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German Pages 409 [412] Year 1931
DIE LEHRE VON DER GESTALT IHRE M E T H O D E UND IHR PSYCHOLOGISCHER GEGENSTAND
VON
MARTIN SGHEERER
BERLIN UND LEIPZIG WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. THÜBNER — VEIT & COMP.
1931
Aus dem Psychologischen Institut der Hamburgischen Universität
Druck von J. J. Augustin in GlUeketadt und Hamburg
Inhaltsverzeichnis. Einleitung.
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§ 1. Der Terminus Gestalt und Gestalttheorie. Die Aufgabe der Untersuchung § 2. Gestalttheoretische Methode und die Bedingungen ihrer Darstellung
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I. Teü. Die Methode. I. Abschnitt.
Das Gestaltproblem in der Sinnespsychologie.
§ 3. Die Grundsituation und das Gegenüber 13 § 4. Der Aufweis der Gestalt im Phänomenalen 19 § 5. Gestalt- und Sinnproblem — vom Standpunkt der Gestalttheorie 39 //. Abschnitt. Das Gestaltproblem im Physischen. § 6. Die physiologische Hypothese 43 § 7. Physische Gestalt und aktuelles Bewußtsein . . . . 48 § 8. Das Leib-Seele-Problem 58 III. Abschnitt. Das Prinzip der Gestaltprägnanz. § 9. Physikalisch: Tendenz zur Prägnanz und Trägheit zur Prägnanz 66 § 10. Psychophysisch: Sinn und Prägnanz 72 § 11. Biologisch: Zweck und Prägnanz; physikalisches System und Natursystem. Natursystem (Organismus)Umfeld 86 IV. Abschnitt. Das Verhältnis: Lebewesen — Umgebung als psychologische Maxime. § 12. Nativismus — Empirismus. Instinkt und Reflex . . 98 § 13. Wahrnehmung und Umfeld. Die Schwelle, Gestaltkonstanz und Objektivität der Gestalt 110
IV
Inhaltsverzeichnis Seite
§ 14. Konvergenz und Korrespondenz; innere und äußere Systembedingungen. Person und Gestalt. Psychologische oder biologische Methode 137
II. Teil. Gestaltpsychologie als «Wissenschaft vom äußern und innern Gebaren von Lebewesen». /. Abschnitt. Gebarensformen. § 15. Handeln, Affekt und Wollen — einsichtiges Verhalten 161 § 16. Denken, Erkennen 202 Exkurs über Gestalt- und Sinnproblem 236 //. Abschnitt. Ich und Umwelt. § 17. Bewußtsein, Verstehen vom Fremdseelischen, Ausdrucks- und Benennungsfunktion 254 § 18. Die «Wiederbesinnung». Der Ichbegriff, Charakter und Persönlichkeit 287 ///. Abschnitt. Das Verstehen und Erklären der Gestalttheorie. § 19. Deskriptions- und Funktionsbegriff. Theorie der Erlebniswahrnehmung . 312 IV. Abschnitt. Objektivierende und subjektivierende Methode. § 20. Gestalt, Gesetz und sinnhaftes Geschehen . . . . 322 § 21. Objektivierung, Subjektivierung. Gestalt und Repräsentation 329 Anhang.
Die subjektivierende Methode und ihre Beziehbarkeit auf die gegenwärtige Psychologie. § 22. Verhältnis zur Entwicklungs- und Denkpsychologie. «Erlebniseinheit» und Motivation. «Erlebniseinheit» und «Faktizität» 359
Nachwort Literaturverzeichnis Namenregister
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EINLEITUNG § 1. Der T e r m i n u s « G e s t a l t » und « G e s t a l t t h e o r i e » . Die A u f g a b e der U n t e r s u c h u n g . Der Terminus «Gestalt » ist in dem letzten Jahrzehnt Gemeingut der deutschen Psychologie geworden. In einer gewissen Übereinstimmung kennzeichnet man heute durch ihn jene phänomenalen Gebilde der Wahrnehmung, deren charakteristische Einheit sich nicht aus einzeln aufgefaßten oder fingierten Elementen zusammensetzt, sondern sich als Erlebnis ganz es präsentiert. Überschaut man nun verschiedene psychologische Strömungen der Gegenwart, so möchte es fast scheinen, als ob ihre Tendenzen durch Begriffe, wie die der «Ganzheit», «Struktur», «Gestalt» ein gemeinsames Gepräge der Methode erhalten. So ist auch der 9. Kongreß für experimentelle Psychologie als symptomatisch für die fast allgemeine Anerkennung «des Prinzips der ganzheitlichen Betrachtung » angesehen worden.1 Tatsächlich wird oft in der gegenwärtigen Literatur als «Strukturpsychologie», «Gestaltspsychologie» recht allgemein jene Forschungsweise bezeichnet, die in der Behandlung psychologischer Probleme Erscheinungen ganzheitlicher Natur untersucht und aufzuweisen sucht.2 Doch zeigt auf der anderen Seite der genauere Vergleich zwischen den einzelnen Denkarten ein überraschendes Divergieren, sowohl innerhalb ihrer Voraussetzungen wie ihrer Zielsetzungen, ungeachtet jener durchgehenden Tendenz zur «ganzheitlichen» Methodik. Ob es sich um die personalistische Psychologie von William Stern, um die Strukturpsychologie Felix Kruegers oder die Bestrebungen von E. R. Jaensch handelt — um nur diese zu nennen — stets sind es sehr verschiedene Prinzipien, von denen ausgegangen und zu denen hingestrebt wird. Demgegenüber bleibt jedoch das eigentümliche Faktum bestehen, daß als ein besonderer Fakt or in all diesen unterschiedlichen Richtungen der Begriff «Gestalt» auftritt, ja, daß dieser Terminus selbst bei derjenigen Theoriebildung eine Rolle spielt, deren Typus ein Operieren mit Ganzprinzipien sonst ausschließt. 1
Vgl. Martha Muchow, Hbg. Fremdenblau. Bericht über 9. Kongreß f. experimentelle Psychologie. 2 Henning, Felix Krueger, Der Strukturbegriff in der Psychologie (künftig zitiert als «Strukturbegriff»), S. 9. l
Scheerer
Einleitung
Sollte demnach die «Gestalt» vielleicht ein zentrales — jenseits aller theoretischen Divergenz — gesichertes Bestandsmoment darstellen, so könnte man fragen ? Aber auch hier stößt die nähere Betrachtung auf Schwierigkeiten. So einig man sich über den Tatbestand auch ist, daß es im Bereich der Wahrnehmung erlebnismäßig Gestalten gibt, so verschiedenartig ist die Begründungsweise, w a r u m es solche geben muß. Dies zeigt schon ein oberflächlicher Blick in den Stand der Diskussion: Auf der einen Seite die Produktionstheorie Benussis oder die Herleitung des Gestaltphänomens aus dispositionellen Bedingungen der psychischen Gesamtstruktur wie bei Krueger, auf der anderen Seite die teils mit physiologischen, teils mit psychologischen Faktoren arbeitende Hypothesenbildung von Bühler und die problemgeschichtlich sehr exponierte von Georg Elias Müller.1"4 So scheint sich wiederum der Gestaltbegriff ähnlich dem der «Ganzheit» jeweils nach seiner Stellung innerhalb der einzelnen Theoreme aufzulösen — bezw. zu verankern. Daraus ergibt sich die eigentümliche Problematik, daß eine unmittelbare Tatsache der Sinneswahrnehmung zwar als Phänomen allseitig anerkannt ist, doch als Problem ganz abweichend gedeutet und begründet wird. Sucht man sich Rechenschaft über die Genesis dieser Konstellation zu geben, so ist die kontroverse Ausdeutung zunächst leicht einzusehen, wenn man zum U r s p r u n g eben jenes Gestaltbegriffes bis dorthin zurückgeht, wo er im Gegensatz zu den Deskriptions- und Funktionsbegriffen einer Psychologie der Analyse und summenmäßigen Synthese gebildet wurde. Rein historisch führt dann der Weg zurück zu der 1890 erschienenen Schrift «Über Gestaltqualitäten» von Christian v. Ehrenfels.5 Vom Standpunkt des Problems aus gesehen aber erweist sich als entscheidend der Schritt, den Max Wertheimer mit seiner Habilitationsschrift «Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegungen» 1912 vollzog. Hier wurde mit einer gewissen Radikalität die bisherige Analyse 1
Benussi und die Grazer Schule, Witasek etc. Krueger, Neue psychologische Studien I 1926. Vgl. dort auch Ipsen, der sich stark der Produktionstheorie nähert. 3 Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen 1913 u. Die geistige Entwicklung des Kindes (künftig zitiert als «Geistige Entw.») * G. E. Müller, Komplex- u. Gestalttheorie, ebenso i. Ztschr. f. PsychoL 1926. — Nach Henning («Psychologie der Gegenwart») hat G. E. Müller zur Gestaltfrage das «abschließende Werk geschrieben». 5 Vierteljahresschriftfür wissenschaftliche Philosophie XIV, 3, 1890; vorher aber schon E. Mach (Beiträge zur Analyse der Empfindungen Jena 1886), auf den Ehrenfels auch zurückweist. 2
Einleitung
des Wahrnehmungsinhaltes sozusagen auf den Kopf gestellt, und zum ersten Mal eindeutig der phänomenale und funktioneile Primat des Ganzen vor allen Empfindungselementen — also nicht mehr lediglich sein «Hinzutreten» zu solchen Bestandstücken — behauptet. Wie sehr auch andere Forscher, z. B. Cornelius1 oder W. Stern2 sich dieser Lösung genähert, wie stark sie auch zu dieser Lösung beigetragen hatten, so ist doch die Leistung Wertheimers entscheidend und bestimmend dafür gewesen, daß nunmehr der Terminus «Gestalt» eine spezifisch neue und vertiefte Bedeutung im Gebrauch der psychologischen Forschung erhielt. Die Bedeutung lag in der demonstrativen Abgrenzung des Phänomens gegen alles erst Zusammengesetzte, seien es «Komplexe» oder «Gestaltqualitäten», sie lag in der Behauptung vom genetischen und logischen Primat des Ganzen gegenüber den Elementen, und eben dies ist von revolutionierender Wirkung für die Wahrnehmungspsychologie gewesen.3 Während man der nunmehr radikalisierten Sachlage des Gestaltproblems mit recht widerstreitenden Erklärungsweisen Rechnung trug — und zwar ebensosehr auf Seiten der Elementenpsychologie wie auf Seiten der Ganzheitslehren4 — bildete die um Wertheimer stehende Gruppe der Psychologen, Köhler, Koffka u. a. die Gestalthypothese Wertheimers zu einer originalen und konsequenzreichen Theorie aus.5 Hier wurde der Gestaltbegriff6 zentral und beherrschend in dem Sinne, daß weit über den Bezirk der bloßen 1
Cornelius, Über Verschmelzung und Analyse, Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 17, S. 45. 2 Stern, Psychologie der Veränderungsauffassung. Breslau 1898. Psychische Präsenzzeit. Ztschr. f. Psychol. u. Phys. 13, 1897, S. 327. 3 Wir halten diese Behauptung für zulässig, obgleich z. Zt. ein unerquicklicher Prioritäten- und Autoritätsstreit schwebt. (G. E. Müller, Selz, Bühler, Jaensch, Henning u. a.) Wenn man bei der Polemik um und gegen die Gestalttheorie gleichsam durch Mehrheitsbeschluß das Radikale und Neue des Wertheimer''sehen Schrittes in der Gesamtleistung aller Forscher während der letzten 50 Jahre aufheben will, so beweist dies nur, welch großen Wert man dem Gestalt- und Ganzheitsproblem beimißt. Alsdann dürfte freilich die Strenge des historischen Gewissens nicht bei den letzten Jahrzehnten Halt machen. — Sie müßte wohl in manchem Aristoteles in die Debatte ziehen. 4 z. B. Stern, Psychologie der frühen Kindheit und Personalistische Psychologie in Saupe 1925; Bühler, «Geistige Entw.», — hinsichtlich des Denkens in Ztschr. f. Psychol. 1926. Ebenso Selz, Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs, II. Aufl., ferner Benussi, Krueger, G. E. Müller, E. R. Jaensch, Lindworski, Umrißskizze einer theoretischen Psychologie 1922, Ztschr. f. Psychol. 89; Spearman, Psychology of shape, 5 Ferner E. v. Hornbostel, W. Fuchs, A. Gelb, W. Benary, K. Lewin u.a. 6 Um die Darstellung nicht zu erschweren, wird vorläufig davon abgesehen, daß auch von den «Gestalttheoretikern» Begriffe wie «Struktur» — «Ganzes» mit dem der «Gestalt» promiscue gebraucht werden.
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Einleitung
Wahrnehmung hinaus eine gestalttheoretische Methodik entstand, die Anspruch darauf zu erheben beginnt, für die gesamte Psychologie Geltung zu haben. Für die Charakteristik der Gestaltfrage mit ihren verschiedenen Ausdeutungen scheint dieser Sachverhalt indessen eine Komplikation zu zeitigen. Solange wir uns die um den Terminus Gestalt bestehende Kontroverse an der ursprünglich polemischen Position gegen eine atomistische Psychologie vor Augen führen, mögen jene widerstreitenden Tendenzen als Antithese von «Ganzheit» und «Summe» durchaus einleuchten. Dort aber, wo die Standortgebundenheit an einen Atomismus gar nicht gegeben und das Ganzprinzip mit gleichstarker Betonung zum vorwaltenden Gesichtspunkt gemacht ist, wie von der Gestalttheorie, scheint eine Divergenz zunächst nicht unmittelbar verständlich; denn die unverkennbare Tatsache, daß sich die sonstigen 1 psychologischen Ganzheitslehren nicht mit der «Lehre von der Gestalt»identifizieren, daß also bei Forschungsrichtungen mit gleicher Grundentscheidung ein Nebeneinander verschiedener Grundbegriffe besteht, stellt vor die Frage, ob dies Nebeneinander der Begriffe «Gestalt» und «Ganzheit» lediglich eine terminologische Differenz bedeutet, oder ob es sich hier um die tiefer begründete Alternative eines «Gegeneinander» handelt. Die Antwort führt notwendig in den ganzen Komplex des allgemeinen Gestalt- und Ganzheitsproblems hinein. Denn eben dasjenige, was mit diesen Begriffen jeweils bezeichnet werden soll und intendiert ist, muß bedingend sein für die Besonderheit der Richtungen, die einen Zusammenschluß verhindert. Versucht man, den Angelpunkt dieser Divergenz zu fixieren, ohne sich in die Vielfältigkeit der vorhandenen Nuancen zu verlieren, so darf man die folgende skizzierende Überschau wagen. Es gab — und es gibt ein Gestaltproblem, das gewissermaßen gegenstandstheoretischen Charakter trägt, und von der Meinong-Schule herausgestellt, neuerdings auch von R. Hönigswald gewürdigt wurde.2 Dasselbe Problem ins Psychologische gewendet bietet die Wahrnehmung und das Erleben, wie der oben angedeutete «Diskussionsstand» zeigte. In beiden Fällen aber handelt es sich um ein sehr spezifisches, umgrenztes Gebiet, nämlich das von «in sich geschlossenen Gliederungseinheiten», seien es Gestalten als «ideale Gegenstände» oder als Wahrnehmungs- und Erlebnisgebilde.3 1
Stern, Selz, Krueger, Driesch etc., die Dilthey-Richtung, Jaspers (Psychologie der Weltanschauungen). 2 Die Grundlagen der Denkpsychologie 1925., künftig zitiert als «Denkpsychologie», ferner Linke, Grundfragen der Wahrnehmungslehre. 3 Hierher dürfte auch das Husserl''sehe Einheitsmoment («figurales Moment») gehören.
Einleitung
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Es gab — und es gibt sehr verschiedene Ganzheitsbegriffe, sowohl in der philosophischen wie in der psychologischen Nomenklatur. Man hat den Begriff des «Strukturzusammenhanges» im Geistesleben (Dilthey), man hat den der «Sinn-Ganzheit», (z. B. Hönigswald), — und dann der «Ganzheit» des Erlebnisstroms (Bergson); man hat das «Ganze» des Erlebniszusammenhanges (Jaspers) sowie die «sich sinnvoll bestimmende Ganzheit» als Person (Stern), und es bietet endlich Krueger den Strukturbegriff als «dispositionelles Ganzes» des Lebe- und Seelenwesens. Statt weiterer Aufzählung ist vielleicht das Augenmerk auf das Verhältnis zwischen diesen «Ganzheiten», «Strukturen» einerseits und jenen «Gestalten» andererseits zu richten. Dabei scheint ein Unterschied hervorzutreten. Er besteht in der eigentümlichen «Einschichtigkeit», «Geschlossenheit der Formation» der Gestalt wie auch in ihrer, zwar nicht an einen spezifischen Gegenstand gebundenen, so doch gegenständlichen Struktur, — gegenüber welcher die Ganzheitsbegriffe charakterisiert sind durch eine spezifische Seinsart, die unlöslich verbunden ist mit der Eigenart dessen, was sie darstellen und was sie ausmacht. Hier auf der Seite der Ganzheitsbegriffe besteht zudem eine gewisse Mehrschichtigkeit, — sie umspannen inhaltlich reichere Dimensionen. Wenn nun die «Lehre von der Gestalt» hinsichtlich i h r e s Ganzprinzipes gerade anknüpfte an die Eigenschaften der Gestalt, wie sie oben gekennzeichnet wurden, so war naheliegend, daß andere psychologische Vertreter in solchem Fragengebiet nur einen Teilkomplex des bestimmungsreicheren Ganzheitsgedankens sahen und es daher in ihren Betrachtungskreis ein- und unterordneten; — zumal, da sie hiermit dem Bereich des «Ich» und der ErlebnisTotalität «näher» blieben, im Vergleich zu der jene Gestalteinheiten durch ihre immerhin mögliche Isolierung und Gegenständlichkeit, ja durch ihre mögliche «Objektivität» gekennzeichnet schienen. Simpler Fall einer solchen Subordination der Gestalt ist die Beweisführung F. Kruegers, nach der es phänomenale, — und zwar sehr ursprüngliche, — Tatbestände von Ganzheit gibt, wo ein figurales Gliederungsmoment überhaupt fehlt.1 Während man also bei solcher Eingliederung des Gestaltfaktors vornehmlich das Subjektive, und das hieße, das Moment der Ichzugehörigkeit im Auge hatte, ist wohl gerade für die Gestalttheorie 1
Vgl. Krueger, Neue psychol. Studien. 1926 und Spearmann, Bericht VIII. internal. Kongreß of Psychology 1927, Groningen, «two defects in the theory of Gestalt.« (Unterschied zwischen «wholes» und «shape».) Siehe auch Henning's olfactorische Analysen.
