor er auch bei der Bühnendekoration umgesetzt wird.96 Die typisierende Charakterzuteilung verliert an Wert, jede Rolle individuell kostümiert, soll nun besonders dem entsprechenden Milieu des Stückes Rechnung tragen.97 Das Bühnenkostüm kopiert möglichst detailgetreu die Alltagsbekleidung der entsprechenden Schicht aus der entsprechenden Zeit.98 Einen Wendepunkt in der deutschen Kostümgeschichte leitet die Uraufführung von Goethes Götz von Berlichingen 1774 am Berliner Comödienhaus ein.

94 95 96 97 98

Ponte 2013, S. 91. Vgl. Burde 2016, S. 139. Vgl. Klara 1931, S. 2. Vgl. ebd., S. 89. Vgl. Sennett 1986, S. 338.

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Die Figurinen zeigen genau ausgearbeitete Entwürfe der Kostüme. Die seitliche Ansicht der Elisabeth legt den genauen Faltenwurf der Röcke, deren Volumen sich hinten auffächern soll und die in ihrer Dimension und Weite in dieser Darstellung gut erfasst werden, sowie die genaue Ärmelform und Blusenraffung fest. Der Haube wurde extra eine Rückansicht beigefügt, um nichts dem Zufall zu überlassen.

Abbildung 25: J. W. Meil, Kostüm der Elisabeth in Götz von Berlichingen, 177499

Zum ersten Mal ist nachweislich ein Kostümzeichner – Johann Wilhelm Meil (1733–1805) – für das Kostümbild verantwortlich, der nicht auf die bestehende Grundausstattung der Schauspieler zurückgreift. Mit der Götz Aufführung beginnt im historischen Stück die Berücksichtigung der individuellen Kostümechtheit, die Differenzierung der Garnituren

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Klara 1931, S. 265.

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nach Stückgruppen, die Heranziehung besonderer Kostümkenner bei Neuanschaffung. Die von einem historisch gebildeten Dramaturgen besorgte Vorlage oder der Entwurf eines Kostümzeichners gilt allerdings nur als unverbindlicher Vorschlag, dem man charakteristische Einzelheiten entnimmt. Der Kostümzeichner hat keinen direkten Einfluß auf die Inszenierung. Die sich entwickelnde Regie wacht darüber, daß die vom Schauspieler aus dem Fundus gewählten Kostümstücke ungefähr milieugerecht sind.100 Die veränderte Herangehensweise an das Bühnenkostüm steht in Zusammenhang mit einer anderen Neuerung der deutschen Theatergeschichte. Es entsteht ein Literaturtheater, das darüber hinaus eine neue Art des Schauspiels erfordert. Der Schauspieler soll nun nicht mehr seine eigene Persönlichkeit auf der Bühne in den Vordergrund stellen, sondern muss sich der literarischen Vorlage des Textes unterwerfen.101 Die Bühnenfigur erscheint nun wichtiger als die reale Person, deren Körper sie sich während der Inszenierung bedient. Das Hoftheater Meiningen, das im Jahr 1866 unter die Leitung von Herzog Georg II. gestellt wird, reformiert die deutsche Theaterlandschaft weitgreifend. Das moderne Regietheater ist geboren. Kompromissloser als seine Vorgänger verfolgt Georg II. sein Ziel, die Inszenierung als Gesamtkunstwerk zu begreifen. Der literarische Text wird ungekürzt gespielt und alle Komponenten der Aufführung, auch die Schauspieler, haben sich der konzeptionellen Idee zu unterwerfen.102 Bühnenbild und Kostüme werden nicht mehr wahllos kombiniert, sondern erfüllen ebenfalls eine Funktion innerhalb der Inszenierung.103 Georg von Meiningen selbst zeichnet hierfür detaillierte Kostümfigurinen, die historisch genau recherchiert sind.104 Theodore Fontane lobt den sich etablierten Stil der Meininger 1887 zum Anlass ihrer Inszenierung von Wallensteins Tod von Friedrich Schiller in der Vossischen Zeitung: »Die Meininger verstünden sich auf den ›Zauber der Dinge‹« und lobt die »durch malerischen und historischen Reiz gleich ausgezeichneten Räume […], zu denen sich selbstverständlich neue Kostüme von entsprechender Pracht und Fülle gesellen.«105 Der Naturalismus auf der Bühne hatte sich international durchgesetzt, die Zuschauer fordern nun ein genaues Abbild der Wirklichkeit, damit sich die 100 101 102 103 104 105

Ebd., S. 82f. Vgl. Fischer-Lichte 2004a, S. 131. Vgl. Gronemeyer 1998, S. 115f. Vgl. Eckert 1998, S. 21. Vgl. Tintelnot 1950. Vgl. Eckert 1998, S. 22.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

illusorische Wirkung des Theaters entfalten kann.106 Zu den Hauptvertretern zählen in Frankreich André Antoine und Emile Zola, in Russland Konstantin Stanislavski, in Deutschland Otto Brahm und in Nordamerika David Belasco.107 Nach Antoine soll die Bühnendekoration wie auch das Kostüm in einer Inszenierung die beschreibende Funktion eines Romanes übernehmen, die auftretende Figuren definieren und eine entsprechende Atmosphäre schaffen. Beides übernimmt somit dramaturgische Aufgaben und dient nicht nur der sinnfreien und unnötigen Überdekoration des Raumes und seiner Akteure.108 Antoine fordert dabei ebenso wie die Meininger die Einheit aller Teilbereiche einer Inszenierung, wobei Antoine wie auch Stanislavski ihren Schwerpunkt auf das homogene, aber authentische Zusammenspiel von Stück, Darsteller, Dekoration und Licht legen ohne sich dabei in einer Theaterillusion zu verlieren.109 Die Reformbestrebungen des Naturalismus betreffen hauptsächlich das Sprechtheater. Auch wenn Richard Wagner eine Einheit der Theatermittel fordert, bezieht sich das auf die »Vereinigung der Künste als durchaus strukturbestimmendes Programm des musikalischen Dramas«110 und nicht auf die Einführung einer milieugetreuen Korrektheit. Im aufkommenden Naturalismus vollzieht sich eine Trennung der Ästhetik von Schauspiel und Oper, die an der milieuechten und naturalistischen Darstellung des einfachen Menschen wenig Gefallen findet und einen opulenten und gefällig-schönen Inszenierungsstil beibehält.111 Bis ins 20. Jahrhundert sind die Darsteller zum Teil verpflichtet, sich selbst um ihre Garderobe zu kümmern. Der Besitz von Kostümen ist für die Karriere unabdingbar. Die Finanzierung jedoch verschlingt fast die gesamte Gage. Der Druck in aufwendiger Bekleidung auf der Bühne zu strahlen, führt viele in die Abhängigkeit vom Theaterdirektor, dem König, dem Adel oder sonstigen Mäzenen, die über den Umweg der Kostümfinanzierung »in Besitz« des Sängers kommen.112 Das Etablieren von festen Theaterhäusern und die neu gegründeten Nationaltheater in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eröffnen den Zugriff auf einen größeren Theaterfundus, als 106 Vgl. Sennett 1986, S. 338. 107 Vgl. Bablet, Denis. Estéthique générale du décor de théâtre (de 1870 à 1914). Paris, 1965, S. 106. 108 Vgl. ebd., S. 111. 109 Vgl. ebd., S. 133ff. 110 Wilts, Bettina. Zeit, Raum und Licht. Weimar: VDG, 2004, S. 25. 111 Vgl. Klara 1931, S. 193. 112 Vgl. Monks 2010, S. 48.

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es den fahrenden Truppen möglich ist. Der Akteur muss nun nicht mehr alle Kostümteile selbst beschaffen, sondern wird nach einer genau geregelten Aufschlüsselung finanziell unterstützt, um sich notwendige Kleidungsstücke kaufen zu können, die allerdings im Besitz des Theaters bleiben.113 Neu eingeführte Garderobenbücher teilen nun durch eine klare Auflistung den jeweiligen Stücken Kostüme zu, um der Willkür der Bekleidung, hervorgerufen durch den Selbstdarstellungsdrang der Bühnenstars ein Ende zu setzen. »Iffland, für den als Schauspieler das Kostüm eines der wichtigsten und beredtsten Charakterisierungsmittel ist, zielt als Regisseur auf Kontrastierung der Charaktere im Kostüm.«114 August Wilhelm Iffland kritisiert im Berliner Garderobenreglement von 1802 die übermäßige Eitelkeit der Bühnenakteure.115 Seine detaillierten, schriftlich festgehaltenen Forderungen zur Kostümgestaltung beweisen, so lobt Joseph Gregor noch 1925 – wie »mit wie geringen kostümhistorischen Kenntnissen vollendete Charakterisierungskunst betrieben werden kann«, in einer Zeit, »die kaum zwischen einem Renaissance- und einem Barockkostüm erfolgreich unterscheidet«116 Unter anderem folgende Rollen erhalten eine genaue Bekleidungsvorgabe: Pygmalion: Blauer Chiton und leichter Umhang. Herzog v. Sully (Heinrich IV.): Überladenes Ordensritterkleid etwa 1600 (!), Rüschen die Ärmel entlang laufend und in Krausen übergehend, Halskrause, Hermelin (!), sehr hohe Stiefel, Kette, sehr langer Degen. Schewa (Der Jude): Doppelter, langer Rock, der untere violett, der obere schmutzig graubraun, Taschen sehr tief (!), Ärmel unnatürlich weit (!), leerer Dreispitz, Stock. Shylock: Schwarzer Kaftan, darunter rote Hose (!), blauer, pelzverbrämter. weitärmeliger Mantel mit dem gleichen Rot als Futter. Amtmann Riemen (Die Aussteuer): Langer, grauer Rock, mit viel zu tief sitzenden Kreuzknöpfen, der sich nur schwer über dem Bauche schließt. Halstuch, in das das Kinn versinkt usw.117

113 114 115 116 117

Vgl. Burde 2016, S. 137. Klara 1931, S. 64. Vgl. ebd., S. 19f. Gregor 1925, S. 115. Ebd., S. 115.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

Abbildung 26: Iffland als Herzog von Sully in Heinrich IV.118

Die einerseits sehr ins Detail gehenden Angaben bei gleichzeitiger allgemeingültiger Verwendbarkeit für jede Aufführung, veranschaulichen, trotz der anerkennenden Worte für den angestrebten charakterisierenden Wert der Bekleidung, an diesem Beispiel den noch weiten Weg zu einem heute üblichen nicht nur Stück-, sondern inszenierungsbezogenen Kostümbild. Das Beispiel der bekannten Londoner Schauspielerin Isabella Glynn (gest. 1889), eine beliebte Shakespeare-Interpretin, verdeutlicht darüber hinaus den stark verwurzelten Bezug der Kostümsilhouette zur aktuellen Tagesmode. Ihr Kleid in der Rolle als Lady Macbeth entspricht dem Schnitt ihres Kleides, das sie als Cleopatra trägt. Zwei bodenlange Kleider, ähnlicher Halsausschnitt, gleicher kleiner Ärmel unterscheiden sich nur durch eine leicht exotische Dekoration des Rocksaumes und der Corsage, sowie der ägyptisch anmutenden Kopfbedeckung der Cleopatra. Eine historische Schnittführung mit der Abkehr

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Farblithographie. In: Gregor 1925, S. 237.

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von der zeittypischen Bekleidungsgewohnheit kann sich zu diesem Zeitpunkt nicht durchsetzen.

Abbildung 27: Isabella Glynn als Lady Macbeth Abbildung 28: Isabella Glynn als in Shakespeares Macbeth, 1851119 Cleopatra in Shakespeares Antonius und Cleopatra, 1860120

Gespielt wird im 19. Jahrhundert in einer Sammlung gemalter Bühnendekorationen, die jedes Theater besitzt, unter der sich Innenräume, architektonische Außenansichten sowie Landschaftsgemälde befinden. Auch reichere Häuser können es sich nicht leisten, jedes ihrer Repertoirestücke individuell auszustatten, und so tauchen allgemeingültige Szenerien in verschiedenen Inszenierungen auf, der Freischütz muss sich etwa den Wald mit dem Wilhelm Tell teilen.121 Dem Bestreben einer naturgetreuen Kostümierung kommt die Elektrifizierung am Ende des 19. Jahrhunderts sehr zugute. Die Wahl der Materialien bleibt nicht mehr auf glänzende Oberflächen beschränkt, um den Fokus auch

119 Radierung von George Hollis in: Laver 1964, S. 131. 120 Radierung von George Hollis in: Ebd., S. 129. 121 Vgl. Rischbieter 1968, S. 8.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

bei schwacher Beleuchtung auf den Akteur zu lenken. Übliche Bekleidung, die im Scheinwerferlicht deutlich zu erkennen ist, reicht nun auf der Bühne aus. Schon damals bearbeiten die Kostümschaffenden Kleidungsstücke, um ihnen, je nachdem, ein getragenes, ein altes oder heruntergekommenes Äußeres zu verleihen und so »die perfekte Illusion von Alltagsmilieu auf der Bühne« zu bringen.122

5.5. Die Retheatralisierung Die Blüte des Naturalismus auf der Bühne ist von kurzer Dauer und wird sehr schnell von anders gesinnten Künstlergruppierungen in Frage gestellt. Sie sehen in der puren, fotografischen Nachahmung, angeregt durch eine rein rationale und wissenschaftliche Herangehensweise, die Negation von Kunst und Poesie.123 Die Verbreitung des Films als Unterhaltungsmedium führt ebenfalls dazu, dass sich die Theaterbühne nicht mehr als Abbild der Wirklichkeit eignet und ihre eigenen Ausdrucksmittel und -stärken suchen muss.124 Künstler und Intellektuelle kritisieren Theatergruppen wie die Meininger dafür, ihre Konzentration auf die Ausstattung zu lenken und darüber den inhaltlichen Sinn des Theaterstückes zu vergessen. So würde das Theater zum Museum verkommen und seine eigene Sprache untergraben.125 Wer das Theater als eigene Kunstform sehe, könne sich nicht mit der Nachahmung der Realität zufriedenstellen.126 Es wird die Retheatralisierung des Theaters gefordert, frei von den Zwängen der literarischen Vorlage wie auch der Wirklichkeit. Der Weg dorthin verfolgt zwei unterschiedliche Richtungen. Während der eine das Magische, Symbolische, Impressionistische sucht, folgt der andere dem streng Formalen. Federführend sind hier Edward Gordon Craig und Adolphe Appia zu Beginn des 20. Jahrhunderts.127 Wie auch Oskar Schlemmer dividieren sie die künstlerischen Komponenten, aus denen sich das Theater zusammensetzt, auseinander, um deren Zusammenspiel neu zu ordnen und durch anders gesetzte Akzente eine allgemeingültige Theatersprache zu 122 123 124 125 126 127

Burde 2016, S. 153. Vgl. Bablet 1965, S. 105. Vgl. Gronemeyer 1998, S. 131. Vgl. ebd., S. 118. Vgl. Fischer-Lichte, Erika. Geschichte des Dramas: 2. Von der Romantik bis zur Gegenwart. Tübingen: Francke, 1999b, S. 166. Vgl. Gronemeyer 1998, S. 135.

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finden.128 Ihr Lösungsansatz liegt im streng Abstrakten, zu extrem, um sich dauerhaft auf den Bühnen stilbildend durchzusetzen. Appia konzentriert sich auf die Wirkung des Lichtes als Hauptakteur, um eigenständige Welten zu erschaffen. Craig möchte das Zufällige, Menschliche aus der Schauspielkunst verbannen, um in der Stilisierung des Spielenden, ausgedrückt in Gestik und Bekleidung, allgemeingültige Kunstwerke zu erschaffen.129 Der Schauspielerkörper als Material rückt in den Mittelpunkt der Reformbewegung. Craig hält ihn in seinem Text Der Schauspieler und die Über-Marionette von 1907 für ungeeignet als entscheidendes Ausdrucksmittel auf der Bühne, mit dem das Theater niemals zur Kunst erhoben werden könne.130 Oskar Schlemmer stellt eine Ausnahme in den formalistischen Reformbewegungen dar, die sich neben der Bedeutung des Schauspielers hauptsächlich mit der visuellen Gestaltung des Bühnenraumes und des Lichts beschäftigen, denn er widmet sich dem Bühnenkostüm. In seiner Erforschung der menschlichen Form und ihrer Beziehung zum Raum spielt die Formbarkeit des Körpers durch das Kostüm eine Schlüsselrolle. Die in den Bauhaus-Tänzen und dem in der Rezeption am intensivsten beachteten Triadischen Ballett verdichtet Schlemmer die biologische Silhouette auf die geometrischen Grundformen im Raum: Quader, Zylinder, Kegel, Kugel und Pyramide. Der künstlerische Entwurf bildet die Grundlage, auf die der gesamte Probenprozess aufbaut. Die verbleibende Bewegungsfreiheit, die das Kostüm zulässt, ist bindend, der Darsteller muss sich auf das einschränkende Moment einlassen. Der Eingriff in die Balance, das neue Austarieren der Körpermitte oder der Verlust eines Gliedmaßes kreieren neuartige Bewegungsmuster. »Das Bild ist nicht mehr Beiwerk, sondern Hauptakteur der Inszenierung. Eine Form des Theaters, die erst in den 80er Jahren, etwa in Arbeiten eines Robert Wilson, wiederauflebte.«131 Die russischen Theatertheoretiker, Regisseure und Vertreter der antinaturalistischen Reformbewegung Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, Alexander Tairov und Sergei Eisenstein sehen den Körper jedoch als vom Schauspieler beliebig kreierbares Material und die Erneuerung der Schauspielkunst

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Vgl. Simhandl 1993, S. 78. Vgl. Rischbieter 1968, S. 11. Vgl. Fischer-Lichte 1999b, S. 168f. Kaesbohrer, Barbara. Die sprechenden Räume: Ästhetisches Begreifen von Bühnenbildern der Postmoderne: eine kunstpädagogische Betrachtung. München: Herbert Utz Verlag, 2010, S. 30.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

als Lösung zur Retheatralisierung des Theaters.132 Der Körper, formbar durch Bewegungsabläufe und Kostüm, sei in der Lage, allgemeingültige Beziehungsstrukturen aufzuzeigen und nicht nur einzelne Individuen abzubilden. Diese Konzentration auf die puren, zwischenmenschlichen Verbindungen würde zu einer neuen Schauspielkunst und somit auch Theaterkunst führen.133 Die dem Formalen entgegengesetzte, aufkommende symbolistische Strömung schlägt sich nachhaltig in der Bühnendekoration und dem Bühnenkostüm nieder. Im Gegensatz zu den stark stilisierten Ausstattungen der Formalisten bietet der Symbolismus eine dem Publikum leichter verständliche Sprache, die dem Bühnenwerk eine zusätzliche Ebene verleiht und den Theaterzauber verstärkt. Bühne und Kostüm werden aufeinander abgestimmt und – vor allem durch die gezielte Verwendung von Farben – dem Atmosphärischen des Stückes angepasst. Eine Arbeitsweise, die sich bis heute fortsetzt, wenn auch nicht in diesem Extrem. Pelléas und Mélisande, das Hauptwerk des französischen Symbolismus, uraufgeführt 1893 in Paris, markiert den Beginn dieser durchdachten Ästhetik auf der Theaterbühne. Maurice Maeterlinck konzentriert sich auf die Stimmung der unglücklichen Liebesgeschichte und inspiriert Aurélien Lugné-Poë zu seinem Bühnenwerk. Vor lediglich zwei gemalten Prospekten unspezifischer Motivik befinden sich Möbel, Requisiten und Kostüme im gleichen Farbschema. Ein dunkles Blau, ein graues Violett, ein Orange und eine Skala fahler Grüntöne, mal an das kalte Mondlicht, mal an das Grün des Wassers erinnernd, sollen das Geheimnishafte und Melancholische des Dramas widerspiegeln.134 Die Kostüme in der gleichen morbiden Farbwelt wie ihr Umfeld, schemenhaft beleuchtet, das Mystische auch im Licht betonend, leiten alle Konzentration auf Mélisande, die sich in ihrem hellen, cremeweißen Kleid von allem abhebt.135 Die Personen scheinen demselben Kosmos zu entspringen wie der Raum, der für sie geschaffen wurde.136 Das Traumhafte, das auch Max Reinhardt in seinen Anfängen anstrebt, das das Publikum verzaubern, unterhalten und seine Alltagsnöte vergessen lassen soll, findet wieder seinen Platz auf den Bühnen. Der Siegeszug des Stimmungshaften, Impressionistischen lässt Luft für neue ästhetische Impulse.137

132 133 134 135 136 137

Vgl. Fischer-Lichte 2004a, S. 136. Vgl. Fischer-Lichte 1999b, S. 175f. Vgl. Bablet 1965, S. 160. Vgl. ebd., S. 161. Vgl. ebd., S. 162. Vgl. Rischbieter 1968, S. 10.

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Neben Edouard Vuillard, verantwortlich für die Ausstattung von Pelléas und Mélisande, entwerfen zahlreiche bildende Künstler Bühnendekorationen und Kostüme. Max Slevogt, Lovis Corinth, Oskar Kokoschka, George Grosz, Edvard Munch, Henri de Toulouse-Lautrec, Pierre Bonnard, Paul Sérusier und Maurice Denis als bekannteste Vertreter bringen ihre künstlerische Sprache in die Inszenierung ein. Im Laufe der Theater-, Tanz- und Operngeschichte wird immer wieder mit unterschiedlicher Intensität und verschiedenen Resultaten versucht, den künstlerischen Stellenwert des Kostüms durch das Engagement eines bildenden Künstlers als Kostümdesigner zu betonen. Der Beginn des letzten Jahrhunderts ist hierfür ein besonders nahrhafter Boden.138 Doch zeigt sich auch, dass eine zu extrem betriebene Ausstattungsästhetik kontraproduktiv für den Erfolg einer Produktion ist. Die Charakterisierung der Bühnenfigur tritt für die Umsetzung einer künstlerischen Idee in den Hintergrund. Eine Inszenierung, die sich aus den verschiedenen Teilbereichen der Theaterwelt zusammensetzt, lebt von der Unvollkommenheit ihrer Einzelteile, die erst im Zusammenspiel ihre Wirkung entfalten. Wird aber etwa die Bühnendekoration bereits mit allen Informationen und Interpretation des Bühnenwerkes beladen, lässt sie der eigentlichen theatralen Aktion keinen Spielraum mehr. So sind etwa die Bühnenbilder und Kostüme von Pablo Picasso zu sehr eigenständige Kunstwerke, um sich in eine Inszenierung integrieren zu lassen.139 Seine zum Teil surrealistische Ausstattung – Bühnenvorhang, Kostüm und Bühne – für Parade, ein Tanzabend für das Ballets Russe vom Sergei Diaghilev nach einer Idee von Jean Cocteau und Musik von Erik Satie erlebt ihre Uraufführung am 18. Mai 1917 im Théâtre du Châtelet in Paris an einem vierteiligen Abend als 2. Stück nach Les Sylphides und vor Soleil de nuit und Petrouchka. Die objektartigen Kostümentwürfe, unter denen die Tänzer teils vollkommen verschwinden, lassen kaum Bewegungsfreiheit.

