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German Pages 202 [204] Year 1997
Oswald Schwemmer
Die kulturelle Existenz des Menschen
Oswald Schwemmer
Die kulturelle Existenz des Menschen
Akademie Verlag
Abbildung auf der Titelseite: Cy Twombly, Untitled (New York City), 1967 Dispersion und Wachskreide auf Leinwand 200,7 χ 264,3 cm Cat. rais. Bastian Vol. III, Nr. 34 © Galerie Karsten Greve, Köln
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Schwemmer, Oswald: Die kulturelle Existenz des Menschen / Oswald Schwemmer - Berlin : Akad. Verl., 1997 ISBN 3-05-003107-7
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1997 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen von WILEY-VCH. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Umschlag- und Innengestaltung, Satz: Hans Herschelmann Druck: GAM Media, Berlin Bindung: Buchbinderei Stein, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort
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I
Auf dem Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen Rätsel Mensch Funktionskreise: Die Antwort der Biologie Die Einheit der Gegenstandswelt Der Geist und die Weltoffenheit des Menschen Wissenschaftliche Selbstbegrenzung und philosophischer Anspruch .. Die Rettung des Geistes Der Mensch als Organismus Der Körper als Ort unseres Weltverhältnisses Die Solidarität mit der Welt Selbstbilder des Menschen: Differenz statt Solidarität Die Wissenschaft vom Menschen: eine ökologische Wissenschaft von der solidarischen Existenzform des Menschen Der Geist und seine Eigenstruktur Die Identität der Gegenstände und die Gegenstandswelt Externe Identität Das Medium der Symbolismen Imagination: die erste Quelle des Geistes und der Beginn der Exteriorisierung Die Bilderflut als Heimsuchung Die Notwendigkeit externer Stützen Die rituelle Ordnung der Phantasie Die Spannung zwischen Innen und Außen Die Eigenstruktur der Sprache Die Sprache: Ein System von Verweisungen Die Differenz im Innersten des Menschen Die Verschränkung von Innenwelt und Außenwelt in der Kultur
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6 I Inhalt Die Innenwelt in der symbolischen Zwischenwelt Das bleibende Innen Die Wissenschaft vom Menschen: eine ökologische Wissenschaft von der symbolischen Existenzform des Menschen Theoretische Folgen: Die Metamorphosen des Geistes in den Wandlungen der Symbolismen Praktische Folgen: Die Manipulierbarkeit des Geistes Neue Sprachlosigkeit und Prägnanzverlust Der Mensch und die Ziele einer Wissenschaft vom Menschen
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II Die symbolische Existenz des Geistes Philosophie und Neurobiologie. Ein problematisches Verhältnis Zwei philosophische Einstellungen: Begriffs-Blöcke und Phänomenausblendung Das „Ich denke" der Bewußtseinsphilosophie Der philosophische Anschluß an die Neurobiologie Die Aufgabe der Philosophie: Phänomenerschließung und Grundlagenkritik Der verdeckte Kantianismus in der Neurobiologie und die Vielfalt geistiger Leistungen Innere und äußere Wahrnehmungen Das „solidarische Ganze" der Wahrnehmung und die Interaktion der Teilprozesse Ein Einwand: Die Sonderstellung bewußter Wahrnehmungsprozesse .. Die „psychische Phase" der Wahrnehmungsprozesse und die Schwellen der Bewußtseinsentwicklung Identität Reflexivität: Reflexive Reaktivierung Repräsentation als Mitaktivierung Vorstellungen als komplexe Imaginationen Der Übergang zum begrifflichen Denken Die materielle u n d historische Realität der Symbole Entwicklungsstufen der Symbolismen Die außerorganische Existenz der Symbole Die Eigenstruktur der Symbole Geist und Bewußtsein: Die symbolische Existenz des Geistes Die symbolische Identität der Vorstellungen Die organische Realisierung der Sprache
