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German Pages 55 [56] Year 1914
Die Kunst der Rede von
Friedrich Naumann
Berlin 1914 Verlag von Georg Reimer
Vorwort Von selber würde ich gar nicht darauf gekommen sein, über die Kunst der Rede zu schreiben, wenn mir nicht ein Vortrag in der literarischen Gesellschaft in Hamburg Veranlassung gegeben hätte, meine Erinnerungen und Gedanken an viele Hunderte oder vielleicht Tausende gehörter und gehaltener Reden in der „Hilfe" zu sammeln. Als Leser habe ich mir dabei zweierlei Leute gedacht, nämlich solche, die reden, und solche, die hören lernen möchten. Den Elfteren bringe ich nicht ganz das, was einige von ihnen wünschen, indem ich keine Anweisung darbiete, wie man in vierzehn Tagen erfolgreich über Philofophie, Landwirtfchaft und Sozialpolitik reden kann. Aber folche Schnellredner find ja überhaupt ein Unglück für sich und andere, und Gott soll mich bewahren, zu ihrer Vermehrung beizutragen. Wer über das reden will, wovon er selber etwas weiß, der wird nicht ungern mit mir auch darüber nachdenken, wie man es macht. Und der Hörer wird jeden Redner noch aufmerksamer und interessierter verfolgen, wenn er gewisse Grundlagen der Kunst der Rede vorher begriffen hat. Lernbar im strengen Sinn des Wortes ist zwar keine Kunst, aber sie zu beschreiben, kann Wohl versucht werden.
J u n i 1914.
Es grüßt die Leser Fr. Naumann.
1. Gute Redner sind im gesellschaftlichen Leben nur selten redegewandt. Die bloße gesellschaftliche Handfertigkeit im Reden ist nämlich mehr ein Hindernis als eine Förderung der Kunst des Redens, weil sie in der Mißachtung des einzelnen Wortes besteht, im beliebigen Schleudern mit Sätzen. Ein Redner aber ist ein Liebhaber der Worte, kennt ihren Sinn, wählt sie aus und schont sie vor Mißbrauch. Sehr oft sind Redner sprachlichen Studien zugewandt: Germanisten oder Freunde von Dialektdichtungen, auch Wohl Uebersetzer aus fremden Sprachen. Sie können unruhig werden, wenn sie ein Wort falsch gebraucht haben und benutzen bald irgendeine Gelegenheit, um ihm gegenüber wieder in Ordnung zu kommen. 2. Das Wort ist eine sehr merkwürdige Sache. Oder ist es gar keine Sache, sondern etwas Lebendiges? Es lebt am Menschen, von ihm und mit ihm, ist gar nichts ohne ihn, hat aber doch seine eigenen Rechte und seine Geschichte. Unsere Worte sind sämtlich älter als wir; an ihnen wurden wir erst, was wir sind. Einige unserer Worte sind sogar von allerältestem Wortadel und waren vor aller erkennbaren Geschichte. Andere sind später aufgetaucht, eingewandert oder künstlich hergestellt. M a n muh sich hüten, eine Gesellschaft von Worten gar zu willkürlich zusammenzusetzen, weil es dann an innerer Gegenseitigkeit fehlt. Wer dafür kein Gefühl hat, redet vielleicht fehr deutlich, sehr schnell oder sehr klangvoll, aber im Grunde nicht zart und echt.
3. Unsere deutsche Sprache ist nicht so stavt mit lateinischen und französischen Worten durchsetzt wie die englische. Wenn nun schon in England ein bedeutender Redner wie Gladstone in öffentlichen Anfprachen fast alle romanischen Ausdrücke vermied, um einheitlich volkstümlich zu wirken, um wie vieles leichter können wir Deutsche das tun! Es ist dazu kein ängstliches Untersuchen der Wortursprünge nötig; was an Worten eingebürgert erscheint, wird ausgenommen, und auch was nicht sofort übersetzbar ist, wird geduldet. Der Redner hat im Reden ja gar keine Zeit, ein Wortklauber zu fein, aber man mutz ihm doch anmerken, daß er seine leicht beweglichen Truppen kennt. I h m stehen die Worte zu Gebote. 4. Schon bei der Anrede beginnt freilich die Schwierigkeit der Wortauswahl. Viele Redner verbeugen sich und sagen: Meine Damen und Herren! Ich würde lieber hören: Frauen und Männer! Das aber patzt nicht recht auf die jungen Leute. Alfo verfucht einer: Verehrte Anwefende! Während er es aber ausspricht, merkt er selbst, datz seine Verehrung nicht gar so gewaltig, und datz es eine merkwürdige Benennung ist, gemeinsam wartende Mitmenschen nur als anwesend zu bezeichnen. Ich Pflege fast überall zu sagen: Geehrte Versammlung! Das klingt wenigstens nicht falfch. Besser aber ist es, wenn man beginnen kann: Liebe Freunde und Parteigenossen! Dann hat schon das erste Wort einen Wert. Reden aber heitzt, wertvolle Worte sagen. Reden heitzt, sich von vornherein zu den Erwartenden in das richtige Verhältnis zu setzen, nicht in ein a,elünsteltes Scheinverhalten, wie wenn es lauter geistige Exzellenzen wären. Alle werden geachtet, der Redner aber kommt, um ihnen etwas vorzutragen.
o.
Gute Reden wollen vorher überlegt sein. Sie entstehen in der Studierstube, im Wald, im Zwiegespräch, denn der Redner muh vorher wissen, was er vortragen will, sonst hat er kein Recht, sich bor andere hinzustellen. Natürlich kann" beim Reden in Versammlungen nicht jeder Redner vorbereitet erscheinen, aber es ist auch in der Debatte unerträglich, wenn sich Leute melden, die im Hinaufschreiten noch nicht ahnen, was aus ihrem Munde herauskommen wird. Wenn ihnen gegenüber die Versammlungen unruhig werden, sind die Versammlungen nicht zu tadeln. Das schöne Bürgerrecht der freien Rede fordert, daß der einzelne sich genügend kenne, ob er etwas zu sagen hat oder nicht und ob er es sagen kann; es ist ein Recht für taktvolle Menschen, nicht aber für beliebige Schwätzer. 6. Das Ueberlegen einer Rede mutz im Drang von Rede und Gegenrede bisweilen so kurz sein, wie die Einschaltung eines Musters in eine Maschine. Wer aber erst noch reden lernen will, der soll sich Zeit gönnen, sowohl zum Stoffsammeln wie besonders zum Stoffabwerfen. Nicht die Menge des Stoffes bringt den Erfolg, fondern die Durcharbeitung. Es gibt Vielwisser, die gar keine Redner sind, weil sie vom Abwerfen keine Ahnung haben. Abgeworfen muh alles werden, was nicht in den übersichtlichen Gedankengang paht, mag es noch fo nett fein. Abgeschnitten mutz werden, was für die Hörenden zu fchwer ist. Dabei darf man nicht gefühlvoll sein gegen seine eigenen Liebhabereien. Der Redner redet ja nicht für fich, sondern für andere. Er kann zu Haufe seinen eigenen unfertigen oder tiefgründigen Gedankengängen fo viel Zeit gönnen, als er will, vor der Versammlung aber hat er ihr zu dienen und muh ihre Sprache reden.
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7. Ob es gut ist, Reden wörtlich genau aufzuschreiben und auswendig zu lernen, läßt sich nicht ganz im allgemeinen beantworten. Viele große Redner der Vergangenheit haben sich ihr ganzes Leben lang ans geschriebene Wort gehalten. Vor meiner Erinnerung steht mein Großvater, der unvergessene Leipziger Prediger Ahlfeld, der bis in seine alten Tage die dortige Nikolaikirche füllte. Als er nicht mehr gut sehen konnte, schrieb er seine Predigten trotzdem weiter und ließ sie sich zum Lernen vorlesen. Er war dabei der Meinung, daß diejenigen, die nicht schreiben, stets in Gefahr sind, sich selbst zu wiederholen. Das aber darf zwar und muß der Agitator, der heute hier und morgen dort spricht, aber nicht der Prediger, vor dem stets dieselbe Gemeinde sich versammelt, um etwas neu Entstandenes zu hören. 8. Wer nicht wörtlich schreibt, braucht mehr Stoff als die Schreibenden, weil er nicht genau weiß, wieviel und was er vergessen wird. Ein lieber verehrter Professor, den ich hiermit grüße und dessen Tischreden der Schmuck großer Versammlungen sind, sagte über seine Vorbereitungen: ich muß mindestens das Doppelte in Vorrat haben! Verfügt er über seinen Vorrat nicht, so kommt er sich arm vor und verweilt aus Sorge vor leeren Stellen zu lange bei ausgiebigen Gedanken. Um knapp sein zu können, muß man Fülle besitzen. Diese Fülle aber entsteht nur durch die geduldige Besinnlichkeit, die die Vorfahren Meditation nannten. Das bloße Notigenmachen ist lein Stoffsammeln, denn eine Rede ist kein Lexikon. 9. Als eines Tages nach einer Ansprache über kunstgewerbliche Dinge der Redner gefragt wurde, ob er selber bewegt sein müsse, um Menschen so bewegen zu können, antwortete er:
bewegt gewesen sein. Alle Gefühle nämlich, zu denen der Redner die Versammlung bringen will, müssen in ihm vorher, und zwar stärker entstanden, dann aber schon wieder zum inneren ruhigen Besitz geworden sein, denn nichts ist gefährlicher, als selbst erst während des Redens neue Gedanken und Gefühle zu erleben. So etwas kommt vor, ohne daß man es hindern kann, denn es steigen mitten im Reden neue Möglichkeiten in der Seele auf und wollen Platz gewinnen, aber es ist besser, alle unbekannten Ankömmlinge rücksichtslos auf die Nacht nach der Rede zu verweisen. D a mögen sie sich melden und ihre Prüfung bestehen. Was gut ist, kann dann später gefagt werden. 10. Was aber ein Redner unter allen Umständen besitzen muß, ehe er den Mund auftut, ist die Stoffeinteilung. Alles andere kann während des Redens zufließen, die einteilende Logik aber muß vorher gearbeitet haben. Scheinbar zwar gibt es auch hier Ausnahmen von der Regel, Redner, die sich nachträglich selber Wundern, wie wohlgeordnet und verständig sie gesprochen haben, doch dürfte eine genauere Untersuchung Wohl zu dem Ergebnis führen, daß sie sich auf früher fchon gelegten Schienen bewegt haben. Die alte Kanzelgewohnheit, Thema und Teile anzukündigen, riecht etwas nach Schulstube, hat aber auch für nicht religiöse Reden sachlich vieles für sich. Sie ist ein heilsamer Zwang zur Ordnung in der Bewegung. 11. Da jede Rede ihre eigene Aufgabe hat, fo hat auch jede Vorbereitung ihre eigene Temperatur. Für viele juristische, volkswirtschaftliche, parlamentarische Reden genügt Stoffklarheit, Einteilung und Selbstbefchränkung. Aber auch in diesen Fällen soll der ganze Mensch sich vorher in das betreffende Sachgebiet eintauchen, damit er in dem zu Hause ist, von dem
10 er reden will. J e zarter nun aber die Aufgaben sind, desto mehr verlangen sie die besondere Denkweise ihres Gebietes. Hier liegt die geheime Kraft der Redekunst. Wer über künstlerische Dinge zu sprechen beabsichtigt, gehe als ein künstlerisch gebundener Mensch in den Saal! Wer in der Kirche über Gott reden will, spreche vorher mit Gott! Wer Geschichte darstellen will, verliere die Gegenwart und erlebe das Gewesene! Kann einer das nicht, so macht er Worte über die Dinge, spricht aber nicht aus ihnen heraus. 12. M a n erfährt bisweilen, daß Männer und Frauen, die gar nicht gewöhnt sind, öffentlich zu reden, bei einer einmaligen Gelegenheit ganz vortrefflich fprechen und es viel besser machen als ein Berufsredner. Das ereignet sich meist dann, wenn sie aus ihrer eigensten Welt heraus sich gleichsam ausgießen. Sollten sie es öfter tun müssen, so würden erst die Fragen der Redekunst an sie herantreten, denn dann erst müssen sie mit sich darüber ins reine kommen, was sie gestern geredet haben und was sie morgen sagen wollen. Kunst ist es, die Wiederholung so zu gestalten, als ob sie eine Erstgeburt wäre. Kunst ist es, am oft Gehörten Neues zu zeigen, das Notwendige zum hundertsten Male so gut auszusprechen, daß es nicht müde
macht.
