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German Pages [165] Year 2012
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Karl Hepfer
Die Macht der Phantasie und die Abschaffung des absoluten Wissens Ein philosophiehistorischer Überblick von Platon bis Kant
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495998472
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Karl Hepfer Die Macht der Phantasie und die Abschaffung des absoluen Wissens
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»Phantasie« steht heute für die kreativen und schöpferischen Fähigkeiten des Menschen. Dieser Sprachgebrauch ist relativ neu. Tatsächlich findet der Versuch, dieses Vermögen terminologisch und systematisch genauer zu bestimmen, die längste Zeit in der Erkenntnistheorie und nicht in der Ästhetik statt. Dabei steht die Phantasie von Anfang an als eigenständiges Vermögen neben der Wahrnehmung und dem Verstand und wird in einer wichtigen Rolle für die Erklärung unserer Wissensansprüche gesehen. Wegen ihrer epistemischen Unzuverlässigkeit haben Erkenntnistheoretiker sie allerdings oft mit großem Misstrauen betrachtet. Die Untersuchung zeichnet anhand ausgewählter historischer Stationen die grundlegende Veränderung in der Wahrnehmung des Vermögens nach, von der Antike bis zur Neuzeit. Der diachrone Blick legt dabei auch eine systematische Pointe frei, nämlich dass sich anhand der theoretischen Wahrnehmung der Phantasie jeweils der Stand der Diskussion in der Frage bestimmen lässt, ob Erkenntnis ein ausschließlich passiver Vorgang ist, wie antike Theorien behaupten, oder auf jeden Fall eine aktive und produktive Eigenleistung des Geistes erfordert, wie die Theorien der Neuzeit mit steigender Überzeugung argumentieren. Je eindeutiger die Antwort zugunsten der zweiten Option ausfällt, desto weniger neutral oder objektiv scheint unser (empirisches) Wissen zu sein, desto eher entspringt es offensichtlich einer subjektiven Interpretationsleistung.
Der Autor: Karl Hepfer ist Privatdozent der Universität Erfurt. Seine Interessen liegen in der Erkenntnistheorie und der Praktischen Philosophie. Historischer Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Philosophie der Aufklärung, insbesondere die Philosophie David Humes und Immanuel Kants. Bei Alber ist außerdem erscheinen: »Die Form der Erkenntnis. Immanuel Kants theoretische Einbildungskraft« (2006). Weitere Monographien des Autors: »Philosophische Ethik. Eine Einführung« (2008), »David Hume. Eine Untersuchung der Grundlagen der Moral. Übersetzung und Kommentar« (2002), »Motivation und Bewertung. Eine Studie zur praktischen Philosophie Humes und Kants« (1997).
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Karl Hepfer
Die Macht der Phantasie und die Abschaffung des absoluten Wissens Ein philosophiehistorischer Überblick von Platon bis Kant
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48557-6
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Inhalt
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Antike und Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung 1
1.1 1.2 1.3 1.4
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Platon und Aristoteles . . . . . Epikureer, Stoa, Neuplatonismus Augustinus und Thomas . . . . Pico della Mirandola . . . . . .
Theorien der Neuzeit 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
René Descartes . Thomas Hobbes John Locke . . . David Hume . . Immanuel Kant .
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. 45 . 62 . 71 . 90 . 106
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Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4
Literaturverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
4.1 Originalwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sekundärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Mit ›Phantasie‹ verbinden wir heute die kreativen und schöpferischen Fähigkeiten des Menschen. Dieser Sprachgebrauch geht maßgeblich auf die ästhetische Diskussion des 18. und 19. Jahrhunderts zurück. Erst in dieser Zeit wurde ›Phantasie‹ zum zentralen Begriff im Kontext des künstlerischen Schaffensprozesses. Tatsächlich aber findet der Versuch, dieses Vermögen terminologisch und inhaltlich genauer zu bestimmen, die längste Zeit vorwiegend in der Erkenntnistheorie statt, und die entsprechende Diskussion reicht erheblich weiter zurück. Schon Aristoteles weist darauf hin, dass die Phantasie ein eigenständiges Vermögen neben der Wahrnehmung und dem Verstand ist und für die Explikation des Zustandekommens unseres Wissens von Bedeutung. Einigkeit besteht seitdem über zwei Dinge. Erstens: der Rekurs auf die Phantasie ist für jede Erklärung der Genese unseres Wissens unverzichtbar. Zweitens: die Phantasie ist ein Vermögen, dem wegen seiner epistemischen Unzuverlässigkeit gerade im Hinblick auf unsere Erkenntnis mit Zurückhaltung und besonderer Aufmerksamkeit begegnet werden muss. Im Mittelalter kommt eine zusätzliche theologische Dimension des Misstrauens hinzu. Die begriffliche Bestimmung der Phantasie und ihre systematische Einordnung verlaufen bis zum 18. Jahrhundert ohne große Brüche. Spätere Theorien schließen jeweils an die Tradition an, betonen allerdings bestimmte Aspekte, nehmen andere zurück oder stellen sie in einen neuen Zusammenhang. Diese grundsätzliche Kontinuität ist für ein fundamentales Problem jeder diachronen Darstellung verantwortlich, denn der Begriff ist von Beginn an mehrdeutig. Sowohl das griechische ›phantasia‹ als auch das lateinische Gegenstück ›imaginatio‹ bezeichnen sowohl das Vermögen als auch die einzelne Vorstellung. Und an der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks hat sich bis heute nichts geändert; sie gilt auch für die modernen Entsprechungen ›fancy‹ und ›imagination‹, ›Vorstellung‹, ›Einbildung‹, oder ›Phanta-
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Einleitung
sie‹. 1 Die Kontinuität der theoretischen Diskussion erleichtert es andererseits, eine grundlegende Veränderung in der Wahrnehmung dieses Vermögens anhand seiner Begriffs- und Reflexionsgeschichte nachzuzeichnen, nämlich die wachsende Einsicht, dass die Phantasie aktiv und produktiv am Zustandekommen unseres Wissens beteiligt sein muss. Die aristotelische Annahme, Vorstellungen seien das Produkt eines Vorgangs, bei dem sich die Außenwelt einem rezeptiven und passiven menschlichen Geist ›einprägt‹, verliert über die Zeit stark an Überzeugungskraft und wird im Fortgang der Auseinandersetzung durch die Einsicht verdrängt, dass bereits das Zustandekommen der Vorstellungen selbst ohne eine aktive und produktive Eigenleistung des menschlichen Geistes nicht möglich ist – und dass es eine entsprechende Fähigkeit geben muss, die die Rohdaten der Wahrnehmung ordnet und interpretiert und dadurch erst zu Vorstellungen von Gegenständen formt. Hand in Hand mit der historischen Entwicklung geht eine systematische. Wenn die Vorstellungen äußerer Verhältnisse auf einer aktiven Interpretationsleistung beruhen, dann schwächt dies offensichtlich die Hoffnung, dass der menschliche Geist empirische Gegebenheiten angemessen erfassen kann. Wissen wird relativ zum erkennenden Subjekt. Die Versuche, wenigstens Teilbereiche unserer Erkenntnis gegen diese Relativierung zu sichern, setzen oft ebenfalls bei der genauen Bestimmung der Vorstellungskraft und der Vorstellungen an. Dies ist, besonders in der Neuzeit, der Grund dafür, dass wechselnde Aspekte der vorangegangenen Diskussion in den Vordergrund treten, nur um anschließend als wenig sachdienlich disqualifiziert und hinter andere zurückgestellt zu werden. So ist das neuzeitliche Projekt, die Reichweite und Grenzen der dem Menschen möglichen Erkenntnis zu ermitteln, eng mit dem jeweiligen Verständnis der Phantasie verbunden: die Bestimmung ihrer epistemischen Funktionen spiegelt den Anspruch, den wir an die Begründung unserer Wissensansprüche legitimer Weise stellen können.
Die Tatsache, dass der Terminus ›Phantasie‹ selbst dann uneindeutig bleibt, wenn klar angegeben werden kann, ob er für das Vermögen oder die einzelne Vorstellung steht, ist ein zusätzliches Problem. Denn ›Phantasie‹ als Fähigkeit und Tätigkeit ist ebenfalls nur ein Oberbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeiten (dazu Ryle, 1949, 257 f.; und Strawson, 1970, 31); und auch über das, was die einzelne ›Vorstellung‹ ausmacht, gibt es eine Vielzahl divergierender Auffassungen.
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Einleitung
Obwohl die Beantwortung der Frage, wie einem epistemischen Relativismus entgegengetreten werden kann, zu einem erheblichen Teil von der Bestimmung der Rolle der Phantasie für die Genese unseres Wissens abhängt, gibt es nur wenige diachrone Untersuchungen zu diesem Thema. Das Vermögen beschäftigt vor allem im Umfeld ästhetisch-literarischer, 2 kultureller 3 oder wissenschaftstheoretischer 4 Fragen. Auch um die Phantasie als ›Vermögen der Freiheit‹ entspannt sich eine breite Diskussion, allerdings erneut vorwiegend im Zusammenhang der Literatur und des künstlerischen Schaffensprozesses. Die Ausnahme ist hier Jean-Paul Sartres ›phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft‹, in der er in Auseinandersetzung mit den Theorien Martin Heideggers und Edmund Husserls den Gedanken entwickelt, dass die Fähigkeit, uns Dinge vorstellen zu können, die paradigmatische Bestimmung des menschlichen Bewusstseins ist, »insoweit es seine Freiheit realisiert«. 5 Die wenigen zeitlich weiter gespannten Untersuchungen mit einem klaren epistemischen Fokus stammen aus dem angelsächsischen Raum. Sowohl die Monographie von Murray Wright Bundy als auch die neuere Untersuchung von J. M. Cocking 6 sichten eine Reihe historischer Positionen; das Hauptinteresse ist in beiden Fällen allerdings ein philologisches. Die größere Zahl von Einzeldarstellungen zur Phantasie mit einem fokussierten Untersuchungszeitraum teilt sich tendenziell in zwei Klassen. Auf der einen Seite stehen systematische Untersuchungen, die der Verbindung dieses Vermögens zur Fiktionalität in einem ästhetischen Kontext nachgehen, 7 begriffstheoretische Überlegungen anstellen 8 oder Fragen aus der Philosophie des Geistes 9 oder der Politischen Theorie 10 behandeln. Auf der anderen Seite finden sich Untersuchungen zu einzelnen PhiZ. B. Engell, 1981; Kearney, 1988; und Mathews, 1997. Warnock, 1976; s. auch Warnock, 1994. 4 Holton, 1978; s. auch Holton, 1973. 5 Sartre, 1940, 293. Der theoretische Befund Sartres hat in der existentialistischen Philosophie gleichzeitig eine praktische Dimension: nämlich im Blick auf die radikale Entscheidungsfreiheit des Menschen und die eigenverantwortliche Bestimmung seines Lebens. Die Charakterisierung der Phantasie als ›Vermögen der Freiheit‹ liegt auch der Monographie von Barbara Ränsch-Trill zugrunde; Ränsch-Trill, 1996. 6 Bundy, 1927; Cocking, 1991. 7 Gabriel, 1975, Henrich/Iser, 1983; Novitz, 1987; Iser, 1993. 8 Z. B. White, 1990. 9 Edelman/Tononi, 2000. 10 Z. B. Castoriadis, 1975. 2 3
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losophen, etwa zu René Descartes, 11 David Hume 12 oder Immanuel Kant. 13 Das Themenspektrum ist also weit, die Sachlage entsprechend unübersichtlich. Dies mag der Grund dafür sein, dass die epistemische Seite der sich über die Zeit wandelnden Wahrnehmung der Phantasie bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Diesem Mangel versucht das Folgende mit einer Darstellung wichtiger Stationen der Reflexionsgeschichte abzuhelfen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit liegt der Schwerpunkt dabei auf den komplexeren Positionen der Neuzeit. Die vorliegende Untersuchung endet mit der Theorie Kants, da in seiner Theorie die Bestimmung der Phantasie den Stand erreicht hat, auf dem sie bis heute geführt wird: sie wird als aktives und produktives Vermögen wahrgenommen, das zentral an der Genese unseres Wissens beteiligt ist und dabei, anders als lange Zeit unterstellt, in seiner Tätigkeit durchaus einigen Regeln gehorcht.
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Sepper, 1996. Banwart, 1994. Mainzer, 1881; Mörchen, 1930; Makkreel, 1990; Gibbons, 1998.
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1 Antike und Mittelalter
1.1 Platon und Aristoteles Der früheste bekannte Beleg des Ausdrucks phantasia stammt aus Platons Staat. 1 Im zweiten Buch der Politeia steht er in einem Kontext, in dem es um die Möglichkeit der göttlichen Täuschung katÞ fantasffla@ geht. 2 Die deutsche Übersetzung ist hier in der Regel ›Erscheinung‹. Dafür gibt es gute Gründe. Denn zum einen ist phantasia bei Platon sprachhistorisch noch eng an das Verb fafflnw/fafflnomai [scheinen, erscheinen] gebunden, zum anderen sichert der Kontext anderer Dialoge diese Entscheidung ab. So steht beispielweise im Sophistes ›phantasia‹ neben dem falschen Gedanken (di€noia) und der falschen Meinung (dxa) – in einem Kontext, in dem es um die bewusste Irreführung (lgo@ veudffi@) der Sophisten durch fant€smata geht. 3 Phantasia bezeichnet dort das ›Ganze der Erscheinung‹, 4 über das wir ein Urteil fällen. Ähnlich verwendet Plato den Begriff auch im Philebus und im Theätet; auch dort ist phantasia das, was wahrgenommen wird, die Erscheinung. 5 Damit unterscheidet sich Platons Sprachgebrauch erheblich von unserem heutigen, denn in der Begriffsbestimmung fehlen noch viele Merkmale, die das moderne Verständnis der Phantasie ausmachen. So hat phantasia bei ihm an keiner Stelle Konnotationen von Produktivität oder Kreativität, und auch die Trennung von Wahrnehmung und Phantasie ist hier noch nicht vorhanden. 6 Andererseits steht der BeRitter, 1989, 516. Für eine ausführliche Zusammenstellung der Textbelege aus dem Gesamtwerk Platons s. Rees, 1972, bes. 492 f. 2 Politeia, 382e. 3 Sophistes, 263d–264d. 4 S. Cocking, 1991, 20; Lycos, 1964, 498 f. 5 Theaitetos 152b11–c2; Philebos 38b6–40a. 6 »As a matter of vocabulary Plato’s phantasia has not yet taken on any of the characteristics that ›imagination‹ has in ordinary usage today, chief of which is no doubt the 1
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griff schon bei Platon in einem epistemischen Kontext: Phantasia markiert, im Gegensatz zum logos, die (noch) nicht geäußerte Meinung (dxa), das implizite Urteil über das, was uns die Sinne präsentieren, 7 dasjenige, worüber wir überhaupt in der Lage sind, Urteile zu fällen oder Meinungen zu haben. Ähnliches gilt auch für die Bestimmung der Phantasie bei Aristoteles – mit einem wichtigen Unterschied. Anders als Platon verbindet Aristoteles die phantasia nicht mit dem Urteil oder der Meinung (dxa). 8 Im dritten Buch seiner Untersuchung über die Seele lehnt er diese Bestimmung sogar ausdrücklich ab, wenn er feststellt, »dass die Vorstellung 9 auch nicht Urteil/Meinung mit Wahrnehmung (dxa met’ a§sqffisew@) oder vermittels Wahrnehmung (di’ a§sqffisew@), noch auch Verbindung von Meinung und Wahrnehmung sein könnte« 10 .
Hier steht, noch deutlicher als bei der Bestimmung der Phantasie als ›Erscheinung‹, das einzelne Vorkommnis im Vordergrund. Terminologische Missverständnisse aufgrund der doppelten Bedeutung des Begriffs 11 versucht Aristoteles zum Teil dadurch zu vermeiden, dass er die Ausdrücke phantasma und den Plural phantasiai allein für Vorstellungen einsetzt. Allerdings ist er in seinem Gebrauch des Singulars nicht konsequent, denn phantasia bezeichnet in seiner Theorie »das nomen
distinction of imagination from perception«, Cocking, 1991, 12; s. auch Rees, 1972, 495 f. In ähnlicher Weise weist auch Heidegger in seiner Theätet-Vorlesung von 1931/2 auf diesen Punkt hin, wenn er davor warnt »dieses griechische Wort fantasffla durch unser daher stammendes Fremdwort ›Phantasie‹ zu übersetzen, und Phantasie als Einbildung zu verstehen und Einbildung wiederum als seelisches Erlebnis und Vorkommnis.« Heidegger, Weltanschauung, 163. Man muss Heideggers Platon-Interpretation nicht teilen, um ihm bei dieser Feststellung zu folgen. 7 »›Appearing‹ is the silent affirmation or denial (the ›taking‹ or ›not taking‹) of what my senses tell me«, Lycos, 1964, 499. 8 Lycos behauptet, dass Aristoteles Platon in diesem Punkt widerlege, Lycos, 1964, 501. Für die genauere Bestimmung des Verhältnisses der beiden Theorien zueinander s. Rees, 1972, 491 ff. und Lycos, 1964, 498–501. 9 So auch die Übersetzung der ›Philosophischen Bibliothek‹, Hamburg, 1995. 10 De anima, 428a. Der Text der Übersetzungen wurde durchgängig den Regeln der neuen Rechtschreibung angepasst. 11 Genau genommen sind sogar drei Bedeutungen zu unterscheiden: Vorstellung, Vermögen und Tätigkeit, dazu z. B. Frede, 1992, 279.
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agendi, das Vorstellen, aber auch das nomen rei actae, das Synonym zu f€ntasma« 12 . Näher bestimmt Aristoteles die phantasia als Fähigkeit oder Vermögen [xi@, dÐnami@] als »das, wodurch in uns … ein phantasma entsteht«. 13 Im Deutschen wird aus phantasma oft das ›Vorstellungsbild‹. Rezeptionsgeschichtlich ist dies insofern interessant, als der dahinter stehende und heute naheliegende Gedanke, dass der Geist einem Filmtheater vergleichbar ist, in dem die Bilder äußerer Gegenstände auf eine geistige Leinwand projiziert werden, in seinem Einfluss bis in die jüngere Philosophiegeschichte reicht – wie etwa noch die Diskussionen in Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus und seinen Philosophischen Untersuchungen eindrucksvoll vor Augen führen.14 Sowohl die Beispiele, die Aristoteles in diesem Zusammenhang gibt, 15 als auch seine Wahl visueller Begriffe und Metaphern stützen jedenfalls die Übersetzungsentscheidung. Wichtiger noch als die visuelle Konnotation ist allerdings die These, die Aristoteles in diesem Zusammenhang formuliert, nämlich dass die von der phantasia generierten phantasmata unentbehrlich für jedes Denken und Erkennen seien. 16 Die These, die sich schlagwortartig auf die Formel bringen lässt ›kein Denken ohne Vorstellungen‹, bestimmt die Diskussion bis heute. Ebenfalls wichtig ist die klare Differenzierung der Vermögen bei Aristoteles. Phantasia, so behauptet er, sei weder vernunftgeleitetes Denken [no‰@/ nhsi@] noch Wahrnehmung [a—sqhsi@] und ihre Tätigkeit lasse sich auch nicht auf eines der beiden anderen Vermögen reduzieren oder aus deren Zusammenwirken erklären. 17 Wichtig ist diese Behauptung, weil Aristoteles die Phantasie damit als ein eigenständiges Vermögen vorstellt. So einfach sich die Unterscheidung theoretisch darstellt, so schwierig kann es allerdings sein, sie im konkreten Fall zu treffen. Der Horn, 1993, 285. Mit seiner Interpretation von De anima, 427bf. steht Horn in der Tradition von Bonitz; s. auch Frede, 1992, 280. 13 De anima, 428a. 14 Einen systematischen Überblick über die Bild-Theorie gibt Tye, 1991. 15 S. De anima, 427b; 431b. 16 »Di o'dffpote noe… ˝neu fant€smato@ vucffi«, De anima, 431a. 17 Die Charakterisierung der phantasia als »›parasitic‹ on sense-perception« (Frede, 1992, 281; vgl. 286) und die Herabstufung der »phantasiai … to mere epiphenomena, the lingering after-images of sensation« (Frede, 1992, 282) hat kaum Textevidenzen für sich; für eine ausführliche Diskussion s. Everson, 1997, bes. 158 f. 12
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Schlüssel liegt hier in Aristoteles’ Explikation dessen, was es heißt, eine Meinung zu haben. Denn dies bedeutet für ihn zwingend, von der Wahrheit des Inhalts überzeugt zu sein. 18 Es ist daher nicht möglich, zugleich der Meinung zu sein, dass etwas der Fall ist, und der Überzeugung, dass diese Meinung falsch sei. Offensichtlich können wir zwar etwas ungerechtfertigter Weise für wahr halten, aber dies erschließt sich erst dann, wenn wir lernen, dass es sich anders verhält, als wir zunächst dachten. Während wir die entsprechende Meinung haben, müssen wir an ihre Wahrheit glauben; sind wir nicht mehr von ihrer Wahrheit überzeugt, etwa aufgrund widersprechender neuer Beobachtungen, haben wir per definitionem auch keine entsprechende Meinung mehr. 19 Da der Verstand zwangsläufig und die Wahrnehmung in aller Regel 20 zu wahren Urteilen führen, die Phantasie dagegen oft Falschheit generiert, 21 lässt sich auf dieser theoretischen Grundlage zwischen Meinungen (als Ergebnis der Verstandes- oder Wahrnehmungstätigkeit) und phantasmata (als den Ergebnissen der Phantasietätigkeit) unterscheiden – denn bei ihnen ist es möglich, sie zu haben und gleichzeitig von ihrer Falschheit überzeugt zu sein. Der Kontrast wird deutlich an einem Beispiel: »Es erscheint aber [in der phantasia] auch Falsches, von dem man zugleich eine wahre Meinung hat; so erscheint beispielsweise die Sonne als einen Fuß breit, doch man ist überzeugt, dass sie größer ist als die bewohnte Erde.« 22
Dennoch, mehr als ein erster Anhaltspunkt für die Unterscheidung im konkreten Fall ist durch diese Explikation allein nicht gewonnen. Denn einerseits sind phantasmata nicht zwangsläufig falsch, andererseits gibt Aristoteles selbst zu, dass die Gegenstände von Phantasie und Wahrnehmung einander durchaus ähnlich seien: »Die Vorstellungsbilder [fant€smata] sind nämlich wie die Wahrnehmungsobjekte, nur
De anima, 428a. S. De anima, 428b. 20 Obwohl auch die Wahrnehmung »immer wahr« sein soll (De anima, 428a), gibt es hier offensichtlich Ausnahmen, etwa durch falsche Zuordnungen: »Und hier ist bereits Irrtum (Täuschung) möglich; denn dass etwas weiß ist, darin täuscht sich die Wahrnehmung nicht, ob aber das Weiße dieses (Objekt) oder ein anderes ist, darin täuscht sie sich«, De anima, 428b. 21 »[3A]lla m¼n o'dþ t n ⁄e½ ⁄lhqeuntwn o'demffla ˛stai, o on ¥pistffimh no‰@«, De anima, 428a. 22 De anima, 428a f. 18 19
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ohne Materie.« 23 Welche zusätzlichen Kriterien Aristoteles allerdings für die konkrete Handhabung der Unterscheidung anführt, ist kontrovers. 24 Eine in der Sache plausible Möglichkeit ist es, die kausale Geschichte der jeweiligen mentalen Objekte zu betrachten. 25 Schließlich kann die Wahrnehmung nur tätig werden, wenn sie einen unmittelbaren äußeren Anlass hat, die phantasia aber auch dann, wenn ein solcher Anlass nicht vorliegt. Selbst wenn die Vermögen, die sie hervorbringen, sich also mit den gleichen ›Gegenständen‹ beschäftigen, wären Wahrnehmungen und phantasmata so anhand ihrer jeweiligen Vorgeschichte auseinanderzuhalten. 26 Ein Merkmal der aristotelischen Konzeption der phantasia jedenfalls ist, dass sich mit ihrer Hilfe die kognitiven Prozesse erklären lassen, die nicht von aktuellen Wahrnehmungen veranlasst sind, also etwa Traumsequenzen 27 und Halluzinationen. Darüber hinaus kann sie auch erhellen, wie wir uns im Wachzustand willentlich »etwas vor Augen stellen« können, 28 beispielsweise Gedächtnisinhalte, die wir aufrufen, ohne durch eine Wahrnehmung direkt dazu veranlasst worden zu sein. Kurz, die phantasia ist bei Aristoteles das Vermögen, das es erlaubt, Abwesendes vorzustellen, und ihre Tätigkeit ist eine ›Bewegung‹ [kfflnhsi@], »die als Ergebnis einer tatsächlichen Wahrnehmung stattfindet« 29 . Die von ihr erzeugten phantasmata sind mentale EntiDe anima, 432a. Für einschlägige Literatur s. Caston, 1996, Anm. 1. 25 S. Everson, 1997, Kap. 4. 26 Zu der Frage, wie und wann genau aus Wahrnehmungen phantasmata werden, äußert sich Aristoteles bedauerlicherweise nicht, s. dazu Frede, 1992, 284 f. Auch bleibt offen, inwieweit wir uns die kausale Vorgeschichte mentaler Vorkommnisse im Einzelfall wirklich bewusst machen können. 27 »Es erscheint [fafflnetai] aber etwas, auch wenn keines von beidem [d. i. weder ein vernünftiger Denkakt noch eine Wahrnehmung] vorliegt, wie im Schlaf«, De anima, 428a; ausführlich dazu Rees, 1972, bes. 501. Da die phantasmata, die in Träumen und Halluzinationen auftreten häufig ebenso wenig der Kontrolle oder dem Einfluss unseres Willens unterliegen wie die meisten Inhalte der Wahrnehmung, scheidet das Merkmal der willentlichen Kontrolle als Unterscheidungskriterium hier aus. 28 De anima, 427b. 29 De anima, 429a. Die Behauptung, dass alle Vorstellungen und auch alle Gedächtnisinhalte in letzter Konsequenz und ohne Ausnahme auf frühere Wahrnehmungen zurückzuführen sind, ist später eine der Kernthesen des britischen Empirismus, s. u. Abschnitt 2.1 ff. Die Tatsache, dass auch Aristoteles sie im Hinblick auf phantasmata vertritt, ist nur dann ›eigenartig‹ (Frede, 1992, 293), wenn man die Kontinuität der Begriffsgeschichte ausblendet. 23 24
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täten, die, anders als Wahrnehmungen, weiterbestehen können, wenn der Gegenstand entfernt wird, der sie unmittelbar verursacht. Diese Bestimmung definiert ein Abhängigkeitsverhältnis der geistigen Vermögen: die Tätigkeit der Wahrnehmung ist Voraussetzung für die Tätigkeit der phantasia, und deren Aktivität wiederum ist Voraussetzung der Verstandestätigkeit. 30 So rückt das Vermögen an eine Stelle zwischen Verstand und Wahrnehmung, eine Bestimmung, mit der Aristoteles den Rahmen für die Diskussion seiner Nachfolger vorgibt. Sie wirkt bis heute nach und ist damit noch erfolgreicher als seine These, die Inhalte der Wahrnehmung prägten sich dem Geist so ein, wie der Siegelring dem heißen Wachs; 31 denn diese These wird mit Beginn der Neuzeit rigoros in Frage gestellt.
1.2 Epikureer, Stoa, Neuplatonismus Über lange Zeit ändert sich an dem von Aristoteles mehr noch als durch Platon vorgegebenen Verständnis der phantasia nichts Grundlegendes. Epikur (4./3. Jhd. v. Chr.) und seine Schule nehmen die aristotelische Bestimmung der phantasia auf, bleiben aber durchgehend dabei, sie als die Fähigkeit zu betrachten, die es erlaubt, Inhalte willentlich aufzurufen. 32 Dies gilt auch für die stoische Diskussion; allerdings bereichert sie die Auseinandersetzung um einen Aspekt, der in der Folgezeit zunehmende Bedeutung gewinnt. Phantasia ist hier nicht länger nur das Vermögen, Abwesendes vorzustellen, das zu einem früheren Zeitpunkt tatsächlich durch die Wahrnehmung gegeben wurde, sondern sie kann dem Geist auch Inhalte präsentieren, die keine derartige Grundlage haben. Sextus Empiricus, dessen Darstellung wegen der lückenhaften Überlieferung von Originaltexten eine der wenigen Quellen für die Gedanken der Stoa ist, berichtet, dass die stoische Theorie zwiErst die Wahrnehmung versorgt die phantasia mit Inhalten, und ohne deren Fähigkeit Abwesendes vorzustellen, hätte der Verstand keine Möglichkeit, frühere Wahrnehmungsinhalte mit aktuellen zu vergleichen und zu verbinden, noch könnte er Schlüsse ziehen; vgl. De anima, 427b. 31 De anima, 424a. 32 Epikur gibt den Ton für seine Nachfolger vor, wenn er phantasiai als Vorstellungen bestimmt, »die wir durch einen Akt der geistigen oder sinnlichen Wahrnehmung erlangen«, welche die Form des jeweiligen Gegenstandes erfasst, Fragmente, 28 f./§ 50; vgl. auch etwas später, in demselben Brief, Fragmente, 50 f./§ 80. 30
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schen denjenigen phantasiai unterscheidet, die ihren Gegenstand vollständig und richtig erfassen und direkt auf einen Gegenstand zurückgehen, 33 und denjenigen, bei denen dies nicht der Fall ist. Dabei handelt es sich um phantasiai, die durch Wahn, Krankheit, 34 Visionen oder allgemein durch weitere geistige Vorgänge zustande kommen. 35 So haben »viele Vorstellungen ihren Ursprung in etwas, das nicht existiert, wie es bei Wahnsinnigen der Fall ist, und diese Vorstellungen erfassen nichts.« 36 Gab es für Aristoteles noch keinen Anlass, phantasmata unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass sie etwas vorstellen könnten, was sich so in der Welt nicht findet, weil für ihn alle Vorstellungsinhalte durch (frühere) Wahrnehmungen einer äußeren Realität veranlasst sein mussten, kommt in der stoischen Auseinandersetzung mit der Phantasie zum ersten Mal der Gedanke auf, dass Vorstellungen fiktive Inhalte besitzen können. Er ist seitdem ein Bestandteil der Begriffsbestimmung, auch wenn die stoische Philosophie die epistemischen Implikationen der phantasiai oder phantasmata, die keinen Bezug auf reale Gegenstände oder Ereignisse haben und von der phantasia unter bestimmten Bedingungen selbst hervorgebracht werden, nicht weiter verfolgt. 37 Dennoch: Philostrat formuliert im dritten Jahrhundert den Gedanken fiktiver Vorstellungsinhalte in seinen Dialogen bereits mit großem Nachdruck und verbindet ihn mit einer Wertung. Er stellt den »Fantasfflai katalhptikaffl«, Adversos mathematicos, 1.247–252, passim. Adversos mathematicos, 1.247. 35 »Fantasfflai o' katalhptikaffl«, loc. cit. Vorstellungen allgemein werden als Eindruck (tÐpwsi@ ¥n vuc–», Adversos mathematicos, 1.228), von einigen Stoikern auch als Veränderung ( terofflwsi@ vuc»@, Adversos mathematicos, 1.230) der Seele betrachtet; so »[that] the term extends to dreams and visions and to any ›movement‹ of consciousness; all the ›goings-on‹ in the mind are phantasiai and the mind’s attention to these ›goings-on‹ is thought«, Cocking, 1991, 23. 36 »Ouk n een katalhptikaffl«, Adversos mathematicos, 1.249. 37 Je nachdem, welches Gewicht man dem Gedanken beimisst und wie man ihn interpretiert, lässt sich an dieser Stelle bereits die Vorlage für die neuzeitliche Konzeption der Phantasie lokalisieren. Es liegt hier jedenfalls nahe, eine »third classical theory of imagination« auszumachen (Flory, 1996, 147–167; 163), »[which] manifests a surprising closeness to our modern ways of thinking about imagination, a closeness that the other two classical treatments [i. e. of Plato and Aristotle] do not appear to share to the same degree«, loc. cit., 148. Eine Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass es in diesem Zusammenhang etwas vorschnell ist, von einer stoischen ›Theorie‹ zu sprechen, denn die Textgrundlage für eine solche Behauptung ist, wie Flory selbst zugibt, sehr spärlich, loc.cit. 149. 33 34
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Begriff der phantasia und den Begriff der ›Nachahmung‹, der schon bei Platon und Aristoteles im Zusammenhang der Tätigkeit der Dichter eine Rolle gespielt hatte, einander explizit gegenüber und stellt fest, dass die phantasia der bloßen Nachahmung überlegen sei. Zur Begründung dieser Behauptung verweist er ausdrücklich darauf, dass sie eben gerade nicht auf tatsächlich Wahrgenommenes angewiesen sei, sondern vielmehr in der Lage, ihre Gegenstände selbst hervorzubringen: »Die phantasia ist eine Künstlerin, weiser als die Nachahmung, denn die Nachahmung kann nur das hervorbringen [dhmiourge…n], was sie gesehen hat; die phantasia aber auch das, was sie nicht gesehen hat, denn sie nimmt dieses als Ersatz für die Wirklichkeit [¢poqffisetai gÞr a't pr@ t¼n ⁄naforÞn to‰ nto@]; und Nachahmung wird oft durch Erschütterung erschreckt, die Phantasie aber nicht, denn sie geht ohne Erschrecken in Richtung ihres selbstgesetzten Ziels.« 38
Auch wenn es hier in erster Linie um eine ästhetische Frage geht, so ist die Äußerung auch für die Bestimmung der Phantasie in epistemischen Kontexten relevant. Denn erstmals wird der Fähigkeit ausdrücklich eine produktive Bedeutung zugeschrieben. Cicero dagegen hatte in einem ähnlichen Zusammenhang noch eine ganz andere Erklärung vorgeschlagen für die Vorstellung von Dingen, die nicht in der Wahrnehmung gegeben sind; sie imitiere vielleicht keinen wirklichen Gegenstand, aber doch ein irgendwie ›angeschautes‹ Ideal: »Auch hat jener Künstler, als er die Gestalt des Zeus oder der Athene bildete, nicht irgendein Modell betrachtet, von dem er dann die Ähnlichkeit herleitete; ihm schwebte vielmehr im Geist ein Bild außergewöhnlicher Schönheit vor, das er anschaute und auf das konzentriert er nach diesem Vorbild seine Künstlerhand lenkte.« 39
Philostratos, Vita Apollonii, 6.19. Auch wenn die Übersetzung des Nachsatzes hier einigen Raum für Interpretation lässt, so ist der Hauptpunkt – dass die phantasia auch Nicht-Wahrgenommenes hervorbringen kann – unkontrovers; s. auch Ritter, 1989, 521; und Schweitzer, 1934. Cocking weist darauf hin, dass an dieser Stelle dennoch viele Fragen offen bleiben: »Philostratus, for the modern reader, raises any number of questions which he does not begin to answer. He seems to imply that the human mind naturally tends to re-represent of its own accord, in its own terms, what it finds represented to perception in the natural world, and that in default of the ability to create the forms necessary to do this it will make use of the natural approximations to the painter’s formal means.« Cocking, 1991, 45. 39 Cicero, De oratore 2.9. Im Originaltext stehen weder der griechische Ausdruck phantasia noch sein lateinisches Äquivalent imaginatio; stattdessen spricht Cicero von for38
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Ciceros Behauptung weist darauf hin, dass die menschliche Fähigkeit zur Darstellung von Inhalten, die sich nicht auf eine frühere Wahrnehmung zurückführen lassen, nicht unbedingt einem ›produktiven‹ Vermögen zugeschrieben werden muss, sondern auch in einem Modell der ›Nachahmung‹ erklärt werden kann – wenn man denn bereit ist, sich auf metaphysische Vorannahmen über den ontologischen Status von Abstraktionen oder Idealvorstellungen einzulassen. 40 Auch die weitere Diskussion der phantasia in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung findet vor allem im Kontext der Rhetorik und Dichtung und weniger im Zusammenhang epistemischer Fragen statt; einige der Charakterisierungen fließen allerdings in die spätere erkenntnistheoretische Diskussion der Phantasie ein. Quintilian übersetzt in seinem Leitfaden für den Redner (Institutio Oratoria, 1. Jhd.) ›phantasiai‹ mit ›visiones‹ 41 beziehungsweise mit ›imagines‹. Sie sind Vorstellungen von »abwesenden Dingen« 42 , von Gegenständen, Stimmen, Ereignissen 43 , sofern wir diese in hinreichender Wirklichkeitstreue und Lebhaftigkeit im Geist aktualisieren oder vorstellen können. Neben dem tatsächlich Vorgefallenen kann zudem auch das Inhalt einer Vorstellung sein, was hinreichend glaubhaft dargestellt werden kann, selbst wenn es keine direkte Entsprechung in der Wirklichkeit hat – in diesem Fall operiere die Vorstellungskraft »gleichsam als ob wir am hellen Tage träumen« 44 . Die freie Erfindung von Vorstellungsinhalten orientiert sich für Quintilian insgesamt dennoch eng an der Wirklichkeit. Dies belegen seine Beispiele, in denen es ausschließlich um (mögliche) Alltagssituationen geht: Schiffsreisen, Vortragsreden, die Vorstellung von Wohlstand oder die Vorstellung eines Kampfes. 45 Ähnlich wie Cicero sieht Quintilian die Aufgabe der Phantasie primär im Kontext der rhetorischen Wirkung. Ihre visiones sind ein wichtiges Mittel, um im Vortrag zu überzeugen, weil sie dabei helfen, allein durch Sprache lebhafte und ma, similitudo, species und idea. Sein Ausdruck ›visum‹ scheint die Wiedergabe des stoischen ›fantasffla katalhptikffi‹ zu sein, vgl. Cocking, 1991, 72. 40 S. dazu Panofsky, 1924, bes. 5–12. 41 Quintilian, Institutionis Oratoriae, 6.2.29. 42 »Per quas imagines rerum absentium ita representatur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur«, loc.cit. 43 Res, voces, actus; Institutionis Oratoriae, 6.2.30. 44 Institutionis Oratoriae, 6.2.30. 45 Loc. cit. A
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wirksame Bilder vor dem ›inneren Auge‹ entstehen zu lassen. Diesen Gedanken greift auch die in etwa zeitgleiche, fälschlich Longinus zugeschriebene Schrift über das Erhabene auf: »Allgemein bezeichnet das Wort ›Vorstellung‹ [phantasia] überhaupt jeden auftretenden Gedanken, der einen sprachlichen Ausdruck erzeugen kann. Aber das Wort wird auch besonders dann benutzt, wenn man – fortgerissen von Begeisterung und Leidenschaft – das zu erblicken scheint, was man schildert, und es vor die Augen der Zuhörer stellt.« 46
Anders als bei Quintilian wird im Anschluss zusätzlich zwischen dem rhetorischen und dem dichterischen Einsatz der Phantasie unterschieden. Zwar dient die phantasia sowohl in der Dichtung als auch in der Rhetorik dazu, das Publikum »zu erregen und mitzureißen« 47 . In der Rhetorik kommt es allerdings auf Klarheit, Eindringlichkeit in der Darstellung und »Wirklichkeit und Wahrheit« an, 48 während die dichterische phantasia ihr Publikum auch dann nötigt, »fast mit eigenen Augen zu erblicken, was sie erschuf [¥fant€sqh]«, 49 wenn dabei die Grenze des Glaubwürdigen überschritten wird. 50 In der Spätphase des (etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts so genannten) Neuplatonismus im vierten und fünften Jahrhundert setzt ein Wandel in der Bewertung der Phantasie ein. So bezieht sich etwa Proclus (5. Jhd.) bei seinen Ausführungen zwar zunächst auf die antike Tradition, 51 greift aber dann den späteren Gedanken auf, dass die phantasia ihre Gegenstände auch selbst hervorbringen kann. Er führt ihn konsequent weiter und macht diese Eigenschaft der Phantasie für die meisten unserer Irrtümer verantwortlich. 52 Mit dieser Feststellung legt er den Grundstein für die ambivalente Bewertung der phantasia, die ihre epistemische Reflexionsgeschichte seitdem begleitet. Einerseits lässt sich die zentrale Funktion der Phantasie nicht bestreiten, andererseits zieht sie als (eine) Ursache des Irrtums auch in besonderem Maß das Misstrauen der Erkenntnistheorie auf sich: »Proclus […] has the
»Kale…tai mþn gÞr koin @ fantasffla p”n t ¡pwso‰n ¥nnhma gennhtikn lgou parist€menon.«, Pseudo-Longinus, De sublimitate, 15.1. 47 De sublimitate, 15.2. 48 De sublimitate, 15.8. 49 De sublimitate, 15.2. 50 Vgl. De sublimitate, 15.8. 51 S. z. B. Proclus, In Cratylum, 44. 52 Proclus, In Alcibiadem, 103 f. 46
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mystic’s distrust of phantasy, but he cannot ignore its essential function«. 53 Eine zweite Strömung des Neuplatonismus beeinflusst vor allem die nachfolgende Wahrnehmung der Phantasie in ästhetischer Hinsicht, obwohl sie das Vermögen vordergründig durchaus mit der Frage des Wissens zusammenbringt. Sie artikuliert sich etwa bei Synesius Cyrenensis (4./5. Jhd.), einem prominenten Vertreter der neuplatonischen Schule von Alexandria. Für den Zeitgenossen von Proclus wird die phantasia das paradigmatische Vermögen des ›Wissens‹ und der Freiheit, und er versucht mit ihrer Hilfe ein Problem zu lösen, dem jede dualistische Ontologie gegenübersteht: das Problem der Verbindung verschiedener Gegenstandsbereiche. Seine Schrift über den Traum 54 entwickelt den Gedanken einer geistigen Alternativwelt der ›Formen‹ und des wirklichen ›Seins‹, die sich ausschließlich durch die vermittelnde Tätigkeit der phantasia erschließt. 55 Damit erweitert er die aristoteBundy, 1927, 263. De insomniis; die Entstehung der Schrift wird um das Jahr 404 datiert; damit fällt der Text in die Zeit vor dem Übertritt seines Autors zum Christentum. 55 Unser ›Leben‹, soweit es in dieser Welt stattfindet, ist je nach gesundheitlicher Verfassung der Seele besser oder schlechter als unser alltägliches: »Zw¼n g€r tina t¼n katÞ fantasfflan ¡ lgo@ ¥tfflqeto, n‰n mþn beltfflw, n‰n dþ cefflrw t»@ mffsh@, £@ n ¢gieffla@ ˛c–h t pne‰ma ka½ nsou«, De insomniis, 153a; vgl. 137d. Der Verweis auf den Gesundheitszustand erscheint zunächst unmotiviert, wird aber verständlich, wenn man sich die Parallelisierung vor Augen führt, die Synesius hier unternimmt. Ähnlich wie die phantasia (bei Synesius auch oft ›phantastikon pneuma‹) nicht immer zuverlässig arbeitet, sind auch die Sinne nicht immer zuverlässig und täuschen uns gelegentlich; De insomniis 136b–d. Hierfür gibt es, so meint Synesius, eine Entsprechung im Fall der phantasia, nämlich den gestörten Zustand der Seele. Dieser beeinträchtig unsere Fähigkeit, Verbindung zur Realität der Götter aufzunehmen, in einer ähnlichen Weise, wie etwa große Entfernung oder schlechte Beleuchtung die visuelle Wahrnehmung beeinträchtigen. Das heißt, wenn wir den Sinnen trotz ihrer gelegentlichen Unzuverlässigkeit im Großen und Ganzen vertrauen, dann spricht nichts dagegen, im Hinblick auf die phantasia ebenso zu verfahren. – Auch Synesius beruft sich vor allem auf die Spätphilosophie Platons, etwa wenn er seine Leser mit einem Blick auf den Timaios-Dialog nachdrücklich dazu auffordert, ihre ›kreativen‹ Fähigkeiten zu entwickeln, s. De insomniis, 143a; 145d–146a. Und auch mit der Behauptung, das ›phantastikon pneuma‹ öffne »der Seele den Weg zur vollendeten Einsicht der Welt« (De insomniis, 135a), nimmt er Platons widerwilliges Zugeständnis in diesem späten Dialog auf, Visionen könnten »wenigstens in gewisser Weise mit der Wahrheit in Berührung treten«, Timaios, 71d–e; vgl. 52a–b. Bemerkenswert ist, dass Synesius trotz seiner positiven Bewertung der Phantasie die Vorgabe nicht preisgeben möchte, dass Vernunfterkenntnis noch über den visionären Einsichten dieses Vermögens steht. Er beruft sich dabei ausdrücklich auch auf Philebos, 21e–d, wo es darum geht, dass jede emotionale Regung auszuschließen sei, um die 53 54
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lische Vorgabe erheblich. Bestand die Aufgabe der phantasia dort in der Vermittlung zwischen verschiedenen geistigen Vermögen, bestimmt Synesius sie nun als Verbindungsglied zwischen den ontologisch differenten Welten des Werdens auf der einen und der Formen oder des wirklichen Seins auf der anderen Seite. 56 Eine epistemische Dimension erhält seine Bestimmung der Phantasie durch die Behauptung, der Geist könne im Traum tatsächlich in die (göttliche) Welt der Formen aufsteigen 57 und dort ›Wissen‹ erwerben. 58 Auf diesem Weg sei sogar der Erwerb alltäglicher Fertigkeiten möglich. 59 Dennoch ist das eigentliche Thema hier Präkognition, ›Wissen‹ von der Zukunft, 60 und die Theorie bewegt sich damit außerhalb der Diskussion um die Begründung und die Grenzen unseres Wissens, wie die Philosophie sie heute führt. Dies unterstreicht auch die Terminologie; anstelle des in philosophischen Zusammenhängen üblichen Begriffs episteme für ›Wissen‹ steht bei Synesius der in der Mystik gebräuchliche Ausdruck gnosis. Dennoch bricht Synesius nicht vollständig mit der Tradition, sondern verschiebt hier eher die Akzente der Platon–Rezeption, indem er sich besonders auf den Timaios bezieht. 61 Auf der Grundlage dieses späten Dialogs entwickelte Plotin im dritten Jahrhundert die noch heute vor allem mit seinem Namen verbundene ›Emanationslehre‹. 62 Die›Formen‹ angemessen erfassen zu können: »denn Geist und Verstand, sagt Platon, soll derjenige ehren, den sie im Alter begleiten, wobei er dasjenige Denken meint, welches sich über die phantasia hinwegsetzt«, De insomniis, 137c. 56 De insomniis, 134b f.; 137a; 138b; 151d. Damit entspricht sie in ihrer Funktion in etwa derjenigen, die Descartes der Zirbeldrüse zuschreibt. 57 S. De insomniis, 140b ff.; 141d. 58 De insomniis, 148a; 134 c–d; wir können diesen Vorgang zwar nicht forcieren, aber durch die Abkehr von den materiellen Dingen die Bedingungen für das Auftreten von Visionen erleichtern, De insomniis, 143a–144a. – Synesius geht hier offensichtlich über die ursprüngliche Absicht des Höhlengleichnisses aus Politeia, 517b hinaus, dessen Ziel es war, das Erfassen der Formen durch die Vernunft zu illustrieren. 59 So sei es etwa möglich, dass ein völlig ungebildeter Mensch als ausgebildeter Sänger aufwache, De insomniis 134d. – Der Gedanke, durch Träume könne ›Wissen‹ erworben werden, ist nicht originär; eine entsprechende Position, auch was das ›Wissen‹ von Zukünftigem und durch Visionen angeht, vertritt bereits Iamblichus (3./4. Jhd.); s. Bundy, 1927, 134; 136. 60 Das kündigt auch Synesius selbst bereits im ersten Satz der Abhandlung an; s. De insomniis, 148a; 150c–d. 61 Platon, Timaios, bes. 37c–38b. 62 Ob Plotin als der ›Gründer‹ des Neuplatonismus gelten kann, ist allerdings strittig, u. a. weil von Ammonius Saccus (2./3. Jhd.), dem ebenfalls ein wichtiger Impuls für
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se beschreibt den Schöpfungsakt als einen mehrstufigen Vorgang, der durch einen in der Folgezeit ›Emanation‹ genannten Prozess den Geist als eine »Nachahmung und [ein] Abbild« 63 seiner selbst hervorbringt. So ist der Geist bereits ›Vielheit‹ und zusammengesetzt, 64 zugleich »Inbegriff alles Seienden« 65 und enthält gewissermaßen die Formen für alle Einzeldinge, u. a. auch für die Seele, die wiederum aus ihm hervorgeht. 66 Der Kerngedanke der Emanationslehre, soweit es hier von Bedeutung ist, ist die streng hierarchische Gliederung der Welt, in der sich die Stellung des Menschen und seiner Vermögen durch ihre Position auf einer Stufenleiter bestimmt, an deren einem Ende immaterielle Perfektion und an deren anderem eine defizitäre materielle Welt steht. 67 Dies ist der Gedanke, den Synesius in seiner Theorie in den Vordergrund stellt, wenn er die Phantasie als das Vermögen charakterisiert, das es dem Menschen erlaubt, in Kontakt zur wahren Welt des Geistes zu treten. Er charakterisiert sie als Fähigkeit zweiter Stufe, als ein immaterielles ›Organ‹ der »unmittelbaren Wahrnehmung«, für das die normalen Sinnesorgane nur eine nachgeordnete Funktion haben können. 68 Durch ihre Verbindung mit der immateriellen und mit unseren normalen Sinnen nicht wahrnehmbaren göttlichen Welt der diesen Strang der Platon-Rezeption zugeschrieben wird, keine Schriften erhalten sind. Gesichert ist, dass Plotin die erste ›neuplatonische‹ Schule in Rom gründete, s. Wallis, 1972, 37 ff. und Harris, 1976. – Trotz Plotins Wichtigkeit für den Neuplatonismus ist sein Beitrag zur Begriffsgeschichte der Phantasie eher gering. Er diskutiert das Vermögen, so wie im Anschluss an De anima, 427b f. oft üblich, im Kontext der Gedächtnisfunktionen, s. Plotin, Enneades, 4.3.29–30; 4.4.17; s. auch 4.4.3–4; 4.4.13; 4.4.20. Dabei übernimmt er auch den aristotelischen Gedanken, dass »jeder Denkakt von einer Vorstellung begleitet wird«, Enneades, 4.3.30. 63 Enneades, 5.4.2. 64 Loc. cit. 65 Enneades, 6.9.2. 66 Enneades, 5.2. 67 Anlass für solche oder ähnliche Überlegungen gibt die Schöpfungsgeschichte des Timaios zweifellos, wenn dort ausführlich die Genese der Welt der Erscheinung, der Alltagswirklichkeit, als »bewegtes Bild der Ewigkeit« (Timaios, 37d) dargestellt wird. Für Synesius und in der christlichen Diskussion sind die Gedanken der Emanationslehre oft an zentralen Stellen als Hintergrundtheorie präsent (hier z. B. De insomniis 131c–132d), obwohl die christliche Umsetzung selbstverständlich terminologische Anpassungen bedingt. 68 De insomniis, 135d–136b; vgl. 134b; 136d; 151b. »A—sqhsi@ gÞr a§sqffisewn a˜th, ˆti t fantastikn pne‰ma, kointatn ¥stin a§sqhtffirion, ka½ s ma pr ton vuc»@«, De insomniis, 135d–136a. Eine derartige ›Fähigkeit‹, »an immaterial function having no physical organ«, bleibt selbstverständlich nicht nur für Synesius, sondern für A
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Formen einerseits und den übrigen menschlichen Fähigkeiten andererseits, 69 kann sie den Formen eine Gestalt geben, sie in etwas übersetzen, was unserer Erkenntnis (bzw. unserer Seele) zugänglich ist. 70 Dazu muss sie Gegenstände ›erschaffen‹ 71 und sogar ›unmögliche‹ Dinge vorstellen. 72 Paradoxerweise wird dadurch gerade eine Eigenschaft der phantasia, die sie später vielen Philosophen in epistemischer Hinsicht suspekt macht, nämlich ihre weitgehende Freiheit von Regeln, zur maßgeblichen Begründung für die positive Bewertung bei Synesius. Ausgerechnet ein Vermögen, das in seiner Arbeitsweise flexibel und produktiv ist und dadurch prima facie epistemisch wenig zuverlässig erscheint, soll hier den direkten Zugang zur ›Wahrheit‹ ermöglichen. 73 Diese Einschätzung ist – abstrahiert man vom metaphysisch voraussetzungsreichen Kontext der gnostischen Lehre – durchaus interessant. Denn sie lässt sich nach einer langen Unterbrechung, in der die Phantasie in der Erkenntnistheorie als ein zwar notwendiges, aber hochgradig unzuverlässiges Vermögen wahrgenommen wurde, erst in einer völlig anderen theoretischen Umgebung wieder nachweisen: bei Immanuel Kant. Für Kant sind es ebenfalls genau die von Synesius gelobten Eigenschaften, ihre Flexibilität und Produktivität, welche die ›Einbildungskraft‹ zu dem zentralen Vermögen für die Erklärung der Genese und der Rechtfertigung unseres Wissens machen. Ebenso wie bei Synesius kann auch nach Kant erst die produktiv verbindende Tätigkeit der Phantasie der Welt ihre Form geben. Proclus auf der einen und Synesius auf der anderen Seite markiealle dualistischen Theorien, die eine ähnliche Lösung des Verbindungsproblems verfolgen, »the great paradox of the human mind«, Bundy, 1927, 264. 69 De insomniis, 137a. 70 De insomniis, 134a–b. Abgesehen von Momenten direkter Einsicht der Formen (s. De insomniis 137a) ist dies die einzige Möglichkeit, die Wahrheit zu erfassen. 71 De insomniis, 153c–d »4Otan dþ t–» fantasfflai ¥cwq»tai mþn to‰ enai tÞ nta, ⁄nteis€ghtai dþ e§@ t enai tÞ mhdam» mhdam @ mffite nta, mffite fÐsin ˛conta enai, tffl@ mhcan¼ to…@ o—koqen ⁄nennoffitoi@ parast»sai fÐsin ⁄katonmaston«, De insomniis, 153c. 72 De insomniis, 154c–d. 73 »Derjenige, dessen phantastikon pneuma rein ist und gut ausgebildet, empfängt einen wahren Eindruck, sei es nun im Wach- oder im Traumzustand«, De insomniis, 142a–b. Auch eine noch so verlässliche Sinneswahrnehmung dagegen kann, weil sie sich nach der Emanationslehre auf eine bloße Kopie bezieht (De insomniis, 141d–142a), der Wahrheit niemals so nahe kommen wie das Erfassen des Originals durch die phantasia; s. auch De insomniis, 149b–150a.