41 42 43 44 46 46 48 50 51 52 53 54 55 56 58 59 61 63 65 67 68 69
Inhalt I 7
III Die symbolische Gestalt der Subjektivität Bestimmungen des Geistes Subjektivität des Geistes als ungegenständliche Gegenstandsfähigkeit Die kulturellen Existenzformen und die produktive Einbildungskraft Die materiellen Medien des Geistes Ein Vermittlungsversuch·. Repräsentation als Funktion des Geistes Gegenstände und Komplexqualitäten These: Geist und Repräsentation Repräsentation und Realität: Eine schwierige Beziehung Die Entwicklung des Gegenstandsfähigkeit Elemente der Wahrnehmungssituation Der Schritt zur Vorstellung: Bewußtseinsformen Der Übergang zum Bewußtsein: Gegenwärtighaben Zwei Sprachspiele Der Bewußtseinsstrom und seine symbolische Befestigung Prägnanz: eine „Zentraleigenschaft" Die Welt der Gegenstände Die „Schließung der Form" Prozeß und Repräsentation: Eine Beziehung zwischen Bewußtseinsformen Vergegenwärtigung als Mit- oder Wiedervergegenwärtigung Bewußtsein als In-Beziehung-Setzen Schema Ungegenständliche Gegenstandsfähigkeit: Die symbolische Gestalt der Subjektivität Gegenstandsfähigkeit Ungegenständlichkeit Die Örtlichkeit der Wahrnehmungskomplexe und Wahrnehmungsmuster Die „Autonomie" der konkreten Wahrnehmungsformen Die Ortlosigkeit der konkreten Wahrnehmungsformen Die „kulturelle Stabilität" der konkreten Wahrnehmungsformen . . . . Resümee
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IV Der menschliche Geist: Ein „Phänomen" zwischen den Phänomenen Alltägliche Phänomene und wissenschaftliche Konstruktionen Bewußtseinsleben und Gehirnprozesse
97 99
8 I Inhalt Inklusion u n d Emergenz Die neuronale Definition des Bewußtseins u n d des Geistes Das Phänomen des Bewußtseins Die phänomenale Unmittelbarkeit des Selbsterfassens Vergegenwärtigung als Umwandlung eines Ereignisses in eine Form. Die Steigerung der Bewußtheit Die Verlagerung der Prozessualität Die Differenzierung von Repräsentierendem und Repräsentiertem . Die relationale Existenz des Übergangs Die leibliche Dimension der menschlichen Existenz Der Mensch als in der Welt handelndes Wesen Der Mensch als Ausdruckswesen Die Welt der kulturellen Symbolismen Der „Ort" und die Komponenten unserer geistigen Leistungen Der „Ort" unserer geistigen Leistungen Der Formcharakter der Repräsentationen Die Komponenten unserer geistigen Leistungen Die strukturelle Besonderheit der geistigen Leistungen
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V
Verstehen und Verallgemeinerung. Zur logischen Struktur der Kommunikation Die Frage nach dem Zusammenhang von Logik und Kommunikation.. Die „Logisierung" des Verstehens: Verstehen als Herstellung gemeinsamer Begriffe und Aussagen Die Identität unserer Handlungen als Ausdruck des eigenen Lebens . . . Identität durch Individuation Die Schließung der Handlungsform Die Präsentation oder das Präsentwerden der Handlungsform Der historische Charakter der Handlungsform Das Handeln als individuelle Ausdrucksform des Handelnden Die Subsumtionstheorie der Verallgemeinerung Poiesis: Der Zusammenhang zwischen Individuation und Kommunikation Die Symbolisierung unserer Ausdruckswelt Die Transzendenz der Individuation Die symbolische Homogenisierung und die potentiellen Formen des individuellen Ausdrucks Die Standardisierung der Ausdrucks- u n d Austauschformen Eine logische Konsequenz: Die Prädikation Eine ethische Konsequenz: Universalismus u n d Transsubjektivität
119 120 121 123 123 124 125 125 126 128 129 129 131 132 133 134
Inhalt I 9 Eine theoretische Konsequenz: Kulturwissenschaften und kulturelle Prozesse