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Vgl. Apollinaire, Guillaume. »›Parade‹ und der neue Geist.« In Bühne und bildende Kunst im XX. Jahrhundert: Maler und Bildhauer arbeiten für das Theater, hg. von Henning Rischbieter. Hannover: Friedrich, 1968, S. 83. Vgl. Kaesbohrer 2010, S. 19.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

Abbildung 29: Picasso, Der französische Manager aus Parade, 1917140

Die Manager durchliefen einen langen Entwicklungsprozess, gestalteten sich aber am Ende, inspiriert von den Harlekin-Gemälden Picassos von 1915, als kubistische Konstruktionen. Zwei davon waren sperrige, gut drei Meter hohe lebendige Skulpturen. Der dritte war der Manager zu Pferde; zwei Tänzer mimten das Ross, auf dem eine Reiterattrappe aus Pappe saß, die bei den Proben immer wieder herunterfiel. Schließlich wurde die Figur aus dem Stück gestrichen. Die riesigen kubistischen Manager sorgten für Furore: Sie standen in einem grotesken Missverhältnis zum Bühnenbild und zu den Tänzern.141

140 Picasso/Berggruen/Hollein 2006, S. 40. 141 Schouvaloff 2006, S. 69.

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Auch die russische Avantgardebewegung ist in ihren gestalterischen Ansprüchen sehr massiv und scheint eine Inszenierung mit ihrer übermächtigen Ausstattung zu erschlagen. Der Akteur verschwindet unter Kostümen, die sich rein nach Farbschemen, Rhythmus und Raumwirkung richten.142 Alexandra Exters Figurinen und Bühnenentwürfe vereinen kubistische mit futuristischen Elementen, lehnen sich so an die Formensprache ihrer Gemälde an. Scharfe, spitzzulaufende, dynamische Schnitte zerlegen den Raum in Einzelteile, bevor er in kubistischer Manier neu zusammengesetzt wird. Leuchtende Farben von Zitronengelb über Violett und Orange bis zu Karmesinrot bringen Exter die Kritik als »kubistischster Kubismus im barocksten Barock« ein.143 Ein komplexes Vorhangsystem unterteilt den Bühnenraum vertikal, diagonal und parallel zur Rampe in ständig wechselnde Segmente, »ein konstantes Wechselspiel von Formen und Farben, Licht und Schatten«.144 Die Kostüme in gleicher futuristisch-kubistischen Gestalt, zwar leicht an der Silhouette der Bekleidung der 1920er Jahre orientiert, treten in Wechselspiel mit dem Bühnenbild. Die Interaktion von visuellen Elementen steht über einer Personenregie und rollenspezifischen Charakterisierung. Dafür erheben sich die Dekoration und das Bühnenkostüm vom üblichen schmückenden Beiwerk zu aktiven Akteuren.145 Auch bei der Materialwahl lenkt Exter ihren Fokus auf futuristische Prinzipien wie Rhythmus und Bewegung. Seide soll der Dynamik eines Körpers folgen. Ihr prägnantestes Werk ist Romeo und Julia für das Kammertheater in Moskau.146 Die Gewänder ähneln farbenreichen, formbetonten, kubistischen Skulpturen über den Darsteller gestülpt, ungeeignet charaktertypische Informationen der Figur zu übermitteln.147 Die gleiche Problematik

142 Vgl. Rakitina, Elena. »Über plastische Raumgestaltung: Konstruktion, Schönheit, Funktionalität – und über zwei schöne russische Frauen.« In Die Maler und das Theater im 20. Jahrhundert, hg. von Denis Bablet und Erika Billeter, 69–97. Frankfurt a.M., 1986, S. 70. 143 Kowalenko, Georgi. »Alexandra Exter.« In Amazonen der Avantgarde: Alexandra Exter, Natalja Gontscharowa, Ljubow Popova, Olga Rosonowa, Warwara Stepanowa und Nadeschda Udalzowa, hg. von John E. Bowlt und Matthew Drutt, 131–139. Berlin, Ostfildern-Ruit: Guggenheim Museum; Hatje, 1999, S. 137. 144 Ebd., S. 136f. 145 Vgl. ebd., S. 136f. 146 Vgl. Misler, Nicoletta. »Abendkleid und Overall: Der Körper der Avantgarde.« In Amazonen der Avantgarde: Alexandra Exter, Natalja Gontscharowa, Ljubow Popova, Olga Rosonowa, Warwara Stepanowa und Nadeschda Udalzowa, hg. von John E. Bowlt und Matthew Drutt, 95–105. Ostfildern-Ruit: Hatje, 1999, S. 102. 147 Vgl. Rakitina 1986, S. 78.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

zeigt sich in konträrer Richtung, dem extrem Reduzierten unterworfen, in den Arbeitsoveralls, die als Einheitskostüm auf sozialistischen wie auch futuristischen Bühnen zum Einsatz kommen.148

Abbildung 30: Alexandra Exter, Szenenbild, Kostümentwürfe zu Shakespeares Romeo und Julia, 1921149

5.6. Die Moderne Zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht das Leben der europäischen Großstädte erstmals in voller Blüte. Mit der verschwindenden Vormachtstellung der Monarchie und des Adels verlegt sich das kulturelle Zentrum weg von den Höfen hin in die Städte, die seit Beginn der Industrialisierung in Europa stetig an Größe gewinnen. Hier pulsiert das kulturelle und soziale Leben. Mode und Bühnenkostüm verweben sich ineinander wie zu keiner anderen Epoche. Der stilbil-

148 Vgl. Monks 2010, S. 74. 149 Rakitina 1986, S. 74.

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dende Adel wird von gefeierten Bühnengrößen abgelöst. Paris genießt den Ruf als Metropole der Damenmode, London führt die Herrenmode an.150 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die weibliche Emanzipation mit aller zugehörigen modischen Konsequenz rasant hin bis zur gesellschaftsfähigen Dame in Hosen auf dem Fahrrad entwickelt. Allgemein akzeptiert wurde das Hosentragen dann nach 1890 mit dem Radfahrerkostüm der Frauen, um schließlich im späteren 20. Jahrhundert endgültig bestätigt zu werden. Frauen, die sich jenseits der Norm bewegten, wie George Sand und Johanna von Orleans, hatten ihren sensationellen Auftritt praktisch in einem Vakuum […]. Folglich tauchten Frauen in Hosen seit dem 18. Jahrhundert in pornographischen Büchern auf. Seit dem 16. Jahrhundert wurden Hosen von leichtlebigen Frauen der eleganten Gesellschaft häufig zu Verführungszwecken getragen. Weibliche Bergleute, Fischerinnen und Landarbeiterinnen trugen Hosen wie natürlich auch Tänzerinnen, Akrobatinnen, Schauspielerinnen oder Sängerinnen in »Hosen«-Rollen, doch der niedrige Status all dieser weiblichen Berufe assoziierte die Hosen der Frauen generell mit einem niedrigen Status oder auch mit dem mysteriösen Orient, der seine eigenen zweifelhaften Assoziationen hatte.151 Seit Generationen versteckte Körperteile tauchen nun in der Öffentlichkeit auf. Das weibliche Bein zeigt nicht nur Knöchel, sondern sogar Knie. Schmale Träger mit tiefen Rückenausschnitten und weiten Dekolletés gelten als letzter Schrei. Das Korsett verschwindet und die Sportmode etabliert sich. Nun darf auch die Damenmode erstmals auf Funktionalität und Schlichtheit setzen.152 Die Mode erreicht die Masse und wird das führende Ausdrucksmittel, der Motor der Avantgarde neben der bildenden Kunst, dem Design und der Architektur. Die Moderne profitiert von der Antriebskraft der Mode, die zur Befreiung der gesellschaftlichen Konventionen beiträgt und die Kunst- und Kulturkreise inspiriert.153 Dies ist das Umfeld, in dem sich der bereits erwähnte erste Modedesigner, der »Vater der Haute Couture«, Charles Frederick Worth etabliert.154 Die Modegeschichte bekommt eine neue Dynamik, angeheizt durch

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Vgl. Wehinger 1988, S. 134. Hollander 1997, S. 89. Vgl. Lehnert 1998, S. 116. Vgl. Lupano, Mario und A. Vaccari. Hg. Fashion at the time of fascism: Italian modernist lifestyle, 1922–1943. Bologna: Damiani, 2009, S. 8. Vgl. Majer 2012b, S. 28.

5. Die Strömungen der Bühnenkostümgeschichte in ihrer Beziehung zur Modegeschichte

die Erfindung der »Modekupfer«, Kupferstiche der aktuellsten Kreationen, abgedruckt in verschiedenen Zeitschriften in Europa, die erstmals eine größere Öffentlichkeit über die Entwicklungen der Mode auf dem Laufenden hielten. Nur ein sehr elitärer Kreis konnte es sich zuvor leisten, sich von den angesagten Schneiderateliers der Stadt kleine Modepuppen zuschicken zu lassen, die die Miniaturversion der aktuellen Kollektion tragen. Bis dato beschränkt sich die Inspirationsquelle der Damen auf eigene Entdeckungen auf der Straße oder im Theater. Mit der Industrialisierung entsteht die Konfektionskleidung, die Modetrends schnelllebiger, erschwinglicher und einer breiten Masse zugänglicher werden lässt.155 Die neu aufkommenden Kaufhauskonzerne der Großstädte, die die Konfektionskleidung vertreiben, investieren nicht nur in die Theaterhäuser, sondern bewerben sie in ihren Geschäften und sponsern die Vorstellungen mit ihren Waren. So verdienen sie am Theaterkartenverkauf und kurbeln gleichzeitig den Verkauf in ihren Läden an.156 Modehäuser stellen den Darstellern kostenlos ihre Bühnenbekleidung zur Verfügung, profitieren vom Werbeeffekt und bescheren dem Publikum neben dem theatralen Werk ein Mode-Defilee. Nicht nur die Programmhefte führen detailliert die »großzügigen« Spender auf, auch die Kritiker äußern sich zum Kostüm nur unter Nennung des entsprechenden Geschäftsnamens. Die illustrierte Presse, vor allem in England und Frankreich, widmet der Bühnenmode eigene Artikel. Es stelle sich teilweise die Frage, welcher Aspekt des Theaterbesuchs der wichtigere ist, die Inszenierung oder die Modenschau, wie ein englischer Journalist in seinem Artikel anmerkt: »Can any play really be bad […] if we gain from it a new idea for a bonnet, hat, or other feminine trifle.«157 Zeitschriften wie die monatlich erscheinende Le Théatre füllen ihre Ausgaben mit ganzseitigen Abbildungen von Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Sängerinnen in gestellten Rollenfotos, die das Bühnenkostüm einer Modefotografie gleich präsentieren. Als Bildunterschrift wird auf Modeschöpfer bzw. das ausstattende Ladengeschäft des Kleides, des Pelzes oder des Hutes verwiesen. Parallel widmen sich

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Vgl. Sennett 1986, S. 322. Vgl. Becker, Tobias. »Feste des Konsums? Unterhaltungstheater und Warenhäuser in Berlin und London um 1900.« In Staging Festivity: Theater und Fest in Europa, hg. von Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat, 216–237. Tübingen: A. Francke Verlag, 2009, S. 227–228. Monks 2010, S. 69.

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eigene Artikel zum Thema »Die Mode in der Stadt und im Theater« ganz den aktuellen Trends der eleganten Dame.

Abbildung 31: Lucy Jousset, 1911158

Die Bühnenschauspielerinnen verlieren ihren zwielichtigen Ruf und verwandeln sich in angehimmelte Vorbilder der Gesellschaft. Die neu aufkommende Massenpresse feiert ihre Eleganz und Schönheit, ähnlich dem heuti-

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Lucy Jousset als Suzy in Willy Redstones Operette MIK Ier an der Mailänder Scala in einem – explizit erwähnten – Kleid von Johann Wilhelm Rudolf Christoph von Drecoll, abgebildet in der Oktoberausgabe der Zeitschrift Le Théâtre. Foto: Félix. In: Roubier, Étienne. »Théatre de la scala MIK Ier.« In Sonderheft Le Théatre 308. 1911, S. 16.

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gen Starkult der Hollywoodgrößen. Postkarten der bekanntesten Bühnenstars mit Angaben der getragenen Toilette werden gleich einem Werbeprospekt an die Haushalte verteilt.159 Indem Sarah Bernhardt mit Hamlet eine männliche Hauptrolle übernimmt, verfestigt sie, neben den hauptsächlich komödiantischen Travestierollen, das Fach der Hosenrolle.160 Ab 1923 regelt in Deutschland der Paragraf 9 des ersten Normalvertrages Solo die Bühnengarderobe, die jeder Schauspieler, Tänzer oder Sänger besitzen und zur jeweiligen Vorstellung zur Verfügung zu stellen hat.161 Das Bühnenkostüm beginnt sich zu wandeln, weg vom modischen Werbeobjekt zum Arbeitsmittel, das sich mehr und mehr in den Dienst der Inszenierung stellt. Spätestens nach dem 2. Weltkrieg ist es Eigentum des entsprechenden Hauses und verlässt dieses auch nicht mehr. Ein Fundus entsteht, der fortan alle Inszenierungen mit Hilfe einer gewissen Anzahl von Neuanfertigungen und Kaufanschaffungen ausstattet. Jedes Stück bekommt sein eigenes, nichtaustauschbares Kostümbild, das fester Bestandteil einer Regiearbeit ist. Im Schauspiel wird das Kostüm für den entsprechenden Schauspieler zugeschnitten und bekleidet ihn, solange das Stück auf dem Spielplan steht. Eine Umbesetzung der Rolle ist normalerweise nicht vorgesehen und würde auch dann zur Beibehaltung des Kostüms nach einer Größenanpassung führen. Opernhäuser besitzen für ihre Repertoirestücke eine Größenauswahl an Solo-, Chor-, oder Ballettkostümen, die von der jeweiligen Besetzung des Abends unter vorherigen (kleinen) Anpassungen getragen werden. Auf körperliche Besonderheiten wird nur in Ausnahmefällen Rücksicht genommen. In der Regel muss ein Sänger das für diese Person entworfene Kostüm tragen, auch wenn es mehrere Jahrzehnte alt ist, nicht seinem Geschmack und auch nicht seiner Konstitution entspricht. Für die oft zahlreich vertretenen Statisten hält sich lange die Praxis, einen unveränderlichen Kostümvorrat zur Verfügung zu stellen, aus dem sich die eingeteilte Statisterie bedient, was unter dem Prinzip, »wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, zu durchaus kuriosen Situationen führt, wie Rudolf Hartmann (1900–1988), Regisseur und Intendant aus seiner eigenen Statistenzeit berichtet:

159 Vgl. Majer 2012b, S. 18f. 160 Vgl. Barbieri 2018, S. 186. 161 Vgl. Burde 2016, S. 159f.

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Ich verwandelte mich mittels Wams, senfgelbem uraltem Schlottertrikot und ausgefranster Suppennudelperücke aus der Gegenwart zurück in das Jahrhundert der »Hugenotten«. In der Sammelkiste für die Schuhe fand ich nur noch ein Paar Schlappen von enormer Größe. Diese Allzweckfußbekleidung trugen wir durch sämtliche Zeitalter, mit Ausnahme der besonderen Anlässe, welche Ritterstiefel oder vorchristliche Sandalen erforderten. Wer spät in die Garderobe kam, musste nehmen, was noch übrig war, und sich gegebenenfalls auch mit Nummer 49 abfinden, so wie ich als Diener der Königin. Die riesigen Lederkähne erlaubten mir nur lange, seltsam gleitende Schritte, und deshalb erregte mein Eintreffen auf der Bühne bei dem dort wartenden Chor und Ballett belustigtes Aufsehen.162

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Hartmann, Rudolf. Das geliebte Haus: Mein Leben mit der Oper. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1979, S. 27.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Abbildung 32: Alexander McQueen, Dress, 2009/101

Alexander McQueens Entwurf Dress aus seiner Horn of Plenty Collection, 2009/10 verbirgt seine Trägerin unter einer schimmernden Schicht aus schwarzen Entenfedern, die Assoziationen nach einer geschnürten schmalen Taille, den aufgebauschten Hüften einer Marie Antoinette in einer Robe à la

1

Horn of Plenty Kollektion 2009/10, schwarze Entenfedern. Ausstellung des Metropolitan Museum of Art, New York 2011. Foto: Sølve Sundsbø. In: Bolton 2011, S. 72.

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Français, Puffärmeln, bereits zu Krähenflügel mutiert und einer Teufelskappe wecken. Der Gedanke an biologische Körperformen ist ganz tief unter dem ästhetisch stilisierten Federgewand verborgen. Dress erlaubt lediglich einen sehr aufrechten Gang mit einer leichten Drehbewegung des Oberkörpers. Alexander McQueen gilt als einer der innovativsten und künstlerischsten aller Modedesigner. Hier treffen im Mantel des Künstlerischen die klassischen, konträren Seiten der Mode aufeinander, das Unpraktische auf das Begehrenswerte. Auf das Engste hängen Kleidung und Körper zusammen, sie bedingen sich wechselseitig. Der Körper hat sich die Kleidung erschaffen und ist ihr trotzdem untertan geworden. Sie ignoriert die Linien seiner Oberfläche und seines Baues, sie verachtet seine Funktionen. Die Kleidung ist es, die den Körper zwingt, ihren Gesetzen zu folgen, sich ihren Absichten zu fügen.2 Der Körper wird »in Haltung und Gang, in Bewegung und Ausdruck« völlig von der Bekleidung beeinflusst, insbesondere durch die weltentrückten Entwürfe der Mode.3 Körper und Kleid wachsen durch das Tragen zusammen und fügen sich, so Gabriele Mentges, zu einem »Kleiderkörperbild«4 . Kleidung verhüllt also nicht nur als »zweite Haut«, sondern erschafft einen ganz neuen, eigenen Körper, der sich in seiner Erscheinung wie auch in seinen Bewegungsabläufen seiner Kleiderhülle unterwerfen muss. Natürlichen menschlichen Formen schenkt er nur bedingt Beachtung, vielmehr zwingen und zwängen die textilen Konstruktionen das Fleisch in die gewünschte Form. Auspolsterungen, Einschnürungen, optische Betonung oder Zurücknahme verschieben Linien und Körperproportionen und somit die gesamte Silhouette des Bekleideten.5 Seit dem Mittelalter rückt die natürliche Gestalt in den Hintergrund, ersetzt von einem kulturellen Körper, wandelbar, scheinbar unabhängig von anatomischen Vorgaben, dem textilen Zeitgeschmack unterworfen.6 Neben der Modegeschichte, deren erweiterter Spiegel die Kostümgeschichte darstellt, kann die Geschichte der Körperinszenierung erzählt werden, die die erzwungene körperliche Verformung und Haltung in bestimmten

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Boehn 1918, S. 49. König, Rene. Menschheit auf dem Laufsteg: Die Mode im Zivilisationsprozess. Opladen: Leske + Budrich, 1999, S. 44. Mentges 2010, S. 19. Vgl. Kedves 2013, S. 11. Vgl. Bruna 2015b, S. 32.

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Kleidungsstücken nachverfolgt. Die korrekte, elegante Steifheit der 1950er Jahre Kleider und Anzüge diszipliniert den Körper anders als der ostentativ entspannte Körper der 1980er Jahre, lässig im breitschultrigen Anzug hängend. Das klassisch gerade geschnittene Hosenbein etwa, aus dem heutigen Alltag nicht wegzudenken, ist eine Erfindung der Neuzeit, zuvor blähten Ballon oder Kniebundhosen den Oberschenkelbereich der Herren auf und ließen das lediglich bestrumpfte Restbein elegant, schlank erscheinen. Wämser wattieren aus oder Westen pressen zusammen, enden in großen weich fallenden Krägen und starr abstehenden Achterkrausen. Ärmel sind schlank und körperbetont oder arten aus in oberkörpergroße Konstruktionen. Der Rock der Damen bläht und wölbt und rafft sich an den verschiedensten Stellen. Taillenlinie, Brustbetonung, Rückenausschnitt, Ärmelpuff: Es gibt kaum eine Gestalt, die der Körper im Laufe der Bekleidungsgeschichte nicht angenommen hat. Das Kleiderkörperbild prägt die Wahrnehmung so nachhaltig, dass sich die nackten Körperformen in Malerei und Skulptur dem konstruierten, bekleideten Körper anpassen. Entsprechen zierliche Taillen und breite Hüften, bewirkt durch geschnürte Mieder und ausladende Röcke, dem Zeitgeschmack, dann werden auch nackte Frauen auf Gemälden diesem Schönheitsideal entsprechend dargestellt. Sind die Mieder hoch, flach und ungewölbt, drücken so die Oberweite ins Unsichtbare, haben auch die Akte in der bildenden Kunst sehr kleine Brüste. Das künstlich kreierte Kleiderkörperbild ist stärker als die natürliche Form. Diese Körperverfremdung mit dem Ziel der vermeintlichen Selbstoptimierung ist seit dem Altertum zumindest in den westlichen Zivilisationen eine gewöhnliche Praxis.7 Im asiatischen Raum steht die Bekleidung traditionell nicht in Beziehung zur Anatomie des Körpers.8 Kleidungsstücke werden im Gegensatz zum westlichen Schneiderhandwerk nicht aus Stoffen zugeschnitten. Die geometrischen Formen des Stoffrechteckes oder Quadrates umwickeln oder umspielen in ihrer Ganzheit ihren Träger wie etwa der indische Sari oder japanische Kimono.9 Bildende wie darstellende Künstler nutzen die Variierbarkeit der körperlichen Erscheinung. Charlie Chaplin erschafft sich seine persönliche, unverwechselbare Silhouette und macht seine plakative Erscheinung mit

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Vgl. Loschek 2010, S. 44. Vgl. Mentges 2005, S. 24. Vgl. ebd., S. 27.