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ren mit ihren jeweiligen Positionen die Bandbreite, innerhalb derer sich die Diskussion des Neuplatonismus bewegt. Beide berufen sich auf die Ausführungen des Timaios. Unterschiedlich ist jedoch ihre Bewertung der Phantasie. Proclus stellt dabei das eine Extrem dar, wenn er die phantasia im Einklang mit der (aristotelischen) Tradition als ein Vermögen zwischen Wahrnehmung und Verstand charakterisiert, sie für die Irrtümer des Menschen verantwortlich macht und ihre Leistung deshalb negativ bewertet. Synesius auf der anderen Seite erweitert dagegen das überlieferte Modell und verortet in der phantasia bzw. im phantastikon pneuma das Verbindungsglied zwischen Geist und Materie. 74 Als Voraussetzung der Erkenntnis der ›wahren Natur‹ der Dinge bewertet er sie deshalb entsprechend positiv. Trotz dieser unterschiedlichen Bewertung stellen sowohl Proclus als auch Synesius die aktiven und produktiven Aspekte der Phantasie heraus. So trifft die Diskussion des Neuplatonismus bereits folgenreiche Vorentscheidungen für spätere Bestimmungen der Phantasie.
1.3 Augustinus und Thomas Sowohl Augustinus (4./5. Jhd.) als auch Thomas von Aquin (13. Jhd.) stehen in exemplarischer Weise für die Diskussion der Phantasie unter christlichen Vorzeichen. Augustinus markiert eine sehr frühe, Thomas eine sehr späte Station der mittelalterlichen Auseinandersetzung. Sie fassen die Tendenzen in der Argumentation ihrer Zeit zusammen, und ihre Theorien der Phantasie sind vor allem in der Synthese des Materials originell, nicht weil sie genuin neue Wege einschlagen. Auch wenn Augustinus ein Zeitgenosse Synesius’ war, so unterscheiden sich ihre Theorien erheblich, denn anders als bei Synesius ist bei Augustinus die Anpassung des antiken und neuplatonischen Gedankenguts an die Erfordernisse der christlichen Metaphysik bereits deutlich ausgeprägt. 75 Zwei Dinge sind in seinen Ausführungen von Dass die Phantasie im Verlauf seiner Überlegungen für Synesius zu einem Vermögen zweiter Stufe wird, weist ebenfalls historisch weit voraus auf die Theorie Kants, vor allem im Hinblick auf die Interpretation, die Heidegger dessen Theorie der Einbildungskraft gibt; s. u. Abschnitt 2.5. 75 Allgemein gilt: die mittelalterliche Auseinandersetzung mit der Tradition war selektiv und eklektisch, »the philosophy of Aristotle had been made to accommodate Christian teachings. […] The religious reformers […] had to construct the new foundations 74
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besonderer Bedeutung. Erstens eine systematische und terminologische Differenzierung, die dazu führt, dass der Begriff schärfere Umrisse bekommt und die Phantasie unwiderruflich als ein eigenständiges Vermögen wahrgenommen wird; mit seiner deutlichen Differenzierung von Phantasie, Erinnerung und Wahrnehmung befördert Augustinus diese Entwicklung erheblich. Damit einher geht, zweitens, die wachsende Aufmerksamkeit für den Aspekt der Rekombination, der in der Folgezeit schließlich als das wichtigste Merkmal der Phantasie wahrgenommen wird. In konzentrierter Form findet sich Augustinus’ Theorie in einem Brief aus dem Jahr 389. Er ist die Reaktion auf eine Anfrage, deren Verfasser Nebridius offensichtlich behauptet hatte, ohne phantasiai sei jede Erinnerung unmöglich. 76 In seiner Stellungnahme tritt Augustinus dieser These entschieden entgegen. Zur Begründung verweist er auf Platon, besonders auf die Anamnesislehre und die Sokratische Mäeutik. Zunächst versucht er im Rückgriff auf sie nachzuweisen, dass man sich nicht nur an Vergangenes erinnern kann, sondern dass dies auch bei Gegenwärtigem möglich ist. 77 Denn kommt, wie Platon behauptet, den ›Formen‹ eine ewige Existenz zu, sollten sie tatsächlich unwandelbar und unveränderlich sein und die Seele, als einstige Bewohnerin der Welt der Formen, sie bereits erfasst, bei ihrem Eintritt in die Welt der Körper aber zum Teil vergessen haben, ist dies relativ einfach. Es muss dann nur gezeigt werden, dass unserem Geist diese Formen durch gezieltes Fragen erneut zugänglich werden können – wie Platon dies etwa im Menon eindrucksvoll vorführt –, um zu belegen, dass wir uns in der Tat auch an Gegenwärtiges erinnern können. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen ist die Schlussfolgerung, dass es »Erinnerung ohne jede Vorstellungstätigkeit geben [kann]«, 78 nachvollziehbar, auch wenn sie selbstverständlich problematisch bleibt. Dies appropriate for the reformed faith. The result […] was often an intellectual system whose structure was Aristotelian but whose content was an odd collection of Aristotelian and non-Aristotelian ideas«, Mercer, 1993, 44. 76 »Memoria tibi nulla videtur posse sine imaginibus vel imaginariis visis, quae phantasiarum nomine appellare voluisti«, Epistola, 7.1. 77 Epistola, 7.2. 78 »Quamobrem si […] ipsa aeternitas semper manet, nec aliqua imaginaria figmenta conquirit, quibus in mentem quasi vehiculis veniat, nec tamen venire posset, nisi eius meminissemus, potest esse quarumdam rerum sine ulla imaginatione memoria«, Epistola, 7.2. In De trinitate, 12.15.24 diskutiert Augustinus, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, explizit die Thesen des Menon. Überraschenderweise begründet er
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nicht nur, weil die Voraussetzungen, auf die sich die ›Begründung‹ der These stützt, Teil einer gehaltvollen Metaphysik sind, sondern auch weil sich die Seele – selbst wenn die Annahme zeitloser ›Formen‹ unbeanstandet bleibt – schließlich immer noch an ihren vergangenen Zustand ›erinnert‹. Mit seiner Replik auf Nebridius’ Anfrage stellt Augustinus jedenfalls die bis dahin als weitgehend unproblematisch empfundene Einteilung in phantasia auf der einen Seite und Wahrnehmung und Gedächtnis auf der anderen in Frage. Neben dieser sachlichen Neubestimmung trifft Augustinus wichtige terminologische Festlegungen. Das, was Nebridius ›phantasia‹ bzw. ›phantasiai‹ nennt, bestimmt Augustinus als bildliche Vorstellung. 79 Er unterstreicht den visuellen Aspekt durch die durchgängige Verwendung der Ausdrücke ›imago‹ und ›visio‹. 80 Weiterhin unternimmt er eine Klassifizierung von Vorstellungen anhand ihrer Genese. Aus ihr leitet sich gleichzeitig eine inhaltliche Ordnung ab: »Alle jene Vorstellungen […] lassen sich, soweit ich sehe, […] in drei Klassen einteilen: die erste wird uns[erem Geist] durch die Gegenstände der Sinne, die zweite durch Fürwahrhalten/Annahme und die dritte durch die Vernunft eingeprägt.« 81
Die anschließenden Beispiele machen deutlich, dass die erste Klasse die Eindrücke der Sinneswahrnehmung sowie die Erinnerungen an sie umfasst; die zweite besteht in Annahmen darüber, wie sich Dinge verhielten oder verhalten werden, sowie solche Fiktionen, die zum Zweck des (wissenschaftlichen) Erkenntnisgewinns oder der Erklärung von Sachverhalten explizit eingeführt werden. Auf diese ›Vorstellungen‹ scheinen wir, anders als auf Sinneswahrnehmungen, durch unseren Willen Einfluss nehmen zu können, denn wir stellen sie wenigstens zum Teil bewusst und absichtlich her. In die dritte Kategorie schließlich fallen die abstrahierenden Fiktionen der Wissenschaft, etwa die verein-
dort die These, man könne sich auch an Gegenwärtiges erinnern, allerdings ohne sich ausdrücklich auf die Anamnesislehre zu beziehen, s. De trinitate, 14.11.14. 79 Epistola, 7.1; 7.4. 80 Augustinus verwendet im Übrigen dort, wo er nicht auf andere Positionen Bezug nimmt, für das Vermögen durchgängig das lateinische ›imaginatio‹ und ist damit der Erste, bei dem sich der konsequente Einsatz des lateinischen Ausdrucks in einem epistemischen Zusammenhang belegen lässt; s. auch Bundy, 1927, 158. 81 Epistola, 7.4. A
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fachenden Modelle, die als »Ergebnis [vernünftiger Überlegung] im Geist des Wissenschaftlers als Bild zurückbleiben.« 82 Welche Rolle spielt das Vermögen für diese Einteilung von Vorstellungen? Augustinus’ Antwort auf diese Frage ist bereits erstaunlich nahe an neuzeitlichen Bestimmungen der Phantasie: »die imaginatio [als Fähigkeit] des Geistes kann aus dem, was ihr die Sinne gegeben haben […] durch Wegnehmen und Hinzufügen etwas erschaffen, was in seiner Gesamtheit durch keinen Sinn wahrgenommen wurde; die einzelnen Teile dieses Gebildes aber hat sie anderswo und an anderen Gegenständen wahrgenommen.« 83
Bemerkenswert ist diese Bestimmung, weil sie in der Philosophie für lange Zeit in Vergessenheit gerät und erst zu Beginn der Neuzeit wieder in Erscheinung tritt. Sieht man von esoterischen Zusammenhängen ab, in denen es wie bei Synesius vorrangig um ein ›Wissen‹ von der Zukunft und um ›Erkenntnis‹ durch Visionen geht, ist Augustinus tatsächlich der Erste, der die rekombinatorischen Fähigkeiten der imaginatio in einem epistemischen Kontext explizit herausstellt und diesen Gedanken auch weiter verfolgt. So bestimmt er die Phantasie als ein Vermögen, das in der Lage ist, das im Geist vorhandene Material in kleinere inhaltliche Einheiten (Teilvorstellungen) zu zerlegen und diese zu neuen Vorstellungen zu verbinden. Das Ergebnis kann die Vorstellung eines wirklichen oder möglichen Erfahrungsgegenstandes sein, aber auch die Vorstellung von etwas, das so in der Welt nicht existiert oder existieren kann. Entsprechend soll es beispielsweise möglich sein, auch ohne direkte eigene Anschauung eine Vorstellung des Meeres durch die Veränderung der Vorstellung eines mit Wasser gefüllten Bechers zu bilden. Dazu muss die Phantasie die Teilvorstellung des Wassers um einige Größenordnungen erweitern und die Teilvorstellung des Bechers subtrahieren. Ebenso ist es allerdings möglich, sich das »Bild eines Raben, dessen Aussehen bekannt ist, gleichsam vor Augen zu stellen und durch Hinzufügen und Wegnehmen ein bisher nie gesehenes Bild daraus zu machen«. 84 Interessanterweise weist Augustinus in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass wir uns den Geschmack einer Frucht ohne einen Geschmackseindruck von ihr Epistola, 7.4; vgl. auch Confessiones, 10.17.26, wo er die Unterscheidung mit leichter Akzentverschiebung wiederholt. 83 Epistola, 7.6. 84 Epistola, 7.6; vgl. auch Confessiones, 10.8.14; De trinitate, 11.10.17. 82
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nicht vorstellen können, und zieht damit der imaginativen Tätigkeit Grenzen. 85 Bemerkenswert ist dies deshalb, weil hier eine Parallele zu einer sehr viel späteren Diskussion besteht, die unter völlig anderen theoretischen Vorzeichen im Britischen Empirismus stattfindet. Eine der grundsätzlichen Unterscheidungen, die dort im Hinblick auf Vorstellungen getroffen wird, ist die zwischen ›simple ideas‹ und ›complex ideas‹, motiviert durch die Einsicht, dass wir mit einigen Vorstellungsinhalten direkt durch Wahrnehmung bekannt sein müssen [simple ideas], bei anderen aber eine mittelbare Beziehung ausreicht [complex ideas]. Die Differenzierung dient dort also der Erklärung dafür, dass die kombinatorische Tätigkeit der imagination einige Vorstellungen unmöglich aus anderen Vorstellungen oder Teilen von Vorstellungen erzeugen kann. 86 Augustinus’ Theorie lenkt mit seiner Behauptung in Erweiterung der stoischen fantasfflai o' katalhptikaffl die Aufmerksamkeit damit auf den Aspekt der Phantasie, der später zu ihrem bestimmenden Merkmal wird: ihre kombinatorische Tätigkeit in epistemischen Zusammenhängen. 87 Die Behauptungen und Argumente des 7. Briefes finden ihre ausführlichere Entsprechung in anderen Werken, vor allem im 10. Buch der Confessiones (um 400), und an einigen Stellen der Schrift über die Dreieinigkeit. Ein kurzer Blick auf die umfangreicheren Texte stellt die nüchtern durchgeführte und kompakte ›psychologische‹ Analyse des Briefes in einen größeren Zusammenhang. So wird erst in den Confessiones deutlich, dass Augustinus das Gedächtnis (memoria) als eine Voraussetzung der imaginatio betrachtet. Dort setzt er die Fähigkeit der Erinnerung ausdrücklich mit dem menschlichen Geist selbst gleich 88 und bezeichnet das Gedächtnis als den »Magen des Geistes«; 89
Epistola, 7.6. »We cannot form to ourselves a just idea of the taste of a pine-apple, with out having actually tasted it«, Hume, Treatise, 5/1.1.1.9; s. auch Locke, Essay, 2.1.6/107. Bei Augustinus heißt es: »niemand kann sich die folgenden Dinge irgendwie vorstellen: eine Farbe oder eine körperliche Gestalt, die er niemals sah, einen Ton, den er niemals hörte, einen Geschmack, den er niemals schmeckte, oder einen Geruch, den er niemals roch, und auch nicht irgendeine körperliche Belastung, die er niemals spürte«, De trinitate, 11.8.14. 87 S. auch Bundy, 1927, bes. 162–164. 88 Z. B. »ego sum, qui memini, ego animus«, Confessiones, 10.16.25; »ipsam memoriam vocantes animum«, Confessiones, 10.14.21. 89 Confessiones, 10.14.21. 85 86
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im Gedächtnis sei »alles aufbewahrt, was auch immer wir denken«. 90 Da die imaginatio für ihre Operationen auf die Inhalte des Gedächtnisses angewiesen ist, macht sie diese Annahme also zu einer nachgeordneten Fähigkeit. 91 Alle systematischen Bestimmungen der Phantasie finden bei Augustinus, wie oben bereits angedeutet, unter theologischen Vorzeichen statt. So vertritt er die These, dass das Gedächtnis die Stelle sei, an der Gott im Menschen präsent ist, 92 was die Untersuchung der memoria offensichtlich theologisch motiviert. Dass sie zugleich epistemisch interessant ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in seinem gesamten Werk, wenigstens aber im Zusammenhang der Diskussion der kognitiven Fähigkeiten des Menschen, kaum eine längere Passage gibt, die nicht direkt einer theologischen Absicht entspringt, denn diese methodologische Anlage führt zu einer erheblichen Veränderung der platonischen Vorgaben, die hier im Hintergrund präsent sind. Ging es bei Platon und im Neuplatonismus noch darum, sich von der materiellen Welt zu lösen, um Erkenntnis zu gewinnen, und – auf unterschiedliche Weise – um das Erfassen der nur geistig zugänglichen ›Formen‹, so verbindet Augustinus mit der Aufnahme dieses Motivs vornehmlich die Absicht, seinem Schöpfer näher zu kommen. Dadurch erscheint nicht nur der scheinbar selbstverständliche Umgang mit der ›heidnischen‹ Metaphysik Platons in einem anderen Licht, 93 sondern dies hat auch erhebliche Folgen für nachfolgende Theorien. Einige der Konsequenzen deuten sich bereits bei Augustinus an. So hält ihn die theologische Perspektive davon ab, die systematischen Implikationen seiner »Ibi reconditum est, quidquid etiam cogitamus vel augendo vel minuendo vel utcumque variando ea quae sensus attigerit«, Confessiones, 10.8.12. 91 Um die systematische Verortung der Phantasie geht es auch in De trinitate, 11.9.16. Dort weist Augustinus selbst auf eine mögliche paradoxe Situation hin, die aus der Konzeption des Gedächtnisses als eines derart umfassenden und ›transzendentalen‹ Vermögens entstehen kann: bei den von der imaginatio zusammengesetzten Vorstellungen, etwa der eines schwarzen Schwans oder eines vierfüßigen Vogels, »entsteht der Eindruck, als ob wir Gedanken von etwas hätten, an das wir uns nicht erinnern, während wir dies doch gerade unter der Leitung des Gedächtnisses tun, von dem wir alles nehmen, was wir vielfältig und verschiedenartig nach unserem Willen zusammenfügen«. Augustinus kommentiert diese Schwierigkeit knapp und leider nicht sehr überzeugend: »Der Verstand kann natürlich noch weiter voranschreiten, aber die Vorstellungskraft kommt nicht mehr mit«, De trinitate, 11.10.17. 92 Confessiones, 10.24.35; 10.25.36. 93 S. z. B. De trinitate, 12.12.17. 90
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Theorie des Geistes und im Besonderen seiner Bestimmung der Phantasie konsequent weiterzuverfolgen. Anstatt beispielsweise zu untersuchen, wie die Fähigkeit zur Rekombination von Vorstellungsinhalten mit den Vorstellungen zusammenhängt, die in die von ihm postulierte zweite oder dritte Kategorie fallen, also mit denjenigen Vorstellungen, die in explikativen oder heuristischen Fiktionen auftreten, ist seine Analyse auch in den Confessiones und De Trinitate schon dann am Ziel, wenn die memoria schlüssig als das Vermögen der göttlichen Präsenz im Menschen ausgewiesen wurde. Folgen hat der theologische Blick auch für die Bewertung der Phantasie in der Folgezeit. Zwar ist das Misstrauen gegen sie kein neues Phänomen, aber die Gründe ändern sich: Augustinus’ einflussreiche Bestimmung der Phantasie als kombinatorisch-kreatives Vermögen erweitert den bis dahin epistemisch motivierten Argwohn um die ideologisch begründete Ablehnung der Phantasie. Weil sie aus theologischer Sicht nun dazu beiträgt, den Menschen vom wahren Glauben zu entfernen, beschäftigen sich die nachfolgenden christlichen Theorien des Mittelalters kaum mit dem Vermögen und der Frage, welchen Beitrag es zur Erklärung und Rechtfertigung unseres Wissens leistet. Ironischer Weise setzt das theologisch motivierte Misstrauen also genau in dem Moment ein, in dem mit der Bestimmung der Phantasie als kombinatorisches Vermögen die Grundlage dafür geschaffen wäre, sich mit ihrer epistemischen Funktion intensiver auseinanderzusetzen. Der Topos der theologischen Subversion durch Trugbilder 94 blockiert die theoretische Diskussion. Und obwohl Augustinus selbst wesentlich an der Schaffung der systematischen und begrifflichen Voraussetzungen beteiligt ist, die eine Anerkennung der aktiven und produktiven Rolle der Phantasie im Erkenntnisprozess ermöglichen, ist er doch zugleich auch wesentlich dafür verantwortlich, dass eine genauere Untersuchung der entsprechenden Fragen für lange Zeit unterbleibt. 95 S. auch Confessiones 3.4; 7.1. Exemplarisch illustriert den Antagonismus zwischen der ›trügerischen‹ Phantasie und der ›wahrhaftigen‹ Vernunft ein Zitat aus den Confessiones: »Und so viel vermag ein solches trügerisches Bild in meinem Geist, in meinem Körper, dass mich im Schlaf Trugbilder zu etwas überreden, wozu im Wachzustand auch Bilder von Tatsächlichem nicht überreden könnten […] Wo bleibt da die Vernunft, die im Wachen solchen Einflüsterungen widersteht […]?«, Confessiones, 10.30.41; vgl. auch 10.30.42; 10.42.67; und 1.10.16, wo die Gier nach erfundenen Geschichten (falsis fabellis) direkt als Sünde bezeichnet wird. Mit der Begründung, dass die Phantasie den Menschen vom Glauben 94 95
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Obwohl fast 900 Jahre zwischen Augustinus und Thomas von Aquin liegen, gibt es vor allem wegen dieser Vorbehalte kaum substantielle Innovationen in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Phantasie und ihrer epistemischen Funktion. Eine allgemeine Entwicklung in dieser Zeit ist die verstärkte Hinwendung zur aristotelischen Erkenntnispsychologie und ein Rückgang platonischen Gedankenguts. Maßgeblich für die Renaissance aristotelischer Gedanken ist die Aristoteles-Rezeption im arabischen Raum, besonders durch al-Kindi und al-Farabi im 9. und 10. Jahrhundert, durch Avicenna (Ibn Sina) und al-Ghazali im 11. und durch Averroes im 12. Jahrhundert. In verschieden starkem Maß differenzieren diese Denker das Modell der kognitiven Fähigkeiten und Vorgänge weiter aus, das Aristoteles in De anima vorstellt. 96 Dies geschieht unter dem Einfluss einer relativ strikten Auslegung des alttestamentarischen Bilderverbots. Der Hinwendung zur Ornamentalkunst in der islamischen Welt und der Dominanz abstrakter Strukturen in der Malerei entspricht im Rahmen der philosophischen Psychologie ein besonderes Interesse an der Untersuchung der Struktur des menschlichen Geistes. 97 Im Zug dieser methodischen Verlagerung erweitert sich die aristotelische Dreiteilung – Wahrnehmung – phantasia – Denken – um einige Elemente. Thomas’ Beschäftigung mit der Phantasie integriert diese Entwicklungen. Insbesondere bezieht er sich auf Avicenna und Averroes, wenn er gegen Ende des Mittelalters eine inzwischen auf fünf geistige Grundvermögen angewachsene Theorie der Phantasie diskutiert. 98 Seine Auseinandersetzung ist ebenso erschöpfend wie die Behandlung der anderen Themen der Summa theologica (um 1270). Trotz seiner enzyklopädischen Kenntnis der Tradition jedoch und trotz einiger Akzentverschiebungen bei der Einschätzung des Stellenwertes und der Leistungen der Phantasie vertritt Thomas eine weitgehend konventionelle aristotelische Position. Dem Geist der zu Ende gehenden Epoche entferne, attestiert Augustinus auch der griechischen Dichtung einen verderblichen Einfluss, s. Confessiones, 1.14.23 und 1.16.26 ff. Terminologisch bezieht sich seine Kritik zwar in den meisten Fällen auf ›visa falsa‹, ›suggestiones‹ und ›imagines illusiones‹ ; doch was für die Erzeugnisse gilt, gilt auch für ihre Erzeugerin, die imaginatio – selbst wenn sie nicht ausdrücklich beim Namen genannt wird. 96 Für eine ausführliche Darstellung der arabischen Tradition s. Cocking, 1991, Kap. 6; zur arabischen Text- und Übersetzungslage s. Afnan, 1958, 9–38. 97 Vgl. Cocking, 1991, 90. 98 Summa, 78.1; vgl. 78.4.
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entsprechend trägt er damit den Bedürfnissen der christlichen Metaphysik Rechnung, sodass auch hier die genuin philosophische Reflektion hinter das theologische Interesse zurücktritt. 99 Thomas’ Ansatz und seine Beschäftigung mit vielen der bis dahin vorgestellten Modelle sind dennoch von Interesse, denn er ist einer der großen Denker des ausgehenden Mittelalters, und seine Darstellung und seine Theorie der Phantasie geben nicht nur einen guten allgemeinen Überblick über den Stand der Diskussion zu dieser Zeit, sondern auch über den Status der Aristoteles-Rezeption. 100 Der vermutlich wichtigste neue Gedanke ist dabei die gewachsene Aufmerksamkeit für die Differenz von Vorstellungen und Vorstellungsvermögen und die klare begriffliche Abgrenzung bei Thomas. War in der Tradition oft nicht scharf zwischen der einzelnen Vorstellung und der Fähigkeit unterschieden worden, so markiert Thomas die Differenz gewissenhaft durch seine Begriffsverwendung: phantasma und die lateinische Entsprechung repraesentatio 101 für die einzelne Vorstellung, phantasia und imaginatio für das Vermögen. 102 Die konsequente terminologische Kennzeichnung spricht dafür, dass Thomas die Trennung bewusst vorgenommen hat. Hinsichtlich des Ausdrucks memoria, der in gleicher Weise doppeldeutig ist, weil auch er ein Vermögen und ein einzelnes Vorkommnis bezeichnet, stellt er jedenfalls ausdrücklich fest: »Das Vergangensein kann sich so auf zweierlei beziehen: auf den Gegenstand, der erkannt wird, und auf die Erkenntnistätigkeit.« 103 Und obwohl die begriffliche (und sachliche) Unterscheidung von Vorstellungen und Vorstellungsvermögen auf den ersten Blick trivial erscheint, so sind bis heute viele Theorien an diesem Punkt erstaunlich nachlässig. Dabei trägt das Versäumnis, begrifflich Das bedeutet allerdings nicht, dass die philosophische Diskussion gänzlich unterbliebe. So gilt für Thomas und seine Auseinandersetzung mit der ›heidnischen‹ Theorie des Aristoteles zumindest, dass er aristotelische Ansichten so weit akzeptierte, wie es einem christlichen Denker im 13. Jahrhundert möglich war, s. Weinberg, 1964, 183. 100 Als deutsches Lehnwort ist der Ausdruck ›fantasie‹ etwa in dieser Zeit erstmalig belegt (Frauenlob, 3.4.1) und zwar im Sinn von ›dichterischer Einbildungskraft‹, s. Haustein, 1990, 404. Reflexe der theologisch motivierten Ablehnung des Vermögens verzeichnet das Deutsche Wörterbuch noch für seinen frühesten Beleg aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, s. Grimm, 1862, 1318. 101 Z. B. Summa, 1.9; 75.3; 75.6–7; 76.1; 79.4; 84.6–7. 102 Z. B. Summa, 33.3; 77.7–8; 78.4; 79.13, 84.6. Selten gebraucht er zusätzlich den Ausdruck virtus imaginativa, s. etwa Summa 81.3. 103 Summa, 79.6. 99
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klar zu trennen, oft erheblich zur Verwirrung in der Sache bei, denn es macht offensichtlich einen Unterschied, ob man die Beziehung betrachtet, in der zwei Vermögen zueinander stehen, die Relation eines Vermögen zu einzelnen mentalen Vorkommnissen betrachtet oder die Beziehung mentaler Gegenstände untereinander. Auf der begrifflichen Seite hat Thomas darüber hinaus einen wesentlichen Anteil daran, dass sich der lateinische Ausdruck imaginatio als Übersetzung des griechischen phantasia durchsetzt. Explizit weist er darauf hin, dass die beiden Begriffe synonym seien. 104 Und Aufmerksamkeit verdient auch seine Explikation der Fähigkeit des Geistes, mit Vorstellungen zu operieren. Er stellt fest: »Das Besondere erfassen wir aber durch die [äußeren] Sinne und die Vorstellungskraft. Und deshalb ist es notwendig, dass der Verstand, um seinen eigentümlichen Gegenstand in Wirklichkeit zu erkennen, sich zu den Vorstellungen hinwendet, damit er die im Besonderen existierende Natur betrachtet.« 105
Ereignisse, Merkmale oder Gegenstände der empirischen Welt sollen demnach nur auf dem Umweg über Vorstellungen zu erfassen sein. Obwohl auch diese Behauptung auf den ersten Blick unspektakulär zu sein scheint, so sollte man nicht vergessen, dass sie erst mit dem Beginn der Neuzeit selbstverständlich wird. Thomas ist in der Tat der erste große Theoretiker, der diesen zu seiner Zeit noch ungewöhnlichen Gedanken klar formuliert; wobei die These in der Sache durchaus folgenreich ist. Schließlich markiert die Einsicht, dass der Geist keine direkte Bekanntschaft mit den Gegenständen der Welt schließt, sondern sie immer nur über den interpretierenden Umweg von Vorstellungen erfasst, den Anfang vom Ende des unreflektierten Glaubens, unser Erkenntnisvermögen könne uns bei richtigem Gebrauch die eine ›objektiv‹ richtige Sicht der Dinge verschaffen.106 104 »Ad harum autem formarum retentionem seu conservationem ordinatur ›phantasia‹, sive ›imaginatio‹, quae idem sunt«, Summa, 78.4. Nicht belegen lässt sich, was beispielsweise Weinberg anzunehmen scheint, dass Thomas hier zwei Vermögen unterscheidet, s. Weinberg, 1964, 201; zu diesem Punkt auch Lisska, 1976. 105 Summa, 84.7. Vgl. »impossibile est intellectum nostrum […] aliquid intellegere […] nisi convertendo se ad phantasmata«, Summa, 84.7. 106 Der Vorwurf, dass er mit der Behauptung von Vorstellungen als vermittelndem Zwischenschritt zwischen Außenwelt und Erkenntnis die Außenwelt hinter einem Schleier verberge, wurde bereits früh gegen Thomas in Stellung gebracht, s. Mahoney, 1982, 608 f., Fn. 28; und Weinberg, 1964, 207 f.; 210 f. Thomas war sich dieser Kon-
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Die spezifische Tätigkeit des Verstandes bestimmt Thomas vor diesem Hintergrund als das »Denken mit Hilfe von Vorstellungen [phantasmata]«, jedenfalls »insofern [der Verstand] mit dem Leib vereint ist«. 107 Erkenntnisse gewinnt der Verstand durch die Tätigkeit der Vorstellungskraft, welche die Vorstellungen voneinander trennt und miteinander verbindet. 108 Konventionell aristotelisch ist dabei die Nähe von imaginatio und memoria. Im direkten Anschluss an den gerade zitierten Passus parallelisiert Thomas Phantasie und Gedächtnis über ihre Tätigkeit: beide haben sie ›bewahrende‹ Funktion. Der Unterschied liegt in den Dingen, die sie bewahren: im Fall der imaginatio sind es die ›Formen‹ der Gegenstände, 109 im Fall der vis memorativa deren nähere Bestimmungen (intentiones). 110 Durch die Parallelsetzung verschieben sich die Gewichtungen: an die Stelle der traditionellen Unterordnung der Phantasie unter das Gedächtnis, wie sie sich etwa noch bei Augustinus findet, 111 tritt jetzt eine Gleichordnung der beiden Vermögen. Ein Reflex der arabischen Aristoteles-Rezeption ist die Erweiterung der geistigen Vermögen von drei auf fünf. Avicenna, auf den sich Thomas in diesem Zusammenhang beruft, nennt »Gemeinsinn, sequenz seiner Überlegungen durchaus bewusst. So gibt er zu bedenken: »Si igitur ea quae sunt in anima, sequerentur quod scientiae omnes non essent de rebus quae sunt extra animam, sed solum de speciebus intelligibilius quae sunt in anima … Et ideo dicendum est quod species intelligibilis se habet ad intellectum ut quo intellectus intellegit«, Summa, 85.2. 107 Summa, 75.6 Die letzte Einschränkung war Thomas wichtig, denn so kann offen bleiben, ob dem Geist, wenn er nicht an den Körper gebunden ist, zusätzliche Modi des Denkens zur Verfügung stehen. 108 Summa, 85.5; 78.4 109 Die Theorie der ›Formen‹ (formae, species) im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit ist ein eigenes Thema. Die ausgreifende Debatte um ihre angemessene Darstellung ist kenntnisreich und ausführlich aufbereitet in Spruit, 1994. Die Absicht hinter der Theorie der ›Formen‹ ist, verkürzt, die Bestimmung desjenigen, was von empirischen Gegenständen auf den Erkennenden übertragen wird, verbunden mit der Behauptung, dass sich dies dem menschlichen Geist ›einpräge‹ und dort ein Vorstellungsbild erzeuge, das dem empirischen Gegenstand ähnlich sei. In den (aristotelisch orientierten) Theorien des Mittelalters wurde zudem oft behauptet, übertragen würden allein die wesentlichen Eigenschaften von Gegenständen, also nur diejenigen Eigenschaften, durch die sie definiert sind. Für Descartes’ Kritik an diesem Modell s. u. S. 52 f. 110 »Est enim phantasia sive imaginatio quasi thesaurus quidam formarum per sensum acceptarum. […] Ad conservandum autem eas [intentiones formarum, quae per sensum non accipiuntur] vis ›memorativa‹, quae est thesaurus quidam hujusmodi intentionum«, Summa, 78.4. 111 Confessiones, 10.8; s. o. S. 29 f. A
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Phantasie, Vorstellungskraft, Bewertungsvermögen und Gedächtnis«. 112 Da für Thomas Phantasie (phantasia) und Vorstellungskraft (imaginatio) gleichbedeutend sind, reduziert sich die tradierte Liste allerdings um ein Element. 113 Auffällig ist, dass in dieser Aufzählung die Wahrnehmung fehlt. Deren Aufgaben werden, zu einem Teil wenigstens, dem ›Gemeinsinn‹ (sensus communis) zugeschrieben. Dieser ›Gemeinsinn‹, schon bei Aristoteles präsent, verdankt seine neue, herausgehobene Stellung unter den Vermögen ebenfalls der arabischen Diskussion. Hatte Aristoteles eher allgemein überlegt, was nötig sei, damit der Geist die an sich unverbundenen und flüchtigen Vorstellungen erfassen könne, 114 so fallen dem sensus communis bei Thomas spezifischere Aufgaben zu: er soll vor allem die verschiedenen Eindrücke der äußeren Sinne auf einen Gegenstand beziehen. Diese Forderung, die später besonders bei Kant im Zusammenhang der Leistungen der Einbildungskraft eine große Rolle spielt, entsteht aus der Einsicht, dass bei der Wahrnehmung ein und desselben äußeren Gegenstandes in der Regel nicht nur visuelle, sondern gleichzeitig auch haptische, akustische und andere Eindrücke auftreten. Deren korrekte Zuordnung ist eine eigene geistige Leistung, deren Voraussetzung die grundlegendere Fähigkeit ist, zunächst zwischen den verschiedenen Arten von Sinneseindrücken unterscheiden zu können. Dies soll ebenfalls Aufgabe des postulierten Gemeinsinns sein. Als ein ›innerer Sinn‹, der auf die Tätigkeit der ›äußeren‹ Sinne reflektiert, wird er bei Thomas so zu einem Sinn zweiter Stufe, der durch seine Tätigkeit dem Geist bereits ein Bewusstsein seiner eigenen Tätigkeit ermöglicht: »Deshalb muss das Unterscheidungsurteil dem Gemeinsinn angehören, zu dem alle Wahrnehmungen der Sinne hingebracht werden, von dem auch die Tätigkeiten der Sinne erfasst werden, wie wenn einer sieht, dass er sieht.« 115
Doch zurück zur Bestimmung der imaginatio. Sie bewahrt nach Thomas die ›Formen‹ der durch die äußeren Sinne wahrgenommenen GeSumma, 78.4. Diese Reduktion übernimmt Thomas von Averroes, einem weiteren einflussreichen Aristoteles-Kommentator. 114 Aristoteles, De anima, 425a–430b; der einschlägige Begriff dort ist no‰@ poihtik@. Thomas versteht dies so: »Es war demnach nötig, auf Seiten des Verstandes eine Kraft anzunehmen, welche die Dinge in Wirklichkeit durch Abstraktion von den materiellen Bedingungen verstehbar macht«, Summa, 79.3; vgl. 79.2; 79.4. 115 Summa, 78.4; s. auch 1.3; und Aristoteles, De anima, 425a–430b. 112 113
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genstände auf. Diese Formen sind hier, anders als bei Platon, allerdings keine Ur- oder Idealbilder der Gegenstände, sondern dasjenige, was der menschliche Geist von den Gegenständen der Außenwelt zu erfassen in der Lage ist. Sie sind das Material, aus dem die imaginatio Vorstellungen formt. Diese Vorstellungen sind zunächst frei von jeder Bewertung, denn die Feststellung, ob ihr Inhalt »zuträglich oder schädlich« 116 ist, wird für Thomas zur Aufgabe eines eigenen Vermögens, der vis aestimativa. Und da er diese Fähigkeit der Bewertung auch Tieren zuschreibt, differenziert er das Vermögen in eine vis aestimativa naturalis und eine vis cogitativa. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass der Mensch nicht allein auf seine Instinkte angewiesen ist, um festzustellen, was gut und was schlecht für ihn ist, sondern dies auch unter Zuhilfenahme von Überlegung tun kann. 117 Das letzte der vier Vermögen, das Gedächtnis, speichert die Vorstellungsinhalte selbst, sobald sie nicht länger in der Wahrnehmung präsent sind, und es verwahrt die ›näheren Bestimmungen‹ des Wahrgenommenen: »das Erinnern nimmt bei Sinnenwesen von irgendeiner dieser näheren Bestimmungen seinen Anfang, z. B. davon, dass etwas schädlich oder zuträglich ist. Aber auch das Vergangensein, worauf sich das Gedächtnis richtet, wird zu diesen Bestimmungen gerechnet.« 118
Die Klassifikation einer Vorstellung als vergangen unterscheidet die bewahrende Tätigkeit des Gedächtnisses von derjenigen der imaginatio. 119 Allerdings differenziert das Gedächtnis Vorstellungen nicht weiter. Wenn eine Vorstellung in der Vergangenheit erworben wurde, so macht es also keinen Unterschied, ob sie direkt auf wahrgenommene Gegenstände zurückgeht oder das Produkt einer Überlegung ist. Auch spielt es nach Thomas für das Gedächtnis keine Rolle, ob eine Vorstellung von der imaginatio aus verschiedenen (Teil-) Vorstellungen zu-
Summa, 78.4. In der nur graduellen Unterscheidung von Mensch und Tier ist Thomas, besonders im Angesicht des theologischen Kontextes, in dem er sich bewegt, seiner Zeit erstaunlich weit voraus: »Überlegungskraft und Gedächtnis haben jene Erhabenheit im Menschen nicht durch das, was dem sinnlichen Teile eigentümlich ist, sondern durch eine gewisse Verwandtschaft und Nachbarschaft mit der allgemeinen Vernunft, infolge eines gewissen Überfließens derselben. Darum sind es auch keine anderen Kräfte, sondern dieselben, nur vollkommener als sie in den anderen Sinneswesen sind«, Summa, 78.4. 118 Summa, 78.4, vgl. 79.6. 119 Summa, 79.6. 116 117
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sammengesetzt wurde und sich auf einen tatsächlich existierenden Gegenstand beziehen lässt oder nicht. Insgesamt ist Thomas damit von der Einsicht, dass die produktive Tätigkeit der Phantasie für die Genese unseres Wissens von zentraler Bedeutung ist, am Ende des Mittelalters wieder weiter entfernt als Augustinus zu Beginn dieser Epoche. Dafür sprechen vor allem, dass er die zwischenzeitlich auf fünf angewachsene Anzahl der Vermögen auf vier verkleinert, und die Begründung, die er für diesen Schritt gibt. Hatte Avicenna, auf den sich Thomas in diesem Zusammenhang bezieht, ein eigenes »fünftes Vermögen zwischen Bewertungsvermögen und Vorstellungskraft« postuliert, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der menschliche Geist die Fähigkeit besitzt, Vorstellungen innovativ zu verbinden, um neue Vorstellungen hervorzubringen, so stellt Thomas fest, dass »für diese Operation die Vorstellungskraft ausreicht« 120 . Dies deutet darauf hin, dass die produktive Verbindungstätigkeit für ihn keinen größeren Wert in der Erklärung der Genese unseres Wissens hat. 121 Dafür spricht auch, dass ihm dort, wo er die traditionelle Bestimmung der Phantasie als Vermögen, »Abwesendes zu vergegenwärtigen«, untersucht, die Frage, ob dies auch für fiktive, durch die Phantasie hergestellte Vorstellungsinhalte gilt, keine Überlegung wert ist. Dabei ist es überraschenderweise nicht einmal das inzwischen auf einen Reflex verkürzte theologisch motivierte Misstrauen gegen die ›kreativen‹ Aspekte der Phantasie, das seine Zurückhaltung in dieser Frage bestimmt. 122 Denn für ihn ist sie nur eines unter mehreren Vermögen, die bestimmen, was wir wollen, begehren und erstreben, 123 sodass die imaginatio in dieser Frage allenfalls eine Teilschuld trifft. Es scheint eher so zu sein, dass Thomas trotz seiner intensiven Aus120 Summa, 78.4. In diesem Kontext gewinnt auch die These an Plausibilität, dass Thomas ›Phantasie‹ oft im Sinn eines wenig spezifischen Oberbegriffs verwendete, »[a term] referring to those faculties of inner sense which were capable of utilizing phantasms«. Dies versucht Lisska im Rückgriff vor allem auf Thomas’ Kommentar zu De anima [In Aristotelis librum de anima commentarium] nachzuweisen, s. Lisska, 1976, 295; vgl. 299. 121 Summa, 17.2. 122 S. Bundy, 1927, 209 f. Das Motiv lässt sich allerdings auch bei Thomas finden, z. B. Summa, 2.2.44.1. 123 »Das sinnliche Streben wird nämlich vermöge seiner Natur nicht nur vom Bewertungsvermögen in den anderen Tieren bewegt und im Menschen von der Überlegungskraft (vis cogitativa), die von der allgemeinen Vernunft gelenkt wird, sondern auch von der Vorstellungskraft und den [äußeren] Sinnen«, Summa, 81.3; vgl. 81.1 f.
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Pico della Mirandola
einandersetzung mit der Tradition die Bedeutung einer produktiven Geistestätigkeit für das Zustandekommen unserer Erkenntnis nicht so wichtig erschien, dass sie eine genauere Untersuchung erfordert hätte, und dies obwohl er mit seiner These, Vorstellungen seien durch die Phantasie ›geformte‹ Wahrnehmungen, den Grundstein für die Einsicht legt, dass unsere Erkenntnis immer auch eine interpretatorische, also aktive und produktive Leistung des erkennenden Subjekts voraussetzt. Thomas selbst ist die Tragweite seiner Behauptung offensichtlich nicht in den Blick gekommen.
1.4 Pico della Mirandola Gianfrancesco Pico della Mirandola, Neffe und Schüler des Renaissancegelehrten Giovanni Pico della Mirandola, steht am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Aus seiner Feder stammt die erste eigenständige Monographie zur Phantasie, De imaginatione (1501). 124 Schon dies zeigt das zunehmende Interesse an, das dem Vermögen zu dieser Zeit entgegengebracht wird. 125 Anders als in seinen anderen Schriften stellt Pico seine anti-aristotelische Grundhaltung und seine religiösen Vorbehalte gegen die Philosophie insgesamt 126 hier zugunsten der Untersuchung einer philosophischen Sachfrage zurück. Seine Abhandlung beginnt mit der bekannten Bestimmung der Phantasie als eines mittleren Vermögens zwischen Verstand (intellectus) und Sinnen (sensus). 127 Allerdings expliziert er die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Vermögen auf andere Weise als Aris124 S. auch Park, 1997, 2. Etwas früher als Pico vertritt Marsilio Ficino noch eine Theorie, in der die Vorstellungskraft als die wichtigste Kraft der Magie fungiert. Pico, als Anhänger Savonarolas, steht der ›magischen‹ Konzeption, die sich unter anderem auf neuplatonisches Gedankengut beruft, dezidiert ablehnend gegenüber, s. auch Walker, 1958, 56 ff.; 146–51. Seine Untersuchung der Phantasie ermöglicht es ihm auch, einige der zentralen Thesen, die von den Proponenten magischer Theorien hinsichtlich der Funktion und Beschaffenheit dieses Vermögens postuliert werden, zurückzuweisen; dazu ausführlicher loc. cit. 149 f. 125 Auch außerhalb der Philosophie und der Erkenntnistheorie wächst das Interesse; etwas später als Picos Schrift entstehen und erscheinen Abhandlungen von Paracelsus, De virtute imaginativa (um 1570), Nymannus, Oratio de imaginatione (1606) und Fienus, De viribus imaginationis tractatus (1608), um nur einige zu nennen. 126 Vgl. Schmitt, 1997, 18. 127 De imaginatione, § 2 f.
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toteles. Phantasie und Wahrnehmung ist das gemeinsam, womit sie sich beschäftigen: beide operieren mit Bildern. Imaginatio und Verstand stimmen darin überein, dass sie in ihren Operationen »frei, ungebunden und auf keine spezifischen Gegenstände festgelegt« sind. 128 Diese Eigenschaft unterscheidet die Phantasie zugleich von der Wahrnehmung, deren Tätigkeit nach festen Regeln verläuft. Ihre ›Freiheit‹ und ›Ungebundenheit‹ stellen Phantasie und Verstand in der Vermögenshierarchie zugleich über die Wahrnehmung. Vom Verstand unterscheidet Pico die Phantasie aufgrund der Beschaffenheit ihrer Gegenstände: jener operiert auch mit abstrakten Vorstellungen, die Phantasie dagegen ist auf Vorstellungen von Konkretem beschränkt. 129 Aus der traditionellen Verortung der Phantasie in der Mitte zwischen Wahrnehmung und Verstand wird bei Pico erstmals eine vermittelnde Tätigkeit zwischen diesen beiden Vermögen. Und die ›Formung‹ von Wahrnehmungen durch die Phantasie – von Thomas behauptet, aber argumentativ nicht weiterverfolgt – bestimmt Pico entsprechend als eine Abstraktionsleistung, welche die Verarbeitung des Materials der Sinne durch den Verstand erst ermöglicht: »Sobald nämlich das Vorstellungsvermögen [imaginatio] von den Sinnen die species der Dinge empfangen hat, hält es diese fest und gibt sie gereinigt an den aktiven Verstand weiter; dieser erhellt sie mit seinem eigenen Licht, abstrahiert von ihnen die intelligiblen Merkmale und übergibt diese dem potentiellen Verstand, der dann durch sie geformt und vollendet wird.« 130
So versorgt die imaginatio, veranlasst durch die Wahrnehmung, 131 das ›über‹ ihr stehende Vermögen mit Vorstellungen, 132 die den ursprünglich wahrgenommenen Gegenständen und Ereignissen inhaltlich ›ähnlich‹, 133 dennoch aber hinreichend abstrakt sein sollen, um dem Verstand als Grundlage seiner Operationen dienen zu können. Kurz: bei Pico wird die Tätigkeit der imaginatio sowohl in logischer als auch in temporaler Hinsicht zu einer Voraussetzung für die Operationen der ratio. De imaginatione, § 3. Loc. cit. 130 De imaginatione, § 6; für eine ausführliche Diskussion der Spezies-Theorie s. Spruit, 1994. 131 De imaginatione, § 1. 132 De imaginatione, § 11. 133 De imaginatione, § 4. 128 129
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Die erklärte Motivation der Abhandlung ist, der epistemischen Unzuverlässigkeit der Phantasie, genauer ihrer Vorstellungen, auf den Grund zu gehen: »Die imaginatio ist [im Gegensatz zur Wahrnehmung] oft leer und unstet – ein Sachverhalt, um dessentwillen wir die Untersuchung der vorliegenden Schrift unternommen haben.« 134
So ist es konsequent, wenn Pico im Folgenden eine Reihe von Gründen dafür betrachtet, warum das, was wir uns vorstellen, nicht der Fall sein muss. Einerseits nennt er die traditionellen Motive: Vorstellungen können unabhängig von gegenwärtig Wahrgenommenem weiterbestehen, und das Vorstellungsvermögen vermag seine Inhalte nach Belieben neu zusammenstellen. Andererseits gibt er zu bedenken, dass die imaginatio auch deshalb unzuverlässig ist, weil sie »nicht nur das Vergangene erfasst, sondern auch, was sie für die Zukunft vermutet oder glaubt, und sogar etwas annimmt, was von der Natur gar nicht geschaffen werden kann. […] Außerdem haben wir im Traum Vorstellungen, nehmen aber nicht wahr. Weiter erfasst, wer erblindet ist, Farben zwar in der imaginatio, nicht aber durch den Sinn, da er ja des Augenlichts beraubt ist.« 135
Damit nimmt er die von Synesius in gnostischer Perspektive noch lobend zugeschriebene Eigenschaft der Phantasie auf, zukünftige oder imaginäre Ereignisse vorzustellen und sogar Dinge zu ersinnen, die die Natur so nicht herstellen kann, und deutet sie erneut um. Diese Eigenschaft wird wieder zur Grundlage des Misstrauens, weil sie die epistemische Zuverlässigkeit des Vermögens einschränkt. Auch das freie Spiel der Phantasie im Traum, in dem Synesius den Weg zu einer höheren Wahrheit ausmachte, bewertet Pico deshalb negativ. Darüber hinaus nennt Pico eine Reihe physiologischer Umstände – Krankheit, 136 Sinnestäuschung137 und emotionale Verstimmung: »aus jenen [den fehlgeleiteten Affekten] entspringt nämlich die falsche Vorstellung, die ein sonst richtiges Urteil schwächt und verzerrt«. 138 Die letzte von Pico in diesem Zusammenhang aufgeführte Möglichkeit hat es 134 De imaginatione, § 2. Vgl. »Die Vorstellung arbeitet auch dann, wenn gar kein sinnliches Objekt mehr vorhanden ist« (loc. cit.) mit Hinweis auf De anima, 428a. 135 De imaginatione, § 2. 136 De imaginatione, § 8 f. 137 De imaginatione, § 8. 138 De imaginatione, § 9.
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kurze Zeit später, mit Descartes’ erster Meditation, zu philosophischem Ruhm gebracht: es sei nämlich auch möglich, dass ein »böser Engel« mit »List und Verschlagenheit« absichtlich falsche und trügerische Vorstellungen in uns erzeuge. 139 Mit Ausnahme der Täuschung durch den Dämon, gegen die allein religiöse Hingabe helfen kann, 140 lassen sich die anderen Ursachen für Irrtum und Falschheit wenigstens zum Teil durch konventionelle Strategien begrenzen, durch die Beseitigung der physiologischen Defekte und vor allem durch die genaue Untersuchung des epistemischen Gehalts von Vorstellungen. Ausdrücklich stellt Pico in diesem Zusammenhang ratio und imaginatio einander gegenüber: »die Ratio [ist] ein Heilmittel, durch deren Gebrauch wir […] schlechthin von jeder Beeinträchtigung der Vorstellung befreit werden. […] Jedem … ist bekannt, dass der Mensch der Ratio folgen und den Verführungen der Sinne und der Vorstellung widerstehen muss.« 141
Und gegen Ende desselben Abschnitts: »Darum aber müssen wir uns mit allen Kräften bemühen, dass die immer wache Ratio ständig vor den Toren des Geistes Wache hält, dass sie jene Vorstellungen, die ihr den Gehorsam verweigern, davonjagt und sie, falls sie zudringlich werden, mit den vorzüglichen Argumenten bekämpft, mit denen sie gerüstet ist.« 142
Bedauerlicherweise erläutert Pico allerdings nicht näher, wie aus einer genauen Untersuchung von Vorstellungen anhand ihres Inhalts etwas über die Realität ihrer Gegenstände folgen soll. Auch entsprechende Beispiele bleibt er schuldig. Als weitere Strategie gegen die epistemische Unzuverlässigkeit der Phantasie schlägt er schließlich vor, Vorstellungen durch die Vernunft auch auf ihren praktischen Nutzen zu prüfen. Diese Empfehlung ist historisch interessant, denn der Gedanke, dass das Vermögen, uns 139 De imaginatione § 8. Die Hypothese des systematisch täuschenden bösen Geistes ist allerdings auch kein originärer Gedanke Picos, sondern bereits im späten Mittelalter nachzuweisen, s. Nadler, 1977, Anm. 3; Perler, 1998, 81. 140 De imaginatione, § 12. 141 De imaginatione, § 10. 142 De imaginatione, § 10; vgl. § 7. Bei Pico sind es daher wieder Vernunft (ratio) und Verstand (intellectus), die uns den Zugang zum ›wahren Wesen‹ der Dinge verschaffen; sie, und nicht die imaginatio, ermöglichen es uns, »uns immer mehr über das Körperliche [zu] erheben«, De imaginatione, § 11.