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Einleitung
jene auch gegenständliche, sozusagen transsubjektive Valenz für eine prinzipiellere Folgerung mitbestimmend gewesen; — dafür nämlich, daß der Sachverhalt der Gestalt nicht so sehr nur ein spezifisches Inhaltsmoment betrifft als zugleich noch eine Wesenseigentümlichkeit von Zusammenhängen ü b e r h a u p t — von Zusammenhängen sinnhafter Natur, die weit über den Bereich bloß subjektiver Erscheinungen hinausreichen: Man könne sich an dieser Wesenseigentümlichkeit orientieren, sie überall dort zum Gesichtspunkt machen, wo Fragen auftauchen, die analog der sinnespsychologischen Sachlage nicht mit dem hergebrachten Begriffsmaterial zu bewältigen sind — und könne so die «Gestalt» zu einem Prinzip weit über die Sinnespsychologie hinaus, eben zur «Gestalttheorie» erheben. Es hieße demnach den wahren Charakter dieser Lehre verkennen, wollte man sie als eine bloß psychologische begreifen und neben andere Richtungen der Gegenwartspsychologie stellen. Das Problem von dem man ausgegangen ist, wird aus der Gegenstandsbesonderheit herausgelöst und zu einem viel allgemeineren, man kann wohl sagen, zu einem Problem der Wissenschaft überhaupt gemacht.1 In der Logik, in der Physik, in der Biologie und Physiologie, überall schien dieser Forschungsrichtung die gleiche «Grundsituation» vorzuliegen und nach einer ähnlichen Lösung wie jener in der Psychologie zu drängen: «Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo — im prägnanten Fall — sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen.»2 Mit solcher «inneren Notwendigkeit» aus Strukturbedingungen heraus scheint die Gestalttheorie letzthin zu nichts weniger als zur Aufstellung einer neuen Art von Gesetzlichkeit gelangen zu wollen, und dabei erweist sich ihr gewissermaßen inter Wissenschaft lieber Charakter. Von dieser Seite aus betrachtet, steht es am Ende mit dem psychologischen Anliegen des Gestalttheorems fast umgekehrt. Der psychologische Fragenkomplex, von dem ausgegangen war, muß jetzt als ein Teilkomplex der gesamten gestalttheoretischen Bestrebung angesehen werden. Und zugleich erhält innerhalb der psychologischen Theoriebildung selber das Verhältnis zwischen Gestaltfaktor und 1
«ist ein Problem nicht spezialwissenschaftlicher Natur, ist im Grunde ein Problem unserer Zeit.» Vgl. Weriheimer, Über Gestalttheorie. Symposion 1925 (künftig zitiert als «Symposion») S. 9ff. undKoffka, Perzeption. An introduction to the gestalttheorie. The psychological Bulletin 19, 1929, No. 10. 2 «Symposion», S. 7.
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dem dimensionsreicheren Ganzheitsgedanken eine charakteristische Wendung; denn nunmehr droht das Verfahren nach jener Gestaltmaxime den im Subjektiven verankerten Ganzheitsbegriff zu sublimieren. Ist es doch natürliche Konsequenz der Gestalttheorie als Methode, daß sie nicht nur da einsetzt, wo «stückhafte Ansätze» das Bild verzerren und ein Eindringen in den Sachverhalt verhindern, sondern sich ebenso dort durchzusetzen sucht, wo die gegenwärtige Psychologie bereits Ganzheitsbegriffe zugrunde legt, deren Wesensgehalt einer wie verschiedenartig auch immer bestimmten Dimension des «Ichhaften» zugeordnet ist. Gerade der «interwissenschaftliche» Charakter der Gestalttheorie bedingt ja, wie wir sahen, eine andere Blickrichtung, und zwar die auf Zusammenhänge überhaupt, bei denen « innere Strukturgesetze» gelten sollen. Wenn nun die Theorie gleichwohl beansprucht, den psychologischen Gegenstand erschöpfend behandeln zu können, so ist zu prüfen, womit sie einen solchen Anspruch rechtfertigt, und was diesem Gedanken von den «inneren Strukturgesetzen» zugrunde liegt, das ihm einen solchen Vorrang vor den anderen Ganzheitslehren der Psychologie verleihen soll. M. a. W. es läßt sich fragen: Was gibt im exakten und greifbaren Sinn der Gestalttheorie ihr eigenes wissenschaftliches Gesicht und ihre Prägung; wodurch erfüllt sich ihr Anspruch als einer «interwissenschaftlichen» Methode — wenn man sie so nennen darf — auch für das Sondergebiet der Psychologie ? Ermöglichen ihre Prinzipien zu Recht die adäquate Behandlung des Gegenstandes der Psychologie und falls nicht, von welchem Objekt handelt sie ? In prägnanterer Formulierung bildet also die gestalttheoretische Methode und ihr psychologischer Gegenstand das Problem, auf das unsere Untersuchung abzielt. § 2. Gestalttheoretische M e t h o d e und die B e d i n g u n g e n ihrer Darstellung. Da die Beantwortung der Frage nach dem psychologischen Gegenstand der Gestalttheorie die Kenntnis ihrer Methode bereits voraussetzt, muß die Betrachtung sich zunächst dieser zuwenden. Die Annahme, daß eine Methode im Sinne einheitlicher und geschlossener Systematik offen zutage liegt und die fundierenden Prinzipien gleichsam nur abzulesen wären, bestätigt sich jedoch nicht ohne weiteres. Vielmehr scheint es gerade unsere erste Aufgabe zu sein, aus der Reihe von Einzeldarstellungen zu verschiedenen Problemen der Logik, Psychologie, Physik und Biologie jenen methodisch generellen Charakter der Gestalthypothese seinem
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Einleitung
Wesen nach zu erschließen und das systematisch Einheitliche herauszuarbeiten.1 Dieser Weg könnte zunächst für psychologische Probleme abwegig erscheinen und eher von diesen hinweg, zu Fragen allgemeinerer Natur, als zu diesen hin zu führen. Doch wird die Untersuchung erweisen, daß der psychologische Gehalt der gestalttheoretischen Methode überhaupt erst zur vollen Klarheit und Prägnanz gelangt, wenn man die Prinzipien der Gestalttheorie in ihrem übergreifenden Verstande zu erfassen sucht. Hierzu wird es erforderlich sein, bisweilen über das oft programmatische Literaturmaterial hinauszugehen und selbständig Konsequenzen zu ziehen; besteht ja selbst für Koffka, Köhler u. a. bisweilen die Situation, daß sie sich auf Diskussionsbemerkungen und mündliche Mitteilungen Wertheimers, des Anregers und Schöpfers des Gestalttheorems berufen müssen. Man sieht hieran ohne weiteres, Gestalttheorie ist kein Faktum, sondern ist vielmehr ein Fieri, und gerade angesichts dieser Unabgeschlossenheit ließe sich einwenden, ob es nicht verfrüht sei, hier schon nach einer Einheit der Prinzipien, nach der Methode zu suchen. Doch gibt uns nicht gerade das Wesen der Methode als Bereitung des Weges das Recht und die Verpflichtung, nach dem Woher und dem Wohin zu fragen ? Im Vorwort zur «Allgemeinen Psychologie» schrieb Paul Natorp anläßlich seiner «Revision der Fundamente»: «Ich nannte es einmal „Vorfragen" der Psychologie. Jemand erhob dawider den Einwand, ob es nicht vielmehr Nachfragen seien ? Eben das kennzeichnet das Bedenkliche der Lage: Die Frage nach den Fundamenten soll zurückgeschoben werden, bis der Bau — wie soll man sagen: fertig ist ? — Fertig wird er doch nie. Also: Bis er stockt, oder gar einstürzt ?» — Max Wertheimer leitete einen Vortrag in der Kant-Gesellschaft mit der Frage ein: «Was ist, was will Gestalttheorie ?» Er antwortete darauf mit den Worten: «Gestalttheorie ist etwas aus konkreter Arbeit Erwachsenes...» und weiterhin: «Sie ist nicht bloß aus der Arbeit erwachsen, sondern sie ist für die Arbeit da.» Angesichts solcher Auffassung wird man gern die Abneigung dieses Forschers anerkennen, «so, wie über gewisse „philosophische" Probleme auch über diese Probleme rein vom grünen Tisch aus» 2 ... entscheidend sprechen zu wollen. Gerade aber weil Gestalttheorie etwas aus konkreter Arbeit Erwachsenes ist, dürfte die Reflektion auf ihre Ge1
Auch die einzige zusammenhängende Darstellung der Gestaltpsychologie von Koffka («Psychologie») scheint hierfür nicht ausreichend, da sie — mehr Umrißskizze der Gestaltpsychologie — das allgemein theoretische Prinzip der Gestalt in seinen letzthin philosophischen Voraussetzungen höchstens andeutet. 2 «Symposion» s. 8.
Einleitung
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dankenbewegung, die methodische Besinnung also, gestattet sein, zumal dann, wenn man in Anbetracht des «Fieri» nicht die einzelnen Ergebnisse polemisch in Zweifel ziehen, sondern unter dem Aspekt, ihrer Relevanz für den psychologischen Gegenstand betrachten will. Indem wir die Fragestellung, von der aus an die Probleme herangegangen wird, herauszuarbeiten suchen, beanspruchen wir in Ansehung der Gestalttheorie das Gleiche für diese, wie Wertheimer für die These v. Ehrenfelsens: «Es gibt in der Geschichte der Wissenschaft ... grandiose Beispiele dafür, wie gerade dadurch, daß der Wissenschaftler ganz kühn zu einer krassen — aber klar geraden — Annahme greift, wo er aus der wissenschaftlichen Verantwortung heraus irgend eine Annahme machen muß — es gibt oft solche Situationen, wo dann die weitere Entwicklung den größten Vorteil daraus gezogen hat.»1 Worauf wir hier abzielen, ist nichts geringeres als die gewissermaßen im Zentrum der gestalttheoretischen Diskussion stehende Frage «der Sinnhaftigkeit». Hier, am Wendepunkt der modernen exakten psychologischen Forschung zum «Sinn» und zur «Lebendigkeit» hin, die Max Wertheimer so schön zu betonen pflegt,2 scheint nicht zuletzt durch die theoretischen Inhalte der Gestaltprinzipien eine Sachlage zu entstehen, die vor Entscheidungen stellt über die Grundfrage sowie das Sinn- und Bedeutungsproblem der Psychologie, und zwar sowohl in positiver wie negativer Hinsicht. Gezwungenermaßen fühlt man sich dann zuletzt in die Lage versetzt, der Frage Wertheimers die weitere folgen zu lassen: Was aber wird Gestalttheorie? Diese Frage, was Gestalttheorie wird, dürfte freilich noch voreiliger erscheinen als die nach dem, was sie ist. Denn zunächst besteht ja nur ein Programm, das in manchen Einzelgebieten vollständiger realisiert ist, auf anderen nur dem Ansatz nach zur Geltung kommt. So scheint es, daß die Darstellung der methodischen Einheit des Gestalttheorems eine Voraussetzung enthält. Es ist die des «ZuEnde-Denkens». Man hat der Gestalttheorie in der gegenwärtigen Diskussion vorgeworfen, sie habe bei ihrer Kritik des herkömmlichen Prinzipienbestandes ein zu krasses und schematisches Bild gegeben, und man entgegnete darauf, gerade diese Betrachtung auf den Grundzug und die letzten Konsequenzen der Assoziationstheorie hin sei ein gestalttheoretisches Verdienst. Die Theorie wird demnach dem gleichen Verfahren an ihr selbst nicht widersprechen dürfen. Wenn unsere Überlegung hierbei im besonderen Maße die Theoriebildung auf dem Gebiet «physischer Zusammenhänge» 1 2
Ebenda S. 10. Vgl. ebenda S. l, 6, 23.
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Einleitung
heranzieht, so geschieht das deshalb, weil dieser Fragenkomplex für die Einheit der gestalttheoretischen Methode und damit für ihre psychologische Relevanz immer stärkere Beachtung fordert; schließlich liegt hier der Angelpunkt für den Versuch einer Darstellung wie Auswertung des Gestalttheorems. Denn die dabei entstehenden Schwierigkeiten sind nicht geringere als sie Max Wertheimer in einem Vortrag charakterisierte, nachdem er das Grundproblem der Gestalttheorie als G a n z h e i t s p r o b l e m bezeichnet hatte: «Ich habe Ihnen hier eine Formel gesagt und könnte nun eigentlich enden; denn Gestalttheorie ist dieses, nichts mehr und nichts weniger. Dabei geht es aber so: Auch diese Formel wird heute von verschiedenen Seiten in Wirklichkeit oft recht verschieden als Lösung des Problems gelehrt Was kann ich also tun ? Ich kann in dieser Lage nicht recht etwas anderes tun, als versuchen, Sie ein wenig in die Arbeitsstube zu führen.»1 So scheint auch uns zur Bilanz der gestalttheoretischen Methode erforderlich, die Funktion ihrer Begriffe und Ganzprinzipien darauf zu sichten, «wie man an der Arbeit ist, wie in verschiedenen Problemgebieten, in verschiedenen Wissenschaftsgebieten dieses Problem von der Gestalttheorie angefaßt wird.»2 1
. a. . S. 9. Eine solche Notwendigkeit beweist die bisweilen synoptische Tendenz moderner Psychologen, über die Grenzen der verschiedenen Gansheitsprobleme hinwegzusehen. So schrieb z. B. Spranger in seiner Einleitung zu den «Lebensformen» 1925, S. XV: «Was mich betrifft, so fühle ich mich (bei vielen Abweichungen im einseinen), in grundlegender Verwandtschaft mit den Bestrebungen von Köhler, Wertheimer, Stern, — vor allem aber mit E. R. JaenschA — 2
ERSTER TEIL
DIE METHODE
E R S T E R ABSCHNITT Das Gestaltproblem in der Sinnespsychologie. § 3. Die « G r u n d s i t u a t i o n » und das «Gegenüber». «Meiner Meinung nach kann man die Fragestellung der Gestalttheorie erst richtig verstehen, wenn man gelernt hat, sich über den Tatbestand einer sachlichen Gesichtsfeldgliederung zu wundern.»1
Das erste Ziel ist eine Klärung der «Grundsituation». Doch diese prägnant zu fassen, hat eine gewisse Schwierigkeit, weil hier exakte Wissenschaft zu begründen, zu erweisen suchte, was ein selbstverständliches, unmittelbares Phänomen im Lebendigen ist. Extrem gesprochen liegt es etwa derart, wie Wertheimer für den Diskussionsstand in der Sinne s Wahrnehmung einmal formuliert hat: «Ich stehe am Fenster und sehe ein Haus, Bäume, Himmel. Und könnte nun aus theoretischen Gründen abzuzählen versuchen und sagen: Da sind — 327 HeUigkeiten (und Farbtöne). Habe ich 327 ? Nein. Himmel, Haus, Bäume und das Haben der 327 als solcher kann keiner realisieren. Und seien in dieser sonderbaren Rechnung etwa Haus 120, und Bäume 90 und Himmel 117, so habe ich jedenfalls dieses Zusammen, dieses Getrenntsein und nicht etwa 127 und 100 und 100. — Oder ich höre eine Melodie, 17 Töne, mit ihrer Begleitung 32 Töne. Ich höre Melodie und Begleitung, nicht einfach 49 oder wenigstens gewiß nicht normaliter oder ganz nach Belieben 20 plus 29.» 2 Diese ein wenig kraß anmutenden Sätze beleuchten scharf den Ansatzpunkt des Gestalttheorems, der zunächst nur aus dem Gegensatz zu jeder mechanistischen und elementenmäßigen Auffassung zu verstehen ist. Auf solchem Boden erwuchs ja die ganze Fragestellung der Gestalttheorie, eben ihre «Grundsituation», — und will man diese klären, muß man vorerst jene Position der Assoziations lehre gegenüber haben. Wie verstand der Gestalttheoretiker dieses «Gegenüber» ? In der gleichfalls extremen Fassung Wertheimers basiert eben der Elementenstandpunkt in folgendem: «Allem Komplexen liegt zunächst, als Grundlage, die Summe nebeneinander gegebener elementarer 1
Köhler, Gestaltprobleme und Anfänge einer Gestalttheorie, (künftig zitiert als «Gestaltprobleme»). S. 516. 2 Psychol. Forsch. Bd. H. Zur Lehre von der Gestalt II.
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Erster Teil
Inhalte, Bestandstücke (Empfindungen usw.) zugrunde. Man hat es im Grunde mit einer summativen Mannigfaltigkeit von verschiedenartigen Bestandstücken, einem Bündel zu tun, alles weitere baut sich auf der Undsumme der Elemente irgend weiter auf.»1 Diese sogenannte «Mosaik»- oder «Bündelthese» arbeitet im Prinzip mit zwei Voraussetzungen: Dem Zerlegungsprinzip und der Konstanzannahme — und gegen beide richtet sich zuerst die Gestalthypothese.2 Man darf zwar mit Entschiedenheit betonen, daß de facto wohl kaum eine psychologische Theorie existierte, deren Denkweise sich mit der radikalen Simplicität solcher Formulierungen von Wertheimer oder von Koffka decken würde.3 Sicherlich ist die «Bündelthese» in der gesamten psychologischen Theoriebildung nicht derart manifest und existent gewesen, sondern immanent, ein gemeinsamer Grundzug im Sinne des Typischen und Prinzipiellen, eine Grundanschauung und Methode, die bei ihren Vertretern in verschiedenen Variationen abgewandelt zum Ausdruck kam. Aber gerade diese Vereinfachung der Grundvoraussetzungen, auf denen die derzeitige Psychologie fußte, ist in Wahrheit keine Entstellung, sondern — als konsequentes Zuendedenken der Prinzipien — eine Klarstellung des Problems, ganz speziell in der Wahrnehmung. Wie war denn tatsächlich die Sachlage dort, beispielsweise im Optischen ? Es ist nicht zu leugnen, daß jene von den Gestalttheoretikern angewandte Systematisierung sich im Grunde bestätigt.4 Auf der einen Seite betrachtet der Psychologe den Organismus, das Empfindungsorgan (Netzhaut) als passiven Reizempfänger, auf der anderen Seite stehen die Reize. Wie kommt nun die Wahrnehmung, z.B. das Sehen von Figuren hiernach zustande ? Die Figur besteht reizmäßig aus einzelnen Reizpunkten—Zerlegungsprinzip—. Jedem dieser einzelnen Elemente entsprechen im Reizempfänger ebenso singuläre Empfindungen — Konstanzannahme — und deren Summe ergibt das Wahrnehmungsbild. Gegen dieses Grundschema der Analyse und Synthese, nach dem über die Sinnes1
Psychol. Forsch. Bd. I. Zur Lehre v. d. Gestalt I. - Vgl. insbesondere Koffka, Psychologie S. 510/20 und Köhler, der diesen Begriff «Konstanzannahme» wohl zuerst einführte, Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen, S. 52 (künftig zitiert als « Unbem. Empfind.»}. 3 Wenn Bühler unlängst (Die neue Psychologie Koffkas Ztschr. f. Psych. 1926 Bd. 11) diese Schematisierung angreift — so hätte man realiter nicht gedacht — dann ist ihm entgegenzuhalten, daß Koffka selbst seine Darstellung ausdrücklich als typisierende kennzeichnet und begründet. (Psychologie S. 498.) 4 Stumpf schrieb schon 1911, «daß es in Bezug auf die sinnlichen Erscheinungen eine Art von Atomistik gibt». Vgl. Köhler, «Unbem. Empfind.» S. 175.