13. Es ist zweierlei, ob man vor der Zuhörerschaft für sich redet oder für andere. Beides hat unter Umständen sein Recht. Wenn vor Gericht der Angeklagte und sein Anwalt eine verlorene Sache bis zu Ende verteidigen, so kommt ein Zeitpunkt, von dem an sie nicht mehr für die Richter oder Geschworenen sprechen, sondern nur noch sich selbst bis zum Schlüsse genügen wollen. Aehnliches erlebt bisweilen der politische Redner in gegnerisch zusammengesetzten Versammlungen. Ich habe in
11 Wahlkämpfen auf manchem Dorfe geredet, wo ich völlig überzeugt war, daß alle meine Hörer von vornherein sich nichts Worten beibringen lassen. Auch städtische sozialdemokratische Versammlungen können wie harte Mauern sein. Das fühlt dann der Redner sehr genau; er kennt die Zwecklosigkeit seines Auftretens, mutz aber auf dem Posten bleiben, mutz um der Sache willen reden, mag es ihm dabei gut gehen oder schlecht. 14. M a n findet aber auch sonst Redner, die für sich selber reden, obgleich es nicht durch die Verhältnisse gefordert ist. Sie machen ihre eigene Musik, unbesehen, wer dabei zuhört. Sie sprechen einfach ihre Phantasien oder Theorien, mag es da drunten jemand verstehen oder nicht. Solche Monologredner sind bei künstlerischen Vorträgen oft fehr gut, weil man da ja gerade die Schaffenden in ihrer Unabsichtlichkcit kennen lernen möchte; auch in reiner Wissenschaft können sie erträglich sein; aber Redner im eigentlichen Sinne sind solche Selbstgespräche vor Zuhörern doch nicht. 15. Die Rede ist eine Zwiesprache, bei der einer spricht und die anderen hörend mitreden. Wer dieses hörende Mitreden nicht begreift, ist nicht rednerisch veranlagt. Es wird aber schwer gelingen, denen, die ihn nicht aus Erfahrung kennen, gerade diesen Vorgang zu beschreiben, da er sich selbst beim Redner nur im halben Bewutztsein vollzieht und auch von den Hörern kaum voll erkannt wird, obwohl er ohne sie nie zustande kommt. M a n sagt, datz eine Versammlung Stimmung hat oder nicht, datz der Redner von ihr getragen wird, datz er ein Echo findet in den Herzen, datz sich unsichtbare Fäden knüpfen. Das find alles nur Verfuche, den Dialog, die Wechfelrede, zwischen sprechendem Einzelmenschen und schweigender Masse zum Ausdruck zu bringen.
12 16.
Nicht immer ist die Versammlung schweigend, es findet sich sogar oft, daß sie sehr lebhaft wird, sei es in Beifall, sei es in Widerspruch, sei es in beidem zugleich. J e weiter man in Deutschland nach Süden kommt, desto beweglicher sind die Gemüter, desto dramatischer können die Abende verlaufen. Damit ist aber nicht gesagt, daß die innere Anteilnahme dort größer ist. Unter dem Schweigen einer niederdeutschen Bauerngemeinde kann sehr viel Anteil verborgen liegen, und dieses soll der Redner fühlen. Er braucht die Zurufe nicht, wenn er seiner Sache gewachsen ist, und nicht selten führen Zurufe auf falsche Nebengeleise, da sie immer nur von zufälligen einzelnen stammen, der Redner aber eine innere Vorstellung von der ganzen Versammlung haben soll. 17. Für wen redet man eigentlich? M a n soll der Idee nach für alle Anwesenden reden und muh auch immer darauf bedacht fein, daß alle hören können, aber feelifch für alle in gleicher Weise zu reden, ist meist unmöglich, weil die Unterschiede zu groß sind. D a sitzen Leute vor uns, denen wir das Ganze in sechs oder acht Sätzen würden sagen können, weil sie schon alle Vorkenntnisse mitbringen und nur wissen wollen, wie gerade dieser Redner die Sache anfangen wird. Und neben ihnen erwarten and^c, daß in den leeren Acker ihres unbeftflanzten Geistes die ersten Stecklinge eingesetzt werden. Da gibt es Hörer, die den Redner schon fast bis in feine Einzelgedanlen hinein kennen, und andere, die ihn sich nur einmal erst an« sehen wollen. Was soll er tun? Er dichtet sich in aller Eile einen Durchschnittshörer und spricht zu ihm, ist aber bereit, diesen gedachten Normalhörer zu verändern, sobald er merkt,
daß er ihn sich falsch gedacht hat.
13 18. Oft redet der Vortragende nur für einen oder eine und läßt die übrige Versammlung dabei zuhören. So weih ich Orte, wo mir etwas fehlt, feit unter taufend Menfchen einer gestorben ist. Noch öfter aber ist der Fall, daß im Laufe des Abends zu ganz verschiedenen Perfonen gebrochen wird, zu Bekannten und Unbekannten, aber immer zu wenigen inmitten aller übrigen. Dabei muß Auge, Ohr und Gefühl kontrollieren, wieweit diefe Wenigen sich als gedachte Normalpersonen eignen, und wenn man merkt, daß sie zu sehr Sondererscheinungen sind, muß man leise von ihnen abrücken und sich andere suchen. Es warten ja genug darauf, daß mit ihnen gerade geredet wird. 19. Schon aus dem bisher Gefügten ergibt sich, welche Bedeutung für die Rede das Auge hat. Dem Kurzsichtigen fehlt ein wichtiges Mittel des Redens, nämlich die unmittelbare Aufnahmefähigkeit für die stille Sprache seiner Hörer. Und was bedeuten dem Redner die Augen der Versammelten! I n ihnen kann alles liegen von der reinen Hingabe an den Gedanken bis zur Gleichgültigkeit und Feindlichkeit. Der Redner sieht, wo Zweifel entstehen, wo Worte falfch verstanden wer« den oder wo Nebengedanken einsetzen. Er kann zwar nicht auf alles eingehen, was er sieht, aber er kennt die Lebendigkeit der Seelen etwa so wie der einsame Wanderer die Geräusche des Waldes versteht. Seine Sinne sind geschärft, und gleichsam im Fluge gleiten die Ahnungen und Wünsche der Versammelten um ihn herum. Er ist allein zwischen ihnen allen und lebt mit ihnen. 20. Diese Aufnahmefähigkeit für Versammlungsregungen muh vorhanden sein, soll aber im Zügel gehalten werden, weil sonst ein Redner entsteht, der sich von den Hörern treiben und
14 schieben läßt. Ich habe solche gekannt, und hoch angesehene Redner gehören in diese Klasse. Sie sind zu biegsam, um führen zu können. Es fehlt ihnen das Ich im Getriebe des Redens: der Stoff ist da, die Technik ist vorhanden, aber schließlich spricht das Unbekannte mitten im Saal! Solche Redner werden andere Menschen, wenn sie in andere Umgebungen versetzt werden. Die böse Welt sagt, daß sie lügen. Das trifft aber meist nicht zu; sie haben nur sich im Reden verloren, vielleicht weil sie gar zu sehr geborene Redner waren. 21. Fast nie kann der Redner sich seine Versammlung vorher genau vorstellen. Selbst der regelmäßige Redner am gleichen Orte, der Geistliche und Rechtsanwalt, auch der vortragende Lehrer, findet Tage mit Hellem Wetter und solche mit Wolken. Wieviel mehr aber trifft das den Wanderredner. Ich fahre nach Frankfurt oder Hamburg und glaube dort bekannt zu fein, jedesmal aber ist die Verfammlung ein neues Gebilde, wie es vorher und nachher nicht vorhanden war. Es entsteht in Kürze eine Gemeinschaft, oder sie entsteht auch nicht. Ob sie aber entsteht, das ist das Entscheidende für den inneren Erfolg der Rede. Diese Gemeinschaft aus unbekannten menfchlichen Elementen zusammenzubauen, ist die Kunstaufgabe des Redners. Er bildet Gemeinde, und sei es nur für eine oder eine und eine halbe Stunde. 5>5> Eine große Bedeutung für den inneren Erfolg, aber haben die äußeren Umstände, vor allem der Raum, in dem sich die geistige Gemeinschaftsbildung abfftielt. Es gibt Säle, Hallen, Kirchen, die von sich aus mitreden, auch solche, die alles Reden im Werden zerstören. Wenn doch die Architekten selber in ihren Sälen reden müßten! Wenn Wallot ein Redner gewesen wäre, so würde der Reichstagssaal völlig anders geworden sein,
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denn aller spitze Pomp ist so unrednerisch wie möglich. An ihm stoßen sich Schallwellen und auch Gedanken. Ein Labsal dagegen ist es, in Deutschlands größtem Saale zu sprechen, dem Nibelungensaal in Mannheim. Es gibt Orte, an die ich als Redner gern gehe, weil sie einen mithelfenden Raum besitzen. Und es gibt Versammlungssäle, die geradezu als Kraftausbraucher zu bezeichnen sind. Dasselbe gilt von den Kirchen. 23. Vom Raum wird der Ton und bisweilen auch das Tempo bestimmt. Es kommt allerdings dabei auch wesentlich in Betracht, wie sehr der Raum gefüllt ist. I n halbvollen Riesensälen oder halbleeren Hallenkirchen zu reden, gehört zu den unerquicklichsten Aufgaben. Wenn nur vierzig Menschen da sind, diese aber in dem entsprechenden Raum, so kann eine sehr gute und warme Versammlungsstimmung sich entwickeln, aber vierhundert in einer Stadthalle für tausend, das ist fast unüberwindbar, auch wenn der Redner für sich selber gar keine Enttäuschungsgefühle oder etwas Aehnliches zu bewältigen hat. Der leere Raum will dann nämlich mitreden und weiß nicht, was er sagen soll. Viele junge Geistliche kennen diesen Zustand aus den Nachmittagsgottesdiensten. Ihnen ist nichts anderes zu raten als: je weniger Leute erscheinen, desto besser und treuer müssen die Erschienenen behandelt werden! M a n darf nie die Erschienenen für die Fernbleibenden strafen. 24. Auch übervolle Räume aber bieten ihre eigenen Nöte. Es wogt und drängt, und die Luft ist dick, und jeder einzelne möchte bald etwas erleben. Dabei schiebt sich zu viel von Echo an den Redner heran, mehr als er in sich zu verarbeiten vermag. Auch bei freundschaftlicher Gesinnung aller Teilnehmer ist hier strengste eigene Ruhe nötig, noch viel mehr aber, wenn die Ueberfülle mit parteipolitifchem Zündstoff geladen ist. Der
16 Redner ist dann wie der Kapitän eines großen Schiffes, das zum ersten Male fährt. Solange er redet, mutz er bei normalen Verhältnissen ohne Hilfe des Vorfitzenden auskommen, das heißt aber: er muh die Verfammlung in der Hand behalten vom ersten bis zum letzten Wort. Wer das noch nicht gemacht hat, der weiß immer nur halb, was reden heißt. Es gibt Reden, über die man fchreiben kann: der Widerspenstigen Zähmung! 25. Ein großer Fehler ist es bei kleinen und großen Versammlungen, wenn der Redner mit der Stimme zu laut anfängt, denn er findet dann im Reden nur fchwer den Rückweg zur richtigen Stimmlage. Welches aber im einzelnen Falle die richtige Höhe und Stärke des Tones ist, das muß mit dem Auge und Ohr während der Anfangsfätze ausprobiert werden. Dieselben Anfangsfätze, die inhaltlich den Redner und feine Hörer zufammenbringen sollen, müssen gleichzeitig nach Schallwellen und Gegentönen ausspähen und versuchen, den letzten Mann unter der Tür ohne Ueberverbrauch gerade noch zu erreichen. Ein erfahrener schwäbischer Freund sagte mir beim Blick auf die Stuttgarter Liederhalle: Sie müssen genau zu dem Mann in der Mitte des Saales reden, dann hören es alle! Weiteres aber über Stimmbildung und Stimmführung findet man in dem netten und nützlichen Schriftchen von Dr. G e i h l e r über Rhetorik, Richtlinien für die Kunst des Sprechens (bei Teubner
1910). Vergleiche auch D a m a s c h k e s interessantes Schriftchen „Volkstümliche Redekunst" (Buchhandlung Bodenreform). 26. Ob es nützlich fei,sichStimme und Handbewegungen von einem Redelehrer korrigieren zu lassen, mag als zweifelhaft angefehen werden. Sicherlich kann eine derartige Schulung im Sinne körperlich und feelifch gefunder Kunst wirken und
17 soll keineswegs von vornherein abgelehnt sein, aber ich und viele andere Redner wollen lieber ein ungeputzter Baum bleiben als ein allzu regelrecht beschnittener. Die Kunstform gewinnt sicherlich in der Redeschule, und ein Arzt gegen allerlei Redekrankheiten wirkt Gutes, wenn er ein geduldiger kluger Naturarzt ist, aber die Sache hat doch auch ihre Kehrseite. Es entsteht ein Nachdenken über die körperliche Technik und den Klang der Rede, von dem man nicht sicher ist, ob man es später wieder los wird. Ich kenne Redner, die dauernd technisch besangen geblieben sind, so wie ich von Schülern berühmter Kunstakademien gehört habe, datz sie vor Besuch dieser Schulen bessere Künstler gewesen seien. Aber finde sich jeder seinen Weg! 27. Manche zwar verdienen, erst einmal in die Schule geschickt zu werden! Damit meine ich nicht die Schwachbegabten, bei denen es schließlich gar nicht so viel ausmacht, ob sie noch etwas Politur erhalten oder nicht, sondern diejenigen der Hochbegabten, die sich selber beim Reden nicht vergessen können. Wenn eine Schule das fertig bringt, den Redner bei aller sachlichen Sicherheit doch unpersönlich zu machen, dann leistet sie etwas Wertvolles. D a denke ich an einen Prediger, der eine so schöne Aussprache der langen vollen Laute au und o besitzt, daß er selber wie eine Nachtigall singt und zuhört, sobald er au und o sagen kann. I h m mutz sein Lieblingston zerbrochen werden, wenn er etwas leisten soll. Oder es tritt einer vor das Volk wie ein Heldentenor, verbeugt sich und denkt: jetzt aber komme ich! Diesem müßte sein Ich ganz klein gemacht werden, denn der Redner selber mutz in seiner Sache untergehen, sonst redet die Sache nicht durch ihn. 28. Nicht an jedem Tage gelingt es dem Redner in gleicher Weise, sich und alles andere über seiner Aufgabe zu vergessen.