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Dinge vorzustellen, direkt mit unseren Handlungen zusammenhängt, ist neu. Anders als die religiös motivierten Vorbehalte des Mittelalters, die implizit auf einer ähnlichen Annahme beruhen, entwickelt Pico die These, ohne sie auf einen bestimmten Lebensbereich einzuschränken und ohne eine vorgefasste Meinung über die Nützlichkeit oder Schädlichkeit bestimmter Handlungen. Seine Warnung vor den ›schädlichen‹ Handlungszielen, 143 zu der die Vorstellungskraft selbstverständlich auch motivieren kann, hat deshalb nicht mehr viel mit den theologisch motivierten Mahnungen seiner Vorgänger gemein, sondern begründet sein Plädoyer für die Überprüfung von Handlungsabsichten durch die Vernunft. So kann die Vorstellung von etwas Zukünftigem uns nicht nur dazu veranlassen, das ›Richtige‹ zu tun, sondern ebenso die Widrigkeiten zu ertragen, die das Leben für uns bereithält. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass die Vernunft ihre Aufgabe als Wächterin über die epistemische Zuverlässigkeit von Vorstellungen im Hinblick auf den moralischen Nutzen von Vorstellungen interpretieren darf, etwa wenn sie Vorstellungen von jenseitiger Belohnung oder Bestrafung unbeanstandet passieren lässt, weil sie zu guten Handlungen motivieren. 144 Anders als die mittelalterliche Diskussion gelangt Pico daher zu dem Schluss, dass »sich generell alles Gute wie auch alles Schlechte aus der Vorstellungskraft ableiten lässt«. 145 Diese Einsicht ist ihm deshalb möglich, weil er sich um eine sachliche und unparteiische Abwägung bemüht und sich den Blick nicht durch ideologische Barrieren verstellt. Wieder auf der Linie der Tradition ist seine Behauptung, dass die Phantasie – anders als das Urteilsvermögen – der Lenkung des Willens unterliegt: »Vorstellen können wir uns nach Belieben Dinge, die nicht existieren und auch nicht existieren können, zu meinen aber oder zu wissen, was faktisch unmöglich ist, steht nicht in unserer Macht.« 146 De imaginatione, § 5. De imaginatione, § 12. 145 De imaginatione, § 6. An dieser Stelle wird der Unterschied zu den Theorien des Mittelalters besonders deutlich: Hatte die Kritik jener Zeit in der Phantasie noch die Hauptverantwortliche allein für die Irrtümer und Verfehlungen des Menschen ausgemacht, so ist sie bei Pico eben sowohl für den Irrtum als auch für die richtige Meinung zuständig, sowohl für die schlechte als auch für die gute Handlung; vgl. De imaginatione § 7. 146 De imaginatione, § 2. 143 144
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Allerdings gilt auch bei Pico die Einschränkung, dass alles, was wir uns überhaupt vorstellen können, in letzter Konsequenz auf Sinneswahrnehmungen zurückgeht. Diese »verknüpft und verbindet« die imaginatio dann allerdings »noch nach dem Aufhören des Wahrnehmungsprozesses nach Belieben«, sodass auch die Vorstellung naturgesetzlich unmöglicher Dinge möglich ist. 147 Praktische Relevanz können solche ›fiktiven‹ Vorstellungen erlangen, weil vorgestellte Gegenstände und Weltzustände in der Lage sind, unser Verhalten zu motivieren. Pico ist der erste, der diesen Gedanken positiv formuliert: »Nicht nur das Verhalten der Tiere, sondern auch das Leben der Menschen wird weitgehend von diesem Vermögen der Seele bestimmt. Da nämlich niemand zum Tätigsein bewegt wird, es sei denn, um ein wirkliches oder scheinbares Gutes zu erlangen, und da das Begehren selbst von einer Einsicht [cognitio] abhängt (denn wie könnten wir etwas begehren, das wir gar nicht kennen?), so muss man zugeben, dass eben diese Einsicht den Wunsch hervorruft, eine Sache, die wir für gut halten, zu besitzen, und dass sie in gewisser Weise die bewegende Kraft [vis motiva] weckt und lenkt, durch die ein Lebewesen sich dessen bemächtigt, was es begehrt.« 148
Sein Bestreben, die Leistungen der Phantasie sachlich differenziert darzustellen und zu bewerten und sie aus dem Kontext reflexhafter theologischer Verurteilung zu lösen, ist ein deutliches Indiz für die steigende Aufmerksamkeit, die der Phantasie entgegengebracht wird und für das zunehmende Interesse an den (epistemischen) Funktionen dieses Vermögens.
147 De imaginatione, § 3. Unklar bleibt an dieser Stelle, ob Pico meint, das Vermögen, Unmögliches vorzustellen, erstrecke sich auch auf logische Unmöglichkeiten und Paradoxien – sofern nur die Forderung nicht verletzt ist, dass die Vorstellungsinhalte in letzter Instanz auf Wahrnehmungen zurückgeführt werden können. 148 De imaginatione, § 5. Dies gilt gleichermaßen für Dinge, die uns durch Sinneswahrnehmung bekannt werden – und allein in diesem Sinn leben auch Tiere nach ihren Vorstellungen, wie Pico, abermals unter Berufung auf Aristoteles [Metaphysica, 1.1.980b], feststellt – als auch für Gegenstände, Ereignisse oder Zustände der Welt, die es so (bisher) nicht gibt und die wir uns erst im Rückgriff auf die Tätigkeit der imaginatio vorstellen können.
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2.1 René Descartes Mit Beginn der Neuzeit vollzieht sich ein Paradigmenwechsel in der Philosophie. Die Erforschung der Natur orientiert sich zunehmend an Beobachtung, Experiment und Erfahrung. Der Erfolg, den Francis Bacon, Galileo Galilei, Isaac Newton und andere mit der neuen Methodik haben, die sie bei der Erforschung der Natur anlegen, führt auch in den Humanwissenschaften zu einem Methodenwechsel und einer Veränderung der Ansprüche an die Theoriebildung. 1 Für die Beschäftigung mit dem menschlichen Geist und seinen Fähigkeiten bedeutet dies: die aristotelische Erkenntnispsychologie mit ihren Postulaten und ihrer spekulativen Herleitung kognitiver Vorgänge wird abgelöst von dem Anliegen, unsere Erkenntnisansprüche nachprüfbar abzusichern und zu begründen. Unter diesen Vorgaben ändert sich erneut die Bestimmung der Vorstellungskraft und ihrer epistemischen Funktionen. Der erste große Versuch einer philosophischen Fundierung unserer Wissensansprüche im Geist der neuen Epoche stammt von René Descartes. In den Meditationes de prima philosophia (1641) versucht er, durch eine genaue Untersuchung der Vorstellungen selbst den Bereich abzustecken, in dem sicheres Wissen möglich ist. Dieses Unternehmen einer theoretischen Fundierung ergänzt er durch Einzeluntersuchungen der Wissensansprüche verschiedener empirischer Disziplinen. 2 Einschlägig in diesem Zusammenhang ist vor allem die physiologisch-psychologische Analyse der menschlichen Affekte in
S. beispielsweise Koyré, 1980; 1994; 1998; und die allgemeine Darstellung von Hankins, 1985. 2 Die lange verbreitete Auffassung, Descartes’ naturwissenschaftliche Studien hätten wenig, wenn überhaupt etwas, mit seinen philosophischen Überlegungen zu tun, kann inzwischen als überholt gelten, s. dazu ausführlich Perler, 1998, 32–43. 1
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Les passions de l’ame, seinem Spätwerk von 1649. Zwar tritt die Beschäftigung mit der Vorstellungskraft bei Descartes hinter die Untersuchung der Vorstellungen selbst zurück, doch seine Überlegungen beeinflussen die nachfolgende Diskussion auf vielfältige Weise, nicht zuletzt dadurch, dass sie Vorlage sind für die Trennung von Intellekt (Verstand, Vernunft) und Einbildungskraft, die seine Nachfolger vornehmen. 3 Besonders in der ausgearbeiteten Theorie der Hauptwerke spielt die explizite Auseinandersetzung mit der Vorstellungskraft, anders als in der Zeit vor 1630, kaum noch eine Rolle, und entsprechende Äußerungen sind fragmentarisch und verstreut. 4 Allerdings gilt dies nur für die explizite Diskussion des Vermögens. Im Hintergrund kommt der Tätigkeit der Phantasie eine wichtige Funktion für die Entwicklung der Argumentation zu, die abermals deutlich über das Bisherige hinausgeht. Besonders augenfällig wird dies in den Meditationen. Bereits die Suche nach dem ›sicheren Fundament‹ unserer Meinungen setzt dort an zentraler Stelle die Fähigkeit voraus, sich abwesende und nicht reale Dinge vorstellen zu können, denn die Experimente des »von allen Alltagssorgen befreiten Geistes« finden allein in der Phantasie statt, und ohne dass dafür der Platz vor dem Kamin verlassen werden müsste. 5 Dies gilt auch für die Beispiele, die Descartes zur Unterstützung seiner Argumentation anführt, allen voran die Erwärmung und Verflüssigung des berühmten Wachsstückes. 6 Auf einer Fiktion beruht auch die Vorstellung, ein böser Geist täusche uns systematisch; sie entspringt ebenfalls der Phantasie, da sie sich offensichtlich nicht auf eine Wahrnehmung zurückführen lässt. Mit der Titelgebung knüpft Descartes an die scholastische ›Psychologie‹ des 11. und 12. Jahrhunderts an, die unter ›Meditation‹ in erster Linie eine Tätigkeit der Einbildungskraft verstand. 7 Und schließlich leitet er viele Einzelüberlegungen ausdrücklich mit einem
Dies ist in der Tat nicht ohne Ironie, wie Sepper anmerkt, da »Descartes never intended the divorce [of imagination and intellect]. At the beginning he even championed the effective primacy of the former, though he ultimately settled for a distinction rather than a divorce: the intellect exceeded the imagination, and the will, the source of imagination, exceeded the intellect«, Sepper, 1996, 289; s. u. 4 Vgl. Sepper, 1996, 10. 5 Meditationes, 1.4/AT 7.18 f. 6 Meditationes, 2.11–15/AT 7.30 ff. 7 S. Sepper, 1996, bes. 255–59; 262 f.; 268. 3
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›imaginabo‹, einem ›quid me esse imaginarer‹ oder ähnlichen Formulierungen ein. 8 Auch in anderem Zusammenhang, wo es um konkrete wissenschaftliche Modelle und nicht um die allgemeine Begründung und Bestimmung von Wissen geht, spielt die Fähigkeit, etwas in Gedanken durchspielen zu können, eine wichtige Rolle: so etwa bei dem Versuch, die atomistische Theorie der Materie zurückzuweisen. Tatsächlich trägt hier die Feststellung, dass wir jedes auch noch so kleine Teilchen gedanklich weiter zerlegen können, die Hauptlast des Argumentes für deren wirkliche unendliche Teilbarkeit. 9 Vor diesem Hintergrund überrascht es daher, dass Descartes keine genauere Analyse der imaginatio unternimmt. Im Gegenteil, er behauptet, dass die »Einbildungskraft [vis imaginandi], sofern sie sich von der Erkenntniskraft [vis intelligendi] unterscheidet, für mein Wesen [essentia], d. h. das Wesen meines Geistes [mens], gar nicht erforderlich ist; denn ohne sie würde ich trotzdem derselbe bleiben, der ich jetzt bin.« 10
Diese Einschätzung begründet er mit der ›besonderen Geistesanstrengung‹, die ihm introspektiv nötig zu sein scheint, um etwas ›bildlich‹ vorzustellen, eine Anstrengung, die für das Erfassen eines Gegenstandes durch den Intellekt eben nicht erforderlich sei. 11 Da Descartes die materielle Welt der Erfahrung und die immaterielle Welt des Geistes in einer vollständigen Disjunktion als ontologisch verschiedene Bereiche markiert, bedeutet ihr Ausschluss aus der Welt des Geistes zwangsläufig die Zuordnung der Einbildungskraft zur Erfahrungswelt 12 – nur die Empirie scheint auf die ›bildliche‹ oder ›figürliche‹ Vorstellung angewiesen zu sein. 13 Descartes wählt ein Beispiel aus der Geometrie. Die Gegenstände dieser Disziplin eignen sich deshalb besonders zur Veranschaulichung des Gedankens, weil sie soVgl. bes. Meditationes, 2.7 ff./AT 7.28 ff.; passim. Principia, 2.20/AT 8.51. Der Übergang von der Behauptung, dass wir uns vorstellen können, etwas sei teilbar, zur Feststellung, etwas sei teilbar, ist selbstverständlich problematisch. Dass es Descartes mit diesem Gedankengang allerdings auch gar nicht primär darum ging, die These der Atomisten zu widerlegen, sondern darum, einen grundsätzlichen Dissens hinsichtlich des Begriffs der Ausdehnung zu artikulieren, versucht Perler plausibel zu machen; s. Perler, 1998, 99 ff. 10 Meditationes, 6.3/AT 7.73. 11 Meditationes, 6.2/AT 7.72 f. 12 Meditationes, 6.1./AT 7.72. 13 Meditationes, 6.2/AT 7.72. 8 9
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wohl über funktionale Beschreibungen, d. h. nicht-bildlich, zu erschließen sind, als auch figürlich oder bildlich vorgestellt werden können. Ein Fünfeck beispielsweise ist einerseits anhand seiner Eigenschaften zu erfassen, andererseits, mit einer ›größeren Geistesanstrengung‹, bildlich vorstellbar. 14 Im ersten Fall kann auf eine Tätigkeit der Einbildungskraft verzichtet werden, im zweiten ist sie erforderlich. So macht Descartes sie als Vermögen der ›bildlichen‹ Vorstellung zwar zur Voraussetzung jeder empirischen Erkenntnis, sieht sie aber, »sofern sie sich von der vis intelligendi unterscheidet«, gleichzeitig in einer untergeordneten Rolle, weil er sie nicht zu den ›wesentlichen‹ Bestimmungen des Menschen als ›res cogitans‹ zählt. Auch ist sie nicht länger ein eigenständiges Vermögen. Wenn er in den Meditationen feststellt, dass »die Einbildungskraft [imaginandi facultas] genauer betrachtet nichts anderes als eine Anwendung des Erkenntnisvermögens [facultas cognoscitiva] auf den Körper« 15 sei, so nimmt er damit einen Gedanken aus seiner Frühschrift, den Regulae ad directionem ingenii, wieder auf. 16 Schon dort hatte er die Unterscheidungen zwischen ›Verstand‹, ›Vorstellungskraft‹, ›Gedächtnis‹ und ›Wahrnehmung‹ als die verschiedenen Funktionen einer einzigen ›Erkenntniskraft‹ bestimmt. 17 Anstatt, wie bisher üblich, drei oder mehr tatsächlich verschiedene Vermögen zu postulieren, um den Erkenntnisprozess zu erklären, kommt Descartes mit einem aus. Ihm stellt er allerdings den ›Willen‹ an die Seite. 18 Klassisch ist die Formulierung der Principia philosophiae (1644): Meditationes, 6.2/AT 7.72 f. Meditationes, 6.1/AT 7.71 f. 16 Diese Schrift entstand in zwei Phasen 1619/20 und 1626/8, wurde allerdings erst posthum veröffentlicht; s. Gaukroger, 1995, 111. 17 »Es [ist] ein und dieselbe Kraft, deren Handlung, wenn sie sich zugleich mit der Einbildungskraft dem Gemeinsinn zuwendet, ›Sehen‹, ›Berühren‹ usw. genannt wird, wenn der Einbildungskraft allein, sofern diese verschiedene Figuren angenommen hat, ›Sich Erinnern‹ genannt wird, wenn sie sich ihr zuwendet, um neue zu zeichnen, ›Sich etwas Einbilden‹ oder ›Begreifen‹ heißt, wenn sie schließlich allein handelt, ›Verstehen‹ genannt wird […] Und eben diese Kraft wird darum auch gemäß diesen verschiedenen Funktionen einmal reiner Verstand, einmal Einbildungskraft, einmal Gedächtnis, einmal Sinn genannt. Eigentlich aber nennt man sie ›Ingenium‹, wenn sie bald neue Ideen in der Phantasie bildet, bald sich mit den schon gebildeten beschäftigt.« Regulae, 12.10/ AT 10.416 f.; vgl. 12.2/AT 10.411. 18 Diese Einteilung schließt an stoische Überlegungen an, s. Nuchelmans, 1983, bes. 48 ff. 14 15
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»Alle Bewusstseinsarten lassen sich nämlich auf zwei zurückführen; die eine enthält das Erfassen oder die Tätigkeit des Intellekts, die andere das Wollen oder die Tätigkeit des Willens. Das Wahrnehmen, das Vorstellen und das reine Denken sind nur verschiedene Arten des Erfassens, und das Begehren, Ablehnen, Behaupten, Verneinen und Zweifeln sind verschiedene Arten des Wollens.« 19
Die Tatsache, dass Descartes in diesem Zusammenhang die traditionellen Bezeichnungen verwendet, obwohl er eine Unterscheidung in der Sache ablehnt, überrascht zunächst. Im Wesentlichen sind aber wohl zwei Motive für dieses Vorgehen verantwortlich, einerseits seine ambivalente Haltung gegenüber der Tradition, 20 andererseits das Bestreben, der Theorie größere Zustimmung zu verschaffen – oder doch wenigstens unnötige Ablehnung zu ersparen. Das zwiespältige Verhältnis zur Tradition belegen unter anderem Descartes’ widersprüchliche Äußerungen über seine Vorgänger. Im autobiographisch geprägten Discours teilt er beispielsweise nachdrücklich seinen Entschluss mit, sich von der Vormundschaft seiner Lehrer und ihrem mittelalterlichen Aristotelismus zu befreien, 21 nur um gegen Ende der Principia seine Gedanken ausdrücklich in diese Tradition zu stellen, wenn er bemerkt: »Ich möchte aber hier noch darauf aufmerksam machen, dass ich, wie ich so die ganze körperliche Natur zu erklären versucht habe, dabei doch kein Prinzip benutzt habe, das Aristoteles und alle Philosophen früherer Jahrhunderte Principia, 1.32/AT 8.17; für die weitere Diskussion der geistigen Tätigkeiten als Modi von Intellekt und Willen s. auch Principia, 1.56/AT 8.26. 20 Trotz oder auch gerade wegen des sachlichen Bruchs mit der aristotelisch-mittelalterlichen Tradition erschließen sich viele seiner Argumente in der Tat nur dann, wenn man sie vor dem Hintergrund dieser Tradition liest; ausführlicher dazu Cottingham, 1993, 163; und Sepper, 1996, 13–35. 21 »Sobald das Alter es mir erlaubte, mich von der Vormundschaft meiner Lehrer freizumachen, gab ich deshalb das Studium der Bücher [l’estude des lettres] vollständig auf; und entschloss mich kein anderes Wissen mehr zu suchen als das, was ich in mir selbst finden könnte oder in dem großen Buch der Welt«, Discours, 1/AT 6.9. Ähnlich traditionskritische Äußerungen finden sich auch an anderer Stelle, so z. B. Passions § 7/AT 11.332; oder in einem Brief an Regius vom Januar 1642, wo es heißt, die Schulmänner erklärten das, »was dunkel ist durch etwas, das noch dunkler ist [obscurum per obscurius]«, AT 3.507. Für eine allgemeine Diskussion s. Mercer, 1993, bes. 38; 60. Bemerkenswert ist, dass bereits die Wahl des Themas diese Schrift in eine lange Tradition ähnlicher Vorhaben stellt, s. Mercer, 1993, 51 f.; und Gilbert, 1960, bes. xiii–xxvi; 223– 229, eines Themas, über das bereits der vollständige Titel der Schrift von 1637 keinen Zweifel lässt: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences. 19
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nicht anerkannt haben. Diese meine Philosophie ist daher keine neue, sondern die älteste und verbreitetste.« 22
Auch das Motiv, durch sprachliche und argumentative Umsicht Zustimmung für seine Theorie zu gewinnen und Ablehnung zu vermeiden, ohne in der Sache Zugeständnisse zu machen, lässt sich quer durch Descartes’ Oeuvre belegen. Bekannt ist das ursprüngliche Widmungsschreiben der Meditationen, das die Theologen der Sorbonne für die dort präsentierten Gedanken einnehmen sollte, weniger bekannt Descartes’ Versuch, seine Meinung hinsichtlich der Bewegung der Erde zum Ausdruck zu bringen, ohne den dogmatischen Standpunkt der Kirche zu verletzen, oder auch die Tatsache, dass Descartes die Publikation eines Werkes (Le Monde) deshalb zurückhielt, weil die Gedanken Galileis kurz zuvor kirchliche Ächtung erfahren hatten und er befürchtete, seinem Werk könnte es ähnlich ergehen. 23 Eine anderer Grund für die Verwendung der traditionellen Begriffe ist vielleicht auch einfach das Fehlen von Alternativen; besonders dann, wenn Descartes die begriffliche Differenzierung der verschiedenen Funktionen trotz seiner Ablehnung einer realen Unterscheidung der Vermögen für sinnvoll hält. In den dritten Erwiderungen auf die Einwände zu den Meditationen jedenfalls begründet er die Übernahme eines anderen zentralen Begriffs der Tradition ausdrücklich auf diese Weise: »Ich habe diesen Ausdruck [idea] verwendet, weil er unter Philosophen bereits geläufig war, um die Formen der Wahrnehmungen des göttlichen Geistes zu bezeichnen, obwohl wir in Gott keine Einbildungskraft erkennen; und ich verfügte über keinen geeigneteren Ausdruck.«24
Zu welchen Teilen diese und andere Überlegungen für die Begriffswahl eine Rolle gespielt haben, ist aber letzten Endes zweitrangig; wichtig ist
Principia, 4.200/AT 8.323; s. auch Cottingham, 1993, bes. 149 f.; 154–7; Ariew, 1992; und Mercer, 1993, 53. 23 Principia, 3.28 f./AT 8. 90 ff.; vgl. 3.13/AT 8.84; 3.19/AT 8.86; 3.26/AT 8.89. Roger Ariew vermutet, dass es nicht zuletzt die Mitglieder des pro-aristotelisch geprägten Jesuitenordens waren, die Descartes im Blick hatte, und führt eine Reihe von Stellen aus der Korrespondenz an, um zu belegen, dass Descartes wenig unversucht gelassen hat, seinen Gedanken über terminologische Zugeständnisse Zustimmung bei ihnen zu verschaffen; s. Ariew, 1992. Cottingham beurteilt Descartes’ Vorgehen weniger wohlwollend als einen klaren Fall von Opportunismus; Cottingham, 1993, 148. 24 Responsiones, 3/AT 7.181. 22
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hier, dass die Nähe zur Tradition, die die Terminologie auf der sprachlichen Ebene suggeriert, irreführend ist: Descartes verfolgt ein grundsätzlich anderes Vorhaben als seine Vorgänger. Besonders wendet er sich gegen die von Aristoteles und seinen mittelalterlichen Interpreten vertretene Ansicht, am Anfang eines jeden Erkenntnisprozesses – jedenfalls wenn es um Gegenstände der Außenwelt geht – stehe ein Abstraktionsprozess, bei dem sich eine Form (species) von einem Gegenstand ablöse, sich auf den Erkennenden übertrage und dem Geist einpräge wie der Abdruck eines Siegelrings und schließlich dort zu einer bildlichen Vorstellung führe. 25 Die Annahme, es gebe derartige Formen, die im menschlichen Geist Vorstellungsbilder (phantasiai, imaginationes) erzeugen, welche den wahrgenommenen Gegenständen ähnlich sind, sei nicht nur überflüssig, 26 sondern auch systematisch unsinnig, denn die Fiktion einer geistigen Leinwand, auf die Bilder äußerer Gegenstände projiziert werden, die dann von einem ›inneren Auge‹ 27 betrachtet werden, erklärt schließlich nichts. Sie verschiebt das Problem nur um einen Schritt, denn bei dem Versuch zu explizieren, wie das innere Auge die Formen oder Bilder auf der geistigen Leinwand wahrnimmt, geraten wir erneut an die Ausgangsfrage, und in der Sache ist nichts gewonnen. Darüber hinaus versagt die Spezies-Hypothese auch vor dem Phänomen verschiedener ›innerer Bilder‹ ein und desselben Gegenstands. Descartes greift hier ein schon von Aristoteles (in anderer Absicht) verwendetes Beispiel auf, um diesen Gedanken zu verdeutlichen: Vgl. Aristoteles, De anima, 424a; 429a. In der Dioptrique bemerkt Descartes, »dass es nicht nötig ist anzunehmen, dass sich etwas Materielles ereignet bei dem Vorgang, bei dem die Gegenstände bis zu unseren Augen gelangen, damit wir die Farben und das Licht sehen, und dass es in diesen Gegenständen nichts gibt, das den Vorstellungen oder Gefühlen, die wir dabei haben, ähnlich sei«, und fährt mit Spott fort: »auf diese Weise wird euer Geist befreit sein von den kleinen Bildern [petites images], die durch die Luft schwirren und ›espèces intentionelles‹ heißen, welche die Phantasie der Philosophen dermaßen beschäftigen.« Dioptrique, 1.5/AT 6.85. An anderer Stelle, in einem Brief an Mersenne vom 28. Okt. 1640, weist Descartes mit Nachdruck darauf hin, dass die von der Schulphilosophie postulierten Formen »nichts als Chimären sind« (AT 3.212), willkürlich erfundene Entitäten. Kemmerling behauptet deshalb, dass »nicht einmal klar [sei], was es für Descartes überhaupt heißen könnte, daß eine Idee ihrem außergeistigen Repräsentatum ähnlich ist«, Kemmerling, 1993, 81. Dafür, dass Descartes’ Darstellung der ›Spezies‹-Theorie eine tendenziös verkürzte Polemik ist, argumentiert ausführlich Leen Spruit, 1994, bes. 1.1–27. 27 Dioptrique, 6.51/AT 6.130. 25 26
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»Beispielsweise finde ich in mir zwei verschiedene Vorstellungen der Sonne. Die eine hat ihren Ursprung in den Sinnen und ist hauptsächlich zu jenen zu rechnen, die ich meiner Meinung nach von außen erhalte; dieser Vorstellung zufolge erscheint mir die Sonne sehr klein. Die andere Vorstellung habe ich aufgrund astronomischer Berechnungen [ex rationibus Astronomiae] gewonnen, d. h. ich habe sie aus gewissen mir angeborenen Begriffen heraus entwickelt oder in irgendeiner anderen Weise gebildet; danach stellt sich die Sonne um einiges größer als die Erde dar. Es können aber nicht beide Vorstellungen ein und derselben Sonne, die sich außerhalb meiner selbst befindet, ähnlich sein, und die Vernunft sagt mir, dass gerade diejenige ihr am wenigsten ähnlich ist, die doch am unmittelbarsten von der Sonne selbst herzukommen scheint.« 28
Die Spezies-Theorie gerät an dieser Stelle deshalb in Schwierigkeiten, weil sie nicht einmal das Vorhandensein verschiedener, aber ähnlicher ›innerer Bilder‹ ein und desselben Gegenstandes, beispielsweise der Sonne am Winterhimmel und der Sonne am Sommerhimmel, erklären kann. Dies gilt umso mehr unter der üblichen Zusatzannahme, dass die Formen, die dem Geist eingeprägt werden, allein die definierenden Eigenschaften der Gegenstände enthalten, von denen sie abstrahiert werden. 29 Descartes ersetzt daher das aristotelische Modell der Übertragung geheimnisvoller Formen, die sich von den Gegenständen lösen und im Geist zu Vorstellungen führen, die diesen Gegenständen ähnlich sind, durch eine physiologische Theorie der Nervenreizung und der kausalen Weiterleitung von Nervenimpulsen. Bereits in den Regulae formuliert er die Grundzüge seines neuen Ansatzes, 30 den er in den späteren Werken ausarbeitet. 31 In der Dioptrique von 1637 heißt es, »dass es die Bewegungen [der Nerven] sind, durch die diese [Vorstellung] zusammengesetzt ist, die, indem sie unmittelbar auf unseren Geist wirken, zumal dieser mit unserem Körper verbunden ist, von der Natur eingerichtet sind, um ihn diese Empfindung [sentiments] haben zu lassen […] ohne dass Meditationes, 3.11/AT 7.39; vgl. Principia, 3.5/AT 8.82. Zurückhaltung ist angebracht hinsichtlich des Ausdrucks ›Ähnlichkeit‹, denn es ist wahrscheinlich, dass Descartes den Begriff manchmal, ebenso wie später auch John Locke (z. B. Essay, 373/2.30.2), in einem engeren Sinn verwendet, als dies im Kontext der Spezies-Diskussion normalerweise geschieht – und zwar um das korrekte Repräsentationsverhältnis zu kennzeichnen. 29 S. z. B. Spruit, 1994, 9. 30 Vgl. Regulae, 12.9/AT 10.414 f.; 12.19/AT 10.423. 31 S. z. B. Principia, 4.198/AT 8.322 f.; Meditationes, 6.22/AT 7.88. 28
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dabei eine Ähnlichkeit besteht zwischen den Vorstellungen, die [unser Geist] davon bildet, und den Bewegungen [der Nerven], die diese Vorstellungen hervorbringen.« 32
Anstelle von Abbildern, die den wahrgenommenen Gegenständen ähneln, soll im Geist, ausgelöst von einer Sinnesreizung, also eine Vorstellung entstehen, und zwar als Summe der durch die Nerven vermittelten Informationen über den Gegenstand, von dem die Reizung der Sinnesorgane und Nerven verursacht wurde. 33 Dieses physiologische Modell liegt seiner späteren philosophischen Beschäftigung mit der Rolle der Vorstellungen im Erkenntnisprozess zugrunde. Obwohl Descartes einen Ansatz verfolgt, der sich grundlegend von den Modellen seiner Vorgänger unterscheidet, greift er für seine Theorie der Vorstellungen erneut auf das traditionelle Vokabular zurück. Von den Regulae bis zu den Passions verwendet er ›imaginatio‹, ›phantasma‹, ›repraesentatio‹ (frz. ›representation‹) und ›idea‹ in weitgehend gleicher Bedeutung. In den Meditationen überwiegt der Ausdruck ›idea‹ für Vorstellung. 34 Dort definiert er: »Von diesen [d. i. den Operationen meines Geistes] sind einige gleichsam Bilder von Gegenständen, und diesen allein kommt eigentlich die Bezeichnung Vorstellung zu.« 35 Dioptrique, 6.51 f./AT 6.130 f. »Und so nenne ich nicht allein die in der Einbildungskraft abgebildeten Bilder [imagines in phantasia depictas] Vorstellungen, vielmehr nenne ich sie hier in keiner Weise Vorstellungen, insofern sie in der körperlichen Einbildungskraft [phantasia corporea] – d. h. in irgendeinem Teil des Gehirns – abgebildet sind, sondern nur, insofern sie den Geist, der sich diesem Teil des Gehirns zuwendet, informieren [informant]«, Responsiones 2/AT 7.160 f.; s. dazu auch Kemmerling, 1993, 56 f.; und Perler, 1998, 133 f. Für die Nähe von Vorstellungen zu Bildern argumentiert dagegen Kenny, 1968, 105–9. Er behauptet »[Descartes’] ideas have some properties of material pictures, some of the properties of mental images, and some of the properties of concepts« (Kenny, 1968, 108) und spricht suggestiv von ›quasi-pictures‹, wohl auch, weil es ihm nicht gelingt, seine Interpretation wirklich überzeugend zu belegen. 34 Für eine ausführliche Untersuchung der verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs ›idea‹ s. auch Kemmerling, 1993, 43–94; seine Interpretation unterscheidet sich allerdings substantiell von der hier vorgestellten. 35 Meditationes, 3.5/AT 7.37. Descartes differenziert zwischen Vorstellungen, die sich auf etwas Bestimmtes beziehen, und allgemeinen und unspezifischen Denkakten [cogitationes], die »alles das, was so in uns ist, dass wir uns seiner unmittelbar bewusst sind« einschließen (Responsiones, 2/AT 7.160) und verwendet ›idea‹ in einem weiten Sinn auch als Bezeichnung für »alles was gedacht wird [omne quod cogitatur]«, Responsiones, 5/AT 7.366. Damit dehnt er den Begriff auch auf Akte des Wahrnehmens, Vorstel32 33
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Diese Bestimmung stellt auf den ersten Blick die Behauptung in Frage, dass Descartes das aristotelisch-mittelalterliche Modell der Vorstellungen wirklich überwunden hat. Betrachtet man das Zitat allerdings genauer, wird deutlich, dass er nicht behauptet, Vorstellungen seien Bilder, vielmehr vergleicht er sie nur mit Bildern. 36 Dafür gibt es einen guten Grund in der Sache. Auch wenn seine Begriffswahl zu Missverständnissen einlädt, so macht Descartes mit diesem Vergleich auf eine zentrale Eigenschaft von Vorstellungen aufmerksam: so wie Bilder immer Bilder von etwas sind, so sind auch Vorstellungen immer Vorstellungen von etwas. Anders ausgedrückt: Descartes weist hier darauf hin, dass alle Vorstellungen, denen diese Bezeichnung berechtigterweise zukommt, einen Inhalt besitzen müssen. Und kaum ein anderes Vergleichsmoment wäre so gut geeignet, diesen Umstand deutlich zu machen. Wer dagegen meint, Descartes komme es mit seinem Vergleich vor allem »auf die besonderen repräsentativen Leistungen an, die für
lens und Wollens aus, vgl. Meditationes, 2.9/AT 7.28; Responsiones, 3/AT 7.174; AT 7.181; Passions, § 21/AT 11.344. 36 S. auch Meditationes, 3.5/AT 7.37; 3.8/AT 7.39; Responsiones, 2/AT 7.160 f.; 3/AT 7.181; Brief an Mersenne, Juli 1641/AT 3.392. Die Bestimmung von Vorstellungen als nicht notwendig bildhaft schließt selbstverständlich nicht aus, dass eine Visualisierung ihrer Inhalte möglich ist. Descartes weist sogar ausdrücklich darauf hin, dass die Einbildungskraft, wenn sie sich auf die empirische Welt bezieht, immer in einem gewissen Sinn ›bildhaft‹ ist, und auch viele seiner Beispiele belegen dies. So hat etwa die rein gedankliche Veränderung des Wachsstückes in den Meditationen eine visuelle Komponente, und für viele der geometrischen Beispiele gilt Ähnliches, nämlich dann, wenn geometrische Figuren als materielle Gegenstände vergegenwärtigt werden: »Stelle ich mir beispielsweise ein Dreieck vor [imaginor], so sehe ich nicht nur ein [intelligo], dass dies eine von drei Linien eingeschlossene Figur ist, sondern zugleich schaut auch mein geistiges Auge jene drei Linien an [acie mentis intueor], als stünden sie vor mir, und dies nenne ich ›vorstellen‹ [imaginari]«, Meditationes, 6.2/AT 7.72. Ähnlich auch in den Regulae, wo es um die zweidimensional-bildliche Vergegenwärtigung geometrischer Verhältnisse im Geist geht. Dort heißt es, dass »dieselbe Größe, selbst wenn man sie Kubus oder Biquadrat nennt, der oben angegebenen Regel zufolge der Einbildungskraft immer nur als Linie oder Oberfläche vorgelegt werden darf«, Regulae, 16.4/AT 10.456 f. Wenn ab einer gewissen Komplexität der vorgestellten Figuren unsere Fähigkeit zur visuellen Vergegenwärtigung im Geist nicht ausreicht – von einem Tausendeck können wir nur noch eine »verworrene« Repräsentation bilden, die sich zudem gleich bleibt, egal ob wir uns Tausendeck, ein Fünfhunderteck oder ein beliebiges anderes Vieleck mit einer hinreichend großen Anzahl von Seiten vorstellen –, so bleibt nur die funktionale (nichtbildliche) Vorstellung der entsprechenden Gegenstände; s. Meditationes, 6.2/AT 7.72.
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Bilder typisch sind – Bilder sind ›unmittelbar verständlich‹, sie zeigen ›direkt‹« –, verfehlt offensichtlich die Pointe des Vergleichs. 37 Das Misstrauen, das der Phantasie in der Tradition oft und aus verschiedenen Gründen entgegengebracht wurde, artikuliert sich bei Descartes selten. Zwar markiert der Ausdruck imaginarius hin und wieder Situationen, in denen Falschheit, Täuschung und Trug eine Rolle spielen, 38 im Großen und Ganzen aber betont Descartes mit Nachdruck die ›positive‹ Rolle der Vorstellungen und der Vorstellungskraft für den Erkenntnisprozess. 39 Dies gilt besonders für sein Vorhaben, Kemmerling, 1993, 77. Es überrascht nicht, dass Kemmerling sich aufgrund seiner eigenwilligen Interpretation schließlich genötigt sieht festzustellen, dass der »sonst oft so suggestive Vergleich« von Vorstellungen mit Bildern an dieser Stelle versagt, Kemmerling, 1993, 85. 38 Z. B. heißt es in der ersten Meditation, wo es darum geht, sich mit einem psychologischen Trick zur Standhaftigkeit in der Urteilsenthaltung zu bewegen: »ich denke, nicht schlecht daran zu tun, wenn ich mir bewusst die gegenteilige Meinung aneigne, mich absichtlich einer Täuschung hingebe und eine Weile jene Meinungen für völlig falsch und erdichtet halte, bis schließlich das Gewicht der Vorurteile auf beiden Seiten gleich ist«, Meditationes, 1.11/AT 7.22; s. auch 2.2/AT 7.24; 1.6/AT 7.19 f. Etwas später im Text geht es um einen Gefangenen, der sich im Traum seiner eingebildeten Freiheit erfreut, dann allerdings argwöhnt zu schlafen und Opfer eines verführerischen Trugbildes geworden zu sein; Meditationes, 1.12/AT 7.23. Schließlich soll auch das Wissen um mich als denkende Substanz nicht abhängig von Gegenständen sein, die »bloß durch die Einbildungskraft ausgedacht« sind, Meditationes, 2.7/AT 7.27 f. Stärkere Vorbehalte gegen die Phantasie als diejenigen, die hier in den Konnotationen von Trugbild, Fiktion und Einbildung anklingen, formuliert Descartes jedenfalls an keiner Stelle. 39 So erklärt Descartes auch den Irrtum, den seine Vorgänger häufig der Phantasie anlasteten, aus dem fehlerhaften Zusammenspiel von Erkenntnisvermögen und Willen (voluntas). Ein Urteil ist für ihn nämlich erst dann vollständig, wenn die Zustimmung oder Ablehnung des Willens vorliegt (s. Principia, 1.34/AT 8.18; Meditationes, 4.8 f./AT 7.56; 7.58), und nicht schon aufgrund eines erfassten Inhalts; für eine ausführliche Diskussion s. Williams, 1978, 175–183. Das Erkenntnisvermögen selbst kann »bei richtigem Gebrauch niemals zu Irrtümern führen«, Meditationes, 4.3/AT 7.53 f. Der Irrtum entsteht vielmehr aus der Tätigkeit des Willens, denn dieser »erstreckt sich weiter als der Verstand [nämlich auch] auf das Nichterkannte«, Meditationes, 4.9/AT 7.58. Williams meint, Descartes habe hier mehr gezeigt, als seiner Theorie zuträglich sei, Williams, 1978, 164; ausführlich dazu auch das sechste Kapitel ›Error and the Will‹, 163– 183. Durch die vorschnelle Affirmation des Willens – und nicht etwa durch die Unzuverlässigkeit der Sinne – komme es, besonders bei empirischen Sachverhalten, zu Fehlurteilen. Zwar liegt es nahe, gerade auch wenn man Descartes’ Beispiele betrachtet, den Irrtum den Sinnen zuzuschreiben. Schon das skeptische Argument der ersten Meditation beginnt etwa mit dem Rekurs auf »kleine und entfernte Gegenstände« (Meditationes, 1.4/AT 7.18) und markiert damit den klassischen Fall einer unterbestimmten Wahrnehmungssituation, in dem die Verantwortung für den Irrtum der Unzulänglich37
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den Bereich sicheren Wissens durch eine Untersuchung der Vorstellungen selbst einzugrenzen. In seiner Durchführung unterscheidet Descartes die Vorstellungen zunächst anhand ihrer Inhalte: sind sie (bildhafte) Vorstellungen von materiellen Gegenständen oder (nichtbildhafte) Vorstellungen von nicht-materiellen Gegenständen? 40 Vor dem Hintergrund der Einteilung der Welt in körperliche und geistige Gegenstände deckt dies den gesamten Bereich möglicher Vorstellungsinhalte ab. Anschließend unterscheidet Descartes Vorstellungen ein weiteres Mal, und zwar nach ihrer Herkunft. So sind Vorstellungen entweder angeboren, kommen von außen oder sind von uns selbst gemacht. 41 Die Beispiele für diese letzte, philosophiehistorisch neue Klasse von Vorstellungen stammen mehrheitlich aus dem Fabelzoo der griechischen Mythologie: Vorstellungen des geflügelten Pferdes, von Sirenen, Chimären, Hippogryphen etc. 42 Dabei deutet der Verweis auf Vorstellungen, deren Komponenten eindeutig empirischen Ursprungs sind, darauf hin, dass Descartes der Auffassung seiner Vorgänger in diesem Punkt folgt und ebenfalls der Meinung war, die von uns selbst gemachten Vorstellungen setzten sich stets aus Inhalten zusammen, die ursprünglich über die Sinne wahrgenommen wurden. Gestützt wird diese Vermutung durch seinen Hinweis im Kontext des ›Traumarguments‹ der ersten Meditation, dass der Ursprung von Traumvorstellungen ausdrücklich die Wahrnehmung des Wachzustands sei. 43 keit unserer Sinne zuzuschreiben ist. Dennoch behauptet Descartes, auch hier liege der Irrtum darin begründet, dass der Wille den Urteilen, in denen die entsprechenden Vorstellungen auftreten, ohne die gründliche Überprüfung auf ihre Klarheit und Deutlichkeit zustimme. Denn »wenn ich mich des Urteils enthalte, solange ich nicht hinreichend klar und deutlich erfasse, was wahr ist, so handle ich richtig und bin vor Irrtum sicher«, Meditationes, 4.12/AT 7.59; vgl. Regulae, 12.19/AT 10.423. Dies lässt sich auch anhand der aristotelischen Ähnlichkeitsthese verdeutlichen, denn auch hier, so meint Descartes, entstehe der Irrtum allein durch eine vorschnelle Affirmation des Willens: »Der hauptsächliche und häufigste Irrtum aber, den man bei ihnen [d. i. den Urteilen] finden kann, besteht darin, dass ich meine, die Vorstellungen, die in mir sind, seien gewissen Dingen außerhalb meiner ähnlich bzw. entsprechend«, Meditationes, 3.6/AT 7.37; vgl. 4.3/AT 7.53 f.; 3.8/AT 7.38. 40 Meditationes, 5.2 ff./AT 7.63 f.; vgl. Regulae, 12.14/AT 10.419. 41 Meditationes, 3.6 f./AT 7.37 f.; vgl. 3.8 ff./AT 7.38 f.; 3.28/AT 7.47; 6.3 f./AT 7.73 f.; passim; s. auch Responsiones, 1/AT 7.117; Passions, § 19/AT 11.343. 42 Z. B. Meditationes, 3.6 f./AT 7.36 f.; Responsiones, 5/AT 7.362. 43 »Dennoch müssen wir zugeben, dass uns im Schlaf gleichsam gewisse Malereien erschienen sind, die nur nach dem Vorbild wirklicher Gegenstände gebildet werden konnten«, Meditationes, 1.6/AT 7.19.
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Dennoch bleibt unklar, ob die selbstgemachten Vorstellungen unter die Vorstellungen materieller Gegenstände fallen, weil ihre Inhalte in letzter Instanz auf die Wahrnehmung zurückgehen, oder ob sie eine eigenständige Klasse sind, weil sie keine Entsprechungen in unserer Erfahrungswelt haben. Entscheidet man sich für die zweite Möglichkeit, dann verließe Descartes hier jedenfalls den Rahmen seiner Aufteilung der Welt in körperliche und geistige Gegenstände, weil er neben den materiellen und den geistigen Gegenständen eine zusätzliche Klasse ›fiktiver‹ Gegenstände postuliert. Um die Spannungen der Theorie an dieser Stelle zu verringern, liegt es nahe, das genetische Kriterium epistemisch zu interpretieren und die Absicht der Unterscheidung nicht darin zu sehen, eine ontologisch eigenständige Klasse von Gegenständen einzuführen, sondern verschiedene Arten des epistemischen Zugangs zu differenzieren. 44 Doch wie lässt sich ermitteln, in welche der drei Kategorien eine Vorstellung jeweils fällt? Descartes meint, dies sei anhand ihrer Klarheit und Deutlichkeit möglich. Ohne hier in die umfangreiche Diskussion um diese beiden Kriterien einzusteigen, lässt sich anhand der Beispiele nachvollziehen, wie mit ihrer Hilfe einerseits die angeborenen von den selbstgemachten Vorstellungen, andererseits die selbstgemachten von den von außen kommenden getrennt werden können. Betrachten wir zunächst die selbstgemachten und die angeborenen Vorstellungen, beispielweise die Vorstellung eines geflügelten Pferdes und die Vorstellung eines Dreiecks. 45 Ein Unterschied liegt auf der Hand: die erste Vorstellung lässt sich willentlich verändern, die zweite nicht. Es »steht mir frei, die Vorstellung eines Pferdes mit oder ohne Flügel zu denken«, 46 doch ein Dreieck muss ich auf eine bestimmte Weise vorstellen, »ich muss [es] mir notwendig so beschaffen denken, dass die Summe seiner drei Winkel nicht größer als zwei rechte ist« 47 . Während zur S. dazu Perler, 1996, bes. 190–204. Durch diese Strategie bleibt Descartes’ zweites Unterscheidungskriterium zudem ontologisch neutral gegenüber der Annahme verschiedener mentaler Vermögen und ihrer Operationen. Etwa »Akte des reinen Verstehens [pure intelligere] für unveränderliche Essenzen, Akte des Wahrnehmens [sentire] für wahrnehmbare Objekte und Akte des Vorstellens [imaginari] für fiktive Objekte«, Perler, 1996, 44; vgl. 220 ff.; s. auch Principia, 1.32 /AT 8.17. 45 Descartes’ Behauptung, geometrische Vorstellungen seien angeboren, ist problematisch, allerdings für die Veranschaulichung von Unterscheidungskriterien unerheblich. 46 Meditationes, 5.10/AT 7.67. 47 Meditationes, 5.11/AT 7.67 f. Selbstverständlich nötigt uns nichts, uns überhaupt ein Dreieck vorzustellen; dieser Aspekt der Dreiecksvorstellung unterliegt daher unserem 44
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Vorstellung eines Dreiecks untrennbar die Einsicht gehört, dass die Summe seiner Innenwinkel in der ebenen Geometrie genau 180 Grad beträgt, kann die Vorstellung des Pferdes nach Belieben verändert werden. Kurz: bei bestimmten Vorstellungen besteht ein notwendiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Merkmalen, die ihren Inhalt bestimmen. Und dies, so behauptet Descartes, lässt sich klar und deutlich erfassen, sobald die entsprechende Vorstellung mit hinreichender Aufmerksamkeit betrachtet wird. Offensichtlich ist es uns nicht möglich, ein Dreieck vorzustellen – egal ob bildlich oder nicht-bildlich –, dessen Winkelsumme nicht 180 Grad beträgt. Bei der Pegasus-Vorstellung andererseits gibt es keinen derartigen Zwang. Deshalb ist an ihr – im Unterschied zur Dreiecksvorstellung – auch wenig oder nichts klar und deutlich zu erfassen. 48 Wird die Pegasus-Vorstellung dagegen in ihre einzelnen Bestandteile, also die Vorstellung eines Pferdes und die Vorstellung von Flügeln, zerlegt, handelt es sich nicht länger um eine (selbstgemachte) Vorstellung, sondern um zwei Vorstellungen äußerer Dinge – was uns zur zweiten Unterscheidung bringt. Denn an Vorstellungen, die ihren Ursprung in äußeren Gegenständen haben, lassen sich nach Descartes wenigstens diejenigen Eigenschaften klar und deutlich erfassen, die ihren Korrelaten als materiellen Gegenständen notwendig zukommen. 49 Die Tatsache, dass es gerade diese Eigenschaften sind, hängt mit seiner weiteren These zusammen, »dass die Körper nicht eigentlich von den Sinnen oder der Vorstellungskraft, sondern vom Intellekt allein wahrgenommen werden« 50 . So ergibt sich aus der Willen. Ähnliches gilt im Übrigen für die Gottesvorstellung; hier seien wir, sofern wir uns auf sie einlassen, dann allerdings gezwungen, die Existenz des vorgestellten Gegenstandes mitzudenken; Meditationes, 5.10/AT 7.67. 48 Descartes’ Äußerungen im Gespräch mit Burman deuten darauf hin, dass dasjenige, was an selbstgemachten Vorstellungen klar und deutlich erfasst werden kann, die nichterfundenen Elemente sind. Wenn dies so ist, muss es auch möglich sein, den Anteil des Erfundenen zu ermitteln: »Obwohl wir uns nämlich so klar wie möglich den Kopf eines Löwen vorstellen können, der mit dem Körper einer Ziege verbunden ist und Ähnliches, folgt daraus dennoch nicht, dass dies existiert. Denn das, was gleichsam die Verbindung zwischen ihnen ist, erfassen wir nicht klar« und: »Was auch immer an einer Chimäre deutlich und klar erfasst werden kann, das existiert tatsächlich [illud est ens verum]«, Burman, AT 5.160. 49 Principia, 2.4/AT 8.42. 50 Meditationes, 2.16/AT 7.34. »So erfasse [comprehendo] ich also das, was ich mit meinen Augen zu sehen meinte, allein durch das Urteilsvermögen, das in meinem Geist ist.« Meditationes, 2.13/AT 7.32. Bereits in den Regulae stellt Descartes fest, »dass diejenige Kraft, mit der wir die Dinge im eigentlichen Sinn erkennen, rein geistig ist«,
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genetischen Einteilung von Vorstellungen, wenn sie epistemisch interpretiert wird, eine Abstufung: an Vorstellungen des Intellekts kann, hinreichende Aufmerksamkeit vorausgesetzt, alles, an solchen, die von außen kommen, einiges und an selbstgemachten (so gut wie) nichts klar und deutlich erfasst werden. Zusätzlich zu der Möglichkeit, die Zugehörigkeit von Vorstellungen zu einer der drei Kategorien anhand ihrer Klarheit und Deutlichkeit zu bestimmen, gibt es für Descartes ein weiteres Kriterium, das in unterschiedlicher Weise auf die ersten beiden Vorstellungsklassen zutrifft, auf selbstgemachte Vorstellungen jedoch nicht: die Unmöglichkeit, bestimmte Aspekte durch den Willen zu beeinflussen. Bei den Vorstellungen des Intellekts entzieht sich der Inhalt, bei äußeren Vorstellungen das Auftreten der willentlichen Kontrolle, oft drängen sie sich sogar gegen den Willen auf. 51 Bei selbstgemachten Vorstellungen dagegen kann der Wille sowohl über ihr Auftreten als auch über ihren Inhalt frei entscheiden. 52 Das Vorhaben der Meditationen, ein sicheres Fundament für unser Wissen zu ermitteln, mündet so in der Einsicht, dass wir über die Gegenstände der Erfahrungswelt außerordentlich wenig sicher wissen können. Klar und deutlich erkennen lassen sich nur ihre konstitutiven Merkmale, etwa ihre Ausgedehntheit, einige geometrische und mathematische Eigenschaften und alles, was sich aufgrund von Beweisen feststellen lässt, die allein auf erfahrungsfreie – ›angeborene‹ – Vorstellungen oder Begriffe (notiones) zurückgreifen. 53 Für darüber hinausRegulae, 12.10/AT 10.416; vgl. auch Principia, 2.64/AT 8.78 f.: »Denn ich gestehe offen, dass ich … an [körperlichen Gegenständen] nichts als wirklich anerkenne, was nicht aus jenen allgemeinen Begriffen, an deren Wahrheit man nicht zweifeln kann, so klar abgeleitet wird, dass es als mathematisch bewiesen gelten kann.« 51 Meditationes, 3.8/AT 7.38. 52 Ob diese von Descartes behauptete Freiheit tatsächlich durchgängig gilt, ist fraglich, denn es sind durchaus Fälle denkbar, in denen solche Vorstellungen nicht der Kontrolle des Willens unterliegen, wie es offensichtlich bei Wahnvorstellungen oder Halluzinationen der Fall ist. Descartes diskutiert diese Möglichkeit nicht. 53 Meditationes, 3.19/AT 7.43; 5.3 f./AT 7.63 f.; 3.19/AT 7.43; vgl. Regulae, 12.22/AT 10.425. Die Auflösung der konkurrierenden Sonnenvorstellungen – die entweder aus der Wahrnehmung oder aufgrund von Berechnung zustande kommen – illustriert dies. Hier lässt sich eindeutig entscheiden, welche Vorstellung dem vorgestellten Gegenstand angemessener ist, da mit der Größe eine Eigenschaft zur Diskussion steht, die sich geometrisch herleiten lässt; entscheidend ist, dass der astronomische Beweis auf der Grundlage angeborener (erfahrungsfreier) Begriffe geführt wird, Meditationes, 3.11/AT 7.39. Für das Verhältnis der Erkenntnis äußerer Gegenstände zu geometrischen und matheA
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gehende Bestimmungen gibt es keine sichere Basis, da alle weitergehenden empirischen Zuschreibungen abhängig von der kontingenten Beschaffenheit unseres Wahrnehmungsapparates sind. So wird etwa die Behauptung, äußere Gegenstände seien farbig, oder gar, sie besäßen eine bestimmte Farbe, zu einer bloßen Unterstellung, die für Descartes nicht mit der für Wissen nötigen Sicherheit zu begründen ist. 54 Ein Verdienst seiner Theorie der Vorstellungen ist es daher, mit Nachdruck den Umstand bewusst zu machen, dass einige Eigenschaften, etwa räumliche Ausdehnung, materiellen Gegenständen notwendig zukommen, andere ihnen dagegen von uns unterstellt werden – aufgrund der Beschaffenheit unseres Wahrnehmungsapparats und ohne dass wir dies vor dem Hintergrund des cartesischen Wissensbegriffs weiter rechtfertigen könnten. Insgesamt ergibt sich daher folgendes Bild: obwohl Descartes terminologisch an seine Vorgänger anschließt, bestimmt er sowohl die Rolle der Vorstellungen als auch die Funktion des Vorstellungsvermögens im Erkenntnisprozess weitgehend anders als die Tradition. So bricht er mit den subtilen, in der Sache aber oft wenig ergiebigen Differenzierungen der Vermögenspsychologie und integriert die Phantasie, als ein Moment unter mehreren, in das Erkenntnisvermögen. Die produktiven Aspekte der Einbildungskraft, die einige seiner Vorgänger bereits diskutierten und die für sie oft der Grund sowohl für eine negative und seltener auch für eine positive Bewertung dieses Vermögens waren, treten dabei in den Hintergrund – nicht zuletzt aufgrund der Reduktion des klassischen Modells auf nur zwei Vermögen und des geringen Beitrags der selbstgemachten Vorstellungen zur Erklärung unserer Erkenntnis. Die Vorstellungen selbst werden in Descartes’ Theorie zu geistigen Einheiten, die ihre Inhalte abstrakt erfassen. Damatischen Prinzipien s. auch Principia, 2.64/AT 8.78 f. – Die Schlussfolgerungen aus dem Wachsbeispiel weisen in die gleiche Richtung. Auch wenn es sich nicht um ein Gedankenexperiment, sondern um ein wirklich durchgeführtes handelte, würde dies nichts daran ändern, dass »die Auffassung [des Wachsstückes] nicht in einem Sehen, Berühren, Vorstellen besteht und überhaupt nie darin bestand […] sondern vielmehr in einem bloß geistigen Eindruck [mentis inspectio]«, Meditationes, 2.12/AT 7.31; vgl. 2.16/AT 7.34. Der Gedanke, dass erst dann ein sicheres Urteil über Vorstellungsinhalte gefällt werden kann, deren Ursprung in der materiellen Welt liegt, wenn ›andere Gründe‹ als die Wahrnehmung, d. h. nichtempirische Gründe, für die Richtigkeit des entsprechenden Urteils angeführt werden können, findet sich ebenfalls bereits früh in den Regulae, s. z. B. Regulae, 12.19/AT 10.423; und auch Principia, 4.199/AT 8.323. 54 S. auch Principia, 1.69 f./AT 8.33.