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VI Über das Verstehen des Fremden Das Problem des Verstehens Die Mannigfaltigkeit des Verstehens Ausdruck u n d Ausdrucksbedürfnis Innenwelt u n d Außenwelt Die Fremdheit des Selbst und das Alte im Neuen Ausdrucksformen und Symbole Eindimensionale Prägnanz Künstlichkeit Verweisungszusammenhang Einzelsymbole und Symbolismen Der Symbolismus der Sprache: Symbolische Konfigurationen Der symbolische Ausdruck Schematische Gestalt Eigenstruktur Konnotativität Die Interindividualität der Sprache und die Dinglichkeit der Symbole Identität u n d Emotionalität Die Assimilation der Erfahrungswelt an die Symbolwelten Die strukturelle Differenz von Symbol und Realität Der Verlust der Übereinstimmung von Prozeß u n d Repräsentation . . . . Der pragmatische Ausweg Die Verwurzelung der Symbolwelten im Handeln Die H o f f n u n g auf eine Gemeinsamkeit der Anerkennung Die Gemeinsamkeit der Aufgaben u n d Projekte Die H o f f n u n g auf den Konsens und die Notwendigkeit der Kompromisse
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VII „Moralisierung" durch „Kultivierung"? Über den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Verstehen und moralischer Kultur Die H o f f n u n g der Philosophen Kants Vernunftglaube Cassirers Glaube an das „universalistische Streben" der Vernunft . . . Humanitätshoffnung und Vernunftglauben
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10 I Inhalt Die Entwicklung der ästhetischen und moralischen Sensibilität Das Verstehen als „Ent-Fremdung" des Fremden Kultivierung durch eine transsubjektive Wissenschaft des Verstehens .. Verstehen und moralisches Urteilen als Symbolisierungen Symbolisierung als Formelprägung Beharrung und Erneuerung: Formelprägung und Formelwandlung . . . . Heteronomie und Autonomie Die Heteronomie des Verstehens Die Autonomie der moralischen Lebensformeln Kontext u n d Fokus moralischer Maßstäbe Das Kontinuum der Argumente u n d der Konflikt der Proteste
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Quellennachweise Personenregister Sachregister
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Vorwort
Die Beiträge dieses Buches sind den Fragen der philosophischen Anthropologie gewidmet. Mit ihnen soll der Sinn der Frage nach dem Menschen noch einmal durchdacht werden. In der philosophischen Tradition ist diese Frage nach dem Menschen vor allem als Frage nach dem menschlichen Geist formuliert worden. Ich nehme diese Frage zwar auf, rücke sie aber in eine kulturphilosophische Perspektive, in der die geistigen Leistungen weder bloß als BewufStseinsprozesse noch bloß als rein gedankliche oder im weiten Sinne logische Operationen verstanden werden, sondern vielmehr als symbolisch und damit kulturell vermittelte Funktionen erscheinen. Diese Perspektive begrenzt den Geist nicht mehr auf den mentalen Bezirk unseres Bewußtseins und beläßt ihn auch nicht in einem idealen Reich reiner Gedanken oder logischer Verhältnisse, sondern bringt ihn als eine historisch-kulturelle Realität in den Blick, die sich in den vielfältigen Gestaltungen symbolischer Repräsentationen materialisiert. Die kulturellen Symbolismen sind in dieser Sicht nicht nur die äußeren Instrumente der geistigen Artikulation, sondern prägen unser geistiges Leben auch in seinem Innersten - bis hin zur „Innerlichkeit" unseres Selbstbewußtseins und unserer „Subjektivität". Das Verständnis des Menschen in dieser seiner kulturellen Existenz eröffnet eine Perspektive, in der traditionelle Gegensätze in fruchtbare Spannungen umgewandelt werden können. So läßt sich die Kontroverse zwischen einem natur- und einem geisteswissenschaftlichen Denken in das Programm einer interdisziplinären Untersuchung umformen, die sowohl die neuronalen