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Hat er aber seinen guten Tag, dann wundert er sich selber über die Ströme, die durch ihn hindurchfliehen und die er trotz aller Vorbereitung so nicht gemacht hat. Er fühlt sein eigenes Schaffen als einen Naturvorgang und überdenkt bisweilen blitzartig schnell mitten in der großen vielseitigen A n spannung aller Nerven und Sinne, was sich eigentlich in ihm begibt. Wie aus weiter Ferne sieht er den Stoff aus dem Vorbeveitungslager hervorrücken: es kommt und will zu Worten werden! Da aber sitzt irgend etwas in ihm am Ufer und prüft fchnell noch einmal jedes Wort, jeden Satz, jeden Witz oder Anspielung, verändert, beseitigt, verbindet, glättet, schärft. Doch während dies geschieht, rückt immer unaufhaltfam alles weiter. Manches mutz unfertig über den Zaun der Zähne, einfach weil keine Zeit ist zum Stillehalten. Aber der nächste Satz kann des vorhergehenden besserer Bruder werden. Immer der nächste Satz ist das Problem der Minute. 29. Es waltet im Redner ein Schaffender, ein Verteilender, ein Formgebender, ein Sprecher und ein Hörer. Unter Umständen merkt er alle fünf starken Gefellen zugleich, etwa fo wie wenn ein Meister zusieht, wie seine fünf Männer das Eifen holen, glühen, halten, drehen und Magen. Wer das richtig beobachten und befchreiben könnte, würde einen fchönen Beitrag zur Seelenkunde liefern, denn nie ist die Seele, dieses dunkle Ding, so offen wie dann, wenn sie am allerängstlichsten arbeiten mutz. Aber der einzige, der solche Beobachtungen anstellen könnte, der Schaffende, ist eben in diesen Momenten kein Beobachter, da er ja selber seine Seele hergibt. Er hat keine Zeit für Psychologie, denn vor ihm ist die Versammlung und hinter ihm drängt der Stoff, und er ist nichts als Organ, Instrument, und will nichts anderes sein. J e künstlerischer er aber gebildet ist, desto mehr gedenkt er, ein sauberes, feines
19 Instrument zu werden, keine Aeolsharfe und kein Klimperkasten, sondern wie eine gute Violine, auf der eine lange Melodie tapfer und tonrein gefpielt wird. 30. Und wie jede Musik ihr Tempo, ihre Zeitfolge besitzt, so auch die Rede. Der Taktmesser des Redners ist der Stenograph. I n einer Art zwar mag es vom Standpunkte der Redekunst aus ein Unglück sein, daß die Stenographie erfunden wurde, denn durch sie entsteht die gedruckte nachgeschriebene Rede, die keine Schriftstellerarbeit ist und doch auch kein gesprochenes Wort. Eigentlich sollte man Reden nie nachschreiben, denn sie sind zum Hören da. Wer gelesen sein will, soll sich selber an den Schreibtisch setzen! D a nun aber die Stenographie doch einmal erfunden ist, dient sie dem Redner zur Kontrolle. Er fragt den Stenographen: wie fchnell habe ich heute gesprochen? Antwort: zwischen 170 und 220, nämlich Silben in der Minute! Das ist nicht zu. schnell, denn Laster sprach meines Erinnerns bis zu 360. Es gibt auch Langsamsprecher, die sich nach jedem Worte erst umsehen. Wer aber langsam reden will, mutz schwere Wahrheiten in seiner Tasche haben, sonst wird er langweilig. Und wer schnell spricht, mutz locker weben, weil sonst die Fäden reitzen. Naturanlage, Art des Stoffes, Laune und vieles andere machen zusammen das Tempo. 31. Die Frage des richtigen Zeitmaßes ist nämlich ein höchst merkwürdiges Stück innerhalb der Redekunst. Meist arbeitet man sozusagen ohne Zeitgefühl, aber dann merkt man eben doch, daß von den Versammelten jeder einen anderen Rhythmus mitgebracht hat. Diefelbe Sache, die der eine in vier Sekunden begreift, beschäftigt den anderen länger als eine halbe Minute. So lange kann ich nicht warten, aber ich kann und darf auch 2*
20 nicht mit dem Viersekundendenler Vorwärtseilen, wenn ich die Versammlung nicht hinter mir liegen lassen will. Einer meiner Freunde redet so schnell, daß ich nach etwa 15 Minuten nicht mehr mitkomme, weil mir der Atem ausgegangen ist; die Versammlung aber sitzt und staunt, nicht über das, was er redet, sondern wie schnell er es kann! Das italienische Sprichwort: Wer langsam geht, der lange geht, hat in der Rede sein Recht. Nur mutz man dann den Schnelldenkern immer einmal etwas hinwerfen, damit sie für ihre Hörpausen eine Beschäftigung haben. Sie sind ja meist für,Wortspiele, Zwischengedanken und Aehnliches empfänglich, während das die anderen kaum stört. So redet man gleichzeitig für zweierlei Hörer. 32. Wer aber langfam redet, darf keine langen, schwer verflochtenen Sätze machen, weil man ja sonst den Anfang vergessen hat, ehe das Ende erscheint. Aus Ciceros langen Perioden glaube ich seinen Tonfall und sein Tempo herauszuhören: Glatte Schnelligkeit! So reden ja überhaupt die Romanen oft, sowohl Italiener wie Franzosen. Wenn Iaurss in Paris spricht, dann flieht es nur so, dann rauschen die Sätze, als wenn Militärmusik marschiert. Auch Lassalles Reden zeigen Stellen, die überhaupt nur schnell gedacht werden können. So muh auch Schiller auf dem Katheder gesprochen haben. Die ganze glänzende ältere Rhetorik hat eine Art Sechsachteltakt in sich und konnte es, denn sie sprach zu romanischen Völkern oder zur schneller denkenden Bildungsschicht. Wer aber mit dem deutschen Volke Deutsch reden will, kein Halblatein, keinen Franzosenstil, der geht von selber Schritt vor Schritt. Kann überhaupt einer auf Plattdeutsch schnell in langen Sätzen reden? Plattdeutsch aber ist das Deutsch, das am wenigsten romanisiert ist. Nach Norden nimmt nicht nur die äutzere Beweglichkeit der Versammlung ab, sondern auch die Schnelligkeit der Zunge.
21 M a n muh dann aber dort mindestens ebensoviel in wenigen Worten zu sagen wissen. 33. Als ich vor etwa 20 Jahren eben anfing, ins öffentliche politische Leben einzutreten, hörte ich eine Rede des Abgeordneten v. Vollmar über Landagitation, die mir einen unverlöschlichen Eindruck gemacht hat, weil sie märchenhaft ruhig war. Er sah, da er schlecht stehen konnte, oben auf der Bühne und erzählte seinen Genossen, wie sie es nicht machen dürften, wenn sie zu den Landleuten reden wollten. Wir standen dicht gedrängt in einem großstädtischen Saale, aber mit den Worten von da droben kam das Land zu uns, die Wirklichkeit, das leise Wachsen auf dem Feld und im Menfchen. Ueberhaupt redet man oft am besten, wenn man sitzen kann, was meist nur in kloinen Landversammlungen möglich ist. Da fällt der letzte Rest von Cicero und Marquis Posa still auf den sandbestreuten Fuhboden, und es bleibt nur etwas übrig von altem Testament und Pestalozzi oder auch von Goethe und Fritz Reuter, das heiht von naturwahrer Schlichtheit, die keine Goldleisten braucht und keine gedrechselten Pfeiler. Solche kleinen traulichen Versammlungen sind die hohe Schule für die, die dann vor vielem Volke zu stehen haben. 34. Wir erleben im Kunstgewerbe das Aufkommen eines deutfchen Stiles. Möge er reif werden und nicht in neue Künsteleien verfallen! Etwas Aehnliches vollzieht sich in der Rede, nur geht es viel unbewußter vor sich, was kein Schade ist. Bismarck ist ein Wendepunkt gewesen. Die meisten seiner parlamentarischen Zeitgenossen sprachen noch vorbismarckisch, schillerisch, romanisch, waren Schüler der Lateinschulen und wollten klassisch wirken. Bennigsen, dessen Reden wir als Gymnasiasten noch tranken wie Terlaner Wein, war der schöne,
22 schon etwas weich gewordene Ausklang eines Bildungszeitalters, das auf deutsches Holz eine Furnitur, eine blinkende Glanzschichi aus fremdem Stoffe auflegte. Schon mit Miquel und Windthorst kamen etwas andere Töne hinein, aber Bismarck selber war stärker als sie alle, denn er redete nicht wie die Schriftgelehrten, sondern wie einer, der Macht hat über Menschen und Dinge. Er sprach nicht glatt, war kein Cicero, aber Europa hörte ihm zu, weil er etwas zu sagen hatte. 35. Nun hatte zwar Bismarck den einzigartigen Vorteil, daß man auch dann auf ihn gehört haben würde, wenn er als Redner nichts getaugt hätte. Wenn er als Redner nicht getaugt hätte!? Ist das eigentlich bei ihm ausdenkbar? Wenn er geredet hätte wie Bülow oder wie Bethmann, so wäre er eben nicht Bismarck gewesen, denn sein Reden war eben doch nur ein Weiterstrahlen seines Wesens. Er redete nicht deshalb anders als die vorhergehende Schicht von Rednern, weil er etwa eine andere Ausfassung der Redekunst hatte, sondern weil er eine andere politische Lebensauffassung in sich trug. Der Redestil des Menschen ist wie sein Schreibstil und wie seine Handschrift etwas ihm Anhaftendes. Jeder Mensch hat im Grunde seine eigene Art zu reden, nur findet längst nicht jeder die seinige, weil er mehr scheinen möchte als er ist, oder weil er schulmäßigen Vorbildern nachstrebt, oder weil er überhaupt ein zu geringes angeborenes Stilgefühl hat. Es geht in dieser Hinsicht dem Redner wie zahllosen Architekten, die deshalb nichts Gutes und Einfaches bauen, weil sie einen Traum haben, als sei die Peterskirche oder der Kölner Dom gerade gut genug, um für ihr Gebilde den Hintergrund abzugeben. 36. Was Bismarck im Großen konnte, kann jeder andere im Kleinen versuchen, wenn er nichts vortäuschen will, sondern
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eben nur sagen, was er denkt. Das ist unter Umständen grausam, wenn einer nichts denkt. Dann aber darf er ja den Mund halten! Die alte schulmähige Redekunst half über diese Grausamkeit hinweg, indem sie gute Formen beibrachte, die auch ohne neuen eigenen Inhalt wirken sollten. Das aber hat sich abgelebt. Der große angelernte Ton ist für uns ein unerträglicher Klang. Wir schätzen die Würde, die Glätte, den Faltenwurf, den Pomft in historischen Schauspielen, aber nicht in der gegenwärtigen Rede. Das, was wir heute Kunst nennen, ist nach der Empfindung klassifcher Vorzeit überhaupt keine Kunst, denn es ist einfacher, fachlicher und perfönlicher. Aber gerade darum kann es nicht jeder. 37. Wenn deshalb der Redner durch die Reihen der Versammelten schreitet, um zum Rednerpult zu gelangen, soll er vor allen Dingen nicht beabsichtigen, ein Fremder sein zu wollen. Er soll nicht Redner sein wollen, sondern Aussprecher von Anschauungen und Gedanken, die gesagt sein möchten. Dabei darf er ruhig auch in späteren Jahren und nach mancher Erfahrung ein gewisses Bangen in sich tragen, denn jede Rede ist ein Wagnis, ob sie gelingt oder nicht. Er bangt nicht vor der Versammlung, nicht vor der etwa anwesenden Kritik, aber vor der Aufgabe, die nach noch fo vielen früheren Proben im Reden ihren eigentümlichen Zauber und ihr stilles Geheimnis nicht verliert. Immer wenn ein Mensch etwas Persönliches leisten soll, gibt er etwas von sich preis, läßt andere in sich hineinsehen und sorgt, daß er ihnen nicht zu viel, nicht zu wenig, nichts Falsches, nichts Angeborgtes oder Uebertriebenes mitteile. Begreiflicherweise steigern sich diese Gefühle mit der Innerlichkeit der Dinge, über die gesprochen werden soll. Wer etwas Technisches redet, hat sie weniger als der, der sich entschließt, etwas Moralisches zu reden. Und sollte einer
24 diese Verantwortungsgefühle nicht kennen, dann wollen wir ihn bitten, dah er nicht über sittliche und erhabene Gegenstände
spricht.