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mit gibt er auch hier der Diskussion eine neue Richtung, denn seine Vorgänger hatten Vorstellungen als den erfassten Gegebenheiten ›ähnliche‹ ›Bilder‹ oder wenigstens als ›bildhafte‹ geistige Vorkommnisse bestimmt. Darüber hinaus führt Descartes wie selbstverständlich eine neue Klasse von ›selbstgemachten‹ Vorstellungen ein, ohne allerdings den mentalen Prozess ihrer Herstellung genauer zu untersuchen. Der Versuch, durch eine Analyse unserer Vorstellungen unserem Wissen ein festes Fundament zu legen, mündet so schließlich in den Befund, dass der Bereich sicherer Erkenntnis weit kleiner ist als traditionellerweise angenommen. Deshalb werden viele Meinungen und Urteile, die bisher als unproblematisch galten – dazu gehören auch und besonders solche über die Beschaffenheit äußerer Gegenstände – in Descartes’ Theorie zweifelhaft. Indem er den von Thomas eher nebenbei geäußerten Verdacht, Erkenntnis sei immer schon eine interpretierende Leistung des erkennenden Subjekts, konsequent in einen größeren theoretischen Zusammenhang einbettet, läuft Descartes’ Untersuchung auf die Feststellung zu, dass nur diejenigen empirischen Eigenschaften, die konstitutiv für die Gegenstände der Erfahrungswelt sind, von uns tatsächlich mit Sicherheit erkannt werden können. 55 Obwohl Descartes aufgrund der Zusammenlegung der geistigen Vermögen in Erkenntniskraft und Willen die produktiven geistigen Leistungen des Erkenntnissubjekts nicht unter der Überschrift eines eigenen Vermögens diskutiert, trennt er doch die ›Tätigkeiten‹ des Geistes explizit von seinen ›passiven‹ Funktionen 56 und betont die 55 In den Principia scheint Descartes sogar nahezulegen, dass auch allgemeine Konzepte, mit denen wir die Erfahrungswelt strukturieren, wie etwa Raum und Bewegung, letztlich Interpretationen sind, die wir an die Welt anlegen, s. Principia, 2.13/AT 8.47; 3.7 f./ AT 8.82. – Die Aufgabe der Wahrnehmung als der Fähigkeit, die den Bezug auf äußere Gegenstände überhaupt erst ermöglicht, reduziert sich bei Descartes denn auch auf die Ermittlung dessen, was uns (als geistigen und körperlichen Wesen) nützt oder schadet: »Die sinnlichen Wahrnehmungen sind mir nämlich eigentlich nur dazu von der Natur verliehen, um dem Geist anzuzeigen, was dem [aus Körper und Geist] Zusammengesetzten, dessen Teil er ist, zuträglich oder nicht zuträglich ist [commoda sint vel incommoda], und dafür sind sie deutlich genug«, Meditationes, 6.15/AT 7.83. 56 Treffend formuliert diesen Gedanke eine Textstelle aus den Passions: »Nachdem wir so alle Funktionen, die allein zum Körper gehören, betrachtet haben, ist es leicht zu erkennen, dass nur noch das zu betrachten bleibt, was wir unserem Geist [ame] zuteilen müssen, nämlich unsere Gedanken [pensées], die grundsätzlich zu zwei Gruppen gehören: und zwar sind die einen Tätigkeiten des Geistes, die anderen ihre Affekte. Ihre Tätigkeiten nenne ich alle unsere Willensakte [volontez], weil wir erfahren, dass sie unmittelbar aus unserem Geist kommen und als allein von ihm abhängig erscheinen.
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Wichtigkeit der erstgenannten, indem er die aktive Zustimmung oder Ablehnung zum unverzichtbaren Bestandteil aller Urteile erklärt. 57 Dabei ist er sich durchaus bewusst, dass durch seine Explikation des Erkenntnisprozesses die Erklärungen empirischer Phänomene zu bloßen Hypothesen werden. Ausdrücklich bemerkt er deshalb, er sei schon dann zufrieden, wenn er mit seiner Untersuchung (so wie Aristoteles) wenigstens zu einer möglichen Erklärung gelangt sei: »Und damit niemand glaube, dass Aristoteles mehr geleistet habe oder habe leisten wollen, so erklärt derselbe im 1. Buch seiner Meteorologie zu Beginn des 7. Kapitels ausdrücklich, dass er über das den Sinnen nicht Wahrnehmbare glaube genügende Gründe und Beweise beizubringen, sobald er nur zeige, dass das Wahrnehmbare so hätte entstehen können, wie es von ihm erklärt wird.« 58
So führt bereits zu Beginn der Neuzeit die genauere Untersuchung von Vorstellungen und der Versuch, Erkenntnisansprüche zu rechtfertigen, dazu, dass das lange für weitgehend unproblematisch gehaltene Verhältnis von Vorstellungen und den äußeren Gegebenheiten, die zu ihnen Anlass geben oder sie verursachen, problematisch wird. Descartes’ entschiedene Zurückweisung der bis dahin überaus erfolgreichen aristotelischen These, die behauptet, die wahrgenommenen Gegenstände erzeugten ihnen ähnliche Vorstellungen, trägt viel zu dieser Entwicklung bei.
2.2 Thomas Hobbes Auch Thomas Hobbes, Zeitgenosse von Descartes und Autor der dritten Einwände zu dessen Meditationen, richtet seine Theorie an den methodischen Vorstellungen aus, die kennzeichnend für die beginnende Neuzeit sind. Zusätzlich zu dem Versuch, seine Argumentation in nachvollziehbarer Weise mit der Erfahrung zu verbinden und durch
Im Gegenteil dazu kann man allgemein alle Arten von Wahrnehmung oder Kenntnissen [perceptions ou connoissances] ihre Affekte nennen, die sich in uns finden, weil es eigentlich gar nicht unser Geist ist, der sie so macht, wie sie sind, und weil unser Geist sie immer von Dingen erhält, die durch sie vorgestellt [representées] werden«, Passions, § 17/AT 11.342. 57 S. o. S. 55 f., Fn. 39. 58 Principia, 4.204/AT 8.327.
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Beobachtungen zu stützen, nimmt er eine thematische Tendenz auf, die ebenfalls typisch ist für die philosophische Diskussion dieser Epoche, nämlich deren Hinwendung zu Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Aufmerksamkeit richtet sich hier insbesondere auf die Begründung von Regeln und Institutionen und die allgemeine Legitimation von Herrschaft. 59 Hobbes’ bis heute einflussreiche Schrift Leviathan or the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth Ecclasiasticall and Civil von 1651 setzt diese methodischen und thematischen Veränderungen bereits in paradigmatischer Weise um und hat ihm deshalb den Ruf des »revolutionären Neubegründers der Politischen Philosophie« eingetragen. 60 Sie ist aber zugleich dafür verantwortlich, dass er vor allem als politischer Denker wahrgenommen wird. 61 Gerade im Leviathan formuliert Hobbes jedoch auch eine Reihe von innovativen Thesen zu epistemischen Fragen, und er beginnt diese Abhandlung mit einer Theorie des Geistes und einer Untersuchung der Fähigkeiten, Wünsche und Bedürfnisse des Menschen. Dies ist das systematische Fundament für die anschließende politischphilosophische Analyse. Überraschend daran ist, dass die erkenntnistheoretischen Vorüberlegungen vor allem in einer ausführlichen Untersuchung der Phantasie bestehen. 62 Unter den Überschriften Of Imagination und Of the Consequence or Trayne of Imaginations bestimmt er im zweiten und dritten Kapitel den Begriff und die Funktion dieses Vermögens, unter anderem in der Absicht, die Frage seiner S. dazu z. B. die klassischen Studien von Gay, 1966; und Kondylis, 1986. Kersting, 1992, 7. Sieht man von den historisch orientierten Analysen der Herrschaftssicherung ab, die Niccolò Machiavelli etwa dreißig Jahre vorher in den Discorsi (1531) und in Il principe (1532) unternommen hatte, so ist Hobbes der erste Philosoph (in nach-römischer Zeit), der sich in systematischer Weise mit der Struktur und der Möglichkeit einer Begründung weltlicher Herrschaft auseinandersetzt. 61 Bis heute sind es vor allem Soziologen, Staatsrechtler, Religionswissenschaftler, Sozialhistoriker, Ökonomen und politische Philosophen, die sich ausführlicher mit seinem Werk beschäftigen; s. Willms, 1980. 62 Der Hinweis, dass Hobbes’ »Fassung … der I d e e n a s s o z i a t i o n « die »Grundlage [seiner] gesamten Theorie des Intellekts« ist (Tönnies, 1925, 188), hat seltsamerweise so gut wie keine Folgen für die Interpretation seiner Philosophie gehabt. Dies gilt insbesondere für die zugrunde liegende Theorie der Einbildungskraft. So bringt es die imagination selbst in ausführlichen Abhandlungen zu seinem Werk oft nur auf einige kurze Erwähnungen, s. z. B. Gauthier, 1969; Green, 1993; Zarka, 1996. Eine auffällige Lücke weist in dieser Hinsicht auch die sonst um historische Vollständigkeit bemühte Monographie zur Einbildungskraft von Kearny auf, die auf einen Eintrag zu Hobbes ganz verzichtet, Kearny, 1988. 59 60
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Zuverlässigkeit zu klären. Dazu unterscheidet er terminologisch zwischen imagination und fancy63 und fasst die epistemisch problematischen Funktionen der Phantasie unter dem zweiten Begriff zusammen. Fancy mit seinen begrifflichen Wurzeln im griechischen fafflnw/fafflnomai steht bei ihm daher immer dann, wenn die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen: »pressing, rubbing, or striking the Eye, makes us fancy a light; and pressing the Eare, produceth a dinne«. 64 Und sie ist auch dann im Spiel, wenn es um die Fehler und Irrtümer geht, für die in der Tradition die Vorstellungskraft noch als Ganzes einstehen musste; ein Beispiel ist der Irrglaube an »spirits and dead mens Ghosts walking in Church-yards«.65 Die imagination dagegen soll Vorstellungen in ›geregelter‹ und zielgerichteter Weise mit Blick auf einen Wunsch oder eine Absicht verbinden: 66 anders als die ungelenkte Assoziation (unguided association) der fancy, wie sie sich etwa bei den Vorstellungsverbindungen im Traumzustand findet, richten sich die Gedankenverbindungen und Überlegungen der imagination immer auf ein Ziel. Mit der terminologischen Differenzierung von imagination und fancy bereitet Hobbes seine weitere Argumentation vor, denn die imagination wird sein wichtigstes Hilfsmittel für die Analyse und Erklärung des politischen Status quo und die anschließende Entwicklung einer eigenen Begründung weltlicher Herrschaft. Die Tatsache, dass Hobbes zwei von insgesamt drei ›Bewegungen des Geistes‹ 67 ausdrücklich als Funktionen dieses Vermögens definiert, unterstreicht die Bedeutung der imagination, ebenso wie die Tatsache, dass es für die Entwicklung des Arguments im Leviathan oft darauf ankommt, die Konsequenzen realer und irrealer Situationen in Gedanken zu ermitteln. Betrachten wir zunächst kurz Hobbes’ Kritik an der traditionellen Legitimationsstrategie, die sich auf ein höheres Wesen beruft, um Die beiden Ausdrücke markieren spätestens seit Philip Sidneys The Defense of Poesy (1525) eine Bedeutungsdifferenz im Englischen. 64 Leviathan, § 1/S. 14, meine Hervorhebung. 65 Leviathan, § 2/ S. 18; vgl. § 12. 66 S. Leviathan, § 3/S. 21 f. Zur allgemeinen Rolle von ›Absichten‹ in seiner Theorie s. Barnouw, 1980, bes. 124; 128 ff. Barnouw versucht in diesem Zusammenhang die These plausibel zu machen, dass Hobbes bereits ein Vertreter der modernen Position ist, unsere Interessen und Wünsche beeinflussten wesentlich unsere Wahrnehmung, loc. cit., 129. 67 »Sense … thoughts, and the Trayne of thoughts«, Leviathan, § 3/S. 23. 63
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Herrschaftsansprüche abzusichern und gesellschaftliche Institutionen zu begründen. Seine Analyse konzentriert sich auf die Prämisse, die diesem Begründungsversuch zugrunde liegt: den Glauben an ein höheres Wesen. Dieser Glaube gehe auf eine doppelte Angst des Menschen zurück, die zum einen aus der Unkenntnis letzter Ursachen und zum anderen aus der Unsicherheit über die Zukunft entsteht. 68 Beide Wissenslücken sind direkte Folgen der Neugier des Menschen, seines Bedürfnisses nach epistemischer Sicherheit – und der ›geregelten‹ Assoziation der imagination, denn unsere Neugier lässt uns nach Ursachen fragen und über Wirkungen spekulieren. 69 Damit hat der regulated discourse der Einbildungskraft jeweils ein Ziel. Wiederholtes Fragen nach der tieferliegenden Ursache oder der nächsten Wirkung kann uns allerdings nur an einen Punkt führen, an dem es keine weiteren wissenschaftlichen Antworten mehr gibt. Wir sind ratlos angesichts der Frage nach der ersten Ursache und der Frage entfernter Wirkungen in der Zukunft. Die Frage nach der ersten Ursache wird dabei ursprünglich von der Betrachtung eines Gegenstands oder Ereignisses 70 als ›Wirkung‹ ausgelöst: »Curiosity, or love of knowledge of causes, draws a man from the consideration of the effect, to seek the cause; and again, the cause of that cause; till of necessity he must come to this thought at last, that there is some cause, whereof there is no former cause, but is eternall«. 71
Die Angst entspringt hier in letzer Konsequenz aus der Ungewissheit selbst. 72 Unsere Spekulationen über Wirkungen entstehen dagegen dann, wenn wir annehmen, ein Ereignis oder Gegenstand sei eine mögliche ›Ursache‹ für weitere Geschehnisse, und versuchen, besonders in dem Fall, wo es uns unmittelbar betrifft, Gewissheit über den möglichen Fortgang der Ereignisse zu gewinnen. Auch hier kann es keine endgültige Sicherheit geben, und auch hier führt die fehlende Gewissheit zu ständiger Besorgnis und Angst: »that man, which looks too far before him, in the care of future time, hath his heart all day long, gnawed on by feare of death, poverty, or other calamity«. 73 68 69 70 71 72 73
S. Leviathan, § 11 f. Leviathan, § 3/S. 21. »Any thing whatsoever«, Leviathan, § 2/S. 21. Leviathan § 11/S. 74. Leviathan, § 11/S. 75. Leviathan, § 12/S. 76. A
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Diese Angst bekämpfen wir, indem wir die Wissenslücken durch Schöpfungen der fancy füllen. Sie erzeugt ohne Weiteres Vorstellungen von »severall kinds of Powers Invisible […] making the creatures of [man’s] own fancy, their Gods. By which means it hath come to passe, that from the innumerable variety of Fancy, man have created in their world innumerable sorts of Gods. And this Feare of things invisible, is the naturall Seed of that, which everyone in himselfe calleth Religion«. 74
Die zielgerichtete Assoziation der imagination führt uns so auf zwei verschiedenen Wegen jeweils zu einem Punkt, an dem die fancy in freier Spekulation Ignoranz durch Scheinerklärungen ersetzt und das Bedürfnis nach letzten Erklärungen durch Erfindungen befriedigt, die sich weiterer Überprüfung und wissenschaftlicher Diskussion entziehen. Mit seiner Analyse weist Hobbes also nach, dass die Vorstellung eines übernatürlichen Wesens vor allem von einem psychologischen Bedürfnis getragen wird. Da diese Vorstellung aber die zentrale Prämisse der traditionellen Legitimation von Herrschaft ist, formuliert er damit gleichzeitig einen Einwand, der gerade auch im Kontext der neuzeitlichen Anforderungen an die wissenschaftliche Theoriebildung durchschlagend ist. Außerdem, so gibt Hobbes zu bedenken, lädt die traditionelle Argumentation zum Missbrauch ein. Denn lässt man eine Legitimationsstrategie zu, die sich auf arbiträre Erfindungen stützt, steht zu erwarten, dass die Machtgier des Menschen wenigstens bei einigen »Evill men« 75 dazu führe, den religiösen Glauben zur Sicherung ihrer Herrschaftsansprüche zu instrumentalisieren; sie werden versuchen »to nourish, dresse, and forme it [i. e. religion] into Lawes; and to adde to it of their own invention, any opinion of the causes of future events, by which they thought they should best be able to govern others.« 76
Leviathan, § 11/S. 75. Leviathan, § 2/S. 19. 76 Leviathan, § 11/S. 75. In diesem Zusammenhang übt Hobbes ausdrücklich Kritik an der mittelalterlichen Schulphilosophie und ihren Hypothesen zur imaginatio. Anstatt Klarheit zu schaffen, trügen die Scholastiker durch ihre Ausführungen zu Visionen, Wundern, Geistern, Träumen, Prophezeiungen und allgemein zu den Willensbekundungen Gottes, die durch die imaginatio vermeintlich zugänglich werden, ihren Teil dazu bei, die weniger Gebildeten und Leichtgläubigen in Abhängigkeit von kirchlichen und religiös begründeten weltlichen Autoritäten zu halten, s. Leviathan, § 2/S. 19. 74 75
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Je nachdem für wie überzeugend man Hobbes Behauptung hält, dass einer der stärksten Antriebe des Menschen sein »perpetuall and restlesse desire of Power after Power« sei, 77 wird man diese Gefahr für wahrscheinlich oder sogar für unausweichlich halten. Die Analyse der traditionellen Antwort auf die Legitimationsfrage und das anschließenden Plädoyer für die Trennung von Kirche und Staat 78 bilden die erste Hälfte des Arguments; sie wird gefolgt von dem Versuch, einen alternativen Entwurf zur Rechtfertigung weltlicher Herrschaft plausibel zu machen. Um dem spekulativen Entwurf der Religion ein Modell gegenüberzustellen, das den neuen Anforderungen an die philosophische Theoriebildung gerecht wird, bezieht sich Hobbes auf die nähere Bestimmung der Wünsche und Absichten des Menschen, die er einleitend vorgenommen hatte. Denn sein Ziel ist es, die grundlegende Hypothese über das Verhalten des Menschen im ›Naturzustand‹ als Verlängerung der Motivationen zu formulieren, die menschliches Verhalten allgemein steuern, als »inference, made from the passions« 79 . Aus dem Wunsch der Menschen, ihre eigenen Interessen frei und ohne Rücksicht auf andere zu verfolgen, entsteht im herrschaftsfreien Zustand ein Kampf jeder gegen jeden. 80 Doch der Mensch wird eben nicht nur von seinem Wunsch nach Freiheit motiviert, sondern auch durch das Verlangen nach den Annehmlichkeiten des Lebens. 81 Viele dieser Annehmlichkeiten sind allerdings nur durch Arbeitsteilung und Kooperation zu gewinnen. 82 So entsteht ein Konflikt zwischen der uneingeschränkten Verfolgung der eigenen Interessen und der Notwendigkeit, zur Verbesserung seiner Lebensumstände mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Dieser Konflikt lässt sich nur durch Regeln, Verfahren und Institutionen lösen, die das Freiheitsstreben des Individuums und die Zwänge der gemeinschaftlichen Interessenverfolgung in einer für alle Beteiligten akzeptablen Weise zusamLeviathan, § 11/S. 70. Leviathan, § 11. 79 Leviathan, § 13/S. 89. Wichtige Determinanten in diesem Zusammenhang sind das Konkurrenzdenken, die mangelnde Selbstsicherheit und die Ruhmsucht (Competition, Diffidence, Glory), Leviathan, § 13/S. 88; sowie das Streben des Menschen nach Macht, Leviathan, § 11/S. 70. 80 Leviathan, § 13/S. 88; »a warre, as is of every man, against every man«. 81 »Desire of Ease, and sensuall Delight«; den Wunsch, Verletzung und Tod zu vermeiden; »Desire of Knowledge, and Arts of Peace«; »Desire of Praise« etc., Leviathan, § 11/ S. 70 f. 82 Leviathan, § 13/S. 89. 77 78
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menbringen, in der die Vorteile die Nachteile überwiegen. Dieses Ziel leitet und ›reguliert‹ den entsprechenden Gedankengang der imagination. 83 Hobbes’ eigener Vorschlag teilt damit offensichtlich eine zentrale Eigenschaft mit der traditionellen Legitimationsstrategie, denn auch ihr liegt eine Fiktion zugrunde. 84 Dennoch ist Hobbes’ Behauptung über das Verhalten der Menschen im herrschaftsfreien Zustand von anderer Art als die Behauptung, es existiere ein höheres Wesen, weil das Naturzustandstheorem – im Gegensatz zu den Fiktionen der Religion – keinen blinden Akt des Glaubens verlangt. Und es entspringt auch nicht einer Spekulation der fancy, sondern stützt sich auf Voraussetzungen, die in einem regulated discourse der imagination an der Erfahrung zu überprüfen, einer rationalen Diskussion zugänglich und offen für Einwände sind. 85 Anders als die religiöse Variante, der eine Für eine durchsichtige spieltheoretische Rekonstruktion des Arguments s. Kersting, 1994, 69–72. 84 Hobbes ist in der Frage, ob der Naturzustand einen tatsächlichen historischen Zustand erfasst oder nicht, bedauerlicherweise nicht so eindeutig, wie man es sich wünschen würde. Er verneint zwar ausdrücklich, dass ein solcher Zustand wirklich am Anfang einer jeden Gesellschaft gestanden habe: »It may peradventure be thought, there was never such a time, nor condition of warre as this; and I believe it was never generally so, over all the world«, Leviathan, § 13/S. 89. Andererseits deutet er aber gleichzeitig an, dass sich ein ähnlicher Zustand in vielen ›primitiven‹ Gesellschaften finden lasse, loc. cit. Insgesamt scheint er dennoch eher der Meinung zuzuneigen, der ›Naturzustand‹ sei fiktiv, denn er fordert sein Publikum an anderer Stelle explizit dazu auf, sich in diesem Kontext auf ein Gedankenexperiment einzulassen, s. De cive, 8.1/S. 117. Das an epikureische und stoische Vorlagen anschließende Naturzustandstheorem mag so in seiner hobbesschen Ausarbeitung »zunächst durchaus historische Dimensionen aufgewiesen« haben, stellt sich aber dann letztlich doch »als ein bloßes Konstrukt der resolutiv-kompositiven Methode dar, jenes wissenschaftlichen Rekonstruktionsverfahrens, mit dem komplexe Formationen in ihre Einzelbestandteile zerlegt und dann neu zusammengesetzt werden, um ihre Funktionsweise Schritt für Schritt zu isolieren«, Münkler, 1993, 97; vgl. 81 f. Münklers Behauptung, Hobbes vermeide wegen der theologischen Implikationen eine Festlegung in der Frage, ob seine Beschreibung der menschlichen Natur eine bloße »heuristische Unterstellung« sei oder »empirische Validität« besitze (Münkler, 1993, 81 ff.), kann im Hinblick auf den Leviathan allerdings nicht überzeugen. Denn gerade in diesem Werk nimmt Hobbes diesbezüglich keine Rücksicht. – John Locke formuliert später im Hinblick auf den ›Naturzustand‹ mit Nachdruck: »I moreover affirm, That all Men are naturally in that State, and remain so, till by their own Consents they make themselves Members of some Politick Society«: bezeichnenderweise jedoch ebenfalls ohne damit eine konkrete historische Behauptung zu verbinden, Locke, Two Treatises, § 16/S. 278. 85 Darüber, ob Hobbes’ Prämissen der Erfahrung entsprechen oder durch sie widerlegt 83
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willkürliche Annahme zugrundeliegt, die weder durch die Erfahrung noch durch Argumente zu belegen ist, ist Hobbes’ Vorschlag das Ergebnis eines von den Prämissen bis zur Konklusion nachvollziehbaren Gedankengangs. Obwohl Hobbes der Phantasie sowohl in seiner Kritik der bestehenden Verhältnisse als auch bei der Entwicklung seiner Alternative eine Funktion zuweist, die über das traditionelle Verständnis ihrer Zuständigkeiten und Leistungen hinausgeht, bezieht er sich in seiner Bestimmung des Vermögens und seiner Produkte an vielen Stellen doch ausdrücklich auf die bisherige Diskussion. So ist auch für ihn ein definierendes Merkmal der Phantasie die Fähigkeit, sich Abwesendes vorzustellen; 86 und er teilt die These, dass ausnahmslos alle Vorstellungsinhalte ihren letzen Ursprung in der Wahrnehmung haben: es sei nicht möglich »that Imaginations rise of themselves and have no cause«. 87 Ähnlich wie Descartes lehnt er allerdings die Behauptung ab, dass Vorstellungen stets tatsächliche ›Bilder‹ im Geist seien: »in a larger use of the word Image, is contained also, any Representation of one thing by another«; 88 und hat für die Spezies-Theorie ebenso wie Descartes nur Spott. 89 Und seine Theorie der Phantasie teilt noch ein drittes Merkmal
werden, kann man geteilter Meinung sein. Besonders was seine pessimistische Einschätzung der Antriebskräfte des Menschen angeht, hält die Diskussion bis heute an; für eine ausführliche Diskussion s. Green, 1993, 109–134. 86 Leviathan, § 2/S. 15. 87 Leviathan, § 2 f./S. 19 f. Dies gilt für imagination und fancy gleichermaßen. Ähnlich wie viele seiner Nachfolger besonders im 17. und 18. Jahrhundert, unter ihnen John Locke und David Hume, unterscheidet Hobbes zwischen einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen, simple und compounded imaginations oder ideas; s. z. B. Leviathan, § 2/S. 16. Wenn wir uns beispielsweise in die Rolle eines anderen hineinversetzten, so stellten wir damit eine »compound imagination« unserer selbst etwa als historischer Figur (›Herkules‹, ›Alexander‹) her. Hobbes bezeichnet das Produkt dieses Vorgangs ausdrücklich als eine »Fiction of the mind«, loc. cit. 88 Leviathan, § 45/S. 448. Die Beispiele, mit denen er diese Behauptung illustriert, schließen entsprechend den metaphorischen und symbolischen Gebrauch des Wortes ein: ›der Herrscher als (Eben-) Bild Gottes‹ ; ›ein unbehauener Stein als Ehrung für den Gott des Meeres‹ ; etc. Leviathan, § 45/S. 448 f. Auch Tiere, so meint er, verfügten zumindest in einem eingeschränkten, nicht-begrifflichen Sinn über das Vermögen, Dinge zu repräsentieren und zu ›verstehen‹, Leviathan, § 2/S. 19. Nicht ausgeschlossen ist selbstverständlich, dass Vorstellungen im Einzelfall visuell-bildhaft sein können; Hobbes bestreitet ebenfalls nur den notwendigen Zusammenhang. 89 »Some say the Senses receive the Species of things, and deliver them to the Commonsense; and the Common Sense delivers them over to the Fancy, and the Fancy to the A
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mit derjenigen von Descartes: die Ablehnung der ausdifferenzierten Vermögenspsychologie des Mittelalters. 90 Dies wird unter anderem in seiner Formel von der imagination als verblassender Sinneswahrnehmung (decaying sense) deutlich, die den Unterschied zwischen Vorstellung und Erinnerung auf eine graduelle Abstufung reduziert. Tatsächlich meint Hobbes, die begriffliche Unterscheidung sei allein Ausdruck der Tatsache, dass in verschiedenen Zusammenhängen ein unterschiedliches Gewicht auf die jeweiligen Aspekte gelegt wird. 91 Geht es primär um den Aspekt der zeitlichen Ferne einer Wahrnehmung, so sprechen wir von Erinnerung, geht es dagegen primär um den Inhalt einer Wahrnehmung, so kommt der Ausdruck ›Vorstellung‹ zur Anwendung. 92 Die Tatsache, dass Hobbes die sprachliche Differenzierung von Erinnerung und Vorstellung an der Verschiedenheit des jeweiligen Untersuchungszusammenhangs festmacht und damit eine in der Sache nur schwer haltbare Position vertritt, ist wohl nicht zuletzt dadurch motiviert, dass es ihm mit seiner Theorie der Vorstellungen und der Vorstellungskraft allein darum geht, die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zu klären, auf die sich seine weitere praktische Argumentation stützen wird. Und dafür scheint eine hochkomplexe Vermögenstheorie, deren Behauptungen nur mit größerem Aufwand an der Erfahrung zu überprüfen sind, nicht erforderlich zu sein. So ist Hobbes der erste Philosoph, der nicht nur die Wichtigkeit der Vorstellungskraft für die epistemische Reflexion anerkennt, sondern diese Einsicht bei der Entwicklung seiner Theorie auch konsequent und umfassend umsetzt. Die Fähigkeit dieses Vermögens, auf der Grundlage der Erfahrung neue gedankliche Verbindungen herzustellen, 93 erfüllt in seiner Argumentation eine doppelte Funktion. Erstens ist sie unentbehrlich für die Analyse des Status quo, zweitens spielt sie eine zentrale Rolle bei der Formulierung des Gegenvorschlags. Erst durch die Fähigkeit, Dinge in Gedanken durchspielen zu können, können die Argumente des Leviathan Konturen annehmen. Memory, and the Memory to the Judgement, like handing of things from one to another, with many words, making nothing understood«, Leviathan, § 2/S. 19. 90 Ausführlich dazu Peters, 1956, bes. Kap. 5. 91 Leviathan, § 2/S. 15 f.; vgl. De corpore, 25.5. Rees weist darauf hin, dass diese Bestimmung an Aristoteles’ » fantasffla ¥st½n a—sqhsffl@ ti@ ⁄sqenffi@«, erinnere, Rees, 1972, 494; s. Aristoteles, Ars rhetorica, 1.2.1370a. 92 Leviathan, § 2/S. 16. 93 S. z. B. Leviathan, § 3/S. 20.
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Die Tatsache, dass Hobbes seinen praktischen Überlegungen zur gesellschaftlichen Organisation des Menschen und zur Legitimation von Herrschaft zwei ›erkenntnistheoretische‹ Kapitel ausgerechnet über die Vorstellungskraft voranstellt, stellt die Wichtigkeit dieses Vermögens zusätzlich heraus. 94 Dabei ist es nicht ohne Ironie, dass Hobbes’ Argumentation im Nachhinein das theologisch motivierte Misstrauen bestätigt, mit dem das Mittelalter der Phantasie begegnete. Allerdings kommt die Gefahr aus einer anderen Richtung als vermutet. Anstatt den Einzelnen vom Glauben zu entfernen, entfernt sie die Vertreter Gottes auf Erden von der weltlichen Herrschaft. Im ausdrücklichen Rekurs auf die Phantasie formuliert Hobbes ein Argument, das philosophiehistorisch das Ende der Herrschaftsbegründung unter Berufung auf religiöse Prinzipien markiert. 95
2.3 John Locke Terminologisch tritt die Vorstellungskraft in John Lockes Erkenntnistheorie nicht nennenswert in Erscheinung. Die Fähigkeiten und geistigen Operationen, die ihr traditionellerweise zugeschrieben werden, Zwar geht es im Leviathan vornehmlich um ein praktisches Thema, doch Hobbes stellt eben – anders als viele seiner Vorgänger – schon durch die ausdrückliche Abhandlung erkenntnistheoretischer Fragen zu Beginn dieses Werkes einen engen Zusammenhang zwischen den epistemischen Grundlagen und seiner praktischen Argumentation her: »[he] was the first modern philosopher to use the same method and the same concept of knowledge in both the theoretical and the practical philosophy«, Kersting, 1988, 126. 95 Der Titel des Werkes und die Charakterisierung des absoluten Herrschers als ›sterblicher Gott‹ (Leviathan, § 17; 28), bleibt dabei selbstverständlich die größte Provokation, denn trotz der anfänglichen Suggestion, der ›Leviathan‹ sei aufgrund seiner Sterblichkeit in der Hierarchie der Götter unter dem unsterblichen Gott des Christentums anzusiedeln, wird im Verlauf der Argumentation klar, dass sowohl der ›künstliche‹ Herrschergott als auch die religiöse Gottesvorstellung Erfindungen des Menschen sind – und Hobbes unternimmt den Nachweis, dass die sterbliche Variante zudem um einiges besser zu begründen ist als die unsterbliche Version. Bei genauerer Betrachtung trifft also das genaue Gegenteil des ersten Eindrucks zu: der ›sterbliche Gott‹ steht, zumindest in der Rechtfertigungshierarchie, deutlich über dem unsterblichen. Genau genommen ist dieser Gedanke bereits im Eröffnungssatz des Leviathan angelegt: dadurch, dass die Natur an erster Stelle erwähnt wird, stellt Hobbes sie, und damit die Welt des Menschen, zumindest rhetorisch schon an dieser Stelle über die Gottesvorstellung, s. dazu Martinich, 1999, 225. 94
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fasst er unter die Überschrift ›Verstand‹ (understanding). 96 Umso interessanter ist allerdings seine Theorie der Vorstellungen, die im Zentrum seines theoretischen Hauptwerkes steht, des Essay concerning Human Understanding von 1689. 97 Denn an ihr wird deutlich, wie sehr der Gedanke, dass ein Großteil unseres Wissens auf einer Interpretationsleistung des erkennenden Subjekts beruht, inzwischen die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung bestimmt. Die Art und Weise, wie Locke diesem Gedanken mit seiner Umdeutung des Vorstellungsbegriffs Rechnung trägt, brachte allerdings bereits seine Zeitgenossen auf und verwirrte sie. Schon bevor David Hume erklärt, er habe vor, dem Begriff wieder zu seiner ›ursprünglichen‹ Bedeutung zu verhelfen, »from which Mr. Locke had perverted it«, 98 gibt es eine Reihe entsprechender Reaktionen seiner Zeitgenossen. 99 Im vorliegenden Kontext sind besonders vier Themen der lockeDurch diese wenig spezifische Einordnung kann er u. a. eine Festlegung in der Frage vermeiden, ob Geist und Materie zwei verschiedene ›Substanzen‹ sind oder nur zwei Aspekte einer einzigen. Indizien dafür, dass dies tatsächlich eine seiner Intentionen hinter der terminologischen Zurückhaltung war, sind sowohl die Diskussion der (komplexen) Vorstellungen von Substanzen (Of our Complex Ideas of Substances) im zweiten Buch (Essay, 295–317/2.23) als auch die Stellen im vierten Buch dieses Werkes, wo Locke einräumt, dass es vielleicht unmöglich sei, fundiert zwischen einem Geist-Materie-Dualismus und einem materialistischen Monismus zu entscheiden, Essay, 539–543/ 4.3.6. Ayers fasst Lockes Haltung in der Feststellung zusammen, seine Argumentation sei eine rein negative (purely sceptical), und stellt fest: »A sceptical argument against dogmatic materialism may be perfectly concordant with a sceptical argument against dogamtic dualism«, Ayers, 1991, 2.44, vgl. auch 2.42–47. Den Verdacht, er halte den Dualismus letztlich doch für die attraktivere Position, der durch die Ausführungen in Abschnitt 23 des zweiten Buches genährt wird, versucht Locke in einem Brief an den Bischof von Worcester auszuräumen, Locke, Works, 4.33–37. 97 Dieses Werk war erst 1690 im Handel, auch wenn das Erscheinungsdatum offiziell mit 1689 angegeben wird, und erfuhr in seiner heute maßgeblichen vierten Auflage 1699 einige substantielle Ergänzungen. 98 Hume, Treatise, 1.1.1.1 Fn. 2. 99 S. Yolton, 1956, 87 ff. Ausführlich diskutiert Yolton in diesem Zusammenhang die Reaktionen von Henry Lee, Edward Stillingfleet (Lord Bishop of Worcester), Timothy Goodwin, John Norris und anderen, s. bes. Yolton, 1956, 87–98. Lockes Umdeutung des Vorstellungsbegriffs war, wie Yolton nachweist, häufig entscheidend für die zeitgenössische Ablehnung des gesamten Modells, Yolton, 1956, 90; 103. – Die Theorie, vor deren Hintergrund besonders John Sergeant seine Kritik formuliert, veranlasste Locke jedoch nur zu einer spöttischen Reaktion: »And now let the reader consider whether by reading what he finds from hither [i. e. Sergeant’s account] he has not got a perfect clear knowledge how material things get into the imateriall soule«, Note Nr. 24/S. 76; s. auch Yolton, 1956, 110. 96
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schen Vorstellungstheorie von Interesse: seine Unterscheidung von nominalen und realen Essenzen, seine Erklärung des Abstraktionsprozesses, die Ausführungen über ›zusammengesetzte Vorstellungen‹ (complex ideas) und schließlich seine allgemeinen Bemerkungen über die Entstehung von Vorstellungen. Ein kurzer Blick auf die Terminologie und den allgemeinen theoretischen Hintergrund sind dabei von Vorteil für ein Verständnis seiner Theorie der Vorstellungen. Die zentrale epistemische These Lockes ist, dass der Geist von sich aus vollkommen leer ist und über keine (spezifischen) Inhalte verfügt. Diese kämen erst durch die Sinne und bildeten sich nach und nach im Geist: »The Senses at first let in particular Ideas, and furnish the yet empty Cabinet: And the Mind by degrees growing familiar with some of them, they are lodged in the Memory, and Names got to them. Afterwards the Mind proceeding farther, abstracts them, and by Degrees learns the use of general Names. In this Manner, the Mind comes to be furnish’d with Ideas and Language, the Materials about which to exercise its discursive Faculty.« 100
Dennoch geht auch Locke wie selbstverständlich davon aus, dass der Geist in seinem ursprünglichen Zustand schon über das Vermögen verfügt, Verbindungen zwischen Vorstellungen herzustellen, sie zu vergleichen und neu zusammenzusetzen. 101 Ähnlich wie Descartes unterscheidet Locke nur zwei grundlegende Vermögen, den Verstand und den Willen, beziehungsweise zwei grundlegende Tätigkeiten, Denken/Erfassen 102 und Wollen: »The two great and principal Actions of the Mind … are these two: Perception, or Thinking, and Volition, or Willing.« 103 Und auch er schreibt den Irrtum einer vorschnellen ZuEssay, 55/1.2.15; vgl. 104/2.1.2. S. z. B. Essay, 119 f./2.2.2; 164/2.12.2. 102 Die lateinischen Ausdrücken percipere/perceptio und ihre englischen Gegenstücke haben im Deutschen keine angemessene Entsprechung. Sie werden unter diesem Vorbehalt hier mit ›wahrnehmen‹ oder ›erfassen‹ und ›Wahrnehmung‹ oder ›Erfassen‹ übersetzt. 103 Essay, 128/2.7.2. Der Unterschied zwischen Denken und Erfassen ist der zwischen einer aktiven und einer weitgehend passiven Tätigkeit. So bestimmt Locke die Tätigkeit des Denkens als »that sort of operation of the Mind about its Ideas, wherein the Mind is active«. Über die Tätigkeit des Wahrnehmens dagegen heißt es an derselben Stelle: »in […] Perception, the Mind is, for the most part, only passive; and what it perceives, it cannot avoid perceiving«, Essay, 143/2.9.1. Den Willen expliziert er, ebenfalls im zweiten Buch, als »[a] power to direct the operative faculties to motion or rest in particular instances«, Essay, 282/2.21.71. Dennoch: es ist zwar naheliegend, aber irreführend, die 100 101
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stimmung zu. 104 An den seltenen Stellen, an denen Locke die Ausdrücke imagination und fancy im Sinn geistiger Vermögen verwendet, stehen sie im Kontext der kreativen künstlerischen Phantasie. 105 Die Funktionen und Tätigkeiten, die in der Tradition der Vorstellungskraft zugeschrieben wurden, subsumiert er unter den Verstand. Ein Reflex des mittelalterlichen Misstrauens klingt in der Bewertung bestimmter Vorstellungen nach, 106 wenn es um Wahnvorstellungen, Hirngespinste, die Inkohärenz von Behauptungen und Ähnliches geht – auch wenn Locke hier in der großen Mehrheit der Fälle den Ausdruck idea und nicht imagination oder fancy verwendet. Die Definition des Vorstellungsbegriffs findet sich zu Beginn des ersten Buches des Essay: »[Idea] being that Term, which, I think, serves best to stand for whatsoever is the Object of the Understanding when a Man thinks, I have used it to express whatever is meant by Phantasm, Notion, Species, or whatever it is, which the Mind can be employ’d about in thinking.«
Lockes anschließende Bemerkung, »I could not avoid frequently using [that term],« 107 ist eine starke Untertreibung, denn kein anderes Substantiv taucht derart häufig im Essay auf. 108 Neben der reinen Quantität, mit der der Ausdruck auftritt, unterstreicht die Formulierung des Programms zu Beginn des ersten Buches die zentrale Stellung der Vorstellungen (ideas). Denn hier identifiziert Locke als Hauptziele seiner Untersuchung: den Ursprung der Vorstellungen zu ermitteln; die Art und die ›Sicherheit‹ des Wissens zu bestimmen, das der Verstand durch Vorstellungen gewinnt; das Phänomen des Fürwahrhaltens und die lockesche Charakterisierung der »Sinneswahrnehmung und Reflexion als gegensätzliche aber stets zusammenwirkende Prinzipien dem Kantischen Begriffspaar ›Rezeptivität‹ und ›Spontanität‹ [anzugleichen]«, Krüger, 1973, 107. 104 Allerdings macht Locke für ihn den Verstand, und nicht wie Descartes den Willen verantwortlich; Essay 706/4.20.1; vgl. 703/4.19.11; und s. o. S. 55 f., Fn. 39. 105 Essay, 224/2.18.3; 153/2.10.8; 456/3.6.29. 106 Z. B. Essay 161/2.11.13; 582/4.6.8; 634 f./4.11.8; s. auch 180/2.13.27; 562 f./4.4.1 f. 107 Essay, 47/1.1.8. Die unterschiedslose Erwähnung der einschlägigen traditionellen Bezeichnungen – phantasma, notio, species – in diesem Kontext weist darauf hin, dass es Locke in erster Linie um einen systematischen Gedanken geht. Trotz der Ablehnung der Schulphilosophie, in der sich Locke mit Descartes und Hobbes einig ist, macht auch er allerdings gelegentlich sachliche Anleihen bei ihr. So heißt es beispielsweise im zweiten Buch in Anlehnung an De anima, dass die Wahrnehmung dem Geist Vorstellungen einpräge, welche später in Abwesenheit des wahrgenommenen Gegenstandes aktiviert werden können, etc.; s. Essay, 149/2.10.2. 108 Chappell, 1994, 26.