Die Methode
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gebilde die «Undverbindung» der isolierten Reize entscheidet, richtet sich die Polemik der Gestalttheorie.1 Sie bestreitet die Berechtigung des Zerlegungsprinzips, welches die Wahrnehmungsgebilde in letzte Bestandstücke zerlegt und ihr Zustandekommen durch das «Nebeneinander», bezw. das Zusammentreten eben dieser Elemente erklärt. Sie bestreitet die Konstanzannahme, welche die These der Zusammensetzung aus den Elementen dadurch berechtigt machen soll, daß jedem Reizelement eine Empfindung konstant entspricht. Und sie führt den Kampf auf der ganzen Front der Sinnespsychologie, denn jene gewissermaßen abbildtheoretische Gesetzlichkeit sollte ja auch für die ändern Sinnesgebiete gelten; hier im Optischen soll mit jedem Reizpunkt des Sehfeldes ein Empfindungspunkt auf der Netzhaut korrespondieren, von jedem Punkt der Retina «führt» ein isolierter Nervenleiter zur Einzelzelle im Sehzentrum. Infolge dieser «Leitungshypothese» 2 also werden auch weiterhin die Sehdinge mosaikartig abgebildet, und daher baut sich das Wahrgenommene aus der «Undsumme» der Reizpunkte zusammen. Die Konstituierung des Dinges, die Fassung des Gegenstandes als eines solchen wäre dann das Resultat der Psyche, oder — «des Logos der Psyche ex post». Die Sinnlichkeit per se ist also ein «primär stückhaft empfangender Apparat»,3 dessen «blinde» Impressionen erst rein psychische Faktoren zu sinnvoller Ordnung erheben.4 Hier setzt nun die Frage der Gestalttheorie ein. Gilt nämlich die Mosaikhypothese, wie erklärt sich dann aus einem Mosaik von Empfindungsstücken, daß im Sehfelde, Hörfelde bestimmte Gebilde als zusammengehörig herausspringen, sich abheben, und daß bestimmte Feldteile unbetont bleiben ? 5 Ein Mosaik wäre doch eine Mannigfaltigkeit, ein Nebeneinander von Punkten, von denen keiner einen Vorrang hat, — sie wären indifferent zueinander. Was verursacht die Gegliedertheit des Feldes, warum formieren sich — und zwar gerade nicht beliebig — bestimmte Stücke zu einer akzentuierten Einheit zusammen und andere nicht? 1
Daß diese Schematisierung kein bloßes Phantasma ist, zeigt ja die These Humes und Mach?s (Analyse der Empf.). Vgl. ferner Lindworski's Umrißskizze zu einer theoretischen Psychologie, wo die Trennung in stückhafte Elemente und höhere Funktionen deutlich ist. (Problem der Relationserfassung etc.) - Der Ausdruck stammt von v. Kries (Über die materiellen Grundlagen der Bewußtseinserscheinungen) und wurde von Köhler, Koffka etc. übernommen. 3 Weriheimer, Zur Lehre v. d. Gestalt I u. II. 4 Diese Denkweise steckte oft implicit auch im psychol. Begriff der «Auffassung». Vgl. Koffka, Die Geisteswissenschaften S. 713. 5 Vgl. Köhler, Gestalt- u. Komplextheorie Psychol. Forsch. 6, «Gettaltprobleme», it. Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand, künftig zitiert als «Phys. Gest.».
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Scheidet man mit William Stern zwischen einem «naiven Elementenstandpunkt», der historisch etwa bis zum Auftreten von Wundt und Ehrenfels datiert, und einem «problematischen Elementenstandpunkt», so kann man wohl sagen, daß diese ganzen Fragen zur Charakteristik des phänomenalen Raumes seit Wundt und Ehrenfels — eben als Probleme durchaus da waren. Ja, noch mehr, der Standpunkt der «Reizgeometrie»1 sah sich noch vor ganz andere Fakten gestellt, welche sogar im krassen Widerspruch zur Konstanzannahme und zur Leitungshypothese stehen. Die Forderung des Abbildtheorems, daß Netzhautbild und gesehenes Bild sich auf Grund der starren Leiter- und Punktverbindung entsprechen, versagt vor greifbaren Tatsachen. Die bekannten optischen Täuschungen, die Aufrechterhaltung von Sehgröße, von Farbhelligkeiten und der Sehform sind sämtlich Fälle, in denen Netzhautbild und gesehenes Bild differieren.2"5 Aus all dem entstand jene Situation, die dann dem «problematischen Elementenstandpunkt» eigentümlich ist. Es werden «Zusatzhypothesen»6 gemacht, Ausnahmefälle konstruiert, um diese Erscheinungen der Gegliedertheit des Feldes und der Abweichungen vom Netzhautbild zu begründen; dabei treten im Prinzip zwei Arten von Zusatzhypothesen auf: Einerseits die physiologische, andererseits die psychologische. (Oft werden l und 2 auch kombiniert).7 Die erstere behauptet die Existenz von eingeschalteten Mechanismen zwischen Netzhaut und Sehrinde, welche gewissermaßen als «Retoucheur» des Netzhautbildes wirken. Dies soll die Verknüpfung und Gliederung der Elemente zu Gebilden wie die Abweichungen erklären. So bei G. E. Müller z. B. gewisse «physiologische Kohaerenzfaktoren». Bei James und Mach die «Relationsempfindungen», 1
Vgl. Kohler Anm. 6. Täuschungen: z. B. die Mütter Lyer'schen, die Zöllner'sehen, die Schröder'sehe Treppe, der Necker'sche Würfel etc. 3 Sehgrößenkonstanz: innerhalb gewisser Entfernung, etwa bis 50 m vor dem Auge, erscheinen Gegenstände größer als das Netzhautbild. 4 Farbenkonstanz: Vgl. Katz, Die Erscheinungsweise der Farben etc. (Erg.-Bd. 7 d. Ztschr. f. Psychol.) u. Köhler, Optische Untersuchungen etc. 5 Formkonstam: z.B. die Bevorzugung und Konstanterhaltung des rechten Winkels auch bei perspektivischer Verzerrung auf der Netzhaut. — Ebenso gesehene Kreisfarmen, die fast stets auf der Netzhaut perspektivisch verzeichnet sind. — Ferner das ganze Schwellenproblem im Opt. Z. B. ist die U.-schiedsempfindlichkeit für die Größenverschiedenheit von Rechtecken feiner als für die Größenverschiedenheit von Strecken. Vgl. Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen. 1913. 6 Vgl Köhler, «P/iys. Gest.», «Gestaltprobleme», «Unbem. Empfind.» u. Wertheimer, Zur Lehre v. d. Gestalt I. 7 Bei G. E. Müller, Komplex- u. Gestalttheorie, Physiologische Kohärenzen und die Kollektivauffassung der Aufmerksamkeit. 2
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deren unmittelbares Gegebensein auch Gelb 1911 gegenüber den Gestaltqualitäten von Ehrenfels erweisen wollte.1 Diese Annahmen ergeben die Schwierigkeit, daß eine unendliche Anzahl von «Einzelmechanismen» zu den jeweiligen Leistungen der Verbindung etc. nötig wären, worauf Köhler zuerst hinwies.2 Die andere Zusatzannahme besagt: Zu diesem starren System der Zuordnung treten höhere seelische Prozesse und Funktionen hinzu, welche die Erscheinung der Wahrnehmungs din ge und der Täuschungen bewirken. So finden wir die Apperzeption und schöpferische Synthese von Wundt, die Funktionen bei Stumpf. Auch die Gestaltqualität von Ehrenfels ist im Grunde ein hinzutretendes Moment, nicht unähnlich dem Faktor der «Produktion», den dann die Grazer Schule als unsinnliche, psychische Aktivität zum gestaltbildenden Prinzip erhoben hat.3 Eine ganz große Rolle spielte in gleicher Hinsicht der Faktor: Aufmerksamkeit — als zusammenfassende Funktion bei Müller, als herausfassende schon bei Helmholtz.4 Jaensch weist der Aufmerksamkeit einen gleichwertigen Platz für die visuellen Erlebnisse der Sehdinge, sowohl bei scheinbarer, wie bei adäquater Größe und Lage an.5 Diese gesamte psychologische Denkweise ist außerdem noch durch Arbeitshypothesen der sog. «Urteilstäuschungen» und der «unbemerkten Empfindungen» charakterisiert.6 Das Ausschlaggebende an all diesen Spielarten der Theoriebildung schien für den Standpunkt der Gestalttheorie nun darin zu liegen, daß für die Frage des Zustandekommens von Wahrnehmungsgebilden nicht die Sinnesapparatur unmittelbar in Anspruch genommen wird. Das Charakteristische des «Dinges», seine figurale Abhebung vom Grunde, sein Kontur, eben die «Gestalt» war nicht die unvermittelte Leistung der Sinne, sondern zu dem bloßen Aggregat von Elementen, zur bloßen «Undsumme» der Inhalte werden erst zusammenfassende 1
Adhemar Gelb, Theoretisches über Gestaltqualitäten, Ztschr. f. Psychol. 58, 1911 S. 45,57ff., dort auch Hinweis auf den Fehler, Bestandstücke als solche zu fingieren (S. 19). Übrigens vertritt Gelb heute einen rein gestalttheoretischen Standpunkt. 2 Köhler, «Unbem. Empfind.» S. 57 und Jahresberichte f. d. gesamte Physiologie 1922. 1923. Vor ihm aber schon v. Kries, a. a. 0. S. 21 u. 32ff. 3 Benussi, Meinong, «Fundierter Inhalt und produzierte Gestalt», «Idealität der Gestalt». Bühler läßt nur «einfache Gestalten» als unmittelbar gegeben gelten. 4 z. B. für die Klangfarbe. 6 Jaensch, Zur Analyse der Gesichtswahrnehmung. Erg.-Bd. IV d. Ztschr. f. Psychol. 1909, ebenso Erg.-Bd. VI 1911. 6 Vgl. Helmholtz1 These «der unbewußten Schlüsse» und Stumpf «Erscheinungen und Funktionen». — Die Nennung der verschiedenen Stellungnahmen zu dieser Frage macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit, handelt es sich ja nicht um historische Aufreihung, sondern um die Problemlage; so wäre u. a. noch Cornelius zu nennen. 2
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Mechanismen oder höhere Funktionen hinzugedacht, welche Struktur und Gliederung des Wahrnehmungsfeldes bewirken, und jene Eigenschaften des phänomenalen Raumes mitsamt den Täuschungen und den Dingqualitäten bedingen sollen. Fragt man nach den eigentlichen Grundvoraussetzungen, welche wissenschaftstheoretisch diese Haltung der Psychologen begründen und zu jener Aufspaltung wie Trennung des Seelenlebens in solche «höheren» und «niederem) Prozesse fährten, so erweist sich als historisches und systematisches Fundament im weitesten Sinne wohl das Philosophen! des Empirismus. — Im Aufriß etwa derart: Auf der einen Seite geht der Weg zurück zu Locke und Hume1 und der ganzen Assoziationspsychologie, die dann bei Herbart kulminierte; in anderer Richtung ist es der Materialismus und Positivismus der naturwissenschaftlichen Methode im XIX. Jahrhundert, der sich an die Namen Lange («Psychologie ohne Seele»), J. Mill und J. Stuart Mill, Büchner, Helmholtz, Fechner bis Mach und Avenarius knüpft. Wiederum — vom gestalttheroetischen Standort aus schematisch gesehen — ist dort gemeinsames Kennzeichen der Leitgedanke, daß man Gesetzmäßigkeit und Wesen des Gegebenen dann adäquat zu erfassen imstande ist, wenn man lediglich die Erfahrung in ihre letzte Bestandteile zerlegt und in Wirkungen einzelner voneinander unabhängiger Kausalketten auflöst. Das grandiose Wiederaufleben des Atomismus und der «additiven » Methodik in der Naturwissenschaft wirkte auch dann noch auf die Prinzipien der psychologischen Forschung nach, als in der Physik schon längst mit der Erkenntnisform der «Funktionsbegriffe», mit der Einführung des «Feldbegriffes» und des «physikalischen Systems» eine Hinwendung zum Dynamischen eingetreten war, und nur noch gleichsam die «Euthanasie» dieses mechanistisch positivistischen Problems zu konstatieren blieb. In der Psychologie ist gerade der «problematische Elementenstandpunkt» bezeichnend für die Lage, in der man, immer noch orientiert am Exaktheitsideal einer atomistischen Naturwissenschaft, alle solche Erscheinungen des Psychischen, die mit der bisherigen Denkweise nicht zu bewältigen waren, in die Sphäre der höheren Prozesse verwies. Und so kommt es zu jener «Entseelung» der Sinnlichkeit, deren Funktion nur summative Verbindung von Inhalten bedeutet, zu welcher dann auf höherer Stufe die unkontrollierbaren, komplexbildenden Tätigkeiten des Willens, der Aufmerksamkeit, des Urteilens hinzukommen. Jede Gestaltung und Ordnung im weitesten Umfang ist dann letztlich 1
rück.
Der Wertheimer'sche Ausdruck > kurz vor dem Optimalstadium; sonst in jedem Falle Bewegung auch ohne ..Identität; vgl. S. 30 ebenda. 2
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L
II «Hierbei nun erscheinen die beiden Objekte in besonderer Weise als Duo in uno, als zwingende G e s a m t g e s t a l t : Nicht etwa zwei Linien von einem Punkt ausgehend sind da, sondern ein Winkel » Es wird also Bewegung gesehen, wo objektiv keine solche vorhanden ist, Drehung einer Linie, wo objektiv 2 Streifen getrennt erscheinen, Einheit der Form erlebt, wo objektiv zwei einzelne Striche nacheinander in Winkelform auftreten etc. Dieses -Phänomen gewinnt noch an Gewicht durch den experimentellen Nachweis, daß beim Bewegungserlebnis keinerlei Unterschied zwischen dargebotener, realer Bewegung und bloßer Sukzessivexposition besteht (im Optimalstadium). Der ganze Fragenkomplex: Einfluß von Aufmerksamkeit oder gar von Augenbewegungen wird klargestellt, indem diese Faktoren ausgeschaltet werden: Bei besonderer Versuchsanordnung können sogar zwei Scheinbewegungen nach entgegengesetzter Richtung im selben Bewegungsfeld erzeugt werden.2 Ebenso zeigen Nachbildversuche das -Phänomen. Solche Leistungen konnten weder der Aufmerksamkeit noch sonstigen «indirekten» Faktoren zugeschrieben werden.3 Aus dem Kreis der möglichen Argumente gegen die Unmittelbarkeit des Phänomens bliebe vielleicht noch übrig: als unbemerktes Urteil, als unbemerktes Urteil nämlich auf Grund assoziativer Erfahrung. Weil ich gewohnheitsmäßig bei gewissen Sukzessionsgeschwindigkeiten auf eine Bewegung der sukzedierenden Reize schließe, fälle ich auch hier das gleiche, allerdings unbemerkte Urteil. Körte untersucht und erweitert den Bereich des -Phänomens, indem er bei Konstanterhaltung der Zeitdifferenz die Intensität und den Raumabstand der Lichtreize variiert.4 Unter Beibehaltung der für das Optimalstadium notwendigen Zeitdifferenz entsteht alsdann: Sukzessiveindruck, wenn die Intensität vergrößert oder der Abstand verkleinert wird. 1
Experim. Stud, über das Sehen von Bewegung S. 91. Vgl. S. 24 a. a. 0. Dies scheidet auch die Erklärung durch «Verschmelzung» oder «Assimilation» im Sinne Wundt's aus. (Grundzüge d. physiol. Optik 1910/11.) 3 Hingegen erwies sich die Rolle der Aufmerksamkeit im allgemeinen als begünstigend für das -Phänomen, wenn auch nicht als Ursache desselben. Vgl. S. 51/52. — Besonders kraß ist auch der Fall des Auftretens von Scheinbewegungen bei Sukzessivdarbietung der Schattenbilder zweier Stäbe in l m Abstand. Der Schatten «wandert» deutlich sichtbar. Wertheimer ebenda S. 20, Anmerkung 2. 4 Kinematoskopische Untersuchungen Ztschr. f. Psychol. 72 und in Beiträge z. Psychologie d. Gestalt. 2
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Simultaneindruck, wenn die Intensität verkleinert oder der Abstand vergrößert wird. Das nach dem Wertheimer'schen Ausgangsexperiment beim Optimalstadium zu erwartende Bewegungsphänomen bleibt demgemäß aus, wenn Raumabstand oder Lichtintensität verändert werden, und statt Bewegung tritt die bloße Sukzession oder die Simultaneität auf. «Vom Suk. kommt man also zum Opt. und schließlich zum Sim. außer durch Verkürzung von p (Zeit), durch Schwächung von I oder Vergrößerung von S (Abstand).»1 Damit scheint der Erklärung aus Gewohnheitsassoziation der Weg abgeschnitten, denn da der Zeitabstand, in dem ich die Reizfolge erlebe, nicht allein auschlaggebend ist, kann er weder überhaupt ein Gewohnheitsurteil auslösen, noch dort Bestandteil eines unbemerkten Urteils bilden, wo sich herausstellt, daß die drei subjektiven Stadien: Bewegung, Simultaneität und Sukzession von mehreren objektiven Variablen abhängig sein können. Die Sachlage wird indessen noch eindeutiger durch folgende Nachweise: Schon Exner hatte vor Wertheimer gegenüber Linke u. a. festgestellt, daß der Bewegungseindruck ebensowenig an ein Identitätserlebnis wie an zwei Objekte überhaupt gebunden ist; mit dem Wegbleiben von Objekten als «Trägern» der Bewegung muß also auch die Assoziationshypothese fortfallen, nach welcher ja das reproduzierende Urteil «Objekte» zur bedingenden Voraussetzung hat. Es braucht hier nicht auf das Experiment zurückgegriffen werden, bei dem eine weiße Marke zu -Phänomenen Anlaß gab, obwohl sie im peripheren Sehfeld, also kaum wahrnehmbar geboten wurde. Daß Reize an einer sonst nicht empfindungsfähigen Zone Bewegungserscheinungen auslösen, hat in noch stringenterer Weise die Entdeckung des Bewegungssehens im blinden Fleck gezeigt.2 Die Sukzessivexposition zweier auf einer Vertikalen gelegenen Lichtpunkte, die in den blinden Fleck fallen, ergibt für folgende drei Versuchsanordnungen s t e t s Bewegungseindruck: I. Die Punkte reizen außerhalb an der Randzone, sodaß der blinde Fleck zwischen ihnen ist. II. Ein Punkt liegt außerhalb, der andere im blinden Fleck. III. Beide Punkte liegen im blinden Fleck. Hierbei besteht deutlich gekurvte Bewegung eines diffusen Gebildes. Diese Zone erweist sich demnach als geeignetes, ja sogar als 1
Koffka, Probleme der experim. Psychologie II. Über den Einfluß der Erfahrung auf die Wahrnehmung. (Die Natw. 1919.) 2 Koffka, New experiments in the perception of movement, VII international Congress of Psychology. Später: Bewegungssehen im blinden Fleck von Annie Stern. Psychol. Forsch. 7, 1926.