38. Es wächst beim Redner im Lause der Jahre der eigene Redestil. Andere werden ihn erkennen, er selbst aber soll ihn nicht suchen, denn ebensowenig wie man fremde Vorbilder künstlich nachahmen darf, ebensowenig soll man sich selbst eine eigene Manier zurechtmachen, etwa so wie ein Maler immer nur gclbe Herbstwälder malt, weil ihm einmal einer herrlich geglückt ist. Wenn der Maler in Gefahr ist, in Manier zu verfallen, sagen ihm seine Freunde, daß er einmal etwas ganz anderes sich bornehmen solle. So muh der Redner zu seiner eigenen Zucht auch fernliegenden Stoffen gerecht zu werden suchen. Insbesondere dem Prediger ist zu empfehlen, daß er öfters auch ohne Tatar und in rein weltlicher Umgebung über praktische Angelegenheiten spricht. Das wird seine Predigten bessern. 39. Eine Gefahr für junge, aber auch für ältere Redner ist es, wenn sie zu oft auftreten müssen. Dadurch verliert sich die Scheu vor der Aufgabe des Redners allzufehr, das Persönliche wird zur Gewohnheit (Routine), wie wenn ein Grammophon abgedreht wird. I n Wahlkämpfen kann der politische Redner dieser Gefahr gar nicht entgehen. Ich habe gelegentlich in drei Wochen 61 Versammlungen gehalten, und andere haben in Wahlzeiten noch mehr geleistet. Da verwandelt sich Kunst in Wiederholung. Wem diese Pflicht auferlegt ist, der muh sie erfüllen, nur soll er dann den rollenden Schwung solcher Wochen nicht für seine eigentliche Redekunst halten. Als Reinigungsbad ist hinterher eine Schweigenszeit zu empfehlen und nach dieser einige Ansprachen über ganz andere Stoffe, damit die Zunge wieder fuchen lernt. Auch Geistliche und Wohl auch
25 Rechtsanwälte kennen den Zustand, wo sie kaum mehr wissen, was sie sagen; das fühlt sich an wie Leichtigkeit und ist Entgeistigung. Ich habe mich stets am Schluß von Wahlkämpfen bemüht, etwas Neues mit neuer Stoffverteilung zu schaffen, soweit es die Kraft und das Gedächtnis noch hergeben wollten. 40. Das Gedächtnis! Jeder Redner ist ein Gedächtniskünstler, mag er wörtlich aufschreiben oder nicht, sobald er nur kein Ableser ist. Wenn wir noch die Gewohnheit der alten Römer hätten, den Berufsgottheiten kleine nette Tempel auszubauen, so würde die Brüderschaft der Redner einen Tempel und Altar dem Gedächtnis stiften müssen. Wie vieles hängt davon ab, daß die wunderbare Maschinerie des Gedächtnisses richtig arbeitet! Darum ist es falsch, vor der Rede das Gedächtnis mit anderen Dingen zu belasten. Auch gute Bekannte müssen in dieser letzten Stunde das Gedächtnis schonen helfen und nicht verlangen, daß man mit einer Rede im Kopf sich noch genau besinnt, welchen Brief sie bor vier Monaten geschrieben haben. Das beste ist, ruhig sein, während die Versammlung sich füllt. Andere reden lassen und sich in sich selber zurückziehen! M a n sitzt in seinem Winkel und wartet still, bis die vielen schweigen, und die Rede beginnt. 41. Ist nun die Versammlung ruhig geworden, so gilt es, sie zur Einheit vorzubereiten. I n den Kirchen geschieht das durch Orgel und Gesänge, aber die freie Rede mutz felber das Stimmen der Instrumente besorgen. Das ist der alte Sinn der Einleitung. Für keinen Teil der Rede aber ist eine schulmähige Vorschrift weniger zu geben als für diesen. Die Einleiwng ist als Kunstleistung oft schwieriger und wichtiger als alles andere, denn von ihrem Gelingen hängt es ab, ob eine Gemeinschaft des Denkens zustande kommt oder nicht. Oft genügen zwei
26 Sätze, die einfach nur den Inhalt der Besprechung ankündigen, weil der Gegenstand selbst von allen erwartet wird. Bisweilen ist es richtig, sofort mitten in die Sache zu springen, um am Einzelbeispiel die Wichtigkeit der Erörterung zu zeigen. I n anderen Fällen ist ein Vorspiel angebracht, sei es etwas Stimmungsbereitschaft oder Auseinandersetzung mit Gegnern. Hundert Möglichkeiten sind da, doch nur eine davon ist für jeden einzelnen Fall ganz richtig. 42. Aber mag man nun die Einleitung lang oder kurz gestalten, direkt oder indirekt, so sollte kein Redner versäumen genau mitzuteilen, über was er zu sprechen gedenkt, falls das nicht schon ausreichend in der öffentlichen Ankündigung enthalten war. Scheinbar zwar ist es eine höhere Kunst, die Hörer, ohne daß sie es merken, vorwärts zu einem Ziele zu führen, das nur der Redner kennt, jedoch die Mehrzahl der Hörer verliert dabei allzu leicht den Faden. Sie wollen wissen, woran sie sind, wollen nicht als Material für rednerische Experimente behandelt werden. Um in Gedanken mitreden zu können, verlangen sie von vornherein Klarheit über Ziel und Zweck. 43. Die Zielanlage kann unter Umständen etwas Mühe machen, wenn nämlich in derselben Rede recht verschiedene Dinge besprochen werden müssen, wie es bei politischen Reden oft der Fall ist. Das angekündigte Thema lautet „Die politische Lage" oder „Volk und Regierung" oder sonst in ähnlicher Weise. Die Hörer wollen über Tagessragen etwas erfahren, sei es nun über die deutsch-englische Abmachung oder den KruppProzetz oder die Geburtenabnahme oder das Sonntagsruhegesetz. Wie viele solcher Punkte der Redner behandelt, hängt oft von seiner Zeit ab; er hat die Uhr vor sich liegcm und weiß, wann der Eisenbahnzug abgeht. I n diesem Falle liegt die Einheit der
27 Rede in der Stimmung und Parteigesinnung, nicht aber in ihrer eigenen Architektur. Das ist nicht zu tadeln, weil es nicht anders gemacht werden kann, aber zu den Reden im vollen Kunstsinne sind derartige Sammelansprachen kaum zu rechnen. I n ihnen aber soll wenigstens jedes einzelne Stück, jede Untergruppe klar herausgearbeitet werden, damit die Versammelten sich nicht vorkommen wie Wanderer im Nebel. 44. Erst nachdem das Ziel ausgesprochen ist, haben Redner und Versammlung ihre gemeinsame Aufgabe erfaßt. Von da an ist der Vorhang eines gesprochenen Schauspiels in die Höhe gezogen. Die Rede steigt, überwindet Hindernisse, steigt weiter, gewinnt an Umsicht, findet ihren Höhepunkt, verweilt droben so lange, als der Gegenstand es gestattet, und sucht dann den Ab» stieg hinein ins Leben mit allen seinen Krümmungen und Irrungen, bis am Schluß irgendein festes „ D u sollst" an den Hörer heranklingt. Diesen Aufstieg und Abstieg, Einführung, Vertiefung, Anwendung richtig zu finden, ist Sache vieler Uebung. So wenig jemand dadurch ein guter Bergsteiger wird, daß er Reisehandbücher liest, so wenig kann ein Handbuch den Aufbau der Normalrede beibringen. Es verlohnt sich aber, dem Vergleiche der Rede mit der Alpenwanderung noch etwas nachzudenken, denn in beiden Fällen handelt es sich um Anwendung erworbener Fähigkeiten auf einem neuen Gebiet oder um ein zweites Gehen auf fchon einmal erlebtem Pfade. 45. Wenn man abends irgendwo in Tirol oben in der Alpenvereinshütte sitzt, da disputieren die tapferen jungen Kerle in ihren dicken Wolljacken, ob das oder jenes gemacht werden kann. So ungefähr überlegt der Redner, ob dieser oder jener Berg von Gedanken rednerisch zu bewältigen ist. Um ein schweres
28 Beispiel zu nennen: Ich hatte als Thema angegeben „Der Kampf um das Mittelländische Meer", und wollte von den alten Phöniziern bis zu dem letzten Balkankriege gelangen. Da lag ich gleichsam über der Landkarte, um den kürzesten und dabei aussichtsreichsten Weg zu finden, der meinen Mitwanderern nichts Unmögliches zumutete und sie und mich in höchstens anderthalb Stunden ans Ziel brächte. D a will sozusagen jeder Schritt bedacht sein, damit keine Verzögerung eintritt. Aber trotz allem vorherigen Ueberdenken ist die erstmalige Wanderung selber doch immer ein Wagnis und wird bisweilen von niemandem mit mehr Spannung verfolgt, als vom Redner fclber. 46. Die zweite Rede über dieselbe Aufgabe vollzieht sich unter ganz anderen Bedingungen als die erste, ist aber sehr oft, rein technisch betrachtet, nicht weniger interessant. M a n weiß dann die Stellen, an denen man beim ersten Gange unsicher war, wo aus irgendeinem Grunde der Plan nicht patzte, wo Steine gerutscht waren oder Ausblicke nicht gelangen. Jetzt geht man mit mehr Bewußtsein, vielleicht weniger keck, vielleicht mit Abkürzungen, aber man kontrolliert sich selber. Das alles muß fröhlich und natürlich bleiben genau wie droben in Tirol, sonst wird es zur kalten Sportleistung, und die Mitwandernden empfinden die Schulmeisteret. Manche Rede wird erst im dritten Anlauf gut, von da an aber Pflegt sie wieder zu verlieren. Es gibt natürlich auch Reden, die nie gut werden können, weil irgend etwas im Plan von vornherein falsch gedacht war. Diese muß man glatt fallen lassen. Zu viel korrigieren verdirbt hier wie anderswo die ganze Arbeit. 47. Manche rednerifchen Berufe bieten nur selten die Möglichkeit der zweiten Ausführung. Das aber kann erfetzt werden
29 durch spätere Behandlung ähnlicher Stoffe. Ich stelle mir vor, daß der Rechtsanwalt in diefem Sinne von einer Rede zur anderen lernt. Beim Geistlichen liegt aber in der Tat eine gewisse Gefahr darin, daß er zu oft neue Reden entwerfen foll. Ein junger Pfarrer foll im Jahr etwa fechzig Predigten und außerdem zahlreiche Ansprachen halten. Das ist für den, der noch keine eigene felbsterworbene Fülle mitbringt, zu viel. Er kann fast nie eine Rede bis in ihre für ihn mögliche Vollendung durcharbeiten, da er sie nach dem ersten Versuch fallen lassen muß, um schon wieder eine andere vorzubereiten. Die geistliche Leitung würde den Durchschnittszustand der Predigten wahrscheinlich heben können, wenn sie mehr auf gegenseitigen Austausch der Predigtkräfte bedacht wäre und dabei den Sinn für die rednerifche Verbesserung offen als Grund diefer Maßnahme angeben wollte. 48. Ob es ein Normalschema sür den Aufbau der Reden gibt? Nein! Aber es würde nicht nutzlos fein, wenn auf dem Gebiete der Rede eine theoretifch-prattifche Arbeit geleistet würde wie etwa Gustav Freytags Technik des Dramas für die Theaterdichtung. Vielleicht entfpricht kein einziges Drama in der Welt ganz der Freytagfchen Technik, aber die Augen für das technische Problem selber werden geöffnet. Der Redner bekommt Gefühl für die Stufenfolge der Gedanken, für die Schichtung der Massen, für zielbewußte Führung. I n diesem Sinne mag auch dem Redner das noch immer inhaltvolle Buch nicht unwert sein. Ebenso ist es nützlich, die sogenannten Formalstufen der Herbart-Zillerschen Unterrichtslehre zu kennen, damit man einige Zeit ihnen folgt, nur um etwas Anhalt für rednerische Architektur zu finden: Zielangabe, Interesseweckung, Begriffsborbereitung, Stoffmitteilung, Einzelerklärung, Vertiefung, Formulierung, Anwendung, Aufforderung.
30 49.