Prozesse als auch die symbolischen Strukturen als Medien unserer geistigen Leistungen ansieht. Und auch die Auseinandersetzung zwischen der Auffassung, die im Menschen ein sozial und kulturell eingebundenes „Weltwesen" sieht, und der Gegenposition, die auf der einzigartigen und „unhintergehbaren" Individualität des Menschen besteht, läßt sich in das programmatische Konzept übersetzen, die kulturelle (und damit auch soziale) Form der persönlichen Identität zu analysieren und verständlich zu machen. Gerade diese Konzeption einer „kulturellen Identität" der individuellen Persönlichkeit gewinnt auch eine praktische Bedeutung, die in den Überle-
12 I Vorwort gungen zu den Formen und Möglichkeiten des Verstehens anderer Personen in anderen kulturellen Welten dargestellt wird. Dabei sind auch traditionelle Denkmuster, die einer Logik der Subsumtion verpflichtet sind oder das Verstehen des Anderen als eine Angleichung - des Anderen an das Eigene oder des Eigenen an das Andere - anstreben, zur Disposition zu stellen. Erst dann zeigen sich neue Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen, der in seiner kulturellen Existenz begriffen wird, und zu einem Verstehen des Fremden, dem in der Vielfalt der Kulturen seine eigene Existenz zukommt. Ich selbst sehe in dem vorliegenden Buch die Weiterführung der gedanklichen Ansätze, die ich in dem Band Die Philosophie und die Wissenschaften1 vorgetragen habe. Inhaltliche Parallelen bestehen zu meinem Cassirer-Buch. 2 Allerdings wird man bemerken, daß ich die Materialität der Symbole und die Eigenstruktur der jeweiligen Symbolismen sehr viel stärker betont u n d zu reflektieren versucht habe, als dies in einem Buch über die Philosophie Ernst Cassirers geschehen konnte. Ich hoffe, daß diese Akzentverschiebung Wege zu einem kulturphilosophischen Verständnis des Menschen erkennen läßt, auf denen eine disziplinübergreifende Wissenschaft vom Menschen - im Sinne einer forschenden Verständigung zwischen den verschiedenen Disziplinen, die den Menschen in seiner kulturellen Existenz begreifen wollen - zumindest an einigen der hier reflektierten Punkte angeregt und zugleich auch die konzeptuelle Kraft zu nutzen gelernt wird, die Cassirers Entwurf einer Philosophie der symbolischen Formen in ein solches Unternehmen einzubringen vermag. Die hier vorgelegten Überlegungen sind Versuche, die zwar Ergebnisse vorweisen wollen, diese aber nicht in einer umfassenden Systematik zusammenschließen. Ihre Einheit gewinnen sie dadurch, daß sie in einem bestimmten theoretischen Interesse u n d in einer bestimmten theoretischen Perspektive u n t e r n o m m e n sind. Was das theoretische Interesse angeht, so geht es in all diesen Versuchen darum, Individuation u n d Individualität als Form einer kulturellen Existenz, Kreativität als Gestaltung von schon Gestaltetem, Subjektivität als Vollzug von Interindividualität, kurz: die Bestimmungen des menschlichen Geistes als kulturelle Bestimmungen zu lesen, o h n e die Individualität, Kreativität und Subjektivität unserer geistigen Leistungen durch deren kulturelle Definition zu verdecken. Die theoretische Perspektive, in der diese Versuche u n t e r n o m m e n sind, läßt sich als eine prozeß- und symboltheoretische charakterisieren. Die Sicht unseres Bewußtseins, unserer leiblichen Weltverhältnisse u n d unseres Geistes als wechselseitig aufeinander bezogene Konfigurationen verschiedenartiger Prozesse zwingt uns die Frage nach den Momenten und Faktoren unserer 1 2
Die Philosophie und die Wissenschaften. Zur Kritik einer Abgrenzung. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1990. Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin [Akademie Verlag] 1997.