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«ausgezeichnetes» Gebiet für Bewegungssehen, da das Optimalstadium unter dem normalen liegt: Sukzessivgeschwindigkeiten, die bei ändern Netzhautstellen noch kein -Phänomen erzeugen, erzielen dies bereits im blinden Fleck. Das entscheidende Resume dürfte indessen Koffkas Formulierung wiedergeben: «Die psychologische Ableitung der Bewegungswahrnehmung aus den einzelnen Empfindungen ist ganz unmöglich, da hier einzelne Empfindungen gar nicht auftreten können.»1 Welche methodische Bedeutung haben diese Resultate für die Diskussion ? — Hier war eine Bresche geschlagen in das Fundament der Elemententheorie. Die Beziehung Reiz — Empfindung verlor ihre Konstanz und Starrheit, denn innerhalb dieser Funktion, und nur dieser, mußte das -Phänomen seinen Ort haben, da alle sonstigen dazutretenden psychischen Wirksamkeiten außer Betracht waren. Es muß also statt der Konstanz eine andere Verbindung Reiz — Empfindung gesucht, das Wesen der nun funktionalen, nicht mehr fixen Beziehung gefunden, und ihre Gesetzlichkeit herausgestellt werden. (Zugleich wurde eines deutlich: Synthese und Analyse leisten nicht das Erforderliche zur Erklärung des -Phänomens, denn gerade die unmittelbar erlebte Ganzheit der Bewegung war ein Anderes, war mehr als die Aufeinanderfolge der Reizempfindungen, — nicht in sie auflösbar und auch nicht als ihr Kompositum denkbar.) Galt solches für das Faktum, daß uns nicht einmal Bewegung als bloßes Nacheinander verschiedener Ortslagen eines Punktes, sondern grundsätzlich als Ganzes gegeben ist, gleichgültig, ob es sich um echte oder um Scheinbewegung handelt (Film z. B.), so mochte dieser Anspruch es um so mehr rechtfertigen, jetzt ähnliche unmittelbare Ganzheitserscheinungen schon bei Simultaneität der Reize zu suchen. Das eindeutige Ergebnis des ersten Schrittes—beim -Phänomen — läßt sich in Umkehrung der bisherigen Denkweise im Prinzip kurz so formulieren, daß bei genügend schneller Abfolge die einzelnen Reize nicht gesondert jeder für sich wirken, sondern im Ganzen aufeinander bezogen sind: «Bewegungswahrnehmung als ganze erfolgt als einheitliche Reaktion auf die Mehrheit äußerer Reize.»2 Gibt es solche primären Reizbezogenheiten auch simultan, gibt es Raumgestalten, wo ebenfalls der Sinnesinhalt mehr und ein anderes darstellt als die bloß summierten Empfindungen ? Um den Nachweis in gleicher Reinheit, — Fernhaltung aller so1 2
New experiments usw. S. 373. Koffka, New experiments usw. a. a. 0.
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genannter «höheren Faktoren» — zu führen, greift man zum Tierexperiment. Köhler zeigt bei Hühnern und Anthropoiden, daß der Beziehung zwischen zwei optischen Reizinhalten eine eigentümlich primäre Funktion als Ganzheit zukommt. Man dressiert die Tiere z. B. darauf, zwischen zwei gleichgeformten Nahrungskästen, von denen der eine hellgrau, der andere dunkelgrau ist, den hellgrauen zu wählen (bei Hühnern Futtertafeln). Dann entfernt man den dunkelgrauen und ersetzt ihn durch einen hellgrauen Kasten, der jedoch heller als der erste hellgraue ist. Der Aufhellungsgrad wird dabei so gewählt, daß die Differenz der Helligkeitsstufen bei der neuen Versuchsanordnung die gleiche wie in der alten ist. Die Tiere wählen nunmehr den neuen hellgrauen Kasten, der gar nicht in der Dressur auftrat. Sie waren füglich auf ein bestimmtes Farbenpaar in seiner strukturellen Beziehung, auf das «Zueinander», und nicht auf einen einzelnen Kasten oder eine einzelne Farbe eingestellt, die Farbe hatte lediglich «Gliedcharakter» innerhalb eines Paares.
Seihst dann also, wenn einer der beiden Inhalte durch einen neuen unbekannten und nur relationsmäßig gleichen Inhalt ersetzt wird, richtet sich die Reaktion des Tieres gleichwohl nach der ursprünglichen Struktur, die zwischen den beiden Reizen bestand. Es konnten demnach sogar die Elemente verändert werden, ohne daß das optische Gesamterlebnis ein anderes wurde.1 Das Ganze — und dieses erweist gerade das Experiment auf tierischer ErJebnisstufe — hat also Qualitäten, die nicht aus den Teilen addierbar sind. So wird auch für simultane Konfiguration der Empfindungsbegriff der Elemententheorie aus seiner beherrschenden Stellung in die untergeordnete Abhängigkeit vom Gesamterlebnis verwiesen und relativiert. Die Funktion von Reiz und Erlebnis erweist sich als eine ganzheitsbedingte. Um das Wesen dieser funktionalen Beziehung in seiner neuen Gesetzlichkeit zu fassen, muß gefragt werden, woher diese Wirksamkeiten des Ganzen stammen, und die Antwort trifft wohl ein Leitmotiv des Gestalttheorems: Das Hauptgewicht wird jetzt von den dem Organismus aufgezwungenen Reizen auf die «Eigenschwingungen» des psycho-physischen Apparates verlegt.2 Diese Eigentätigkeit des Organismus unterliegt jenen «konkreten» Ganzgesetzlichkeiten und wirkt sich derart aus: Reize können niemals gesondert auf die Sinne wirken, sondern sind stets in funktionaler Gesetzlich1
Köhler, Nachweis einfacher Strukturfunktion usw. 1918. Kohler hat diese Versuche noch derartig variiert, dass eine «Stück-Dressur» ausgeschlossen erscheint. (Entfernen des hellgrauen Kastens und Ersetzen durch einen dunkelgrauen, — dunkler als der vorhandene dunkelgraue —, Vertauschen der Ortslagen etc.) 2 Vgl. Koffka, Die Unterschiedschwelle (Die Natw. 1917). ebenso Zur Grundlegung der Wahrnehmungspsychologie. Eine Auseinandersetzung mit V. Benussi, Beiträge zur Psychologie der Gestalt Bd. I, (künftig zitiert als »Grundlegung»): «Endlich ist die Beziehung Reiz-Erlebnis dadurch kompliziert, daß der Zustand des Gesamtnervensystems in sie eingeht. Dieser Gesamtzustand ist von Einfluß sowohl auf die Qualität des entstehenden Erlebnisses wie auf dessen Einheitlichkeit» (s. S. 249, 52).
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keit aufeinander angewiesen und zueinander im Ganzen bezogen. Diese Bezogenheit ist primär, sie entspricht der vom Ganzen zum Teil und ist nicht aus den Eigenschaften der einzelnen Inhalte ableitbar. Es liegt also in der «Gestalt» eine zwar reizabhängige, aber unmittelbar eigene Leistung der «Sinnlichkeit» vor.1 Zur Veranschaulichung rekurriert man hier oft auf die Arbeiten Rubins «Über visuell wahrgenommene Figuren», welche die Beziehung zwischen Figur und Grund spontan zur Anschauung bringen.2 Einige Beispiele seien erwähnt, um das Zwingende der Gestalthypothese konkret zu machen. Man betrachte eine Reihe von vielen Punkten, in Dreieckform angeordnet. Bevor man weiß, wieviel Punkte da sind, sieht man — ein Dreieck. Oder man betrachte acht senkrechte Linien, die paarweise angeordnet sind3:
Bevor man sich überhaupt bewußt ist, wieviel Linien da sind, «hat» man Streifen oder Balken, und daß solche Streifen da sind, hängt offenbar von der Stellung der Linien ab; d.h. man «hat» gar nicht einzelne Linien, sondern ein « Z u e i n a n d e r » von Linien im Ganzen, aus dem sich Streifen herausheben, und als «belebt», eindringlich von dem dazwischenliegenden toten Grund unterschieden sind. Gerade an diesen simplen Fällen wird deutlich, daß die Schwierigkeit des gestalttheoretischen Problems im Selbstverständlichen liegt, wie es Köhler einmal andeutete.4 Hat man es doch für selbstverständlich gehalten, daß die Wahrnehmung eines einzelnen Stückes leichter sei, 1
Vgl. Koffka, Die Grundlagen der psychischen Entwicklung. Eine Einfuhrung in die Kinder psychologic, künftig zitiert als «Psych. Entw.», S. 212. Hieraus bedingen sich auch die Täuschungen. 2 Neuerdings hat auch Sander instruktive Figuren von frappanter Gestaltwirkung veröffentlicht (Neue psychol. Studien 1926, vgl. dort auch Ipsen über das Sandersche Parallelogramm). 3 Köhler, «Phys. Gest.», S. 183 und Koffka ähnlich «Psychologie» S. 518. Das Linienexperiment stammt von Schumann 1898. 4 Vgl. hier S. 13 Zitat von Köhler.
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als das Erfassen von etwas Komplexem, wogegen Köhler in seiner Kontroverse mit G. E. Müller's Komplextheorie an Hand obiger und ähnlicher Beispiele bewies, daß rein subjektiv die singuläre Auffassung schwerer und nicht leichter ist. Jene Vermutung, daß die Perception bei den atomaren Letztheiten beginne und der apperzeptive Akt die Kollektivität erst schaffe, ist mithin in ihrer direkten Umkehrung richtig. Wie die einfache Überlegung zeigt, müßten sich z. B. mehrere kollektive Akte «übereinander türmen», wenn man das Lesen eines gedruckten Satzes verstehen wollte, als das Nacheinander von I. dem zusammenfassenden Aufmerksamkeitsprozeß an den Bestandstücken des Buchstabens; II. dem Zusammenfassen der Buchstaben zum Wortbild und III. dem Integrieren der Wortbilder zum Satzgefüge. Nicht allein die unwahrscheinliche Zahl der erforderlichen Akte spricht gegen solche Posteriorität eines durch «Beachtung» entstandenen Ganzen. Auch schon Bühler wies 1913 darauf hin, daß es nicht die Beachtung sein könne, die gebildeschaffend wirkt, denn dann müßte alles Nichtbeachtete auch nicht gestaltet erscheinen.1 Gerade das «Sich-Aufdrängen» der Gesamtform vor einzelnen bemerkten Elementen hat z. B. Seifert 1917 in einem tachistoskopischen Experiment grundsätzüch festgestellt.2 Seine Vps. sollten während der Exposition an punktierten Umrißfiguren ein farbiges Glied beobachten, das die schwarze Punktreihe unterbrach. Der «Abstraktionsversuch» erwies das zwangläufige Prius der Beachtung des Ganzen trotz der herausisolierenden Einstellung. Die hier angeführte Tatsache, daß die Gestalt erfaßt wird, bevor ihre Teile erfaßt sind, kann vielleicht die methodische Drehung des Gestalttheorems deutlich machen, die eben letztlich darin gipfelt, daß nicht mehr nach den Bestandmomenten als ersten gefragt wird, sondern danach, ob nicht die Gliederung das Zuerstgegebene, ob nicht das Ganze das primär und unmittelbar Wahrgenommene ist.3 Der aristotelische Gedanke wird hier erneut fruchtbar, wenn man ihn gestalttheoretisch interpretiert: «Das Ganze ist früher als die Teile und mehr als die Teile». Und so läßt sich aus der gekennzeichneten «Grundsituation» heraus das Doppelproblem4 der gestalt1
Vgl, Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen 1913 u. jetzt auch E. Brunswick, Prinzipienfragen d. Gestalttheorie 1929 in Beiträge zur Problemgeschichte der Psychologie. 2 Zur Psychologie der Abstraktion und Gestaltauffassung Ztschr. f. Psychol. 78. 3 Erinnert sei auch an die komplizierte Punktbemalung von Götzen bei Indianern, deren Zahlkategorien gar nicht für soviel Punkte ausreichen; gleichwohl ist die Punktkonstellation im Ganzen stets reproduzierbar. (Wertheimer, Über das Denken der Naturvölker Zahlen und Zahlengebilde, künftig zitiert als « Denkend. Naturvölker» S. 109.) 4 Vgl. Köhler, Gestalt- und Komplextheorie.
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theoretischen Methodik im Bereich der Sinnespsychologie kurz so formulieren: Einerseits, wie entstehen überhaupt Gebilde in der Wahrnehmung ? Andererseits, wie erklärt es sich, daß diese Gebilde mehr, anders sind als die Summe ihrer Elemente und zugleich der objektiven Dinggeometrie des Umraumes entsprechen ? Die erste Frage beantwortet sich durch die neue Funktion von Reiz und Erlebnis, kraft welcher die Gestalt als Ganzbezogenheit der Reize qua Sinnesprozeß verstanden wird. Analog schreibt Wertheimer: «Das Gegebene ist an sich in verschiedenem Grade „gestaltet". Gegeben sind mehr oder weniger durchstrukturierte, mehr oder weniger bestimmte Ganze oder Ganzprozesse, mit vielfach sehr konkreten Ganzeigenschaften, mit inneren Gesetzlichkeiten, charakteristischen Ganztendenzen, mit Ganzbedingtheiten für ihre Teile.»1 Dementsprechend wandelt sich dann die starre Punktualität de» alten Empfindungsbegriffes um. «So wird Empfindung zu etwas Relativem, ein und derselbe Inhalt kann einem ändern gegenüber als „Empfindung", einem Dritten gegenüber als Wahrnehmung (Gestalt) aufgefaßt werden, je nachdem wo die Analyse anfängt und aufhört (z. B. die Linie: sie ist Empfindung gegenüber etwa dem Quadrat, Gestalt gegenüber dem Punkt.)»2 Die andere Seite des Problems führt im Grunde auf die Rechtfertigung der jeweils zustandegekommenen Gestalt, nicht das generelle «Wie» des phänomenalen Raumes ist zu klären, sondern sein jedesmaliges «Warum». In diesem Warum ist implizit eigentlich erst der Kern der Gestalthypothese zu suchen und explikativ ihre Methode bis hinein in die philosophischen Grundlagen und Konsequenzen zu verfolgen. Das Phänomen der Gestalt als eines Totalgebildes, das «aus Wirkungen artgleicher Eigenschaften seiner Teile nicht zusammensetzbar ist»,3 scheint gesichert. Weshalb aber entstehen solche Ganzheitsgebilde — Dinge — in der Wahrnehmung, warum nämlich gerade diese und nicht andere Ganzbezüge ? 1
Z. Lehre v. d. Gestalt. Koffka, Psychologie d. Wahrnehmung. Die Geisteswissenschaften S. 716. Daß diese Einsicht auch bei Fachpsychologen auf Denkschwierigkeiten stößt, zeigt die Überlegung G. E. Müllers, im Prinzip sei das Empfindungskorrelat von isolierten Teilgegebenheiten nicht unterschieden von dem Gestalterlebnis der zusammengefaßten Teile, — wofür er folg. Beispiel anführt: l und 0 geben isoliert gesehen nicht viel anderes als 10; M. setzt also als Elemente die l und die 0, die selber schon Gestalten sind, denn auch sie müßten noch in Teile zerlegt werden. Man erkennt hieran die «Hemmung» eine Gestalt wirklich aufzulösen, denn die «Empfindung erscheint als ein Produkt der Analyse» (Koffka, «Grundlegung», S. 249). 3 Köhler, «Phys. Gest.» S. I, Komplex- und Gestalttheorie. 2
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Es wird bisweilen von der Gestaltpsychologie nicht zulänglich geklärt, daß die «Gestalt» zunächst keinerlei konkreten oder realen Tatbestand der «Außenwelt» bedeutet, sondern vielmehr einen Prozeß der Sinnesapparatur. Der extramentalen, «äußeren Dingwelt» gegenüber gilt vorerst für den Gestalttheoretiker tatsächlich der Gesichtspunkt vom bloß geometrischen, indifferenten «Nebeneinander».1 Und daher entsteht innerhalb der Gestaltung selbst wiederum die Frage, die man als Problem der «Beliebigkeit» und der «sachlichen Gesichtsfeldgliederung» immer von Neuem antrifft: Weshalb unterliegen gerade solche Konstellationen von «Außenreizen» der Gestaltbildung, die für uns als Dinge, Gegenstände in der natürlichen Umweltsbeziehung Bedeutung erlangen ? Extrem gedacht liegt es so, wie Köhler einmal die Frage aufwarf, weshalb man von einem auf dem Tisch stehenden Tintenfaß nicht einen Teil mit dem Tischtuch zusammensehen, zu einem optischen Gebilde vereinigen könne.2 Es bereitet füglich einen gewissen Widerstand, sich die «Nichtbeliebigkeit» in der Strukturierung vom Selbstverständlichen zum methodischen Bewußtsein zu bringen.