Es ist nicht zufällig, daß wir sowohl dramatische wie unterrichtliche Technik als benutzbare Vorbilder bezeichnen, denn die Rede steht in der Tat zwischen Drama und Schule, ist schlichter als das erste und gehobener als das zweite. Dem Drama gegenüber fehlen alle Mittel der Ausstattung und der Mehrzahl der sprechenden Personen, dem Schulunterrichte gegenüber aber besitzt die Rede den inneren Willen zur zusammengefügten Einheitsleistung in viel höherem Grade, als eine durch Fragen und HilfsMaßregeln durchbrochene Lehrstunde. Die Rede will bewegen, indem sie lehrt. Sie will je nach ihrem Inhaltsgebiet die Richter bewegen oder die Glaubensgenossen oder die Wähler oder die Kunstfreunde. Und auch da, wo die Rede scheinbar nur Belehrung sein will, hat sie den Trieb in sich, die Bildung zum Charakterbestandteil zu erheben, so wie es der Schulunterricht in den sogenannten Gesinnungsfächern auch erstrebt. 50. Eine juristische Rede sucht nach Verwirklichung des Rechtes. Selbst wenn sie unglücklicherweise eine schwache Sache zu vertreten hat, wird sie nie versäumen, den vielleicht kleinen Teil von formalem und sachlichem Rechte hervorzuheben und herauszuarbeiten, den auch der Uebeltäter noch für sich in Anspruch nehmen kann. Sein einzelner Fall wird unter die allgemeine Beleuchtung gestellt, daß keiner ohne den Schutz der Gesetze existieren darf. Darin ruht ihre innere Wärme, und von da aus ergibt sich auch ihr Aufbau. Die zwei Mittelpunkte, um die sich jede Verteidigung und auch jode Anklage bewegt, sind die Einzeltat und das für alle gültige Recht. Tat und Recht müssen klargestellt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. 51. Da ich selbst nur selten Gelegenheit hatte, Proben der juristischen Beredsamkeit mitzuerleben, begnüge ich mich hier
31 mit einigen Andeutungen, möchte aber ein so wichtiges Gebiet der Redekunst nicht ganz übergangen haben. Es scheint mir, daß abgesehen von Tatsachenfeststellung und scharfer Logik das eigentlich Rednerische in dem bewußt geübten Verfahren der Vergrößerung und Verkleinerung besteht. Die fragliche Tat oder das umstrittene Privatrecht wird behandelt wie ein Acker, der verkauft werden soll; der Verkäufer sucht alle seine Vorzüge heraus, und der Käufer alle nassen und dornigen Ecken. Beide bemühen sich, wahr zu bleiben, denn sobald ihnen das nicht mehr gelingt, geben sie dem Gegenspieler Gelegenheit zu wirkungsvoller Einrede, beide aber steigern das Wahre, damit es doppelt sichtbar wird. Der Staatsanwalt steigert die Gräßlichkeit des Vergehens, und der Verteidiger steigert die Macht der entschuldigenden Nebenumstände. Dieselbe Sache, dieselbe Person sieht in zweierlei Rede oft unglaublich verfchieden aus. 52. Vor Jahren war ich Zeuge in einer ganz kleinen armseligen Diebstahlsangelegenheit. Ein Mädchen hatte eine Geldtasche mit etwa einer Mark Inhalt mitgenommen. I h r Tun war von vornherein allen Beteiligten menschlich verständlich. Es wurde auch nicht lange geredet, aber in den kurzen gewohnheitsmäßigen Ansprachen klangen alle starken menschlichen Gefühle irgendwie als Untertöne mit: das heilige Eigentum, die notwendige Strenge des Staates, die hohe Pflicht, lieber zu leiden als zu stehlen, das Mitleid, die Nachsicht gegenüber der Unwissenheit und die Aufzeigung des Kontrastes, daß fo viele Menschen wegen einer Mark so viel Gerede machen. Reden, die auf derartigen Hintergrund ganz verzichten, sind keine Reden. I n jeder Rede wird etwas obere Welt in Alltagsgefähe gegossen. 5o.
Der juristische Redner soll Parteiisch sein, das heißt, er soll und will einer Person oder Sache dienen. Das erscheint
32 nur dem als Schwäche, der nicht begriffen hat, daß jedes Beleuchten in aller Welt die eine Seite hell macht und die andere in Schatten setzt. An sich ist in der Natur nichts gut oder schlecht, weder gerecht noch ungerecht. Der große Strom des Geschehens fließt dahin und folgt seiner eigenen Schwere. Erst die Menschen setzen fest, was sie als segenbringende oder zerstörende Wirkung seines Flutens ansehen, und je nachdem finden sie in ihm eine Gottheit oder ein Wasser des Verderbens. Indem aber die Menschen das tun, Verfahren sie nicht willkürlich, sondern folgen ihrer Lebenserfahrung. So wird der Strom menschlicher Handlungen zum Gegenstande wechselnder Beurteilungen, und der Redner ist Organ der Urteilsbildung. Er gibt den Handlungen Werte, und je unsicherer und verwickelter im einzelnen FallediegewohnheitsmähigeBeurteilungscheint, desto schöpferischer wird der Mann, der als Wertverleiher vor die Brüstung des Gerichtes tritt. 54. Wenn Schiller den Künstlern zuruft, der Menschheit Würde sei in ihre Hand gegeben, so soll man dabei nicht in letzter Linie derer gedenken, denen es vom Schicksal gestattet ist, Recht zu gestalten und Unrecht zu wehren. Natürlich können sie nicht aus sich heraus ein ganzes Rechtswesen neu erzeugen; sie stehen im geschichtlichen, gesetzlichen, formulierten Recht, aber indem sie es anwenden, bilden sie es fort. Und jede einzelne Rede, die sich an Richter oder Geschworene wendet, sieht in ihnen nicht die zufälligen Menschen mit Tatar, Anstellung oder Auftrag, sondern spricht zu ihnen wie zu Senatoren der ewigen Iustitia. Ohne diese Achtung vor dem inneren Berufe wird die juristische Rede wie jede andere Rede zum klappernden Handwerk und mag zwar Erfolg haben, ist aber als Rede tot. Hier aber beschäftigt uns ja gerade dieses: wodurch die Rede zur Rede wird. Redner müssen Idealisten sein, gerade so wie Dichter und Erzieher.
33 55. Auch der politische Redner muß Parteivertreter sein, mag er vom Regierungstisch aus sprechen oder von der Abgeordnetentribüne oder drautzen in der Versammlung, mag er in der Kommissionssitzung Paragraphen beantragen oder im Wahlkampfe zur Urne rufen. Darum folgt auch er mit und ohne Willen dem Gefetz der Verkleinerung und Vergrößerung. Die Mängel eines Gefetzes, für das der Redner gestimmt hat, erscheinen ihm begreiflicherweise kleiner als die Mängel eines Gesetzes, gegen das seine Partei aufgetreten ist. Ist er für Militärbewilligungen, so sieht er die europäischen Gefahren in anderem Lichte als wenn er von vornherein entschlossen ist, keinen Mann und keinen Groschen bereitzustellen. Dabei braucht und soll keine Unwahrheit sein, es ist vielmehr die wunderbare Vieldeutigkeit alles politischen Erlebens, die in der Vielstimmigkeit der parteipolitischen Deutungen zutage tritt. Es ist ja gleichzeitig wahr, daß Europa den Frieden will und vom Krieg umsponnen ist, daß Zölle nützen und schaden, daß die Regierungen gut und schlecht sind, daß viel oder wenig Sozialpolitik geleistet wird. Wer aber alle diese Vieldeutigkeiten des unendlichen Lebens in sich verkörpern und aus sich heraus sprechen will, der ist kein Gestaltender. Schaffende müssen Partei ergreifen. 56. Wer kein Wollender ist, wird nie politisch reden können. Ganz oben auf der Höhe der Minister und obersten Parteiführer zwar kann es unter Umständen die Ausgabe einer einzelnen Rede sein, den Willen abzuschwächen, die Gegensätze zu verschleiern, die Begriffe zu lockern, aber selbst für diese obersten Führer gehört ein starker Hintergrund früherer Willenhaftigkeit dazu, wenn solche Dämpfungsreden nicht als persönliche Mängel des Redners fühlbar werden sollen. Ich erinnere mich, indem ich dieses schreibe, an die Art, wie Miquel
34 in seiner letzten Periode zu reden Pflegte. M a n hörte den Geist und wußte nicht, von Wannen er kam und wohin er ging. Auch Spahn redet bisweilen hieroglyphisch. Ein Mann in vielfach gebundener Stellung mit der Pflicht ausgleichender Weisheit kann nicht ins Gefecht reiten wie ein junger Bursch. Damit wird seine Rede zum technischen Genuß für Wissende, verliert aber an Naturhaftigkeit, Dramatik und Kraft. 57. Was ist der Wille? M a n sollte ihn kennen, um auf ihn wirken zu können! Wer aber kennt ihn? Geht zu den Seelenkundigen, klopft an bei den Philofophen, fragt die Naturlenner, sie alle stammeln nur, wenn sie vom Willen etwas sagen möchten. Ist er der Schöpfer oder das Erzeugnis der Vorstellungen, die sich im Hohlraum unseres Bewußtseins ablösen? Ist er beides? Ich weiß darüber nicht mehr als andere sterbliche Menschen, aber so viel weiß ich, daß der Redner daran glauben muß, daß der Wille der anderen von ihm beeinflußt Werden kann. Die ganze Berfammlung, die vor mir sitzt, verliert allen Zweck, sobald ich aufhöre, das zu glauben. Ich setze als Redner und insbesondere als politischer Redner bei meinen Hörern die Möglichkeit voraus, daß ich in ihnen entwede? Vorstellungen wecken kann, die sich dann bei ihnen in Entschlüsse umsetzen, oder daß mein Wille durch eine Art von Induktionsstrom den ihrigen in gleicher Stromrichtung mit in Bewegung setzt. M i t diesen zwei Möglichkeiten sind zugleich die zwei Grundformen der politischen Rede gegeben. 58. Viele von meinen Lesern haben August Bebe! gehört. Das war Strom, mehr Strom als Gedanke, hinreißender, fabelhafter Strom. Sobald er lehrhaft werden wollte, wurde er alltäglich; da erhob sich die Klarheit seiner Beweisführungen
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oft nicht sehr über das, was durchschnittliche Genossen auch hervorbringen. Aber wenn dann der Geist über ihn kam, der Zorn, das Mitgefühl, die große Hoffnung, dann war es sozusagen fast gleichgültig, was er sagte, dann war er ein Naturereignis wie der Ausfluß der Rhone aus dem Genfer See. Es war merkwürdig, wie sehr, besonders in seinen jüngeren Jahren, alles an ihm Willensweckung wurde. Wer das erlebt hat, vergißt es nie, aber gedruckt sind Nebels Reden kahl und breit. Sie werden sich nicht in der Literatur erhalten, weil sie gerade in ihren besten Teilen jenseits der gesprochenen Worte lagen. 59 So wie Bebe! redete, kann man im Grunde gar nicht zu Menschen mit stark durchfurchten Gehirnen reden. Zwar Bebel brachte es fertig, auch im Reichstag alle ohne Ausnahme gelegentlich in feinen Bann zu fassen, das war aber doch nicht ganz derselbe Vorgang, wie wenn er Volksversammlungen mit sich in seine Welt hineinzog. Die Techniker der Politik wurden still vor der Naturkraft, deren Wirkung auf die Masse sie bei sich empfanden. So müssen die Propheten der irischen Aufstände geredet haben, fo sprach Wohl Thomas Münzer und Bernhard von Clairveaux. Hundert kleine Redner haben den Bebcl nachahmen wollen, haben sich aufgeregt, wie er es nicht nötig hatte, verfuchten das gleiche Wetter zu machen, und keinem ist es recht gelungen. Alle jetzigen Nachfolger Bebeis im Reichstag reden ganz anders als er, grundfätzlich anders, weil die Zeit anders geworden ist, denn solche reine Willensrede entspricht der ersten gärenden Zeit einer neuen, noch nicht mit Praxis und eigener Geschichte belasteten Bewegung. Gewisse Redner können nur in gewissen Perioden aufwachsen. 60. Stöcker würde gern wie Bebe! geredet haben, und brachte dazu eine unzweifelhaft große Begabung und eine viel bessere 3»
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schulmäßige Bildung mit. Vielleicht aber genügte schon dieses Maß von methodischer Ausbildung, um ihn nicht so frei werden zu lassen, wie Bebet es war. Das aber, was ihn noch viel mehr band, war der Hintergrund der fertig dastehenden konservativen Welt, für die er kämpfte. Wer dem neu entstehenden Arbeiterstande ganz neue Hoffnungen zeigt, ist von vornherein in einer anderen Lage, als wer verkündet, daß der König von Preußen sozialer König sein werde. Auch dieses letztere läßt sich rednerisch vertreten, aber nicht mit unmittelbarer Willensübertragung. Daher brach sich bei Stöcker die Welle, ehe sie zur Höhe kam und schlug um in Witz und kleines Gekräusel. Seine Einsätze waren oft groß und schön, konnten aber nicht durchgeführt werden, weil er nicht diejenige Redeform in sich vorfand, die gerade zu feiner höchst verwickelten, felbstgewählten Aufgabe Paßte. Er wollte etwas mit dem Herzen reden, was vom Verstand künstlich und vor der Zeit zurechtgedacht war. 61. Eugen Richter hatte nicht die Phantasie Bebeis und nicht die Geistreichigteit Stöckers, war als Volksredner geringer, aber als Parlamentsredner stärker als beide. Auch er war durchaus ein Redner der Willensbeeinflussung, und feine größten rednerischen Erfolge verdankte er nicht feiner außerordentlichen Zahlen- und Sachkenntnis, sondern einer verhaltenen tiefen und einfachen Leidenschaft, die ihm selbstverständlich war. Er war der verkörperte alte Liberalismus, den Bismarck zerdrückt hatte, der sich aber nicht tot machen lieh, weil in ihm unvergängliche menschliche Wahrheiten enthalten waren. Richter wußte, daß er gegen Bismarck nicht siegen konnte, aber er hätte es als ehrlos empfunden, nicht bis zum letzten Tage zu kämpfen. Die individualistische Welt, aus der er stammte, verging zwischen Staatsgewalt und Sozialismus, er sah das mit Resignation und Zorn. Und der letztere, der Zorn einer
37 ganzen Geschichtsperiode, war rednerisch seine merkwürdigste Kraft. 62. Was nun lernt der Anfänger im politischen Reden von solchen Meistern, deren Schicksal nicht das seinige ist? Sicherlich kann er ihnen gelegentlich etwas Einzelnes von ihrer Kunstform absehen, obwohl es ziemlich schwer ist, die ganz persönliche Musik gerade derartiger Männer nachspielen zu wollen. Die Hauptsache ist, zu verstehen, daß Art und Ton, und damit Aufbau und Einzelklang der Rede nicht außerhalb der politischen Lebens- und Charakterbildung entsteht, sondern in ihr. Was wir schon in anderem Zusammenhange von Bismarck sagten, wird hier aufs neue bestätigt. Es fällt kein Meister vom Himmel, das heißt: er wächst aus der Erde heraus, aus seiner Zeit und seinen Aufgaben. Die Sache muß man haben, so folgen die Worte. 63. Da jede politische Rede, soweit sie neu ist, aus erneutem Durchdenken des sich beständig verändernden staatlichen Organismus entsteht, so sind beim redenden Politiker die Reden gleichzeitig die Geschichte seines eigenen Lebens, seine Auseinandersetzungen mit seiner Zeit. Dadurch sind sie viel mehr Bekenntnisse als etwa die juristischen Reden und viel veränderlicher als sie. Inmitten einer täglich sich neu erzeugenden Fülle von Aufgaben steigen und sinken auch die Interessen der Kämpfenden. I n gewissen Jahren war es nötig, für die damals noch nicht allgemein anerkannte deutfche Flotte zu reden, dann kamen Zollkämpfe, dann Finanzfragen und dazwischen hundert kleinere Sachen. Während die meisten Hörer von dem allem nur einige Stücke wirklich erlebten, muß der Redner, wenn er ein solcher bleiben will, ein Miterleber des Ganzen sein. Kann er das, dann ist das Zeug zum Redner in ihm, selbst wenn er ohne Zunge geboren wäre.