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Grade der Zustimmung zu erforschen, die wir Behauptungen entgegenbringen; und damit allgemein den Umfang des dem Menschen durch seinen Verstand möglichen Wissens festzustellen. 109 Wie Lockes Vorstellungsbegriff zu interpretieren ist, ist vor allem in den Einzelheiten bis heute kontrovers. Allerdings sind die meisten der besonders strittigen Detailfragen hier von untergeordneter Bedeutung. So müssen etwa die Frage nach dem ontologischen Status von Vorstellungen 110 und die Frage der systematischen Plausibilität der terminologischen Differenzierungen im Bezug aufeinander nicht definitiv geklärt werden, wenn es darum geht, die allgemeinen terminologischen und sachlichen Veränderungen nachzuzeichnen. Denn trotz aller Differenzen ist es unstrittig, dass die Bestimmung von Vorstellungen als dasjenige, »was auch immer der Gegenstand des Verstandes ist, wenn ein Mensch denkt«, als das, worauf sich unser Denken bezieht, es nahe legt, sie als ›mentale Inhalte‹ (cognitive/mental contents) 111 oder ›intentionale Gegenstände‹ 112 zu klassifizieren. Diese Inhalte unseres Denkens werden gemäß der Behauptung, dass der Geist zunächst ohne Inhalt sei, von äußeren Gegebenheiten verursacht oder veranlasst, und wir unterstellen, dass die Inhalte unserer Vorstellungen den Gegenständen, die sie verursachen, ähnlich sind. Unstrittig ist auch Lockes Meinung, dass diese Gegenstände nicht dadurch beeinflusst werden, dass und wie wir sie wahrnehmen. Trennt man in der Analyse entsprechend aufmerksam zwischen den (von uns angenommenen) Gegenständen der Außenwelt und den Vorstellungen als Gegenständen der Innenwelt, so erleichtere dies die Argumentation: »To discover the nature of our Ideas the better, and to discourse of them intelligibly, it will be convenient to distinguish them, as they are Ideas or Perceptions in our Minds; and as they are modifications of matter in the Bodies that cause such Perceptions in us.« 113 109 110
Essay, 43 ff./1.1.2–5. Dies ist eine Frage, die schon früh an Lockes Modell gerichtet wurde, s. Yolton, 1956,
91. Yolton, 1975, 384. S. Ayers, 1991, 1.52–66; Yolton, 1984, 88–104; sowie Mackie, 1985, 223; und Ayers, 1986, 19. 113 Essay, 134/2.8.7. »’Tis evident, the Mind knows not Things immediately, but only by the intervention of the Ideas it has of them«, Essay, 563/4.4.3. Yolton diskutiert diese Verdopplung von Gegenständen (im Hinblick auf einen ähnlichen Gedanken bei Hume) unter der Überschrift »double-existence view«, Yolton, 1984, 158; s. 147–164; und Yolton, 1956, 103. Einer der Vorwürfe, die Locke bereits von seinen zeitgenössischen Kom111 112
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Terminologisch trägt Locke dem Unterschied dadurch Rechnung, dass er die Vorstellungen als die unmittelbaren Gegenstände des Geistes bezeichnet, ihre Ursachen, die äußeren Gegenstände beziehungsweise ihre Eigenschaften, als mittelbare, dem Geist eben nur über Vorstellungen zugängliche Gegenstände: »Whatsoever the Mind perceives in it self, or is the immediate object of Perception, thought, or Understanding, that I call Idea; and the Power to produce any Idea in our mind, I call Quality of the Subject wherein that power is. Thus a Snow-ball having the power to produce in us the Ideas of White, Cold, and Round, the Powers to produce those Ideas in us, as they are in the Snowball, I call Qualities; and as they are Sensations, or Perceptions, in our Understandings, I call them Ideas: which Ideas, if I speak of sometimes, as in the things themselves, I would be understood to mean those Qualities in the Objects which produce them in us.« 114
In diesem Zusammenhang formuliert Locke auch die inzwischen bekannte These, dass Vorstellungen weder Bilder (images) der sie verursachenden äußeren Gegenstände sein müssen noch diesen Gegenständen ähnlich. 115 Angesichts seiner ausdrücklichen Ablehnung einer Bildtheorie sind die wenigen Stellen, an denen Locke sich gegenteilig zu äußern scheint, 116 wohl in der Tat eher sprachlicher Nachlässigkeit zuzuschreiben als tatsächlich Belege dafür, dass er eine Bildtheorie vertreten wollte. 117 Dafür spricht auch, dass er explizit einen Grund dafür mentatoren gemacht wurden, ist, dass er mit den ›mentalen Gegenständen‹ ohne Not eine zusätzliche Klasse von Gegenständen in seine Erkenntnistheorie eingeführt habe. Dazu auch die konzise Diskussion dieses Einwands bei Chappell, 1994, 30 f. 114 Essay, 134/2.8.8. 115 »[T]hat so we may not think (as perhaps usually is done) that they are exactly the Images and Resemblances of something inherent in the subject; most of those of Sensation being in the Mind no more the likeness of something existing without us, than the Names, that stand for them, are the likeness of our Ideas, which yet upon hearing, they are apt to excite in us«, Essay, 134/2.8.7; vgl. 557/4.3.26; explizit auch im Hinblick auf moralische Vorstellungen, Essay, 550/4.3.19; dass Vorstellungen bildhaft sein können, gesteht Locke – ebenso wie viele seiner Vorgänger – dagegen zu, s. z. B. Essay, 378/ 2.31.6. 116 Z. B. »Just thus it is with our Ideas, which are, as it were, the Pictures of Things.« Essay, 366/2.29.8; und Essay, 152/2.10.5, wo er von »Pictures drawn in our Minds« spricht; und auch 163/2.11.17, wo eine Camera-Obscura-Analogie verdeutlichen soll, wie der Geist zu seinen Vorstellungen kommt. 117 Dies hält Ayers (und andere Kommentatoren) allerdings nicht davon ab, ihm dies dennoch zu unterstellen, s. Ayers, 1991, 1.44–51. Eine schlüssige Argumentation für seine Behauptung, »[that d]espite the relative unpopularity of an affirmative answer,
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gibt, warum sich die Ähnlichkeitsthese immer wieder aufdrängt, auch wenn Argumente uns überzeugt haben, dass eine bildhafte Interpretation von Vorstellungen falsch ist. Seine Vermutung ist, dass unsere Sinne keine Möglichkeit haben, zwischen (dem Inhalt) der Vorstellung und der sie verursachenden Eigenschaft eines Gegenstandes eine Differenz festzustellen – schließlich können wir den Wahrnehmungsprozess selbst nur in Gedanken und rein hypothetisch aus der Außenperspektive betrachten. Deshalb scheint es naheliegend zu sein, eine Ähnlichkeit zwischen Vorstellungsinhalt und dem sie verursachenden äußeren Anlass anzunehmen, weil es schlicht die einfachste Hypothese ist. 118 Lockes Diskussion der Ähnlichkeit zwischen den vorgestellten Inhalten und den Eigenschaften von Gegenständen, die zwar nicht zwingend, aber durchaus möglich ist, erhält besonders im Zusammenhang der Unterscheidung der verschiedenen Arten von Eigenschaften äußerer Gegenstände eine interessante Wendung. Wie schon Descartes unterscheidet Locke zwischen solchen Eigenschaften, für deren ›Realität‹ unsere Art sie zu erfassen unerheblich ist, und solchen, die stark von der Art und Weise abhängen, wie wir sie wahrnehmen, zwischen ›primären‹ und ›sekundären‹ Eigenschaften. Die erstgenannten beziehen sich auf tatsächliche Eigenschaften von Gegenständen: »The particular Bulk, Number, Figure, and Motion of the parts of Fire, or Snow, are really in them, whether any ones Senses perceive them or no: and therefore they may be called real Qualities, because they really exist in those Bodies.« 119
›Sekundäre‹ Eigenschaften dagegen schreiben wir Gegenständen aufgrund der spezifischen Konfiguration unseres Wahrnehmungsapparats zu; sie sind Dispositionen (powers) der Gegenstände, in uns bestimmte Eindrücke (sensations) zu erzeugen. 120 Die entsprechenden Zuschreibungen erfassen daher keine tatsächlichen Eigenschaften von Gegenständen und sind denjenigen Gegebenheiten, die sie veranlassen, ›unthe grounds for holding him an imagist are conclusive« (Ayers, 1991, 1.44), fehlt – was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass Ayers seine Überlegungen ausschließlich auf visuelle Vorstellungen stützt; ein Vorgehen, das in diesem Zusammenhang zwar hohe Suggestions-, aber geringe Beweiskraft hat. 118 S. Essay, 142/2.8.25. 119 Essay, 137 f./2.8.17. 120 Essay, 137/2.8.14 f. A
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ähnlich‹. 121 Die Ähnlichkeit der Vorstellungsinhalte bei den ›realen‹ Eigenschaften primärer Qualitäten dagegen beruht auf der Überzeugung, dass ihre mentale Repräsentation neutral zu der Beschaffenheit unseres Geistes und unseres Wahrnehmungsapparates ist. So nehmen wir an, »[that] the Ideas of primary Qualities of Bodies, are Resemblances of them, and their Patterns do really exist in the Bodies themselves« 122 . Allerdings steht diese These der Sache nach auf schwachen Füßen. Im vierten Buch, wo Locke sie erneut aufgreift, 123 räumt er sogar selbst ein, dass die Beziehung zwischen äußeren Gegenständen und unseren Vorstellungen dieser Gegenstände letztlich undurchsichtig ist. Dass es dennoch keine Veranlassung gibt, im Fall der ›primären‹ Eigenschaften an der Ähnlichkeitshypothese zu zweifeln, auch wenn sich die Relation unserem Verständnis entzieht, 124 sei auf einen wohlwollenden Schöpfergott zurückzuführen, der das Verhältnis von Geist und Welt eben so eingerichtet habe. 125 Neben der thematischen Differenzierung von Vorstellungen anhand ihres Status als primär oder sekundär trifft Locke weitere Unterscheidungen. So gibt es für ihn zwei Arten, wie Vorstellungen zustande kommen können, nämlich einerseits dadurch, dass die Sinne etwas erfassen oder wahrnehmen, andererseits durch Reflektion. Die erste Art von Vorstellungen nennt er Sinneseindrücke (sensations); ihre Gegenstände sind körperliche Objekte oder deren (primäre und sekundäre) Eigenschaften sowie Zustände und Ereignisse der Außenwelt. Die zweite Kategorie von Vorstellungen nennt er Reflektionen (reflections): ihre Gegenstände sind ›geistige Vorgänge‹, mentale Eigenschaf-
Essay, 137/2.8.15. Essay, 137/2.8.15. Eine elegante Möglichkeit, die Ähnlichkeitsbehauptung zu interpretieren, ist, sie anhand des Vokabulars zu explizieren, das bei der Beschreibung von Vorstellungen und den Gegenständen, auf die sie sich beziehen, zum Einsatz kommt. Gehören die in der Beschreibung verwendeten Prädikate der gleichen Klasse von Ausdrücken an, liegt eine Ähnlichkeit vor – wie beispielsweise im Fall der Zuschreibung geometrischer Eigenschaften: der Vorstellung eines runden Gegenstands entspricht die Charakterisierung dieser Eigenschaft eines Gegenstandes als rund. Anders etwa im Fall von Farbvorstellungen: dort steht den Farbprädikaten eine physikalische Beschreibung der Beschaffenheit der Oberfläche mit ihrer Eigenschaft, Licht einer bestimmten Wellenlänge zu reflektieren, gegenüber. 123 Essay, 558 f./4.3.28. 124 Essay, 559/4.3.28. 125 Essay 564/4.4.4; 375/2.31.2. 121 122
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ten und mentale Zustände. Sie erfasst ein ›innerer Sinn‹. 126 Sinneseindrücke und Reflektionen bilden eine vollständige Disjunktion. 127 Zusätzlich zu dieser genetischen Unterscheidung unterscheidet Locke zwischen einfachen und komplexen Vorstellungen. Einfache Vorstellungen können inhaltlich nicht weiter unterteilt werden, komplexe Vorstellungen setzen sich aus ihnen zusammen. Als paradigmatischen Fall einfacher Vorstellungen nennt Locke die Vorstellungen sekundärer Eigenschaften äußerer Gegenstände: »gelb, weiß, heiß, kalt, weich, hart, bitter, süß«. 128 Bei komplexen Vorstellungen gibt es im Wesentlichen zwei Varianten, nämlich einerseits komplexe Vorstellungen von realen äußeren Gegebenheiten, andererseits solche, die keine äußeren Entsprechungen haben. Besonders diese Unterscheidung soll bei der Bestimmung der Natur und der Reichweite unseres Wissens helfen, 129 und Locke erläutert sie ausführlich. Betrachten wir zunächst den ersten Fall komplexer Vorstellungen. Ein äußerer Gegenstand besitzt immer mehrere Eigenschaften, er ist ausgedehnt, hat eine bestimmte Gestalt und Masse, er besteht aus einem bestimmten Material, wir nehmen ihn als schwer oder leicht, starr oder elastisch wahr und schreiben ihm, sofern er nicht durchsichtig ist, eine bestimmte Farbe zu, usw. Von dieser Art ist beispielsweise die Vorstellung eines Baumes. Sie setzt sich aus der Vorstellung seiner Farbe, der Vorstellung seiner Größe, der Vorstellung seiner Form und den Vorstellungen weiterer Eigenschaften zusammen, die wiederholt an diesem Gegenstand beobachtet wurden. Durch Reflektion auf den Wahrnehmungsprozess können wir uns die Tatsache bewusst machen, dass es mehrere verschiedene einfache Vorstellungen sind, die aufgrund ihres mehrmaligen gemeinsamen Auftretens in einer Vorstellung erfasst werden, »that a certain number of these simple Ideas go constantly together; which being presumed to belong to one thing, and […] are [then] called […] by one name« 130 . Die Zuordnung mehrerer Eigenschaften macht die Vorstellung des Gegenstandes zu einer komplexen Vorstellung, weil sie aus mehreren (einfachen) Vorstellungen zusammengesetzt wird, wobei die Zusammensetzung bereits in der Wahrneh-
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Essay, 105/2.1.4; vgl. 404/3.1.5. Essay, 106/2.1.5. Essay, 105/2.1.3. Essay, 119/2.2.1. Essay, 295/2.23.1. A
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mung geschehen soll und keiner weiteren aktiven Leistung des Erkenntnisvermögens bedarf. Für Locke folgt sie schlicht aus der Tatsache, dass der menschliche Wahrnehmungsapparat so beschaffen ist, dass er visuelle, haptische, akustische und andere Eindrücke automatisch auf eine gemeinsame Quelle bezieht. Die Annahme, es handle sich bei der gemeinsamen Quelle, auf welche die Eindrücke bezogen werden, um einen Gegenstand, es gäbe ein Substratum, das ihnen zugrunde liegt, oder eine Substanz, ist dann in der Tat ein naheliegender Schluss: »[A]ll our Ideas of the several sorts of Substances, are nothing but Collections of simple Ideas, with a Supposition of something, to which they belong, and in which they subsist […] all the simple Ideas, that thus united in one common Substratum make up our complex Ideas of the several sorts of Substances, are no other but such, as we have received from Sensation or Reflection.« 131
Der zweite Fall, die Verbindung von einfachen oder auch selbst schon komplexen Vorstellungen zu neuen komplexen Vorstellungen, die sich nicht auf einen wirklichen äußeren Gegenstand beziehen, setzt dagegen eine sehr viel größere Aktivität des Erkenntnisvermögens voraus: »The Mind often exercises an active Power in the making these several Combinations. For it being once furnished with simple Ideas, it can put them together in several Compositions, and so make a variety of complex Ideas, without examining whether they exist so together in Nature.« 132
Im dritten Buch des Essay erläutert Locke ihre Genese als einen dreistufigen Prozess: »To understand this aright, we must consider wherein this making of these complex Ideas consists; and that it is not in the making any new Idea, but putting together those which the Mind had before. Wherein the mind does these three things: First, It chuses a certain Number. Secondly, It gives them connexion, and makes them into an Idea. Thirdly, It ties them together by a Name.« 133 131 Essay, 316/2.23.37; vgl. 295/2.23.1 f.; 297/2.23.4 f.; 374/2.30.5. In einem trivialen Sinn ist selbstverständlich auch dieser ›Automatismus‹ nicht gänzlich frei von einer Aktivität des Erkenntnisvermögens, doch er involviert eine aktive Leistung nur »in dem bescheidenen Sinne, dass [die entsprechende Aktion] bewußt und mit Aufmerksamkeit ausgeführt werden muß, wenn sie denn wirklich ›Wahrnehmung‹ sein soll«, Krüger, 1973, 109. 132 Essay, 288/2.22.2; vgl. 289/2.22.4; und 119/2.2.2. 133 Essay, 429 f./3.5.4.
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Wie viele und welche Vorstellungen zu einer neuen Vorstellung zusammengesetzt werden, ist demnach eine bewusste Entscheidung, deren einzige Einschränkung auch hier darin besteht, dass der Geist keine einfachen Vorstellungen aus dem Nichts erschaffen kann. 134 Weil alle Vorstellungen sich in Lockes Modell in letzter Instanz auf einfache Vorstellungen zurückführen lassen, gilt diese Restriktion selbst für diejenigen komplexen Vorstellungen, denen in der Realität nichts entspricht, denn sie müssen, wie alle anderen komplexen Vorstellungen auch, entweder aus mehreren Sinneseindrücken zusammengesetzt sein oder aus mehreren Reflektionen oder einer Kombination von beiden. 135 Die Liste von Beispielen für komplexe Vorstellungen ist lang. Sie reicht von den seltsamen Vorstellungen im Traum 136 über relationale Vorstellungen wie ›Vater‹ oder ›Freund‹ 137 bis hin zu dem Vokabular, mit dem wir Handlungen beschreiben oder beurteilen, 138 einschließlich gesellschaftlicher Institutionen wie Duell, Diebstahl 139 und Gerechtigkeit. 140 Ebenso umfasst sie Vorstellungen von ›Substanzen‹ wie Gold oder Tiger und auch solche Vorstellungen, denen nichts in der Welt entspricht. Eine Teilklasse dieser zuletzt genannten Vorstellungen sind die ›fantastischen‹ Vorstellungen, die ausdrücklich gegen jede Erkenntnisabsicht gebildet werden. 141 Essay, 120/2.2.2; s. auch 318/2.24.3. Essay, 292/2.22.9; 316/2.23.37. 136 »The Dreams of sleeping Men, are, as I take it, all made up of the waking Man’s Ideas, though, for the most part, oddly put together«, Essay, 113/2.1.17. 137 Essay, 360/2.28.18. 138 ›Moral words‹, Essay, 361/2.28.18; vgl. 292/2.22.9. Diese Vorstellungen bringen jeweils das Verhältnis eines Einzelfalls zu einer Regel zum Ausdruck, »the Relation of humane Actions to a Law«, Essay, 360/2.28.17. Ein Zustand wie ›Trunkenheit‹ oder eine Tätigkeit wie ›Lügen‹ sind für Locke dagegen komplexe Vorstellungen im ersten Sinn, das heißt eine gleichzeitig an einem Gegenstand wahrgenommene Ansammlung verschiedener Merkmale, »a Collection of simple Ideas«, Essay, 359/2.28.15. 139 Essay, 359/2.28.15 f. 140 ›Mixed modes‹, Essay, 373/2.30.3. 141 Essay, 562 f./4.4.1; 506/3.10.30. In diesem Zusammenhang spricht Locke bezeichnenderweise oft von ›fantastical imaginations‹ anstatt von ›fantastical ideas‹. Im vierten Buch stellt er »real knowledge« ausdrücklich der »bare empty Vision of vain insignificant Chimeras of the Brain« gegenüber, Essay, 565/4.4.6. – Da solche Vorstellungen Verwirrung und Unklarheit erzeugen, hält Locke ihre Bildung für einen Missbrauch der Sprache; denn deren Hauptzweck ist die effiziente Verständigung, s. Essay, 431 f./ 3.5.7; 460/3.6.33. Und Kommunikation kann nur dann erfolgreich sein, wenn Vorstel134 135
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»No body joins the Voice of a Sheep, with the Shape of a Horse; not the Colour of Lead, with the Weight and Fixedness of Gold, to be the complex Ideas of any real Substances; unless he has a mind to fill his Head with Chimæra’s, and his Discourse with unintelligible Words. […] For though Men may make what complex Ideas they please, and give what Names to them they will; yet if they will be understood, when they speak of Things really existing, they must, in some degree, conform their Ideas to the Things they would speak of.« 142
Um die ›fantastischen‹ von den übrigen komplexen Vorstellungen unterscheiden zu können – für die einfachen Vorstellungen stellt sich die Frage nicht, weil sie immer einen unmittelbaren Gegenstandsbezug haben 143 – stellt Locke im vierten Buch eine Liste mit Verfahren und Merkmalen auf, mit deren Hilfe sich feststellen lassen soll, ob Vorstellungen in epistemischer Absicht gebildet wurden oder nicht. 144 Denn bedauerlicherweise lässt sich die Unterscheidung nicht, wie es naheliegt, anhand der Aktivität des Erkenntnisvermögens bei ihrer Bildung treffen – weil ›fantastische‹ Vorstellungen und die in epistemischer Absicht gebildeten komplexen Vorstellungen eine ganz ähnliche Aktivität des Verstandes erfordern. Und dies ist auch einer der Gründe dafür, warum Locke noch eine weitere Unterscheidung einführt – mit erheblichen systematischen Folgen. In begrifflicher Anlehnung an die mittelalterliche Unterscheidung zwischen Real- und Nominaldefinitionen unterscheidet er reale und nominale Essenzen (von Substanzen und Modi), um Gegenstände und Eigenschaften anhand ihrer wesentlichen Merkmale einteilen zu können. Zwar entziehen sich reale Essenzen unserem epistemischen Zugriff, 145 doch um über Gegenstände lungen die Gegenstände, von denen sie Vorstellungen sind, wenigstens teilweise korrekt erfassen. In diesem Zusammenhang vertritt Locke ein Therapiekonzept der Sprache (das später mit Ludwig Wittgenstein zu einem Hauptanliegen der Sprachphilosophie wird): Probleme lösen sich häufig dadurch, dass die in ihrer Formulierung verwendeten Ausdrücke geklärt werden. In der Mitteilung an den Leser (Epistle to the Reader), die er seinem Werk voranstellt, macht er denn auch sprachliche Nachlässigkeit und den Missbrauch der Sprache als Hauptverantwortliche für den bedauernswerten Zustand der Wissenschaft seiner Zeit aus, s. Essay, 10/Epist. 142 Essay, 455 f./3.6.28; vgl. 490/3.10.1 f.; 508/3.10.34. 143 Z. B. Essay, 375/2.31.2; 383/2.31.12; 564/4.4.4. 144 Essay, 632 f./4.11.4–7. 145 »[O]ur distinguishing Substances into Species by Names, is not at all founded on their real Essences«, Essay, 449/3.6.20; vgl. 452/3.6.24; passim. Im Folgenden wird exemplarisch die Diskussion der nominalen Essenzen von Gegenständen (substances)
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und Eigenschaften zu sprechen, müssen wir sie schließlich benennen und klassifizieren. Wenn die epistemische Klassifizierung sich deshalb nicht auf die realen Essenzen stützen kann, muss sie sich an dem orientieren, was wir zu erfassen in der Lage sind, auf ihre ›nominalen‹ Essenzen. Diese ergeben sich bei materiellen Gegenständen aus ihren wahrnehmbaren Eigenschaften (sensible qualities). Weil sie mehrere Merkmale in einer Vorstellung zusammenfassen, sind nominale Essenzen ebenfalls komplexe Vorstellungen. 146 Sie entscheiden über die Klassenzugehörigkeit von Vorstellungen, weil die Zuschreibung von nominalen Essenzen gleichzeitig festlegt, wie groß die Übereinstimmung oder der Unterschied von Merkmalen jeweils ist. Der entscheidende Punkt hier ist, dass die Bildung nominaler Essenzen aktiv und weitgehend arbiträr vom Erkenntnisvermögen vorgenommen wird. Unser Wissen beruht auf einer kognitiven Konstruktion, da die ›reale‹ Basis unserer Klassifikationen uns epistemisch nicht zugänglich ist: 147 »the Essences of the Species, distinguished by different Names, are […] of Man’s making, and seldom adequate to the internal Nature of the things they are taken from. So that we may truly say, such a manner of sorting of Things, is the Workmanship of Men.« 148
Die Unterscheidung zwischen nominalen und realen Essenzen hat deshalb erhebliche systematische Implikationen für die Möglichkeit und die Grenzen menschlicher Erkenntnis. Sie beschränkt unser Wissen auf den Bereich der von uns selbst vorgenommenen Klassifizierungen durch nominale Essenzen. Die Unterstellung realer Essenzen drückt demgegenüber lediglich die Überzeugung aus, dass unsere Sinneseindrücke von einer Außenwelt veranlasst werden. Im besten Fall ist diese uns indirekt zugänglich. Das bedeutet: unsere Vorstellungen sind imbetrachtet; das komplexere Schema für die ›Modes‹ erweitert den systematischen Gedanken nicht wesentlich. 146 Essay, 438 f./3.6.1; 469/3.6.47. 147 »Indeed, as to the real Essences of Substances, we only suppose their Being, without precisely knowing what they are«, Essay, 442/3.6.6. 148 Essay, 462/3.6.37; vgl. »[Nominal essences] are made by the Mind and not by Nature«, 453/3.6.26; vgl. 430/3.5.4 ff.; 452/3.6.24. Die Behauptung Lockes ist so selbstverständlich zu stark, denn da wir nicht wissen, ob unsere sprachlichen Einteilungen den äußeren Gegebenheiten angemessen sind oder nicht, können wir eben auch nicht berechtigt behaupten, sie seien es nicht oder nur in den seltensten Fällen; seine Schlussfolgerung, sprachliche Einteilungen seien das Werk des Menschen, berührt dies nicht. A
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mer schon Interpretationen – Interpretationen, die im Wesentlichen durch die Beschaffenheit unseres Wahrnehmungsapparates und unserer kognitiven Fähigkeiten bestimmt werden. Für die epistemische Differenz von ›repräsentierter‹ und ›realer‹ Welt argumentiert Locke ex negativo mit einer sprachpragmatischen Überlegung. Angenommen unsere Klassifizierungen bildeten die Einteilungen der Substanzen anhand ihrer ›realen‹ Essenzen tatsächlich getreu ab, das heißt, es bestünde keine epistemische Differenz zwischen nominalen und realen Essenzen, so müssten alle Menschen die Gegenstände der Welt völlig übereinstimmend klassifizieren. Dies ist offensichtlich nicht der Fall: die Taxonomien unterscheiden sich de facto. Locke illustriert diesen Gedanken mit der klassischen Definition des Menschen als ›ungefiedertem Zweifüßer‹ einerseits und als ›animal rationale‹ andererseits: »He that annexes the name Man, to a complex Idea, made up of Sense and spontaneous Motion, join’d to a Body of such a shape, has thereby one Essence of the Species Man: And he, that upon farther examination, adds rationality, has another Essence of the Species he calls Man: By which means, the same individual will be a true Man to the one, which is not so to the other.« 149
Doch bedeutet dies, dass unsere Taxonomien überhaupt keinen regulativen Prinzipien unterliegen? Locke gibt hier eine zweigeteilte, negative Antwort. Denn zum einen bestimmt selbstverständlich die kommunikative Absicht die Konstruktion nominaler Essenzen. 150 Diese Bedingung für die Formation nominaler Essenzen allein garantiert allerdings nicht, dass sich die Bestimmung wesentlicher Eigenschaften an einer äußeren Realität orientiert. Denn es sind Sprechergemeinschaften vorstellbar, die das Kommunikationskriterium erfüllen, für die der Bezug auf eine Außenwelt aber beispielsweise hinter die VerEssay, 453/3.6.26; vgl. 452 f./3.6.25. Essay, 476 f./3.9.4; vgl. auch: »Men learn Names, and use them in Talk with others, only that they may be understood: which is then only done, when by Use or Consent, the Sound I make by the Organs of Speech, excites in another Man’s Mind, who hears it, the Idea I apply to it in mine, when I speak it«, Essay, 409/3.3.3. Im Idealfall orientieren sich die Mitglieder einer Sprechergemeinschaft bei der Bildung ihrer Vorstellungen, beziehungsweise der entsprechenden nominalen Essenzen, also jeweils am Vorgehen der anderen, weil dadurch Verständigung und Kommunikation möglich wird. Hinsichtlich der Frage, ob dem Ideal im Einzelfall entsprochen werden kann, ist Locke besonders im Hinblick auf Substanzen skeptisch, vgl. Essay, 416/3.3.14; 482 f./3.9.13. 149 150
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ständigung über religiöse oder ideologische Fragen zurücktritt. Deshalb behauptet Locke zusätzlich und zunächst etwas überraschend, dass die Bildung nominaler Essenzen ebenfalls von der »wahren und tatsächlichen Beschaffenheit der Dinge« abhängt. 151 Dies ist überraschend, weil die Pointe der Unterscheidung von nominalen und realen Essenzen doch gerade war, dass wir die »wahre Beschaffenheit der Dinge« eben nicht erkennen können. Doch auch wenn es naheliegt, die Behauptung auf die Differenz von realen und nominalen Essenzen zu beziehen, so trifft Locke an dieser Stelle tatsächlich eine Unterscheidung innerhalb des unserer Erforschung zugänglichen Bereichs der Welt. Und hier sind wir in der Lage so zu klassifizieren, dass Taxonomien den Verhältnissen angemessener oder weniger angemessen sind. Angemessen, meint Locke, sind sie dann, wenn es uns gelingt, die entsprechenden einfachen Vorstellungen zu ermitteln und auf dieser Grundlage die komplexen Vorstellungen nominaler Essenzen zu bilden. Dass dieses Unterfangen einen hohen Aufwand erfordern kann, bestreitet er nicht. 152 Bezeichnenderweise schreibt Locke die Zuordnung verschiedener nominaler Essenzen zu denselben Gegenständen nicht allein einer unterschiedlichen Wahrnehmung einzelner Merkmale dieser Gegenstände zu, sondern führt dies auch auf die unterschiedliche Auswahl zurück, die Menschen unter den Merkmalen der zu charakterisierenden Gegenstände treffen. Wer in seinem Beispiel den Menschen als ›ungefiederten Zweifüßer‹ erfasst, betont einfach einen anderen Aspekt als derjenige, der als das wesentliche Merkmal des Menschen seine Rationalität anführt; er gibt unterschiedliche und unter Umständen auch unterschiedlich viele Merkmale an: »Though the Mind of Man, in making its complex Ideas of Substances, never puts any together that do not really, or are not supposed to co-exist; and so it truly borrows that Union from Nature: Yet the number it combines, depends upon the various Care, Industry, or Fancy of him that makes it.« 153
Essay, 460/3.6.32 »[I]t requires much time, pains, and skill, strict enquiry, and long examination, to find out what, and how many those simple Ideas are, which are constantly and inseparably united in Nature, and are always to be found together in the same Subject«, Essay, 457/3.6.30. 153 Essay, 456/3.6.29. 151 152
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Hier klingt bereits an, was Locke im vierten Buch ausführlicher darstellt: die Verbindungen, die wir zwischen Sinnesdaten oder Vorstellungen herstellen, sollen, obwohl sich die genaue Beschaffenheit der Außenwelt unserer Erkenntnis prinzipiell entzieht, doch in irgendeiner Weise von der ›Natur‹ abhängen. Denn wenn wir auch keinen direkten epistemischen Zugriff auf die Gegenstände haben, die unsere einfachen Vorstellungen veranlassen, so können wir uns doch nicht von der Hintergrundannahme lösen, dass es äußere Anlässe für unsere Wahrnehmung gibt. Auffällig ist, dass Locke in diesem Kontext nicht von Gegenständen [things], sondern von Mustern [patterns] spricht, die in einem systematischen (kausalen) Zusammenhang mit unseren einfachen Vorstellungen stehen sollen: »But our Ideas of Substances being supposed Copies, and referred to Archetypes without us, must still be taken from something that does or has existed; they must not consist of Ideas put together at the pleasure of our Thoughts, without any real pattern they were taken from, though we can perceive no inconsistence in such a Combination. The reason whereof is, because we knowing not what real Constitution it is of Substances, whereon our simple Ideas depend, and which really is the cause of the strict union of some of them one with another, and the exclusion of others; there are very few of them, that we can be sure are, or are not inconsistent in Nature, any farther than Experience and sensible Observation reaches. Herein therefore is founded the reality of our Knowledge concerning Substances, that all our complex Ideas of them must be such, and such only, as are made up of such simple ones, as have been discovered to co-exist in Nature.« 154
Einige Seiten früher weist er ausdrücklich darauf hin, dass es uns trotz unserer epistemischen Beschränkung auch nicht völlig frei steht, wie wir Gegenstände wahrnehmen. 155 Wir können unter normalen Wahrnehmungsbedingungen genauso wenig einen gelben Gegenstand als schwarz erfassen wie etwas, das uns Verbrennungen zufügt, als kalt, etc. Was wir in diesem Zusammenhang tatsächlich willentlich beeinflussen können, ist, ob wir uns den Gegenständen überhaupt näher zuwenden, um ihre Eigenschaften genau zu ermitteln, oder nicht. Haben wir unsere Aufmerksamkeit einmal auf einen Gegenstand gerich154 Essay, 568/4.4.12; vgl. auch: »’Tis therefore the actual receiving of Ideas from without, that gives us notice of the Existence of other Things, and makes us know, that something doth exist at that time without us, which causes that Idea in us, though perhaps we neither know nor consider how it does it«, Essay, 630/4.11.2. 155 S. Essay, 564/4.4.4.
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tet, so hat »our Will … no Power to determine the Knowledge of the Mind one way or other; that is done only by the Objects themselves, as far as they are clearly discovered.« 156 Selbst wenn wir nicht in der Lage sind zu erkennen, wie die äußeren Gegenstände nun wirklich beschaffen sind, weil der Aufbau des menschlichen Wahrnehmungsapparates bereits eine bestimmte Art der Repräsentation erzwingt, soll also doch ein systematischer Zusammenhang zwischen äußeren Gegenständen und der Zuschreibung wesentlicher Eigenschaften bestehen. Der Wunsch, uns mit anderen über diese Gegenstände zu unterhalten, legt uns außerdem darauf fest, bestimmte Konventionen bei ihrer Einteilung und Benennung zu beachten. Das bedeutet für Locke, dass wir uns auf eine Liste von Merkmalen einigen, die sich in der Praxis als nützlich erweist. Obwohl Lockes Unterscheidung von nominalen und realen Essenzen zunächst erwarten lässt, dass die Zuschreibung von Eigenschaften weitgehend arbiträr erfolgt, unterliegt sie damit doch gewissen Rahmenbedingungen. Naheliegend ist die Frage, wie sich dies mit der Behauptung verträgt, der Verstand sei vollkommen frei, komplexe Vorstellungen nach Belieben zusammenzustellen, oder auch mit der Annahme, wir könnten vollkommen frei entscheiden, wie gründlich wir die Gegenstände der Außenwelt und die Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen, untersuchen. Locke gibt hier keine direkte Antwort, doch seine Theorie legt folgende Überlegungen nahe. Erstens: die erkenntnistheoretische Absicht erfordert es, dass wir die Gegenstände trotz der Unzulänglichkeiten unseres Wahrnehmungsapparates und unseres Erkenntnisvermögens so gründlich untersuchen wie möglich. Zweitens: wenn einfache Vorstellungen völlig frei zu komplexen Vorstellungen kombiniert werden, geben die so generierten Vorstellungen offensichtlich keine Auskunft über die empirische Welt. 157 Wenn komplexe Vorstellungen dagegen wider die Konventionen der Benennung und die ReEssay, 650 f./4.13.2. Essay, 577/4.5.7 f.; vgl. 615 f./4.8.10. Locke grenzt die »legitimen ideenbildenden Operationen« dadurch von den epistemisch problematischen ab, dass er sie »als die Klasse der in Logik und Mathematik vorkommenden Operationen oder auch eine bestimmte Unterklasse von dieser« spezifiziert, Krüger, 1973, 114; vgl. 118. Mit seiner Unterscheidung des ›sprachlichen‹ Wissens verbal knowledge/certainty/truth von ›wirklichem‹ Wissen real knowledge kommt er Kants Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen erstaunlich nahe; s. dazu auch Essay, 614/4.8.6 ff.; 611/4.8.3. 156 157
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geln der Kommunikation gebildet oder Gegenstände durch eine bizarre Selektion von Eigenschaften charakterisiert werden, wird die Verständigung unmöglich. 158 Anders als in der aristotelischen Tradition bis zur Neuzeit entstehen Vorstellungen in Lockes Theorie also nicht länger durch einen Prozess der Einprägung, bei dem der Geist weitgehend passiv ist, sondern das Erkenntnisvermögen stellt Vorstellungen erst her – durch produktive Rekombination und Selektion. Diese Tätigkeiten, von seinen Vorgängern der Einbildungskraft zugeordnet und oft negativ gewertet, werden bei Locke zur Voraussetzung jedes epistemischen Weltbezugs vermittels komplexer und abstrakter Vorstellungen. Dabei tritt die Fähigkeit zur Abstraktion für ihn erst relativ spät in der individuellen Entwicklung des Erkenntnisvermögens auf den Plan: »I grant Men come not to the Knowledge of these general and more abstract Truths, which are thought innate, till they come to the use of Reason; and I add, nor then neither. Which is so, because till after they come to the use of Reason, those general abstract Ideas are not framed in the Mind.« 159
Da Locke die These ›angeborener Vorstellungen‹ ablehnt, der Geist zunächst aber nur Einzeldinge erfasst, 160 muss er das Vorhandensein abstrakter Vorstellungen in jedem Fall eigens erklären. Im Wesentlichen, so meint er, gibt es hierfür zwei Möglichkeiten. Einerseits entstehen abstrakte Vorstellungen durch die Konzentration auf ein Merkmal, das verschiedenen Gegenständen oder komplexen Vorstellungen gemeinsam ist. Der Verstand isoliert dieses Merkmal und gibt ihm eine eigene Bezeichnung, unter der dann alle weiteren Vorkommnisse eingeordnet werden. So ist schließlich kein konkreter Einzelfall mehr nötig, um die Vorstellung aufzurufen. 161 Alternativ entstehen abstrakte 158 Dies führt nicht nur zum Ausschluss aus der Sprechergemeinschaft, sondern untergräbt auch das Zusammenleben; denn dessen Erfolg beruht, wie Locke betont, ganz wesentlich auf gelingender sprachlicher Kommunikation. 159 Essay, 53/1.2.12; vgl. 54 f./1.2.14 f. Die Fähigkeit Vorstellungen zu bilden, deren Inhalt kein konkretes Einzelding ist, unterscheidet den Menschen für Locke denn auch von allen anderen Tieren; Essay, 159/2.11.10. 160 »[A]ll things that exist are only particulars«, Essay, 410/3.3.6. 161 Essay, 159/2.11.9; vgl. »The 3d. [Act of the Mind wherein it exerts its Power over simple Ideas] is separating them from all other Ideas that accompany them in their real existence; this is called Abstraction: And thus all its General Ideas are made«, Essay, 163/2.12.1. Zur Illustration dient die Entstehung des Farbprädikates ›weiß‹. Der Verstand isoliert den entsprechende Farbton in den Wahrnehmungen verschiedener Gegen-
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Vorstellungen durch die Verbindung vorhandener Vorstellungen, wobei es keine Rolle spielt, ob die Ausgangsvorstellungen einfach oder selbst bereits komplex sind. Am Beispiel der Dreiecksvorstellung illustriert Locke, wie der Verstand aus verschiedenen konkreten Vorstellungen des Dreiecks die abstrakte (komplexe) Vorstellung eines geometrischen Ideals einer Gegenstandsklasse abstrahiert. 162 Hier kommt es nicht auf die Ähnlichkeit von Merkmalen an, denn die neue Vorstellung kann, wenn sie in kommunikativer Absicht gebildet wird, sogar miteinander eigentlich unvereinbare Merkmale wie Rechtwinkligkeit und Gleichseitigkeit enthalten. Nach diesem Schema werden gemeinhin die nominalen Essenzen von Gegenständen gebildet, welche diejenigen Eigenschaften von Gegenständen, die in kommunikativer und epistemischer oder auch in allgemein praktischer Perspektive relevant sind, in einer komplexen abstrakten Vorstellung zusammenfassen. 163 Beide Erklärungen unterstreichen ein weiteres Mal, dass die Genese von Vorstellungen für Locke auf einer aktiven Verstandestätigkeit beruht: »general Ideas are Fictions and Contrivances of the Mind.« 164 Obwohl die Vorstellungskraft (imagination) als Begriff keine nennenswerte Rolle in Lockes Theorie spielt, entsteht so insgesamt ein differenziertes und an mehreren Stellen weiterentwickeltes Bild der Leistungen, die dem Vermögen traditionell zugeschrieben wurden. Im Unterschied zu Descartes’ Theorie wird in Lockes empiristischem Modell die Fähigkeit, durch Kombination und Rekombination abstrakte und allgemeine Vorstellungen und Begriffe zu bilden, zu einer zentralen epistemischen Operation. Weil Locke die Aktivitäten des Erkenntnisvermögens, die das Zustandekommen der abstrakten, der komplexen und der allgemeinen Vorstellungen sowie die Bildung ›nominaler‹ Essenzen ermöglichen, unter der allgemeinen Überschrift des Verstandes diskutiert, erschließt sich die Transformation der Theorie
stände wie Kreide, Schnee oder Milch und fasst ihn unter einer Bezeichnung zusammen; Essay, 159/2.11.9. Die Wahl eines Farbprädikats macht deutlich, dass auch ›einfache‹ Vorstellung in Lockes Schema ›abstrakt‹ sein können. Das bedeutet, dass bereits das Zustandekommen der Elemente, auf die nach Locke in letzter Instanz alle Inhalte des Geistes zurückgeführt werden können, eine aktive Verstandestätigkeit voraussetzt. 162 Essay, 596/4.7.9. 163 Essay, 414/3.3.12; s. auch 411/3.3.7. 164 Essay, 596/4.7.9. Alle ›allgemeinen‹ Vorstellungen sind in Lockes Schema zugleich auch ›abstrakte‹ Vorstellungen; s. dazu Chappell, 1994, 39. A
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der Phantasie hier aber eben nur indirekt. 165 Da seine Theorie der Vorstellungen jedoch nachdrücklich bekräftigt, dass ein großer Teil unseres Wissens auf produktiven Interpretationen unseres Erkenntnisvermögens beruht, liegt es nahe, seine Position bereits als ›konstruktivistisch‹ zu bezeichnen, 166 denn die Fähigkeit, geistige Inhalte nach Belieben aufeinander zu beziehen und miteinander zu verbinden, wird in seinem Modell zur zentralen Voraussetzung empirischen Wissens: ohne das Vermögen, abstrakte und komplexe Vorstellungen durch Selektion und (Re-) Kombination zu bilden, verfügen wir weder über (komplexe) Begriffe noch über Erkenntnis. Es sind damit gerade diejenigen mentalen Eigenschaften, die in der Tradition oft Grund für die Zweifel an der epistemischen Zuverlässigkeit der Phantasie waren, die von Locke an zentraler Stelle zur Erklärung und Rechtfertigung menschlicher Erkenntnis herangezogen werden.
2.4 David Hume Anders als John Locke untersucht David Hume in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk, dem Treatise of Human Nature von 1739/ 40, ausführlich sowohl die Genese von Vorstellungen (ideas) als auch die Tätigkeiten und Leistungen der Einbildungskraft (imagination). 167 Den Rahmen dafür bildet seine umfassende Theorie des Menschen, die ihrem Anspruch nach allen anderen Wissenschaften als Grundlage dienen soll. Programmatisch heißt es in der Einleitung: »the science of man is the only solid foundation for the other sciences« 168 und:
165 Auch wenn sein Verhältnis zur terminologischen Tradition von erheblichen Vorbehalten geprägt ist – dies gilt erneut besonders für die mittelalterliche Schulphilosophie, s. beispielsweise Essay, 494/3.10.8, passim – gelingt es ihm selbstverständlich nicht, sich ihrem Einfluss gänzlich zu entziehen; dazu ausführlich Yolton, 1956, 97 f. 166 S. Krüger, 1973, 120. 167 Ob er in seiner späteren Schrift, der Enquiry concerning Human Understanding von 1748, die Theorie »widerlegt«, die er in diesem Werk vorstellt, ist zweifelhaft. Plausibler als diese These Kemp Smiths (Kemp Smith, 1941, 459–463), ist es anzunehmen, dass die komprimierte Darstellung der Enquiry einfach einen Teil der Diskussion auslässt; s. dazu schon Furlong, 1961, 66 ff. 168 Treatise, Introduction, 7; die Zitate folgen der Ausgabe von D. F. und M. J. Norton. Eine Synopsis der Paragraphen- und der Seitenzählung der Selby-Bigge Edition gibt Heft 28 der Hume Studies (2002), 319–325.
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»Even Mathematics, Natural Philosophy, and Natural Religion, are in some measure dependent on the science of MAN; since they lie under the cognizance of men, and are judged of by their powers and faculties. 169 «
Damit bezieht er schon an dieser Stelle alles Wissen auf die kognitiven Fähigkeiten und die perzeptiven Voraussetzungen des Menschen, seine Wünsche, Absichten und Bedürfnisse. Allerdings betont er auch, »[that] the only solid foundation we can give to this science itself must be laid on experience and observation«, und bemerkt, es sei »no astonishing reflection to consider, that the application of experimental philosophy to moral subjects should come after that to natural at the distance of above a whole century«.170 Dieser Verweis auf Isaac Newton, der mit seiner ›experimental philosophy‹ außerordentliche Erfolge in der Erforschung der unbelebten Natur vorweisen konnte, bekräftigt die Absicht, die Hume im Untertitel des Treatise bereits angekündigt hatte: »to Introduce the Experimental Method of Reasoning Into Moral Subjects.« 171
Treatise, Introduction, 4. Treatise, Introduction, 7. 171 Er folgt damit einer Vermutung Newtons, der selbst die Anwendung seiner Prinzipien in den Humanwissenschaften für möglich hielt, Newton, Principia, 380 f.; vgl. Opticks, Quest. 31/S. 405. Das Ausmaß der Bezugnahme Humes auf Newton mag in jüngerer Zeit Gegenstand einer »ongoing debate« (McIntyre, 1994, 15 Fn. 2) gewesen sein. Die Tendenz allerdings, den Vorbildcharakter von dessen ›experimental philosophy‹ für die methodologische Anlage von Humes ›Science of Human Nature‹ mit dem Hinweis besonders auf Robert Boyle zu relativieren (s. besonders Jones, 1982 und Barfoot, 1990), ist verfehlt; dazu auch Sapadin, 1997. Dabei ging Humes Verständnis der Theorie Newtons, so wie das vieler seiner Zeitgenossen, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in die Tiefe: »At the University of Edinburgh ›only the advanced students could expect to ascend to the heights of sophistication displayed in Newton’s Principia.‹ Hume, who […] left by fourteen at the latest, is not likely to have been among them.« Sapadin, 1997, 339. Für die Folgen des newtonschen Einflusses auf Humes Theorie der Einbildungskraft s. auch Hepfer, 2011. Namentlich erwähnt wird Newton nur in der zweiten Enquiry von 1751. Dort allerdings nimmt Hume ausdrücklich auf Newtons »Hauptregel des Philosophierens« aus den Principia von 1687 Bezug, die er folgendermaßen wiedergibt: »wenn von einem Grundsatz festgestellt wurde, dass er große Kraft und Wirkung in einem Fall besitzt, dann wird ihm die gleiche Wirkung in allen ähnlichen Fällen zugeschrieben«, Enquiry, 1751, 3.48; vgl. Newton Principia 380 f. Für eine allgemeine Darstellung des newtonschen Einflusses auf die Entwicklung der Theorie Humes s. Capaldi, 1975 und Noxon, 1973, 27–123; sowie Capaldi, 1978; 1989, 20 f.; 159 f.; Banwart, 1994, 5; Force, 1987; Hepfer, 2002, XXII f.; und mit einem wissenschaftstheoretischen Fokus McMullin, 2001, bes. 301 f. 169 170
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Den Gedanken, dass alle Erkenntnis von den Fähigkeiten, Absichten und Bedürfnissen des Menschen abhängt, arbeitet Hume im weiteren vor allem im Zusammenhang einer innovativen Theorie der Vorstellungskraft aus; seine Theorie der Vorstellungen bewegt sich dagegen weitgehend im Rahmen der traditionellen Vorgaben. Seine Bestimmung der ›Wahrnehmungen‹ (Eindrücke, Vorstellungen) als vermittelnde Instanz für das geistige Erfassen äußerer Gegenstände, 172 die aristotelischen Behauptungen, dass ein Denken ohne (klare) Vorstellungen nicht möglich sei 173 und dass Vorstellungen dem Geist ›eingeprägt‹ würden, 174 die spätestens seit Descartes übliche Haltung, dass Vorstellungen nicht notwendigerweise einen bildhaften Charakter haben, obwohl dies möglich ist, 175 alles dies sind konventionelle Positio172 »The most vulgar philosophy informs us, that no external object can make itself known to the mind immediately, and without the interposition of an image or perception«, Treatise, 1.4.5.15; vgl. 1.2.6.7; 1.4.2.21; 1.4.2.54. Mit ›the most vulgar philosophy‹ kennzeichnet Hume die Standardmeinung seiner Zeit. Verbunden damit ist die These, dass die Gegenstände der Außenwelt uns epistemisch unzugänglich sind, »[they arise] in the soul originally, from unknown causes«, Treatise, 1.1.2.1; vgl. 1.3.5.2. 173 Treatise, 1.3.14.17. 174 Treatise, 1.3.9.19; 1.4.4.13; passim. 175 Trotz der schon in den ersten Abschnitten des Haupttextes vorgenommenen Bestimmung von Vorstellungen als Kopien oder »faint images« (Treatise, 1.1.1.1) von Eindrücken legt er den Bildbegriff liberal aus. So ist es beispielsweise dem Willen möglich, ein ›Bild‹ (image) zukünftiger oder kontrafaktischer Situationen und Ereignisse zu entwerfen, Treatise, 2.1.10.9. Auch steht das Verb ›to imagine‹ bei Hume in den meisten Fällen für ›glauben‹, ›für-wahr-halten‹ oder ›der Meinung sein‹, und nicht in erster Linie dafür, sich etwas visuell ›vor-Augen-zu-stellen‹, z. B. Treatise, 1.2.5.19; 1.2.5.28; passim. Darüber hinaus sollen akustische Eindrücke (und ihre korrespondierenden Vorstellungen), bei denen eine bildliche Interpretation nicht eben naheliegt, den Gesichtseindrücken (und ihren Vorstellungen) ›ähnlich‹ sein, Treatise, 1.2.3.5. Die in der Literatur mitunter vertretene Ansicht, Humes »fundamental sense of ›idea‹« sei »imagistic« (Flage, 1990, 40; vgl. Taylor, 1943, 181; Furlong, 1961, 69), steht deshalb auf schwachen Füßen. Bezeichnenderweise führt Daniel Flage als einzigen konkreten Beleg für seine Behauptung denn auch Humes Meinung an, dass die Vorstellung der Ausdehnung selbst ausgedehnt sei (Treatise, 1.4.5.16) und leitet daraus dann die Feststellung ab: »Hume occasionally attributes properties to ideas that reasonably can be attributed to images but cannot reasonably be attributed to nonimagistic states«, Flage, 1990, 40. Humes Versäumnis, klar zwischen der Tätigkeit oder dem Akt des Vorstellens und dem Inhalt von Vorstellungen zu unterscheiden, leistet einer solchen Interpretation zwar Vorschub, doch das Fehlen einer klaren Trennung ist allein noch kein Grund für eine bildliche Interpretation. Schließlich kommt die Eigenschaft ›ausgedehnt zu sein‹ allen Gehirnzuständen unabhängig davon zu, ob sie bildhaft sind oder nicht; andernfalls wäre jede neurowissenschaftliche Forschung müßig. Zudem weist Hume ausdrücklich darauf hin, dass es
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nen. Bemerkenswert ist allerdings, dass Hume Lockes Unterscheidung zwischen Vorstellungen von ›primären‹ und ›sekundären‹ Eigenschaften zurückweist, und zwar mit dem Argument, dass sie in einen »most extravagant scepticism« 176 führe hinsichtlich der Möglichkeit, die Beschaffenheit einer Außenwelt auch nur ansatzweise angemessen zu erfassen: eine solche Einteilung erzwinge in letzter Konsequenz das Eingeständnis, dass alle Eigenschaften ›sekundärer‹ Natur sind. 177 Obwohl Hume an dieser Stelle von den unerwünschten skeptischen Folgen her argumentiert, ändert dies nichts daran, dass er im Gegensatz zu seinen Vorgängern insgesamt pessimistisch ist, was die Möglichkeit einer theoretischen Widerlegung eines globalen epistemischen Skeptizismus angeht. Drei allgemeine Maximen der ›experimental philosophy‹ leiten Hume bei der Entwicklung seiner Theorie der Vorstellungen und der Vorstellungskraft: der Grundsatz der ontologischen Sparsamkeit, nicht mehr Ursachen zur Erklärung des Phänomenbestands anzunehmen, als unbedingt nötig sind, das Bestreben, die Erklärungsgrundsätze so allgemein wie möglich zu formulieren, und das Prinzip, die Ursachen für unsere Erklärungen so einfach wie möglich zu halten. 178 Die Maxime, nicht mehr Voraussetzungen oder ›Ursachen‹ zuzulassen, als es für keine guten Gründe für die generelle Annahme einer bildlichen ›Ähnlichkeit‹ zwischen Vorstellungen und den äußeren Gegenständen gibt, auf die sie sich beziehen: »[W]e shou’d never have any reason to infer, that our objects resemble our perceptions«, Treatise, 1.4.2.54; vgl. 1.2.1.5. Und noch ein weiteres Indiz spricht dagegen, Hume als Vertreter einer strikten Bildtheorie zu klassifizieren, denn er ist offensichtlich der Meinung, auch Tatsachen ließen sich ›repräsentieren‹, s. z. B. Treatise, 1.3.9.12. 176 Treatise, 1.4.4.6. 177 »If colours, sounds, tastes, and smells be merely perceptions, nothing we can conceive is possest of a real, continu’d, and independent existence; not even motion, extension and solidity, which are the primary qualities chiefly insisted on«, Treatise, 1.4.4.6; vgl. 1.4.4.9 f. 178 Treatise, Introduction, 8. Newtons Fassung dieser Grundsätze findet sich zu Beginn des dritten Buches der Principia (380 f.). Neben den drei genannte Prinzipien nennt Newton ein prozedurales viertes: »In der Experimentalphysik muss man die, aus den Erscheinungen oder durch Induktion geschlossenen, Sätze, wenn nicht entgegengesetzte Voraussetzungen vorhanden sind, entweder genau oder sehr nahe für wahr halten, bis andere Erscheinungen eintreten, durch welche sie entweder größere Genauigkeit erlangen, oder Ausnahmen unterworfen werden« (Newton, Principia, 381). Hume bedient sich dieser »4. Regel« oft in der Form, dass er prospektive Kritiker auffordert, ihm ein Gegenbeispiel zu nennen oder ein Gegenmodell zu entwerfen – solange ihnen dies nicht gelingt, dürfe man die Gültigkeit seiner Thesen unterstellen. A
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eine Erklärung der Phänomene unbedingt nötig ist, führt zu einer Reduktion der mentalen Gegenstände auf Vorstellungen (ideas) und Eindrücke (impressions), 179 unter die auch das Führwahrhalten (belief) als eine »lively idea related to or associated with a present impression« fällt. 180 Die Orientierung an Newton zieht allerdings nicht nur das Bestreben nach sich, die ›Wissenschaft vom Menschen‹ ontologisch sparsam zu halten und allgemein den hohen Stellenwert von Beobachtung, Erfahrung und Experiment zu betonen, sondern hat auch die direkte Adaptation inhaltlicher Elemente zur Folge. Vor allem das ›Gravitationsprinzip‹ und das erste Gesetz der Mechanik, den sogenannte ›Impulserhaltungssatz‹, übernimmt Hume. 181 Sie werden zu den grundlegenden explikativen Prinzipien seiner Theorie des Geistes und bestimmen so auch die Theorie der Einbildungskraft und die Erklärung des Zustandekommens zentraler epistemischer Überzeugungen. Auf der einen Seite soll eine ›mentale Gravitation‹ über die Zeit zu einer »untrennbaren Verbindung« (inseperable connexion) zwischen Vorstellungen führen, und Hume stellt fest: »Here is a kind of attraction, which in the mental world will be found to have as extraordinary effects as in the natural.« 182 Auf der anderen Seite soll das 179 Schon im ersten Satz des Haupttextes stellt Hume fest: »All the perceptions of the human mind resolve themselves into two distinct kinds, which I shall call Impressions and Ideas«, Treatise, 1.1.1.1; vgl. 1.3.7.5. Hume begründet diese Unterscheidung nicht weiter, sondern nimmt für sie unmittelbare Evidenz in Anspruch, loc. cit. 180 Treatise, 1.3.7.5. Mit der Stärke (force, liveliness) als Unterscheidungsmerkmal von mentalen Entitäten macht Hume hier also ein graduelles Kriterium zum alleinigen Maßstab für deren Differenz, Treatise, 1.3.7.5; vgl. 1.1.1.1; vgl. 1.1.7.5. Die Einteilung der mentalen Gegenstände anhand ihrer Stärke hat auch eine praktische Dimension; denn wenn Emotionen und Affekte anstelle von Vernunft und Überlegung die Grundlage von (moralischen) Handlungen sein sollen, wie Hume im zweiten und dritten Buch des Treatise ausführt, so ist es in der Tat naheliegend, mentale Entitäten anhand ihrer handlungsmotivierenden Kraft oder Stärke einzuteilen. 181 Treatise, Introduction, 8 ff. 182 Treatise, 1.1.4.6. Allerdings qualifiziert Hume diese Behauptung dahingehend »[that] we are only to regard it [i. e. the principle of mental gravitation] as a gentle force, which commonly prevails«, Treatise, 1.1.4.1; die Details diskutiert er im Zusammenhang der ›Assoziationsprinzipien‹, Treatise, 1.1.4 f. Diese Prinzipien spezifizieren zwar verschiedene Aspekte der Verbindung (s. u. S. 99), führen aber letztlich ihr Zustandekommen auf eine nicht weiter zu erklärende ›Grundkraft‹ zurück, die analog der Anziehungskraft der Physik sein soll. Wenig überzeugend ist jedenfalls Humes Versuch, aus einer synchronen Beziehung zwischen einzelnen mentalen Vorkommnissen eine diachrone Beziehung zwischen Typen von Wahrnehmungen (peceptions) abzuleiten, die eine Erwartungshaltung für ein zukünftiges gemeinsames Auftreten bestimmter Wahr-
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erste Gesetz der Mechanik im Geist auch als ein Prinzip der Vervollständigung von Vorstellungsreihen in Abwesenheit aktueller Wahrnehmungen wirken: »I have already observ’d […], that the imagination, when set into any train of thinking, is apt to continue, even when its object fails it, and like a galley put in motion by the oars, carries on its course without any new impulse.« 183
Neben der selbsttätigen Verlängerung einer unvollständigen Reihe kann, so meint Hume, die Impulserhaltung darüber hinaus erklären, wie der Geist in der Lage ist, Leerstellen in einer geordneten Reihe von Wahrnehmungen selbst dann zu füllen, wenn ihr niemals der entsprechende Eindruck vorgelegen hat. Er illustriert dies mit einem geordneten, aber unvollständigen Farbverlauf, deren fehlenden Farbton die Vorstellungskraft deshalb ergänzen kann, weil sie durch sukzessive Eindrücke vor und nach der Lücke einen gerichteten Impuls erhalten hat, der ihre weitere ›Bewegung‹ bestimmt. 184 Obwohl die Vorstellungskraft für Hume die Basis der übrigen mentalen Vermögen ist, also des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und des Verstandes, 185 und damit im Zentrum des Zustandekommens unseres Wissens steht, warnt er doch zunächst eindringlich vor ihrer epistemischen Unzuverlässigkeit: »Nothing is more dangerous to rea-
nehmungen generiert; wenig überzeugend vor allem deshalb, weil die Erklärung ohne Rückgriff auf das Gedächtnis allein aus der Einbildungskraft erfolgt. Für eine ausführliche Diskussion dieses Themas s. Fodor, 2003, bes. 114–135; wobei für Fodor – anders als für Hume – die Geltung des Kausalitätsprinzips selbst in diesem Zusammenhang nicht zur Disposition steht. 183 Treatise, 1.4.2.22; vgl. 1.4.2.50; 1.2.4.24. 184 Treatise, 1.1.1.10. 185 »The memory, senses, and the understanding are, therefore, all of them founded on the imagination«, Treatise, 1.4.7.4. Gerhard Stremingers Feststellung, »that an analysis of this concept is of paramount significance for the understanding of [Hume’s] entire philosophy« (Streminger, 1980, 91), hat seltsamerweise keine verstärkte Diskussion des Themas in der Interpretationsliteratur zur Folge gehabt; der einzige längere Beitrag in jüngerer Zeit ist Banwarts Monographie von 1994, die sich allerdings auf die narrativen und praktischen Implikationen der humeschen Theorie der Einbildungskraft konzentriert. Streminger legt in seinem Beitrag den Schwerpunkt auf die Frage, in welcher Weise »the artistic capacity of the imagination assumes a decisive role in justifying philosophical and scientific propositions« (Streminger, 1980, 92; meine Hervorhebung), und übergeht die Analogie zur Newtonschen Physik. Unter dem Ausdruck ›artistic faculties‹ fasst er diejenigen Eigenschaften und Merkmale, die der Einbildungskraft in der Tradition vor Hume für gewöhnlich zugeschrieben werden, s. Streminger, 1980, 94 f. A
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son than the flights of the imagination, and nothing has been the occasion of more mistakes among philosophers.« 186 Diesen Reflex des mittelalterlichen Misstrauens kommentiert er in einer für seine Gedankenführung typischen Wendung mit dem Geständnis, dass ihn diese Sachlage selbst ratlos mache. 187 Gleichzeitig verschafft er mit dieser Warnung vor den Irrwegen der Phantasie allerdings seiner Forderung Nachdruck, das Vermögen und seine Tätigkeit seien besonders aufmerksam zu untersuchen – denn nur so lasse sich seine Beteiligung am Zustandekommen unserer Meinungen 188 und in der Folge die epistemische Zuverlässigkeit dieser Meinungen angemessen bestimmen. 189 Grundlage seiner Untersuchung ist eine Neubestimmung der Einbildungskraft. Anders als Aristoteles und die Tradition bis zur Neuzeit unterscheidet Hume die Einbildungskraft vom Gedächtnis nämlich nicht durch ihre größere kombinatorische Freiheit und ihre Unabhängigkeit von der Abfolge, die den Eindrücken durch die Wahrnehmung vorgegebenen wird, sondern betont wie bereits bei der Unterscheidung von Vorstellungen und Eindrücken als differenzierendes Merkmal vor allem die Kraft, Stärke oder Lebhaftigkeit, 190 mit der das Vermögen seine Vorstellungen auf der ›geistigen Bühne‹ auftreten lässt: »For tho’ it be a peculiar property of the memory to preserve the original order and position of its ideas, while the imagination transposes and changes 186 Treatise, 1.4.7.6. Hume unterscheidet, anders als es im Anschluss an Philip Sidney’s The Defense of Poesy im angelsächsischen Sprachraum üblich war, nicht zwischen der epistemisch unzuverlässigen, weil freieren fancy und einer nach Regeln operierenden ›imagination‹, und kann so – anders als etwa Thomas Hobbes in den ersten Kapiteln des Leviathan – auch die erkenntnistheoretisch unverzichtbaren Funktionen begrifflich und systematisch nicht konsequent von den epistemisch dubiosen Merkmalen der Einbildungskraft trennen, vgl. Treatise, 1.1.4.1 f.; 1.1.7.15; 1.3.5.3 f.; 1.3.6.12; 1.3.8.7; passim. 187 Treatise, 1.4.7.7. 188 Die Einbildungskraft bringt auf sich allein gestellt keine Meinungen hervor, ist aber eben an ihrer Entstehung maßgeblich beteiligt, s. Furlong, 1961, 66 f. 189 Mangelnde Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit der Einbildungskraft dagegen führt zum Irrtum: »No wonder a principle so inconstant and fallacious shou’d lead us into errors, when implicitly follow’d (as it must be) in all its variations«, Treatise, 1.4.7.4; s. dazu auch Hendel, 1962, 25. 190 »’Tis evident, that whatever is present to the memory, striking upon the mind with a vivacity, which resembles an immediate impression, must become of considerable moment in all the operations of the mind, and must easily distinguish itself above the mere fictions of the imagination«, Treatise, 1.3.9.3.; vgl. 1.4.6.4; 1.1.3.2; 1.3.9.7; 1.1.3.4; 1.1.5.1.