Man betrachte die obige Punktreihe,3 welche unmittelbar in Gruppenform gesehen wird und versuche nun statt der Paareinteilung Dreier — Gruppen zu sehen, indem jeweils der erste Punkt der folgenden als zur vorigen Gruppe gehörig gefaßt wird. Es gelingt kaum; und an der Schwierigkeit des eventuellen Erfolges erweist sich gerade das Nichtbeliebige der Gestaltwahrnehmung, denn dies Gelingen bedeutet eine Gestaltzerstörung. (Handelt es sich hier ja im Prinzip um ähnliche Konstellation wie beim Vexierbild.) Demgegenüber scheint jedoch der Einwand nahe zu liegen, daß gerade das Auftreten von mehrdeutigen Figuren gegen solche fixierten Bindungen der figuralen Erfassung spricht, so etwa die bekannten Inversionsbeispiele Rubins und v. Hornbostels. Indessen zeigt die genauere Analyse, wie eben jene Mehrdeutigkeit nicht nur in der Zahl der Möglichkeiten begrenzt ist, sondern diese Möglichkeiten unmittelbare Funktionen der «Ganzgesetze» sind. «Die Mehrdeutigkeit heißt 1
In «Phys. Gest.» betont Köhler ausdrücklich die bloß geometrische Verteilung im Wahrnehmungsfeld dem objektiv physikalischen Sinne nach. (S. 49, 194ff.) 2 Komplex- und Gestalttheorie, ferner auch «Gestaltprobleme» S. 518/20. 3 Aus Weriheimer, Zur Lehre v. d. Gestalt II.
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einfach Abhängigkeit von vielen Variablen, die Gesetze, die alle diese Abhängigkeiten beherrschen, müssen gesucht werden.»1
fj|Bei diesem Muster, das primär als eine Reihe von T's präsent ist, ergibt Einstellungswechsel ein Verschwinden der T's zugunsten eines Blattmusters. Wollte man — wie es auch geschehen ist — daraus folgern, daß, weil zum Entstehen der Blattgestalten ein besonderer Akt erforderlich ist, das «Gestalt-Haben» ü b e r h a u p t der Effekt eines Aktes der Aufmerksamkeit sei, so müßte man auch beweisen können, daß schon das unmittelbare Gegebensein der T-form einer solchen Aktivität entspringt. Weshalb aber, so fragen Köhler und Koffka mit Recht, ist ein Aktbewußtsein nur in dem zweiten Fall, der Inversion nämlich, und nicht bei der zuerst gesehenen T-figur da ? Es geht also weder an, die ganzbedingte Einheitsbildung in die Aufmerksamkeitssphäre zu verweisen, — deren unkontrollierbare Funktionen das Beliebigkeitsaxiom involvieren —, noch geht es an, die Abhängigkeit der vieldeutigen Figuren von mehreren Variablen schon gegen die Gestalthypothese auszuwerten. Was sind nun diese Variablen ? Titchner führt zwar das Dasein der T's darauf zurück, daß letztere « on the upper level» die Blätter «on the lower level of consciousness» liegen. Der Aufmerksamkeitsprozeß hebe das schon vorher wahrgenommene Blatt bei der Inversion in's Bewußtsein — wodurch das T unter die Bewußtseinsschwelle sinke.2 Die hier enthaltene K o n s t a n z a n n a h m e besagt folglich: Empfindungsmäßig sind beide Figuren vorhanden, es wird jeweils nur eine nicht «bemerkt». Die phänomenale Analyse zeigt aber nichts davon, vielmehr «habe ich» entweder die eine Gestalt und die andere nicht, oder umgekehrt; alles andere ist eine, wenn auch «unbemerkte» Erschleichung: «If I wish to describe truely I must report positively what that part of the total phenomenon looks like which lies at the so called basis of attention: for it is not a description of it to tell how it does not look.»3 1
Koffka, «Grundlegung») S. 236. Die Ganz-Bedingtheit der mehrdeutigen Figuren siehe Wertheimer, Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, künftig zitiert als «Bewegungssehen» S. 92. 2 Vgl. Koffka, Perception an Introduction to the gestalttheorie. The Psychol. Bulletin 19, 1922, S. 559. 3 Koffka, ebenda S. 560.
Erster Teü
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Tatsächlich ist es eine falsche Beschreibung zu sagen, beim Fixieren des T sei das außerdem Gesehene ein nicht bemerktes «Blatt»; — hingegen ist das außerdem Gesehene Grund. Denn beim Umschlagen einer Inversionszeichnung ist es unverkennbar, daß in dem Augenblick, wo der eine Teil Figurqualität gewinnt, sich dieser einheitlich zusammenschließt, während der andere, seinen Figurwert verlierend, auseinander fließt, in diffusen Grund übergeht. Macht man sich die Charakteristik von Hornbostels zu eigen, daß eine Figur zu invertieren dem gleich komme, etwas «konkav» zu machen, was «konvex» ist, so trifft man in dem Begriff «konvex» die typische Einheitsund Geschlossenheitsqualität der Gestalt im Gegensatz zum Grund wieder an; zumal es erwiesenermaßen schwieriger ist, vom Konvexen zum Konkaven zu kommen, als umgekehrt.1 Mehrdeutigkeit ist nunmehr daraus zu begreifen: Das Gesamtfeld bietet dem Ganzheitsbezug der gebotenen Reize zwei Möglichkeiten der Einheitsbildung, so daß phänomenal eine Gleichwertigkeit von Figur und Grund besteht und der jeweilig hervortretende Charakter unter bestimmten Beobachtungsbedingungen gegeben ist. Dieser Wechsel im Figur- und Grundverhältnis muß nach alledem von denjenigen objektiven Faktoren mitbedingt sein, welche die Erscheinungsweise von Figur und Grund als «etwas» und «nichts» im Wahrnehmungsganzen überhaupt beherrschen. Gewissen Einblick in eine Reihe solcher Faktoren gibt eine Analyse Köhlers an Hand der Schumann'schen Zeichnung.
II
«The members of the same quality (what ever it may be) form groups and.. a new group begins, where we have a change in the quality of members.»2 Die Reizänderung bei II bewirkt, daß die Gruppierung von I zerstört und ein Grundbereich geschaffen wird, der vorher Figur war: 1
Vgl. v. Hornbostel, Über optische Inversion, Psychol. Forsch. Bd. I. Köhler, An aspect of gestaltpsychology. The Pedagogical Seminary and Journal of genetic Psychology. Vol. XXXII 1925, Nr. 4, S. 698. 2
Die Methode
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«Only so long as we had uniform white in the neighbourhood of our first group did this group exist. I change conditions in this neighbourhood and what was the interior of a unit now becomes a gap between the others.»1 Das Gesetz solcher Wandlung von Infeld und Umfeld läßt sich nun an einem Beispiel des gradweisen Vermehrens derartiger Lineatur verfolgen, wobei der Schwerpunkt auf den objektiven Distanzverhältnissen liegt:
Bei Betrachtung der drei Stufen mit anwachsender Strichzahl folgert Köhler: Auf der ersten Stufe haben wir drei Streifen xind nicht ohne weiteres sechs disparate Linien; sofern Linien da sind, sind sie als «Teile von etwas Ganzem» da. Dieses jeweilige Ganze hebt sich von dem umliegenden Feld ab, es scheint gewissermaßen über einem Grund zu schweben. Daß jedoch solche phänomenale Ordnung nach Streifen resultiert, hat seinen Anlaß in der Geometrie des Sehfeldes, nämlich den objektiven Abständen und Eigenschaften der Stückreize. .... «It is an extreme example of the fact, that with neighbours of equal properties given, group units are formed.»2 Damit ist der übergeometrische, subjektive Einheitscharakter des «being one» an der Gradnähe und Gleichartigkeit der Elemente b e d i n g u n g s m ä ß i g erläutert. «How real it is (the phenomenon of group formation) we can feel by trying to form other groups in the series.»3 1 2 3
Ebenda S. 707. Köhler, An aspect of gestaltpsychology, a. a. 0., S. 699, Ebenda S. 696.
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Auf der zweiten Stufe tritt die Abhängigkeit der Gestaltbildung von objektiven Faktoren etwas prägnanter hervor. Die Hin zufügung eines Striches verwandelt ein Gebiet des bisher mit Grundcharakter behafteten Umfeldes zur Figur; es ist etwas «Streifiges» da, welches aus drei Strichen besteht und sich gegen das übrige Feld abhebt, zusammenschließt. Die Ursache ist zweifellos die, daß der Abstand der neuen Linie die Entfernung der bisherigen wahrt. «Perhaps we have two different principles, that of distance and that of inclosing».1 Auf der dritten Stufe wird offenbar, daß die Hinzusetzung von Strichen eine neue Raumausfüllung erzeugt hat, in der allerdings die ursprüngliche Gruppenform und die früheren Linienpaare erhalten blieben. Aber die alten Linienpaare sind in dem neuen Gliederungsgefüge keine autonomen Einheiten, sondern sie sind Teilmomente eines größeren Verbandes geworden, so daß sie selbständig gar nicht mehr existieren. Zugleich erkennt man: bei weiterer Vermehrung der Striche wird die Gruppenbildung so weit fortschreiten, daß überhaupt keine agnoszierbaren Teile mehr vorhanden, und schließlich nur noch drei schwarze Flächen gegeben sind. «Some steps more and the areas of our groups are uniform black rectangles, everybody looking an the page would see these «three dark forms».2 Wir sind somit von der ganzgesetzlichen Konstituierung der Gestalteinheit zur Konstituierung der Fläche überhaupt gelangt; und das hier phänomenal erzeugte homogene Farbfeld soll im Prinzip von denselben Faktoren des Abstandes und den Eigenschaften der Stücke abhängig sein wie der sonstige gestalthafte Gefügecharakter. Es handelt sich grundsätzlich um die gleiche Reaktionsform der Sinne. Ebenso ist in den angegebenen Bedingungen das Wesentliche der gestalttheoretischen Herleitung des D in g Charakters zu suchen, denn wir lesen: «Wherever ??a thing" is visible as „one" and as something solid the same principles are concerned which we first became acquainted with in the formation of groups.»3 Die Funktion Reiz — Erlebnis ist nunmehr auch nach der objektiven Seite inhaltlich bestimmter. Nach dem Resume Köhlers ist «unit a function of the qualitative and spatial relations of stimulation.»4 Letzten Endes erscheint demzufolge die «sachliche Gesichtsfeldgliederung» als ein funktionelles Korrelat der Geometrie des Um1
Ebenda Ebenda 3 Ebenda * Ebenda 2
S. 697. S. 699. S. 699. 709.
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raumes mit seinen natürlichen oder von Menschen gemachten Flächen. Diese Gliederung kann aber, wie die Gestalttheorie erwies, nicht deshalb dem extramentalen Beieinander entsprechen, weil sie dasselbe mosaikartig abbildet, denn alsdann gäbe es nur jenes unabgestufte, unakzentuierte, gleichgültige Nebeneinander, und der Indifferenz der objektiven Raumgeometrie müßte eine Indifferenz der phänomenalen Raumarchitektur entsprechen. (Ganz abgesehen von den unerklärbaren Täuschungen.) Vielmehr sind die psychologischen Eigenschaften von Geschlossenheit, Abhebung, Zusammengehörigkeit, von Figur und Grund, von Feldbegrenzung und Felderfüllung Produkte des sinnlichen Prozesses, für welchen jene angedeuteten objektiven Qualitäten nach Gruppierung, Nähe und Gleichheit zum Anlaß werden, mit «übergeometrischer» Einheitsund Gestaltbildung zu reagieren. Gleichwohl enthält solcher Rekurs auf die Art d e s Z u s a m m e n seinsvonReizen einen Angriffspunkt für die Elementenpsychologie. Und hier, gewissermaßen auf höherer Ebene, entstand wieder jene Grundsituation, und jenes «Gegenüber», an dem Gestalttheorie sich als Methode herausbildete. Sie hat sich von Neuem mit der Assoziationspsychologie auseinanderzusetzen; diese argumentiert nämlich aus rein erfahrungstheoretischer Position für die «Sachlichkeit» der Gestaltung etwa so: Zusammengefaßtes, ein Gebilde, entsteht durch die Häufigkeit, mit der die «Stücke» in der E r f a h r u n g zusammen dagewesen sind. Wesentlich scheint hierbei noch, daß es im Prinzip beliebig bleibt, was zusammengefaßt wird, solange es nur stets gemeinsam auftritt. Dieses Schema der Theoriebildung ist ja das Extrem der These Humes und wirkte in die heutige Psychologie noch hinein, (z. B. bei Th. Ziehen, G. E. Müller).1 Unter dem großen Aufwand an Experimenten, die besonders Wertheimer gegen diese Erklärung der «Gestalt» ersann, sei an eines erinnert: Stimmt die Erfahrungsthese, dann müssen solche Elemente, die uns in bestimmter räumlicher Gemeinschaft geläufig sind, in der Wahrnehmung unbedingt bevorzugt sein, sie müssen leichter gesehen werden als solche, die noch nie dawaren und auch dann erfaßt werden, wenn sie in gewohntem Beieinander auftreten und lediglich die Gesamtsituation neu ist. 1
Ziehen, will neuerdings (Ztschr. f. Psychol.) auch die Intelligenzforschungen Köhlers an Anthropoiden assoziationstheoretisch begründen. Bei G. E. Müller wird das Entstehen der «Kollektivdisposition» aus der Häufigkeit des Auftretens von Teilen in der entsprechenden Konstellation begründet. (Geläufigkeit der Form des Objektes, vgl. Müller, Komplex- und Gestalttheorie.) Scheerer
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Wertheimer setzt ein M und ein W zusammen. Er folgert: da die Elemente des M und die Elemente des W schon tausendfach im «Zusammenhang» von M und W «da waren», so müssen M und W trotz neuer Gesamtsituation nach der Erfahrungstheorie ausgezeichnet sein und erkannt werden. Dies ist hingegen im Experiment nicht der Fall.1 Und auf den Einwand: «You forget that we have not seen the well known kin such a connection before» erwidert Köhler: «But that is exactly what I say: the influence of experience is not strong enough to overcome spontaneously even such a simple arrangement, which tends to be organized into other and less familiar forms.»2 Der Primat des «Ganzen» über die «Elemente» erweist sich zwingend, denn die bekannten Elemente gingen in eine einheitliche, neue und ungewohnte Ganzstruktur ein. Hier wird der «Beliebigkeit» des Zusammenfassens die für das Gestalttheorem wesentliche «innere Notwendigkeit» entgegengestellt, kraft der die Struktur des Ganzen Funktion und Stellung jedes Teilmomentes bestimmt; denn nur dies erklärt, weshalb hier geschlossene, gegliederte Einheit gesehen wurde, und nicht zwei bekannte «Stücke», — ja weshalb dasselbe Stück in verschiedenem Ganzen völlig anders erscheint und sogar seinen Identitäts- und Bekanntheitscharakter unter dem Druck der jeweiligen Gestaltbindung verliert. Den eindruckvollsten Beweis hierfür erbrachte K. Gottschaldt. Er bot dieselbe Figur über SOOmal, ohne daß dadurch ein Wiedererkennen stattfand, als diese «eingeprägte» Figur in einer neu auftretenden mitenthalten war.3 — Der Faktor «Erfahrung» wird auf den ihm zukommenden Bereich eingeschränkt. Es ist im Prinzip erfahrungsunabhängig (im Sinn der Häufigkeit), wann Inhalte der Gestaltbildungunterliegen. — So ist das Sehen von 1
Psychol. Forsch. Z. Lehre v. d. Gestalt II. Diese vom Verfasser aufeinandergesetsten Jf's ergänzen das Beispiel von W u. M. Ein anderes Argument gegen die Erfahrungsthese ist folgendes: Ein Stock, dessen Kontur bei der Retinalabbildung durch den blinden Fleck hindurchgeht, wird dennoch als ganzer gesehen. Die Auffassung, daß es sich um intellektuelle Ergänzung handele, soll durch folgendes Experiment widerlegt werden: Man stelle einen Menschen so hin, daß sein Kopf im blinden Fleck «sfefci». Trotz Erfahrung, daß jeder Mensch einen Kopf hat, wird der Kopf nicht gesehen, denn die Ergänzung kann nur im Sinne eines Ganzen geschehen, dessen Prinzip konkret — wie beim Stock faßbar ist. 2 Köhler, An aspect of gestaltpsychology. The pedagog. Seminary 1925, Nr. 4. 3 Über den Einfluß der Erfahrung auf die Wahrnehmung von Figuren. I. Über den Einfluß gehäufter Einprägung von Figuren auf die Sichtbarkeit in umfassenden Konfigurationen. Psychol. Forsch. 8, 1926.