38 64. Es ist ein Unterschied zwischen der aristokratischen und der demokratischen Rede. Zwar eigentlich aristokratische Reden kommen in unseren Zeitläuften weniger vor als etwa an den Fürstenhöfen der italienischen Renaissance, falls man nicht die Ansprachen hier einrechnen will, die der Fürst selbst zu Ehren seiner Dynastie hält. Denkmalsweihen, Erinnerungsfeste, Einzugsbegrüßungen sind die Anlässe zu Ansprachen, in denen etwas gefeiert wird, was entweder wirklich groß und erhaben ist oder doch so erscheinen soll. Dabei verschwindet die übrige Welt, und der eine Mann, der eine Sieg tritt aus den Wollen heraus in Glorie und umgeben von allen guten Engeln der Vorzeit und Nachwelt. Solche Reden, die in bescheidenem Maße übrigens auch in den demokratischen Vereinen sich von selbst aufdrängen, die Heldenreden und Lorbeerspenden, sind rednerisch, wenn sie einmal gehalten werden müssen, gar nicht ohne Kunst zu schaffen, denn sie vor allem werden blaß und fade, sobald nicht Wort, Stoff und Stimmung knapp und harmonisch ineinandergegossen sind. 65. Solange die Fürsten unumschränkt oder nur im brüderlichen Zanke mit ihrem getreuen und widerspenstigen Adel regierten, war ja aber überhaupt das politische Reden nur ein höfischer Luxus und keine Notwendigkeit. Notwendig wird es mit dem Einzug demokratischer Parteien und Parlamente. Von da an gibt es aristokratische Redner, die das Wort als Verteidigungsschwert im Munde haben, Verächter des Parlamentarismus, die sich ihm doch nicht entziehen können. Rein rednerisch betrachtet ist ihre Aufgabe interessant und gefährlich. Sie können nicht mit der großen Phantasie des Radikalismus arbeiten, dürfen ihren Hörern gar nicht alles fagen, was als heimliche Romantik in ihnen grollt und spottet, müssen rea-
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listisch sein und sich auf Generalerörterungen möglichst wenig einlassen. So redet an den seltenen Tagen, an denen er aus seinem Hintergrund hervortritt, Herr v. Heydebrand. Es kommt bor, daß er von tadelloser Deutlichkeit ist und daß Freund und Feind keines der genau berechneten Worte verlieren wollen. 66. Der Volkston der konservativen Parteien kann freilich nicht ganz so aristokratisch scharf gehalten werden. Auch Herr von Heydebrand findet bisweilen patriarchalisch-liberale Töne, wenn er zu seinem Volke niedersteigt. Die Meister in dieser Mischung von aristokratischer und demokratischer Rede sind doch die Zentrumssprecher. Hinter ihnen ist die alte breitgelagerte katholische Kultur, vor ihnen sind die modernen Wählerbedürfnisse, und zwischen beiden redet Erzberger keck und fröhlich wie ein Virtuos, der mehrere Instrumente zugleich mit guter Geschwindigkeit zu spielen versteht. Er hat etwas vom Zorn Eugen Richters, etwas vom gewandten Staatssozialismus Stöckers, streift gelegentlich links an Bebel und rechts an Heydebrand, alles das aber ist geeint in der munteren Sicherheit, daß die Partei der Mitte doch immer wiederkommt. Die Kunst ist nicht stilrein, aber praktisch, anschaulich, derb, ohne zu viel Skrupel und ohne fühlbare Mühe. 67. Ueberhaupt macht der Hintergrund immer viel aus. Schon daß man vorher weiß, aus welcher Himmelsgegend der Redner feine Gedanken holt, erleichtert ihre Aufnahme. Das erschwert im politischen Leben und auch sonst das Auftreten der einzelnen, die nicht zu irgendeiner Gruppe gehören. Wir haben am Grafen Posadowsky das Beispiel vor uns. Solange er an der Regierungstafel faß, war er der Mann mit Hintergrund, nun aber ist er felber nicht weniger geworden, aber es fehlt
40 etwas um ihn herum, es fehlt sozusagen die mechanische Verdoppelung des Tones durch das Megaphon der öffentlichen Stellung. Wer die politischen Redner rein rednerisch beurteilen will, muß sie alle erst einmal so ganz für sich allein denken. Manche gewesenen Minister gehen Wohl auch deshalb nicht ins Parlament, weil sie nicht gern ohne ministerielle Würde die Probe versuchen wollen, die der tapfere und kluge Graf im Bart gemacht hat. 68. Einen ganz besonderen Hintergrund bietet es, wenn ein Redner der einfache Ausdruck eines Standes oder einer Schicht ist. I n diefem Falle braucht er gar nicht vielfeitig zu wirken, sondern soll gar nichts anderes wollen, als eben nur aus den Seelen vieler Menschen heraus über ihre Lage reden, als ob sie alle in ihm gegenwärtig waren. Wer Reden vom Abg. Hutz über Bergarbeiter und Hüttenarbeiter gehört hat, weih, was ich damit meine. Den meisten gewerkschaftlichen oder geWerkVereinlichen Rednern gelingt diese einfache Vertiefung nicht, weil sie über ihren Naturboden hinauswachfen wollen. Hat aber jemand fo wie Hu6 Vergangenheit und Gegenwart eines Berufsstandes in sich eingesogen, so gestaltet sich das, was bei anderen langweilig scheint, von selber zum lebendigen Anruf an Verstand und Gewissen. 69. Jeder Verband muh durch seine Redner immer wieder dieselben Ausführungen machen lassen über die Notwendigkeit des Zusammenschlusses und der Beitragszahlung. Dieser Teil der Reden kann sterblich langstielig sein, wenn ihm nicht immer etwas neuer Saft zugegossen wird. Es empfiehlt sich darum für den Partei-, Gewerkschaft- oder Genossenschaftsredner, gerade diese selbstverständlichen Stücke, die er schon mitten im Schlafe aufsagen kann, von Zeit zu Zeit schriftlich neu zu formulieren, um eine neue Wendung in das alte Ornament
41 hineinzubekommen. Gerade das, was von allen Vereinen bei allen Gelegenheiten gesagt wird, verliert sich, wenn es nicht eigenartig neu erscheint, ganz ebenso wie die gleichartigen Anzeigen in den großen Zeitungen. Verwandtschaft dieser Redeteile mit der werbenden Kunst der Reklame! 70. Die Verbandsrede besteht im übrigen in Friedenszeiten aus Ziffern, Mitteilungen, Resolutionen. Wie soll man das den Zuhörern schmackhaft machen? Große Reden über Weltgeschichte und Moral zu halten, ja, das ist für den, der es kann, eine Kleinigkeit, aber den Kleinkram des Daseins richtig auf die Schüssel zu legen, so daß man Appetit bekommt, diese Arbeit der Partei- und Verbandsselretäre, das will gelernt sein. Dabei ist ein Hauptstück die richtige Behandlung des Ziffernmateriales. Nur nicht zu viel! Wenige Hauptziffern klar hingestellt, öfter wiederholt, sollen sich einprägen. Wer mehr wissen will, kann nachher fragen. 71. Zum Handwerkszeug des richtigen Partei- und Werberedners gehört die Aktenmappe mit den Nachweisen, was der oder jener jemals gesagt hat. Damit wird im allgemeinen viel Unfug getrieben, weil einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Stellen von der Versammlung gar nicht nachgeprüft werden können. Solche Abrechnungen haben noch einigermaßen einen Zweck, wenn der Angegriffene felber gegenwärtig ist, verderben aber den politischen Kampf, wenn sie zu Verleumdungen herabsinken. Es liegt im Interesse aller anständigen Parteien, daß nicht die politische Rede im ganzen durch die Rabulisten und Klopffechter in Mißkredit gebracht wird. 72. Ein eigenes Kapitel sind die Witze in der Politischen Rede. I n allen Parteien gibt es einige, die mit diesem berechtigten
42 Redemittel gut umzugehen wissen. Wir erinnern uns dabei mit ganz besonderer Lust vieler Reden, die unser unvergeßlicher Parteifreund Albert Traeger gehalten hat. Es lachte die Rede wie perlender Wein. I n einer etwas derberen, aber immerhin nicht kunstlosen Weise findet sich der Witz bei dem Bündler Oertel und seinem Gegenfüßler Ledebour. Beide erinnern aber schon etwas an die Witzblätter, die jede Woche Witze machen müssen. Das ist die Gefahr. Der beste Witz ist der, den der Redner felber gar nicht gewollt hat und der ihm einfach aus Drang zur Anschaulichkeit entschlüpft. Wem freilich nie ein Witz gelingt, der stellt sich dann feierlich vor die Hörer und beklagt sich über Verschlechterung der Sitten. Beide haben dabei übrigens gelegentlich recht. 73. Es gibt mißgünstige Beurteiler, denen jeder Redner als Volksschmeichler erscheint, sobald er nur an Verstand und guten Willen der Anwesenden sich richtet und von ihrer Tatkraft Großes in der Welt erwartet. Natürlich mutz ein geborener Pessimist es als Unsinn betrachten, wenn man Menschen überhaupt als vernünftige Wesen behandelt. Ein solcher kann nicht zur Masse reden, das aber liegt nicht in der Masse, sondern in ihm. Etwas Glaube an das Menschliche im Menschen gehört zu jeder, und besonders zur politischen Rede. Darüber hinaus aber verlangt bei uns die Bevölkerung gar nicht, daß man sie etwa in Art antiker Marktredner als ewig klug und weise hinstellt. Oft sind die Versammlungen am aufmerksamsten und innerlich dankbarsten, wenn man ihnen gerade das nicht sagt, was schon jeder sich selber sagen kann. Es gehört allerdings Kenntnis der höflichen Form zur Rede. Wer mit erhabenen Poltertönen vor wildfremde Menschen hin« tritt, soll nicht erstaunt tun, wenn diese ihn für einen verirrten Bären halten und mit Hallo begrüßen.