Vorwort I 13 Bewußtseinsprozesse, Weltverhältnisse und geistigen Leistungen auf. Wir können uns in dieser Sicht nicht mit Globalphänomenen wie Bewußtsein, Leiblichkeit und Weltbezogenheit oder Geist bescheiden. Wir müssen die komplexe Genese und Struktur dieser Phänomenbereiche analysieren. Nur dann gewinnen wir auch einen Blick auf ihre Prozessualität, in der alleine wir die Existenzverhältnisse der Menschen erfassen können. Sicher wird der Leser entdecken, daß diese prozeßtheoretische Perspektive dem Denken Whiteheads verpflichtet ist, auch wenn es in meinen Überlegungen gerade nicht um Naturphilosophie oder gar um eine Kosmologie geht. Ich habe diese Bezüge auf Whitehead nur an wenigen Stellen und dort eher beiläufig eigens ausgewiesen. Tatsächlich geht es mir hier nicht um eine Whitehead-Interpretation, sondern um eine gedankliche Ausrichtung, einen Blickwinkel, unter dem uns unsere (bewußte, leiblich-weltliche und geistige) Existenz in all ihren Dimensionen und Verhältnissen, in die sie gerät und in denen sie sich ausbildet, als eine besondere Form von prozessualen Strukturen erscheint - und eben nicht als ein System von klar und deutlich klassifizierbaren Gegenständen und Sachverhalten. Man könnte diese Sicht auch durch die Formel wiedergeben, daß die Existenz von was auch immer ein Geschehen ist, dessen Identität nicht als eine kompakte „Entität", als ein feststehender und feststellbarer Gegenstand oder Sachverhalt, sondern als ein Verhältnis von Prozessen beschrieben werden muß. Natürlich sind diese Bemerkungen nur eine allgemeine Andeutung. Gleichwohl mögen sie für die gedankliche Verortung meiner Überlegungen nicht unerheblich sein. Die symboltheoretische Perspektive ist mit dem Werk Cassirers verbunden. Auch hier geht es mir nicht um eine Interpretation der Philosophie der symbolischen Formen, sondern um eine Sicht, in der nämlich die Rolle der vielfachen und verschiedenartigen Symbolisierungen für unsere Weltorientierung erkennbar wird. Auch die ausdrücklichen Bezüge auf das Werk Cassirers sind daher eher selten und an bestimmte Formulierungen gebunden. Die Verbindung der prozeß- und symboltheoretischen Perspektive läßt einerseits den kulturellen Prozeß der Ausbildung symbolischer Strukturen und andererseits die Ausbildung einer persönlichen Individualität in diesen symbolischen Strukturen als eine Einheit - als eine, wie Cassirer sagt, „dynamische Gesamtheit"3 - sichtbar werden. Sie fundiert daher auch das theoretische 3
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. (Erstveröffentlichung 1929) Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] "1982, S. 258. Dort spricht Cassirer bei seinem Versuch, die Strukturierung unseres Bewußtseins zu charakterisieren, von der Schaffung „dynamischer Gesamtheiten", durch deren funktionale Einheitsbildung „die innere Bezogenheit der Phänomene aufeinander hergestellt" wird. In diesen dynamischen Gesamtheiten gibt es „nichts schlechthin Einzelnes mehr: sondern jedes Element, das in einer solchen gemeinschaftlichen Bewegung mit anderen begriffen ist, trägt das Gesamtgesetz und die Gesamtform derselben in sich und vermag sie dem Bewußtsein zu repräsentieren."
14 I Vorwort Interesse, das meinen Versuch, den Menschen in seiner kulturellen Existenz zu verstehen, leitet. Dieser Versuch besteht aus mehreren Anläufen, mit denen ich auf die gleiche Frage antworten wollte. Diese Anläufe zu einer Antwort sind nicht in einer methodischen Reihenfolge geordnet, die sie als aneinander anschließende Schritte auf einem gesicherten Weg ausweisen könnte. Sie versuchen im Grunde alle, von einem jeweils anderen Aspekt her das Ganze zu sagen, sind daher eher unterschiedliche Reflexionen auf dasselbe als verschiedene Abschnitte eines einheitlichen Gedankenganges. Ich denke sogar, daß die Frage nach dem Menschen sich überhaupt nicht in einer von einer Disziplin verwalteten u n d von ihr schrittweise aufgebauten Argumentation beantworten läßt u n d zwar auch dann nicht, w e n n die Philosophie