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operiert Blindgeborenen bereits strukturiert, denn sie fragen spontan nach, der Bedeutung der Formen, die sie wahrnehmen.1 Als Entstehungsbedingungen für das Phänomen «Gestalt» gelten nunmehr ganz bestimmte Konstellationen der «Außenreize», die den Ganzprozeß in der sinnlichen Sphäre zwingend auslösen. Solche Faktoren waren der Faktor der Nähe, der Gleichheit (die Form wird bevorzugt, in der die gleichen Teile zusammengehörig erscheinen), Ähnlichkeit der Färbung etc.2 In diesem Sinne haben wir keine «Vexierbildweit». Die von den genannten Faktoren als auslösenden Momenten abhängige Gestaltung ergibt nunmehr eine zwar eingeschränkte aber doch bestehende Reizabhängigkeit, die zum Teil die «sachliche» Gliederung im Gestaltprozeß, die dinggerechte Orientierung der Sinne bedingt3: Ein engeres Beieinander der geometrischen Raumverteilung etc. ruft in der Sinnesapparatur ein Miteinander als Gestaltprozeß hervor, der phänomenal das Zusammengehörige, — das «Ding» erzeugt. Die Sicherstellung der Gestalt gegenüber der bloßen «Assoziierung» nach Gewohnheit ergab Argumente, die ja im Wesentlichen im Beziehungsproblem der Reize fußen: Nähe, Gleichheit, Bezogenheit im Ganzen, — Struktur, —Zueinander. Und so ist es verständlich, wenn demzufolge, als eine der begründetsten und berechtigtsten Erklärungsweisen der Gestalt, von anderer Richtung der Gedanke auftritt, daß die Gestalt nichts anderes sei als die Summe der Relationen.4 Dieser zunächst einleuchtende Standpunkt versucht z. B. auch, das Phänomen der Transponierbarkeit von Gestalten aus der Erhaltung der Relationen zu begründen. Hiergegen nimmt das Gestalttheorem folgende Beweisführung in 1
Vgl. Köhler, An aspect of Gestaltpsychology, a. a. 0., S. 603 f. Vgl. Wertheimer, Zur Lehre v. d. Gestalt II u. Koffka, Psychologie S. 551. 3 Wir sagen «zum Teil», weil damit das Wesen der «sachgemäßen» Gestaltung und Sinnesorientierung für das Gestalttheorem noch nicht erschöpft ist, wie bei der Frage nach dem Objektivitätscharakter der Gestalt gezeigt wird. * Bzw. die «Relation der Relationen». Neuerdings stellt auch Spearman in «Psychology of Shape» die Relationen wieder in den Vordergrund. Vgl. hierzu Krueger Neue psycholog. Studien, S. 95, 115f. Gelb, Theoretisches über Gestaltqualitäten 1911, sah die Relationen als genau so gegeben an wie die absoluten Inhalte und definierte mit Marty die Gestalt als Gruppe von Empfindungen, zwischen denen besondere Verhältnisse bestehen. Form ist nichts anderes als eine besondere Art und Summe von Verhältnissen. Vgl. S. 57: «Sicher ist, daß ein Komplex beliebiger Art ausschließlich durch seine absoluten Bestandstücke und ihre gegenseitigen Verhältnisse charakterisiert ist, daß neben den Sinnesinhalten und ihren gegenseitigen Relationen keine erscheinungsmäßigen Inhalte vorzufinden sind». Aber auch dort sah Gelb schon das Problem, daß die Summe der absoluten Inhalte und ihrer gegenseitigen Relationen die Einheitlichkeit, «Insichgeschlossenheit» solcher Gebilde wie Melodien, Raumgestalten usw. nicht hinreichend erklären könne. Heute steht übrigens der Genannte durchaus auf gestalttheoretischem Boden. Vgl. Gelb und Goldstein. «Analysen Hirnpathologischer Fälle.» 2
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Anspruch. Schon Cornelius muß der Zurückfährung der «Gestaltqualität» auf Relationen deshalb widersprechen, «weil wir die Ähnlichkeit, auf die sich der Begriff der Gestaltqualitäten gründet, auch bei größeren Komplexen unmittelbar erkennen können, ohne uns von der Gleichheit der einzelnen Relationen zwischen den entsprechenden Bestandstücken zu überzeugen».1 Dieses Argument von der Anschaulichkeit des «Ganzen» gegenüber der Unanschaulichkeit einer Relation oder Summe der Relationen führt Köhler sogar noch weiter, indem er hinsichtlich der Relationen selber behauptet: «Sie werden garnicht wahrgenommen.»2 Um so weniger können sie für das IdentischBleiben der Gestalt bei Transponierung das ausschlaggebendeMoment bilden oder für die Transponierbarkeit einen Erklärungsgrund abgeben. «Das Gefüge der objektiven Relationen zwischen den Reizen muß bei Transposition zwar gleich bleiben, aber das ist eine Invarianzregel für Gestalten, keine Erklärung.»3 In dem Gedanken der Invarianz liegt zugleich der positive und schöpferische Gehalt der gestalttheoretischen Polemik. Denn sie fragt weiterhin mit Recht: Was ist realiter die Invariante, — die Summe der Relationen oder die Gliederung als Ganzes, welche z. B. bei der Melodie die einzelnen Ton- und Zeitintervalle erst bestimmt. Zwischen den einzelnen Bestandstücken ist ja eine solche Vielzahl von Beziehungen möglich, daß sie niemand unmittelbar erlebnismäßig realisiert; z. B. gibt das optische Dasein einer punktierten Figurgestalt gar nicht die Fülle sämtlicher Beziehungen unter den Punkten, etwa alle Abstände- und Richtungs-Relationen sowie die der Größendimension wieder. Würde man sogar das «gehabte» Einheitsganze der Gestalt aus nichtbewußten Relationserlebnissen zusammengesetzt denken, so müßte man zugestehen, daß bestimmte Relationen beim Aufbau ausschlaggebend sind und angeben, warum grade diese und nicht die übrigen Relationen den Gliederungseindruck konstituieren. Das gelingt aber nicht, solange man von der «Summierung» oder dem «Nebeneinander» ausgeht. Denn wäre z. B. Melodie tatsächlich die Summe der einzelnen Relationen, dann könnte man die Relationen versetzen, vertauschen, ohne das Charakteristische: die Summe zu zerstören. Das ist für die Melodie sinnlos. Andererseits dürfte man nach dieser Anschauung die Relationen in sich nicht verändern ohne ihre Summe zu tangieren. Hingegen wirkt Melodie auch bei Änderung unwesentlicher Relationen noch identisch, und nur bei Änderung der Relationen « an einem emp1
Vgl. Gelb, a. a. 0., S. 53, Köhler, The problem of form in perception. VII. Internat. Congress of Psych. S. 224. 3 Ebenda. 2
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findlichen Punkte» geht der Faktor Invarianz verloren.1 «Unwesentlich» — «empfindlich», das besagt: Es sind Ganzheitsfaktoren wie solche der Mitte, des Schwerpunkts, in denen die Gliederung von Intervall und Tonhöhe zentriert ist, und in denen das «Gleichgewicht» der Melodie, nämlich die Symmetrie und Harmonie im Sinne des «Zusammen-Passens», eines «Sich-gegenseitig-Tragens der Momente» ruht.2 Dies soll nach Wertheimer die Geschlossenheitsqualität der Melodie ausmachen und nicht aus den einzelnen Relationen zwischen den Inhalten resultieren können. Sondern solch «Passen» usf. ist eben das Charakteristische der Struktur und diese Gewichtsverteilung im Ganzen ihre Invarianz.3 — Im Optischen sehr konkret dann, wenn bei der Karrikatur alle Relationen verzerrt und doch der Identitätsund Ganzheitscharakter gewahrt sind. Ganz abgesehen von dem bekannten Phänomen, daß man eine noch nie gehörte Melodie plötzlich abbrechen kann, und im Erleben ein eigentümliches Gefühl des Unfertigseins sowie ein Ergänzungsbedürfnis in gewisser Richtung fortbesteht, welches nur verständlich ist, wenn das bisher Vernommene eben schon als unvollkommener Teil eines Melodie-Ganzen erlebt wurde; d. h. die ersten Schritte der Melodie sind bereits von der Struktur des Ganzen mitbestimmt; — ein noch nicht restlos geklärtes Problem, das jedoch keineswegs durch die Relationen allein zu bewältigen ist.4 Für die Gestalttheorie hat das Problem naturgemäß in jener schon von Wertheimer aufgedeckten Korrelation der Zeit- und Raumanschauung — im Sehen von Bewegungen seinen Ort. Würde man für den Charakter der Melodie als einer zeitlich erstreckten Ganzheit, welche ungeteilt präsent ist, die Formulierung der «Zeitgestalt» zulassen, dann ist die generelle Beziehung zu solchen Verlaufsstrukturen evident, die gleichfalls keine bloße Aneinanderreihung gesonderter Elemente darstellen wie z. B. Sprache und Rhythmus. Wirkt hier ja jedesmal ein Gliederungsgefüge als Ganzes, von dem her der gegebene Ton, Laut oder Intervall erst sinnfällig und anschaulich wird, von dem also das «Haben» der einzelnen Momente abhängig ist, wobei ein bestimmtes Glied nicht herausfaßbar scheint, ohne daß die Analyse es verändert. 1
Wertheimer, «Symposion», S. 11. Der «Schwerpunkt» resp. «Gewichtsverteilung» sind sehr anschaulich bei der Taktierung. 3 Zu dieser Frage gibt Wertheimer folgendes Punktbeispiel 1) Man kann Punkte hinzufügen ohne den Charakter zu tangieren 2) Man fügt einen Punkt hinzu; die Figur ist völlig «anders», 3) obwohl die sonstigen Relationen genau erhalten blieben. 4 Hof ler (Gestalt u. Beziehung Ztschr. f. Psychol.Bd.60. S. 193) schrieb, die Relationen seien für dieses Problem zu wenig und zu viel. 2
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Gerade vom Rhythmus wissen wir, wie zwangsläufig die Gestaltreaktion im Sinnlichen konstitutiv ist, da man z. B. ein gleichmäßig wiederkehrendes Geräusch garment wahrnehmen kann ohne die einzelnen Phasen als Glieder einer Zeitstruktur sinnfällig zu machen. Z. B. das Ticken der Uhr: die Gleichförmigkeit wird taktiert, akzentuiert zum Rhythmus. Die Argumente zur Verifizierung der «Raumgestalt» könnten noch in vielerlei Hinsicht vermehrt, es könnten aus der Gesamtleistung der Forscher am Strukturproblem noch deduktive und experimentelle Erkenntnisse herangezogen werden, die, für sich betrachtet, den ganzfunktionellen Primat bestätigen. Damit wäre jedoch der Rahmen unserer Aufgabe überschritten und zugleich außer acht gelassen, daß solche Ergebnisse allgemein zwar die Ganzheitshypothese bekräftigen, sonst aber von der jeweiligen Auffassung abhängig sind, die sich der einzelne Forscher als Variante der Ganzheitslehren meist schon terminologisch zu eigen gemacht hat. Das ist z. B. unverkennbar der Fall bei dem belangvollen Material, das Benussi, Höfler, Bühler und Volkelt zur Gestaltfrage beigetragen haben; es trifft ebenso zu für die aufschlußreichen Untersuchungen von Cornelius, Krueger und seinen Schülern Sander und Ipsen. Ja auch Mach hat bereits vor v. Ehrenfels in seiner «Analyse der Empfindungen» eine Reihe von Beobachtungen mitgeteilt, die noch in die spätere Diskussion und Konstatierung der Komplex- und Gestaltquaütäten bei G. E. Müller, Marty, Seifert und anderen hineinspielen.1 All das findet nicht minder gebührende Würdigung auf seilen des Gestalttheorems, es bleibt aber entscheidend, daß man dabei die jeweilige Interpretation daraufhin überprüft, ob das Ganzphänomen wirklich stringent als eine primäre Leistung der Sinnesapparatur ohne Vermittlung sonstiger Art angesetzt ist. Hierin muß die Gestalttheorie von ihrem Standpunkt aus meist eine Revision vornehmen, will sie jene Forschungsergebnisse auf ihr Gestaltproblem beziehen. Denn bei letzterem handelt es sich um die Prinzipien der in der Wahrnehmung erscheinenden «Zusammengefaßtheit» und «Geteiltheit», nämlich um ihre ausschließlich gesetzmäßige Bedingtheit innerhalb der Funktion Reiz-Empfindung.2 Der Versuch, Begriff und Wesen der Gestalt sowie des Gestaltvorgangs nicht einfach deskriptiv darzustellen, sondern dieselben am dynamischen Gegensatz innerhalb der psychologischen Forschung herauszuarbeiten, schien für die Charakteristik der gestalttheoretischen Methode deshalb notwendig, weil nur so Inhalt und Bedeutung der erarbeiteten Begriffe vor Mißdeutung bewahrt, und andererseits die darzulegende Einheit ihrer Prinzipien bei den verschiedenen Wissenszweigen in einen gemeinsamen Blickpunkt gerückt werden kann. 1 2
Siehe die erwähnten Forscher im Literaturverzeichnis dieser Arbeit. Vgl. Wertheimer, Zur Lehre v. d. Gestalt II S. 302.
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Jene Gefahr, den gestalttheoretischen Begriff vom «Ganzen» mit anderen der heutigen Psychologie zu vermischen und die Eigentümlichkeit seiner Begründung zu verkennen, ist nicht eher völlig zu behehen, als bis das Ganzheitsproblem, wie es die Gestalttheorie sich stellt, in seinem wissenschaftstheoretischen Umkreis betrachtet ist, und das Feld, auf dem gestalttheoretisch mit dem Begriff der «Ganzstruktur» operiert wird, sowohl nach der logischen wie nach der naturtheoretischen Seite hin überschaut werden kann. Für den bislang gewonnenen Blickpunkt ist die Sachlage ja zunächst derart, daß die Gestalt als unvermitteltes Erlebnisphänomen im Psychischen gesichert scheint, und die Psychologie, mit Wertheimer zu sprechen, nunmehr die Aufgabe hätte, die Bedingungen zu erforschen, unter denen Gebilde entweder als «Teil — Ganze» oder als «Ganz — Teile» auftreten.1 §5. Gestalt- und S i n n p r o b l e m — vom S t a n d p u n k t der Gestalttheorie. Es ist gerade das Eigentümliche dieser Gestalt-Psychologie, daß sie bei solchem Phänomen-Nachweis nicht stehen bleibt, sondern Prinzipien viel allgemeinerer Natur gefunden zu haben glaubt. Indem sie von der Frage nach der Möglichkeit sinnhafter Fundierung der primitivsten seelischen Prozesse ausgegangen und es ihr gelungen war, zu erweisen, daß bereits die Sphäre des «Sinnlichen» kein bloßes beziehungsloses Nebeneinander von Impressionen zum Inhalt hat, schien die «Einheit des Sinnes» gesichert, und jene bekämpfte Aufspaltung des Seelenlebens in höhere und niedere Funktionen überwunden. Notwendig knüpft sich daran die Frage, in welcher Form hier «Einheit» und «Sinn» gedacht und worin beides gewährleistet sein soll. Es ist die entscheidende Einsicht am gestalttheoretischen Vorgang: Gliederung schon als sinnliche Qualität, als ursprüngliche Artikulation der Sinne, und diese Einsicht führt weiterhin zu dem Anspruch, in dem Tatbestand der Struktur, der «nichtbeliebigen» Totaleigenschaft, ein gemeinsames Charakteristikum sowohl der «niederen» wie der «höchsten» Prozesse zu erblicken. Zugleich aber damit geht die Struktur als Kennzeichen des «Lebendigen» eine Verflechtung mit dem Sinnproblem ein, die methodisch grundlegend wird; ebenso grundlegend für die positive Bestimmung des «Sinnes» überhaupt wie für seine Abgrenzung gegen Sinnfremdes. Und das ergibt die Aufgabe, diese «Krisis» in der gestalttheoretischen Auffassung klarzustellen. Nach dem Stande der bisher zwar nur programmatischen Publi1
Vgl. Koffka,
Psychologie, S. 533.
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kationen ließe sich vielleicht folgende Gegenüberstellung vornehmen: Sinnfremd ist zunächst alles dasjenige, was lediglich durch ein «und» verbunden gedacht werden kann, das im Grunde infolge der bloß äußeren Beziehung einer Koexistenz in seinen Gliedern, Teilen beliebig vertauschbar ist, wie Zahlen in einer mathematischen Summe.1 Ferner auch solche Assoziierung von Bestandstücken, deren Bindung mechanisch starr ist, so daß statt der Und-Relation eine feste Koppelung ohne Vertauschbarkeit der Glieder vorhanden wäre.2 In jedem Falle sind dann die Teile in sich isoliert gedacht,nämlich ohne innere dynamische Beziehung zueinander. Das Wesen einer solchen Und-Verbindung besteht im Prinzip darin, daß nicht die inneren Zusammenhänge für das Geschehen — oder auch für das Denken wirksam sind, sondern vorwiegend die Summe voneinander unabhängiger, einzelner Kräfte resp. Denkinhalte. Man kann am Bestand einer solchen Konstellation im einzelnen etwas hinzufügen oder entfernen, ohne, daß das «Restzusammen» funktional dadurch tangiert, verändert wird.3 Entgegen diesen sinnfremden Operationen oder Konstellationen steht nun für das « Sinnproblem» im Vordergrund der Charakter der «Nichtbeliebigkeit»; doch das würde die Sachlage noch nicht erschöpfen. An die Stelle additiver Verknüpfung disparater Elemente tritt der funktional1
Vgl. Köhlers Definition der Undverbindung in «Phys. Gest.» S. 42ff. Vgl. auch Wertheimer, Denken der Naturvölker S. 112·, 14, 15 (als Charakterisierung des natürlichen «wirklichkeitsnahen Denkens»): «Das hängt mit der besonderen Art des Denkens zusammen, Begriffe nicht auf beliebige logische Operationen hin zu fassen... Im Gegensatz zu der Art unseres Denkens, welches logisch in Richtungen geht wie „alles ist zählbar", „alles ist durchUnd-Verbindung verbindbar".. Die Denkrepräsentation der Dinge gibt da weniger und mehr als unsere rein logische». Der Mangel an obstruktiven Denkmöglichkeiten wirkt als {(Mangel im Sinn technischer Fortschritte usw.; als Vorteil im Fertigwerden mit konkreter lebendiger Situation.» Vgl. auch «Symposion» S. 5, 6. 2 Vgl. Wertheimer, «Symposion» S. 23; ferner Köhler, «Gestaltprobleme» S. 512. 3 Z. B. Dingverteilungen im Raum: Man kann ein Zimmer stückweise entleeren oder füllen, ohne am Restbestand etwas zu ändern. (Vgl. Köhler «Phys. Gest.» S. 42/48ff.) «Ein „Zusammen" ist dann und nur dann eine reine „Summe" von „Teilen" oder „Stücken", wenn es aus ihnen, und zwar einem nach dem ändern hergestellt werden kann, ohne daß infolge der Zusammensetzung einer der „Teile" sich ändert. Umgekehrt: Ein „Zusammen" ist dann eine reine „Summe", wenn durch Ausscheidung von „Teilen" oder „Stücken" weder das zurückbleibende „Restzusammen" (das dann eine Teilsumme darstellt) noch die ausgeschiedenen „Teile" geändert werden.» Das Gleiche gilt auch im Gebiet des Logischen, Gedachten, siehe Wertheimer, Über Schlußprozesse im produktiven Denken, künftig zitiert als «Schlußprozesse» S. 74: Das Hinzutreten eines neuen Merkmales revolutioniert den alten Begriff, — was im Sinne bloßer Klassenlogik nicht möglich ist; im Gegensatz zu letzterer schreibt W. ebenda S. 182: «Bei rechtschaffenen „Begriffen" — die nicht etwa auf der bloßen gesetzlichen Koexistenz disparater Merkmale aufgebaut sind — ist das Ideal: aus der inneren Struktur von wenigem Zentralen aus ergeben sich Bestimmungen für alle anderen Merkmale».