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Die Macht des Kostüms

Melone und übergroßer Hose zum Markenzeichen.10 Leigh Bowery, Performancekünstler, Modedesigner und schillernde Persönlichkeit des Londoner Nachtlebens, kapituliert vor unzähligen Diäten und zelebriert die Wandelbarkeit seiner weichen, voluminösen Körperlichkeit.11 Der grotesk verzehrte Körper öffnet neue Freiheiten fernab von gesellschaftlichen Normen. Fettrollen wölben sich unter Latex und gehen nahtlos in auffallende Kostümteile und exzessives Make-up über.

Abbildung 33: Leigh Bowery, Juli 198912

»Mein Körper kann unbegrenzt viele Gestalten und Formen annehmen«, so Bowery.13 Comme des Garçons, Alexander McQueen und Jean Paul Gaul10 11 12 13

Vgl. Brandstetter, Gabriele. Tanz-Lektüren: Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M.: Fischer, 1995, S. 361f. Vgl. Steele, Valerie. »The Exaggerated Body of Leigh Bowery.« In Not a toy:Fashioning radical characters, hg. von Vasilēs Zēdianakēs, 26–31. Berlin: Pictoplasma, 2011, S. 27f. Foto: Forgus Greer. In: Greer, Fergus. Hg. Excentric: Leigh Bowery. Essen: Druckpartner 2006, S. 15. Stief, Angela. »Besessen vom Ich…«. In Leigh Bowery: Verwandlungskünstler, hg. von Angela Stief, 11–52. Bern: Piet Meyer Verlag, 2015a, S. 23.

6. Körperverformung durch Bekleidung

tier greifen auf Bowerys Formensprache zurück, »der sich intensiv mit den Freuden und Komplikationen der Bekleidungscodes auseinandersetzte und die skulpturale Dimension von Kleidung ausloten wollte.«14 Inspiration findet Bowery wiederum in den Formen verfremdenden Kostümen von Oskar Schlemmer.15 Schlemmer unterwirft die Form des menschlichen Körpers der geometrischen Figur, erweitert sie in den Raum und experimentiert mit ihrer Wandelbarkeit. Durch Überformung, Hervorhebung oder optisches Zurücktreten einzelner Körperteile wirkt der Tänzer mal fragil und spielerisch oder tonnenschwer und asymmetrisch abstrahiert.16 Der Bewegungskanon passt sich der Bekleidung an.17 Wie Alfred Mentzel Flacon aus seiner Probenzeit des Triadischen Balletts berichtet: »Ich meine, ein Bein in einer Pappform, da musste man eben humpeln. Aber mit einem Humpelbein zu tanzen, ist etwas ganz anderes, als mit zwei Beinen zu tanzen, und das führt zu den neuen Formen. Das Material und das Kostüm bestimmen die Bewegung.«18 Gerhard Bohner, dessen Rekonstruktion des Triadischen Ballettes von 1977 heute noch betanzt wird, verweist auf die inhaltliche Bedeutung einer in einem Zusammenhang mit einem Gegenstand durchgeführten Bewegung, die das Abstrakte und Mechanische in der Arbeit Schlemmers anreichert: Die Bewegung im Stäbetanz, das Senken, Heben, das Beugen des Knies, das ist sicher rein mechanisch, abstrakt, inhaltslos. Ein hochgehobener Arm mit einer Stange sieht aber schon wieder wie ein Speer aus. Dann kommen solche Bilder mit rein. Wenn ich eine Stange auf den Boden fallen lasse, dann sieht es aus wie ein Schlag. Das einfache Bewegen ist schon etwas Inhaltsloses. Sobald der Mensch aber präsent ist, gibt es keine abstrakte Bewegung.19

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Ebd., S 18. Vgl. Steele 2011, S. 28. Vgl. Brandstetter 1995, S. 361f. Vgl. Zimmermann, Friederike. Mensch und Kunstfigur. Freiburg i.Br. [u.a.]: Rombach, 2007, S. 194. Mentzel Flacon, Albert. »Albert Mentzel Flacon im Gespräch mit C. Raman Schlemmer, 1994.« In Oskar Schlemmer: Tanz, Theater, Bühne, hg. von Oskar Schlemmer, C. Raman Schlemmer und Maria Müller, 63–68. Ostfildern-Ruit: G. Hatje, 1994, S. 67. Krystof, Doris. »Zur Rezeption von Schlemmers Bühnenwerk.« In Oskar Schlemmer: Tanz, Theater, Bühne, hg. von Oskar Schlemmer, C. Raman Schlemmer und Maria Müller, 50–61. Ostfildern-Ruit: G. Hatje, 1994, S. 59.

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Die Tänzer treten hinter ihren »raumplastischen« Kostümen zurück.20 »Es ist zu sagen, daß solcherart Kostüme der Tänzer weniger anhat, als daß sie ihn anhaben, daß weniger er sie trägt, als daß sie ihn tragen«, bekräftigt Schlemmer.21 Bestrebt nach einem gleichberechtigten Zusammenspiel von Musik, Tanz, Bühne und Kostüm setzt Schlemmer den biologischen Körper in Verhältnis zu den geometrischen Gesetzen des ihn umgebenden Raumes.22 »Das raumplastische Kostüm bildet die Vermittlung zwischen den abstrakten Gesetzen des statischen Raumes und den zeitgebundenen, dynamischen Bewegungsgesetzen des Körpers.«23 Das schwarze Ganzkörpertrikot, Basiskostüm vieler Triadischer sowie Bauhaus-Tänze, lässt den Tänzer fast völlig im Hintergrund der schwarzen Bühne zurücktreten und richtet den Fokus nur auf die ausgestalteten Körperteile. Bei der Figur der Kugelhände (vgl. Abbildung 34) verschwinden die Unterarme in roten und blauen Pappmaschee-Kugeln, die sich nun kreisend am Ende seltsam verkürzter Armstumpen bewegen. Scheinbar einfache visuelle Mittel verschieben die Wahrnehmung des menschlichen Körpers: Der gleichmäßig weißen Gestalt wird z.B. an die rechte Hand ein roter Handschuh gegeben. Sofort ist der Akzent nach dort verlegt, nicht nur im Optischen, sondern auch als Gefühlsmoment […]. Ein grüner Strumpf etwa an das gegenüberliegende Bein gegeben, bedeutet einen neuen Akzent, der in bestimmter Richtungsachse zu dem roten Handschuh steht und neue Komplikationen heraufbeschwört.«24 Die Bildende sowie die Bühnenkunst bedient sich der Performativität, die in den Kleidungsstücken steckt und denkt sie in eine Richtung weiter, die sich nicht mehr um die Bekleidung des Körpers kümmert, sondern neue Wege in Ästhetik und Aktion einschlägt.

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23 24

Vgl. Brandstetter 1995, S. 330. Hüneke, Andreas. »Theorie und Praxis der Bühne.« In Oskar Schlemmer: Tanz, Theater, Bühne, hg. von Oskar Schlemmer, C. Raman Schlemmer und Maria Müller, 41–45. Ostfildern-Ruit: G. Hatje, 1994, S. 43. Vgl. Bossmann, Andreas. »Theaterreform – Lebensreform.« In Oskar Schlemmer: Tanz, Theater, Bühne, hg. von Oskar Schlemmer, C. Raman Schlemmer und Maria Müller, 22–30. Ostfildern-Ruit: G. Hatje, 1994, S. 24. Brandstetter 1995, S. 357. Zitat von Oskar Schlemmer. In: Simhandl 1993, S. 76.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Abbildung 34: Das Triadische Ballett: Kugelhände, Bayerisches Staatsballett II, 201425

6.1. Variablen im Oberkörper Der Zeitgeschmack beeinflusst und verformt nahezu jedes Körperteil. Die Betonung der Körpermitte kann sich ähnlich dem langen Hals als Schönheitsideal durch die Jahrhunderte halten. Die schmale Taille gehört zum konstanten Element in der westlichen Bekleidung. Selbst die glatt fallenden Gewänder der klassischen Antike werden gerne in der Taille zusammengezogen. Die Mode des Mittelalters und der Renaissance betont entweder die weiblichen Hüftknochen, über denen sich das Kleid bauscht, oder rafft den Stoff direkt unter der Brust, bevor er glatt und bodenlang fällt.26 Auch dem Ideal des kämpfenden

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Foto: Charles Tandy. In: Bayerisches Staatsballett. Hg. Das Triadische Ballett: Ein Tanzfonds Erbe Projekt. München 2014, S. 52. Vgl. Koda 2001, S. 72.

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Die Macht des Kostüms

Mannes entspricht mit oder ohne Rüstung die schmale Taille, optisch verstärkt durch massive Breitschultrigkeit.27

Abbildung 35: Kostümharnisch mit der Mode nachgeahmten Puffärmeln und Schlitzen, um 152528

Ab dem 16. Jahrhundert werden die Oberkörper eingeschnürt und sollen es auch auf Jahrhunderte bleiben, ein langer Rumpf zählt zum Schönheitsideal.29 Der Herr trägt ein festes Wams, das jede Weichheit vertuscht und Entschlossenheit und Siegerwillen verkörpert. Der »Gänsebauch«, ein fest wattiertes Kissen, wölbt sich nach unten verjüngend, nach vorne oft spitz und scharfkantig zulaufend über den natürlichen Bauch.30

27 28 29 30

Vgl. Leventon 2009, S. 97. Kunsthistorisches Museum, Wien. Thiel, Erika. Geschichte des Kostüms: Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin: Henschelverlag, 1980, S. 178. Vgl. Leventon 2009, S. 110. Vgl. Lehnert 1998, S. 53f.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Abbildung 36: Hendrick Goltzius, Offizier im Gansbauch, 158731

Abbildung 37: Tiziano Vecellio, Dame in rotem Kleid, um 156132

Die Damen drücken zunächst den Oberkörper komplett flach, die Taille wird betont, die Brust verkleinert bis verneint, bis ein hoch geschlossener, auf der Spitze stehender Kegel entsteht.33 Ab dem Barock werden die Dekolletés tief ausgeschnitten und die Taille noch enger geschnürt, was die Brust bei jedem Atemzug »erbeben« lässt.34 Die Wespentaille hält sich in dieser extremen Ausführung bis zur Abschaffung des Korsetts zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es erfährt ein Revival in den 1950er Jahren und wird in etwas natürlicherer Ausführung, aber immer noch mit Hilfe »unsichtbarer« Unterkonstruktionen, wie der heutigen »Shapewear«, das Ideal der westlichen Frau bleiben. Das Korsett war nicht nur ästhetisches Hilfsmittel, sondern auch Spiegel des Zeitgeistes. 31

32 33 34

Rijksmuseum, Amsterdam. In: Edwards, Lydia. How to read a suit: A guide to changing men’s fashion from the 17th to the 20th century. London: Bloomsbury Visual Arts, 2020, S. 11. Königliche Gemäldegalerie, Dresden. In: Floerke, Hanns. Die Moden der Renaissance. München: Georg Müller, 1974, S. 270. Vgl. Leventon 2009, S. 132. Vgl. Loschek 2007, S. 65.

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Denn das Korsett diente in früheren Jahrhunderten als erzieherisches Instrument für Körperdressur: Haltung, Körpersprache und Gestik wurden durch derartige Geräte geformt, durchgesetzt und vervollkommnet. Sie gehörten zur höfisch-adligen Lebenskultur, in der Künstlichkeit und affektierte Manieren Ausdruck des Lebensgefühls und der gesellschaftlichen Verhaltensformen waren.35

Abbildung 38: Alexander McQueen, Highland Rape, 199536

Seit dem Durchsetzen der langen Hose beim Mann, greift auch er auf die Hilfe des Korsetts zurück, das dem Rumpf – besonders im Frack – die gewünschte schlanke Taille verleiht.37 Hohe Krägen und dicke Halsbinden und ein sehr schmal geschnittener Rücken, der die Arme nach hinten zieht, die 35 36 37

Mentges 2010, S. 28. Ausstellung des Metropolitan Museum of Art, New York 2011. Foto: Sølve Sundsbø. In: Bolton 2011, S. 52. Vgl. Rasche/Wolter 2003, S. 217ff.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Brust nach vorne drückt und ein Einfallen der Schulter verhindert, verstärken noch den Eindruck des aufgeplusterten Oberkörpers. Eine aufrechte Haltung, ein starrer Rumpf, die Betonung der Brust und ein kleiner Bewegungsradius des Arms markieren den manierierten Eindruck der modischen Oberschicht.38 Alexander McQueen spiegelt mit seinem bumster-Entwurf den tiefen Ausschnitt der Damenmode auf den Rücken und verlängert den Oberkörper in die entgegengesetzte Richtung, als verlege er das Dekolleté an die Rückseite des Körpers, indem er den Rock oder die Hose am unteren Rücken extrem tief enden lässt (vgl. Abbildung 38). [With ›bumsters‹] I wanted to elongate the body, not just show the bum. To me, that part of the body – not so much the buttocks, but the bottom of the spine – that’s the most erotic part of anyone’s body, man or woman. It was an art thing, to change the way women looked, just by cut, to make a longer torso. But I was taking it to an extreme. The girls looked quite menacing, because there was so much top and so little bottom, because of the length of the legs.39 Rei Kawakubo wendet sich nicht nur von den natürlich anatomischen Formen ab, sondern auch von den historisch verankerten Sehgewohnheiten der Silhouette und bearbeitet den Körper skulptural. »I was keenly aware of the difficulty of expressing something using garments alone. And that is how I arrived at the concept of designing the body.«40 Asymmetrische Schnittführung, ungewöhnlich angebrachte Auspolsterungen oder Stoffraffungen formen die Gestalt um. Das Gesäßkissen etwa ihres schneeweißen Entwurfes aus der Dress Becomes Body Becomes Dress Kollektion erinnert zwar an die historische Silhouette der Tournüre, ist in dieser Form und Zusammenhänglichkeit allerdings unbekannt, besonders im Zusammenspiel mit der Ausformung des Rückenpolsters, das zwischen Rucksack und Buckel schwebt.

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Vgl. Edwards, Lydia. How to read a dress: A guide to changing fashion from the 16th to the 20th century. London, Oxford, New York: Bloomsbury Academic, 2017, S. 16. Bolton 2011, S. 53f. Dimant 2010, S. 76ff.

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Abbildung 39: Rei Kawakubo, Comme des Garçons, 199741

Abbildung 40: Rei Kawakubo, Scenario, 199842

Diese Kollektion, auch als »Tumor-Stücke« oder »Quasimodo« bezeichnet, lässt Kawakubo den Körper neu denken und inspiriert Merce Cunningham 1997 zur Zusammenarbeit für Scenario.43 Stoffwülste schlängeln sich um den Oberkörper, Auspolsterungen wölben sich unter den Trikots. Die Kostüme erscheinen tanzfremd und abstrakt, gehen aber auf ganz alltägliche Beobachtungen Kawakubos zurück, wie die einzelnen Entwurfsbezeichnungen »a man in a raincoat and a backpack« oder »a woman in shorts with a baby on her side« zeigen.44 Der Mann auf der Straße, der seine Tasche unter dem Mantel trägt, inspiriert ein Tanzkostüm, dessen ungewöhnliche Form die Balance der Tänzer verändert und sie zu neuen Bewegungsabläufen zwingt. Die gewohnte 41 42

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Comme des Garçons, Dress Becomes Body Becomes Dress, Spring/Summer 1997. Foto: Comme des Garçons. In: Evans 2003, S. 268. Baru Ogan und Foofwa d’Imobilité in Scenario. Merce Cunnigham Dance Company, Opéra national de Paris, Palais Garnier, 1998. In: Noisette, Philippe. Hg. Couturiers de la danse: De Chanel à Versace. Cinisello Balsamo, Milano: Silvana Editoriale, 2019, S. 33. Vgl. ebd. Koda 2001, S. 113.

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und als traditionell schön empfundene Ästhetik des Symmetrischen wird durch Asymmetrie und verzerrte Körperformen ersetzt.45 In Scenario betreten Cunningham und Kawakubo Neuland, der Choreograf hatte noch nie mit einem Modedesigner zusammengearbeitet und auch für Kawakubo ist die Welt des Tanzes neu. Im Ablehnen des Narrativen, einer gewissen Radikalität in der Arbeitsweise sowie dem Einbeziehen des Zufalls in den kreativen Prozess treffen sich die beiden und es entsteht eine »thrilling synergy between form and space«46 .

Abbildung 41: Oskar Schlemmer, Das Triadische Ballett, Die Goldkugel, 1920/2247

45 46

47

Vgl. ebd. Kawakubo über die Arbeit an Scenario. Meade, Fionn, Joan Rothfuss und Merce Cunningham. Hg. Merce Cunningham: Common time. Minneapolis: Walker Art Center, 2017, S. 348. Staatsgalerie Stuttgart. In: Conzen, Ina. Hg. Oskar Schlemmer: Visionen einer neuen Welt einer Neuen Welt. München: Hirmer, 2014, S. 216.

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Oskar Schlemmer behält in seiner Figur Die Goldkugel aus der schwarzen Reihe des Triadischen Ballettes zwar eine symmetrische Körperform bei, extrem stilisiert auf die geometrischen Grundformen der menschlichen Form, fordert den Zuschauer aber dennoch mit einem ungewohnten Kostüm heraus. Der prägnante Oberkörper, goldschimmernd, ein deutlicher Blickfang auf der schwarzen Bühne, verschluckt in seinem kugelförmigen Bau beide Arme. Auch der Kopf sitzt scheinbar halslos auf der Goldkugel. Eine angedeutete Rock-Scheibe trennt die Beine ab, deren natürliche Form sich schwarz gekleidet hinter einer linear-weiß gestreiften Kegelform verstecken. In rotierenden Bewegungen tanzt die goldene Kugel durch den dunkeln Raum.

Abbildung 42: Sonia Delaunay, Coeur à gaz, 192348

Auch die Künstlerin und Modedesignerin Sonia Delaunay folgt in ihrem Kostümdesign für Tristan Zaras Le Cœur à gaz, einem dreiteiligen Einakter der geometrischen Formgebung des Körpers. Fünf Charaktere – Mund, Ohr, Auge, Nase, Nacken und Augenbraue – unterhalten sich in dadaistischer Manier übereinander. Delaunays Figurine zeigt etwa eine Dame in leuchtend roter Bluse mit weißem Rock und grüner Wellenlinie. Die Brüste stechen in aufgemalten grünen Wellenlinien heraus. Die Künstlerin hat das Kostüm auf einen vor den Körper Madame X gehängten Pappkarton gemalt. René

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Kostüme von Sonia Delaunay für Coeur à gaz von Tristan Tzara, aufgeführt bei der letzten Pariser Dada-Soiree am 6. und 7. Juli 1923 im Théâtre Michel, Paris. Foto: Sonia Delaunay-Terk. In: Rischbieter 1968, S. 166.

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Crevel trägt dazu ein schwarz-weiß-gestreiftes Pendant. Er plustert sich mit überzeichneten, eckigen Schultern auf und verlängert seine Körpergröße mit einem imposanten Hut. Die Schauspielerkörper reduzieren sich durch die aufgemalten Pappkartonkostüme auf eine Zweidimensionalität. Die spielerisch kindliche Herangehensweise spiegelt in ihrer dadaistischen Absurdität Sonia Delaunays künstlerische Arbeit. Sie stimmt Schnittmuster und Stoffdesign aufeinander ab. Ihre geometrisch, abstrakte Gestaltung folgt einem Rhythmus aus Formen und Farben.

6.2. Zusammenspiel von Kopf, Hals, Schulter und Arm Kopf, Hals, Schulter und Arm sind in ihrer Bedeutung ambivalent und mehrdeutig: Der gestreckte Hals und somit der aufrecht getragene Kopf verkörpern Würde, Ansehen und Gesundheit.49 Als eines der verletzlichsten Körperteile weckt der Hals Horrorfantasien und ist entblößt ein begehrtes Objekt bei Mördern und Vampiren in der Filmindustrie. Gleichzeitig wird er geschmückt mit emotional wie finanziell wertvollen Schmuckstücken, sodass Amulette mit der Locke des Geliebten wie auch teure Edelsteine oder Zähne der erlegten Beutetiere direkt über dem Herzen baumeln können. Unbekleidet verschmilzt er mit dem Dekolleté, dessen Form zwischen rund und eckig, tief und hochgeschlossen variiert. Es gilt jedoch in allen Jahrhunderten: Je größer die freie Fläche, desto mehr Preziosen können zur Schau gestellt werden.50 Seine Nähe zum Gesicht rückt den Hals in prominente Position. Seine Aufgabe ist es, dieses Antlitz so vorteilhaft wie möglich erscheinen zu lassen, neben Kostbarkeiten gehört dazu auch der Kragen.51 Was heute eine relativ schlichte Halsbekleidung ist, die im Berufsleben ordentlich gebügelt Seriosität und Kompetenz ausstrahlt, »die symbolische Gleichsetzung von physischer Steifheit und Gradlinigkeit (man beachte das Wort) mit moralischer Rechtschaffenheit und Standfestigkeit«52 , die den Körper mit Druck kontrolliert, war besonders im 16. und 17. Jahrhundert, zum Höhepunkt der Entwicklung der Halskrause, ein aufwendiges und auffälliges Kleidungsstück.53

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Vgl. Koda 2001, S. 16. Vgl. Lehnert 1998, S. 48. Vgl. McDowell 2013, S. 68f. Flügel 1986, S. 252f. Vgl. ebd.