mit ihrem oftmals umfassenden Anspruch als diese Disziplin auftritt. Der Grund dafür liegt nicht nur in der vieldimensionalen Komplexität der menschlichen Existenz, sondern auch in deren Historizität. Der Mensch wird zu dem, was bzw. der er jeweils ist, erst in einer kulturellen und individuellen Geschichte, an der er selbst teilhat, die er - wenn auch zu einem noch so kleinen Teil - mitgestaltet u n d die ihn prägt. Das Sein des Menschen ist wie diese Geschichte selbst nicht nur ein Gewordensein, sondern auch ein ständiges Werden in vielen und wechselnden Momenten u n d Dimensionen, aus vielen u n d wechselnden Faktoren. Man kann daher die Existenz des Menschen nicht im Rahmen der Vorabfestlegungen einer Disziplin definieren und ihre Untersuchung auch nicht in fester Aufteilung bestimmten Disziplinen zuweisen. Der Mensch macht sich in seiner Geschichte selbst zu einer Aufgabe, die immer wieder neu gestellt ist, die zu neuen Fragen bzw. zu einer neuen Sicht der alten Fragen u n d Antworten führt, die auch und gerade dann, wenn sie eine neue Sicht öffnen, nicht zu einem endgültigen Abschluß kommen, sondern unterwegs bleiben zu neuen Fragen und weiteren Antworten. In diesem Sinne sehe ich auch meine Überlegungen zur kulturellen Existenz des Menschen nicht als eine Antwort an, die uns zur Ruhe kommen ließe, sondern als einen Zwischenbericht von unterwegs. Es bleibt noch ein Dank abzustatten. Er gilt Willfried Geßner, der mit großer Sorgfalt u n d Sachkenntnis das Personen- u n d das Sachregister erstellt hat, und Thomas Egel, der auch dieses Buch mit auf den Weg gebracht u n d seine Fertigstellung mit einer zugleich stimulierenden und geduldigen Aufmerksamkeit begleitet hat. Herrn Karsten Greve habe ich dafür zu danken, daß er o h n e zu zögern meiner Bitte entsprach, Cy Twomblys Bild auf der Titelseite des Buches reproduzieren zu dürfen. Berlin, im Juli 1997.
I
Auf dem Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen
Rätsel Mensch Was ist der Mensch? Es mangelt nicht an Antworten auf diese Frage. Hat sich doch sich in unserem Jahrhundert sogar eine ganze Disziplin, nämlich die philosophische Anthropologie, der Antwort oder besser dem Antworten auf sie verschrieben und neue Antworten zu finden versucht. Aber trotzdem gilt, daß mit jeder der Antworten, die da immer wieder aufs neue gegeben worden sind, auch die Frage selbst immer rätselhafter geworden ist. Eine der vielstimmig angebotenen Antworten besteht eben darin, diese Rätselhaftigkeit der Frage nach sich selbst zum Wesen des Menschen, also zur entscheidenden Antwort zu erklären: Der Mensch, so könnte man dann sagen, ist das Wesen, das sich selbst ein Rätsel bleibt und bleiben muß, weil es sein eigenes Fragen und Finden nicht hintergehen kann, weil die Sinnräume, die es mit seinem Fragen aufspannt, weiter sind als seine Möglichkeiten, etwas zu begreifen, weil der Geist, als der es lebt, umfassender ist als die einzelnen Gedanken, die es sich machen kann. Das ist eine Antwort, die im Sinne der klassischen deutschen Philosophie, der Philosophie des Idealismus, gegeben worden ist und die insbesondere von Max Scheler in seinem berühmten Buch über die Stellung des Menschen im Kosmos 1 auf einen fachphilosophischen Begriff gebracht worden ist. Auf den ersten Blick könnte diese Antwort als bloßer Eskapismus gedeutet werden, als Flucht aus den Detailarbeiten des Begriffs hin zu einer bloßen Geste, die alle diese Arbeiten in die Niederungen geschäftig gesammelter Halbwahrheiten verbannen will. Die einzelnen Antworten etwa der Biologen, der Historiker oder auch der antwortfreudigeren Philosophen treffen unter einer solchen Geste immer nur ein Detail, einen Aspekt, ein paar Splitter für das niemals vollendete Mosaik. Das Ganze findet sich erst im Geheimnis, im Rätsel, das keine Auflösung duldet. Das ist der Mensch. 1
Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. (Erstveröffentlichung 1927) In: Ders.: Gesammelte Werke. Band 9: Späte Schriften. Bern - München [A. Francke] 1976.