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dynamische Zusammenhang der Ganz-Teil-Beziehung. Die Art solchen Zusammenhanges erhellt weiterhin an der behaupteten Transponierbarkeit, welche schon von Ehrenfels als Kriterium der Gestalt ansetzte:1 Wenn ich einer Reihe von Menschen eine Melodie derart präsentiere, daß jeder für sich nur einen Ton hört, so ist die Summe der Vorstellungen aller dieser Individuen, welche den jeweiligen Einzelton der Melodie in ihrem Bewußtsein haben, etwas ganz anderes als die Vorstellung, die ein Mensch von der Gesamtheit der Töne hat, wenn er allein sie alle vorgetragen bekommt. Er hört mehr als die bloße Summe einzelner Töne, nämlich Melodie. Ja noch mehr, die Melodie erweist sich unabhängig von den ihr zugrunde liegenden Tönen. Man kann ihre materialen Bestandstücke durch andere Töne ersetzen — die Melodie bleibt die gleiche. Man sagt dann, die Melodie ist in eine andere Tonart > (z. B. Luft, Wasser, Gravitation, Temperatur) ist seine Existenzfähigkeit in einem bestimmten Weltauschnitt. Dies wechselseitige Durchdringen von Feldeigenschaften des jeweiligen Geschehenssegmentes und von Zustandsfaktoren des zugeordneten Vitalsystems muß füglich den begrifflichen Ort abgeben für die Gestaltnatur der «Umgebung» inbezug auf das jeweilige Lebewesen. Hier ist die gesuchte Teil-Ganzes-Beziehung zu lokalisieren, und der letzten Konsequenz nacli wäre der hier wirksame Strukturzusammenhang ein derartigesfunktionellesEingelagert1
Man vgl. unter diesem Gesichtspunkt die Erläuterungen auf S. 93 bis S. 96 dieser Arbeit, sowie das Wärmebeispiel ebenda.
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sein des Organismus in seine entsprechende Natursphäre. Es ist konkret an den mannigfaltigen Beispielen des «elan vital», die zeigen, in was für einer korrespondierenden Relation die biologische Organisiertheit der Fauna und Flora zu ihren jeweiligen Milieubedingungen steht. Unter diesem Gesichtspunkt gelangt man zu einer weitergreifenden Überprüfung solcher Fragen wie jener, weshalb das Sehding schauende Auge nicht die Luftmoleküle statt der durch sie hindurchgehenden Lichtstrahlen percipiert. Entweder man faßt das Zusammen von Lebendigem und seiner Welt als ein «undverbundenes» Nebeneinander auf und setzt dabei implicite das «Vorhersein» der «Umgebung» vor den gleichsam nachträglich hineingezauberten Lebewesen voraus; dann wäre denkbar, daß die Lichtreagenz des Auges nur die angrenzenden Lnftmoleküle aufnimmt (etwa Mikroskop) — oder nur hell und dunkel empfindlich ist (etwa photochemische Fläche), und ähnliches. Das würde zur Darwinschen Auslesetheorie führen. Oder man denkt jene Frage an einen sich jeweils ausbildenden Funktionszusammenhang von Naturwesen und Natur gerichtet: an ein solches «universal-kohaerentes- System», in dem kein Neben- sondern ein Füreinander und Ineinander der Momente herrscht, bei dem also die Organisiertheit der einzelnen Unter-Ganze auf die Wirkweisen der Gesamtkonstellation funktionell abgestimmt und eingepaßt ist — sodaß etwa neue Teilapparate durch eine nichtbeliebige, schon reiz- selektive Anpassung entstehen. «Denn an Stelle einer äußerlichen Selektion hinterdrein wäre dann für alle Fälle etwa konstanter äußerer Durchschnittsbedingungen, die unmittelbar selektiv in ausgezeichneter Richtung drängende Dynamik organischer Systeme zu setzen, welche im Zusammenhang des Ganzen und gegenüber gegebenen Außenbedingungen beliebige Formen gar nicht erst aufkommen ließe.» Heider geht über Köhlers biologische Ausdeutung physischer Seinsweisen noch hinaus: Es sei ein Unterschied zwischen festen Körpereinheiten und lockeren, unstarren. Die unstarren sind meist Medium für etwas. Durch sie gleiten die Auswirkungen von Festeinheiten, den Knotenpunkten des Geschehens; z. B. ist die Luft Medium für die vom Ding kommende Lichtmannigfaltigkeit und die Schallschwingungen. Diese vom Ding ausgehenden Wirkungsvielheiten kann das Medium weitertragen, weil es selbst ein lockerer Vielheitsverband und keine Festeinheit ist. Die Fernwirkung der Dinge (z. B. Strahlenvielheit) wird so von der Mosaikstruktur des Mediums aufgenommen und geleitet. So trifft sie auf die «sammelndes Linse, wo der Verarbeitungsprozeß beginnt, der aus den Gleichheiten und Verschiedenheiten der Reize phänomenal zusammengehörige Einheiten macht, die den Festeinheiten entsprechen.
So verstanden besteht die Funktion der Sinnesapparatur in dem Ausbilden solcher Phänomene, welche die durchschnittlichen Verhältnisse im Funktionsraum des Reizempfängers berücksichtigen und z. B. seinem imanenten Aktionsradius konform sind. Die Sinnesapparatur muß ein transzendierendes Korrektiv dafür bieten, daß das Naturgeschöpf in dem subjektiven Kreis seiner «Sinneszeichen» sozusagen eingeschlossen ist, wie die Regel der spezifischen Sinnesenergien zeigt. Sie muß also hierfür nicht minder «Invarianten» schaffen wie für das sich ständig verschiebende Verhältnis zwischen dem «Coordinatensystem» des Feldes und dem sich in diesem bewegenden «Coordinatensystem» Organismus. Die Gestalt ist eine solche «Apparatkonstante» der menschlichen Empfangsorgane, und das ist ihr nunmehr anzunehmender Objektivitätscharakter an
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jenem, übergreifenden Verhältnis vom «Zusammenpassen». Vermöge solcher Apparateigenschaften der Sinne erfolgt das Sich-Angleichen des Reizempfängers an die wechselnde Reizsituation. Am Organismus, als einem «Systemteil von hohem Selbständigkeitsgrade» beweist sich das «Zusammenpassen» also auch darin, wie er als Feldteil in seinem Feld steht — funktioniert — agiert — und wie er kraft seiner Sinnesorientierung in solchem Systemzusammenhang die «passende» Gleichgewichtsituation stets realisiert. Hat ja die allgemeine Beziehung zwischen sinnlicher Präsentation und dem Spannungsgefüge der Reize bei Koffka folgenden Ausdruck gefunden: «letzten Endes ist es das Zueinander von Umgebung und Organismus, das dauernd geändert wird, der Wahrnehmung kommt dabei die Aufgabe zu, diese Veränderung in Gang zu setzen und dauernd zu kontrollieren.»1 Die biologische Relevanz ist dabei jedenfalls eines ideologischen Charakters enthoben und in die ganz-dynamische Kausalität aufgehoben; denn für die rein gesetzmäßige Fundierung der organischen Prozesse im Gegensatz zur Alternative Vitalismus — Mechanismus gibt Koffka folgende Richtschnur der Gestalttheorie an die Hand: «Statt dessen ist sie bemüht, alles organische Geschehen und so auch die Wahrnehmung aus der spontanen Gruppierung der im System auftretenden Kräfte zu erklären.»2 Es handelt sich also bei dem gestaltpsychologischen Strukturproblem nicht um den subjektiven Bedeutungscharakter von Wahrnehmungsinhalten, sondern um deren Funktionscharakter in einem Geschehens-Gefüge, dessen Richtung auf den Gleichgewichtszustand zwischen Reizempfänger und Feldgebiet maßgeblich ist. •—· Daß im Prinzip von der Gestalttheorie nicht nach dem «Wie» solcher Inhalte gefragt ist, zeigt nicht nur der allgemeinmethodische Hinweis von Wertheimer, der von den «Charaktereigenschaften dessen, was geschieht», gesprochen hat.3 Selbst dort, wo gestalttheoretisch etwa weiterhin nach dem Bedeutungscharakter des « Sehdinges» geforscht wird, weist die Antwort wieder in die Bahn eines Verlaufes, einer Handlungsstruktur. Der phänomenal dargestellte Gegenstand, das Wahrnehmungsding, wird dann zum Wirk-Gegenstand, er hat, um mit Lewin zu sprechen, «Aufforderungscharakter».4 Eine Gabel z. B. ist nicht ein Stück Metall mit Zinken, sondern phänomenal «etwas womit man ißt».5 Wiederum sehen wir: Die 1
Koffka, Symposia. Koffka, Symposia S. 88. Wie die exakte Durchführung dieser Maxime aussieht, das belegt die — außer von G. E. Müller kaum bestrittene — physikalische Fundierung des Weber-Fechnerschen Gesetzes, die Köhler in «Phys. Gest.» mit Hilfe Nernsfscher Prinzipien versucht. 3 «Symposion», S. 24. * Lewin, Psychol. Forsch., 1926. Vgl. auch§ 12 dieser Arbeit, S. 108 (Nachahmen). * Vgl. Koffka, «Psycft. Entw.» S. 236. 2
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Gestalt als autonome, objektiv zwingende Einheit wird ihrerseits in den Funktionskreis Naturwesen—Umgebung und dessen Bedingungen eingeordnet. Man mag mit Recht den gestalttheoretischen Einsichten für die Wahrnehmungspsychologie — sowohl bei der «Verankerung», wo das «Zu Uns» sehr treffend gesehen ist, wie beim Ansichtigmachen des Wahrnehmungsobjektes als eines «dynamischen Charakters» großen Wert beimessen; dieser Wert wird indessen wieder dadurch problematisch, daß jenes «Zu Uns» und dieses «Dynamisch» gestalttheoretisch nicht identisch mit dem sonstigen psychologischen Begriff der «Ich-Bezogenheit» sein können. Weder ein «personales» Ich noch ein «Ich» als zentraler Bezugspunkt sind intendiert, sondern die Natur des Organismus in seiner Reaktionsart gegenüber den Feldbedingungen. — Extrem ausgedrückt: die «Ich-Bezogenheit» wird zur Teil-Ganz-Bezogenheit des Naturwesens zur Umgebung, — denn «das Ich ist ein Teil im Spannungsgefüge des Wahrnehmungsbildes.»1 In diesem ganzgesetzlichen SpannungsVerhältnis ist der Reizbegriff methodisch auf die Geschehensebene des biologischen Vorganges verwiesen und erhält dementsprechend den physiologisch zutreffenden Charakter der Reizung als störendes, als beanspruchendes und Kompensationen auslösendes Moment. Die Strukturgesetzlichkeit, welche Wahrnehmen, Handeln und sogar das Denken als Vorgänge am Organismus zu einem Gesamtverlauf in Systemeinheit bindet und diesen Organismus in die Geschehensbedingungen seines Umfeldes hineinstellt, sie wird jetzt auch hinsichtlich der Frage von Nativismus und Empirismus aufschlußreicher geworden sein. Wenn wir auf Grund des Satzes von Koffka: «Stets wirken innere und äußere Bedingungen zusammen zur Erzeugung eines einheitlichen Gebildes» die formale Ähnlichkeit mit dem Konvergenz-Prinzip von Stern konstatierten, doch zugleich eine Klarstellung des Charakters dieser Bedingungen für notwendig erachteten, so scheint von dem jetzt gewonnenen Standort aus eine Entscheidung zur Sachlage möglich. Das Verhältnis: Lebewesen — Umgebung als psychologische Maxime. § 14. Konvergenz und Korrespondenz. Innere und äußere Systembedingungen. Person und Gestalt. Psychologische oder biologische Methode? Die Sachlage, in welche die gestalttheoretische Methode ihren Konsequenzen nach führt, scheint gewisse Schwierigkeiten und 1
Koffka,
Symposia S. 87.
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Antinomien zu enthalten, die beim Problem des psychologischen Ganzheitsbegriffes und den inhaltlichen Bestimmungen der GanzGesetzlichkeiten entstehen. Denn immer dann, wenn man von den durchaus positiv zu wertenden psychologischen Ansätzen systematisch weiter denkt und darauf reflektiert, auf welche Ebene die gestalttheoretischen Einsichten in ihrem letzten Ende notwendig führen, dann enthüllt sich jene «Grundsituation» als Geschehensfunktion eines Naturganges aus «Systembedingungen» heraus. In diesem Zusammenhang erweist sich daher auch ein Vergleich mit der Konvergenzlehre von Stern dahingehend fruchtbar, daß man die formale Übereinstimmung beider Standpunkte auf die zugrundeliegenden systematischen Voraussetzungen zurückführen und dadurch am Gegensatz die Position der Gestalttheorie in ihrer Problematik und Begrenzung kennzeichnen kann. Wollte man resümierend zu einer Formel greifen, die bei der Frage der äußeren und inneren Bedingungen den gestalttheoretischen Standpunkt charakterisiert, so dürfte man vielleicht von einer konditionalen Korrespondenz sprechen, die in Wechselbeziehung der System-Eigenschaften von Naturwesen und Umweltkräften naturkausal die Entwicklung des Lebewesens bestimmt. Die Berechtigung für die Wahl des sozusagen passiven Wortsinnes der «Korrespondenz» gegenüber einer «Konvergenz» läßt sich dadurch unter Beweis stellen, daß die Ganz-Teilgesetzlichkeit des ZusammenPassens folgerichtig auf den Prägnanz-Grundsatz von der Richtung auf Gleichgewicht zurückführt. Die Analyse der physikalischen Herleitung dieses Prinzipes ergab aber eine gewisse Verwandtschaft der «Tendenz» auf ein Minimum der Strukturenergie mit dem positivistischen Prinzip des kleinsten Kraftmaßes und führte dazu, die «Tendenz» zur Prägnanz im unzweideutigen Sinne als Trägheit zur Prägnanz zu verstehen. Die Feststellung ist daher nicht von der Hand zu weisen, daß im Grunde die Gestalttheorie das Wesen der «Spontaneität» und «Aktivität» in eine Reaktivität unter «Strukturdruck» auflöst. Wenn hingegen Stern von einem nicht naturwissenschaftlichen, sondern philosophischen Standort aus sein Prinzip der «Konvergenz» als «das Zusammentreten zweier Bedingungsgruppen zu einem einheitlichen, zweckvollen, Zusammenwirken» bezeichnet, so ist dieser Gedanke doch fern davon, das Person-Weltverhältnis als den Schnittpunkt eines sich auf physikalischer Grundlage ausgleichenden Strukturgeschehens aufzufassen. Denn die beiden Bedingungskomplexe — «Innenfaktor», als Vererbung und Disposition1 1
Die Disposition ist prinzipiell als «Dauerbeschaffenheit» der Person aufzufassen, im Gegensatz zur Vermögenspsychologie. Vgl. hier zu auch W. Stern: Philosophie in Selbstdarstellungen.
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der Person, und «Außenfaktor», als Gesamtheit der Umweltsbedingungen, — konvergieren in diesem Sinne überhaupt nicht zu einem Geschehen, wie es eigentlich die Gestaltgesetzlichkeit darstellt, sondern sie sind Faktoren der Gestaltung im Werden, Handeln und Erleben der Person. — Und daß es sich um Gestaltung handelt, geht aus den beiden zentralen Begriffen der«Selbsterhaltung» und «Selbstentfaltung», dem « B e h a u p t e n » und dem « V e r w i r k lichen», hervor, von denen die Selbsterhaltung nur als eine conditio sine qua non der Entfaltung untergeordnet wird.1 Die selbsttätige Zielstrebigkeit der personalen Ganzheit als Urphänomen ist kausal nicht weiter reduzierbar, denn sie ist selbst «esoterische inhaltliche Kausalität.» Diese Gestaltung aus innerer Notwendigkeit stellt also ein ganz anderes Prinzip dar als die Ganz-Gesetzlichkeiten des Gestaltvorganges ; für letzteren nimmt zwar die Gestalttheorie ebenso den Begriff der «inneren Notwendigkeit» in Anspruch, doch enthält dieselbe weder Teleologisches, noch ist sie einer «Selbstbestimmung» vergleichbar, sondern kann inhaltlich nur an den objektiven BedingungsFunktionen der Ganzdynamik gefaßt werden. PERSON UND GESTALT.
Diese Divergenz von Gestalttheorie und Personalismus führt auch im weiteren auf den Unterschied der methodischen Vorauslage beider Richtungen zurück. Das Gestalttheorem, erwächst aus der Grundkonzeption eines neuen naturtheoretischen Gesetzes- und Kausalitätszusammenhanges, der ihr zugleich Paradeigma für eine philosophische Bestimmung der «Sinnhaftigkeit» und dadurch zur Methode wird. Der Personalismus hingegen sucht garnicht eine naturwissenschaftliche Grundlegung biologischer, physikalischer oder psychologischer Zusammenhänge, sondern geht mit einem weltanschaulichen Prinzip der Deutung an den Bestand der Erkenntnis heran, den er im Sinne des Gegensatzes von Person und Sache von zwei Seiten aus betrachtet. «Was von oben, d. h. vom Standpunkt des Ganzen aus persönlich ist, ist von unten, d. h. vom Standpunkt der Teile aus, sächlich.»2 Erst von hier aus zeitigt der Personalismus Konsequenzen für die Frage des «Sinnes», die nicht von bedeutungsphilosophischen Fragen zu trennen sind und in der Eigenart des personalistischen Ganzheitsbegriffes wurzeln. Derselbe enthält ohnehin eine Reihe von Kriterien, die zeigen, daß der Ganzheitsbegriff der Gestalttheorie 1 2
Vgl. Menschliche Persönlichkeit u. a. S. 19 und 27. Person und Sache S. 149, § 16.