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Die Macht des Kostüms

Abbildung 43: Anthonis van Dyck, Der Maler Jan de Wael und seine Frau Gertrud de Jode, 1627–163254

Abbildung 44: Comme des Garçons, 200055

Junya Watanabe, japanischer Designer und zusammen mit Rei Kawakubo Kopf von Comme des Garçons, führt 2000 die Halskrause in ein futuristisches Extrem. Watanabe ist für seine Experimente mit High Tech Verarbeitungstechniken und ebensolchen Materialien, in denen er asiatische Bekleidungstraditionen genauso aufarbeitet wie die Origamitechnik, bekannt. Historische Vorlagen, so eben die Halskrause, werden gleichermaßen durchexerziert wie Bekleidungsklassiker etwa der Trenchcoat, der Herrenanzug oder das Chanelkostüm, in Einzelteile zerlegt und durch den Experten der elaborierten Schnitttechnik neu durchdacht zusammengesetzt.56 Nur ein Kenner der Modegeschichte und der vestimentären Codes ist in der Lage, historische Versatzstücke mit feinen Zwischenklängen der textilen Formensprache zusammenzuführen, um ein neuartiges, begehrenswertes Modeobjekt, das seiner Zeit immer einen Tick voraus zu sein scheint, zu kreieren. Elfriede Jelinek verweist in ihrem eigenen Zugeständnis einer gewissen Modeaffinität auf diese notwendige Dechiffrierung der bekleidungseigenen Sprache, um etwas Neues, Ungesehenes hervorbringen zu können:

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Bayerische Staatsgemäldesammlung 1999, S. 186. Naturweißes Kleid in Nylonflor auf Nylon/Polyester-Grund. Foto: Comme des Garçons. In: Ince et al. 2011, S. 88. Vgl. ebd.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Ich habe mir die Kenntnisse in der Ästhetik der Mode über viele Jahre angeeignet, weil mich das interessiert, bitte einen anderen interessiert sicher was andres, mich interessiert halt das, ich kann Kleider sozusagen decodieren. Und es wäre logisch zu sagen, dass das eine bourgeoise, elitäre Haltung ist, die ich da einnehme, sozusagen eine snobistische Einstellung, aber von mir kann man nichts übers Bürgertum lernen, von Watanabe kann man schon eher was lernen, weil er dessen Codes konsequent subversiv unterläuft, und zwar in der Nachahmung und gleichzeitig Veränderung dieser Codes (würden sie nicht nachgeahmt, könnte man ja auch die Veränderungen an ihnen nicht bemerken), und auch, indem man den reinen Konsumentenstandpunkt vertritt, kann man nicht lernen, und indem man glaubt, einen besseren Standpunkt zu haben, noch weniger als ich.57 Was im Falle von Junya Watanabe ein feines Nylongewirk in Zusammenspiel mit einem modernen wabenartigen Plissier-Verfahren hervorbringt, war zu Anthonis van Dycks Zeit die neue technische Möglichkeit in der Gewinnung von Weizenstärke, die seit den 1560er Jahren den Stoffrüschen über einem Metallgestell die nötige Standhaftigkeit verleiht und Halskrausen bis zu einem Ausmaß von 45 cm ermöglicht.58 Je größer und aufwendiger die Halskrause, das Modeaccessoire ihrer Zeit, desto angesehener ihr Träger.59 Durch die Unterkonstruktion fest in ihrer Form gehalten, den natürlichen Hals komplett unter sich verbergend, erzittern die feinen Spitzenschichten dennoch bei jeder Bewegung, was als äußerst reizvoll betrachtet und »von den Zeitgenossen mit dem anmutigen Spiel von Blütenblättern verglichen« wird.60 Das Gesicht wird – im Doppelbildnis von Gertrud de Jode und Jan de Wael gut zu erkennen – hell und galant eingerahmt und scheint besonders in den gedämpft beleuchteten Innenräumen und der modisch dunkel gehaltenen Kleidung über der restlichen Gestalt zu schweben.61

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Jelinek, Elfriede. »Damenmode.« In Reflecting Fashion: Kunst und Mode seit der Moderne, hg. von Susanne Neuburger und Barbara Rüdiger, 8–12. Köln: König, 2012, S. 10. Vgl. McDowell 2013, S. 194. Vgl. Leventon 2009, S. 138. Borkopp-Restle/Welzel 2010, S. 102. Vgl. Koda 2001, S. 20.

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Abbildung 45: Hussein Chalayan, Before Minus Now, 200062

Eine ins Extreme gesteigerte, den ganzen Körper umfassende Halskrause entwirft Hussein Chalayan in seiner Frühjahr-/Sommerkollektion Before Minus Now im Jahr 2000. Das Model Erin O’Connor verschwindet wiederum in einem geometrischen Objekt, in einem Tüllkegel, der nur Arme, Beine und Kopf hervorschauen lässt und den Körper »auf eine skulpturale Formel reduziert«63 . Hals und Schultern verloren, scheinen Beine und Arme verbindungslos aus den hellrosanen Tüllrüschen zu ragen, über denen abgetrennt der Kopf schwebt. Eine schwerelose Wolke, trotz ihrer Massivität grazil, hat sich um den natürlichen Körper gelegt. Frauen versuchen, wenn sie ihrem klassischen Rollenbild entsprechen möchten, zierlich und schutzbedürftig zu wirken. Die Schultern bleiben über weite Strecken der Jahrhunderte nackt, höchstens mit zarten, transparenten

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Foto: Chris Moore. In: Violette 2011, S. 101. Koda 2001, S. 88.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Stoffen bedeckt. Eine Auspolsterung der weiblichen Schulter findet nur Anwendung, um die Taille schmaler erscheinen zu lassen. Enge Ärmel, kleine charmante, außen sitzende Puffärmelchen und verspielte Dekolleté-Rüschen ziehen die Schulterlinie nach unten und verlängern die bis zum 20. Jahrhundert elegant blasse Linie von Hals zu Gesicht, was gerne mit der feinen S-Linie eines Schwanenhalses verglichen wird.64 Die männliche Schulter soll hingegen breit sein und bullig, bereit, emotionale wie physische Lasten zu tragen, einem gewaltigen Ochsen oder der behänden Raubkatze gleichend. Rüstungen, Schulterpolster und militärische Epauletten formen die gewünschte Optik.65 Auch tief angesetzte Ärmel, voluminös gerüscht oder ausgepolstert, ziehen die Schulterlinie nach außen und lassen das Kreuz ausladender erscheinen.66

Abbildung 46: Hans Holbein d. J., Heinrich VIII., 154067

64 65 66 67

Vgl. Schiaparelli 2014, S. 99. Vgl. McDowell 2013, S. 70f. Vgl. Koda 2001, S. 35. Bildnis Heinrichs VIII. von Hans Holbein d. J. 1540, Rom, Galleria Borghese. In: Thiel 1980, S. 180.

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Die Arme werden durch ganz unterschiedliche Ärmelformen und Schnittkonstruktionen akzentuiert. Auch die Ärmel erhalten Auspolsterung aus Rosshaar oder Unterkonstruktionen aus Draht und Stoffrüschen ähnlich denen der Damenröcke.68 Ihren Höhepunkt erreichen sie als sogenannte Hammelkeulenärmel in den 1830er Jahren.69 Das Volumen eines einzigen Ärmels kann dabei die Dimension des Oberkörpers übertreffen und setzt so durch die enorme stoffliche Masse ein ungewohntes Gegengewicht zum Ausmaß des Rockes. Der Kopf verwandelt sich durch das Frisieren der Haare und die Wahl von Kopfschmuck und Hut in Form und Dimension. Nicht nur am französischen Hof des 18. Jahrhunderts genügt das Eigenhaar zur Wandelbarkeit nicht aus, gepuderte und toupierte Perücken sind unerlässlich für den Adel. Herren tragen weiße Zöpfe und den Dreispitz unter dem Arm, um die kunstvolle Frisur nicht zu zerstören.70 Den Kreationen der Damenperücken sind keine Grenzen gesetzt. Eines der bekanntesten überlieferten Werke ist die Belle-PouleFrisur: auf aufgetürmten Haarwellen thront eine Nachbildung des gleichnamigen französischen Kriegsschiffes, das eine englische Fregatte versenkte.71 Die Damen müssen in die Knie gehen, um ihre bis zu 70 cm hohen Perückentürme unter dem Türstock hindurchzubalancieren, wobei sie seitwärts schreiten, da die Dimension des Rockes nur so durch die Türöffnung passt. Federn, Bänder, Blumen, Perlen, Borten und Schleifen ziehen sich vom Rocksaum bis zum Haaransatz. Der barocke Körper entspricht dem Kunst- und Architekturverständnis seiner Zeit, schmückende Elemente, Augentäuschereien und überbordende und prachtvolle Kreationen sollen das Auge überraschen und erfreuen.72 Selbst die Frisuren können »Stimmungen ausdrücken, Ereignisse kommentieren oder auch eigenständige Miniaturwelten schaffen«73 . Die Herren stehen ihnen in nichts nach. Henri I. de Lorraine, duc de Guise, trägt bei den Feierlichkeiten zur Geburt von Louis XIV. Sohn am Hof der Tuilerien am 5. Juni 1662 ein Kostüm von Henri de Gissey. Sein Federnkopfputz stellt einen Drachen dar, der 1,30 m umfasst.74

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Vgl. Leventon 2009, S. 126. Vgl. Lehnert 1998, S. 95. Vgl. Rasche 2003a, S. 82. Vgl. Sennett 1986, S. 316. Vgl. Lehnert 1998, S. 67. Rasche/Wolter 2003, S. 167. Vgl. Kahane, Martine und Delphine Pinasa. Contes de fées: Des histoires de costumes de scène. Milano: Silvana Editoriale, 2018, S. 21.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Abbildung 47: Henri de Lorraine, Herzog von Guise in einem Kostüm von Henri de Gissey, 166275

Die alltägliche Bekleidung am Hof, aber besonders die Kostüme für Feierlichkeiten und Darbietungen waren essenzieller Bestandteil der Selbstinszenierung des Adels und ein wesentlicher Unterhaltungsaspekt des sozialen Lebens, unter deren Opulenz ein kleiner menschlicher Körper in seiner Natürlichkeit verschwindet.76 In ähnlicher Weise möchte Rebecca Horn in ihren Körperplastiken über die biologische Erscheinung hinauswachsen. In Einhorn, ihrer ersten Performance zu Beginn der 1970er Jahre, schreitet die Künstlerin bandagiert und mit einem abstrakten Einhorn, eine Spitztüte auf den Kopf geschnallt, einem exzentrischen Hut gleich, durch die Felder außerhalb von Hamburg. Die »mittelalterliche Legende von Jungfrau und Einhorn« trifft so auf die Assoziation des ge-

75 76

Bibliothèque nationale de France. In: Kahane/Pinasa 2018, S. 21. Vgl. Kahane/Pinasa 2018, S. 21.

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Die Macht des Kostüms

jagten Rotwildes. Das Wortspiel mit dem Nachnamen der Künstlerin zeugt von Selbstidentifikation aber auch »Mythologisierung der eigenen Person«77 .

Abbildung 48: Rebecca Horn, Einhorn, 1970/7278

Das Verhältnis von Körper und Raum verschiebt sich, der Körper verlängert sich um die Hälfte seiner natürlichen Größe. Horn, nach einer schweren Krankheit genesen, verarbeitet die Nähe zum Tod und der eigenen Endlichkeit, indem sie ihn durch pseudo-medizinische Kostümteile mit neuen Funktionen ausstattet, die Körpererfahrung erweitert und ihre Wahrnehmung neu auslotet.79 Balance und Bewegungsabläufe müssen sich den Prothesen, für eine bestimmte Aktion entworfen, anpassen. »Rebecca Horns Experimente mit 77

78 79

Reimann, Sandra Beate. »Der bewegte Kosmos der Rebecca Horn.« In Rebecca Horn – Körperphantasien, hg. von Rebecca Horn und Sandra Beate Reimann, 8–29. Wien: VfmK Verlag für moderne Kunst, 2019, S. 16. Horn, Rebecca und Sandra Beate Reimann. Hg. Rebecca Horn – Körperphantasien. Wien: VfmK Verlag für moderne Kunst, 2019, S. 17. Vgl. Aaronson/Fortenberry/Morrill 2016, S. 320.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Körper-Teil-Masken – wie den Feder-, Haar- und Bleistift-Masken über Gesicht und Kopf – separieren, parzellieren, inszenieren und versetzen die Regionen des Körpers.«80 Horn selbst bezeichnet ihre Kunst als »personal art«, das Ausloten der Grenzen ihrer Physis definiert die Selbstwahrnehmung. »Prozesse des Umschließens und Öffnens, des Ver- und Enthüllens, aber auch des Gefangennehmens und Befreiens« werden in isolierten, präzisen Bewegungen ausgeführt.81 Horn nähert sich ihren Arbeiten immer über eine choreografische Bewegung.82

Abbildung 49: Rebecca Horn, Mechanischer Körperfächer, 197283

Handschuhfinger, eine stockartige, überdimensionale Verlängerung aller zehn Finger, verdoppelt die Armspanne und bietet die Möglichkeit in der 80

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Brandstetter, Gabriele. »Selbst-Beschreibung: Performance im Bild.« In Theater seit den 60er Jahren: Grenzgänge der Neo-Avantgarde, hg. von Erika Fischer-Lichte, Friedemann Kreuder und Isabel Pflug, 92–134. Tübingen: Francke, 1998, S. 111. Reimann 2019, S. 11. Vgl. ebd., S. 15. Schimmel 1998a, S. 106.

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Mitte des Raumes stehend, gleichzeitig an zwei Wänden zu kratzen. Die Bewegungsmöglichkeit der Hand lässt sich neu erfahren. »Ich fühle, wie ich berühre. Ich sehe, wie ich greife. Ich kontrolliere den Abstand zwischen mir und dem Gegenstand.«84 Horns mechanischer Körperfächer eröffnet wiederum einen halbkreisförmigen Raum über Kopf und Schulter, jeder normalen Kopfbedeckung unüblich und nur mit den Ausmaßen eines aufbauschenden Rockes vergleichbar (vgl. Abbildung 47). Bis dahin unbekannte Luftwiderstände wirken auf Arme und Oberkörper, der Körper muss seine Balance neu finden.

6.3. Beinraum, Volumengewinnung und Erweiterung des Körpers in den Raum Eine Weiterführung des Mechanischen Körperfächers ist Rebecca Horns Installation Die sanfte Gefangene von 1978, eine hybride Kreatur, halb Mensch, halb Tier. Auf einem Podest verschwindet eine Akteurin zwischen zwei mannshohen Federfächern, die sich vollständig kreisförmig (nicht mehr nur im Halbkreis) öffnen und schließen und den menschlichen Körper hinter wehenden Federkielen verschwinden lassen. Die Federn erschließen sich als bewusst gewähltes Material, als wärmendes Kleid, Verkörperung des Traumes vom Fliegen und stellvertretend für das im Balzritual sich öffnende Federkleid: Der Vogel stirbt, die Federn leben weiter – genau wie Haare. Federn können Jahrhunderte überdauern, wie die Fetischobjekte der Schamanen in Südamerika, Ozeanien oder Asien… Die Federhülle ist eine Schutz- und Wärmeschicht und wird bei meinen Objekten auch zu einem zweiten Körperraum, der die Personen einhüllt, Teile des Körpers versteckt. Mit diesen am Körper befestigten Schwingen kann der Akteur sich einhüllen, sich öffnen, um dann wieder im schützenden Innenraum sich zu verschließen.85 Der Federfächer in Die sanfte Gefangene entspricht dem Bild gewordenen Bewegungsablauf des sich hebenden Armes oder Beines oder der Beugebewegung des Rumpfes wie von Rudolf von Laban dargelegt:

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Rebecca Horn. In: Schimmel, Paul. »Der Sprung in die Leere: Performance und das Objekt.« In Out of actions: Zwischen Performance und Objekt 1949–1979, hg. von Paul Schimmel, 17–119. Ostfildern: Hatje Cantz, 1998a, S. 107. Rebecca Horn, 1983. In: Horn/Reimann 2019, S. 73.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Wenn wir einen Arm aus seiner seitlich hängenden Stellung heben, zeichnen wir eine Form ähnlich derjenigen eines sich öffnenden Fächers. Unsere Schulter ist der Griff des Fächers, und die Hand beschreibt die Linie des äußeren Halbkreises. Es verhält sich gleich bei den Bewegungen der Beine, wenn diese gestreckt in irgendeine Raumrichtung gehoben werden. Auch der Rumpf kann solche fächerartigen Bewegungen machen, beispielsweise in der Vorwärts-Beugung. Der Unterschied zwischen dem Öffnen eines Fächers und der Bewegung eines Körperteils ist, daß die Reihe der sich öffnenden Fächerrippen nach Beendigung der Bewegung immer noch sichtbar ist, während die Schlussstellung des Arms oder des Beins für unsere Augen der allein bleibende Teil der Bewegung ist.86 Die von Laban angesprochene »Kinesphäre«, der den Körper umgebende Raum, kann sich durch gezielt eingesetzte Kleidungsstücke erweitern.87 Eine vergleichbare Fläche öffnet Robert Rauschenbergs Kostüm für sein Ballet Pelican, bei dem er und der Künstler Per Olof Ultvedt kreisförmige Konstruktionen aus Fallschirmseide auf dem Rücken tragen, während sie auf Rollschuhen ein Pas de trois mit der Tänzerin Carolyn Brown vollführen.88 Mit zunehmender Geschwindigkeit scheint der Abflug der beiden Männer nah, der Körper muss dem großen Luftwiderstand nachgeben, eine tänzerische Erkundung des Fliegens.89 Pelican erntet sehr gute Kritik. Als »Daedalus at the Rollerdome« übertitelt wird die Performance als eine zu Bewegung gewordenes Gemälde des Künstlers angesehen: »Rauschenberg breaks down the distinction between scenic element and the dancer, merging the two in a sort of locomotive human combine.«90 Combine ist eine Anspielung auf seine Combine-Paintings, die Gebrauchstgegenstände und Fotografien direkt in die gemalten Werke einarbeiten.

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Laban, Rudolf von. Choreutik: Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes. Wilhelmshaven: Noetzel Heinrichshofen-Bücher, 1991, S. 54. Vgl. ebd., S. 21. Vgl. Meade/Rothfuss/Cunningham 2017, S. 109. Vgl. Schimmel 1998b, S. 46. Krčma, Edward. Robert Rauschenberg. London: Tate Publishing, 2016, S. 22.

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Die Macht des Kostüms

Abbildung 50: Robert Rauschenberg in Pelican, First New York Theatre Rally, 196591

Pelican ist eine der ersten eigenen Tanzarbeiten Rauschenbergs nach fast zehnjähriger Zusammenarbeit mit Merce Cunninghams Dance Company, in der er sich um Bühne, Kostüm und Licht kümmert. Sie findet ihren ästhetischen Vorläufer in Travelogue. Auch hier spannt der experimentelle Umgang mit der klassischen Rockform eine zweidimensionale, textile Fläche zwischen den Beinen bis hin zum hüfthohen Halbkreis auf. Abstrakte Rockfragmente umspielen den Körper und werden in den Bewegungskanon aufgenommen. John Cage unterstreicht die Gemeinsamkeiten in Kunstverständnis und Arbeitsweise, die die Projekte so erfolgreich machen und eine eigenständige Kostümsprache erlauben: »There was from the beginning a sense of absolute identification, or utter agreement, between us.«92 Von der Musik wird nicht erwartet, dass sie den Tanz unterstützt, der Tanz widerum muss nicht der Musik folgen. Eine vollständig freie Zusammenarbeit der Sparten erlaubt auch dem Kostüm, sich kreativ zu entfalten ohne auf tänzerische Bedingungen zu achten, eine Herausforderung durch die Bekleidung ist ebenso erwünscht wie durch die Musik.

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Foto: Peter Moore. In: Krčma 2016, S. 2. Tomkins, Calvin. »Asking Question.« In Dancing around the Bride: Cage, Cunningham, Johns, Rauschenberg, and Duchamp, hg. von Carlos Basualdo, Erica F. Battle und Calvin Tomkins, 29–35. New Haven: Yale University Press, 2013, S. 32.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Bereits Oskar Schlemmer untersucht im Triadischen Ballett die Raumwirkung des Körpers durch die Erweiterung mit Hilfe zweidimensionaler Flächen. So vereinnahmt das Kostüm der Scheibe in der Frontalansicht kaum Raum. Die kreisrunde Fläche, die sich vom Schritt zum Scheitel aufspannt, zeigt nur ihre etwa 5 cm Seitenansicht und ist in der Körpermitte kaum wahrnehmbar. Dreht sich der Tänzer allerdings in sein Profil, öffnet sich der Blick auf die Scheibe, die sich in hellen Farben vom dunklen Hintergrund der schwarzen Reihe abhebt.

Abbildung 51: Oskar Schlemmer, Das Triadische Ballett, Scheibentänzer, Profilansicht, 192293

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Staatsgalerie Stuttgart. In: Conzen 2014, S. 221.

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In künstlerischer Form, eine Choreografie herausbildend, bedienen sich neben Oskar Schlemmer, Rebecca Horn, Robert Rauschenberg und Merce Cunningham dem Auffächern textiler Objekte in den Raum. In der Alltagsbekleidung wie auch auf der Theaterbühne übernimmt der Rock die Funktion, den Körper in den Raum zu öffnen, ein weit schwingender Mantel kann den gleichen Effekt erwirken. Der Rock gibt dem Körper der Frau mehr Volumen und vermag ihn so tatsächlich und symbolisch zu erweitern. Er schließt in all seinen Varianten im Gegensatz zur Hose den Raum zwischen den Beinen. Indem dieser Bereich überdeckt wird, gibt der Rock dem Körper eine geschlossene Form und verleiht der optischen Erscheinung im Raum mehr Gewicht. Die Skulpturalität bewirkt, dass die Beine der Rocklänge entsprechend mehr oder weniger sichtbar sind. Ob Krinoline, Tournüre, A-Form, Bleistiftform, Faltenrock, Tulpenrock, Fächerrock: gemeinsam ist ihnen die geschlossene Form, die Raum für sich beansprucht. Die räumliche Erweiterung kann wie beim Reifrock sogar durch kompliziertes Gestänge unterstützt werden oder der schwebende Stoff des Rockes nimmt einerseits die Bewegung der Beine, andererseits die der Umwelt auf und bringt sie in eine räumliche Einheit. Er überträgt dabei Körperbewegung in eine skulpturale Form und macht zum Beispiel auch den Wind sichtbar.94 Kleidungsstücke können das Volumen ihres Trägers – seine Kinesphäre – in den Raum ausdehnen. Jede Muskelbewegung verformt die textile Hülle. Die Bewegungen des Körpers übertragen sich auf das Kleidungsstück. Je größer das Volumen oder die Stoffmenge, die in Wallung gerät, desto größer der Radius, in dem sich die Schwingungen und fliegenden Textilien und Kostümteile in den Raum potenzieren. Der Regenschirm in der Hand, beim Gehen als Spazierstock verwendet, verlängert die Reichweite des Armes bis zum Boden, ähnlich der Handschuhfinger von Rebecca Horn.95 Erscheint die Körperwirkung durch bekleidende Attribute zunächst erhaben, wirkt das Straucheln und Stolpern über modische Spielereien umso entblößender und erniedrigender.96 Das Gewicht eines ausladenden Rockes beeinflusst den Bewegungsablauf, die Stoffmassen müssen mit den Beinen nach vorne geschoben oder nach

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Leutner, Petra. »Die unheimlichen Räume des Rockes.« In Räume der Mode, hg. von Gertrud Lehnert. Paderborn: Fink, 2012, S. 240. Vgl. Flügel 1986, S. 224ff. Ebd., S. 230.

6. Körperverformung durch Bekleidung

sich geschleppt werden. Oskar Schlemmer lässt der Tänzerin des Großen Rockes im Triadischen Ballett zwar den Bewegungsfreiraum der Beine, verändert durch das hohe Gewicht des Rockes jedoch die Balance in solchem Ausmaß, dass auch eine ausgebildete Tänzerin das Stehen auf einem Bein neu erlernen muss.