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them, as it pleases; yet this difference is not sufficient to distinguish them in their operation, or make us know the one from the other; it being impossible to recal the past impressions, in order to compare them with our present ideas, and see whether their arrangement be exactly similar. Since therefore the memory is known, neither by the order of its complex ideas, nor the nature of its simple ones; it follows, that the difference betwixt it and the imagination lies in the superior force and vivacity. A man may indulge his fancy in feigning any past scene of adventures; nor wou’d there be any possibility of distinguishing this from a remembrance of a like kind, were not the ideas of the imagination fainter and more obscure.« 191
Diese Bestimmung hat Kemp Smith in seinem Standardkommentar zu der Behauptung veranlasst, Hume verwende zwei unterschiedliche und tatsächlich sogar gegensätzliche Bedeutungen von ›Einbildungskraft‹. 192 Doch das ist wenigstens vorschnell; denn schon die Gegenüberstellung von Erinnerungsvermögen und Einbildungskraft im ersten Teil des Zitats deutet darauf hin, dass es Hume um eine Akzentverschiebung ging, die zwar die traditionellen Charakterisierungen als unzureichend ausweist, sie jedoch in die Neubestimmung aufnimmt. Die Tatsache, dass Hume der Einbildungskraft Eigenschaften zuschreibt, die bis dahin nicht zu ihren Merkmalen zählten, 193 ist allein jedenfalls kein Grund, ihm eine inkonsistente Konzeption der Einbildungskraft zu unterstellen; denn es spricht nicht generell etwas dagegen, dass es gerade die kombinatorische Freiheit ist, die das Vermögen ›für gewöhnlich‹ weniger stark macht, weniger tauglich, zu Handlungen zu motivieren, als die Erinnerung an Erfahrungszusammenhänge und die Schlüsse, die wir aus ihr ziehen. Andererseits gilt – ebenso wie schon für die Unterscheidung von Vorstellungen und Eindrücken anhand ihrer ›Stärke‹ – auch für die Differenzierung der Vermögen anhand dieses Kriteriums: ein Merkmal, das einen fließenden Übergang definiert, erschwert oft die eindeutige Zuordnung. 194 Hume ist sich dieser Treatise, 1.3.5.3. ›Directly opposite meanings‹, Kemp Smith, 1941, 459; s. auch Streminger, 1980. 193 S. Furlong, 1961, 63. 194 Das grundsätzliche Problem einer Unterscheidung mentaler Entitäten anhand der Stärke (d. h. ihrer handlungsmotivierenden Kraft) bringt Barry Stroud mit einem eingängigen Beispiel auf den Punkt. In diesem Beispiel geht es um den Nachweis, dass Vorstellungen nicht nur ähnlich stark sein können, sondern unter Umständen sogar stärker handlungsleitend als die ihnen korrespondierenden und vermeintlich lebhafteren Eindrücke. So werden etwa bei einer Tatortbesichtigung zunächst sämtliche Details als ›starke‹ Eindrücke (die zu entsprechenden ›schwachen‹ Vorstellungen führen) regis191 192
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Schwierigkeit bewusst 195 und begegnet ihr mit der Behauptung, dass dennoch für gewöhnlich die Vorstellungen des Gedächtnisses aufgrund ihrer größeren Lebhaftigkeit und Stärke unser Denken (und in Konsequenz auch unser Handeln) stärker beeinflussen als diejenigen der Einbildungskraft. 196 Die grundlegende Rolle der Einbildungskraft im Erkenntnisprozess leitet sich für Hume vor allem aus zwei epistemisch zentralen Annahmen über die Welt ab, deren Entstehung allein im Rekurs auf ihre ›Gravitation‹ und die ›Impulserhaltung‹ erklärt werden kann. Dies sind die Überzeugung, dass die Gegenstände der Außenwelt auch dann weiter bestehen, wenn unsere Wahrnehmung von ihnen unterbrochen ist, und die Annahme, die Welt verhielte sich nach dem Muster von Ursache und Wirkung. 197 Da Hume nicht konsequent zwischen dem Inhalt von Meinungen oder Vorstellungen und dem Akt des Meinens oder Vorstellens unterscheidet, 198 hat seine Erklärung der Genese dietriert; und erst bei der geistigen Rekapitulation, einer Vorstellungstätigkeit, tritt anschließend ein Detail als Schlüssel zur Aufklärung des Falls hervor, sodass eine ›schwache‹ Vorstellung, und nicht der ihr ›korrespondierende‹ ursprüngliche Eindruck, handlungsleitend wird, indem sie zur Festnahme des Täters führt, s. Stroud, 1977, 28 f. 195 Treatise, 1.3.5.5; 1.3.5.6. 196 In Anbetracht seiner Explikation epistemisch zentraler Überzeugungen im Rückgriff auf das ›kraftlose‹ Wirken der Einbildungskraft (und nicht etwa auf die ›lebhaftere‹ Wirkung des Gedächtnisses) ist dies allerdings eine höchst fragwürdige Behauptung – es sei denn, man bestreitet gleichzeitig, dass solche Überzeugungen in Handlungszusammenhängen überhaupt relevant sind. Besonders im Treatise gibt es einige Stellen, an denen Hume genau diese Ansicht zu vertreten scheint, etwa wenn er behauptet: »Abstract or demonstrative reasoning … never influences any of our actions, but only as it directs our judgment concerning causes and effects«, Treatise, 2.3.3.2. An derselben Stelle merkt er aber auch an, dass Vernunft in der Lage sei Affekte umzuleiten, und dann gilt, wie Norton anmerkt: »if [reason] can give a contrary impulse, nothing could prevent it from giving an original one«, Norton, 1982, 99; für eine ausführliche Diskussion s. Hepfer, 1997, 115–126. In der zweiten Enquiry formuliert er zurückhaltender, dass »Vernunft und Gefühl in fast allen unseren moralischen Bestimmungen und Überzeugungen zusammenwirken« (Enquiry, 1751, 1.9; vgl. Anhang 1.1 ff.), und trägt damit der Einsicht Rechnung, dass ohne eine vernunftgeleitete Beurteilung der Handlungssituation ein (zielgerichtetes) Handeln nicht möglich ist. 197 Humes Erklärung der Genese der Kausalitätsvorstellung und des kausalen Schließens hat eine kaum zu überschauende Fülle von Kommentaren veranlasst. Klassisch ist die Interpretation von Barry Stroud, in Stroud, 1977, Kap. 4; direkt dazu Noonan, 1999, 140–157; s. auch Beauchamp, 1973; Beauchamp/Rosenberg, 1981; Pears, 1990, Kap. 7; Strawson, 1989; Bell, 1997; Broakes, 1993; sowie die systematisch ausgerichtete Auseinandersetzung bei Mackie, 1974. 198 So bezeichnet er beispielsweise Vorstellungen als Kopien von Sinneseindrücken, was
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ser Meinungen zwei Seiten: sie expliziert sowohl das Zustandekommen ihrer Inhalte als auch das Zustandekommen unserer Überzeugtheit von ihrer Gültigkeit. Beide Aspekte sollen im Rekurs auf die Einbildungskraft transparent werden. 199 Dabei nimmt die Explikation unserer Überzeugung von der ontologischen Stabilität äußerer Gegenstände bereits auf die Theorie des kausalen Schließens Bezug. Von den sieben möglichen Beziehungen, in denen (die Inhalte von) Vorstellungen zueinander stehen können, ist ›Kausalität‹ nämlich das einzige ›Prinzip der Assoziation‹, das es erlaubt, die aktuelle Wahrnehmung zu transzendieren, 200 um sinnvolle Erwartungen im Hinblick auf das Verhalten empirischer Gegenstände zu formulieren, Regelmäßigkeiten festzustellen und empirische Daten unter Begriffen zusammenzufassen. Für die Ausbildung der kausalen Erwartung, dass eine Abfolge von Sinnesdaten in der Vergangenheit sich in der Zukunft ähnlich wiederholt, ist vor allem die mentale ›Impulserhaltung‹ verantwortlich. Durch (mehrfache) Beobachtung in eine bestimmte Richtung in Bewegung gesetzt, verlängert die Einbildungskraft einen in der Wahrnehmung auftretenden Zusammenhang in die Zukunft. So entsteht die Überzeugung, »that instances, of which we have had no experience, must resemble those, of which we have had experience, and that the course of nature continues always uniformly the same«. 201 gerade dann nicht nachzuvollziehen ist, wenn zwischen ihnen nur ein Unterschied in der Stärke bestehen soll: sinnvoll wird diese Behauptung nur, wenn man sie auf ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Inhalten bezieht. Gleiches gilt auch für die Behauptung »that we can form ideas, which shall be no greater than the smallest atom of the animal spirits of an insect a thousand times less than a mite«, Treatise, 1.2.1.5. Dazu auch Kemp Smith, 1941, 218; Hepfer, 1997, 22 f.; und Kemp, 2000; die fehlende Trennung jedenfalls erschwert die Interpretation erheblich. Zwar sind es vor allem die Inhalte von Vorstellungen, die in epistemischen Kontexten in eine Beziehung zueinander gesetzt werden müssen, doch selbstverständlich können auch Vorstellungen als mentale Gegenstände, ohne dass ihre Inhalte miteinander verbunden sind, in einer Relation (z. B. in ›zeitlicher Nähe‹) zueinander stehen. 199 Treatise, 1.4.7.4. 200 Treatise, 1.3.2.2 f.; vgl. 1.3.2.1; 1.1.4.2 ff. 201 Treatise, 1.3.6.4. Ob diese Erwartung objektiv berechtigt ist, lässt sich nicht ›beweisen‹, denn sie entspringt vornehmlich unserem Geist: »We suppose, but are never able to prove, that there must be a resemblance betwixt those objects, of which we have had experience, and those which lie beyond the reach of our discovery«, Treatise, 1.3.6.11; vgl. 1.3.8.13; 1.3.12.23; 1.3.13.8. A
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Die Annahme, die Welt verhielte sich nach dem Grundsatz von Ursache und Wirkung, verstärkt sich mit jeder weiteren ähnlichen Abfolge entsprechender Wahrnehmungen; die ›Kraft‹ der Überzeugung nimmt zu. 202 Schließlich hat sich die Meinung, dass empirische Gegenstände tatsächlich kausalen Regeln unterliegen, so verfestigt, dass auch das Wissen um ihr Zustandekommen und die Feststellung, dass es für die Annahme eines kausalen Zusammenhangs allein die ›psychologische‹ Berechtigung der mentalen Impulserhaltung gibt, das Festhalten an ihr nicht erschüttern kann. Und je stärker wir an die kausale Verfasstheit der empirischen Welt glauben, desto stärker wird gleichzeitig die inhaltliche Behauptung: aus der Erwartung, eine Abfolge von Wahrnehmungen werde sich in der Zukunft wiederholen, wird die Behauptung eines notwendigen Zusammenhangs. 203 Die Überzeugung, die Gegenstände der Erfahrungswelt verhielten sich nach dem Grundsatz von Ursache und Wirkung ist zwar der wichtigste Grundsatz der Verbindung von Vorstellungen, 204 doch kaum weniger wichtig für jede Theoriebildung in epistemischer Absicht ist die weitere Annahme, äußere Gegenstände existierten ohne Unterbrechung. Die Analyse der Genese dieser Meinung beginnt mit der Feststellung, dass bei unterbrochener Wahrnehmung verschiedene Sinneseindrücke zu verschiedenen Zeiten das einzige sind, was dem Geist tatsächlich zur Verfügung steht. Streng genommen müssen wir also von der Wahrnehmung eines ersten Gegenstandes zu einem Zeitpunkt t1 und der Wahrnehmung eines zweiten Gegenstandes zu einem Zeitpunkt t2 sprechen. Dennoch sind wir, wenn die Inhalte der Wahrnehmung sich ›ähneln‹ und die Inhalte in räumlicher oder zeitlicher ›Nähe‹ zueinander stehen, oft fest davon überzeugt, dass wir es mit denselben Gegenständen oder Ereignissen zu tun haben. 205 202 Insofern ist Humes Behauptung nur folgerichtig, »that all our reasonings concerning causes and effects are deriv’d from nothing but custom; and that belief [i. e. an idea that has been strengthened] is more properly an act of the sensitive, than of the cogitative part of our natures«, Treatise, 1.4.1.8. 203 Auch in diesem Zusammenhang gilt, dass die Tätigkeit der Einbildungskraft, die den beobachteten Daten einen notwendigen Zusammenhang nach Regeln unterstellt, in letzter Instanz praktisch motiviert ist, denn sie ist letztlich Ausdruck des Bedürfnisses nach einer Orientierung im Handeln: »Nothing is more admirable, than the readiness, with which the imagination suggests its ideas, and presents them at the very instant, in which they become necessary or useful«, Treatise, 1.1.7.15, meine Hervorhebung. 204 Treatise, 1.3.2.11. 205 In Humes Beispiel sind es Sonne und Meer, die sich uns nach einer kurzen Unter-
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Auch für diese Überzeugung gibt Hume eine ›newtonsche‹ Erklärung. So entspringt für ihn die Annahme, die Gegenstände existierten ohne Unterbrechung, ebenfalls der mentalen Impulserhaltung. Ebenso wie den fehlenden Farbton in einer Farbskala ergänzt die Einbildungskraft auch hier das fehlende ›Zwischenstück‹ durch ihren ›Schwung‹ und erzeugt Vorstellungen, die sich vermeintlich auf empirische Gegebenheiten beziehen – wiederum ohne dass ein korrespondierender Erfahrungseindruck tatsächlich vorgelegen hätte. Verstärkt wird diese Gedankenbewegung noch durch eine zweite Ähnlichkeitsbeziehung. Denn nicht nur die Inhalte, sondern auch die Akte des Vorstellens ähneln sich und erscheinen dem Geist kaum anders als die Vorstellungsakte, die von einer ununterbrochenen Wahrnehmung veranlasst werden: »We may observe, that there are two relations, and both of them resemblances, which contribute to our mistaking the succession of our interrupted perceptions for an identical object. The first is, the resemblance of the perceptions: The second is the resemblance, which the act of the mind in surveying a succession of resembling objects bears to that in surveying an identical object.« 206
Einem Hang zur mentalen Ökonomie folgend 207 vereinfacht der Geist die wahrgenommenen Daten, indem er die verschiedenen Eindrücke zusammenfasst, und verstärkt auf diese Weise die Überzeugungskraft der Identitätsbehauptung weiter. 208 Das Ergebnis der Analyse ist so in beiden Fällen dasselbe: sowohl die Annahme kausaler Verbindungen als auch die Überzeugung der brechung der Wahrnehmung erneut in ähnlicher Zusammensetzung und Ordnung (»with like parts and in a like order«, Treatise, 1.4.2.24) präsentieren, sodass wir unterstellen, es handle sich um dieselbe Szenerie. 206 Treatise, 1.4.2.35 Fn. 39; vgl. »An easy transition or passage of the imagination along the ideas of these different and interrupted perceptions, is almost the same disposition of mind with that in which we consider one constant and uninterrupted perception. ’Tis therefore very natural for us to mistake the one for the other«, Treatise, 1.4.2.35; s. auch 1.4.6.22. 207 Ökonomie ist für Hume ein wichtiges Regulativ unserer geistigen Aktivität. Der Geist fühle sich ›unwohl‹, wenn er sich in Widersprüche verstrickt, und bemüht sich entsprechend, den Widerspruch aufzulösen (Treatise, 1.4.2.37), um ein Bedürfnis nach »coherence and constancy« (Treatise, 1.4.2.56) und »simplicity« (Treatise, 1.4.6.22) zu erfüllen und um eine »smooth passage of the imagination along the ideas« (Treatise, 1.4.2.36) sicherzustellen, s. auch 1.4.2.52; 1.4.6.6 f. 208 Treatise, 1.4.2.52; vgl. auch 1.4.6.6; 1.3.14.20; 1.3.14.22; 1.3.8.12; 1.3.12.20. Hilfreich A
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ununterbrochenen Existenz sind ›Fiktionen‹, 209 Hilfskonstruktionen, deren epistemische Unterbestimmtheit 210 wir allerdings einzusehen in der Lage sind. 211 Sie entspringen einem Bedürfnis des Geistes, auch dort zu vereinfachen und Regelmäßigkeiten herzustellen, wo die vorliegenden Daten nicht dazu berechtigen. »[W]e attribute simplicity […] and feign a principle of union« 212 , »we disguise […] the interruption«; 213 konstruieren also eine Verbindung, die durch die Erfahrung nicht gedeckt ist. Dennoch sollte der Ausdruck ›Fiktion‹ in diesem Zusammenhang nicht dazu verleiten, die entsprechenden Vorstellungen oder Meinungen für arbiträr oder beliebig zu halten, im Gegenteil: sie sind unausweichliche Folge der Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens, »forced on us by our nature« 214 und als ›natürliche‹ Gedankenbewegungen »unavoidable.« 215 Humes Untersuchung der Entstehung der Prinzipien, nach denen wir unsere Sinnesdaten ordnen und vereinfachen, macht uns so bewusst, dass diese Grundsätze wesentlich auf einer durch Gewohnheit stabilisierten Interpretation der Einbildungskraft beruhen, »that this connexion, tie, or energy lies merely in ourselves, and is nothing but that determination of the mind, which is acquir’d by custom, and causes us to make a transition from an object to its usual attendant, and from the impression of one to the lively idea of the other.« 216
für die Interpretation ist hier Banwarts Feststellung: »[that] the difference between the reasoning that gives rise to the idea of causality and that which gives rise to the idea of substance is the difference between direct and indirect inference (i. e., between continuing a habit, and facilitating a habit by making an association easy)«, Banwart, 1994, 50. 209 Treatise, 1.4.2.43; 1.4.2.29; 1.4.2.36; 14.2.52. 210 Hume geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, die entsprechenden Fiktionen seien »really false«, Treatise, 1.4.2.43. 211 »Ideas always represent the objects or impressions, from which they are deriv’d, and can never without a fiction represent or be apply’d to any other«, Treatise, 1.2.3.11; s. 1.4.2.29. Außerhalb der Diskussion der Überzeugung von einer kausalen Verbindung und fortgesetzten Existenz äußerer Gegenstände verwendet Hume den Ausdruck ›Fiktion‹ vor allem im Zusammenhang seiner Kritik ›antiker‹ Systeme (›Of the antient philosophy‹, 1.4.3 f.) – wenn es darum geht, deren Thesen als falsch und undurchsichtig auszuweisen, s. bes. 1.4.3.1. 212 Treatise, 1.4.6.22. 213 Treatise, 1.4.2.24. 214 Biro, 1983, 42. 215 Traiger, 1987, 394; vgl. Treatise, 1.4.7.3; 1.3.6.14. 216 Treatise, 1.4.7.5; vgl. 1.3.4.9; 1.3.6.10.
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Sowohl die Annahme der fortgesetzten Existenz der Gegenstände als auch die Überzeugung, sie unterlägen dem Grundsatz von Ursache und Wirkung, sind grundlegend für unsere epistemische Bezugnahme auf die empirische Welt. Durch Humes Analyse wird deutlich, dass zu ihrer Begründung nicht mehr als der Verweis auf den ›psychologischen‹ Zwang angeführt werden kann, aus dem heraus die Einbildungskraft sie herstellt. Dies relativiert selbstverständlich auch alle Wissensansprüche, die aus diesen Prinzipien abgeleitet oder auf ihrer Grundlage ›gerechtfertigt‹ werden. Zusätzliche Brisanz erhält dies Ergebnis dadurch, dass wir nicht nur die Erfahrungswelt nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung interpretieren, sondern dabei bereits unterstellen, dass auch die Verbindung zwischen unseren Wahrnehmungen und den sie veranlassenden äußeren Gegenständen kausaler Natur ist; denn schließlich sind wir bei der Untersuchung der Prinzipien, die unsere Erkenntnis leiten, zugleich Subjekt und Objekt der Untersuchung, »the beings, that reason, [and] also one of the objects, concerning which we reason«. 217 Ein Problem liegt darin, dass Hume einerseits behauptet, die Wissenschaft vom Menschen sei fundamental für alle anderen Wissenschaften, für ihre Grundlegung aber an wichtiger Stelle auf Prinzipien der nachgeordneten Disziplin der (Newtonschen) Physik zurückgreift. Wenn also die Erklärung der Arbeitsweise des menschlichen Geistes, und hier besonders die Explikation der Tätigkeit der Einbildungskraft, nicht zirkulär werden soll, so muss an dieser Stelle wenigstens eine unabhängige Begründung ihrer Geltung erfolgen. Eine solche Begründung sucht man in seiner Theorie vergebens. Bei seinem Versuch, ›sämtlichen Wissenschaften‹ ein ›fast gänzlich neues Fundament‹ 218 zu legen, orientiert Hume sich zwar an den Grundsätzen der Physik, die ihrem Anspruch nach ohne Ausnahme gelten, er gelangt damit aber zu einer Theorie der menschlichen Natur, in der Gesetze nur mit Wahrscheinlichkeit gelten. 219 Indem er alle anderen Disziplinen – also auch die Physik – für ihre Grundlegung wiederum auf diese fundamentale ›Theorie des Menschen‹ verweist, führt Treatise, Introduction, 4. »[The] compleat system of the sciences«; Treatise, Introduction, 6. 219 Wiederholt schränkt Hume ein, dass die von ihm ermittelten Regeln »not universally true« (Treatise, 1.1.1.5) seien, nur »in general« (Treatise 1.1.1.1) gälten, oder eine Kraft nicht universell, sondern nur »generally« (Treatise, 1.1.4.1) wirke, eine Verbindung »not … inseparable« sei (loc. cit), etc. 217 218
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sein Versuch, den Wissenschaften ein ›festes Fundament‹, 220 »a foundation almost entirely new, on which they can stand with any security« 221 , zu legen, ironischer Weise gerade zur endgültigen Loslösung von der Annahme, dass auch außerhalb axiomatischer Systeme sichere und unumstößliche Erkenntnis möglich sei. 222 So schärft Hume gerade durch den Versuch, metaphysische Spekulation durch Experiment, Beobachtung und Erfahrung zu ersetzen, den Blick dafür, dass unsere kognitive ›Natur‹ – und hier an erster Stelle das Wirken der Einbildungskraft – uns bestimmte ›Fiktionen‹ bei der Interpretation unserer Sinnesdaten aufdrängt, für die es nicht nur in der Sache keine Rechtfertigung gibt, sondern deren fehlende Berechtigung wir durch eine Rekonstruktion ihrer Entstehungsgeschichte sogar nachweisen können. 223 Damit weist er der Einbildungskraft als dem Vermögen dieser (und weiterer) ›Assoziations‹-Prinzipien eine Funktion zu, die noch einmal erheblich über die epistemische Rolle hinausgeht, in der seine Vorgänger sie sahen. Diese Erweiterung ihres Aufgabenbereichs wird durch die Akzentverschiebung bei ihrer Bestimmung möglich. Mit seiner ›newtonschen‹ Charakterisierung dieses Vermögens nimmt Hume eine Neubestimmung vor, die dazu führt, dass der aristotelische Gedanke, der Geist bilde eine äußere Wirklichkeit unverfälscht ab, sehr viel radikaler in Frage gestellt wird, als dies seinen neuzeitlichen VorTreatise, Introduction 7. Treatise, Introduction 6. 222 In dieser Hinsicht ist der von Hume annoncierte »leichte Sieg« (Treatise, Introduction, 6) also tatsächlich ein Pyrrhus-Sieg. 223 Auch vernünftige Überlegung kann uns hier letztlich nicht zu größerer epistemischer Sicherheit verhelfen, sondern führt uns bestenfalls das Ausmaß unserer Beschränktheit vor Augen, Treatise, 1.3.13.8; 1.4.2.52; vgl. 1.3.8.13; 1.4.2.14 f.; 1.4.4.1 f. Wenn man zugesteht, dass die Tätigkeit der humeschen Einbildungskraft sich auch auf einige der geistigen Aktivitäten erstreckt, die wir für gewöhnlich der Vernunft zuschreiben – wobei die verschiedenen Begriffe dann verschiedene Betrachtungsperspektiven anzeigen (s. Banwart, 1994, 48 f.) –, so vermeidet dies zwar weitgehend die »curious tension in Hume’s account«, die Stroud an dieser Stelle diagnostiziert (Stroud, 1977, 108 f.), es bleibt aber dennoch fraglich, ob dies Humes Gegenüberstellung von vernünftiger Argumentation und gefühlter Gewissheit tatsächlich plausibel machen kann. Nicht trivial ist in diesem Zusammenhang auch, dass Humes Analyse unserer epistemischen Grundannahmen erhebliche Konsequenzen für andere wichtige Themen hat, z. B. die Konzeption unseres ›Selbst‹ als eines ›inneren Gegenstandes‹ und die Unterstellung einer ›Substanz‹ (s. Hepfer, 2008): auch hier halten wir Behauptungen für wahr und zutreffend, selbst nachdem Reflexion ihren fiktionalen Status nachgewiesen hat, Treatise, 1.4.6.6. 220 221
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gängern durch eine Analyse der Vorstellungen selbst möglich war. Konnten Descartes und Locke noch versuchen, mit unterschiedlichen Strategien die unumstößliche Sicherheit wenigstens einiger Vorstellungen nachzuweisen, um von dort aus dann einen Bereich sicheren (empirischen) Wissens zu bestimmen, so lässt Humes Untersuchung des Vermögens keinen Spielraum für einen Optimismus in dieser Frage. Das Wissen um äußere Verhältnisse und Gegenstände wird in seiner Theorie erstmals durchgängig zu einer Konstruktion, die maßgeblich auf einer aktiven Interpretationsleistung unserer Einbildungskraft beruht. Ohne die von diesem Vermögen ›hergestellten‹ Prinzipien ist, so die Behauptung, eine Auslegung von Sinnesdaten in epistemischer Absicht unmöglich. 224 Dabei setzt Hume mit seiner Erklärung bereits auf der Ebene des durch Gewohnheit stabilisierten Vorstellungsmodells an. Die noch radikalere Frage nach den Mechanismen, mit denen das Erkenntnisvermögen vollkommen verschiedene Sinnesdaten zu Vorstellungen von Gegenständen verbindet, beschäftigt, wie wir im Folgenden sehen werden, intensiv erst Kant im Zusammenhang der ›Synthesisleistungen‹ des Verstandes. 225 So tritt bei Hume an die Stelle der Hoffnung, durch Forschung tatsächlich die eine richtige Sicht der Erfahrungswelt ermitteln zu können, erstmals die bis heute überaus wirkungsreiche Überzeugung, dass alles menschliche Wissen auf Interpretationsprinzipien beruht, deren Genese durch die spezifische Beschaffenheit unseres Erkenntnisappa224 Dieses Ergebnis stellt später auch Kant nicht mehr in Frage, trotz seiner erklärten Absicht, dem umfassenden Skeptizismus entgegentreten zu wollen, der aus Humes Analyse folgt. – Zu stark ist allerdings die (zugegebener Weise naheliegende) Behauptung, Hume stelle hier im Sinne Kants bereits eine Theorie der ›transzendentalen Einbildungskraft‹ vor und habe es nur versäumt, eine entsprechende terminologische Kennzeichnung vorzunehmen, s. Daniel 1988, 85; 88 f. Dagegen spricht nicht nur die spezifische, theoriegebundene Bedeutung, die diesem Ausdruck bei Kant zukommt, sondern auch, trotz der offensichtlichen Berührungspunkte der beiden Theorien in dieser Frage, auf die J. Mainzer bereits früh hingewiesen hat (Mainzer, 1881, 18), die Verschiedenheit der Argumentation bei Hume und Kant; s. dazu auch Traiger, 1987, 384 f. 225 So kommentiert schon Mainzer in seiner Untersuchung zur Einbildungskraft bei Hume und Kant: »Nun hatte Hume das vorausgesetzt, was er bekriegen wollte; seine Schlüsse beruhen wie die aller englischen Empiristen auf einer vollgültigen, fertigen Erfahrung. Diese Voraussetzung muß die Philosophie begründen: sie muß auf das zurückgreifen, was vor der vollendeten Thatsache der Erfahrung schon geschehen sein muß, und wenn man bisher von fertigen Objecten ausgegangen war, muß sie erforschen, wie ein Object entsteht«, Mainzer, 1881, 21; s. dazu auch Nuyen, 1990, bes. 61 f. und Hepfer, 2006, 2.3.
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rates stark präjudiziert wird. Er entwickelt diesen Gedanken exemplarisch im Rahmen einer Theorie der Einbildungskraft, die die Operationen dieses Vermögens den grundlegenden Wirkmechanismen der Newtonschen Physik gleichstellt. Dass in seinem Assoziationsmodell zur offenen Frage wird, ob die Verbindungen, die wir der Erfahrungswelt (aus einer psychologischen Notwendigkeit heraus) unterstellen, die Verbindungen, wie sie in der Außenwelt vorliegen, zutreffend erfassen, gesteht Hume selbst explizit ein. 226 Schließlich folgt aus einer psychologischen (›gefühlten‹) Gewissheit, 227 wie stark sie auch sein mag, nichts über die objektiven Verhältnisse. 228
2.5 Immanuel Kant Die Irritation durch Humes nachdrücklich vorgetragene These, das Kausalitätsprinzip sei eine im besten Fall psychologisch zu begründende Behauptung, war bekanntlich ein wesentlicher Anstoß für die Erkenntnistheorie Immanuel Kants. Die Theorie, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft vorstellt, nimmt ausdrücklich die Einsicht auf, dass unser Wissen zu einem erheblichen Teil von unseren kognitiven und perzeptiven Bedingungen bestimmt wird und dass es die eine richtige Sicht der Dinge für uns deshalb nicht geben kann – und er macht diese Einsicht explizit zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Anders als René Descartes oder John Locke versucht er nicht länger, eine absolute Konzeption des Wissens durch den Einsatz problematischer metaphysischer Hypothesen (wenigstens für Teilbereiche unserer empirischen Erkenntnis) zu retten, sondern untersucht, auf welche Voraussetzungen und Prinzipien unser Wissen trotz seines Interpretationscharakters auf keinen Fall verzichten kann, um auf ihrer Grundlage dann unsere Erkenntnisansprüche abzusichern. Bei dieser Unternehmung kommt der Einbildungskraft auch hier eine zentrale Rolle zu. Die Darstellung der Theorie Kants bereitet allerdings aus mehreren Gründen Schwierigkeiten. 229 Erstens wird die Einbildungskraft in seinen philosophischen Hauptwerken nach 1781 nicht in der Weise 226 227 228 229
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Z. B. Treatise, 1.3.5.2; 1.3.14.28. So z. B. Treatise, 2.3.1.12. Treatise, 1.3.14.20; 1.3.14.22. Für eine ausführlichere Darstellung der Theorie s. Hepfer, 2006.
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zum Untersuchungsgegenstand, wie es ihrem Stellenwert in der Argumentation entspräche. Vielmehr taucht sie, besonders in der Kritik der reinen Vernunft und in der Kritik der Urteilskraft, »in verschiedenen Zusammenhängen plötzlich auf, oft ohne ausdrücklich eingeführt zu werden«, wie schon Herrmann Mörchen in seiner 1930 erschienenen Monographie zur Einbildungskraft bei Kant bemängelt. Seine Diagnose, sie bleibe in diesen Hauptwerken »trotz gelegentlicher Definitionen dunkel«, 230 hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie genau in den Abschnitten der Kritik der reinen Vernunft zum Thema wird, die interpretatorisch sehr anspruchsvoll sind: in den beiden Versionen der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und im Schematismus-Kapitel. Erschwerend kommt hinzu, dass die großen inhaltlichen Änderungen der zweiten Auflage ausgerechnet Kants Konzeption der Einbildungskraft betreffen. Mit den Veränderungen, die Kant in der zweiten Auflage vorgenommen hat, hängt zweitens ein allgemeines Problem zusammen, das die Darstellung zusätzlich erschwert: es gibt wenigstens zwei große Interpretationslinien seiner Erkenntnistheorie, die sich in ihren Aussagen signifikant unterscheiden. Sie lassen sich in ihrer Tendenz danach einteilen, welcher der beiden Auflagen sie den Vorzug geben. Das Problem besteht darin, dass sie sich mit einer entsprechend unterschiedlichen Gewichtung einzelner Fragen und Themen der Philosophie Kants nähern und sich für beide Lesarten gute Gründe finden lassen, sowohl im Text als auch in der Sache. Drittens schließlich gehören die Ausführungen Kants zur Einbildungskraft nicht nur in interpretatorischer und werkinterner Hinsicht, sondern auch systematisch zu den notorisch kontroversen Themen. Deshalb setzt eine angemessene Darstellung bereits eine im Vergleich zu den Theorien seiner Vorgänger sehr viel größere Zahl von allgemeinen Interpretationsentscheidungen voraus. Dies alles trägt dazu bei, dass dieser Abschnitt größeren Raum einnimmt als die bisherigen Darstellungen. Dabei bleibt er dennoch weitgehend auf die Theorie der Kritik der reinen Vernunft beschränkt, weil in diesem Werk – anders als in der Kritik 230 Mörchen, 1930, 42 f. Mörchens Diagnose gilt in weiten Teilen auch heute noch. Angesichts der Tatsache, dass die Einbildungskraft unbestritten eines der zentralen Themen der Erkenntnistheorie Kants ist, verwundert es, dass dieses Vermögen (außerhalb seiner Funktion für die Ästhetik) für die Interpretation der letzten Jahrzehnte kaum von Interesse gewesen ist, vor allem, weil es in dieser Zeit eine beträchtliche Zahl von groß angelegten Einzeluntersuchungen zu seiner theoretischen Philosophie gab, s. Hepfer, 2006, 8 f.
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der Urteilskraft, in der die Einbildungskraft ebenfalls eine tragende Rolle für die Argumentation spielt – die erkenntnistheoretischen Funktionen des Vermögens zum Thema werden. 231 Mit dem programmatischen Ziel der Kritik der reinen Vernunft, der Untersuchung der Grenzen der menschlichen Erkenntnis, knüpft Kant direkt an die Vorhaben der erkenntnistheoretischen Hauptwerke Lockes und Humes an. 232 Gegenüber den Empiristen Locke und Hume erweitert er dieses Unternehmen allerdings um einen entscheidenden Gedanken. Mit dem negativen Vorhaben der Ermittlung der Grenzen unserer Erkenntnis verbindet er zugleich das positive Ziel einer vollständigen Bestimmung ihres Umfangs, also des gesamten Bereichs, auf den sich unsere Erkenntnisansprüche berechtigterweise erstrecken (können). 233 In der Interpretationsliteratur stehen sich wie erwähnt zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen darüber gegenüber, wie dieses Vorhaben zu verstehen ist. Auf der einen Seite steht eine Lesart, die den Schwerpunkt tatsächlich auf die erkenntnis- oder auch die wissenschaftstheoretischen Aspekte legt; auf der anderen eine Interpretation, die meint, das Vorhaben der Kritik der reinen Vernunft sei vor allem als eine Auseinandersetzung mit ›metaphysischen‹ Themen 231 Ausdrücklich weist Kant selbst zu Beginn der Kritik der Urteilskraft darauf hin, dass die Untersuchung der Einbildungskraft in ästhetischer Perspektive für die Erkenntnistheorie nicht einschlägig ist; Kritik d. U., 204; Einleitung, 189–192. Vgl. auch die Diskussion bei Mörchen, der als Konklusion seiner Argumentation festhält: »Hier wird ganz deutlich, wie sinnwidrig es ist, die am ästhetischen ›Urteil‹ beteiligte Einbildungskraft als Erkenntnisvermögen zu interpretieren«, Mörchen, 1930, 144; vgl. 130; 162. Rudolf A. Makkreel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Einbildungskraft in ihrer ästhetischen Funktion zwar einen Bezug auf Erkenntnis habe, allerdings nur in dem sehr weitläufigen Sinn, dass sie es uns erlaubt, unserem Wissen ›Bedeutung‹ zu geben, d. h. es sinnvoll auf unsere Lebenspraxis zu beziehen, Makkreel, 1990, 71 ff.; 158; 163 ff.; 199. 232 S. Locke, Essay, 43/1.1.2; 44/1.1.4; Hume, Treatise, Introduction. 233 Kritik d. r. V., Vorrede, A XII. Zwar verfolgt Locke dem Anspruch nach ein ähnliches Vorhaben wie Kant, wenn er ›the extent of human knowledge‹ ermitteln möchte, doch sein Unternehmen unterscheidet sich dadurch, dass er eine grundsätzlich andere Meinung darüber hat, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Kant folgt in der Ermittlung des Umfangs der menschlichen Erkenntnis einem System, dessen apriorische Geltung nachzuweisen ist. Sofern dieser Nachweis gelingt, gibt es einen guten Grund für die Behauptung, dass der Umfang unseres Wissens tatsächlich vollständig bestimmt werden kann. Locke dagegen stützt sich auf eine empirische Bestandsaufnahme der verschiedenen Typen unseres Wissens. Dies macht es ihm prinzipiell unmöglich, eine Vollständigkeit zu behaupten, denn seine Überlegungen bleiben immer relativ zum aktuellen Stand der Wissenschaft.
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angelegt. In dieser zweiten, ›metaphysischen‹ Perspektive stellt sich das Werk beispielsweise als der Versuch dar, die Frage zu beantworten, auf welche Weise uns überhaupt ›Gegenstände‹ gegeben werden beziehungsweise zugänglich sind. 234 Die verschiedenen Interpretationslinien gehen oft mit einer Präferenz der Interpreten für die Version der ersten oder der zweiten Auflage und einer deutlich stärkeren Gewichtung bestimmter Abschnitte einher. Da die primäre Ausrichtung an ›erkenntnistheoretischen‹ beziehungsweise ›metaphysischen‹ Fragen eine Grundspannung widerspiegelt, die im Text zweifelsohne vorhanden ist, ist es allerdings sinnvoll, die beiden Ansätze nicht gegeneinander zu stellen, zumal »sich für Kant selber diese Alternative nicht stellt«. Stattdessen sollte versucht werden, sie über die allgemeine Interpretationsmaxime systematisch aufeinander zu beziehen, insofern als »die ›Kritik der reinen Vernunft‹ […] eine Theorie der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung [entwickelt], weil sie sich mit Metaphysik beschäftigt«. 235 Ein angemessenes Verständnis der Theorie mit 234 Der herausragende Vertreter dieser ›metaphysischen‹ Interpretation ist Martin Heidegger, der diesen Ansatz in seiner Kant-Vorlesung von 1929 (Kant und das Problem der Metaphysik) verfolgt. Zu den überwiegend ›wissenschaftstheoretisch‹ oder ›erkenntnistheoretisch‹ motivierten Interpretationen dagegen ist neben den Versuchen des Marburger Neukantianismus, Kants Kritik der reinen Vernunft als eine weitgehend psychologiefreie und im modernen Sinn erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften zu lesen, die einflussreiche Interpretation Peter F. Strawsons (The Bounds of Sense, 1966) zu rechnen. ›Psychologiefrei‹ heißt: eine Interpretation, die unter anderem die Vermögenspsychologie und auch das Problem des Zusammenhangs von Vorstellungen in der ersten Kritik weitgehend vernachlässigt oder sie als »logische und begriffliche, nicht als psychologische Voraussetzung der Erkenntnis« (Hoppe, 1983, 11 f. Fn.) interpretiert. Strawson betrachtet Kants Vorhaben, den Umfang und die Grenzen menschlichen Wissens zu ermitteln, primär unter sprachphilosophischen Vorzeichen. Die Grundfrage der ersten Kritik wird für ihn deshalb zu einer Frage nach dem begrifflichen Rahmen (conceptual framework) unserer Erkenntnis. Als Vertreter einer klar wissenschaftstheoretisch ausgerichteten Interpretation wäre dagegen etwa Stephan Körner mit seiner Monographie von 1955 (Kant, dt. 1967) zu nennen. Körner interpretiert Kants Werk ausdrücklich vor dem Hintergrund der Newtonschen Physik und unter dem Gesichtspunkt, inwieweit Kants Überlegungen zu einer Grundlegung der Naturwissenschaften beitragen können. 235 Carl, 1992, 11, meine Hervorhebung. Eine Stelle, an der diese Verbindung besonders augenfällig wird, ist, wie Carl unter Rückgriff u. a. auf den dritten Entwurf der Preisschrift (bes. AA 20.316 f.) nachweist, Kants eigener Begriff der Metaphysik. Analog der »zweifachen Verwendung des Ausdrucks ›Vernunft‹, der einmal das ›obere Erkenntnisvermögen‹ insgesamt, dann aber auch speziell das Vermögen bezeichnet, dessen logischer Gebrauch im Schließen besteht«, lässt sich auch im Hinblick auf den Metaphysik-
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ihren internen Spannungen und Schwierigkeiten ist nur dann möglich, wenn man die beiden Themen und die entsprechenden Interpretationstraditionen nicht als exklusive Alternativen betrachtet, sondern als verschiedene Aspekte der Theorie. Kants Optimismus, nicht nur den Umfang, sondern auch die Grenzen unserer Erkenntnis bestimmen zu können, stützt sich auf mehrere Annahmen, die seine Theorie erheblich von den Modellen seiner Vorgänger unterscheiden. Wichtig sind hier vor allem zwei Thesen. Erstens: Erkenntnis ist ein Ganzes miteinander in Verbindung stehender Vorstellungen. 236 Mit dieser Feststellung wendet sich Kant von einem Modell der Erkenntnis ab, das behauptet, dass bereits einzelne Vorstellungen Fälle von Wissen darstellen können. Es wurde nicht nur von vielen seiner empiristischen Vorgänger vertreten, sondern vor dem Erscheinen der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft auch von Kant selbst. Ebenso wichtig ist zweitens die weitere Behauptung, der Bereich der uns möglichen Erkenntnis – als »ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen« – ließe sich als ein System, und dies bedeutet für Kant: vollständig, bestimmen. 237 Diese Thesen vertritt Kant vor dem Hintergrund einer Unterscheidung zweier Bereiche, die für seine Untersuchung und Begründung unseres Wissens essentiell sind: des Bereichs der ›Erscheinungen‹ und des Bereichs der ›Dinge an sich‹. Der erste Bereich steckt das Feld ab, in dem uns Erkenntnis überhaupt nur möglich ist, der zweite umfasst u. a. das, was wir in explikativer und begründender Hinsicht zwar unterstellen (müssen), mit Bezug auf dessen Beschaffenheit oder die Beschaffenheit der entsprechenden Gegenstände aber jede weitergehende positive Behauptung unbegründet bleiben muss. Die Unterscheidung zwischen ›Erscheinungen‹ und ›Dingen an sich‹, die im Text
begriff eine enge und eine weite Bedeutung ermitteln, in dessen Gefolge sich das zentrale Beweisziel der ersten Kritik auf die positive Beantwortung der Frage der ›Grenzbestimmung der reinen Vernunft‹, d. h. ihrer berechtigten Ansprüche, festlegen lässt. Im Rahmen der engen Konzeption des Metaphysikbegriffs stellt sich das Argumentationsziel dagegen als ein therapeutisches und negatives dar: in diesem Zusammenhang geht es um die Zurückweisung überzogener Erkenntnisansprüche, d. h. darum, »›den Schein transscendenter [›transscendendental‹ ist offensichtlich ein Druckfehler] Urtheile aufzudecken‹ (Kritik d. r. V., A 297/B 354) und die Möglichkeit metaphysischen ›Wissens aufzuheben‹ (Kritik d. r. V., B XXX)«, Carl, 1992, 17 f.; vgl. 41. 236 S. Kritik d. r. V., A 97. 237 Kritik d. r. V. A 64/B 89; vgl. Vorrede A XIV.
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das erste Mal in der Vorrede zur zweiten Auflage begegnet, 238 dient damit einerseits dazu, die Behauptung plausibel zu machen, der Umfang der menschlichen Erkenntnis ließe sich vollständig bestimmen. Andererseits soll sie eine bestimmte Art metaphysischer Spekulation zurückweisen, die sich im Anschluss an die Vermutung artikuliert, dass zwischen der Art, wie wir Dinge wahrnehmen oder erkennen können, und der tatsächlichen Beschaffenheit der Dinge eine epistemische Differenz besteht, oder wie es Thomas Nagel formuliert: »[that] the world extends beyond the reach of our minds« 239 . Denn auf der Grundlage dieser Vermutung entsteht naheliegender Weise ein Bedürfnis danach, die ›wahre‹ oder ›absolute‹ Beschaffenheit der Dinge zu ermitteln. Kant reagiert auf dieses Bedürfnis und die entsprechenden Spekulationen mit einer konsequenten Abgrenzungsstrategie. Menschliche Erkenntnis findet nun einmal unter den perzeptiven und kognitiven Bedingungen statt, unter denen der Mensch steht. Daher ist die Frage danach, wie die Dinge ›wirklich‹ beschaffen sind, offensichtlich müßig: »Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts, als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen, zukommen muß.« 240
Damit ergibt sich bereits aus der Definition, dass der Bereich der Erscheinungen das gesamte Feld des uns möglichen Wissens absteckt: die Welt wird zum »Inbegriff der Erscheinungen«. Anders formuliert: Kant verabschiedet mit der Unterscheidung von ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹ ausdrücklich die absolute Konzeption der Erkenntnis und bezieht die Ansprüche an die Rechtfertigung unseres Wissens konsequent auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Allerdings hilft es wenig, den Bereich des uns möglichen Wissens nur in abstracto zu bestimmen; unumgänglich ist es, eine Vorgehensweise zu finden, mit der es gelingt, die Konzeption für die Überprüfung und Begründung konkreter Wissensansprüche fruchtbar zu machen. Hier wird die Frage wichtig, in welcher Beziehung unsere Vorstellungsverbindungen zu den Verbindungen stehen, in denen die Gegenstände, die sie auslösen (beziehungsweise die entsprechenden Sinnes238 239 240
Kritik d. r. V., Vorrede, B XX. Nagel, 1986, 90; vgl. 90–109. Kritik d. r. V., A 42/B 59. A
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daten), zueinander stehen. Lässt sich nachweisen, dass die mentalen Verbindungen den Verbindungen zwischen Gegenständen angemessen sind, oder müssen wir mit David Hume zugestehen, dass Vorstellungsverbindungen allein als ein subjektiver Ausdruck unseres Bedürfnisses nach mentaler Ökonomie ausgewiesen werden können? Um eine nicht-skeptische Antwort zu geben, muss Kant ein überzeugendes Argument dafür finden, dass wenigstens einige Verbindungen, die wir der Erfahrungswelt unterstellen, mit den Verbindungen übereinstimmen, die in dieser Welt tatsächlich gelten. Um den entsprechenden Nachweis zu führen, greift er auf die Vermögenspsychologie zurück, mit der er sich in der Zeit vor der Entstehung seines erkenntnistheoretischen Hauptwerks ausführlicher auseinandergesetzt hatte. Aus ihr übernimmt er unter anderem die Einteilung der Erkenntnisvermögen in ›obere‹ und ›untere‹. In einer vollständigen Disjunktion sind sie – textgleich in den Auflagen von 1781 und 1787 – unter den Bezeichnungen ›Verstand‹ oder ›Vernunft‹ und ›Sinnlichkeit‹ in jeweils weiter Bedeutung die beiden ›Stämme‹ oder Quellen unserer Vorstellungen beziehungsweise unserer Erkenntnisse. 241 Die wichtige Behauptung ist, dass Verstand und Sinnlichkeit zusammenwirken müssen, damit Wissen entstehen kann: »Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen«. 242 Der systematische Gedanke hinter dieser Behauptung ist der folgende: das untere Erkenntnisvermögen bezieht sich auf den kontingenten Bereich der Erfahrung; das obere dagegen ist unabhängig von Erfahrung und enthält die notwendigen Elemente unserer Erkenntnis. Damit können jeweils verschiedene Standards der Begründung spezifiziert werden. Da die Behauptung, Verstand und Sinnlichkeit seien in jeder Erkenntnis aufeinander angewiesen, vor allem als ein Abhängigkeitsverhältnis von Vorstellungen der jeweiligen Vermögen formuliert ist, stehen sich daher auf der einen Seite Vorstellungen, die im direkten Rückgriff auf Erfahrung ›gerechtfertigt‹ werden können, und auf der anderen Seite Vorstellungen, deren ›Rechtfertigung‹ ohne den Rück241 Kritik d. r. V., Einleitung, A 15/B 29; vgl. A 840/B 868; A 835/B 863; A 62/B 87. – ›Vernunft‹ in einem engen Sinn bezeichnet bei Kant das Vermögen des Schließens, ›Verstand‹ im engen Sinn das Vermögen der Begriffe beziehungsweise der Regeln. 242 Kritik d. r. V., A 51/B 75 f.; vgl. A 258/B 314; A 124. Eine Vorversion dieser These findet sich bereits in der Zeit zwischen 1773 und 1778, sofern man der Datierung von Adickes folgt; etwa R 820 AA 15.366; R 216: AA 15.82 f.; und R 212 AA 15.81 f. (1770– 71?; 75–78?).