43 74. Wir haben in Deutschland keine Stelle, die dem Sandftlatz am Eingange des Hydepark in London entspricht, und ich weiß nicht, ob wir sie uns wünschen sollen. Dort wird geredet und geredet, das bunteste Zeug, oft blinkender Blödsinn, oft ganz ernste Gedanken in derber volkstümlicher Form. M a n geht von einem Redepult zum anderen und genießt der Reihe nach bruchstückweise etwas Methodistenpredigt, etwas Sozialdemokratie, etwas Frauenbewegung, etwas Afrikanderwitze oder was sonst gerade fällig ist. Mag Sonnenschein oder Regen sein, es wird geredet. Das fließt wie ein Kinofilm. Merkwürdig, daß gerade das im Reden fönst fo vorsichtige englische Volk sich diesen dauernden Redejahrmarkt aufgebaut hat! 75. Oefter auch als in Deutschland hört man in England die redende Frau, sowohl in religiöser wie in politischer Rede. Während die romanischen Völker in den Zeiten ihrer eigensten hohen Kultur keine oder fast keine redenden Frauen hatten, steht bei allen Germanen die Frau neben dem Mann, sobald die Rede über die Grenze der amtlichen Tätigkeiten, über Predigten und Gerichtsreden, hinausflutet. Noch aber ist die Frauenrede jung und hat Wohl noch nicht ganz ihre eigene Form und Art gefunden. Das erste, was die redenden Frauen anstreben, ist, ebensogut zu reden wie ein Mann; später bemühen sie sich, so zu reden wie eine Frau. Worin aber der Unterschied besteht, läßt sich ebensowenig genau sagen, wie man auch sonst die seelischen Unterschiede der Geschlechter in kurze Worte fassen kann. M a n verträgt am Redner manches, was man an der Rednerin als peinlich empfindet, und umgekehrt. 76. Der Mann will in gewisser Art die Versammlung beherrschen, ihr seinen Willen oder seine Logik aufdrängen, die
44 Frau aber will überreden, zureden, gute Worte geben. Er kommt, wenn er es kann, mit einem fertigen oder halbfertigen Ich und wirft fein Programm fo vor sich hin, die Frau aber beginnt mit einem Worte Goethes oder einem Gedanken Nietzsches, um von da aus zu ihren Leitsätzen vorzudringen. Oft ist der Aufbau der Gedanken bei der Frau feiner als beim Mann, meist aber die Konstruktion weniger fichtbar. Wie man im Kunstgewerbe an einer ganzen Zahl kleiner Wendungen, Biegungen, Abglättungen die weibliche Hand merkt, fo ist es auch bei der Rede. Für kleine Freundlichkeiten und Bosheiten, die der Rede teils Schmuck, teils Spitze geben, kann die Frau hervorragend begabt fein, wenn sie Frau bleiben will. Bisweilen aber verdirbt sie ihre eigene bessere Anlage durch kahle Agitiererei, die bei ihr noch unerfreulicher wirkt als bei dem Manne. 77. Die Politifche Frauenbewegung ist zurzeit einigermaßen der Männerbewegung zwischen 1816 und 1848 vergleichbar, arbeitet vielfach mit dem Gedankenstoff jener Periode, ist aber schon viel organisierter. Sie treibt noch nicht Tagespolitik, kaum Parteipolitik, ist organisierte Ideenvertretung mit Einwirkung auf Regierung und Männerparteien. Darum klingt der Ton des weiblichen Liberalismus klüger und gefchulter, aber auch weniger weltbewegend als der jener vormärzlichen Kämpfer für Recht und Freiheit. Die Frauenbewegung ist kein Klassenkampf, nur teilweife ein Erwerbskampf, hat nicht die breite Gleichartigkeit der Sozialdemokratie und brachte darum bisher keine Rednerin hervor, die etwa in der Art des Bebelfchen Buches „Die Frau" ganz große Weissagungen an die Wände von Himmel und Erde gemalt hätte. Aber innerhalb der vorhandenen Männerparteien bedeuten die Frauen eine neue Weise, das alte Lied vom Volk und seiner Hoffnung zu
45 singen: Sopran und Altstimme treten zum männlichen Heldentenor und zum Bah der Parteien. 78. Eine ganz ungewöhnliche Rednerin soll in England die Generalin Booth von der Heilsarmee gewesen sein. Ich habe sie zwar nicht gehört, aber manche andere Sprecherin ähnlicher Art. Auf dem Mittelgebiet zwischen Religion und Sozialpolitik wird die Frau, sobald sie die nötige Sachkunde, Unbefangenheit und Uebung gewinnt, noch mehr etwas Eigenes zu leisten imstande sein als in der strengen materiell gerichteten Politik. Hier, wo das Gemüt sprechen soll, sprechen darf, wo Muttergefühle dem armen Volke gegenüber geweät und Trosthoffnungen für Müde gesucht werden sollen, wo die SeelenPflege zur Seele der Rede wird, da kann eine Frau, die des Wortes mächtig geboren ward, von Herz zu Herzen sprechen wie einst im alten Testament Deborah, die Richterin in Israel. 79. Das Reden über Religion ist entweder Bekenntnis oder Belehrung. Das Bekenntnis spricht: Ich glaube, darum rede ich! Die Belehrung sagt: Höret die Worte hoiliger Schrift! Beides ist in feiner Weife berechtigt, bringt aber zwei ganz verschiedene Reden zutage, die durch das Wort Predigt nur scheinbar in eine höhere Einheit verbunden werden. Die subjektive Rede quillt aus eigener Tiefe, ist im Grunde unabhängig von irgendwelcher Vorschrift, eine Art Dichtung, Offenbarung, Geständnis, Prophetie. Daran ändert es auch gar nichts, wenn diese Art Rede die Sprache der Bibel spricht und sich aus heilige Worte beruft, sie tut es doch nur, um das Neue, Innerliche, Angstvolle oder Selige mit Hilfe der alten Ausdrücke ganz eindringlich aus der eigenen zitternden Seele heraus zur Aussprache zu bringen. Die objektive Rede aber will nicht das
46 Innenleben des Redners beschreiben, sondern den Gedankengang oder die Gefühlsbewegungen Davids oder eines Apostels oder Jesu Christi oder der Reformatoren oder der Kirche den Hörern vermitteln. Der Redner sagt von sich, daß es auf ihn gar nicht ankomme, da er nur Bote eines Evangeliums sei, das längst vor ihm der Welt besser geschenkt wurde, als er es sagen könne. 80. Eine beständige, halb empfundene Qual für Prediger und Hörer ist die falsche Vermischung dieser zwei Arten von religiöser Rede. I n ganz trauter kleiner Gemeinde mag Wohl beides ohne Schaden ineinander überfließen. Indem der Sprecher vom heiligen Apostel Paulus spricht, redet er gleichzeitig von sich und macht dessen Bekenntnisse sich und den Hörern zu eigen: Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein! Meist aber wird die geschichtliche Entfernung empfunden: so sagt der Apostel; was aber, meine Lieben, nehmen wir uns daraus, die wir weder Apostel sind noch für den Glauben den wilden Tieren vorgeworfen werden möchten? Eine hohe und unvergängliche Vergangenheit in kleinen Einzeltexten als Gegenwart behandeln zu sollen, geht über das hinaus, was rednerisch ohne Opfer an innerer Klarheit geleistet werden mag, wenigstens dann, wenn diese Aufgabe immer wiederkehrt. 81. Da nun aber der Prediger unter vorhandenen Verhältnissen den gegebenen Text vor sich hat, und da er in den meisten Fällen gar nicht jeden Sonntag eigene Bekenntnisse ablegen kann (denn welche Seele hielte das aus?), so soll er offen sich als Ausleger und Darleger eines biblischen Stoffes geben. Nur unter diefer Vorausfetzung kann von ihm die regelmäßige Piedigttätigkeit ertragen werden. Ob er dabei den biblischen Inhalt mehr in rechtgläubiger oder gefchichtlich kritischer Weise darlegt, ist Sache seiner theologischen Ueberzeugung. Die Rede-
47 tunst verlangt von ihm nur, daß er nach bestem Wissen spricht, denn wenn er das nicht tut, ist er nicht nur als Mensch, sondern auch als Redner von zweifelhaftem Werte. Die Hörer merken ohne viel Mühe, ob er so ehrlich ist, als er kann. Mag der Politiker gelegentlich aus Rücksichten, die man Taktik nennt, etwas mehr von rechts oder von links her ansehen, der Prediger hat keine Taktik, darf sie nicht haben. 82. Schon aus diesen bisher angedeuteten ganz eigentümlichen, bei keiner anderen Art der Rede sonst vorkommenden Schwierigkeiten kann es eine Kunstlehre der Predigt noch weniger geben als eine Kunstlehre der Rede überhaupt. Ueber den äußeren Aufbau der Predigt lassen sich zwar Anweisungen finden über Einleitung, Thema, Teile, Auslegung, Begriffsbildung, Anwendung, Schluß; aber damit ist über den Kern des Redens herzlich wenig gesagt. Der Kern ist der Weg vom Prediger nach Palästina und wieder zurück. Wie viele Prediger seufzen heimlich unter ihrer Aufgabe, oft gerade die besten! M a n würde ihnen ihre Sorgen erleichtern, wenn man sie einfach über Seelen- und Glaubensfragen ohne Bindung an geschichtliche Texte würde reden lassen, aber man würde ihnen gleichzeitig eine ebenso große neue Sorge zuschieben: immer selbst etwas zu finden, worüber sie reden können, ohne flach zu werden! I n einem Falle aber müssen sie tertfrei sein oder sich ein beliebiges Schristwort als Überschrift suchen können, wenn nämlich der Geist ihnen sagt, was sie sprechen sollen, wenn aus innerem Drange in ihnen die Belehrung zum Bekenntnis wird. 83. Von allen geistlichen Reden sind die schwierigsten die Grabreden. Zwar in einfachen Fällen, wenn alles offen und hell liegt, wenn nur Trauer, Mitgefühl und Trost zu sprechen
48 haben, ist kein besonderes Ueberlegen nötig, sondern man sucht nur aufgeschlossene echte Menschlichkeit, aber wie oft ist es ein halbverborgenes, unfertiges und auch verdüstertes Dasein, dessen Abschied so dargestellt werden soll, daß weder die Wahrheit noch die stille Achtung vor dem Tode noch das Mitgefühl mit den Ueberlebenden darunter leiden. Taktlos ist es, einem Verstorbenen im Tode einen Glauben zuzusprechen, den er im Leben nicht hat haben wollen. 84. Wieweit der Schulunterricht zur Redekunst gehört, läßt sich nicht genau abgrenzen. I n jedem Geschichts-, Religionsund Gesinnungsunterricht mutz etwas Rednerisches enthalten sein, aber nur beim Unterricht der höheren Schulen und Universitäten steigert es sich bis zur eigentlichen Rede. Hier verschwindet das schulmäßige Ausfragen, und die Stoffmitteilung verlangt nach höherer Ordnung, Eindringlichkeit und Schönheit. Immer aber, wo es sich um Wissenschaften handelt, wird die unterrichtende Rede ihren fachlichen Charakter als Belehrungsvortrag nicht verlieren dürfen. Der Zweck des unterrichtlichen Redens ist die Übermittlung von Vorstellungen, Begriffen, Meinungen, Kenntnissen, nicht aber in gleichem Maße von Willensregungen, Stimmungen, Hofsnungen. 85. Fast alle großen Professoren der philosophischen und historischen Wissenschaften waren gleichzeitig bedeutende Redner, und auch in den juristischen und anderen Fächern hat oft die hervorragende Denkkraft sich mit rednerischer Begabung vereint. Die Blütezeit des deutschen Idealismus war voll von Kathederberedsamkeit. Wir denken an Kant, Fichte, Schiller, Schleiermacher, Hegel, erinnern uns aber auch an Gneist, Tveitschle, Sohm und Brentano. Fichtes Reden sind der höchste Ausdruck der Verbindung von Denken und Reden. Jeder Redner, gleichgültig, welchen Gebietes, soll von Zeit zu Zeit Fichte lesen und
49 zwar für sich selber laut lesen. Das ist unser Cicero, und er ist mehr als Cicero. 86. Es gehören zum Wissen zwei verschiedene geistige Tätigkeiten, das Erkennen der Einzeldinge und das Verbinden der Erkenntnisse. I n der zweiten dieser Tätigkeiten ist Kunst enthalten, geistige Architektur. Wer nun in der Hauptsache bloß wissenschaftlicher Teilarbeiter ist, braucht wenig von der Baukunst der Gedanken, wer aber ein ganzes Fach beherrschen, einen Gesamtstoff bewältigen will, der muß dazu von vornherein einen tüchtigen Bestand derjenigen Begabung mitbringen, die auch sonst den Redner ausmacht. Für ihn ist dann Redekunst nicht etwas, was wie Schmuck oder Schnörkel zu seiner Hauptarbeit hinzutritt, sondern die Seele seines Schaffens selberdrängtzurDarstellung, Veranschaulichung und Gestaltung. 87. I n der ersten Periode unseres parlamentarischen Lebens spielten die Professoren als Redner der verschiedenen Richtungen eine weit größere Rolle als heute. Das kam zum Teil daher, daß im Beginn des Parlamentarismus die großen Grundsätze erörtert werden mußten, die Prinzipien und Programme, während später die politische Arbeit mehr der kleinen Ausbesserung, dem Markten um materielle Vorteile und dem Kampf um die Textauslegung sich zuwendete, zum anderen Teile aber daher, weil der Geist der Wissenschaften überhaupt nach der Zeit der hohen philosophischen Anspannung sich den Einzelforschungen hingab und gegen Prinzipien scheu wurde. Eine Rückkehr zur philosophischen Vertiesung, wie sie jetzt zu kommen scheint, wird uns auch aus den Hochschulen wieder Redner erwecken. 88. Als Fichte und Schleiermacher ihre akademischen Vorträge hielten, gab es außerhalb der Schulen, Kirchen und Universi-