Abbildung 52: Oskar Schlemmer, Das Triadische Ballett, Großer Rock und Taucher, Bayerisches Staatsballett II, 201497

Der ausladende Rock ist über Jahrhunderte das Zeichen der eleganten Dame, die sich im Gegensatz zu ihrem Dienstpersonal ganz dem Präsentieren imposanter Mode hingeben kann. Das Kleid »à la française«, untrennbar mit dem Glanz des Versailler Hofs verbunden, wölbt sich relativ schmal zu beiden Seiten der Trägerin und öffnet so eine breite Vorderfront zur üppigen Dekoration.98 Das folgende Jahrhundert verschreibt sich den kreisrunden Röcken, zunächst durch eine Ansammlung verschiedener Unterröcke, die dem Rock Volumen geben. Ab den 1840 Jahren ermöglicht die Erfindung der Krinoline noch mächtigere Auswüchse des Rockumfangs, der den zierlichen Korsett-Taillen entspringt. Diese künstliche Silhouette verlangt den Damen große Disziplin

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Foto: Charles Tandy. In: Bayerisches Staatsballett 2014, S. 53. Vgl. Koda 2001, S. 117.

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und Selbstkontrolle ab.99 Doch die Bewunderung erheischende Wirkung und die zahlreichen Möglichkeiten der Dekoration überwiegen die körperliche Unbequemlichkeit. Auf der Bühne versetzt das ausladende Kleidungsstück seinen Träger automatisch in eine fremde Realität, wie Sibylle Canonica über ihr Kostüm von Jürgen Rose in Jean Genets Die Wände, in einer Inszenierung von Dieter Dorn, 2003 am Residenztheater München berichtet: Ich weiß nicht mehr, ob Rose eine Figurine hatte oder nicht, normalerweise erinnere ich mich sehr genau. Ich weiß nur, dass relativ schnell klar war, dass sie eine Riesen-Krinoline trägt und zum Teil haben wir dafür diese Lebensschutzfolien verwendet, die bei Auto-Unfällen zum Einsatz kommen. Die goldene Seite isoliert gegen Kälte und die silberne gegen Wärme. Rose wollte etwas haben, das auch akustisch wahrnehmbar war, das hat geknistert und geraschelt, das hätte er mit anderen Materialien so nicht hingekriegt. Das Kostüm musste sich auch zerreißen lassen können, wie im Stück vorgesehen. Darüber waren Hochzeitsteppiche drapiert – ich weiß nicht, ob sie aus Tibet oder aus Kasachstan kamen; jedenfalls solche, die man in den Zelten über das Brautbett hängt. Und dazwischen hatte Rose noch gebrauchte Bonbonpapiere nähen lassen. Das hat kein Mensch gesehen von unten, aber es machte etwas mit der Qualität dieses Kostüms, das ja kein vornehmes Renaissance-Kostüm war, das zwar auch nichts Billiges hatte, aber durchaus etwas Lumpenhaftes. Es ging darum, wie die Figur mit den geringsten Mitteln die größte Wirkung erreichen kann. Es war ein großes Vergnügen zu spüren, was das Kostüm mit mir machte! Oder mit der Rolle – und daraus eine Körpersprache zu entwickeln.100 Die Komödie Les toilettes tapageuses versucht 1856 dem Pariser Publikum die Lächerlichkeit der übergroßen Rock-Mode vor Augen zu halten, indem die Hauptdarstellerin einen Reifrock ungeahnten Ausmaßes trägt, der die Pariser Damen jedoch entgegen seiner Intention zu noch gewagteren Kreationen animiert.101 Als die Dimensionen der Röcke nicht mehr übertroffen werden 99

Vgl. Haase, Birgit. »›Die Satire attackiert die Kinoline!‹: Modekritik in Bild und Wort am Beispiel von Charles Vernier und Friedrich Theodor Vischer.« In Ridikül!: Mode in der Karikatur 1600 bis 1900, hg. von Adelheid Rasche und Gundula Wolter, 104–112. Köln: DuMont, 2003, S. 104f. 100 Pargner, Birgit. »Sibylle Canonica über Jürgen Rose: ›…um ein Schuhbändel!‹.« In ›Nichts ist so lebensfüllend wie das Theater‹, hg. von Birgit Pargner, 207–211. Leipzig: Henschel, 2015b, S. 208. 101 Vgl. Wehinger 1988, S. 128.

6. Körperverformung durch Bekleidung

können, verschiebt sich die Gewichtung des Stoffes auf die Rückseite des Körpers und somit dessen Silhouette. Der Rock darf nun relativ gerade fallen, wird aber über dem Gesäß zur Tournüre gebauscht.102 Den Unterkonstruktionen, zu ihrer Entstehungszeit der Öffentlichkeit verborgen, wohnt ein schlichter, geometrischer Reiz inne, der Künstler und Modeschöpfer seit der klassischen Moderne inspiriert, den ehemals funktionalen Unterbau sichtbar zu machen. Die Reihung stoffbezogener Halbkreise einer Tournüre etwa schlängeln sich in Oskar Schlemmers Spirale steif um den Körper der Tänzerin, den sie hingegen bei Yunya Watanabe grazil umwippen.

Abbildung 53: Krinoline in Tournürenform, ca. 1871; Schlemmer, Triadisches Ballett Spirale, 1922; Yunya Watanabe, Herbst/Winter Kollektion 1998103

Jana Sterbak hängt in Remote Control eine zur Unbeweglichkeit verdammte Dame in den Käfig ihres motorisierten Unterrockes. Zwei Herren auf zwei Leitern halten eine Stange über die Rocköffnung, an der sich die Performerin über den Reifrock hangelt und in einer Art Hosenkonstruktion am Taillenband der metallenen Krinoline Platz nimmt. Ihre Füße baumeln einen halben Meter über dem Boden, unfähig mit den Beinen eine Richtung einzuschlagen und sich in ihrem überdimensionalen Rock vorwärtszubewegen, wenn ihr nicht 102 Vgl. Lehnert 1998, S. 75. 103 Ausstellung des Metropolitan Museums of Art 2001–2002. In: Koda 2001, S. 120.

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die Fernbedienung dazu übergeben wird. Die durch gesellschaftliche Konventionen zur Untätigkeit und Dekoration gedrängte Frau wandelt sich zum Cyborg, »einem kybernetisch gesteuerten Organismus, der seinen Körper über die elektronisch gesteuerte Konstruktion erweitert«104 . Remote Control spielt wie »alle Kleider und Apparaturen« in Jana Sterbaks Arbeiten mit dem Gegensatz aus »Körpererweiterung« und »neuer Erfahrungsdimension« mit Einschränkung und Begrenzung.105

Abbildung 54: Jana Sterbak, Remote Control Abbildung 55: Alexander McQueen, II, 1989106 Eshu, 2000107

Alexander McQueen gelingt es hingegen in seiner Herbst/Winter 2000 Eshu Kollektion, der klassischen Unterrockkonstruktion des Reifrocks die Note 104 Dinkla 2017, S. 18. 105 Ebd., S. 18. 106 Aluminium, Motor, Fernbedienung, Baumwolle, Ausstellung im Haus der Kunst, München 2002. In: Sterbak, Jana und Bera Nordal. Hg. Jana Sterbak – the conceptual object. Malmö Konsthall katalog 191. Malmö: Konsthall, 2002, S. 31. 107 Ausstellung des Metropolitan Museum of Art, New York 2011. Foto: Sølve Sundsbø. In: Bolton 2011, S. 154.

6. Körperverformung durch Bekleidung

der starken Frau zu geben, indem er ihn mit einem Lederrock und einer Corsage kombiniert. Yamamoto widmet sich der Krinoline in spielerischer Weise und konstruiert den Reifrock aus aufblasbaren, schwebenden Gummischläuchen, in deren Hohlräumen sich Taschen zur praktischen Aufbewahrung verstecken.108 Als Pioniere in der Mode entfernen sich Alexander McQueen, Vivienne Westwood, Rei Kawakubo, Issey Miyake, Yohji Yamamoto und Hussein Chalayan in ihren Entwürfen immer wieder und immer weiter von den natürlichen Körperformen, oft inspiriert von historischen Silhouetten, abstrakt, futuristisch oder dekonstruktivistisch weitergedacht.109

Abbildung 56: Hussein Chalayan, Before Minus Now, Frühling/Sommer 2000110

108 Vgl. Vinken 2013, S. 178. 109 Vgl. Lehnert, Gertrud. »Die Kleider des Leigh Bowery…« In Leigh Bowery: Verwandlungskünstler, hg. von Angela Stief, 73–160. Bern: Piet Meyer Verlag, 2015, S. 77. 110 Foto: Chris Moore. In: Violette 2011, S. 103.

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Chalayan baut ein Airplane Dress, ein starres High-Tech-Kleid in Tournüren-Form, dessen Hinterteil sich durch Fernsteuerung landeklappenartig öffnen lässt und einen Tüllunterrock preisgibt. Die historisch anmutende Form kann als ein in Bewegung erstarrtes Kleid gelesen werden, das am unbewegten Körper Dynamik, Fortschritt und Futurismus-Begeisterung verkörpert.111

Abbildung 57: Loïe Fuller, Serpentine Dance, 1892112

Loïe Fuller, amerikanische Vaudeville-Tänzerin, erobert zum Ende des 19. Jahrhunderts das Pariser Publikum. Ausgerüstet mit 2 langen Holzstäben als Verlängerung ihrer Arme wirbelt sie meterlange Stoffbahnen durch die Luft, angestrahlt von farbigem Licht. Inspiriert von der Tierwelt und natürlichen Phänomenen, bildet sie Wolken, Wellen und Linien in der Luft ab, öffnet ihre

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Vgl. Clark, Judith. »Speed and Motion.« In Hussein Chalayan, hg. von Robert Violette, 87–153. New York: Rizzoli, 2011, S. 88f. Le Théatre widmet Loïe Fuller in der Weihnachtsausgabe von 1898 zum Thema Tanz einen reich bebilderten Artikel. Foto: Henri Mairet. In: Aderer, Adolphe. »A travers la danse«. In Le Théatre 12. 1898, S. 18.

6. Körperverformung durch Bekleidung

Flügel Schmetterlings- und Fledermaus-gleich.113 »In nature, the act of opening wings and other such highly visible expansions of bodily volume are almost always effected for an ›audience‹ and generally serve one of two purposes – to attract the opposite sex, or to threaten a potential enemy.«114 Die Tänzerin verschwindet in den Stoffmassen, kann sich ihres Körpers entledigen, sich auflösen in reine Bewegung und Licht, um ganz mit dem Raum zu verschmelzen. Das Neue an ihrem Tanz war nicht eine besondere »Technik« virtuoser Körperbewegung, sondern die Erschaffung eines gänzlich veränderten künstlichen Zeichen-Raums durch ein Bewegungsensemble, das als nahezu abstraktes szenisches Spiel von Stoff, von bewegtem Licht, Farben und Musik erscheint.115 Stéphane Mallarmé sieht darin »die Geburt der absoluten Metapher, wie sie auch der ›poesie pure‹ entspricht«. Fullers Tanz wird mit den ersten abstrakten Gemälden Wassily Kandinskys gleichgesetzt.116 Sie zählt zu den Wegbereiterinnen des modernen Tanzes, die im Gegensatz zu ihren Zeitgenossinnen wie Isadora Duncun nicht den Körper vom klassischen Tanz befreien möchten, sondern ihn mit technischen Tricks entmaterialisiert.117

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Vgl. Siegmund, Gerald. Abwesenheit: Eine performative Ästhetik des Tanzes: William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld: transcript, 2006, S. 116f. Uhlirova 2013, S. 22. Brandstetter 1995, S. 332f. Vgl. Zimmermann 2007, S. 99f. Vgl. Brandstetter 1995, S. 326f.

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7. Die Charakteristika des Bühnenkostüms

Dem Bühnenkostüm in seiner Funktion als Verwandler des Darstellers wohnt die Grundlage des Theaterspiels, das theatrale Element des Rollen-Wechsels, inne. Das Anlegen von Kostüm und Maske, auch im übertragenen Sinn von Make-up und Frisur, signalisiert den Spielbeginn. Das Bühnenkostüm verkörpert den performativen Akt.1 Der Schauspieler oder Sänger zieht sich sein Kostüm an und vollzieht in diesem Moment die Verwandlung in eine Figur. Im Reallexikon der deutschen Kunstgeschichte führt Hans Tintelnot in seiner Definition des Bühnenkostüms die Fähigkeit des Kostümes an, »schon für den bloßen Augenschein«, ohne die Notwendigkeit einer weiteren Aktion des Darstellers, schon allein durch seine Äußerlichkeit den Charakter darzustellen: Unter B[ühnenkostüm] versteht man die Bekleidung, die der Schauspieler oder Sänger während des Spieles auf der Bühne trägt. Zur Steigerung der Wirkung auf der Bühne, zur Heraushebung der künstlerischen Individualität, zur Betonung des Rollencharakters sowie zur Andeutung der örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten des Stückes bedurfte es von jeher einer besonders sinnfälligen und einprägsamen Herrichtung des B[ühnenkostüms], die meistens durch Schnitt und Farbe unter Hinzufügung von Attributen das Rollenfach und die inhaltsmäßige Bedeutung des einzelnen Schauspielers schon für den bloßen Augenschein bezeichnete.2 Die Basis, auf die sich das Bühnenkostüm beruft und auf dessen Ästhetik und Informationsgehalt es fußt, ist die Alltagsbekleidung. Das Zusammenspiel von Körper und Kleidungsstück, dieser von Werner Enninger angesprochene »kulturell überformte«3 Körper, also das von Gabriele Mentges definierte »Kleider-

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Vgl. Barbieri 2018, S. 6. Tintelnot 1950. Enninger 1983, S. 25.

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körperbild«4 findet seine Übersetzung auf die Theaterbühne. Es entsteht ein Bühnenkörper. Die Kostümgeschichte zeigt, dass das Bühnenkostüm den Bekleidungsgewohnheiten der Menschen im Publikum entsprechen soll, nur so kann sich der Zuschauer in die Bühnenfigur einfühlen, an ihrer Entwicklung teilnehmen und mit ihrem Schicksal mitfiebern. Die Versuche von Theaterreformen, die Ästhetik des Kostüms grundlegend zu verfremden, scheitert nach kurzen Experimentierphasen, da sich das Publikum unter anderem nicht mit einer Kunstfigur identifizieren kann, ihm die Spiegelung des wirklichen Lebens fehlt und ihm so eine emotionale Teilnahme am Bühnengeschehen verwehrt wird. Der Rückgriff des Kostüms auf Alltagsbekleidung schließt folgerichtig das Erscheinen von zeitgenössischer und historischer Mode auf der Bühne ein. Besonders der stetige Modewandel mit seinen vielseitigen und genau datierbaren Silhouetten ermöglicht dem Zuschauer die dargestellte Epoche zu identifizieren. Auch die Örtlichkeit spiegelt sich in einem entsprechenden Bekleidungsverhalten wider. Der historische Zeitgeist lässt sich in seiner vestimentären Ausprägung besonders leicht transportieren. Die Mode und die Befolgung oder Ablehnung ihres Diktats gibt in verschiedenen Darstellungsformen Aufschluss über die Rollenfiguren. Der Unterschied in den Generationen wird in ihrem abweichendem Bekleidungsverständnis sichtbar. Der ungeliebte Gegenspieler verrät sich durch sein unmodisches Äußeres. Ein schneller Modewechsel auf der Bühne spult im Zeitraffer die Handlung voran. Das Kostüm folgt den Basisfunktionen der Bekleidung und transportiert die vestimentären Codes der Alltagsbekleidung. Es folgt deren Signalraum, deren visueller Sprache aus Silhouette, Verarbeitungsart, Schnitttechnik, Materialität und Farbkodex. Die originalgetreue Übertragung aller Merkmale auf das Bühnenkostüm ist nicht erforderlich, um den gewünschten Informationsgehalt zu transportieren. Selektive Fragmente sind bereits ausreichend aussagekräftig. Dies lässt dem Kostümbildner die Freiheit, dem Bühnenkostüm durch besondere Akzentsetzung, Materialwahl, Farbgebung, Verfremdungseffekte, Bearbeitungsarten oder Kombinationsmöglichkeiten, eine eigene ästhetische Aussage zu verleihen, ohne den Informationsgehalt des Kostümteils für den Zuschauer zu schmälern. Jede Komponente vermag in ihrer ganz eigenen Formensprache Information zu vermitteln. Ein Kleid aus transparentem Seidenchiffon steht für mehr Eleganz und Reichtum als ein Baumwollkleid, das im identischen Schnitt, 4

Mentges 2010, S. 19.

7. Die Charakteristika des Bühnenkostüms

der gleichen Farbe mit gleichem Muster angefertigt ist. Die Materialität transportiert die Wertigkeit der Bekleidung und somit das Vermögen und den Sozialstatus der Figur. Zerlumpte, alte, stark zertragene, schmutzige Kleidung macht aus dem Akteur etwas anderes als prächtige, frisch gestärkte Gewänder und eine – falsche – Rolex am Handgelenk. Alexandra Exter z.B. entscheidet sich in ihrem Kostümbild für Aelita, eines auf einer Novelle von Leo Tolstoi beruhenden Stummfilms einer Science-Fiction Sozialtragödie aus dem Jahr 1924, in der Regie von Yakov Protazanov, für die Verwendung von durchsichtigem Kunststoff. Ein neuartiges Material, in seiner Zeit zukunftsweisend, noch ein wenig geheimnisumwoben, eignete es sich, um einer unbekannten, phantastischen, in weiter Ferne liegenden Örtlichkeit eine futuristische Note zu geben. Die von Exter entworfenen Kleidungsstücke entsprechen in Silhouette und Accessoires der Mode der 1920er Jahre, erheben sich aber durch die außergewöhnliche Materialwahl zu einem Kunstkleid, ohne dem Publikum unverständlich zu erscheinen. Als präziser Beobachter von Alltagssituationen, mit einem Gespür für den Zeitgeist und einem profunden Wissen der Modegeschichte ist es dem Kostümbildner möglich, zwischen notwendigen, Information tragenden und daher unabdingbaren Details eines Kleidungsstückes und jenen, die zu vernachlässigen sind, zu selektieren. Dies eröffnet dem Bühnenkostüm die künstlerische Freiheit und ein vergleichbares Formenvokabular, die auch der vestimentären Skulptur innewohnen. Die Bühnen-, Kostüm- und Lichtdesignerin rosalie betont diesen künstlerischen Eigenwert des Bühnenkostüms: Die Bühne gehört der Kunst. Ein Bühnenbild, Kostüme, Räume – all das hat für mich nichts mit Illustration zu tun, nichts mit Dekoration, nichts mit Rekonstruktion. Mir geht es um das Erfinden, Entwickeln, um Kunstarbeit. So wie es eine dramatische Struktur gibt, so muss es auch eine bildnerische Struktur geben. Denn erst aus diesem Zusammenspiel entsteht das Überraschende, das Unvorhersehbare – die Tiefe.5 Die Vermittlung der vestimentären Zeichen kann in ein eigenes ästhetisches Vokabular, das über die angesprochene Illustration und Rekonstruktion und die bloße Dekoration weit hinausreicht, verpackt sein. Das Kostüm hat das Potential über die Handlung hinauszuwachsen und die Stimmung und Gefühls-

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rosalie. »Das Alphabet der Schönheit.« In Kostümbild – Lektionen 6, hg. von Florence von Gerkan und Nicole Gronemeyer, 19–26. Berlin: Theater der Zeit, 2016, S. 19f.

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welt des Stückes bildlich einzufangen.6 »Ich versuche immer,« so der Regisseur Claus Guth, »dass Kostüm, Bühne, Video eine Zuordnung erfahren und sich jedes Mal die Frage neu stellt, welches Medium übernimmt welche atmosphärische oder inhaltliche Dimension des jeweiligen Stücks«7 . Das Kostümbild kann ein »mitdenkender Gestalter einer Inszenierung« sein.8 So fungiert es als prägender Bestandteil des theatralen Gesamtkunstwerkes, das seit Richard Wagner auf der Bühne angestrebt wird. Das gleichwertige Zusammenspiel von Kostüm, Ausstattung, Licht, Text, Musik und Akteur setzt eine stark eigenständige künstlerische Sprache des Bühnenkostüms voraus. Diese kann sich besonders dann entfalten, wenn die Ausarbeitung der erwünschten Ästhetik den Beginn des kreativen Prozesses prägt, wie es bei Robert Wilson der Fall ist.9 Über die zeichnerische Annäherung an das Stück entsteht der Bühnenraum und das Kostümdesign, dessen Silhouette schon in den Probenkostümen präsent ist, den Körper und den Bewegungsablauf der Darsteller von Beginn an formt und somit den gesamten Entstehungsprozess der Produktion beeinflusst.10 Jacques Reynaud, Kostümbildner und langjähriger Weggefährte von Robert Wilson, berichtet über die Arbeitsabläufe und unterstreicht dabei die hohe Gewichtung der visuellen Herangehensweise. Entgegen einer geläufigen Praxis der konzeptuellen Vorgespräche mit Regisseuren, die – so Reynaud – bei all ihren abstrakten Ausführungen verwirrend werden können, legt Wilson eine Skizze vor, die die Quintessenz der Inszenierung umreißt und als leicht nachzuvollziehende Schaffensgrundlage gilt.11 Die Anforderungen an das Kostümdesign seitens des Regisseurs sind fest umrissen: Erforderlich sind eine klare Silhouette und Geradlinigkeit im Raum gepaart mit einer monochromen Farbigkeit. Die für Wilson charakteristische Lichtregie fordert weitere Konsequenzen im Kostümbild, so Reynaud: Wilson generally likes cold light. I have to keep that element in mind when I’m considering the choice of color for fabrics. I tend to remain within a cold

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Vgl. Devoucoux 2007, S. 57. Beyer, Barbara und Sebastian Baumgarten. Hg. Warum Oper? Gespräche mit Opernregisseuren. Berlin: Alexander-Verl., 2007, S. 241. Gerkan, Florence von und Nicole Gronemeyer. Hg. Kostümbild – Lektionen 6. Berlin: Theater der Zeit, 2016, S. 6. Vgl. Simhandl 1993, S. 144. Vgl. Barbieri 2018, S. 161f. Vgl. Reynaud 2012, S. 246.