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griff auf Erfahrung auskommt, gegenüber. Jene sind aufgrund ihrer Rechtfertigung kontingent, diese aufgrund ihrer Rechtfertigung notwendig. Kant teilt hier die jeweiligen Vorstellungen in einer vollständigen Disjunktion 243 anhand ihrer Genese ein, d. h. in Vorstellungen der Sinne (›Anschauungen‹) und Vorstellungen des Verstandes (›Begriffe‹). Durch die erstgenannten werden uns Gegenstände ›gegeben‹, durch die zuletzt genannten werden sie ›gedacht‹. 244 Die grundlegende These lautet: «Ve r s t a n d und S i n n l i c h k e i t können bei uns n u r i n Ve r b i n d u n g Gegenstände bestimmen. Wenn wir sie trennen, so haben wir Anschauungen ohne Begriffe, oder Begriffe ohne Anschauungen, in beiden Fällen aber Vorstellungen, die wir auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen können«. 245
Diese These verbindet Kant mit der weitergehenden Behauptung, die nicht-empirischen, ›apriorischen‹ Vorstellungen des Verstandes seien Voraussetzung der empirischen Vorstellungen der Sinne. Auch wenn die Vorstellungsterminologie in diesem Zusammenhang nicht besonders glücklich gewählt ist, weil es sich bei den notwendigen Bedingungen unseres Wissens um formale Eigenschaften und Funktionen handelt, die jeder Erkenntnis zugrunde liegen sollen, und nicht um Vorstellungen mit einem ›normalen‹ Inhalt, so ist die Absicht hinter Kants Strategie unschwer auszumachen. Gelingt es nämlich nachzuweisen, dass unser gesamtes Wissen unter bestimmten notwendigen Voraussetzungen steht, so führt dies offensichtlich dazu, dass auch für den kontingenten Bereich der Erfahrung jeweils an bestimmten Punkten epistemische Sicherheit möglich wird. In diesem Sinn ist die Begründung der These, dass das ›untere‹ und ›obere‹ Vermögen in jedem Fall ›der Bestimmung von Gegenständen‹ und letztlich allgemein für Kritik d. r. V., A 68/B 92 f.; vgl. A 50/B 74. Kritik d. r. V., Einleitung, A 15/B 29. Obwohl auch für Kant – wie schon für die Modelle seiner Vorgänger seit der frühen Neuzeit – Vorstellungen ein wichtiges Moment der Erkenntnistheorie sind, beginnt er, anders als etwa Locke und Hume, seine Ausführungen nicht mit ihrer genauen begrifflichen und sachlichen Einordnung. Besonders die terminologische Seite klärt er relativ spät; erst im Zusammenhang der Bestimmung des Begriffs der ›Idee‹ entwickelt er eine begriffliche ›Stufenleiter‹ mentaler Entitäten. Im zweiten Abschnitt des ersten Buches der transzendentalen Dialektik charakterisiert er Vorstellungen als den Oberbegriff, durch dessen Präzisierung sich Empfindung, Erkenntnis, Anschauung, Begriff und Idee bestimmen lassen; Kritik d. r. V., A 320/B 376 f. 245 Kritik d. r. V., A 258/B 314; vgl. auch A 51/B 75; A 50/ B 74; A 19/B 33; B 327. 243 244
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jeden Fall von Erkenntnis zusammenwirken müssen, 246 einer der zentralen Gedanken der ersten Kritik. Der behauptete Zusammenhang wird allerdings erst dann wirklich plausibel, wenn gezeigt werden kann, wie die Verbindung im Einzelfall hergestellt wird. Dies ist eine der wichtigen Aufgaben, die, in der ersten Auflage deutlicher als in der zweiten, die Theorie der Einbildungskraft lösen soll. Die Formulierung der Theorie im Rahmen der aus der Tradition übernommenen Vermögenspsychologie und ihres Vokabulars, vor allem in der ersten Auflage, hat Kant einen Vorwurf eingetragen, der mit der oben erwähnten Präferenz der verschiedenen Interpretationstraditionen für eine der beiden Auflagen eng verbunden ist: den Vorwurf des Psychologismus. Darin artikuliert sich der Generalverdacht, es ginge ihm mehr um eine psychologische Untersuchung der Beschaffenheit des menschlichen Geistes und der psychologischen Voraussetzungen, unter denen unsere Erkenntnis steht, als um eine philosophische Rechtfertigung von Erkenntnisansprüchen, ja, er wolle das zweite, nämlich die Rechtfertigung, durch das erste, die psychologische Untersuchung, erreichen. 247 Dieser Vorwurf hält sich in der einen oder anderen Weise mit großer Beharrlichkeit und hat, obwohl er außer in einem schwachen und unverfänglichen Sinn schlicht falsch ist, 248 zwei wichtige Konsequenzen gehabt. Erstens hat er zu einer Präferenz der Interpretationsliteratur für die vermeintlich weniger psychologische zweite Auflage geführt. Zweitens, und in unserem Kontext wichtiger, ist er dafür verantwortlich, dass bestimmte Themen bei der Interpreta246 Dies gilt besonders für die Erkenntnis der Erfahrungswelt; in einem anderen Sinn allerdings gilt der Zusammenhang auch für nicht-empirische Erkenntnis. Sie kommt ohne einen Bezug auf Erfahrung deshalb nicht zustande, weil dem oberen Erkenntnisvermögen in diesem Fall ein Anlass fehlt, um tätig zu werden, Kritik d. r. V., Einleitung, B 1. – Wie der Bereich der ›apriorischen Erkenntnis‹ – jenseits des Bereichs axiomatischen Wissens – bei Kant im Einzelnen zu bestimmen ist, und wieweit es sich hierbei überhaupt um ›Wissen‹ in einem gehaltvollen Sinn des Wortes handelt, ist kontrovers und kann hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Einen guten Überblick über verschiedene Optionen gibt der Sammelband von Paul K. Moser, 1987. 247 Der Vorwurf des Psychologismus geht auf die frühe Kant-Rezeption im 19. Jahrhundert zurück und hat in den verschiedenen Phasen der Kant-Interpretation unterschiedliche Formen angenommen. Eine Übersicht über historisch wichtige Stationen gibt Kitcher, 1990, 3–11; s. auch Hepfer, 2006, 68–73. 248 Wenn das Ziel der Untersuchung in einer Bestimmung der Grenzen und des Umfangs der menschlichen Erkenntnis besteht, ist nicht zu sehen, wie ein solches Unterfangen gänzlich auf die Auseinandersetzung mit den geistigen Fähigkeiten des Menschen verzichten könnte; s. auch Kitcher, 1990, 9.
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tion der theoretischen Philosophie Kants vergleichsweise geringe Beachtung fanden. Dazu gehören insbesondere auch diejenigen, die hier interessieren: Kants Modell der geistigen ›Vermögen‹, seine Theorie der Einbildungskraft und seine Darstellung ihrer Funktion im Erkenntnisprozess, die Frage nach der Verbindung (›Synthesis‹) von Vorstellungen sowie die Frage nach der mentalen Konstitution von Gegenständen. Mit diesen einleitenden Bemerkungen ist der Grundstein für die Darstellung der Theorie der Einbildungskraft gelegt, in deren Zusammenhang Kant diese Themen behandelt. Das Vermögen tritt zum ersten Mal in § 10 des Deduktionskapitels in nennenswerter Weise in Erscheinung. In diesem Abschnitt, der noch beiden Auflagen gemeinsam ist, führt Kant sie im Kontext der ›Synthesis‹ ein. »Die Synthesis überhaupt«, heißt es dort, sei »die bloße Wirkung der Einbildungskraft«, und er weist darauf hin, dass wir es bei der Tätigkeit der Einbildungskraft zu tun haben mit »einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall keine Erkenntnis haben würden, deren wir uns aber selten nur einmal bewußt sind.« 249 Obwohl diese Äußerung offensichtlich eine Reihe von Fragen aufwirft, so macht sie jedenfalls zwei Dinge klar. Erstens: die Einbildungskraft wird ausdrücklich zu dem Vermögen, das Verbindungen herstellt, da »S y n t h e s i s in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung [ist], verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Vorstellung zu begreifen« 250 . Zweitens: in dieser Funktion ist die Einbildungskraft unverzichtbar für Erkenntnis. Aufschlussreich ist die Änderung, die Kant in der zweiten Auflage an dieser Stelle vornimmt. Anstatt von »einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele« spricht er dort nur von »einer Funktion des Verstandes«. Damit weist bereits diese erste wichtige Stelle, in der es um die Einbildungskraft geht, auf einen der Hauptunterschiede in beiden Auflagen hin. Stellt Kant die Einbildungskraft in der ersten Auflage ausdrücklich als ein eigenständiges Erkenntnisvermögen zwischen Verstand und Sinnlichkeit vor, so erscheint sie in der zweiten als eine bloße Funktion des Verstandes, womit sie effektiv dem oberen Erkenntnisvermögen zugeordnet wird. Um diesem Gedanken Rechnung zu tragen, ändert Kant besonders die beiden zentralen Abschnit249 250
Kritik d. r. V., A 78/B 103. Kritik d. r. V., A 77/B 103; vgl. A 68/B 93. A
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te, die in der ersten Auflage die Eigenständigkeit der Einbildungskraft als eines dritten Erkenntnisvermögens ausdrücklich herausstellen. Im ersten Fall 251 ersetzt er die entsprechenden Ausführungen durch einen Abschnitt, in dem er sich gegen die empiristische Assoziationstheorie 252 abgrenzt; im zweiten Fall entfällt der entsprechende Passus 253 ersatzlos durch die Umarbeitung des Deduktionskapitels. Wichtig sind die Folgen dieser Änderung. Die Einbildungskraft kann, wenn sie in der B-Auflage als bloße Funktion des Verstandes konzipiert wird, nicht länger als das verbindende Element zwischen oberem und unterem Erkenntnisvermögen in Anschlag gebracht werden. Und sie wird durch die Änderung allgemein zu einem Teil des oberen Erkenntnisvermögens. Dadurch ist in der Sache aber nichts gewonnen, eher ist das Gegenteil der Fall. Denn durch die Zuordnung der Einbildungskraft zum Verstand und der damit verbundenen Reduktion der Erkenntnisvermögen auf zwei gestaltet sich die Explikation des Zusammenhangs, beziehungsweise des von Kant postulierten notwendigen Zusammenwirkens von oberem und unterem Vermögen in jeder Erkenntnis, keineswegs durchsichtiger, als wenn dies unter einer eigenen Überschrift geschähe und mit dem ausdrücklichen Eingeständnis, dass hier ein zentrales Element der Theorie verhandelt wird. Insofern wäre der Erklärung der Verbindung von zwei disparaten Vermögen durch eine drittes, das Berührungspunkte mit beiden hat, schon der größeren Klarheit in der Darstellung wegen der Vorzug zu geben. 254 In systematischer Hinsicht jedenfalls macht Kant die Frage der Verbindung mit ihren verschiedenen Aspekten durch seine Änderungen unnötigerweise noch undurchsichtiger, als sie es ohnehin ist. Dies gilt besonders, wenn er im einleitenden Abschnitt der B-Deduktion zwar anerkennt, dass »die Ve r b i n d u n g (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt, … niemals durch die Sinne in uns kommen [kann]«, die Verbindung dann aber, noch ganz im Einklang mit seiner früheren Diskussion, einen »Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft« nennt und die Vorstellungskraft unmittelbar im Anschluss
Kritik d. r. V., A 94. Kritik d. r. V., B 127 ff. 253 Kritik d. r. V., A 115. 254 Schon Mainzer merkt in diesem Zusammenhang an, die B-Auflage sei an dieser Stelle »sehr zum Nachtheil auch für die Einsicht in die Functionen der Einbildungskraft verändert worden«, Mainzer, 1881, 26. 251 252
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»zum Unterschiede von der Sinnlichkeit« als ›Verstand‹ bezeichnet. 255 Denn eine Gleichsetzung der Einbildungskraft (die Kant hier ›Vorstellungskraft‹ nennt) mit dem oberen Erkenntnisvermögen ist weder beabsichtigt, noch wäre sie aus sachlichen Gründen angebracht: in diesem Fall verlöre die »Einführung der Einbildungskraft … überhaupt ihren Sinn« 256 und müsste als verzichtbarer terminologischer Restbestand seiner früheren Auseinandersetzung mit dem Assoziationsthema betrachtet werden. Mit dem Text ließe sich eine solche Interpretation jedenfalls nicht vereinbaren, und zwar schon deshalb nicht, weil auch die zweite Auflage sich hinreichend häufig und an herausragender Stelle, beispielsweise später im Schematismuskapitel, das Kant (seltsamerweise) ohne große Änderungen in der zweiten Auflage übernommen hat, auf die Einbildungskraft beruft. Problematischer noch als die genauere Bestimmung der Einbildungskraft an dieser Stelle ist das anschließende Fazit, in dem es heißt: »so ist alle Verbindung […] eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung S y n t h e s i s belegen würden, um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Ve r b i n d u n g die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist.« 257
Wollte Kant hier wirklich die Auffassung vertreten, alle Verbindungen seien durch eine spontane Leistung des Erkenntnissubjekts hergestellt, so würde dies jeden Versuch hinfällig machen, gegen Hume zu einer nicht-skeptischen Lösung in der Frage der Verbindungen zwischen den Gegebenheiten der Außenwelt zu kommen. ›Erkenntnis‹ wäre in diesem Fall in der Tat nicht mehr als eine von uns nach den Maßgaben unseres Erkenntnisapparates hergestellte Fiktion, die keinen systematischen Bezug auf die Verhältnisse einer Welt außerhalb unseres Geistes formuliert. Eine solche Position zu vertreten ist nicht Kants Absicht, denn das Ziel seiner Argumentation besteht in dem Nachweis, dass wenigstens eine geistige Verbindung, die Kausalität, mit Notwen255 Kritik d. r. V., B 129. Die Kursivsetzungen gehen darauf zurück, dass die synoptische Ausgabe der Philosophischen Bibliothek, nach der hier zitiert wird, die Unterschiede zwischen der A- und B-Auflage in dieser Weise markiert. 256 Mörchen, 1930, 50. 257 Kritik d. r. V., B 130.
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digkeit auch für die Welt außerhalb unseres Geistes gilt, dass wir dies erkennen und begründen können, und dass es sich hierbei eben nicht um ein ›bloßes Spiel der Einbildungskraft oder des Verstandes‹, um bloße Modifikationen unseres subjektiven Zustands handelt. Die Tatsache, dass Kant das Verbindungsthema fast ausschließlich unter dem Blickwinkel der von uns hergestellten Verbindungen diskutiert, darf nicht verdecken, dass er durchaus voraussetzt, es gebe sowohl ›gemachte‹ als auch ›gegebene‹ Verbindungen, Gedankenverbindungen und Verbindungen der Erfahrungswelt. 258 Die Tatsache, dass der Text im Hinblick auf die zweite Art von Verbindungen außerordentlich zurückhaltend ist, trägt dazu bei, dass die Ausführungen an diesem Punkt undurchsichtig erscheinen. Nur gelegentlich spricht Kant ausdrücklich von »Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen«, 259 oder unterscheidet »ein Verhältnis, das o b j e k t i v g ü l t i g ist […] von dem Verhältnisse eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Assoziation«, also Vorstellungen, die »im Objekt, d. i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts, verbunden« sind, von denen, die »bloß in der Wahrnehmung (so oft sie auch wiederholt sein mag) beisammen [sind]«. 260 An einer anderen Stelle weist er außerdem auf eine ›von der Erfahrung erborgte Synthesis‹ als eine der beiden Möglichkeiten hin, die einem »Begriff, der eine Synthesis in sich faßt«, 261 einen Inhalt zu geben vermag. Entgegen dem Wortlaut der oben zitierten Behauptung scheint Kant also nicht der Meinung zu sein, ausnahmslos alle Verbindungen würden von uns ›hergestellt‹. Doch wie ist die Äußerung dann zu verstehen? Das Zitat drückt einen Gedanken aus, der eigentlich nur eines kurzen Zusatzes bedurft hätte, um keinen Anlass für ein Missverständnis zu geben. Die Verbindungen, um die es hier geht, sind, wie aus dem Kontext deutlich wird, eben nicht unqualifiziert ›alle Verbindungen‹, sondern ›alle Verbindungen, die wir durch einen produktiven Akt der Einbildungskraft (als
258 Explizit formuliert er dies in der Anthropologievorlesung von 1798 (z. B. Anthr., AA 7.140; 177; 186) und auch in den frühen Vorlesungsmitschriften, die in die Zeit vor der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft fallen; ausführlich dazu Hepfer, 2006, 20–59. 259 Kritik d. r. V., A 537/B 565. 260 Kritik d. r. V., B 142. 261 Kritik d. r. V., A 220/B 267.
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Funktion des Verstandes) herstellen‹. In diesem Zusammenhang hilft ein kurzer Blick auf die Terminologie. Kant kennzeichnet die Elemente, Handlungen oder Vermögen, die notwendige Voraussetzungen unserer Erkenntnis sind, oft mit dem Zusatz ›transzendental‹. 262 Die fragliche Behauptung bezöge sich also in Kants Begriffen auf die Verbindungen der Einbildungskraft als eines transzendentalen Vermögens. Der Gedanke, der dann an dieser Stelle zum Ausdruck kommt, ist, dass unser Erkenntnisvermögen sich in aktiver und strukturgebender Weise auf die Daten der Sinne beziehen muss, damit etwas überhaupt »als im Objekt verbunden« vorgestellt werden kann. Dies macht nicht nur den zweiten Teil des Zitates verständlich, sondern deutet auch bereits die Richtung an, die die Auflösung des empiristischen Verbindungsproblems bei Kant nehmen wird. Die Erörterung der Rolle der Einbildungskraft für den empirischen Assoziationsvorgang tritt in der zweiten Auflage hinter die Untersuchung ihrer transzendentalen Aspekte zurück. Also ist es konsequent, dass Kant ein Verständnis dieses Vermögens als Voraussetzung jeder Erkenntnis stillschweigend unterstellt, wenn er davon spricht, dass »alle Verbindung […] nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann«. Dennoch: problematisch ist diese Äußerung nicht nur deshalb, weil sie Anlass zu interpretatorischen Missverständnissen gibt, sondern auch deshalb, weil die Beschränkung der Diskussion auf transzendentale Aspekte suggeriert, das Verbindungsproblem könne als ein ausschließlich transzendentalphilosophisches behandelt werden und habe keine ›empirische‹ Seite. Der Eindruck, dies sei der Fall, verstärkt sich noch, wenn Kant in der zweiten Version der transzendentalen Deduktion behauptet: »so ist die Einbildungskraft […] ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, d e n K a t e g o r i e n g e m ä ß , muß die transzendentale Synthesis der E i n b i l d u n g s k r a f t sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben … auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist.« 263
Diesen Ausdruck führt er in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft ein. Dort spezifiziert er, im Hinblick auf Erkenntnis: »Ich nenne alle Erkenntnis t r a n s z e n d e n t a l , die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart [A: unsern Begriffen a priori] von Gegenständen, [B: so fern diese a priori möglich sein soll,] überhaupt beschäftigt«, Kritik d. r. V., A 11 f./B 25. 263 Kritik d. r. V., B 152. 262
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Andererseits unterscheidet er aber unmittelbar im Anschluss an diese Stelle die transzendentale von der reproduktiven Einbildungskraft. Die transzendentale Einbildungskraft qualifiziert er umgehend als spontanes und produktives Vermögen, von der reproduktiven Einbildungskraft stellt er fest, ihre Synthesis sei »lediglich empirischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation, unterworfen« 264 – nicht ohne wiederum sofort darauf hinzuweisen, dass dieser Aspekt für sein Vorhaben irrelevant sei, weil er »zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt, und um deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie gehört«. 265 Nach dem bisher Gesagten ist offensichtlich, dass diese Behauptung in der Sache mehr als fragwürdig ist. Sie scheint von dem Bedürfnis getragen zu sein, vermeintlich ›psychologische‹ Momente in der zweiten Auflage zurückzunehmen. Doch wenn es darum geht, nachzuweisen, wie sich die ›gegebenen‹ Verbindungen, die wir zwischen den Gegenständen der Erfahrung annehmen, zu den ›gemachten‹ Verbindungen verhalten, die die transzendentale Einbildungskraft als Voraussetzung jeder Erfahrungserkenntnis notwendig herstellt, ist sie wenigstens kontraproduktiv. In der Terminologie der Vermögenstheorie: Wie lässt sich ermitteln, wie sich ›oberes‹ und ›unteres‹ Erkenntnisvermögen, oder deren jeweilige Vorstellungen, aufeinander beziehen, wenn die vermeintlich ›psychologische‹ Frage der empirischen Assoziation konsequent ausgeklammert wird, so wie Kant dies in der zweiten Auflage zu tun versucht? Im Gegensatz zu der bereits programmatisch (und auch in der Durchführung) eingeschränkten Perspektive der Version der zweiten Auflage ist die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft an dieser Stelle um einiges ausführlicher. Kant konzipiert die Einbildungskraft hier als ein eigenständiges Vermögen und verbindet dies mit der These, sie stelle die Verbindung zwischen Verstand und Sinnlichkeit her: »Wir haben also eine reine Einbildungskraft, als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnis a priori zum Grunde liegt. Vermittelst deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits, und mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption andererseits in Verbindung. Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbil264 265
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Loc. cit. Loc. cit.
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dungskraft notwendig zusammenhängen; weil jene sonst zwar Erscheinungen, aber keine Gegenstände eines empirischen Erkenntnisses, mithin keine Erfahrung geben würden.« 266
Dieser Ansatz scheint für eine Interpretation der Einbildungskraft prima facie fruchtbarer – um so mehr als Kant in der ersten Auflage auch ihre verschiedenen Verbindungsleistungen unter jeweils eigenen Überschriften diskutiert. 267 Dennoch hat auch die Version von 1781 ihre Tücken. Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass Kant, wie erwähnt, einerseits ausdrücklich behauptet, es gebe zwei ›Quellen‹ oder ›Stämme‹ unserer Vorstellungen (beziehungsweise unserer Erkenntnis), andererseits mit der Einbildungskraft ein eigenständiges drittes Erkenntnisvermögen einführt. Ein prominenter Versuch, diese Inkonsistenz aufzulösen, besteht darin, die Einbildungskraft unter Berufung auf Äußerungen der Einleitung und der Methodenlehre als die ›gemeinschaftliche‹ oder ›allgemeine Wurzel‹ der beiden Stämme Verstand und Sinnlichkeit zu interpretieren, 268 die sich »teilt und zwei Stämme auswirft, deren einer Ve r n u n f t ist« 269 . Dieser Vorschlag Martin Heideggers würde die Einbildungskraft allerdings zu einem eher undurchsichtigen Vermögen im Hintergrund machen – was durchaus Textevidenzen für sich in Anspruch nehmen kann; denn ausdrücklich charakterisiert Kant ihre ›schematisierende‹ Tätigkeit als eine »verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten … werden«. 270 Diese Interpretation hat jedenfalls den Vorteil, dass sich die Zweiteilung der Erkenntnisquellen durch den Hinweis aufrecht erhalten ließe, es handele sich bei der Einbildungskraft eben um ein Erkenntnisvermögen auf einer anderen Stufe als Verstand und Sinnlichkeit, sodass sie an den Stellen, an denen es um das Wissen erster Ordnung geht, nicht genannt werden muss, obwohl sie im Kontext unserer Erkenntnis einschlägig bleibt. Den Vorteilen stehen allerdings wenigstens zwei entscheidende Nachteile gegenüber. Erstens ist in den beiden Abschnitten, in denen 266 267 268 269 270
Kritik d. r. V., A 124. S. u. S. 139–143. Vgl. Kritik d. r. V., A 15/B 29; A 835/B 863; vgl. Heidegger, Kant, bes. 130 ff. Kritik d. r. V., A 835/B 863. Kritik d. r. V., A 141/B180 f. A
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es um die unbekannte ›gemeinsame Wurzel‹ von Sinnlichkeit und Verstand geht, keine Rede davon, dass diese gemeinsame Wurzel die Einbildungskraft sei, ja sie erscheint nicht einmal im weiteren Umfeld der jeweiligen Äußerungen. Zweitens stehen diesem Interpretationsvorschlag ausdrückliche Bemerkungen an anderen Stellen des kantischen Oeuvres entgegen. So heißt es bereits in der frühen Vorlesungsmitschrift L1: »Allein das ist eine ganz andere Frage: ob wir vermögend sind, alle Handlungen der Seele, und die verschiedenen Kräfte und Vermögen derselben, aus Einer Grundkraft herzuleiten? Dieses sind wir auf keine Weise im Stande; denn wir können ja nicht Wirkungen, die von einander wirklich verschieden sind, aus Einer Grundkraft herleiten; z. E. die bewegende Kraft und die Erkenntnißkraft können unmöglich aus Einer Kraft hergeleitet werden; denn die Ursache der einen Kraft ist anders, als die der andern.« 271
Wenn Kant also den Gedanken einer ›gemeinsamen Wurzel‹ von Sinnlichkeit und Verstand erwogen hat, so nur, um ihn dann doch zu verwerfen. Außerdem deutet nichts darauf hin, dass er in diesem Zusammenhang an die Einbildungskraft gedacht hätte. Kurz: die Diskrepanz der kantischen Äußerungen lässt sich nicht in der von Heidegger vorgeschlagenen Weise im Einklang mit dem Text auflösen. Man muss wohl feststellen, dass an dieser Stelle eine Inkonsistenz vorliegt, die eine Folge der Adaptation der traditionellen Vermögenstheorie mit ihrer Unterscheidung von ›unteren‹ und ›oberen‹ Erkenntnisvermögen ist. Dennoch ist Heideggers Ansatz aus einem anderen Grund einen zweiten Blick wert. Denn er macht auf einen Gedanken aufmerksam, der in antipsychologistischen Interpretationen der Kritik der reinen L1, AA 28.1.262. Und diese Ansicht ändert sich auch später nicht grundlegend. Denn noch in der Version von 1798 bemerkt Kant: »Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich bei ihrer Ungleichartigkeit doch so von selbst zu Bewirkung unserer Erkenntniß, als wenn eine von der anderen, oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten; welches doch nicht sein kann, wenigstens für uns unbegreiflich ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne«, Anthr. (1798) AA 7.177; vgl. auch Mörchen, 1930, 11. Heidegger versucht diesem Einwand dadurch zu entgehen, dass er die Einbildungskraft nicht als eine ›Grundkraft‹ fasst (Heidegger, Kant, 134), sondern als Bezeichnung für eine Menge verschiedener, nicht gänzlich aufzuklärender Funktionen. Er charakterisiert ihre Tätigkeit auch als eine »vielgestaltige Handlung, die in ihrem Handlungscharakter sowohl als auch in der Vielgliedrigkeit ihres Einigens dunkel bleibt«, Heidegger, Kant, 61. Inwiefern dies dem Verständnis hilft, sei dahingestellt.
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Vernunft und in solchen, die sie vorwiegend oder ausschließlich als ein Werk zur Erkenntnistheorie betrachten, kaum Berücksichtigung findet. Damit sein Vorschlag eine gewisse Plausibilität erlangen kann, ist Heidegger nämlich darauf angewiesen, das zentrale Beweisziel der ersten Kritik in einer Weise zu formulieren, die die verbindende Funktion der transzendentalen Einbildungskraft als die eine überragende Frage des Werkes erscheinen lässt, deren Beantwortung einem Vermögen angemessen ist, das als die ›gemeinschaftliche Wurzel‹ von Verstand und Sinnlichkeit ausgewiesen werden soll. Entsprechend interpretiert er Kants Frage nach der ›Möglichkeit der Erfahrung‹ als die Frage danach, wie wir uns überhaupt auf Gegenstände – und nicht nur auf unverbundene Daten – beziehen können. 272 Auch wenn die Gesamtinterpretation fragwürdig ist, hat Heidegger in diesem Punkt Recht: eine wichtige Frage Kants in der ersten Kritik ist in der Tat die Frage danach, wie wir uns auf Gegenstände beziehen können. Und diese Frage stellt sich im Zusammenhang der Synthesisfunktionen der Einbildungskraft. Kant ist – anders als viele seiner Vorgänger – spätestens in der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr der Meinung, der Bezug auf ›Gegenstände‹ sei eine voraussetzungslose, rezeptive oder gar unproblematische Angelegenheit: ›Gegenstände‹ werden nicht einfach in der Wahrnehmung ›gegeben‹, sondern Vorstellungen von Gegenständen werden ›gemacht‹. Um sich auf ›Gegenstände‹ beziehen zu können, bedarf es immer schon einer aktiven Leistung des erkennenden Subjekts, 273 oder, in Heideggers Worten, eines ›Horizonts‹. 274 Zentrale Voraussetzung dafür, dass Vorstellungen von Gegenständen überhaupt zu Stande kommen, ist, dass die in der Wahrnehmung ›gegebenen‹ disparaten Daten in systematischer Weise (und durch eine aktive Leistung des Erkenntnissubjekts) verbunden werden. Die Ausschließlichkeit, mit der Heidegger dieser Frage nachgeht, führt allerdings dazu, dass er apodiktisch bestreitet, es handele sich bei dem Vorhaben der Kritik der reinen Vernunft eben auch um ein im klassischen Sinn erkenntnistheoretisches. 275 In seiner Einseitigkeit ist dies ebenso verfehlt, wie es diejenigen Ansätze sind, die die vermeint-
Heidegger, Kant, 113, vgl. 114 ff. Vgl. Kritik d. r. V., A 120 Anm. 1. 274 Heidegger, Kant, 119. 275 »Die Kritik der reinen Vernunft hat mit ›Erkenntnistheorie‹ nichts zu schaffen«, Heidegger, Kant, 17. 272 273
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lich psychologische Seite ausblenden und damit auch die Rolle der Einbildungskraft und die entsprechenden Fragen übergehen oder marginalisieren. Verfehlt ist ebenso die Bilanz, die Heidegger hinsichtlich der Veränderung der Konzeption der Einbildungskraft in der zweiten Auflage zieht, wenn er feststellt, Kant sei »vor dieser unbekannten Wurzel zurückgewichen«, 276 oder ihm drastischer noch »metaphysische Angst« vor der transzendentalen Einbildungskraft unterstellt, die er folglich »aus seinem Werk auszumerzen versuchte«.277 Es war wohl weniger die »metaphysische Angst« vor dem »Radikalismus seines Fragens vor [dem] Abgrund«, 278 welche die Änderungen der zweiten Auflage veranlasste, sondern (unter anderem) das weit weniger spektakuläre Anliegen, seine Theorie nicht aufgrund (vermeintlicher) Psychologismen der Kritik auszusetzen, das Kant dazu brachte, sein Werk in dieser Weise umzuarbeiten. Betrachtet man die Unterschiede und die entsprechenden Schwierigkeiten der ersten und der zweiten Auflage, so scheint es insgesamt sinnvoll, das größere Gewicht auf die ausführlichere Darstellung der ersten Auflage zu legen. Hier konzipiert Kant die Einbildungskraft als ein wichtiges und eigenständiges Vermögen, mit dessen Hilfe verschiedene zentrale Fragen beantwortet werden sollen. In der zweiten Auflage dagegen schränkt er ihre Rolle und ihre Wichtigkeit ein, ohne dass sich die Fragen geändert hätten, auf die sie in der ersten Auflage die Antwort geben sollte, und ohne dass er in der späteren Version eine überzeugende Alternative für ihre Beantwortung anbieten würde. An dieser Stelle ist es nötig, eine Vereinfachung aufzugeben, die bisher für die übersichtlichere Darstellung vorgenommen wurde, und die verschiedenen Aufgaben der Einbildungskraft genauer zu unterscheiden, denn ›Verbindung‹ ist nur die Überschrift, unter der ihre wichtigsten Tätigkeiten zusammengefasst sind. Eigentlich geht es dabei um drei große Bereiche, die anhand der jeweiligen Fragen bestimmt werden können, auf die die Theorie der Einbildungskraft eine Antwort geben soll. Dies sind: (1) Wie verbindet die Einbildungskraft die disparaten Daten der Sinne zu Vorstellungen von Gegenständen?
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Heidegger, Kant, 154; vgl. 162. Heidegger, Weltanschauung, 269. Heidegger, Kant, 162.
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(2) Wie stellt die Einbildungskraft Verbindungen zwischen unterschiedlichen Vorstellungen her? Und: (3) Wie sind oberes und unteres Erkenntnisvermögen durch die Einbildungskraft miteinander verbunden? Die Antworten gibt Kant an den Stellen der Kritik der reinen Vernunft, die allgemein als die zentralen Abschnitte des gesamten Werkes gelten: im Deduktionskapitel, besonders der ersten Auflage (weniger pointiert und aus den genannten Gründen mit anderer Gewichtung auch in der zweiten), und im Schematismuskapitel. Einigkeit darüber, welches der beiden Kapitel das wichtigere sei, besteht in der Literatur nicht. 279 Ebenso wenig besteht Übereinstimmung darüber, worum es Kant hier eigentlich geht. 280 Vor einem solchen Hintergrund kann es offensichtlich nicht das Ziel sein, hier eine auch nur annähernd vollständige Interpretation der entsprechenden Textstellen zu unternehmen. Vielmehr soll versucht werden, die wichtigen Gedanken im Hinblick auf Die Haltung in diesem Punkt hängt davon ab, wie das Beweisziel der ersten Kritik und der jeweiligen Abschnitte bestimmt wird. So besteht für Heidegger aufgrund seiner Interpretationsabsicht kein Zweifel daran, dass das Schematismuskapitel für das Vorhaben Kants zentraler ist als die Deduktion, Heidegger, Kant, 68. Aus völlig anderen Gründen läuft ein neuerer Ansatz von Gerhard Seel auf eine ähnliche Bewertung hinaus. Denn wenn das Fazit seiner Überlegungen zutrifft, »daß eine überzeugende Lösung des Anwendungsproblems [im Schematismuskapitel] die transzendentale Deduktion überflüssig machen würde« (Seel, 1998, 245), so wäre das Schematismuskapitel tatsächlich wichtiger für den Beweisgang als die Deduktion. Kant selbst war der Meinung, dass dieser Abschnitt auf jeden Fall zu den zentralen seines Werkes gehört, wie er in einer in diesem Zusammenhang häufig zitierten Äußerung aus dem Handschriftlichen Nachlass feststellt. Dort heißt es: »Überhaupt ist der Schematismus einer der schwierigsten Punkte. – Selbst Hr. Beck kann sich nicht darein finden. Ich halte das Capitel für eines der wichtigsten«, R 6359, AA 18.686. Die verbreitetere Meinung scheint zur Zeit aber zu sein, dass das Deduktionskapitel wichtiger für den Argumentationsgang ist. 280 Patricia Kitcher fasst die weitverbreitete Haltung in der jüngeren Literatur folgendermaßen zusammen: »This chapter evokes the same incoherent mixture of reverence and disdain among Kant scholars that the Critical philosophy as a whole evokes among nonspecialists. It [the Deduction] is widely regarded as (1) the philosophical heart of the book; (2) difficult to the point of being unintelligible; and (3) utterly barren of plausible or interesting philosophical positions or arguments. Not surprisingly, commitments to (2) and (3) have led more tough-minded Kantians to doubt the viability of (1)«, Kitcher, 1990, 61. Diese Diagnose gilt sicher für weite Teile der analytisch geprägten Auseinandersetzung mit dem Deduktionskapitel besonders im angelsächsischen Raum (die kontinentaleuropäische Kant-Rezeption ist vor allem im Hinblick auf die dritte Behauptung deutlich zurückhaltender). Ähnlich lässt sich wohl auch die verbreitete Haltung gegenüber dem Schematismuskapitel charakterisieren. 279
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die Einbildungskraft anhand der oben gestellten Fragen wenigstens insoweit darzustellen, dass die argumentativen Lasten, die dieses Vermögen in Kants erkenntnistheoretischem Hauptwerk (besonders in der ersten Auflage) trägt, deutlich werden. Ebenso wird versucht nachzuvollziehen, in welcher Weise Kants Auseinandersetzung mit der empiristischen Assoziationspsychologie des britischen Empirismus die Ausführungen der Kritik der reinen Vernunft beeinflusst. Die Frage danach, wie aus unverbundenen Sinnesdaten Vorstellungen von Gegenständen werden können, stellt Kant im Übergang zur Transzendentalen Deduktion der Kategorien. In einem Passus, der beiden Auflagen noch gemeinsam ist, schreibt er: »Nun frägt es sich, ob nicht auch Begriffe apriori vorausgehen, als Bedingungen, unter denen allein etwas, wenngleich nicht angeschauet, dennoch als Gegenstand überhaupt gedacht wird, denn alsdenn ist alle empirische Erkenntnis der Gegenstände solchen Begriffen notwendiger Weise gemäß, weil ohne deren Voraussetzung, nichts als O b j e k t d e r E r f a h r u n g möglich ist.« 281
Auffällig an dieser Formulierung ist, dass Kant auch im zweiten Teil des Zitats von Gegenständen beziehungsweise von einem Objekt spricht. Auffällig ist dies deshalb, weil doch erst zu zeigen gilt, was hier vorausgesetzt wird. Sollte »empirische Erkenntnis« tatsächlich einen Gegenstandsbegriff als gegeben annehmen dürfen und nicht mit unverbundenen Sinnesdaten beginnen müssen, erübrigte sich schließlich der Nachweis, dass eine Interpretation empirischer Daten als Gegenstände Begriffe voraussetzt, die nicht im Rückgriff auf Erfahrung zu rechtfertigen sind. Die Schwierigkeit an dieser Stelle lässt sich entschärfen, wenn man sich das allgemeine Vorgehen Kants vergegenwärtigt; denn er »gehört nicht zu den Erkenntnistheoretikern, die unsere Gegenstandswelt aus atomistischen Empfindungen aufbauen wollen. Er versucht, von der voll entwickelten Erfahrungserkenntnis rückwärts die Faktoren zu erschließen, die an ihrem Zustandekommen beteiligt sein müssen.« 282 Der Gegenstandsbegriff wird in dieser Perspektive solange unter Vorbehalt verwendet, bis über die Frage entschieden ist, ob jedes Wissen von Gegenständen tatsächlich bereits unter bestimmten nichtempirischen Voraussetzungen steht. 281 282
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Kritik d. r. V., A 93/B 125 f. Patzig, 1988, 29.
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Sowohl in der ersten als auch in der zweiten Version des Deduktionskapitels macht Kant auf die Verbindung der oben gestellten Frage mit der Einbildungskraft aufmerksam. In dem ausführlicheren Text der ersten Auflage weist er nachdrücklich darauf hin, es sei Aufgabe »einer unmittelbar an der Wahrnehmung ausgeübte[n] Handlung« der Einbildungskraft, die Verbindung verschiedener Sinnesdaten, die »im Gemüte an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden«, herzustellen, und darauf, dass eine Verbindung nicht »in dem Sinne selbst« geschehen könne; 283 in B stellt er fest: »die Ve r b i n d u n g (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt, kann niemals durch die Sinne in uns kommen […] sie ist ein Actus der Vorstellungskraft […] eine Verstandeshandlung.« 284 Der Schluss, den er daraus zieht, nämlich, dass »die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung sei«, 285 kommt deshalb nicht sonderlich überraschend. Sie soll »das Mannigfaltige der Anschauung in ein B i l d bringen«. 286 Wie sich dies im Einzelnen abspielt, entwickelt Kant allerdings nicht an dieser Stelle, sondern später unter der Überschrift ›Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‹. Der zentrale Grund dafür, dass die Verbindung von Daten zu Vorstellungen von Gegenständen (genauso wie auch die Verbindung von Vorstellungen untereinander) auf nicht-empirischen Verbindungen beruhen muss, ergibt sich für Kant dabei aus der Auseinandersetzung mit der empiristischen Assoziationstheorie. Das Beweisziel, gegen Hume einen Begriff von empirischer Erkenntnis zu etablieren, der auf einer Grundlage ruht, die nicht nur induktiv ist – denn dazu führt die Behauptung, Assoziation entstünde durch die (kontingente) Wiederholung von (kontingenten) Wahrnehmungszusammenhängen –, lässt sich nur dann erreichen, wenn auch empirische Verbindungen ein Element der Notwendigkeit enthalten, das wir zudem nachweisen und erkennen können. Wie oben bereits erwähnt kommt Kant dem skeptischen Einwand entgegen. Mit der Unterscheidung von ›Erscheinung‹ und ›Ding an sich‹ gesteht er zu, dass die Frage nach unserer Erkenntnis als die Frage
Kritik d. r. V., A 120. Kritik d. r. V., B 129 f. 285 Kritik d. r. V., A 120 Anm. 1. ›Wahrnehmung‹ charakterisiert er an dieser Stelle als eine mit ›Bewusstsein‹ verbundene ›Erscheinung‹. 286 Kritik d. r. V., A 120. 283 284
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nach einer ›absoluten‹, unveränderlichen Wahrheit in der Tat nicht zu beantworten ist. Seine Strategie baut im Folgenden auf der Beschränkung des uns möglichen Wissens auf das auf, was wir unter den kognitiven und perzeptiven Voraussetzungen, unter denen wir de facto stehen, zu erkennen in der Lage sind. Doch wie lässt sich dann behaupten, dass es bestimmte Verbindungen der Erfahrungswelt gibt, die erstens mit Notwendigkeit gelten und von denen wir dies zweitens nachweisen können? Kants Antwort ist ebenso ingeniös, wie sie in ihren Details verwickelt ist: eben weil diese Notwendigkeit ihren Grund in der Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens hat. Wissen ist nur dann möglich, wenn bestimmte formale Voraussetzungen erfüllt sind. Und diese liegen »insgesamt im Gemüte a priori bereit«, 287 wie er bereits am Beginn seiner Untersuchung feststellt. Dieser Gedanke ist zentral für den gesamten Gedankengang der Kritik der reinen Vernunft. 288 Anders als David Hume, dessen Explikation menschlicher Erkenntnis sich in diesem entscheidenden Punkt auf natürliche, nicht näher zu ergründende ›principles of association‹ beruft, welche die Ausbildung von Assoziationsgewohnheiten regulieren sollen, unternimmt Kant den Versuch, die Voraussetzungen unseres Wissens im Einzelnen darzulegen. Er versucht nachzuweisen, dass es sich bei den grundlegenden Annahmen eben nicht um unergründliche Prinzipien handelt, die einen psychologischen Zwang ausüben, sondern um logische oder ›formale‹ Voraussetzungen jeder Konzeption von Wissen, die genauer untersucht werden können. Auch wenn das Argument hier nicht im Detail dargestellt werden kann, so lassen sich doch die Konsequenzen feststellen, die Kants Ansatz für die Leistungen der transzendentalen Einbildungskraft hat – sie muss die disparaten Daten der Sinne nach bestimmten Regeln, die aller Erfahrung vorhergehen (eben weil sie diese erst ermöglichen), zu Vorstellungen von Gegenständen verbinden. 289 In diesem Sinn bringt die produktive Tätigkeit der transzendentalen Einbildungskraft die Vor-
Kritik d. r. V., A 20/B 34. Vgl. Kritik d. r. V., A 113 f.; 125 f.; und Strawsons polemische, aber durchaus zutreffende Formulierung: »if the Critique as a whole has a single governing idea, it is that the existence of a priori necessities in the austere sense is explicable only by the thesis, that such necessities reflect nothing but features of our cognitive constitution«, Strawson, 1966, 65. 289 S. Kritik d. r. V., A 111. 287 288
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stellungen empirischer Gegenstände also tatsächlich hervor. Gegenstände kann es für Kant »ohne Einwirkung der Formen und Funktionen der reinen Anschauung und des reinen Denkens nicht geben […] Dieses ›als Gegenstand erkennen‹ ist also ein sehr besonderes Erkennen. Es ist ein gleichsam zeugendes Erkennen, weil das Erkannte durch das Erkennen überhaupt erst hervorgebracht wird. So wie ein Schmerz erst dadurch Schmerz wird, daß er gefühlt wird, so wird ein Gegenstand nach Kant erst dadurch Gegenstand, daß er als solcher ›erkannt‹ wird«. 290
Bei einer solchen Konzeption der Verbindung von Daten zu Vorstellungen von Gegenständen als produktive Leistung des erkennenden Subjekts drängt sich die Frage auf, ob der Nachweis des Notwendigkeitscharakters der Verbindung nicht um den Preis der Suspendierung des Bezugs auf empirische Gegebenheiten geschieht. Die Verbindungen, die wir herstellen, mögen notwendige Voraussetzungen jeden Bezugs auf eine Außenwelt sein, notwendige Bedingungen unserer Erkenntnis sind sie erst dann, wenn sichergestellt ist, dass sie den Gegebenheiten und Verhältnissen der extramentalen Welt angemessen sind, sodass die Funktion extramentaler Gegebenheiten nicht darauf beschränkt bleibt, unser Erkenntnisvermögen überhaupt zu seiner Tätigkeit zu veranlassen. Eine Antwort im Sinne Kants hat mehrere Aspekte, die die unterschiedlichen Verbindungsleistungen der Einbildungskraft betreffen. So argumentiert er im Fall der Verbindung von Vorstellungen dafür, dass das Kausalitätsprinzip eine solche Verbindung ist, die mit Notwendigkeit allgemein für alle Verbindungen der empirischen Welt gilt. Selbst wenn einzelne Verbindungen zwischen empirischen Gegenständen kontingent sind, so können sie nicht anders als unter dem Gesetz von Ursache und Wirkung stattfinden. Am deutlichsten formuliert diese Differenz eine Stelle der transzendentalen Methodenlehre, an der Kant sich ausdrücklich mit David Hume und dessen »skeptischen Verirrungen« auseinandersetzt. Mit einem Beispiel illustriert er dort, wie die von der transzendentalen Einbildungskraft hergestellte notwendige 290 Patzig, 1988, 58. Diese These plausibel zu machen, ist ein Ziel der transzendentalen Deduktion der Kategorien. Vgl. auch Kants bekanntes Diktum, »die Bedingungen der M ö g l i c h k e i t d e r E r f a h r u n g überhaupt [seien] zugleich Bedingungen der M ö g l i c h k e i t d e r G e g e n s t ä n d e d e r E r f a h r u n g «, Kritik d. r. V., A 158/B 197; s. dazu auch Carl, 1992, 58.
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Verbindung der Kausalität den Rahmen abgibt, innerhalb dessen sich die kontingenten Verbindungen der Welt der Erscheinungen im Einzelfall artikulieren. 291 Doch nicht nur im Fall der Verbindung von Vorstellungen untereinander, sondern auch im Hinblick auf die Verbindungen von Daten zu Vorstellungen von Gegenständen gibt Kant zumindest einen Hinweis, wenn er von einer empirischen »A f f i n i t ä t des Mannigfaltigen« spricht. Er stellt fest: »Der Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, so fern er im Objekte liegt, heißt die A f f i n i t ä t des Mannigfaltigen.« 292 Diese Äußerung steht zwar ebenfalls im Zusammenhang einer Diskussion der ›empirischen Regeln der Assoziation‹, und es geht damit auch an dieser Stelle in erster Linie um die Verbindung von Vorstellungen untereinander, dennoch gibt es keinen Grund, warum sie sich nicht auch auf die Verbindung von Daten zu Vorstellungen von Gegenständen beziehen soll. Ein Problem ist allerdings, dass Kant nicht näher ausführt, was er mit ›Affinität‹ meint. Nimmt man an, dass er mit diesem Ausdruck etwas Ähnliches im Sinn hat wie David Hume, wenn dieser von räumlicher und zeitlicher Nachbarschaft (contiguity) spricht, lautete die Behauptung: auch die Verbindung von Daten zu Vorstellungen von Gegenständen ist nicht beliebig und geschieht nicht ohne Rücksicht auf die Verhältnisse der Welt. Im Gegenteil, sie orientiert sich an denjenigen Verhältnissen, von denen Kant in der transzendentalen Ästhetik nachzuweisen versucht, dass sie (als ›apriorische Formen der Anschauung‹) notwendige Voraussetzung eines jeden Bezugs unseres Erkenntnisvermögens auf extramentale Inhalte sind. Eine Verbindung von Daten zu Vorstellungen von Gegenständen unter diesen Gesichtspunkten würde berücksichtigen, dass jene auch außerhalb unseres Erkenntnisvermögens zueinander in Beziehung stehen, dass sie »assoziabel« sind. 293 Es überrascht nicht, dass Kant auch an dieser Stelle umgehend darauf aufmerksam macht, dass die ›empirische Affinität‹, so wie jeder Bezug auf Erfahrung in epistemischer Absicht, unter nicht-empirischen Voraussetzungen steht und wiederum die »bloße Folge« einer »t r a n s z e n d e n t a l e n A f f i n i t ä t « ist. 294 Unterstellt man, dass mit ›Affinität‹ tatsächlich eine räumliche und zeitliche Nähe im Wahr291 292 293 294
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Kritik d. r. V., A 766 f./B 794 f. Kritik d. r. V., A 113. Kritik d. r. V., A 122; vgl. Hoppe, 1983, 102. Kritik d. r. V., A 114.
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nehmungsprozess gemeint ist, dann ist diese Behauptung im Rahmen seiner Theorie unproblematisch, da Raum und Zeit für ihn zu den notwendigen Voraussetzungen gehören, unter denen der Bezug auf eine extramentale Welt überhaupt erst stattfinden kann. Wäre die ›empirische Affinität‹ andererseits keine bloße Folge einer ›transzendentalen Affinität‹, dann müsste eine Verbindung von Daten auf ihrer Grundlage nur ›subjektiv‹ sein, es würde, wie bei der empirischen Verbindung von Vorstellungen, »daraus keine andere, als bloß zufällige Einheit gezogen werden können, die aber bei weitem an den notwendigen Zusammenhang nicht reicht, den man meint, wenn man Natur nennt« 295 . In welcher Weise die transzendentale Einbildungskraft »die Affinität der Erscheinungen« möglich macht, »weil ohne sie gar keine Begriffe von Gegenständen in eine Erfahrung zusammenfließen würden«, 296 entwickelt Kant ausführlicher im Schematismuskapitel. Dort versucht er nachzuweisen, wie die nicht-empirischen Voraussetzungen, unter denen wir Daten erst als Gegenstände interpretieren können, sich im Einzelnen auf Sinnesdaten beziehen, und unternimmt es darzulegen, in welcher Weise »die Synthesis der Einbildungskraft, obgleich a priori ausgeübt, dennoch jederzeit sinnlich« wird. 297 Bedauerlicherweise ist dieses wichtige Kapitel der ersten Kritik nicht so »unvergleichlich durchsichtig gebaut«, wie Martin Heidegger behauptet. 298 Vielleicht ist es aber auch nicht ganz so undurchsichtig und widersprüchlich, wie Gerhard Seel vor nicht allzu langer Zeit erst wieder betont hat. 299 Zwar gesteht Kant selbst ein, dass dieser »Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, […] eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele [ist], deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden«; 300 zwar hat er mit der Behauptung, hier »ein Verfahren« 301 an die Hand zu geben, das es ermöglicht, die Verbindung zwischen den erfahrungsfreien Bedingungen unseres Wissens und den zunächst unverbundenen Daten der Sinne herzustellen, der Interpretation in der 295 296 297 298 299 300 301
Loc. cit. Kritik d. r. V., A 123. Kritik d. r. V., A 124. Heidegger, Kant, 109. Seel, 1998, 221. Kritik d. r. V., A 141/B180 f. Kritik d. r. V., A 140/B 179. A
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Tat Rätsel aufgegeben. Dennoch lassen sich sein Vorhaben und die Intention, die er mit diesem Abschnitt verfolgt, wenigstens insoweit bestimmen, dass die in unserem Kontext wichtigen Gedanken deutlich werden. Das zentrale Hindernis für ein Verständnis des Abschnitts besteht darin, dass Kant die Frage der Verbindung von zwei im Kern disparaten Elementen über ein Drittes so formuliert, als ob hier eine gewisse Homogenität des zu Verbindenden bereits deshalb vorausgesetzt werden kann, weil sowohl der verbindende Faktor als auch die zu verbindenden Elemente ›Vorstellungen‹ sind. Denn dies verstellt den Blick darauf, dass es sich um sehr verschiedenartige Momente handelt, die miteinander in Beziehung treten sollen, nämlich (a) formale Voraussetzungen, die jedem Wissen zugrunde liegen, (b) unverbundene Daten, die durch die Sinne ›gegeben‹ sind 302 , und (c) ein Verfahren, das es erlaubt (a) auf (b) zu beziehen. Darüber hinaus kann diese Formulierung auch deshalb leicht in die Irre führen, weil weder (a) noch (c), auch wenn sie terminologisch als ›Vorstellungen‹ auftreten, diese Bezeichnung wirklich verdienen. Kant selbst macht wiederholt deutlich, dass es sich bei diesen Vorstellungen weniger um Vorstellungen mit (konkreten) Inhalten handelt als um ›Regeln‹, ›Funktionen‹ oder (im Fall des Schematismus) eben um ein ›Verfahren‹, die es erlauben, Vorstellungsinhalte erst herzustellen. Damit würde eine Formulierung, die das Beweisziel des Schematismuskapitels als die Frage nach der Verbindung von drei verschiedenen Vorstellungen auffasst, schon deshalb wenig hilfreich sein, weil es hier eigentlich darum geht zu zeigen, wie formale Voraussetzungen und gegebene Inhalte durch ein Verfahren systematisch aufeinander bezogen werden können, so dass sie in einer Vorstellung zusammenhängen. Kants Intention ist es, mit den Schemata die »einzigen Bedingungen« darzulegen, die den nicht-empirischen Voraussetzungen unserer Erkenntnis »Beziehung auf Objekte, mithin B e d e u t u n g […] verschaffen«, 303 indem sie »Erscheinungen allgemeinen Regeln der Synthesis […] unterwerfen, und sie dadurch zur durchgängigen Verknüp-
302 Es ist kein Zufall, dass Kant im Schematismuskapitel von ›Erscheinung‹ (z. B. Kritik d. r. V., A 138/B 177), also dem »unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung« (Kritik d. r. V., A 20/B 34), und eben nicht von ›Anschauung‹ spricht. 303 Kritik d. r. V., A146/B 185.