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täten noch fast gar keine rednerischen Veranstaltungen zur Verbreitung von Bildung. Das hat sich inzwischen sehr verändert. Neben der Ausbreitung der Literatur und der Zeitungen steht die Ausbreitung des Wissens durch Vereine, Vorträge, Gesellschaften. Fast jede Fachwissenschaft besitzt ihre Vortragsgelegenheiten, und zahllose Bildungsvereine bemühen sich, von immer neuen Rednern neue Themata behandeln zu lassen. Es gibt Vortragsverbände, Vortragsreihen, öffentliche Lehrkurse und vieles Aehnliche. Mehr als jetzt wurde nie früher von und für Bildung geredet. 89. Eine Ansprache oder ein Vortrag in einem BildungZverein sind ihrer Art nach etwas anderes als eine juristische, politische oder religiöse Rede, denn sie wollen nichts anderes von den Hörern, als daß sie hören und mitdenken. Meist steht im Statut der Bildungsvereine der Satz, daß Religion und Politik ausgeschlossen sind. Das ist nicht so zu verstehen, als ob nicht in berichtender oder belehrender Weise auch über solche Dinge gesprochen werden dürfte, aber der Zuhörer soll von vornherein die Versicherung haben, daß er an diesem Abend nicht irgendwie in die Hände eines Missionars oder Agitators gerät. Er will nicht bearbeitet sein, er mag keine Entscheidungen fällen, keinerlei Entschlüsse fassen. M a n darf ihm alles sagen, aber so, als ob es sich irgendwo in der Ferne begäbe. Das ist der nötige Schutz der Wissenschaftlichkeit in volkstümlichen Vortragsveranstaltungen. 90. Da nun also in solchem Falle der Redner sich nicht an den Willen wenden kann, so muß auf andere Weise seine Kunst größer sein, wenn er trotzdem ein Gemeinschaftsgefühl zwischen sich und den Versammelten herstellen soll. Er muß das Interesse am Stoff, an der Frage des Abends, mit Lebendigkeit steigern. Heute, geehrte Versammlung, wollen wir von gar
51 nichts anderem hören, als von den Bauten der alten Griechen! Wir versetzen uns gemeinsam an das Gestade des Aegäischen Meeres; dort werden wir Zeitgenossen der Mykenier und der Künstler der athenischen Burg! Das muh mit der Phantasie vollzogen weiden. Der Mann, der dabei die Zügel der Einbildungskraft in seinen Händen hat, ist der Redner. Gelingt ihm die Versetzung der Geister in die Ferne nicht, dann bietet bald der Saal einen betrübsamen Anblick der Zerstreutheit. 91. Oft ist der Gegenstand der Bildungsvorlräge die Kunst. Durch die Mittel der Rede sollen zarte Mitempfindungen für die Feinheiten der Musik oder Dichtung oder gewerblicher Kunstwerke geweckt werden. Kein Redner zwar kann Kunstempfindungen schaffen, wo sie beim Hörer nicht in der Anlage vorhanden sind; er kann aber sorgsam zeigen, woran er selber sich freut, damit die eigene Mitfreude der Hörenden selbstgewiß und zuversichtlich wird. Dazu muß er die allereinfachsten und wahrsten Töne für fein eigenes Erlebnis suchen. Das allzu fertige Reden über Kunst im Stile eines berufsmäßigen Museumsführers hat gar keinen Zweck. Leife tastend sucht der rechte Redner bei den Versammelten nach den künstlerischen Urgefühlen und schafft sich damit sozusagen erst selbst das seelische Instrument, auf dem er arbeiten will. 92. Es empfiehlt sich für alle künftlerifchen Vorträge, die Ausdrücke besonders gut vorher zu prüfen, ob sie sprachlichen Silbergehalt haben oder nicht, da fönst nur gar zu leicht mit Impressionen und Motiven ein splendides Spiel getrieben wird, bei dem man vor lauter Staunen und Sentiment über, Haupt nicht weiß, ob einer den anderen versteht. Auch das kann amüsieren, wenn es blinkend gemacht wird, aber der Kunst ist damit nicht gedient, denn sie erscheint dabei geradezu 4»
52 als ein Labyrinth voller Launen. Der Redner, dem am Kunstverständnis liegt, muß sich oft dafür seine eigene deutsche Sprache selber herstellen und wird gerade durch dieses Bemühen zum Lehrer derer, die von ihm erwarten, daß er sie den schaffenden Meistern zuführt. 93. Ob es angebracht ist, Vorträge mit Bildern und Lichtbildern zu halten, wird in den Bildungsvereinen viel erörtert und die Mehrheit des Publikums entscheidet sich stets für die I.atorna ma^ioa. Kein Mensch wird im Zeitalter des Kinematographen das Bilderbedürfnis leugnen wollen, aber der Redner sollte um seiner selbst und seiner Kunst willen die Bilderbeigabe auf das Notwendige beschränken. Zweckmäßig sind Bilder bei Reiseberichten, naturgeschichtlichen Vorträgen, technischen Auseinandersetzungen. J e mehr es sich aber um schaffende geistige Arbeit, Philosophie, Poesie oder Geschichte handelt, desto bedenklicher ist es, die innere seelische Anspannung der Hörer durch äußere Eindrücke zu unterbrechen. Während der Zeit, in der der Redner spricht, will er die Geister der Versammelten ganz besitzen, und er will mit seinen Worten alles das tun, was andere mit Linien, Farben und Lichtern vollbringen. 94. Bei schwereren wissenschaftlichen Vorträgen ist es immer nützlich, Leitsätze vorher verteilen zu lassen. Der Redner verzichtet damit zwar auf jede Art von Ueberrafchung, gibt aber feinen Hörern das wohltuende Gefühl, sich auch bei Abirrungen ihres Mitdenkens stets wieder zurechtfinden zu können. Nur dürfen die Leitsätze ihrerseits keine Abhandlungen werden. Sie sollen der knappeste Auszug des Gedankenganges sein und sich zum Vortrag Verhalten wie ein gezeichneter Grundriß zum fertigen Bauwerk. Später aber dienen sie den Hörern zur Erinnerung und zum Bericht am häuslichen Herde.
53 95. Ein Bildungsvortrag über Kunst, Welt oder Wissenschaft gestaltet sich oft um vieles persönlicher als jode andere Rede. Bei der juristischen Redestehtdas allgemeine Recht im Hintergrunde, bei den Religionsvorträgen die Kirche, bei den politischen Ansprachen die Partei, aber der Sprecher über ein beliebiges Bildungsthema wird nicht als Beauftragter einer allgemeinen Macht angesehen, sondern als Einzelmensch, der seiner Ansicht oder Einsicht Ausdruck gibt. Das große „Wir" der sozialen Rede fehlt oder tönt doch nur leise mit. Dafür aber kann das kleine kecke Ich eher einmal vorn an die Rampe treten: ich habe das oder jenes gesehen, entdeckt, formuliert, gedichtet! Dadurch wird der Ton freier und lockerer als sonst in der Rede. Der einzelne darf seinen Stil zeigen, wenn er einen hat. Da wird ein Nordftolfahrer anders reden als ein Goetheforscher und ein Naturphilosoph anders als ein Verehrer altenglischer Bilder. 96. Was aber wird nicht alles geredet in der Welt! Eine Rede schlägt die andere tot. Dabei gibt es in allen großen Städten Menschen, die beinahe jeden Tag einen anderen Redner hören und die man in allen Versammlungen sieht. Diese jedoch sind es nicht, für die im Grunde der Redner sich anstrengt, denn sie sind wie Raucher, die jedes Kraut vertragen. Der Redner aber will seine eigenen Hörer haben, Leute, von denen er glaubt, daß bei ihnen der ausgestreute Same auf guten und fruchtbaren Acker fällt. Ob sie wirklich im Saale vorhanden sind, kann der Wanderredner fast nie feststellen, er muß aber glauben, daß sie existieren, weil sonst sein ganzes Reden nur eine mechanische Arbeit ist, als wenn ein Grammophon seine Sprüche hersagt. Nicht der Beifall der Gewohnheitsklatscher belohnt den Redner, sondern der Gedanke, daß
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Wohl einige nicht klatschen mochten, weil ihnen die Sache zu ernst war. 97. Es ist bisweilen für den Redner gut und heilsam, wenn er unbeachtet einiges von dem mitanhören kann, was die Versammelten beim Auseinandergehen sprechen. Nicht, als ob dabei die allertiefsten Weisheiten zum Ausdruck kämen, aber der Witz und die kurze Bemerkung bezeichnen oft brüchige Stellen, sei es in der Beweisführung oder sei es im Gebrauch von Vergleichen. Eben noch rauschte der Beifall, als ob alles ein Herz und eine Seele wäre, nun aber lockert sich der Bann der Gemeinschaft, und die freigelassenen Einzelnen suchen zunächst wieder sich selbst, indem sie abstoßen, was ihnen fremd und wild geblieben ist. Eine Rede, die keine solchen Gegensätze weckt, kann sehr schön gewesen sein, leidet aber doch Wohl an gar zu großer Selbstverständlichkeit. Was jeder sich selber sagen konnte, brauchte ihm der Redner nicht erst vorzutragen. Wenn deshalb nach der Versammlung oder auch nach dem Gottesdienst die Leute sich gar nichts darüber zu sagen haben, 'so ist das in traurigem Sinne vielsagend. 98. Und was bleibt nun von der Rede? Bei Wahlversammlungen hat man eine Art Maßstab der Wirksamkeit in der bald folgenden Abstimmung. Dabei kommt beides vor, sowohl daß mit einer Rede ein halbes Dorf gewonnen wurde, wie auch, daß nach brausendem Beifall nur eine Minderzahl den Enthusiasmus in Abstimmung verwandelt. J e unberührter eine Volksschicht ist, desto eher kann die einzelne Rede für sie ein Erlebnis fein, dort aber, wo alle Stimmen durcheinanderklingen, ist auch die tüchtigste Rede nur ein Element unter vielen anderen. Der Redner ist in der heutigen Welt nicht mehr das, was er in den Jahrhunderten vor der Buchdruckerlunst war. Heute wird kein Kreuzzug durch Wanderprediger
55 allein fertiggebracht. Die höchste Wirkung der Rede liegt in der Vergangenheit, aber sicher wird sie nicht sterben, so wenig, als die Kunst der Malerei an der Photographie stirbt. 99. Ein junger Student saß eines Tages da drunten im Saale und sprach aus seiner versunkenen Seele heraus: „Ein einziges M a l in meinem Leben möchte ich so reden können!" Das ist derselbe Zug, der junge Mädchen erfaßt, wenn ihnen die Schauspielkunst in erhabener Gestalt vor Augen tritt: ein einziges M a l ! Nun liegt nur die Sache so, daß dieses einzige M a l keinem geschenkt wird, der nicht vorher sehr viele Male schon geredet hat. Es ist bei der Redekunst wie bei allen Künsten, daß, wer etwas Richtiges leisten will, sich viel Gelegenheiten dazu suchen muß. Fast alle großen Künstler waren fruchtbar und fleißig im Entwerfen und streuten große und kleine Werke zugleich in die Welt. Es ist nicht nötig, daß die ganze Lebendigkeit nur in einem Lebensgebiete sich erschöpft, aber sie mutz vorhanden sein. Dann erscheint mitten im starten Getriebe dieses von der Jugend gewünschte einzige M a l irgendwann von selbst, aber wann es da war, weih kaum der selber, dem es zuteil ward. 100. Manche denken, daß Reden sehr leicht sei. Sie sollen es nur probieren! Dann werden sie finden, daß die Anfänge sozusagen von selber gehen, daß aber die weitere Pflege der Kunst ein gutes Teil von Wille und Mühe verlangt. Spazierengehen kann jeder, aber auf hohe Berge zu steigen, will doch gelernt werden, und zwar im Gebirge. Bei manchem Gange droben in den Alpen habe ich an Aehnlichkeiten zwischen Hochwanderung und Rede gedacht: weite Aussichten, aber auch gut aufpassen, wie der Boden ist, auf dem man steigt! Möge vielen solches Wandern gelingen!
Die hier vorliegenden Aphorismen über die Kunst der Nede erschienen zuerst in der Wochenschrift
.Die Hilfe' deren Herausgeber D r . Friedrich N a u m a n n ist. Alle Freunde der Arbeiten Naumanns seien nachdrücklich auf diese Wochenschrift aufmerksam gemacht, die in fast jeder Nummer einen Veitrag Naumanns bringt. Die für den politischen Teil von Wilhelm heile und für den litelalischen Teil von Dr. Gertrud Väumer redigierte Wochenschrift »Die Hilfe" erscheint jetzt im 20. Jahrgang. Ihre Arbeit, deren Ziel schon durch den Namen Naumann hinreichend gekennzeichnet ist, gilt der Erstattung des Liberalismus, den sie auf nationaler und sozialer Grundlage in seiner ganzen Wirksamkeit erfaßt, und von dem aus sie Stellung nimmt vor allem zu den Fragen der auswärtigen und der inneren Politik, der wirtschaftlichen Entwickelung und der Sozialpolitik.— 3n ihrem literarischen Teil will die „Hilfe" das Kulturprogramm vertreten, das dem politischen Programm entspricht. Sie will zu allen starten und bedeutsamen neuen Erscheinungen in Dichtung, Kunst und Philosophie hinführen, in denen sich ein kraftvoller und gesunder Kulturwille ausspricht. Sie will dadurch nicht nur über die wichtigen Tatsachen und Dichtungen unserer modemen Kultur unterrichten, sondern insbesondere alle diejenigen Kräfte stützen, die im Geistesleben unseres Volkes an einer freiheitlichen Kultur schaffen.
Der Vierteljahrspreis der «Hilfe" beträgt 2.50 T M . Bestellungen nehmen alle Buchhandlungen, siostanstalten und der unterzeichnete Verlag entgegen. Probenummern liefert gern unberechnet und portofrei der
Verlag der „Hilfe" in Verlin-Schöneberg