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scale of colors or to use clear strong color like white, red, deep purple. To be honest, I don’t know if a bright yellow or orange would make Bob happy.12 Robert Wilsons ästhetische Annäherung an ein Bühnenwerk, der intensive Fokus auf die gestalterischen Mittel einer Inszenierung und das besondere Augenmerk auf die Beleuchtung machen die Originalkostüme bereits zur ersten Beleuchtungsprobe auf der Bühne unverzichtbar. Dies ermöglicht die intensive Erarbeitung einer narrativen Lichtregie mit Akzentsetzung auf einzelne Kostüme.13 Jedes Kostümteil, jedes Requisit, jede Bühnendekoration, jeder Gegenstand auf der Bühne hat eine Funktion, eine Bedeutung. Sobald dem Publikum etwas vor Augen geführt wird, besitzt es Aussagekraft. Die Dinge fungieren als Abbild des Lebens, sie können die Inszenierung bestenfalls unterstützen oder aber, bei schlechter Auswahl, den Fokus des Zuschauers in falsche Richtung lenken. »Was im wirklichen Leben nicht stimmen muß, weil es gelebt wird, muß in der räumlichen und zeitlichen Verdichtung der Bühne stimmen, weil es gezeigt wird.«14 So wird der theatrale Moment lebendig und nur so kann zur »Magie der Worte« die »Magie der Dinge« treten.15 Oder wie Aristoteles sagt: »Außerdem ist für die Verwirklichung der Inszenierung die Kunst des Kostümbildners wichtiger als die der Dichter.«16 Sein Leitfaden zur Gestaltung der Charaktere kann auch als Hinweis zur Kostümgestaltung gelesen werden: Man muß auch bei den Charakteren – wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d.h. darauf, daß es notwendig oder wahrscheinlich ist, daß eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und daß das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt.17

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Ebd., S. 248. Vgl. ebd., S. 49. Ruckhäberle, Hans-Joachim. »Zwischen dem Schönen und dem Realen: Jürgen Roses Bühnenbilder.« In Das Bild der Bühne: Arbeitsbuch, hg. von Volker Pfüller und Hans-Joachim Ruckhäberle, 88–97. Berlin: Theater der Zeit, 1998, S. 88. Pfüller, Volker. »Bild und Text – eine unglückliche Liebe?« In Das Bild der Bühne: Arbeitsbuch, hg. von Volker Pfüller und Hans-Joachim Ruckhäberle, 8–11. Berlin: Theater der Zeit, 1998, S. 8. Monks 2010, S. 9. Aristoteles. Die Poetik. Stuttgart: Reclam, 1982, S. 49.

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Das gelungene Kostümbild zeigt die vestimentäre Essenz einer Figur. Alles ausgestellte Überflüssige verwirrt das Publikum, denn »[…] das Kostüm bzw. die äußere Erscheinungsweise der Schauspieler/innen produziert ein hohes Maß an Erwartungen, die der Verlauf der theatralen Ereignisse widerlegen oder bestätigen kann«18 . Denn damit der Betrunkene die Bedeutung »ein betrunkener Mensch« erhält […] ist es nicht nötig, daß er in allen seinen physischen Eigenschaften betrachtet wird. Zum Beispiel ist es irrelevant, ob er ein schwarzes Jackett oder eher ein graues trägt und ob seine Nase eher platt als gebogen ist. Es kann auch irrelevant sein, ob er zweiunddreißig oder nur achtundzwanzig Zähne hat. Aber es ist nicht irrelevant, daß die vier fehlenden Zähne obere Schneidezähne sind, und auf jeden Fall wäre die Differenz zwischen achtundzwanzig und drei Zähnen relevant. Ein Objekt, das zum Zeichen erwählt worden ist, fungiert als solches nur dank einiger weniger seiner charakteristischen Eigenschaften, die anderen spielen dabei keine Rolle, und somit ist es bereits (innerhalb der Darstellungskonvention) eine Abstraktion, ein reduziertes Modell, ein semiotisches Konstrukt.19 Das Kostüm erzählt die Geschichte einer Figur, einer historischen oder fiktiven Persönlichkeit, deren Bühnenexistenz sich in das Regiekonzept der Inszenierung einfügt. Auf dieser Grundlage transportiert das Kostüm die erfundene oder überlieferte Vergangenheit der Person, umreißt ihre angeblichen Vorlieben und Schwächen, ihre Charaktermerkmale, Lebensumstände und ausgedachten körperlichen Besonderheiten. Das Regieteam kreiert auf Basis geschichtlicher oder literarischer Vorlagen, musikalischer Angaben, Inspirationsquellen aus Kunst, Literatur, Musik, Gesellschaftsleben oder persönlichen Assoziationsketten einen Bühnencharakter. Die kreative Entstehung der Figur verläuft frei, die vestimentären Signale allerdings, die zu ihrer Verbildlichung dienen, müssen real, glaubwürdig und dem Publikum verständlich sein. »Wenn Kleider Leute machen, dann machen Kostüme gewiss Schauspieler«, so Audrey Hepburn.20 Aus der Summe aller Kleidungsstücke, die der Bühnencharakter angenommen im Laufe seines Daseins trägt, muss

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Schößler, Franziska. Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart: J. B. Metzler, 2017, S. 189. Eco 2002, S. 65f. Hepburn, Audrey. »Kostüme machen Schauspieler: Ein persönliches Bekenntnis.« In Film und Mode, Mode im Film, hg. von Regine Engelmeier und Peter W. Engelmeier, 9–11. München [u.a.O.]: Prestel, 1997, S. 11.

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das signifikanteste, der am allgemeingültigste Repräsentant der Figur auftreten. Dieses Kostüm steht stellvertretend für all die andere, nicht gezeigte Bekleidung, eine das Theaterspiel ausmachende – textile – Komprimierung von Zeit und Raum. Das Publikum weiß um die im Kostüm verwebten Informationen. Gertrude Stein schildert ihre angespannte Aufmerksamkeit, um der Gestaltung des Kostümbildes und dessen Auswirkung auf den Bewegungskanon des Darstellers gleichberechtigt zu Text und Handlungsstrang folgen zu können: I became fairly consciously troubled by the things over which one stumbles to such an extent that the time of one’s emotion in relation to the scene was always interrupted. The things over which one stumbled and there it was a matter both of seeing and hearing were clothes, voices, what they the actors said, how they were dressed and how that related itself to their moving around. Then the bother of never being able to begin over again because before it had commenced it was over, and at no time had you been ready, either to commence or to be over.21 In einem harmonischen Kostümbild verspielen sich alle Elemente zu einem selbstverständlich wirkenden Äußeren, das das Publikum nicht ablenkt, vielmehr sich zurücknimmt, die Präsenz der Rolle unterstreichend.22 Ein gelungenes Bühnenkostüm, mit einer klaren dramaturgischen Aussage, die Figur entsprechend wiedergebend, gut eingegliedert in das Gesamtkonzept der Inszenierung, vereinigt in sich ein Maximum an ästhetischer Freiheit, ohne die notwendigen Hinweise der vestimentären Codes zu vernachlässigen. Christian Lacroix entwirft für Vincent Boussards Inszenierung von Vincenzo Bellinis I Capuleti e I Montecchi, Premiere am 27. März 2011 an der Bayerischen Staatsoper in München, Kostüme mit Anklängen der Silhouette des 19. Jahrhunderts unter Verwendung einer modernen Materialität und Verarbeitungsart.23 Die Herren tragen schwarze, hohe Zylinder, schmal geschnittene Hosen, dunkle, elegante Gehröcke und helle Halsbinden. Was das Kostüm außergewöhnlich macht und vom üblichen Aussehen des eleganten Herren seiner Zeit unterscheidet, ist zum einen die Materialwahl des Gehrockes. Zur Verwendung kommt unter anderem schwarzes Neopren, bekannt von Taucheranzügen, eine mehrere

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Rebentisch, Juliane. Ästhetik der Installation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2013, S. 154. Vgl. Monks 2010, S. 10. Bayerische Staatsoper. Hg. Vincenzo Bellini I Capuleti e I Montecchi. München, 2010, S. 3.

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Millimeter starke, schaumartige Platte, die über eine große eigene Standfestigkeit verfügt. Sie wird ohne Futter verarbeitet, erscheint zunächst wie ein konventionelles Stück Schneiderarbeit und lässt erst in ihrer eigenen Art, wie sie den Bewegungen des Sängers folgt, den Zuschauer aufhorchen. Eine zweite Gruppe der Chorherren trägt einen Gehrock aus schwarzem Organza, ein transparentes, ebenfalls steifes, aber sehr dünnes, mattes Material, das üblicherweise in der eleganten Damenmode Verwendung findet. Ebenfalls ungefüttert treten die Nähte, an deren Stelle sich der Stoff doppelt, als schwarze Linien in Erscheinung und heben so die Konstruktion des Kleidungsstücks hervor. Eine dritte Gruppe des Chores trägt gleichermaßen einen transparenten, schwarzen Gehrock, allerdings aus einem hochglänzenden Kristallorganza, genauso durch die Nähte geometrisiert, durch seinen Glanzeffekt zusätzlich das Licht reflektierend. Statt der klassischen Halsbinde entscheidet sich Lacroix für ein sehr langes Stück hellen Tafts, das die Chorherren in opulenten Windungen voluminös um den Hals wickeln. Auch hier steckt noch die Essenz des historischen Originals der eleganten Herrenmode des 19. Jahrhunderts, allerdings überzeichnet und dadurch an die zeitgenössischen Tragegewohnheiten eines Schals erinnernd und gleichzeitig eine augenzwinkernde Referenz an Christian Lacroix’ Ästhetik in der Damenmode, die für ihre ballonartigen, üppig gerafften Röcke und Ärmel bekannt ist. Bellini erschafft mit der Partie des Romeos in I Capuleti e I Montecchi eine der berühmtesten Hosenrollen für den Mezzosopran. In der Uraufführung am 11. März 1830 am Teatro La Fenice in Venedig, in dessen Auftragswerk die Oper entsteht, singt eine der »gefeiertsten Hosenrollenprimadonnen ihrer Zeit, Giuditta Grisi«24 . Tara Erraught etwa verwandelt sich für die Münchener Premiere in einen Romeo, dessen Kostüme den Chorherren gleichkommen. Neben dem Ausgeh-Aufzug in Neopren, trägt die Sängerin zu Beginn des 1. Aktes ein kämpferisches Outfit aus moderner asymmetrischer Lederjacke, zu hochgestelltem weißem Hemdkragen, den bekannten voluminösen Schal, in diesem Fall aus dunkler Wolle und einen Kampfflieger-Overall, als Hose umfunktioniert, das Oberteil um die Hüfte geknotet und seitlich herabhängend. Schwere Stiefel runden den hart wirkenden Auftritt ab, es gibt jedoch kein komplettes Verneinen des weiblichen Geschlechts der Sängerin. Erraughts natürliche, schulterlange Haare bleiben offen hängen, leicht zurückgegelt, das Gesicht ist für das starke Bühnenlicht grundiert, aber weder Lippen noch Augen erhalten ein feminin betontes Make-up. Eine Frau trägt Hose, Jacke 24

Ponte 2013, S. 108.

7. Die Charakteristika des Bühnenkostüms

und Stiefel, eine im 21. Jahrhundert alltägliche Bekleidung, dennoch stellt sie für das Publikum unübersehbar Romeo dar: Der Verzicht auf die Verwendung einer Kurzhaarperücke und eines falschen Bartes machen das Kostüm zeitgenössisch, modern und für den Zuschauer nachvollziehbar.

Abbildung 58: Vesselina Kasarova als Romeo in Vincent Boussards Inszenierung von Vincenzo Bellinis I Capuleti e I Montecchi zusammen mit den Damen der Statisterie, München 201125

Im Kostümbild für die Damen sticht vor allem die Gruppe an Statistinnen ins Auge, die die eleganten Gehrock-Herren begleiten. Hier erlebt das Publikum den großen Opernauftritt. In rauschenden, weit ausladenden, in für Lacroix typischer, leuchtender Farbenpracht, ergießt sich eine Gruppe von zwei Dutzend Damen über eine verspiegelte Treppe. Doch macht der zweite Blick, wie bei den verfremdeten Herrenkostümen, stutzig. Die mehrlagigen, reich verzierten Röcke mit steifer Corsage, das klassische Kleidungsstück der Damenmode des 19. Jahrhunderts, wurden überhaupt nicht richtig angezogen. Die Statistinnen stecken zwar in den Röcken, die Corsage aber steht brettartig vor dem Oberkörper, am Rücken nicht geschlossen, die Ärmel leer neben dem Körper baumelnd. Neben übertriebenen, lockigen Hochsteckfrisur-Perücken,

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Foto: Wilfried Hösl. In: Bayerische Staatsoper 2010, S. 167.

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Satinhandschuhen, Armreifen und Halscolliers scheinen die Damen gegen ihren Willen in prächtige Abendroben gezwungen worden zu sein. Zusätzlich wurden ihre Münder buchstäblich mit gigantischen Stoffblühten, das halbe Gesicht verdeckend, gestopft. Die Frau als repräsentatives Objekt ihres Mannes, aber bitte schön schweigend, eine Gesellschaftskritik an der über Jahrhunderte bestehenden Rolle der Frau, in Gestalt eines aufwendigen Ballkleides. Das mutmaßliche Objekt der weiblichen Begierde mutiert zum Folterinstrument, artikuliert durch die nur ihm eigene Sprache des Bühnenkostüms. In der Umsetzung des Kostümbildes, unabhängig welche künstlerische Abstraktion es vom Alltagsgewand trennt, gelten auf der Bühne andere visuelle Vorgaben als im realen Leben. Der Theaterbühne fehlt die Möglichkeit des Zooms und der Großaufnahme, was sie entscheidend von der Ausdrucksform des Films trennt. Eine gewisse Plakativität und Großformatigkeit der Zeichen hilft dem Zuschauer, deren Bedeutung zu entschlüsseln.26 Dennoch achtet der Kostümbildner darauf, eine Natürlichkeit in der Bildsprache zu wählen, da auch eine Überakzentuierung der Gestaltungsmittel zu einer Unglaubwürdigkeit des Kostüms und der damit fehlenden Empathie des Publikums führt.27 Achim Freyer, in seiner Funktion als Maler, Bühnen- und Kostümbildner sowie Regisseur, wählt für Pantalones Tochter Clarice in seiner Inszenierung der Diener zweier Herren 1997 am Wiener Burgtheater ein auffälliges pink-weiß gestreiftes Kostüm. Wie auch die anderen lehnt es sich in abstrahierter Form Freyers Ästhetik folgend an die Bekleidung der Commedia dell’arte an. Clarice Kleid ist eine Reminiszenz an Marie Antoinettes weit ausladende Robe à la française in Kombination mit der spanischen Mode des 16. Jahrhunderts, der Halskrause. Eine gigantische Achterkrause scheint um 30 cm nach unten gerutscht zu sein und rahmt das Dekolleté der Schauspielerin ein. Der Rock nimmt diese Ästhetik auf und rüscht sich in zehn schmalen weiß-rosa Bahnen bis zum Boden. Eine grüne Strumpfhose und ein brauner Wollspitzkegel auf dem Kopf vervollständigen den Aufzug.28 Es ist ein auch aus der Entfernung gut zu erkennendes Kostümbild, plakativ wie bei Freyer üblich, aber dennoch mit historischen Konnotationen, und einem gewissen Witz in ausgewogenem Zusammenspiel mit den anderen Figuren und der Bühnendekoration.

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Vgl. Fischer-Lichte 1983, S. 56. Vgl. Kedves 2013, S. 117. Vgl. Neumann, Sven und Achim Freyer. Hg. Freyer Theater. Berlin: Alexander Verlag, 2007, S. 43.

7. Die Charakteristika des Bühnenkostüms

Der schmale Grat der gut sichtbaren Fernwirkung, ohne eine übertriebene Manieriertheit der Ästhetik, ist der angestrebte Pfad des gelungenen Kostümdesigns, so rosalie: Kostüm ist Architektur in der Bewegung, es darf nie aufgesetzt sein, sondern muss eins werden mit der Figur, selbstverständlich werden, auch in der Bewegung. Erst dadurch wird das Kostüm und folgend natürlich der Darsteller präsent. […] Ein Bühnenkostüm unterscheidet sich von Alltagskleidung ganz klar in der Fernwirkung. Das Bühnenkostüm funktioniert im besten Fall noch in der letzten Reihe des dritten Rangs.29 Die bereits angesprochenen, dem Theater eigenen Mittel der Illusion modifizieren überdies Alltagsgegenstände und Bekleidungsgewohnheiten und passen sie den Bühnenbedürfnissen an. Die durch die Aufsicht des Publikums auf die in der Regel erhöht liegende Bühne verursachte verzerrte Proportion von Längen wird korrigiert. Geräusch erzeugende Kostümteile und Accessoires werden durch entsprechende Materialwahl und Bearbeitung entschärft. Das Farbschema der Kostüme wird mit der Bühnendekoration abgeglichen, um das Verschwinden eines Darstellers vor dem gleichfarbigen Hintergrund zu vermeiden, solange dies nicht szenisch erwünscht wird. Kostümteile durchlaufen die Kostümfärberei zum farblichen Abtönen oder Bearbeiten. Die entsprechenden Farbnuancen, bläulich-kühl, sonnig-warm, verblichen-beige, transportieren eine Grundstimmung der Inszenierung. Die Wirkung von Farbe kann ebenso gezielt eingesetzt werden wie in einem Kunstwerk. Das satte Orange-Rot in Hélios Parangolés besitzt die gleiche kraftvolle Aussage und Blick-auf-sich-ziehende-Wirkung wie ein roter Mantel im Bühnenkostüm. Gruppen ziehen sich zusammen, wenn sie der gleichen Farbwelt entspringen, auch bei nur minimaler Überfärbung des Originalstoffes. Der Solist steht farblich abgesetzt deutlicher im Fokus. Wie Natalja Gontscharowa erläutert, ist das Finden der geeigneten Farbtöne, die der Bühnendekoration Rechnung tragen und die verschiedenen Rollen treffend illustrieren, ein vielschichtiger Aufgabenbereich: Die an sich schon komplizierten Beziehungen zwischen Kostüm und Dekoration sind noch diffiziler zwischen zwei oder mehreren Kostümen untereinander. Die Kostüme können sich untereinander erdrücken oder sich gegenseitig hervorheben. Ein Kostüm kann fast unauffällig neben einem anderen

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durchgehen. Alles hängt von den Farben und Formen der Kostüme ab und offensichtlich auch von dem Platz, an dem sie sich auf der Bühne befinden. Man könnte dies einem Kartenspiel mit strengen und komplizierten Regeln, aber unzähligen Kombinationsmöglichkeiten vergleichen.30 Auch ist die farbliche Bearbeitung des Materials, einen gewünschten Alterungsprozess imitierend, eine übliche Praxis auf der Theaterbühne. Ein neues, kaum getragenes Kleidungsstück ist nur für wenige Situationen passend und als Repräsentant des tatsächlichen Lebens abseits der großen Ballnacht ungeeignet, da ihm eine unpersönliche Unnatürlichkeit innehaftet. Je stärker ein Kostümteil auf alt bearbeitet wird, desto deutlicher werden jedoch seine Farbbehandlung und kunsthandwerklichen Eingriffe sichtbar. Auf großen Bühnen, professionell beleuchtet, oft durch einen Orchestergraben weit vom Publikum getrennt, ist dies bis zu einem gewissen Grad zu vernachlässigen. Vor der Erfindung der Elektrizität taucht der Kerzenschein die zum Teil auch einfachen Dekorationen und Kostüme in magisches Licht, die ansonsten bei Tageslicht trist und ärmlich wirkten.31 Die sorgsam aufgebaute Scheinwelt der Bühne soll möglichst nicht zerstört werden. Durch die heutige Praxis von Videoaufzeichnungen und Live-Stream-Übertragungen besteht allerdings die Gefahr, die angestrebte Scheinwelt der Bühnen zu verlieren und den »Theaterplunder« aufzudecken. Ähnliches gilt für Inszenierungen, die Aktionen im Zuschauerraum vorsehen und die übliche räumliche Distanz zwischen Akteur und Publikum somit aufheben. Schon Alfred Klaar bemängelt in einer Kritik zu Max Reinhardts Orestie, dass »dieses Hereinfluten der Darsteller in den Zuschauerraum, wo die Gestalten mit ihrem Kostümflitter, mit ihrer Perücke und ihrer Schminke uns an den Leib rücken […] die Illusion zerreiße«32 . Die Verwendung von Masken auf der Bühne verstärkt den Akt des Verkleidens, des in eine andere Haut Schlüpfens. Sie kann eine Kunstwelt kreieren, die sich nicht nur von den klassischen Formen des menschlichen Körpers, sondern auch von dessen Gesicht befreit. Durch das Verdecken des Gesichtes tritt das Prinzip des buchstäblichen Darstellens einer anderen Person als der eigenen des Darstellers zu Tage.

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Gontscharowa, Natalia. »Kostüm und Dekoration.« In Bühne und bildende Kunst im XX. Jahrhundert: Maler und Bildhauer arbeiten für das Theater, hg. von Henning Rischbieter, 58–59. Hannover: Friedrich, 1968, S. 58–59. Monks 2010, S. 139. Fischer-Lichte 2004a, S. 104.