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im personalistischen Verstande eigentlich zu den Begriffen «impersonalistischer», d. h. sächlicher Natur zählen muß. Denn «die Person ist ein solches Existierendes, das trotz der Vielheit seiner Teile eine reale eigenwertige Einheit bildet und als solche trotz der Vielheit der Funktionen eine einheitliche selbsttätige Zielstrebigkeit vollbringt.»1 Demzufolge weisen auch die anderen Bestimmungen des Personbegriffes Merkmale auf, die aktiven Charakter tragen und selbst nicht weiter kausal reduzierbar sind, wie die «Selbstbestimmung», «Selbsterhaltung» und «Selbstentfaltung». Und diese Wirksamkeiten der Person sind auch insofern ganzheitlich, als das zeitliche Moment, das in ihnen steckt, keinem naturwissenschaftlichem raumzeitlichen Ordnungsschema angehört, da jenes Wirken der Person auf ihre Teile zugleich im zeitlichen Sinn nur verstehbar wird, wenn ihre «Ganzheit auch zeitlich ausgedehnt ist und daher überhaupt nicht in irgend einem Einzelmoment, also auch nicht in irgend einem gegenwärtigen oder zukünftigen, konzentriert ist».2 Der Ganzheitsbegriff der Gestalttheorie hingegen ist durch keines dieser Kriterien gekennzeichnet3, und es scheint nicht unwesentlich, daß Stern selber in der «Wertphilosophie» noch einen weiteren methodischen Unterschied an die Hand gibt, wenn er für die Ganzheit als Person formuliert: «Wo etwas nicht nur ein Ganzes (zuständlich) ist, sondern sich als Ganzes ständig (funktional) bewirkt.»4 Gerade für die zuständliche Ganzheit, die jene aktive zeitliche Erstreckt heit nicht besitzt, gilt aber der Satz: «Gestalt allein ist immer nur eine einseitige unvollständige Ganzheit.»5 Das ist dann auch der tiefere Grund, weshalb Stern gerade für die Psychologie das Gestaltproblem dem Bedeutungsproblem unterordnet und nicht beide identifiziert, wie die Gestalttheorie es tut, da sie, — um in unserer Formulierung zu sprechen, — Gestalten als objektive und selbstsinnige Formationen ansieht. Die Bedeutungsfrage zeigt sich aber noch in einem ganz anderen Lichte, wenn man auf den vielleicht wesentlichen personalistischeu Grundbegriff zurückgreift, der über allen Eigenschaften der Person 1
Person und Sache S. 162. Person und Sache S. 256/57. 3 Die zeitliche Erstrecktheit, die zwar erlebte Gestalten besitzen, findet sich bei der Anwendung des Ganzheitsbegriffes auf den Organismus gestalttheoretisch nicht vor. — Soweit es sich um zeitliche «Ganzheiten» in der Gestalttheorie handelt, seien es Geschehensganzheiten als Handlungs- oder Denkverläufe, seien es Erlebnisganzheiten der Melodie oder des Bewegungssehens, — es sind keine aktiven zeitlichen Entfaltungen. Vielmehr gilt da die «Zeit» des stationären Geschehens resp. diejenige der von Wertheimer für das Bewegungserlebnis zugrunde gelegten, phsyiologischen «Kurzschlußtheorie». 4 «Wertphilosophie» S. 76. * Wertphilosophie S. 74. 3
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steht und sie jenseits des Gegensatzes von «psychisch» und «physisch» stellt. Durch die psychophysische Neutralität der Person wird ihre «Ganzheit» an einen begrifflichen Ort verwiesen, in welchem die ursprüngliche Einheit von «Äußerung und Innerung» gewährleistet ist als Aktivität der Person nach zwei Vollzugsrichtungen. Indem nun hierbei der Neutralitätscharakter jedes personalen Moments am psychophysischen Gliederungstatbestand den Strukturbegriff vor jeder Verdinglichung und Materialisierung bewahren soll, ist ein anderer Zusammenhang vom Psychischen und Physischen richtunggebend, als er sich in der Gestalttheorie eröffnet. Für den personalistischen Gesichtspunkt einer «Doppeltheit der Kundgabe» der neutralen Personeinheit ist das Physische an sich nicht eigentlich existent, sondern kann nur als «Äußerung» im jeweiligen Sinn betrachtet werden. — Symbolisch als personaler Ausdruck, — dienstmäßig als Funktionsmoment der Selbsterhaltung und Entfaltung im Person-Ganzen. Prinzipiell ist also das «Physische» genau so wie das «Psychische» stets nur bedeutungsmäßig für die und von der Person aus bestimmbar.1 Das zeigt sich auch dort, wo innerhalb der psychologischen Forschung selbst das Gestaltproblem mit positivem Akzent von Stern aufgegriffen wurde. Zum Unterschied von G. E. Müller, E. R. Jaensch, Bühler und anderen hat Stern die gestalttheoretische Widerlegung der Assoziationslehre viel umfassender anerkannt und z. B. auch den Denkgestalten, dem Nachweis einsichtigen Handelns bei Anthropoiden gebührende Stellung angewiesen.2 Wenn nun die phänomenalen Gestalten als Teilkomplexe in die personalistische Psychologie mit eingegangen sind, so ist doch kennzeichnend, daß dem Gestaltbegriff nicht in der Fassung der Gestalttheoretiker, sondern in einem anderen Sinn der Ort angewiesen wird. 1
Z. B. Psychisch wäre die Innenbezogenheit der Person. Das «Physische» als Äußerung, Ausdrucks- und Symbolwert dürfte auch unter den Gesichtspunkt zu stellen sein: Ich (Person) habe einen Leib, habe ihn als meinen Leib und meine ihn als solchen. 2 «Frühe Kindheit» S. X, 7 und 74. Ebenso Wertphilosophie S. 74, ferner Personalistische Psychologie (Saupe) S. 169. — Obwohl beispielsweise Bühler und Jaensch ähnliche Methoden wie Köhler zur Prüfung einsichtigen Handelns anwandten, so sind doch ihre Deutungen prinzipiell abweichend von denen Köhlers (Bühler bei Kindern «Geistige Entwicklung», Jaensch bei Hühnern «Arbeiten zur Psychologie und Philosophie», Leipzig 1920). Beide stehen der Einsicht der Schimpansen oder Hühner skeptisch gegenüber zugunsten einer Dressur bzw. Assoziation. Vgl. hierzu auch die Auseinandersetzung Koffkas mit den beiden und mit Lindworski, der gleichfalls die Tierversuche assoziationstheoretisch erklären will «Psych. Entw.» S. 146ff. (Siehe Lindworski's Referat über Köhler, Stimmen d. Zeit 98, 1919, S. 62.)
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Es findet eine Eliminierung des physikalischen Gehaltes und damit eine Aufhebung des passiven, autonomen und selbstsinnigen Charakters der «Gestalt» statt. Entscheidend ist dabei der Gesichtspunkt, daß jedes Teilmoment des personalen Erlebniszusammenhanges, «sich zugleich irgendwie vom Ganzen abhebt und doch wieder in das Ganze eingebettet ist. Das Verhältnis von Abhebung zur Einbettung aber zeigt alle denkbaren Abstufungen.»1 Hier wird also die Gestalt ihrer einseitigen bloß formativen Relief haftigkeit entkleidet, und in das aktive Erlebnisganze zurückgeführt; dieses bestimmt den Verschmolzenheits- und Abhebungsgrad, und von diesem erhält die Gestalt erst eigentliche «Bedeutung». Es ist daher bezeichnend für die Grundeinstellung, daß man nicht allein jene neuere Formulierung Sterns zum Gestaltproblem heranzuziehen braucht: «Keine Gestalt ohne Gestalter»2, — sondern, daß schon 1905 «die sich gestaltende Gestalt» — die «Gestaltetheit» das primäre Moment der Gestalt im personalistischen Sinne bilden sollen. — Und bereits am gleichen Ort hat Stern gegenüber einem bloß formalen Gestaltbegriffseine Auffassung dahin präzisiert: «Aus gleichem Grunde werden wir dem passiven Wort „Gestalt" das aktive Wort „Gestaltung" vorziehen.»3 Die personalistische Psychologie wandelt füglich die Pseudoautarkie der Gestalt derart «ganzheitlich» um, daß sie unter dem vorherrschenden Bedeutungsgesichtspunkt wiederum zu einem «Moment» des aktiven Person-Ganzen — aus der autonomen zur «Unter-Einheit» wird. Die Problematik der gestalttheoretischen Stellung tritt also ausgesprochen hervor, sobald Bedeutungsfragen aufgeworfen werden, und es scheint wesentlich, daß ebensowohl von einem idealistischen Standort aus, der das Repräsentationsproblem in der Gestalttheorie vermissen würde, wie vom personalistischen Standpunkt aus die Gestaltspsychologie an diesem entscheidenden Punkt für unzulänglich erachtet werden muß. Es mag zudem kein Zufall sein, wenn man weiterhin bei durchaus ganzheitlich gerichteten Vertretern der Psychologie wiederholt dem Einwand begegnet, daß die Gestalttheorie aus der Gestaltung einen Prozeß, aus ihrer Einbettung in die Erlebnistotalität eine Isolierung und Verselbständigung macht. Nicht nur Krueger sieht in der Abhängigkeit der erlebten Gestalt von einem Strukturprozeß eine Verabsolutierung von Teilinhalten, 1
Personalistische Psychologie, Saupe S. 169. Hier berührt sich Stern mit Krueger, ((Strukturbegriff» S. 5: «Eine wirklich gegebene Gestalt mit allen ihren erscheinungsmäßigen (Gestalt-) Momenten ist jederzeit in ein zugehöriges Erlebnisganzes mehr oder weniger eingebettet.» 2 Personalistische Psychologie S. 169 fSaupe). 3 Person und Sache S. 190.
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ein Abschneiden der Frage nach den psychi sehen Zusammenhängen und Bedingungen, so daß er zu dem Schluß gelangen will: «Die Theorie ist grundsätzlich um nichts besser daran, als mit dem alten Atomismus der Vorstellungen oder Sinnesempfindungen....» 1 Auch von Seiten Bühlers wurde der Einwand erhoben, diese Gestaltauffassung führe auf einen «Strukturmonismus», der zwar den falschen Empfindungsbegriff beseitigt habe, indessen für die tatsächlich vorfindliche Empfindungsqualität keinen hinreichenden Raum biete. BIOLOGISCHE ODEH PSYCHOLOGISCHE METHODE.
In all solchen Bedenken muß daher wohl ein Prinzipielles der gestalttheoretischen Methode getroffen sein, und man könnte die Kritik nach der begrifflichen Seite hin vielleicht noch weiter verschärfen, um den methodischen Grund- und Grenzstein im Gestalttheorem zu finden, der solche Ablehnung bedingt. Die Sichtung der gestalttheoretischen Begriffe gerade unter psychologischem Aspekt gibt fast durchgängig die Frage auf, wie diese Begriffe zu dem tatsächlich konkreten Erleben stehen. Dann zeigt sich eine Heterogenität, die schwer überbrückbar scheint. Bedenkt man, daß streng gedacht, der «Erlebnisstrom » nichts von jenen Eigentümlichkeiten der Prägnanzregel, dem «Gleichgewicht», und der «Lücke» aufweist, daß es hier keinen «Systemzusammenhang», in gewissem Sinne nicht einmal «Gestalten» gibt, sondern allenfalls Gefühle, Strebungen, Wollungen, Akte, Bedeutungserfülltheiten — neuerdings auch «Gesichthaftes», ein «Zumutesein»2 — so scheint sich eine Kluft aufzutun, die fast noch größer ist, als die zwischen e b e n d i e s e n psychologischen Begriffen und den Erlebnisinhalten selber. Es tritt die Gefahr vor Augen, daß die Gestaltpsychologie in nicht minderem Maße wie die «alte» Psychologie die von der "Wissenschaft gesetzten Begriffe zur B e z e i c h n u n g von Inhalten mit ihnen selber identifiziert. — Eine Gefahr, die mit Recht von Stern wie von Krueger eben darin gesehen wurde: Zwar sei es der Gestalttheorie bei der phänomenologischen Analyse von Wahrnehmungsgegebenheiten wie auch im Experiment mit bisher kaum erreichter Akribie gelungen, gestaltete Einheiten als Erlebnisganze nachzuweisen, sie 1
«Strukturbegriff» S. 11, 13. «Da jeder Teilinhalt und jeder Teilkomplex des Bewußtseins gleichzeitig oder nacheinander in sehr verschiedene solche Verbindungen eingehen kann, wäre die Fülle der Strukturen offenbar viel größer als die der letzten Erlebnisteilchen, welche schon ihrerseits unbegrenzt ist.» — 2 Vgl. Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie., § 10—12 und Über physiognomische Wahrnehmungsweisen und ihre experimentelle Prüfung. Bericht über den internationalen psychologischen Kongreß 1926.
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werde aber durch den Weg ihrer Begründung zu einer Verabsolutierung dieser Einheiten geführt, die schwerlich mit der ursprünglich personalen «Komplexinnigkeit» am So-Sein von Phänomen und Zuständen zur Deckung zu bringen sei.1 Demgemäß hat man bei der psychologischen Kritik vornehmlich im Hinblick auf die Erlebnistotalität eine Unterscheidung von «Gestalt» und «Ganzheit» für notwendig erachtet, indem man dem formalen oder physischen Gestaltbegriff etwa ein wirkendes Substrat als Ganzheit gegenüberstellt. Doch muß hier ausgesprochen werden, daß jene Konfrontierung an einem Mangel zu leiden scheint, nämlich der nicht eindeutigen Fixierung dessen, was unter Ganzheit zu verstehen ist. Folgt man z. B. den Darlegungen von E. R. Jaensch2 oder auch von Krüeger, so gewinnt man den Eindruck, als ob der Ganzheitsbegriff zwischen dem des Gesamterlebens, seiner Ursprungstotalität in psychologischer Hinsicht, und dem des Lebens in organischer Hinsicht hin und her schwankt, und das Gedankengut Diltheys eine neue Synthese z. T. auf kollektiv-psychologischer Basis erfahren soll, in der «Geist», «Bewußtsein», «Seele» und «Organismus» einer allumspannenden und in sich geschichteten Morphologie zugewiesen werden. Da jedoch bei diesen Forschern eine ebenso exakt naturwissenschaftliche Bestimmtheit angestrebt wird, wie auf Seiten der Gestalttheorie, so ist nicht recht einzusehen, was jene Gegenüberstellung Ganzheit — Gestalt besagen kann, wenn anders man mit dem Namen «Ganzheit» ein vieldeutiges Untersuchungsobjekt bezeichnen will, das mehreren Methoden, und daher nicht allein der gestalttheoretischen zu unterwerfen sei. Die Antithese: Gestalt und Ganzheit dürfte nicht eher an Unklarheit verlieren, bis man eindeutig den Schritt aus der Geschehensdimension jeglicher Art zur Bedeutungsdimension vollzieht und einen prägnanten Ganzheitsbegriff bietet, der gerade das Bedeutungsproblem als Grund für die Abweisung der gestalttheoretischen Ganzheitsauffassung involviert.3 *) Siehe Krüeger, «Strukturbegriff S. 13 und Neue psychol. Studien 1926 S. 71, 96 101, wo besonders die Berücksichtigung der Gefühlsdimension vermißt wird, die bei Krüeger ja fundierende Rolle spielt. Daher ordnet er die gefühlshafte Ganzheitsdominante urtümlicher «Komplex-Qualitäten}) den Gestalten als «genetisch späten Ergebnissen» unter. — Symptomatisch ist es z. B. auch, daß im Sachregister von Koffkas «Psych. Entw.» das Wort «Gefühl» keine Aufnahme fand. 2 Vgl. Wahrnehmungslehre u. Biologie, Ztschr.f. Psychol. a. a. 0., ferner Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt. Über antipsychologistische Vorurteile bei Kant Ztschr. f. Psychol. 3 Soweit wir sehen können, versucht K. Bühler (Die Krise in der Psychologie 1927) in einer Art Zwischenlösung beide Gesichtspunkte methodisch zueinander in's Verhältnis zu setzen, wodurch ein bedeutsamer Abschnitt zur Überwindung der Krise erreicht scheint.
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Soweit die psychologische Gegenwart in. Frage kommt, könnte das in gewisser Hinsicht bei dem Person-Begriff von W. Stern der Fall sein, zumal da Stern selbst die Entwicklung seiner Lehre durch eine immer stärkere Akzentuierung der bedeutungsphilosophischen Seite charakterisiert sieht.1 (Es wird für den Gang und Status der Untersuchung kaum nachhaltig sein, daß wir vorläufig von «Bedeutung» in einem so weiten Sinne sprechen, der umspannend wäre, einerseits für die «Repräsentation» selbst, andererseits für die Norm, kraft welcher jeder deskriptive «Befund» nur dann ein psychologischer ist, wenn er als Symbol der «Ichhaftigkeit» zu deuten ist. Genauere Bestimmung des Bedeutungsbegriffes §§ 16 und 17.) Der tiefere Gegensatz von Ganzheit und «Gestalt» mag mithin darin zu suchen sein, daß die Gestalttheorie ihren Ganzheitsbegriff letzthin durch die Bedingungen eines Geschehens beglaubigen will, bei dem der «Sinn» der Gestalt lediglich durch einen strukturgesetzlichen Gruppierungshergang konstituiert wird und deshalb also gegenstandsmäßig auf gänzlich anderer, nämlich formaler Ebene liegt, als jene Sinnbestimmung, die unter psychologischem Gesichtspunkt an die bedeutungserfüllte Entfaltung und Gestaltung des Sinnes von der aktiven Ich-Totalität geknüpft ist. Demnach scheint die ursprüngliche Einheit von «Gestaltetem» und gestaltendem Gesamterleben, deswegen keinen rechten Platz in der gestalttheoretischen Psychologie finden zu können, weil der von jenen Qualitäten abstrahierende und zugleich «passive» Charakter der «Gestalten» die notwendige Konsequenz ihrer theoretischen Herleitung aus einer objektiv gedachten Vorgangsgesetzlichkeit ist. Gerade die Beziehung von Wahrnehmung und Umfeld unter gestalttheoretischem Aspekt schien ja ebenso darauf hinzuführen, daß der «Wirkcharakter» der Gestalt nicht in ihrem phänomenalen Dasein selber, sondern durch ihr «Transzendieren» in den Funktionszusammenhang Lebewesen — Umgebung begründet, also in dem Geschehensgefüge dieses Teil-Ganzverhältnisses fundiert wird. Die Hinwendung des Gestalttheorems vom Statischen zum Dynamischen zeitigt daher neben den positiven Ergebnissen die Auflösung der inhaltlich psychischen Qualitäten in den Geschehenszusammenhang der Gestaltgesetzlichkeit und damit eine Betrachtungsart, die gar nicht auf die psychische Realität in ihrer Erlebnisfülle gerichtet ist, sondern auf Formen der inneren und äußeren Reaktion des psychophysischen Organismus. Je mehr man in die Einzelheiten der gestalttheoretischen Grundgesetze—des Prägnanzgrund1
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Vgl. Wertphilosophie, Scheerer
Einleitung
und