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fung in einer Erfahrung schicklich […] machen«. 304 Der Sache nach kann die Behauptung, »Ve r s t a n d und S i n n l i c h k e i t können bei uns n u r i n Ve r b i n d u n g Gegenstände bestimmen«, 305 nur dann plausibel werden, wenn im Einzelnen dargelegt wird, wie sich diese beiden Vermögen beziehungsweise ihre ›Vorstellungen‹ aufeinander beziehen, wie die nichtempirischen Erkenntnisbedingungen des Verstandes auf die Daten der Sinne ›angewendet‹ werden können. 306 Das Beweisziel des Schematismuskapitels, darzulegen, auf welche Weise sich nicht-empirische Funktionen systematisch auf unverbundene empirische Daten beziehen und dadurch unter anderem Vorstellungen von Gegenständen hergestellt werden, soll mittels eines Verfahrens erreicht werden, das »an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft« ist: 307 dem (transzendentalen) ›Schematismus‹. Das ›Schema‹, nach dem dieser operiert, soll ein »Drittes« sein, »was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht.« 308 Es ist zwar leicht nachzuvollziehen, warum Kant von dem verbindenden Element fordert, dass es mit dem, was es verbinden soll, jeweils in ›Gleichartigkeit‹ stehen muss; dennoch bereitet seine Behauptung erhebliche Schwierigkeiten. Indem er die Verbindungsfrage vor dem Hintergrund seiner terminologischen Festlegungen als eine Frage der Verbindung von Vorstellungen stellt, 309 bieten sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens zwei Möglichkeiten, die Forderung zu verstehen. Die erste besteht darin, Gleichartigkeit jeweils als Gleichheit des Ursprungs der Vorstellungen zu interpretieren. Dafür spräche Kants Bemerkung im dritten Absatz des Schematismuskapitels, wo er darauf hinweist, dass die entsprechende Vorstellung ›rein‹, d. h. nichtempirisch und zugleich ›sinnlich‹, d. h. empirisch, sein muss. 310 Diese Interpretation ist aber unbefriedigend, weil ein solcher »Vorstellungstypus der strengen Dichotomie der Vorstellungen in sinnliche und intellek-
304 305 306 307 308 309 310
Loc. cit. Kritik d. r. V., A 258/B 314. S. Kritik d. r. V., A 138/B 177. Kritik d. r. V., A 140/B 179. Kritik d. r. V., A 138/B 177. S. Kritik d. r. V., A 137/B 176. Kritik d. r. V., A 138/B 177; vgl. auch Körner, 1955, 56; und Seel, 1998, 228. A
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tuelle widerspricht, die Kant sonst beachtet«. 311 Die zweite Möglichkeit ist, die geforderte Gleichartigkeit als das Ergebnis einer inhaltlichen Gleichheit zu verstehen. Dafür spricht das Beispiel, mit dem Kant seine Forderung illustriert. Dort heißt es: »So hat der empirische Begriff eines Te l l e r s mit dem reinen geometrischen eines Z i r k e l s Gleichartigkeit, indem die Rundung, die in dem ersteren gedacht wird, sich im letzteren anschauen lässt.« 312
Hier wird also durch ein inhaltliches Moment, die einerseits ›gedachte‹, andererseits ›angeschaute‹ Rundung, illustriert, was unter Gleichartigkeit zu verstehen sein soll. Für welche der beiden Möglichkeiten entscheidet sich Kant? Nimmt er beide in Anspruch oder am Ende sogar keine von beiden? Betrachten wir noch einmal die Stelle, in der er eindeutig zu behaupten scheint, dass das Schema seinen ›Ursprung‹ einerseits im unteren, andererseits im oberen Erkenntnisvermögen hat. Dort heißt es: »Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits i n t e l l e k t u e l l , andererseits s i n n l i c h sein. Eine solche ist das t r a n s z e n d e n t a l e S c h e m a .« 313
Besonders der Nachsatz weckt Zweifel daran, ob es Kant hier wirklich um eine Gleichheit des Ursprungs geht, denn die Auszeichnung des verbindenden Elements als ›transzendental‹ schließt nach der oben angeführten Bestimmung dieses Ausdrucks aus, dass die gesuchte ›Vorstellung‹ wirklich ›sinnlich‹ sein, d. h. ihren Ursprung in den Sinnen haben kann. Wenn man zugrundelegt, dass es an dieser Stelle, wie Kant ja selbst betont, mehr um ein Verfahren als um eine Vorstellung im engeren Sinn geht, rückt andererseits eine Möglichkeit in den Blick, diese offensichtlich widersprüchliche Äußerung im Einklang mit der Intention des Kapitels zu interpretieren: die Forderung, dass ein solches Verfahren ›sinnlich‹ sein müsse, ließe sich als die Forderung danach verstehen, dass das Verfahren sich auf die Vorstellungen der Sinne beziehen können muss. Es wäre in diesem Fall nicht nötig, die eben zitierte Stelle so zu lesen, als ob, anhand des genetischen Kriteriums, hier der teilweise Ursprung des Schematismus in den Sinnen behauptet wird. Und der Text steht dieser Interpretation nicht im Weg: der Schema311 312 313
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Seel, 1998, 230. Kritik d. r. V., A 137/ B 176. Kritik d. r. V., A 138/B 177.
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tismus wird als ein Verfahren vorgestellt, das die durch die Sinne gegebenen Daten anhand eines bestimmten Merkmals ordnet und strukturiert, und Kant behauptet tatsächlich an keiner Stelle, dass dieses Verfahren seinen Ursprung in den Sinnen habe. Im Gegenteil: er weist wiederholt darauf hin, dass es zu den apriorischen Voraussetzungen unserer Erkenntnis zu zählen ist. Auch wenn die zweite Möglichkeit prima facie attraktiver erscheint, trifft auch sie, wie das Beispiel nahelegt, den Punkt nur bedingt. Denn, wie im Weiteren deutlich wird, kommt es Kant in der Sache nicht so sehr auf die inhaltliche Gleichheit von Vorstellungen an als vielmehr auf die weiter gefasste Verbindung über ein thematisches Kriterium, das beiden Seiten gemeinsam ist: die Zeit. Die Voraussetzungen unserer Erkenntnis sind ohne den Bezug auf die Zeit nicht anzuwenden, und alle empirischen Vorstellungen weisen in ihrer Eigenschaft als Vorstellungen einen temporalen Aspekt auf. Dies hatte Kant bereits in der ersten Auflage des Deduktionskapitels behauptet. Dort hatte er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass alle Vorstellungen unter den Bedingungen der Zeit stünden, »als in welcher sie insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden müssen«. 314 Im Schematismuskapitel nimmt er nun auf diese Behauptung Bezug, wenn er das ›Schema‹ als genau jene Ordnungsfunktion charakterisiert, die das leisten soll, was an jener Stelle nur programmatisch formuliert ist: es soll Vorstellungen nach temporalen Gesichtspunkten ordnen. Im zweiten Abschnitt der transzendentalen Ästhetik hatte Kant andererseits nachgewiesen, dass die Zeit eine der formalen, nichtempirischen Voraussetzungen jeder epistemischen Bezugnahme auf die Erfahrungswelt ist. Jetzt führt er diese beiden Gedanken in der Behauptung zusammen: »Nun ist eine transzendentale Zeitbestimmung mit der K a t e g o r i e (die die Einheit derselben ausmacht) so fern gleichartig, als sie a l l g e m e i n ist und auf einer Regel a priori beruht. Sie ist aber andererseits mit der E r s c h e i n u n g so fern gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist«, 315
und gelangt zu dem Schluss:
314 315
Kritik d. r. V., A 98 f. Kritik d. r. V., A 138 f./B 177 f. A
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»Daher wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich sein, vermittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema der Verstandesbegriffe, die S u b s u m t i o n der letzteren unter die erste vermittelt.« 316
Die geforderte Gleichartigkeit scheint also dadurch gegeben zu sein, dass das Schema, als nähere Bestimmung unter temporalen Gesichtspunkten, auf der einen Seite einen Berührungspunkt mit der Zeit als allgemeiner Voraussetzung unserer Erkenntnis hat und auf der anderen einen Berührungspunkt mit der speziellen Gegebenheit einzelner Erscheinungen in der Zeit. Die Verbindungsleistung des Schemas besteht nun darin, das Allgemeine mit dem Besonderen zu verknüpfen, indem sie eine »Zeitbestimmung a priori nach Regeln« 317 vornimmt und zwar, wie Kant feststellt, im Hinblick auf die »Z e i t r e i h e , den Z e i t i n h a l t , die Z e i t o r d n u n g , endlich den Z e i t i n b e g r i f f in Ansehung aller möglichen Gegenstände«, 318 sodass die Zeit als formale Bedingung des inneren Sinns auf diese angewendet werden kann. 319 Der Einbildungskraft als dem Vermögen, das dieses Schema hervorbringt, kommt damit die Aufgabe zu, die entsprechenden Regeln zu entwerfen, die es erlauben, die gegebenen Daten nach temporalen Gesichtspunkten so zu ordnen, dass die formalen Funktionen auf sie angewendet werden können. Im Verlauf dieses Verfahrens stellt sie so durch einen produktiven Akt, der die »Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat« 320 sicher, dass sich die unverbundenen Daten zu Vorstellungen von Gegenständen zusammenfügen lassen. Kritik d. r. V., A 139/B 178. Wäre der Bezug ein unregelmäßiger, würde das Ergebnis trivialerweise die Kriterien nicht erfüllen, die wir an Wissen anlegen, sondern eben ›bloß zufällig‹ sein, s. Kritik d. r. V., A 121. 318 Kritik d. r. V., A 145/B 184 f. 319 Mit dieser Interpretation ließe sich auch die Schlussfolgerung Seels vermeiden, der im Hinblick auf das ›Schema‹ feststellt: »Es kann gar keine Vorstellung geben, die zugleich intellektuell und sinnlich ist und vor allem kann das so konzipierte Schema die Vermittlung, die Kant ihm zumutet, gar nicht leisten. […] So ist eine Mischkonzeption entstanden, die unbefriedigend ist«, Seel, 1998, 235. Denn es ginge Kant trotz einiger unglücklicher Formulierungen, die in diese Richtung deuten, nicht wirklich um eine Vorstellung, die zugleich intellektuell und sinnlich im Sinn seines genetischen Kriteriums ist, sondern um ein vermittelndes Verfahren, das die Zeit als formale Voraussetzung unserer Erkenntnis in regelmäßiger Weise auf die Tatsache bezieht, dass alle (empirischen) Vorstellungen in einer zeitlichen Sukzession gegeben sind. 320 Kritik d. r. V., A 140/B 179. 316 317
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Das Verfahren der Gegenstandskonstitution selbst scheint daher aus zwei Schritten zu bestehen: in einem ersten sorgt die Einbildungskraft dafür, dass den Sinnen gegebene Daten überhaupt temporal ›bestimmt‹ werden, und versieht sie dafür mit einem Zeitindex, der ihre spätere temporale Ordnung ermöglicht. 321 In einem zweiten Schritt unternimmt sie es, von der Reihenfolge, in der die Daten ursprünglich gegeben wurden, zunächst zu abstrahieren, um sie anschließend in eine standardisierte Form zu bringen, sodass sie zur Grundlage der Vorstellungen von Gegenständen werden können. Der zweite Schritt ist deshalb nötig, weil die zeitliche Reihenfolge, in der Daten sich den Sinnen präsentieren, kontingent und – je nach den einzelnen Sinnen, denen sie ›gegeben‹ werden – mehr oder weniger ungeordnet ist, selbst dann, wenn es sich um eine nur zeitlich verschiedene Wahrnehmung derselben Daten handelt. 322 In diesem Sinn sind »die Schemate« daher also in der Tat »nichts als Z e i t b e s t i m m u n g e n a priori nach Regeln«. Die Einbildungskraft stellt hier, in einem produktiven Akt der temporalen Indizierung und durch eine spontane Abstraktionsleistung von der empirisch kontingenten Reihenfolge ihres Auftretens, eine Verbindung der gegebenen Daten der Sinne her und schafft so die Voraussetzung dafür, dass diese, gemäß den Erkenntnisbedingungen des Subjekts, in eine Form gebracht werden, in der sie sich als Grundlage für Erkenntnisse eignen. 323 Kant bezeichnet das Produkt des Verfahrens – aufgrund der Begriffsgeschichte der Einbildungskraft durchaus naheliegend – als »Bild«. 324 Dieser Ausdruck ist dennoch unglücklich, weil es hier nicht um die bildliche Darstellung einzelner Dinge geht, sondern um eine terminologische Festlegung, für die sich der Ausdruck gerade wegen dieser Assoziation schlecht eignet. Der terminologische Charakter des Bildbegriffs wird nicht nur deutlich an verschiedenen Behauptungen, wie der, das »reine Bild […] aller Gegenstände der Sinne aber überhaupt, [sei] die Zeit«, 325 sondern auch an den Beispielen, die Kant zur Illustration anführt. Ebenso wie die gerade zitierte Äußerung weisen
Kritik d. r. V., A 181/B 142; vgl. A 201/B 246. Dies ist ein Problem, das später, in der zweiten Analogie der Erfahrung, bei der Diskussion des Kausalzusammenhangs zum Thema wird, s. Kritik d. r. V., A 201/B 246. 323 Vgl. Kritik d. r. V., A 118; 120; 124 und B 233. 324 Kritik d. r. V., A 140/B 180. 325 Kritik d. r. V., A 142/B 182. 321 322
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auch diese Beispiele alle darauf hin, dass es sich bei einem ›Bild‹ in diesem Zusammenhang um eine von der Einbildungskraft hergestellte, nach zeitlichen Gesichtspunkten strukturierte Bezeichnung für eine Klasse von Gegenständen handeln muss, 326 die es nicht nur erlaubt, die entsprechenden Gegenstände nach Regeln hervorzubringen, 327 sondern auch Regeln bereitstellt, die es ermöglichen festzustellen, ob bestimmte Konstellationen von Daten diesem ›Bild‹ entsprechen. 328 Das von der Einbildungskraft hergestellte Schema soll also dem oberen Erkenntnisvermögen ein Bezugsmoment geben, das (nach temporalen Gesichtspunkten) hinreichend strukturiert und so weit entfernt von den bloßen Gegebenheiten des unteren Erkenntnisvermögens ist, dass die empiriefreien (formalen) Funktionen jenes Vermögens auf diese Gegebenheiten anzuwenden sind. Schon in diesem sehr frühen Stadium der Genese unseres Wissens, noch bevor es überhaupt um die Verbindung von Vorstellungen geht, weist Kant damit der Einbildungskraft eine tragende Funktion zu und definiert ihre Aufgaben entsprechend. 329 Die Explikation der Verbindung zwischen den gegebenen Inhalten der Sinne und den formalen Bedingungen, die ihren Ursprung im Verstand haben anhand von der Einbildungskraft, soll die These plausibel machen, dass Erkenntnis nur im Zusammenwirken von oberem und unterem Erkenntnisvermögen zu Stande kommen kann. Kant setzt auch hier voraus, dass die Daten, die den Sinnen gegeben werden, bereits eine ›Affinität‹ besitzen, und zwar noch bevor sie von der Einbildungskraft in eine Ordnung gebracht werden, die eine Anwendung der formalen Voraussetzungen auf diese Daten erlaubt. Wenigstens sind sie nicht als ein gänzlich unstrukturiertes »Gewühle von Erscheinungen« zu betrachten. Und auch wenn die unterstellte ›Affinität‹ der Daten die Verbindungen, die die Einbildungskraft als Bezugspunkt unserer Erkenntnisvoraussetzungen herstellt, nicht positiv zu bestimmen ist, so ist Kant der Meinung, dass die ›Affinität‹ eine begrenzende Funktion für die Verbindungen hat. Er stellt (mehrfach) fest: »daß, obgleich die Schemate der Sinnlichkeit die Kategorien allererst realisieren, sie doch selbige gleichwohl auch restringieren, d. i. auf Bedin-
326 327 328 329
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S. auch Mörchen, 1930, 118 f. Vgl. Körner, 1955, 56; Bennett, 1966, 142; Seel, 1998, 234. S. Kritik d. r. V., A 140 f./B 179 f. S. auch Kritik d. r. V., A 93/B 125 f.
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gungen einschränken, die außer dem Verstande liegen (nämlich in der Sinnlichkeit)«. 330 Die zweite Verbindungsleistung der Einbildungskraft besteht in der Verbindung von Vorstellungen untereinander. Diese tritt bereits zu Beginn der Einleitung sowohl in der ersten als auch in der zweiten Auflage in Erscheinung. In der Fassung von 1781 heißt es programmatisch: »Nun zeigt es sich, welches überaus merkwürdig ist, daß selbst unter unsere Erfahrungen sich Erkenntnisse mengen, die ihren Ursprung a priori haben müssen, und die vielleicht nur dazu dienen, um unsern Vorstellungen der Sinne Zusammenhang zu verschaffen.« 331
In der zweiten Auflage stellt Kant in diesem Zusammenhang ausdrücklich eine Verbindung zu Hume und dessen Problem der bloß induktiven Rechtfertigung von empirischen Vorstellungsverbindungen her; die Regeln, nach denen Vorstellungen verbunden werden, dürfen für Kant 1787 eben nicht allein aus der Erfahrung ›abgeleitet‹ sein. Denn als bloße Assoziationsgewohnheiten, die durch die Wiederholung ähnlicher empirischer Daten entstanden sind, können sie bestenfalls eine »bloß subjektive Notwendigkeit« begründen, nicht aber die »Gewißheit« erreichen, die für Erkenntnis erforderlich ist. 332 Diese frühe Ankündigung beziehungsweise der explizite Hinweis auf die Unzulänglichkeit des humeschen Modells werden ausführlich erst wieder im Deduktionskapitel aufgenommen. In der Version von 1781 teilt Kant die Verbindung von Vorstellungen zu Beginn dieses Kapitels nach drei Gesichtspunkten ein: einer Verbindung der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition. Die einzelnen Abschnitte, in denen die entsprechenden Synthesisleistungen untersucht werden, spezifizieren jeweils eine Verbindungsfunktion und erläutern ihre transzendentalen Voraussetzungen. Die ›Synthesis der Apprehension‹ steht dabei noch in einem engen Zusammenhang mit dem gerade behandelten Thema, aber auch mit einem Aspekt, der Kant schon lange vor der Veröffentlichung der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft beschäftigte; sie ist eine Verbindung von Sinnesdaten über eine Zeitspanne: »ein Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und denn die Zusammennehmung
330 331 332
Kritik d. r. V., A 146/B185 f.; vgl. A 147/B 187. Kritik d. r. V., A 2. Kritik d. r. V., B 5. A
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desselben« 333 . Die verbindende Tätigkeit der Einbildungskraft über die Zeit ist erforderlich, damit gegebene Daten zu einer Vorstellung zusammengefasst werden können. Dies gilt für die Vorstellungen des unteren Erkenntnisvermögens ebenso wie für die Vorstellungen beziehungsweise die Funktionen des oberen Erkenntnisvermögens. 334 Die Synthesis der Reproduktion, mit der die Synthesis der Apprehension »unzertrennlich verbunden« sein soll, 335 nimmt das Thema der Verbindung von Vorstellungen nach empirischen Regeln in veränderter und komprimierter Form auf. Auf zweieinhalb Seiten entwickelt Kant, dass den Verbindungen, die die Einbildungskraft als ein transzendentales und produktives Vermögen herstellt, Verbindungen korrespondieren, die ihr als empirischem und rezeptivem Vermögen in der Erfahrung ›gegeben‹ werden. Er beruft sich dabei auf ein Gesetz der Assoziation, wie er es in seinen frühen Vorlesungen im Anschluss besonders an Hume und den britischen Empirismus formuliert hatte, 336 und setzt damit auch hier voraus, dass die Welt der Erscheinungen eine gewisse Regelmäßigkeit hat, die Anlass für die Ausbildung entsprechender Assoziationsgewohnheiten gibt. Vorstellungen, die sich aufgrund einer Affinität des Vorgestellten in der Erfahrung »oft gefolgt oder begleitet haben«, verbinden sich schließlich in einer Weise, dass auch »ohne die Gegenwart des Gegenstandes, eine dieser Vorstellungen einen Übergang des Gemüts zu der andern, nach einer beständigen Regel, hervorbringt.« 337 Kant illustriert diesen Gedanken mit mehreren Beispielen: »Würde der Zinnober bald rot bald schwarz, bald leicht bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tag bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen [die entsprechenden Vorstellungen auszubilden, und es] könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion stattfinden.« 338
Kritik d. r. V., A 99. Loc. cit. 335 Kritik d. r. V., A 102. 336 Dieses ›Gesetz der Assoziation‹ findet sich auch in der publizierten Fassung der Anthropologievorlesung, Anthr. (1798) AA 7.176. 337 Kritik d. r. V., A 100. 338 Kritik d. r. V., A 100 f.; vgl. auch die Einleitung der Kritik der Urteilskraft, bes. 185 f. 333 334
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Kant setzt hier einen Gedanken voraus, mit dem er sich in der Zeit vor der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt hatte, ohne diese Voraussetzung eigens kenntlich zu machen. 339 Dort hatte er die Einbildungskraft sowohl dem oberen Erkenntnisvermögen als auch dem unteren Erkenntnisvermögen zugeordnet und diese Zuordnung – entgegen den Kriterien der Klarheit und Verworrenheit ihrer jeweiligen Vorstellungen, die die leibnizsche Schulphilosophie hier in Anschlag brachte – anhand der aktiv/passiv Dichotomie vorgenommen. Erst vor diesem Hintergrund wird seine Äußerung einsichtig, die empirische Einbildungskraft bekäme »niemals etwas ihrem Vermögen Gemäßes zu tun« und bliebe »wie ein totes und uns selbst unbekanntes Vermögen im Inneren des Gemüts verborgen«, 340 wenn unter den Erscheinungen keine Regelmäßigkeit anzutreffen wäre. Denn die Einbildungskraft tritt hier als empirisches Vermögen auf und ist damit als Teil des unteren Erkenntnisvermögens passiv. Aus diesem Grund bedarf sie einer gegebenen Regelmäßigkeit in der empirischen Welt, um etwas ›zu tun zu bekommen‹. Die faktische Regelmäßigkeit der Erscheinungen – und die entsprechende Synthesis der Einbildungskraft nach empirischen Regeln der Assoziation – kann aber, und das ist der entscheidende Punkt, keine begründende Funktion für unser Wissen haben. 341 Vorstellungen müssen, wenn es um Erkenntnis geht, zwar »assoziabel« sein, aber eben einen »objektiven Grund haben«, 342 d. h. unter den apriorischen Regeln einer aktiven und produktiven transzendentalen Einbildungskraft stehen. Nur dies garantiert, dass unser Wissen nicht »aufs Geratewohl, oder beliebig« ist, 343 dass es nicht »etwas ganz Zufälliges [ist], daß sich Erscheinungen in einen Zusammenhang der menschlichen Erkenntnisse« schicken. 344 Dass die einzelnen empirischen Regeln den transzendentalen Regeln in gewisser Weise konform sind, bleibt dabei auch hier eine in erkenntnistheoretischer Hinsicht zwar unentbehrliche, aber letztlich nicht zu ›ergründende‹ Annahme. Ganz im Sinn einer frühen Äußerung, in der Kant auf die »Natur des menschlichen Verstandes« hingewiesen hatte, die dafür verantwortlich sei, dass die »Ge339 340 341 342 343 344
Hierzu ausführlich Hepfer, 2006, Kap. 1. Kritik d. r. V., A 100. S. auch Carl, 1992, 158 Fn. 43. Kritik d. r. V., A 121. Kritik d. r. V., A 104. Kritik d. r. V., A 121. A
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genstände […] den Bedingungen, unter denen sie erkannt werden können, [conform seyn müssen]«, 345 spricht er auch später davon, dass es sich in diesem Zusammenhang um einen ›glücklichen Zufall‹ handelt. In der Einleitung der Kritik der Urteilskraft heißt es: »so muß die Urtheilskraft für ihren eigenen Gebrauch es als Princip a priori annehmen, daß das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine für uns zwar nicht zu ergründende, aber doch denkbare gesetzliche Einheit in der Verbindung ihres Mannigfaltigen zu einer an sich möglichen Erfahrung enthalte«. 346
Und in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schließlich formuliert er diesen Gedanken folgendermaßen: »Dieses Gesetz der Reproduktion setzt aber voraus: daß die Erscheinungen selbst wirklich einer solchen Regel unterworfen sein, und daß in dem Mannigfaltigen ihrer Vorstellungen eine, gewissen Regeln gemäße, Begleitung, oder Folge statt finde.« 347
Ähnlich wie im Kontext der Kausalitätsdiskussion gilt: dass bestimmte empirische Verbindungen dem unteren Erkenntnisvermögen durch die empirische Synthesis der Einbildungskraft ›gegeben‹ werden, ist kontingent, aber wenn sie es sind, dann stehen sie unvermeidlich unter nichtempirischen, kategorialen und notwendigen Voraussetzungen des oberen Erkenntnisvermögens. 348 In diesem Sinn gehört denn auch »die reproduktive Synthesis der Einbildungskraft zu den transzendentalen Handlungen des Gemüts«. 349 Als dritte Verbindungsleistung der Einbildungskraft im Hinblick auf Vorstellungen stellt Kant neben der Zusammenfassung über einen Zeitraum und der Fähigkeit, gegenwärtige Vorstellungen mit vergangenen zu verbinden, die »Synthesis der Rekognition im Begriffe« vor. In diesem »wegen seiner Unübersichtlichkeit berüchtigte[n] Kapitel« 350 geht es Kant unter anderem darum, dass es uns auch gelingen muss zu erkennen, dass es sich bei verschiedenen Vorstellungen um Vorstellungen desselben handelt. 351 Dabei konzipiert er – anders als 345 346 347 348 349 350 351
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L1, AA 28.1.239. Kritik d. U., Einleitung, 183 f.; vgl. 187. Kritik d. r. V., A 100. Vgl. Kritik d. r. V., A 101 f. Kritik d. r. V., A 102. Carl, 1992, 162 Fn. 50. Kritik d. r. V., A 103.
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die rationalistische Schulphilosophie, in der ›Recognition‹ noch für die Fähigkeit der Erinnerung stand 352 – die Synthesis der Rekognition in enger Verbindung zu der Fähigkeit, Begriffe zu verwenden. Er fordert, »daß sie diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht«, 353 denn der Begriff »ist seiner Form nach jederzeit etwas Allgemeines, und was zur Regel dient«. 354 Der in unserem Zusammenhang wichtige Gedanke ist, dass die Verbindung der Rekognition, das Wissen um die Zusammengehörigkeit verschiedener Vorstellungen (weil sie Vorstellungen sind, die sich auf dasselbe beziehen), wiederum eine Verbindung nach Regeln sein muss. Denn anderenfalls haben wir es erneut nur mit willkürlich verbundenen Vorstellungen zu tun. In der zweiten Auflage arbeitet Kant vor allem diesen Punkt aus, wobei die Verbindung von ihm als ein ›selbsttätiger‹, ›spontaner‹ Akt des Verstandes charakterisiert wird – ›Einbildungskraft‹ ist hier nur die Bezeichnung für die entsprechende Funktion des oberen Erkenntnisvermögens. 355 Die ›Rekognition‹, das Wissen um die »Einheit des Mannigfaltigen«, verbindet er in dieser Fassung mit dem Selbstbewusstsein. 356 Die Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein ›Ich‹ soll einen großen Teil derjenigen Aufgaben übernehmen, die in der ersten Auflage der nach ihren verschiedenen Tätigkeiten spezifizierten Einbildungskraft zukamen. Ohne die Details der notorisch kontroversen Konzeptionen der Synthesis und des Selbstbewusstseins in der Deduktion von 1787 in diesem Zusammenhang erörtern zu müssen – die Einbildungskraft spielt hier kaum eine Rolle –, sei auf drei Dinge hingewiesen. Erstens, und nach den bisherigen Ausführungen kaum überraschend, erwähnt Kant nur in der zweiten Auflage die eingangs bereits genannte Bestimmung der Einbildungskraft als »das Vermögen, einen Gegenstand auch o h n e d e s s e n G e g e n w a r t in der Anschauung vorzustellen«, ausdrücklich. Zwar liegt diese traditionelle Charakterisierung auch den Überlegungen der ersten Auflage zugrunde, dort aber gehen die Aufgaben der Einbildungskraft weit über diese Bestimmung hinaus. 1787 scheint sich Kant – im Bestreben, die Aus-
352 353 354 355 356
S. Wolff, Psychologia empirica, §§ 173; 175; Baumgarten, Metaphysica, § 579. Kritik d. r. V., A 105. Kritik d. r. V., A 106. Kritik d. r. V., B 130; B 134 f. Kritik d. r. V., B 130 f. A
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zeichnung der Einbildungskraft als eigenständiges Vermögen zurückzunehmen und in bewusster Abgrenzung zur ersten Auflage – wieder verstärkt auf die traditionelle Bestimmung zu besinnen. Zweitens: Kant betont in der zweiten Auflage nachdrücklicher den Bildcharakter der Tätigkeit der Einbildungskraft, wenn er sie als »figürliche Synthesis« oder »synthesis speciosa« bezeichnet. 357 Auch damit schließt er die Einbildungskraft enger an die traditionelle Konzeption und ihre Bestimmung als ›Vermögen der Bilder‹ an. Drittens, und dies ist der interessanteste Punkt, weist er im Zusammenhang der Verbindung von oberem und unterem Erkenntnisvermögen ausdrücklich auf die Einbildungskraft hin, obwohl er sie in der B-Auflage explizit auf eine bloße Funktion des Verstandes reduziert. Seine Behauptung, sie sei (auch) der Sinnlichkeit zuzuordnen, erscheint unter diesem Vorzeichen allerdings unmotiviert und wenig konsequent. Er bemerkt: »Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft, der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben kann, zur S i n n l i c h k e i t .« 358
Auch dieser Überlegung liegt die Einteilung von oberem und unterem Vermögen anhand der aktiv/passiv Dichotomie zugrunde, wie direkt im Anschluss an die zitierte Stelle deutlich wird. Dort charakterisiert Kant die Tätigkeit der Einbildungskraft (als Funktion des Verstandes) umgehend als ›spontan‹, ›bestimmend‹ und ›produktiv‹ im Unterschied zu ihrer passiven, ›reproduktiven‹ Rolle als eines ›bloß bestimmbaren‹ Vermögens. 359 Neben der Verbindung von Daten zu Vorstellungen von Gegenständen und von Vorstellungen untereinander ist abschließend noch einmal ein Blick auf die Verbindung von oberem und unterem Vermögen angebracht. Wie deutlich wurde, ist dies die Frage, von der aus Heidegger seine Interpretation von 1929 entwickelt. Seine These in diesem Zusammenhang war, dass die transzendentale Einbildungskraft die »ursprünglich einigende Mitte, … [und] Wurzel der beiden Stämme« 360 ist. Dieser elegante Vorschlag erlaubt es, den offensichtlichen Widerspruch zwischen der Äußerung Kants, es gebe zwei ›Stämme‹ 357 358 359 360
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Kritik d. r. V., B 151. Loc. cit. Kritik d. r. V., B 151 f. Heidegger, Kant, 189; vgl. 132
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oder ›Quellen‹ unserer Erkenntnis, und der Behauptung, es gebe drei ›Erkenntnisvermögen‹, aufzulösen. Denn die Einbildungskraft kann in dieser Lesart als ein ›Erkenntnisvermögen‹ betrachtet werden, aber eben als ein Erkenntnisvermögen zweiter Stufe. Damit entfällt die Notwendigkeit, sie gleichzeitig als eine der ›Quellen‹ unserer Erkenntnis aufzufassen. Als ein Vermögen, das auf einer Metaebene operiert, könnte sie Bezugspunkt sowohl für den Verstand als auch für die Sinnlichkeit sein. Ob dieser Vorschlag Heideggers systematisch sinnvoll ist, ist die eine Frage; eine ganz andere ist es, ob er als Interpretation dem Text gerecht wird. Und hier muss man feststellen: der Versuch, die Einbildungskraft als ein Vermögen zweiter Stufe, als ›gemeinsame Wurzel‹ von Verstand und Sinnlichkeit zu verstehen, hat schwerwiegende Textevidenzen gegen sich, sodass er als eine haltbare Interpretation letztlich nicht in Frage kommt. Versucht man dagegen, die Frage der Verbindung von oberem und unterem Erkenntnisvermögen auf der Grundlage des Textes zu beantworten, so können einige Dinge als gesichert gelten. Erstens: Kant sieht die Einbildungskraft in der ersten Auflage (z. T. auch noch in der zweiten) im Einklang mit der Tradition seit Aristoteles in einer Mittelstellung zwischen Verstand und Sinnlichkeit, auch wenn er in den Details deutlich von den Theorien seiner Vorgänger abweicht. Zweitens: die Einbildungskraft ist aufgrund ihrer Mittelstellung das Vermögen, welches das obere auf das untere Erkenntnisvermögen bezieht. Drittens: diese Vermittlung geschieht in erster Linie über eines ihrer Produkte – das ›transzendentale Schema‹. Bei diesem Schema handelt es sich um eine Reihe von Regeln, die von der Einbildungskraft hervorgebracht werden, um die Funktionen des Verstandes und gegebene Sinnesdaten in systematischer Weise miteinander zu verbinden. Weil die Einbildungskraft diese Regeln in einem spontanen und produktiven Akt selbst entwirft, sieht Kant sie daher noch einmal in einer sehr viel aktiveren Rolle als seine Vorgänger. In Kants Erkenntnistheorie artikulieren sich so zwei Einsichten, die sich bei seinen Vorgängern bereits andeuten, deren ausführliche Diskussion aber dort noch unter ganz anderen Vorzeichen stattfindet. Erstens: wir erkennen die Welt nicht so, wie sie ist, sondern immer nur so, wie sie für uns ist. Das heißt, unser Wissen ist immer an die Voraussetzungen gebunden, unter denen wir als erkennende Subjekte stehen. Zweitens: diese Einsicht muss bei weitem nicht so desaströs für den Versuch einer philosophischen Rechtfertigung unserer ErkenntnisA
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ansprüche sein, wie Kants Vorgänger meinten, allen voran David Hume – und wie es besonders strukturalistische und postmoderne Theorien auch heute noch mit Nachdruck behaupten. Hatte Hume noch festgestellt, die unausweichliche Konsequenz aus der Einsicht, dass es die eine richtige Sicht der Dinge nicht gebe, sei ein weitreichender erkenntnistheoretischer Skeptizismus, so nimmt Kant zwar die Diagnose Humes auf, verweigert aber dessen Schlussfolgerung. Er formuliert die Verabschiedung der ›absoluten‹ Konzeption des Wissens anhand der terminologischen Unterscheidung von ›Ding an sich‹ und ›Erscheinung‹ und macht nachdrücklich klar: unserer Erkenntnis zugänglich ist allein die Welt der Erscheinungen. Anders als Hume sieht Kant die Chancen, die sich aus einem Eingeständnis dieser Tatsache ergeben. Denn wenn wir ausdrücklich anerkennen, dass es müßig ist, die Frage beantworten zu wollen, ob die Welt sich unabhängig davon, wie wir sie erkennen können, ›tatsächlich‹ so verhält, wie wir meinen, dann können wir uns mit größerer Kraft den lösbaren Problemen der Erkenntnistheorie zuwenden, anstatt uns vergeblich an einem unlösbaren Problem abzuarbeiten. So kann sich die Aufmerksamkeit darauf richten, dass es auch in der uns allein zugänglichen Welt der Erscheinungen Notwendigkeiten gibt, notwendige Voraussetzungen unseres Wissen und notwendige Prinzipien unserer Erkenntnis. Und auf dieser Grundlage lässt sich, sofern man Kants Argumentation folgt, in der Tat der gesamte Bereich des uns möglichen Wissens erschließen. Indem die Ansprüche, die sich mit der Auszeichnung unserer Meinungen als Fälle von ›Wissen‹ verbinden, von Kant konsequent in Beziehung gesetzt werden zu den Bedingungen des erkennenden Subjekts, bietet er eine Strategie zur Limitierung skeptischer Einwände durch die Neubestimmung des Wissensbegriffs.
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3 Schlussbemerkung
Von Aristoteles’ Behauptung, ohne Vorstellungen sei jedes Denken unmöglich, und der Annahme, die äußeren Verhältnisse prägten sich dem Geist so ein wie der Siegelring dem heißen Wachs, ist es ein langer Weg zu der Auffassung, dass der Prozess, der zu Vorstellungen von äußeren Gegenständen, zu Meinungen und empirischer Erkenntnis führt, erhebliche Eigenleistungen des Erkenntnissubjekts involviert. Von Anfang an steht dabei die Phantasie an einer zentralen Stelle der Diskussion um unser Wissen, auch wenn dies durch den heutigen Sprachgebrauch, der die Phantasie vor allem mit dem künstlerischen Schaffensprozess in Verbindung bringt, in den Hintergrund geraten ist. Der moderne Sprachgebrauch überdeckt, dass die Auseinandersetzung um die Phantasie eine lange Tradition in der Erkenntnistheorie hat, in der auf vielfältige Weise versucht wurde, die Funktion des Erkenntnisvermögens genauer zu fassen und die Phantasie begrifflich einzuordnen. Bei ihrer terminologischen Bestimmung – beginnend beim griechischen phantasia über das lateinische imaginatio bis hin zu den deutschen Äquivalenten ›Phantasie‹, ›Vorstellungs-‹ und ›Einbildungskraft‹ – geht es selbstverständlich immer auch um systematische Fragen, deren wichtigste direkt im Zentrum der Erkenntnistheorie steht: Wie erfassen wir die uns umgebende Realität und wie verlässlich können wir sie im Geist repräsentieren? Wird die Phantasie in der Antike und noch lange danach vor allem als das Vermögen betrachtet Abwesendes vorzustellen, so steigt seit der Neuzeit die Aufmerksamkeit für die Verbindungsleistungen, die aller Erkenntnis zugrunde liegen. Anstelle eines vollkommenen Bruchs mit der Tradition – der der Sache nach durchaus naheliegend gewesen wäre – schließt die neuzeitliche Bestimmung der Vorstellungskraft jeweils an die vorangegangenen Unterscheidungen und die sachlichen Diskussionen der Antike und des Mittelalters an. Dadurch erbt die Erkenntnistheorie nach Descartes auch die elementare Doppeldeutigkeit, die die Auseinandersetzung seit ihren Anfängen erschwert. Denn schon A
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Schlussbemerkung
bei Platon bezeichnet phantasia einerseits die einzelne Vorstellung und andererseits eine Fähigkeit des Menschen. Ebenso übernimmt die Diskussion der Neuzeit wesentliche Teile der aristotelischen Theorie der geistigen Grundvermögen des Menschen. Auch wenn das Verständnis der phantasia als eines aktiven und produktiven Vermögens eine neuzeitliche Wendung ist, so artikuliert sich ein anderer wichtiger Aspekt bereits relativ früh: die Unterscheidung von phantasiai (Vorstellungen) in solche, die von wirklich gegebenen Gegenständen stammen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, etwa Vorstellungen, die der Geist im Fieber oder Wahn erzeugt. Für den Neuplatonismus ist diese Unterscheidung, die auf stoisches Gedankengut zurückgeht, Anlass, die epistemische Unzuverlässigkeit der Fähigkeit und ihre Verantwortung für die Irrtümer des Menschen hervorzuheben. Der Gnostizismus dagegen wendet diese Kritik positiv und behauptet, dass es dem Menschen gerade durch die Phantasie möglich sei, Visionen zu empfangen und dadurch Zugang zu einer ›höheren Wahrheit‹ zu erlangen. So gestatte die Phantasie dem Menschen den ›epistemischen‹ Zugriff auf eine Welt, die sich mit unseren äußeren Sinnen nicht erschließt, und zwar – hier klingt die gnostische Argumentation erstaunlich modern – weil sie den Geist durch ihre produktive Tätigkeit in die Lage versetzt, einer ihm sonst grundsätzlich fremden Welt so entgegenzukommen, dass ihm ein Verständnis solcher ›Wahrheiten‹ überhaupt gelingen kann. Die frühe lateinische Auseinandersetzung stellt die Phantasie in einen ›ästhetischen‹ Zusammenhang. Für Cicero, Quintilian und Pseudo-Longinus ist sie in erster Linie ein Mittel, mit dessen Hilfe sich die (rhetorische) Wirkung auf das Publikum steigern lässt. In epistemischen Kontexten dagegen spielt die imaginatio hier kaum eine Rolle. Andererseits erweitert sich die Begriffsbestimmung in diesem Kontext um ein Merkmal, das auch für die weitere erkenntnistheoretische Auseinandersetzung folgenreich ist: die Bestimmung der Vorstellungskraft als ›Vermögen der Bilder‹ und ihrer Vorstellungen als ›bildhaft‹ und ›visuell‹. Im Mittelalter wird die Phantasie oft im Rahmen einer differenzierten Vermögenstheorie diskutiert. Die neuplatonische Diagnose ihrer (epistemischen) Unzuverlässigkeit erhält in dieser Zeit durch eine theologische Wendung neue Kraft: das Vermögen wird zur Quelle der Verführung und Versuchung. Die Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen Funktionen der Phantasie führt hier allerdings zu keinen 148
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entscheidenden systematischen Neuerungen. Neue Impulse für die Diskussion kommen dagegen aus dem arabischen Raum, wo Aristoteles’ Theorie des Geistes etwa zur gleichen Zeit eine Renaissance erlebt. In der arabischen Ausarbeitung der Vermögenstheorie erhält die phantasia einen vollwertigen Platz unter den kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Gegen Ende des europäischen Mittelalters werden die arabischen Gedanken dann auch im christlichen Kontext rezipiert; Thomas von Aquin etwa nimmt wiederholt auf sie Bezug, allerdings oft, um sich von ihnen abzugrenzen. Im Übergang zur Neuzeit schließlich, in der Renaissance, steigt das Interesse für die epistemischen Funktionen der Phantasie deutlich. Dies belegt nicht nur die allgemeine Zunahme von Abhandlungen, die sich mit ihr an wichtiger Stelle beschäftigen, sondern wird auch daran deutlich, dass sie erstmals zum Hauptthema einer eigenständigen erkenntnistheoretisch ausgerichteten Monographie wird, Gianfrancesco Pico della Mirandolas Schrift De imaginatione von 1501. Mit René Descartes beginnt die intensive Beschäftigung mit den Vorstellungen selbst, die ein charakteristisches Merkmal für die Erkenntnistheorie der Neuzeit ist. Seine Frühschriften, gedanklich und thematisch noch eng mit der vorangegangenen Epoche verbunden, untersuchen zwar zunächst noch das Vermögen, in den späteren philosophischen Werken verlagert sich seine Aufmerksamkeit allerdings auf dessen Produkte, die Vorstellungen. Dabei ändert sich auch der allgemeine Rahmen der Untersuchung. Anstatt den menschlichen Erkenntnisprozess in vornehmlich psychologischer Perspektive zu analysieren, versucht Descartes nun, unsere Meinungen zu begründen. Waren seine Vorgänger noch vorwiegend mit der Frage beschäftigt, wie die einzelnen Vermögen des menschlichen Geistes genauer zu bestimmen seien, so steht bei Descartes der Rechtfertigungsgedanke an erster Stelle, und damit das Thema, das in der Folgezeit die Erkenntnistheorie dominiert. Auch wenn Descartes in den Meditationen die vis imaginativa nicht wie bisher üblich als ein eigenständiges Vermögen, sondern nur als einen Aspekt des Erkenntnisvermögens bestimmt, so rehabilitiert er sie wenigstens indirekt in einem wichtigen Punkt. Er sieht sie nicht mehr in der Verantwortung für den Irrtum und die Abwege des Geistes; dies lastet er der voreiligen Zustimmung oder Ablehnung des Willens an. Descartes’ Theorie bricht zudem mit der von seinen Vorgängern häufig vertretenen Ähnlichkeitsthese, die den Blick auf die erkenntnistheoretischen Funktionen von Vorstellungen eingeA
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engt hatte. Seine Überlegungen machen deutlich, wie schwach die Argumente für die Unterstellung sind, Vorstellungen seien den vorgestellten Gegenständen ähnlich. Dementsprechend groß wird für Descartes der Bereich der für wahr gehaltenen Meinungen, die auf einer Extrapolation beruhen. Damit stellt Descartes die in der Tradition weitgehend unreflektierte Voraussetzung der einen verbindlichen ›Wirklichkeit‹, die es nur korrekt ›abzubilden‹ gilt, in Frage. An ihre Stelle setzt er bereits die Einsicht, dass ein großer Teil unseres epistemischen Weltbezugs eine Interpretationsleistung des erkennenden Subjekts erfordert und eine aktive Tätigkeit des Erkenntnisvermögens voraussetzt. Sein Versuch, angesichts dieser Diagnose dennoch eine sichere Grundlage unserer Meinungen zu ermitteln, ist der Versuch, die traditionelle Auffassung, es könne die eine ›richtige‹ Sicht der Dinge geben, zu retten. Die Antwort auf die durch seine Analyse selbst aufgeworfene erkenntnistheoretische Herausforderung kann allerdings nur dann überzeugen, wenn man die gehaltvolle metaphysische Voraussetzung eines epistemisch wohlgesonnenen Gottes teilt, der die Wahrheit bestimmter Vorstellungen garantiert. Thomas Hobbes stimmt Descartes’ Diagnose grundsätzlich zu. Insbesondere geht er davon aus, dass das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen auf einer Interpretation der Verhältnisse beruht. Hier gibt es für ihn folglich kein Richtig und Falsch, sondern nur bessere und schlechtere Möglichkeiten der Begründung gesellschaftlicher Institutionen und der Legitimation von Macht. Hobbes ist der erste große Denker der Neuzeit, der eine Bestimmung der Vorstellungskraft mit einem klaren Argumentationsziel vor Augen unternimmt. Sowohl seine Kritik an den bestehenden Verhältnissen als auch sein Gegenentwurf der Herrschaftsbegründung entwickelt er im vielfachen Rekurs auf die Tätigkeit dieses Vermögens. Bei John Locke dagegen steht erneut die Analyse der Vorstellungen im Vordergrund. Mit ihr verbindet er eine Untersuchung der Grenzen und der möglichen Reichweite unseres Wissens. Er unterscheidet zwei Sorten von Vorstellungen ideas, diejenigen, von denen wir sicher sein können, dass sie die ›Realität‹ richtig erfassen, und diejenigen, deren Konstruktionscharakter unschwer zu erkennen ist. Die Vorstellungen dieser zweiten, größeren Klasse werden von uns in epistemischer und kommunikativer Absicht ›hergestellt‹. Da Locke anders als Descartes nicht auf Gott als Garanten für die Angemessenheit oder
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Wahrheit einzelner Vorstellungen und Meinungen vertraut, 1 teilt er sie unter dem Konstruktionsvorbehalt ein in solche, die einer (äußeren) Realität angemessener, und solche, die ihr unangemessener zu sein scheinen. Dies berücksichtigt die empirische Unterbestimmtheit unserer epistemischen Situation und nimmt die Einsicht auf, dass unsere perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten unvollkommen sind und der Wunsch nach epistemischer Sicherheit auch von praktischen Interessen geleitet wird. Aus der Abhängigkeit empirischen Wissens von den Fähigkeiten und Interessen des Menschen folgt für Locke dennoch nicht, dass ausnahmslos alle Erkenntnis unter dem Vorbehalt der Unsicherheit steht. Er versucht vielmehr, wenigstens für eine Teilklasse von Vorstellungen den Nachweis zu führen, dass sie die Beschaffenheit äußerer Gegenstände korrekt erfassen. David Hume geht es anders als Locke nicht mehr darum, das traditionelle Modell absoluter epistemischer Gewissheit auch nur für einen (bereits bei Locke kleinen) Teilbereich unseres Wissens aufrecht zu erhalten. Seine Argumentation steht bereits unter der Annahme der Unmöglichkeit einer Letztbegründung unserer empirischen Erkenntnis. Dennoch bleibt auch für ihn die Untersuchung unserer Wissensansprüche ein philosophisch sinnvolles Unterfangen. Seine Theorie setzt bei der Ermittlung derjenigen Vorstellungen und Meinungen an, die sich uns natürlicherweise aufdrängen und die deshalb grundlegend für unsere Erkenntnis sind. In einer an den Prinzipien der Newtonschen Physik orientierten Untersuchung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten kommt dabei erneut der Phantasie (imagination) eine zentrale Rolle zu. Besonders zwei ihrer Funktionen sind nach Hume für das Zustandekommen unserer Meinungen zentral: ›Gravitation‹ und ›Impulserhaltung‹. Ohne die Fähigkeit, eine Reihe von Wahrnehmungen in produktiver Weise zu ergänzen – dies als Wirkung der Impulserhaltung –, ist für Hume der Glaube an die fortgesetzte Existenz der Gegenstände ebenso wenig zu erklären, wie es der Glaube an eine (kausale) Regelmäßigkeit des Naturverlaufs ohne den Rekurs auf ihr Prinzip der mentalen Anziehung ist. Damit rückt die Einbildungskraft, von Hume als das Vermögen unter anderem dieser beiden Prinzipien bestimmt, ins Zentrum erkenntnistheoretischer Überlegungen. SolanAllein Lockes allgemeiner Optimismus, die menschliche Erkenntnisfähigkeit sei in angemessener Weise auf die empirische Welt abgestimmt, entspringt seiner Erwartung, dass dies von einem wohlwollenden Schöpfergott so eingerichtet worden sei.
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ge wir uns darüber im Klaren sind, dass es keine ›objektive‹ Berechtigung für unsere Interpretation empirischer Daten gibt, sondern diese nur einem ›psychologischen‹ Zwang der menschlichen Natur folgt, kann es in vielen Fällen durchaus angemessen sein, von ›Wissen‹ zu sprechen. Für Kant schließlich ist die Einsicht, dass unsere Erkenntnis durch die kognitiven und perzeptiven Voraussetzungen bedingt ist, unter denen das Erkenntnissubjekt steht, nicht nur der Ausgangspunkt der Überlegungen, sondern gleichzeitig Grund für einen moderaten epistemischen Optimismus. Er argumentiert, dass der Bereich der uns möglichen Erkenntnis bestimmt wird durch ihre formalen Voraussetzungen, dass diese Voraussetzungen nicht-empirischer Natur sind und deshalb mit Notwendigkeit gelten. Nach ihrem Prinzip werden die Inhalte unserer empirischen Vorstellungen systematisch aufeinander bezogen. Die Einsicht, dass die Frage der Verbindung von Sinnesdaten und Vorstellungen deshalb im Mittelpunkt der Erkenntnistheorie stehen muss, rückt entsprechend auch die Einbildungskraft (als Vermögen dieser Verbindung) ins Zentrum der Analyse. Schließlich soll sie durch ihre produktive und ›spontane‹ Tätigkeit diese Verbindungen herstellen; sie soll Daten zu Vorstellungen, Vorstellungen zu Urteilen und eben auch die empirischen Inhalte mit den (nicht-empirischen) Voraussetzungen unseres Wissens verbinden; sie soll dafür sorgen, dass unsere Vorstellungen weder ›blind‹ noch ›leer‹ sind. Dadurch, dass Kant sich auf eine Untersuchung der formalen Voraussetzungen unseres Wissens konzentriert und für den notwendigen Charakter dieser Voraussetzungen argumentiert, eröffnet er eine Möglichkeit, einem exzessiven epistemischen Relativismus (beziehungsweise einem radikalen epistemischen Skeptizismus) zu begegnen. Seine Argumentation führt vor, wie das Eingeständnis, dass jede Erkenntnis wesentlich von einer produktiven Leistung des Geistes abhängt, unsere Urteile über die Erfahrungswelt nicht zwangsläufig beliebig werden lässt. Die Veränderungen in der terminologischen Bestimmung der Phantasie und ihrer Funktion bei der Genese und Rechtfertigung von Meinungen illustrieren in paradigmatischer Weise die Veränderung des philosophischen Blicks auf unser Wissen. War sein Zustandekommen über lange Zeit als ein vorwiegend passiver geistiger Prozess wahrgenommen worden, verfestigt sich seit dem Beginn der Neuzeit die Auffassung, dass jede (empirische) Erkenntnis schon eine aktive und produktive Interpretation äußerer Umstände ist. Diese Verände152
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rung der Sichtweise hängt eng mit dem Wandel in der Bestimmung der Einbildungskraft zusammen: in dem Maß, wie sie als aktives und produktives Vermögen wahrgenommen wird, wachsen die Zweifel daran, dass der Geist äußere Gegebenheiten einfach ›abbildet‹. Wenn sich allerdings nachweisen lässt, dass die Einbildungskraft bei der Interpretation empirischer Daten verbindlichen Regeln folgen muss, dann ist die Bestimmung des Vermögens und die Analyse seiner Funktionen auch ein Beitrag zur Limitierung des epistemischen Relativismus. Die genaue Untersuchung des Vermögens und seiner Leistungen führt nicht nur dazu, überzogene Ansprüche an die Begründung unseres Wissens aufzugeben, sondern ebenso dazu, berechtigte Ansprüche abzusichern. Besonders Kants Theorie lässt sich als vorweggenommene Antwort auf die post-moderne Behauptung verstehen, die Verabschiedung des Absolutheitsanspruchs impliziere notwendigerweise einen globalen erkenntnistheoretischen Relativismus. Die philosophiehistorische Perspektive schärft damit nicht zuletzt den Blick für die begrenzte Reichweite aktueller und besonders in den Geisteswissenschaften außerhalb der Philosophie oft mit großem Nachdruck vertretener relativistischer Positionen.
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