7. Die Charakteristika des Bühnenkostüms

Der Schauspieler, der eine Maske trägt, wird vom Zuschauer nicht als Schauspieler A, sondern als die von der Maske bedeutete Rollenfigur X identifiziert, ohne jedoch mit dieser verwechselt werden zu können. Das Tragen der Maske erscheint in diesem Sinne geradezu als theatralischer Grundvorgang par excellence: Wer die Maske aufsetzt, zeigt allein durch diesen Akt der anwesenden Gemeinschaft an, daß er nicht mehr als er selbst, sondern als der von der Maske Bedeutete identifiziert werden will, ohne jedoch als reales gesellschaftliches Subjekt mit dem von der Maske bedeuteten Subjekt gleichgesetzt werden zu wollen. Die Differenz zwischen beiden Subjekten wird dergestalt nicht ausgelöscht noch ignoriert, A wird nicht zu X, sondern A stellt X dar. Die Maske fungiert insofern nicht lediglich als Zeichen für das Gesicht der Rollenfigur X, sondern zugleich als ein Zeichen für die Realisierung des theatralischen Grundphänomens, daß hier einer (A) einen anderen (X) spielt. In diesem Kontext kann die Maske als eines der Theater allererst konstituierenden Zeichen begriffen werden.33 Das artifizielle, harte, ostentative oder übertrieben unnatürliche Make-up einer Schminkmaske nähert sich dem Tragen einer Maske an. Robert Wilson bedient sich diesem im zeitgenössischen, westlichen Theater eher selten verwendeten Stilmittel, um das Aussehen seiner Darsteller zu verfremden und stellt der verwandelnden Komponente der weitgehend stilisierten Bekleidung ein dominantes Gegenstück zur Seite: The make-up is as important as the costumes. It is a key element of Bob’s idea of theater as a formal theater, and, I would add, an anthropological one. The strong make-up you see is not done just for the sake of it. It’s functional. It’s so that you can better see the lines of a face, and especially the eyes of an actor. When people say, ›Oh, I am so tired of seeing that make-up!‹ I get upset, because they don’t understand that this kind of ›painting the face‹ is part of a more general aesthetic, which I like to think of as part of that anthropological idea of theater. The face tums into a mask; it is transformed through elaborate make-up. This is what every kind of Eastern theater does. The characters on Bob’s stage are larger than life. They live in a supernatural world of light.34

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Auch die einem Bilderbuch entsprungen scheinenden Figuren von Achim Freyer tragen häufig übergroße Kopfmasken und vereinen »Gedankenschärfe und kindliche Naivität, äußerste Einfachheit und Opulenz, Formstrenge und wuchernde Phantasie« und zielen auf die »existentielle Begegnung des Zuschauers mit sich selbst«35 . Freyer entführt das Publikum in seine eigenen Bildwelten, die gleichberechtigt zu Sprache und Musik existieren und das Stück und seine Personen visuell miterleben lässt.36 »Sie öffnen Abgründe des Daseins, die jenseits der Benennbarkeit liegen.«37 Der Zuschauer trifft auf einen optischen Überschwang, während sein Auge Raum hat, um zu schweifen und das Gesehene mit dem Erfahrungswert aus der eigenen Biografie zu interpretieren.38 Die Zeitschrift Opernwelt wählt Nina Weitzner 2007 zur »Kostümbildnerin des Jahres« für ihre Mitarbeit an Alice in Wonderland. Sie entwirft neben den Kostümen auch die Masken und Puppen für die Inszenierung von Achim Freyer an der Bayerische Staatsoper in München.39 Vor einer steil aufsteigenden Bühne positioniert sich der Chor, wohingegen die Solisten durch verschiedene Luken im schrägen Bühnenboden erscheinen. Ein Großteil trägt die für Freyer bekannten Masken, die restlichen eine starke Schminkmaske mit einer stark akzentuierten Augenpartie und Schattierung der Gesichtszüge. Die Kostüme erscheinen sehr plastisch, malerisch ausgearbeitet. Alices puppenhafter, übergroßer Kopf mit gelbem strähnigem Haar wackelt über einem relativ steifen weißen Kleid mit Puffärmeln und abstehendem Tellerrock. Knöpfe und Falten sind mit groben weißen Strichen aufgemalt. Die Welt der Comics mit ihrer ostentativen und teils gewalttätigen Ästhetik inspiriert Nina Weitzner, »die vorgibt, man könne die Welt in Schwarz-Weiß darstellen und auf groteske Gegensätze reduzieren«40 . Aber auch Arbeiten der Art Brut, Werke schizophrener Künstler und die Surrealisten, alle mit einem ungefilterten Umgang mit

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Simhandl 1993, S. 136. Vgl. Neumann, Sven. »›Der einzige wahre Raum ist der, der im Kopf des Zuschauers entsteht‹: Das Theater des Achim Freyer.« In Das Bild der Bühne: Arbeitsbuch, hg. von Volker Pfüller und Hans-Joachim Ruckhäberle, 28–37. Berlin: Theater der Zeit, 1998, S. 28. Simhandl 1993, S. 136. Vgl. Neumann 1998, S. 29. Musik von Unsuk Chin. Bayerische Staatsoper 2007, S. 101.

7. Die Charakteristika des Bühnenkostüms

existenziellen Ängsten, werden als Grundlage für Alices Traumwelt herangeführt.41

Abbildung 59: Achim Freyer, Alice in Wonderland, 200742

Zu den größten Eingriffen in die natürliche, biologische Körperbeschaffenheit gehört, neben dem Cross-Dressing, das Blackfacing als Bestandteil der Maske. Für lange Zeit gehörte im Theateralltag die Gepflogenheit, helle Haut gelb, rot vor allem aber dunkelbraun oder schwarz zu bemalen, zum Maskenbild. Obwohl Blackfacing nicht zum zentralen Thema dieser Arbeit zählt, muss es dennoch Erwähnung finden, da es im zeitgenössischen Theater auf erhebliche Kritik und Ablehnung stößt.

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Vgl. ebd., S. 100–101. Foto: Wilfried Hösl. In: Bayerische Staatsoper. Hg. Unsuk Chin Alice in Wonderland. Oper in einem Akt. München 2007, S. 25.

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Die Macht des Kostüms

Abbildung 60: Inigo Jones, Nymphen-Figurine für The Masque of Blackness, 160543

Jones Zeichnung für The Masque of Blackness, ein Stück von Ben Jonson, in Auftrag gegeben von Anne von Dänemark, der Gemahlin von James I., uraufgeführt am 6. Januar 1605 in Westminster, London, ist die erste überlieferte Figurine, die vorsieht, das Gesicht ihrer Trägerin zu »schwärzen«. Anne selbst und ihre Hofdamen, alle als Afrikanerinnen verkleidet, kommen an den Hof und werden durch König James von der Masque of Blackness befreit, so die Handlung. Dieses sogenannte Blackfacing erhält eine jahrhundertelange Tradition auf der Bühne und wird erst in jüngster Vergangenheit in Frage gestellt. Neben einer vordergründig gewünschten naturalistischen Darstellung des Frem-

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Gregor 1925, S. 186.

7. Die Charakteristika des Bühnenkostüms

den auf der Bühne, die Gesichter dunkel oder auch gelb geschminkt, existieren die klar diskriminierende Formen der Darbietung. Im 19. Jahrhundert erfreuen sich etwa die Blackface Minstrelsy in Amerika größter Beliebtheit. Die Sänger schminken ihr Gesicht mit verkohltem Kork, wobei sie die Lippen stark überzeichnet herausheben. Als groteske Karikatur eines Südstaaten-Sklaven, oft in Frauenkleidung oder mit übergroßen Fantasieversionen ihrer tatsächlichen Arbeiterbekleidung, machen sich die Darsteller in einer clownesken, auch gewalttätigen Weise über ihre dunkelhäutigen Mitbürger lustig.44 Das »Schwärzen« des Gesichtes vereint in sich einen vermeintlichen Naturalismus, bei dem ein gewisser Rassismus mitschwingt. Othello, die wahrscheinlich bekannteste dunkelhäutige Rolle, wird über Jahre entweder dunkel geschminkt oder auch als einziger Darsteller einer Vorstellung mit einem dunkelhäutigen Sänger oder Schauspieler besetzt. Als der afro-amerikanische Schauspieler Paul Robson 1930 in London die Person des Othello übernimmt, kritisiert ein ebenfalls dunkelhäutiger Kollege »he did not have to act«45 , als bestünde die Aufgabe eines Akteures darin, eine bestimmte Physiognomie oder Hautfarbe darzustellen. Eine Vorstellung, die im Gegensatz zu den gängigen Schauspieltheorien steht, die davor warnen, die Leiblichkeit des Schauspielers in den Blickpunkt zu stellen, da der Zuschauer so nicht mehr in der Lage ist, den Darsteller als Zeichen für eine Figur wahrzunehmen.46 Die Begrifflichkeit des »Verkörperns« einer Rolle ziele auf eben diese Transformation eines Leibes in einen semiotischen Körper ab, der »für die sprachlich ausgedrückten Bedeutungen des Textes als ein neuer Zeichenträger, als materielles Zeichen« dient.47 Gerade diese Bemalung des Darstellerkörpers lässt seinen Leib erst in Erscheinung treten, statt ihn in der eigentlichen Intention des Blackfacing zu verstecken. Der zeitgenössische Zuschauer, nicht mehr bereit, eine rassistische, die Hautfarbe betreffende Vorauswahl in der Rollenverteilung zu akzeptieren, zeigt sich ausreichend versiert im Lesen der theatralen Codes, um eine Person frei von der Hautfarbe betrachten zu können. Die Weigerung der meisten Schauspiel- und Opernhäuser, ein Blackfacing auf ihren Bühnen durchzuführen, sowie eine engagierte Debatte in der Presse über die endgültige Gleich- und vor allem Nebeneinanderstellung aller Nationalitäten in einer Inszenierung belegen dies. Selbst im sehr traditionsbewussten klassischen

44 45 46 47

Vgl. Monks 2010, S. 83. Ebd., S. 87. Fischer-Lichte 2004a, S. 131. Ebd., S. 132.

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Die Macht des Kostüms

Ballett wird im Zuge des öffentlichen Druckes nun an der bisher unangetasteten Weißheit eines Schwanensees gerüttelt.

8. Der Darstellerkörper im Bühnenkostüm

Im Kleiderkörperbild der Bühne, dem Bühnenkörper, verschmilzt das Bühnenkostüm mit dem Darstellerkörper. Von dem Körper, der der Akteur seiner Figur leiht, ist meist nur Gesicht, Hals und Hände, manchmal auch Arme und Unterschenkel unbekleidet zu erkennen, der Rest wird vom Kostüm bedeckt, geformt und gestaltet. Der nackte Darstellerkörper zählt auf der Bühne des Musiktheaters noch mehr zu den Sonderfällen als im Schauspiel. Ähnlich dem klassischen Ballett, dessen »Gesicht als lächelnde Larve gefragt, das die Virtuosität der Bewegungen unterstreichen, aber keinesfalls von ihr ablenken sollte«1 , muss auch der Gesichtsausdruck des Sängers vernachlässigt werden. Während der Schauspieler mit Mimik arbeiten kann, verzerrt sich das Gesicht des Sängers während des Gesangs. Das Theater, die Oper, die performativen Künste leben von und nur mit einem agierenden Körper. »Zentrales Produktionsmittel des Theaters ist der menschliche Körper […], Theater ist also vor allem Körperkunst.«2 Das ist die Besonderheit dieser Kunstform, die den »produzierenden Künstler nicht von seinem Material ablösen« kann.3 Er bringt sein »Werk« – was immer das sein mag – an und mit einem höchst eigenartigen, ja eigenwilligen Material hervor: in und mit dem Material seines Körpers […]. Der Mensch hat einen Körper, den er wie andere Objekte manipulieren und instrumentalisieren kann.4 Das Phänomen der Manipulation und Instrumentalisierung vollzieht sich durch das Bühnenkostüm. Das Einzigartige, das jeder Akteur auf der Bühne 1 2 3 4

Foellmer, Susanne. Am Rand der Körper: Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz. Bielefeld: transcript, 2009, S. 347. Brauneck 2001, S. 34f. Fischer-Lichte, Erika. »Was verkörpert der Körper des Schauspielers?«. In Performativität und Medialität, hg. von Sybille Krämer, 141–162. München: Fink, 2004b, S. 129. Ebd., S. 141.

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Die Macht des Kostüms

erschafft, das individuelle Zusammenspiel aus ihm, der Rollenfigur und der Regiearbeit, ist geprägt von der Erscheinung des Bühnenkostüms.5 Das Kostümbild verhilft dem Darsteller mit entsprechender Bekleidung und Maske den »geschaffenen Kunst-Körper buchstäblich ins rechte Licht zu rücken«6 . Darsteller und Bühnenkostüm gehen eine »textil-körperliche Symbiose« ein, der Sänger oder Schauspieler leiht der Figur seinen Körper, der vom Bühnenkostüm in die notwendige Form und Aussehen gebracht wird.7 Mit Hilfe des Bühnenkostüms wird der Darsteller zu einer dreidimensionalen, plastischen und somit lebendigen Version der bis dahin im Text nur abstrakt existenten Figur.8 Der Akteur bringt sein eigenes, unaustauschbares Material mit. Er hat nur eine Körpergröße, ein lediglich in Maßen wandelbares Gewicht, eine bestimmte Beinlänge, Armspanne und Schulterbreite, eine Stimme, ein gewisses Spektrum an Beweglichkeit, eine natürliche Haut-, Haar- und Augenfarbe. Diese Arbeitsgrundlage bringt er in die Inszenierung ein, nur das kann er der Person, die er darstellen wird, anbieten. Auf dieses Fundament muss die Figur ihr Lebendigwerden auf der Bühne stützen. Das »schauspielerische Material ist nicht frei verfügbar«9 , es ist durch natürliche, körperliche Gegebenheiten limitiert. Ein abweichender Sprachduktus, das Verstellen der Stimme können den Auftritt eines Schauspielers variieren. Die individuelle Silhouette des Körpers jedoch besteht weiter. Daher ist das Bühnenkostüm das einzige gestaltende Mittel einer Inszenierung, das direkt am Körper des Darstellers ansetzt. Wie in der Realität der Mensch, wird auf der Theaterbühne der Schauspieler in jedem Fall von seiner Bekleidung geformt. Die vestimentäre Hülle des Bühnenkostüms verfügt über die technischen Möglichkeiten, die Gestalt des Darstellers zu verwandeln. Die Geschichte der Bekleidung und der Mode der Jahrhunderte hat das Kostüm gelehrt, wie in die Körpergestalt eingegriffen wird. Analog zu den weltlichen Moderichtungen kann nahezu jedes Körperteil durch seine Bekleidung umgeformt und in seiner Silhouette verändert werden. Diese Verformbarkeit erfüllt mit ihren visuellen Zielen dramaturgische Zwecke, Körper erscheinen alt, missgestaltet oder märchenhaft. Jedes Körperteil dehnt sich durch ausgestopfte Wattons

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Vgl. Fischer-Lichte 2004a, S. 265. Ebd. Devoucoux 2007, S. 74. Vgl. Schößler 2017, S. 77. Ebd.

8. Der Darstellerkörper im Bühnenkostüm

aus, nicht nur dicke Bäuche, sondern auch hängende Brüste, buckelige Rücken, fettschwulstige Arme oder unförmige Wasserbeine entstehen. Corsagen und formende Unterbekleidung gestalten ebenmäßige Oberkörper und Extremitäten. Der gezielte Einsatz von Farbe setzt helle, leuchtende Akzente zur partiellen Hervorhebung, wohingegen dunkle Schattierungen Ungewolltes vertuschen. Monochrome Garderobe streckt in die Länge, durch hohe Absätze oder den Einsatz – auch von verstecktem – Plateau verstärkt. Zahlreich kombinierte, kontrastreiche Kleidungsstücke zerstückeln die Körperlänge optisch. Graue Perücken, Brillengestelle, ein rund geformtes Rückenpolster unter der Strickjacke und ein faltiges Silikon-Dekolletés altern den Darsteller. Das Verdecken von ergrautem Haar oder einer Glatze unter einer Perücke, ein entsprechendes Make-up, ein jugendlicher Kleidungsstil lassen einige Jahre im realen Alter des Darstellers verschwinden. Die Differenz in Körperstatur und Jahrgang zwischen Akteur und Figur verwischt sich. Der Gebrauch eines rein historischen, körperformenden Gestaltungsmittels, etwa des Gänsebauches, hat neben seiner gestaltwandlerischen eine zeitreisende Funktion, die die Epoche der Bühnenhandlung veranschaulicht. Die Körpersprache, ein essenzieller Baustein der nonverbalen, menschlichen Kommunikation, wird auf der Bühne erheblich vom Kostüm beeinflusst. Das Kostüm steuert die Bewegungsfreiheit. Die Dimension von Jacke, Mantel, Hose oder Rock formt den Gang, die Position des Armlochs, der Schulternaht oder die Weite des Ärmels beeinflussen die Haltung des Oberkörpers und die Bewegungsfreiheit der Arme. Wird die Jacke ein bisschen zu klein gewählt, evoziert sie ein anderes Körperbewusstsein, eine eingeschränkte Bewegung, ein Unwohlsein, vielleicht den Eindruck einer Ärmlichkeit aufgrund des Herausgewachsenseins aus einem Kleidungsstück oder des Ausborgenmüssens einer fremden Jacke als eine zu groß geschnittene Jacke, die um den Körper schlackert. Auch dahinter kann eine schwierige soziale Stellung stecken, die Körperhaltung und der Bewegungskanon werden aber jeweils eine ganz andere sein. Das perfekt geschnittene Jackett hingegen transportiert alle positiven Merkmale der klassischen Herrenmode wie Erfolg, Macht, Geld und Eleganz. Der Kostümdesigner manipuliert bereits durch diese kleinen Eingriffe die Silhouette.10 Eine historische Corsage mit ausladendem Reifrock führt zu einer differenteren Körperlichkeit als Jogginghose und T-Shirt. Die Wahl der 10

Vgl. Stutesman, Drake. »Costume Design, or What is Fashion in Film?«. In Fashion in film, hg. von Adrienne Munich, 17–39. Bloomington: Indiana University Press, 2011, S. 22.

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Die Macht des Kostüms

Schuhe ist wichtig für die Erarbeitung der Figur, nichts beeinflusst Gang und Haltung mehr. Da mag das Kostüm noch so schön sein, da mag man noch so viele Blümchen aufsticken, wenn es falsch ist, ist es falsch. Schon beliebige falsche Schuhe machen einen beliebigen, falschen Auftritt. Und man zeige mir den Darsteller, der gegen so etwas ankäme.11 Das Bühnenkostüm verstofflicht die Rollenfigur, die körperliche Wandelbarkeit im Moment des Verkleidens. Das Einswerden von Akteur, Bekleidung, Maske und Rolle ist Teil des Theaterspielens seit der Antike.12 Das Kostüm verkörpert mehr als jedes andere performative Element den Prozess der Transformation.13 »The costumes are the drama, the characters are known by what they wear, and any accompanying words support the clothes instead of the other way around.«14 Durch das ungewohnte Aussehen in Kostüm, fern der privaten Bekleidungsgewohnheiten, der eigene Körper (und das Gesicht), beschützt unter der vestimentären Hülle, kreiert sich eine Distanz zwischen realer Persönlichkeit des Darstellers und der Bühnenfigur. Das Kostüm verwandelt den Akteur nicht nur, es bietet ihm Schutz und verleiht der Bühnenfigur Kraft und Charisma.15 Der Darsteller transformiert sich nicht nur in Silhouette und Bewegungskanon für die Augen der Zuschauer, sondern auch für seine eigene Rollenfindung in den fremden Bühnencharakter, der nun zu anderen, brutaleren oder auch erhabeneren Aktionen in der Lage ist. Durch das Kostüm wird der Akteur zu Othello, zur heiligen Maria, zum Schwan, zum Teufel, zum kleinen Kind, zur alten Frau. Am augenscheinlichsten scheint die Verwandlung des Darstellers zu sein, wenn er für seine Rolle sein Geschlecht wechselt. »After all, cross-dressing makes the difference between the actor and the role explicit. In order to know that we are watching crossdressing, we must see that performers are not what they play. Costume must appear as costume, separate from the performer’s ›real body‹.«16 Das Publikum akzeptiert für die Dauer der Vorstellung, das auf 11

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Eiermann, Anna. »Wie man die Wünsche beim Schwanz packt!« In Kostümbild – Lektionen 6, hg. von Florence von Gerkan und Nicole Gronemeyer, 27–32. Berlin: Theater der Zeit, 2016, S. 29. Vgl. Barbieri 2018, S. 31. Vgl. ebd., S. 15. Hollander 1993, S. 238. Vgl. Barbieri 2018, S. 5. Vgl. Monks 2010, S. 7.

8. Der Darstellerkörper im Bühnenkostüm

der Bühne Gesehene als wahr zu betrachten, beispielsweise die Frau in der Rolle eines Mannes, genauso wie in der eines Hasen, einer Königin oder Elfe. Die offensichtliche Verkleidung in eine zum Darsteller-Geschlecht konträren Figur hat durch die heutige oft androgyne Art sich zu bekleiden, im Hinblick auf das Bühnenkostüm, an Brisanz verloren. Ein zeitgenössischer Hamlet kann in Jeans und T-Shirt auftreten, eine für einen Mann wie auch eine Frau übliche Bekleidungsart. Ein Großteil der weiblichen Alltagsbekleidung, die auf der Straße zu beobachten ist, lässt keinen Unterschied zur männlichen Bekleidungsform erkennen.17 Auch bisher der Damenmode zugeschriebene Gestaltungsmittel wie eine pastellene Farbigkeit, auffällige Accessoires, eine filigrane Materialität werden in männlichen Bekleidungsgewohnheiten immer sichtbarer. Ob der Darsteller das Kostüm als hilfreich und unterstützend bei der Verwandlung in seine Figur und deren Rollenfindung ansieht, ihm gleichgültig gegenübersteht oder das Umziehen, Umfrisieren und Schminken als unangenehmes Beiwerk seines Berufes betrachtet, hängt von seinem individuellen Empfinden ab. Davon abhängig verlaufen auch seine Beteiligung und Mitarbeit bei der Gestaltung des Kostüms. Das Einbeziehen des Akteurs in den kreativen Prozess der Kostümgestaltung unterscheidet sich zwischen Sprech- und Musiktheater. Während das Musiktheater, dessen Spieldauer des Repertoires meist auf viele Jahre und daher besetzungsunabhängiger ausgerichtet ist, das Kostümbild vor dem Probenprozess entwirft und anfertigt, geht das Sprechtheater mehr auf die Wünsche der einzelnen Schauspieler ein. Ein Sängersolist, in der Regel an mehreren Häusern parallel tätig, ist mit der gängigen Praxis vertraut, zeitnah vor seinem Auftritt ein bestehendes Kostüm angepasst zu bekommen und es unabhängig von persönlichen Vorlieben oder körperlichen Voraussetzungen am Abend der Vorstellung zu tragen. Das Kostümbild ist fester Bestandteil der Inszenierung, unaustauschbar und somit indiskutabel mit der Figur verbunden. Der Sänger schlüpft in das Kostüm und somit in seine Rolle. Eine Schauspielinszenierung fußt auf einem spezifischen Ensemble. Das Kostüm entsteht parallel zum Probenprozess und involviert dadurch den Schauspieler in weit größerem Maße. Das Kostüm dient dem Schauspieler meist mehr zur Rollenfindung als dem Sänger, dessen Fokus in der Regel auf der Musik liegt. Kostümbildner und Schauspieler arbeiten gemeinsam die gewünschten und sinnvollen vestimentären Codes und deren kostümliche Um17

Die Debatte des Cross-Dressings ist eine tiefergehende, genderrelevante Diskussion über das Rollenverständnis abseits der Bühnenbekleidung.

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Die Macht des Kostüms

setzung aus. Dieses Erarbeiten kann einem Aushandeln gleichen, wie Sibylle Canonica über ihre Zusammenarbeit mit Jürgen Rose berichtet: »Aber es gibt manchmal Situationen, in denen ich mit einer gewissen Wehmut an diese Zusammenarbeit, die mich doch sehr geprägt hat, denke […], an dieses Ringen um ein Schuhbändel!«18 Ab dem Probenstart unterstützt das Kostüm den Darsteller beim Verkörpern seiner Rolle sowie dem Einfinden in die Ästhetik der Inszenierung. Besonders in sehr bildlichen Arbeiten wie etwa Black Rider von Robert Wilson ist das Kostüm ein hilfreicher Baustein im Erarbeiten der »präzisen skulpturalen Choreografie von Bewegung, Stille und Gruppenposen«19 . Die körperliche Beschaffenheit eines Theaterschauspielers spielt bei der Besetzung nur bedingt eine Rolle. Während bei einer Filmproduktion die Auswahl an Schauspielern relativ freisteht, greift das Theater auf ein bestehendes Ensemble zurück. Nach terminlichen Bedingungen und besetzungspolitischen Entscheidungen steht dem Regisseur eine Gruppe von Darstellern zur Verfügung, unter denen die Rollen aufgeteilt werden, auch wenn sie vielleicht nicht in jedem Fall seiner idealen Körpervorstellung entsprechen. Das Musiktheater löst sich, durch die zentrale Rolle der Stimme, zum Teil noch stärker von der körperlichen Beschaffenheit des Sängers. Als Vermittler der Rolle tritt das wirkliche Aussehen in den Hintergrund, weshalb es gelingen kann, »die Erscheinung des übergewichtigen sechzigjährigen Tenors als jugendlichem Liebhaber plausibel zu machen, dann, wenn dieser Sänger über eine eindrucksvolle Stimme verfügt.«20 Nur in einigen Ausnahmen – in radikaler Version zum Beispiel in Giulio Cesare der Societas Raffaello Sanzio aus dem Jahr 1997 – wird sich das extreme Aussehen der Darsteller zunutze gemacht. Ein außergewöhnlich Fettleibiger tritt neben zwei magersüchtigen Damen und einem greisenhaften Alten auf. Ihre Körperlichkeit wird bewusst ausgestellt und auch nackt präsentiert. Das Abweichen von den als attraktiv genormten Körperformen mit deutlichem Verweis auf den fleischlichen Verfall bewirkt beim Publikum in dieser Schonungslosigkeit Erschrecken, Abneigung und Schamgefühl. »Die ganz individuelle Physis der Schauspieler wirkte so unmittelbar und verstörend auf die Zuschauer ein, daß sie es kaum fertigbrachten, zwischen ihr und der Figur, die den Schauspielern/-innen zugeordnet war,

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Pargner 2015, S. 211. Barbieri 2018, S. 162. Gumbrecht, Hans Ulrich. »Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz: Über Musik, Libretto und Inszenierung.« In Ästhetik der Inszenierung, hg. von Josef Früchtl und Jörg Zimmermann, 63–76. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 73.

8. Der Darstellerkörper im Bühnenkostüm

überhaupt eine Beziehung herzustellen.«21 Die freie Auswahl der Akteure erlaubt eine Freiheit im Umgang mit extremer Körperlichkeit, wie sie auch in der bildenden Kunst möglich ist. Leigh Bowery etwa kann auf das ganze Spektrum an Formen seines fülligen Körpers zurückgreifen. In der Regel aber arbeitet das Regieteam am Schauspiel- oder Opernhaus mit dem vorgefundenen, zur Verfügung stehenden, menschlichen Material, um es in die jeweils gewünschte fiktive Person zu verwandeln. Die Vorbereitung für die abendliche Vorstellung folgt einem immer gleichen Rhythmus: Wenn der Sänger oder Schauspieler im Theater eintrifft, führt ihn sein Weg in die Garderobe. Er entledigt sich all seiner persönlichen Gegenstände, Kleidung, Schmuck, löst je nach Frisur das Haar und entfernt sein Make-up. Die Metamorphose kann beginnen. Meist wechselt der Akteur auch Unterwäsche und Strümpfe. Die Farbe der Socken, die unter der Hose herausblitzen können, ist vom Kostümbild festgelegt. Kein privates Unterhemd soll störend unter dem Kostüm erkennbar sein, keine Unterwäschenränder sich abzeichnen. Ein Ankleider steht bereit, um Hakenreihen am Rücken zu schließen, Krawattenknoten zu binden und den perfekten Sitz des Bühnenkostüms zu kontrollieren. Dieser bedeutet nicht automatisch die akkurate Präzision eines bis zum letzten Knopf geschlossenen Hemdes unter dem glatt gestrichenen Jackett und Mantel. Häufig zeigen sich spezielle Eigenheiten der Figur in Art und Kombination wie sie ihre Kleidung trägt. Vielleicht knöpft sie ihre Strickjacke falsch, der Unterrock hängt unschön, asymmetrisch unter dem Kleid heraus oder die Krawatte lose um den Hals. Eine Ankleideliste hält jede dieser Eigenheiten mit Fotos und einer detaillierten Auflistung fest und sichert ein identisches Anziehen des Kostüms von der Premiere bis zur letzten Vorstellung, die in Extremfällen erst mehrere Jahrzehnte später erfolgt. So ist garantiert, dass auch bei einem Personalwechsel oder einer Wiederaufnahme nach mehrjähriger Pause, das Bühnenkostüm exakt wie vom Kostümbildner gewünscht, umgesetzt wird. Die Maskenbildner kümmern sich, gleichfalls orientiert an genauen Unterlagen um die passende Umgestaltung von Gesicht und Haar. Mit Hilfe von Frisuren, Perücken, Schnauzbärten, aufgeklebten Warzen, Glatzen oder falschen Augenbrauen wird in die natürliche Gesichtsund Kopfform eingegriffen. Nun ist der Moment gekommen, indem der Sänger oder Schauspieler das Aussehen seiner Rolle angenommen hat. Einen entsprechenden Sprachduktus oder Eigenheiten in den Bewegungsabläufen

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Fischer-Lichte 2004a, S. 146f.

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Die Macht des Kostüms

kann die Figur im Spiel noch herausarbeiten, aber der Moment der Verwandlung findet in der Garderobe statt. Sie wird zu einem dritten Raum zwischen Bühnenwelt und Wirklichkeit, dem Raum der Transition mit seinen eigenen Regeln, immer gleichen Abläufen und Ritualen.22 In der Garderobe nimmt der theatrale Akt seinen Anfang.23 Dabei muss das Kostüm nicht gezwungenermaßen aufwendig, mehrteilig, hochdekoriert sein. Wie das Beispiel von Philipp aus Don Carlo in der Hinführung zeigt, können ganz simple, aber der Figur in der Inszenierung entsprechende, gut ausgewählte Kleidungsstücke die nötige Information transportieren. Wenn der Akteur dann seine Garderobe verlässt, befindet er sich in zwei parallelen Sphären, »the performers stand between two worlds: the one in the spectator’s eyes and the one inside their own bodies«24 . Der visuelle Raum aus Bühne, Requisiten und Kostüm transportiert den Zuschauer in die Welt des Stückes und lässt den Darsteller seine Rolle spüren.25 Das Bühnenkostüm modelliert den Darsteller in seine Figur hinein. Es formt aber auch eine Gruppe von Individuen in eine homogene Masse, den Chor, das Corps de Ballet, und lässt die unterschiedliche Körperlichkeit unter einem Einheitskleid verschwinden. »The Chorus communicates the shape, dynamic, and the feel of a community through dress and choreography.«26 Mit Bernardo Buontalentis Ausstattungen der höfischen Feste der Familie Medici hat sich der Chor, dieses durch das Kostüm in eine Ästhetik übersetzte Gemeinschaftsgefühl, als bewegter Teil der Bühnendekoration etabliert. Sein Chor etwa aus schwebenden Engeln, zwischen illusionistisch gemalter Kulisse und optisch opulent hervorstechenden Solisten, eingerahmt vom Proszenium, prägt den Stil der europäischen Opernbühnen über Jahrhunderte.27 Die Uniformierung einer Gruppe mit dem Ziel der Massenkonformität, profitiert von der starken, die Individualität unterdrückende und das Gemeinschaftsgefühl stärkende Wirkung der einheitlichen Bekleidung. Das Bühnenkostüm verwandelt nicht nur den Akteur, es fungiert auch als notwendige Grenzlinie zwischen Darstellerpersönlichkeit und Figur. Es ist so nicht nur Zeichen der performativen Verwandlung, sondern entscheidendes

22 23 24 25 26 27

Vgl. Monks 2010, S. 13. Vgl. Siegmund 2006, S. 135. Monks 2010, S. 23. Vgl. Bablet 1965, S. 114. Ebd., S. 30. Vgl. Barbieri 2018, S. 37.

8. Der Darstellerkörper im Bühnenkostüm

Organ zur Aufrechterhaltung der Illusion auf der Bühne. Der Zuschauer soll nur die Figur wahrnehmen, denn nur ihr kann sein Mitfühlen und seine Anteilnahme gelten. Die Privatperson des Darstellers lenkt vom Bühnengeschehen ab. Wie Johann Jakob Engel in seiner Mimik (1784/85) erläutert, wird der Zuschauer immer dann aus der Illusion gerissen, wenn er den Körper des Schauspielers/der Schauspielerin nicht als ein Zeichen für die Rollenfigur wahrnimmt, sondern als den realen Körper der betreffenden Schauspielerin und daher für sie zu empfinden beginnt.28 Je vielgestaltiger die visuellen Auftritte eines Darstellers sind, desto weniger verknüpft das Publikum sein Aussehen mit seiner realen Persönlichkeit. Sein eigenes Ich tritt hinter der Rolle zurück, die bereits beim ersten Erscheinen auf der Bühne durch das Kostüm eindeutig definiert ist. »We realise that what we saw onstage was not so much the actor as the enactment of costuming: the peculiar conflation between flesh and dress and presence.«29 Diese Verschmelzung von Fleisch, Kleidung und Präsenz macht das Lebendigwerden einer fiktiven Person möglich. Diese Realisierung der Figur kann jedoch nur durch das Bühnenkostüm erzeugt werden, da das Kostüm die einzig wandelbare Komponente in jedem Stück ist, wohingegen der Körper des Akteurs der immer gleiche bleibt. Das Bühnenkostüm ist die Außenhülle der Figur. Die vom Zuschauer wahrgenommene Bekleidung ist die Kleidung der fiktiven Person. Der Darsteller leiht dieser Figuren-Hülle nur sein körperliches Material, das er von ihr formen lässt, um an die dargestellte Person so nahe wie möglich heranzureichen. Die Kostümschale baut sich um den Kern des Darstellers und erschafft so einen Bühnenkörper. »Costume is that which is perceptually indistinct from the actor’s body, and yet something that can be removed. Costume is a body that can be taken off.«30 Der Schauspieler oder Sänger streift am Ende der Vorstellung diesen Kostümkörper – das Bühnenkostüm – ab, verlässt die Garderobe und hinterlässt eine körperlose Hülle, eine Kostümschale, die nach wie vor alle wesentlichen Informationen der Bühnenfigur, alle vestimentären und historischen Codes, alle Bezugspunkte zur Inszenierung in sich trägt. Am nächsten Abend kann ein anderer Darsteller in eben dieses Kostüm schlüpfen –

28 29 30

Ebd., S. 102. Monks 2010, S. 140. Ebd., S. 11.

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Die Macht des Kostüms

das System, auf dem sich der Repertoirebetrieb des Musiktheaters aufbaut – und auch er wird für das Publikum verständlich die Rollenfigur verkörpern.

Zur textilen Verkörperung der Bühnenfigur Ein Resümee

Die Annäherung über die Theater-, Bekleidungs- und Modegeschichte weist nach, dass das Bühnenkostüm immer auf Alltagsgewandung basiert. Das Kostüm entwickelt sich über die Jahrhunderte zu einem vielschichtigen Ausdrucksmittel. Was heute unter einem gelungenen Kostümbild verstanden wird – vielseitig gestaltet mit hohem, dramaturgischem Informationsgehalt, figurbezogener Aussagekraft, über die Handlung hinauswachsend, Stimmungen und Gefühlswelt einfangend und von eigenem künstlerischem Wert – kann als Summe seiner Entwicklungsschritte betrachtet werden. Die Bühnenkostümgeschichte lässt sich ohne Blick auf die Geschichte der Bekleidung, besonders auf die Modegeschichte mit ihrem stets wandelnden Körperverständnis sowie der Kunst- und Kulturgeschichte, nicht nachvollziehen. Es wird deutlich, dass das Bühnenkostüm stets auf die üblich vorherrschende Bekleidung zurückgreift, wobei von der Antike bis zum Barock wahlweise mit Übersteigerung, Attributisierung, Typisierung, Symbolisierung oder Dekoration des vorgefundenen Alltagsgewandes gearbeitet wird. Nach Einführung des Naturalismus in der Ausstattung beschleunigt sich die unterschiedliche Ausgestaltung des Kostüms. Die Retheatralisierung verstärkt den Wunsch nach einem eigenen visuellen Vokabular der gestaltenden Bühnenmittel. Die Theaterreformen und Kunstströmungen ab dem 19. Jahrhundert befeuern den künstlerischen Eigenwert des Kostüms. Symbolistische Farbgebung, imund expressionistische Stilelemente oder Fragmente der Reformbestrebungen, wie beispielsweise eine extreme Körpereinschränkung, finden sich in Kombinationen und Versatzstücken in heutigen Kostümbildern. Kleidung kommuniziert durch visuelle Botschaften nonverbal. Die Soziologie gründet das Bekleiden auf drei Basisfunktionen, aus Scham, zum Schutz und Schmuck, dessen letzteres Anliegen – der Schmuck – das weitgreifendste darstellt und den menschlichen Körper in gesellschaftliche Strukturen

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Die Macht des Kostüms

einbindet. Detaillierte vestimentäre Codes lassen eine vollständige Charakterisierung des Bekleideten zu. Die Mode, vielschichtiger als die reine Bekleidung, ohne die Dynamik eines gesellschaftlichen Begehrens nicht existent, ein performatives Phänomen, mit sozialen Strömungen eng verknüpft, textile Verkörperung der Zeit, aber zugleich auch Spiegel des Zeitgeistes, liefert dem Bühnenkostüm ein feingliederiges Instrumentarium. Die Instabilität des modischen, vestimentären Codes führt zur genauen Datierbarkeit eines Kleidungsstückes, das historische Strömungen punktgenau auf der Bühne reproduziert. Die höhere Wertschätzung von Kleidung in der Mode, ihr kreatives Potenzial, ihre inspirierende Wechselwirkung zur Kunst, ihre avantgardistischen Impulse, alte Sehgewohnheiten aufzubrechen, ihre die traditionellen Körperformen sprengenden Designansätze verweisen auch auf den künstlerischen Stellenwert des Bühnenkostüms. Die Modegeschichte verdeutlicht die umfassende Wandelbarkeit des menschlichen Körpers durch seine Bekleidung. Die den anatomischen Körper verformende Kraft der Kleidung schafft einen neuen, eigenen – kulturellen – Körper, ein Kleiderkörperbild1 . Nicht nur die Silhouette, sondern auch Bewegungsvokabular werden durch die Bekleidung definiert. Kleidung – identitätsstiftend und die äußere Erscheinung prägend – steht im Gegenzug als Repräsentant des abwesenden, menschlichen Körpers. Kleidungsstücke sind textiles Gedächtnis, Relikt der Erinnerung, stellvertretend für Personen oder Situationen und finden sich in der Welt der bildenden Kunst wieder. Die vestimentäre Skulptur enthält alle Basisfunktionen der Bekleidung. Der Informationsgehalt der vestimentären Codes und die damit einhergehenden Emotionen evozierende Kraft sind in ihr auch körperlos nachvollziehbar. Die nähere Betrachtung von Kleidungsstücken als skulpturale Werke in der Bildenden Kunst hat gezeigt, dass das Zeichensystem der Bekleidung, auch verfremdet, durchaus lesbar und verständlich bleibt. Sie verdeutlicht auch, dass Bekleidung und analog das Bühnenkostüm ein eigenes künstlerisches Vokabular ausformen kann. Das Bühnenkostüm transportiert die Basisfunktionen des Bekleidens und die vestimentären Codes des privaten und öffentlichen Lebens auf die Bühne. Es wird dabei zum reinen Zeichen, praktische Funktionen wandeln sich in symbolische Bedeutung. Der Akteur als bedeutungserzeugendes System2 wird als Inszenierung seines Kostüms wahrgenommen. Der Darsteller

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Vgl. Mentges 2010, S. 19. Vgl. Fischer-Lichte 1983, S. 94.

Zur textilen Verkörperung der Bühnenfigur

geht eine Textil-körperliche Symbiose mit dem Bühnenkostüm ein und verwandelt sich durch ein hoch aufgeladenes Kleidungsstück. »Das Äußere des Schauspielers wird also vermittels folgender Zeichen als ein spezifisches hergerichtet: durch Maske, Frisur, Kostüm.«3 Das Anziehen des Bühnenkostüms macht das In-die-Rolle-Schlüpfen sichtbar, hilft beim Einfinden in die Figur und schafft in dieser Transformation eine Distanz, einen schützenden Raum zwischen realer Persönlichkeit des Sängers oder Schauspielers und seiner Rolle und verdeckt die die Illusion zerstörende Nacktheit des Darstellers. Die Kleiderkörperbilder finden eine Übersetzung auf die Bühne. Der Darstellerkörper wird vollständig vom Bühnenkostüm geformt, es entsteht ein eigener Bühnenkörper, eine körperlose Hülle, »a body that can be taken off«4 . Das verstärkte Einbeziehen von Mode-, kunst- und kulturhistorischer Literatur erweist sich als sinnvoll und bereichernd zur vertiefenden Betrachtung des Bühnenkostüms. Durch die nachgewiesene Übersetzung von Alltagsgewandung auf die Theaterbühne lassen sich Charakteristika der Kleidung auf die Analyse des Bühnenkostüms übertragen. Besonders die Verknüpfung des Zeichensystems von Bekleidung mit dessen körperverformende Wirkung betont die Eigenschaft des Kostüms als Gestaltenwandler. Die Betrachtung des künstlerischen Formenvokabulars der vestimentären, skulpturalen Kunst spricht auch dem Bühnenkostüm die Fähigkeit zu, eine eigene künstlerische und vielgestaltige Aussagekraft zu entwickeln. Es entsteht im zeitgenössischen Kostüm in seiner besten Form eine komplexe Verbindung aus der die Figur charakterisierenden vestimentären Codes und Körper gestaltenden Ausformungen, die sich in die Ästhetik der Inszenierung eingliedern, ohne dabei die eigene künstlerische Sprache zu vernachlässigen. Das Bühnenkostüm ist eine bedeutungstragende Kostümschale, die sich über einen wandelbaren Kern stülpt. Das gleiche Bühnenkostüm kann mit konstantem Informationsgehalt über wechselnde Akteure gezogen, deren Körper in eine immer ähnliche Silhouette geformt werden. Es entsteht eine einmalige Verbindung aus Kostüm und Darstellerkörper, deren Wirkung und theatrale Magie einzigartig bleibt, ein dem Theaterspiel eigenes Prinzip, nach dem sich zwei Vorstellungen niemals gleichen. Der Repertoirebetrieb des Musiktheaters, dessen wechselnde Besetzung an Sängern sich den gleichen Kostümen bedient, die in verschiedenen Größen zur Verfügung stehen, zeigt aber ein Verhaftetbleiben der Figur im Kostüm. Es versammelt in sich die 3 4

Ebd., S. 26f. Monks 2010, S. 11.

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Die Macht des Kostüms

Essenz der Bühnenfigur, bleibt – körperlos – als visualisierendes Relikt in der Garderobe zurück. Das Bühnenkostüm, das eine Inszenierung überdauert, kann zwar nicht als Repräsentant dieser Inszenierung gelten, da es nur ein »aus dem Kontext gerissenes Zeichen« unter vielen ist, welches nicht den »Zeichenzusammenhang« wiedergibt, aber es steht noch als Repräsentant für die Figur, die es bekleidete.5 Der Darsteller schlüpft in seine Rolle in dem Moment, in dem er sein Kostüm anzieht und streift es – einem Bühnenkörper gleich – nach der Vorstellung wieder ab. In einem Vierteljahr wird ein anderer Bass in Giuseppe Verdis Don Carlo die gleiche Unterhose anziehen und auch er wird so zu Philipp. Vielleicht ist er 10 Jahre älter, 10 cm größer und 10 kg leichter als der letzte Sänger, aber der erbärmliche Anblick der alten Unterwäsche unter dem glorreichen Mantel verbildlicht dem Publikum wieder den Fall des spanischen Herrschers.

5

Fischer-Lichte 1983, S. 15.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10: 11: 12: 13: 14: 15: 16: 17: 18: 19: 20: 21: 22: 23: 24:

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Abbildungsverzeichnis

56: Hussein Chalayan, Before Minus Now, Frühling/Sommer 2000. 57: Loïe Fuller, Serpentine Dance, 1892. 58: Vesselina Kasarova als Romeo in Vincent Boussards Inszenierung von Vincenzo Bellinis I Capuleti e I Montecchi zusammen mit den Damen der Statisterie, 2011. 59: Achim Freyer, Alice in Wonderland, 2007. 60: Inigo Jones, Nymphen-Figurine für The Masque of Blackness, 1605.

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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein

Pina Bausch's Dance Theater Company, Artistic Practices and Reception 2020, 440 p., pb., col. ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-5055-6 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5055-0

Gabriele Klein

Pina Bausch und das Tanztheater Die Kunst des Übersetzens 2019, 448 S., Hardcover, Fadenbindung, 71 Farbabbildungen, 28 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4928-4 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4928-8

Benjamin Wihstutz, Benjamin Hoesch (Hg.)

Neue Methoden der Theaterwissenschaft 2020, 278 S., kart., 10 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5290-1 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5290-5

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Theater- und Tanzwissenschaft Manfred Brauneck

Masken – Theater, Kult und Brauchtum Strategien des Verbergens und Zeigens 2020, 136 S., kart., 11 SW-Abbildungen 28,00 € (DE), 978-3-8376-4795-2 E-Book: PDF: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4795-6

Tom Klimant

Theaterspiel erleben und lehren Fachdidaktik für den Theaterunterricht Februar 2022, 570 S., kart., 41 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-6091-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6091-7

Till Nitschmann, Florian Vaßen (Hg.)

Heiner Müllers KüstenLANDSCHAFTEN Grenzen - Tod - Störung 2021, 514 S., kart., 16 Farbabbildungen, 3 SW-Abbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-5563-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5563-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de