16 I Auf dem Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen
Funktionskreise: Die Antwort der Biologie Tatsächlich war und ist die Situation komplizierter. Max Scheler, in dem ich einen der Gründungsväter der philosophischen Anthropologie im modernen Verständnis sehe, wollte die Ergebnisse der Wissenschaften vom Menschen berücksichtigen und erst auf ihnen eine philosophische Reflexion aufbauen. Nicht nur in Übereinstimmung, sondern auch im Anschluß an die modernen Wissenschaften sollte die Philosophie sich nun die alte Frage neu stellen: Was ist der Mensch, wenn er doch jedenfalls auch ein Organismus, ein Wahrnehmungs- und Verhaltenswesen ist? Die Antwort fiel dann allerdings anders aus, als diese neu formulierte Frage erwarten ließ. Es war eine Antwort, mit der der Philosoph dem Biologen, der seine Antwort zu fassen suchte, gleichsam in den Arm fiel. Schien doch die Biologie zum ersten Mal in der Geschichte der Wissenschaften den Menschen begreifen zu können - etwa in den Funktionskreisen des Wahrnehmens und Verhaltens, des Merkens und Wirkens, wie sie Jakob von Uexküll in seiner Theoretischen Biologie2 so faszinierend dargestellt hatte. Dieser Griff der Biologie nach dem Menschen begründete sich auf einem differenzierteren Verständnis der „Umwelt und Innenwelt der Tiere", 3 nach dem die Komplexität tierischen Wahrnehmens und Verhaltens - und insbesondere natürlich die Rätselhaftigkeit der Instinkte - in einzelne Funktionskreise zerlegt wurde, in denen jeweils eine Merkwelt einer Wirkwelt gegenüberstand. So zeigten die Untersuchungen, daß die Merkwelt der Zecke nur die Qualitäten der Wärme und Feuchtigkeit besitzt und daß die entsprechende Wirkwelt nicht weniger einfach nur aus den Reaktionen des Sichfesthaltens, -fallenlassens und des Einsaugens besteht. Die Höherentwicklung im tierischen Reich bedeutet dann eine höhere Komplexität in den Seh-, Hör- und Tastwelten, den Geruchs- und Geschmackswelten, die sich zu einer mehrgestaltigen Umwelt aus vielen und durchaus nicht immer verbundenen Teilwelten verschränken, in denen die Tiere sich dann jeweils verhalten, von einer Teilwelt in die andere übergehend.
Die Einheit der Gegenstandswelt Beim Menschen nun verbindet sich diese Vielfalt zu einer Einheit, in der die vielen Umwelten sich zu einer durchgängigen Umwelt formen: in der das, was wir sehen, auch von uns gehört oder ertastet werden könnte, oder, anders
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Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie. [SuhrkampJ 1973. Jakob von Uexküll: Umwelt und Innenwell
(Erstveröffentlichung 1920) Frankfurt am Main der Tiere. Berlin [Julius Springer] 1909.
Funktionskreise: Die Antwort der Biologie I 17 gesagt, in der wir die Identität der Gegenstände erfassen, die wir mit verschiedenen Sinnen wahrnehmen. Daß dies durchaus nicht selbstverständlich ist, zeigen die vielen Beispiele für die Trennung der Sinnenwelten bei Tieren. So übernimmt etwa Arnold Gehlen in seinem berühmten Buch Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt4 das Beispiel von der Spinne, die die Vibrationen in ihrem Netz fühlt, wenn eine Mücke darin gefangen ist, und sich der Mücke als ihrer Beute nähert, um sie zu vertilgen. Dieselbe Spinne flüchtet aber, wenn ihr die Mücke vor Augen gestellt wird.5 Tastwelt und Sehwelt bleiben hier getrennt. Das mit dem Tastsinn Gefühlte wird nicht als eben dasselbe erkannt, was gesehen wird. Und so scheint denn die Biologie uns sagen zu können, was den Menschen auszeichnet und ausmacht: die komplexe Vielfalt und Einheit seiner Umwelten, in denen er sich als einziger in seiner einen Welt bewegen und verhalten kann. Was aber auch ihn, den Menschen, fesselt, sind die Funktionskreise, die auch sein Verhalten steuern. Diese sind zwar vielfältiger und komplexer als im übrigen Reich der Tiere. Und so kann der Eindruck einer Unabhängigkeit aufkommen, der in der Tradition immer wieder als Freiheit gedeutet wurde. Tatsächlich bleibt aber auch der Mensch eingebunden in diese Kreise von Merken und Wirken, Wahrnehmen und Verhalten, die schon den Tieren ihr Gesetz auferlegen.
Der Geist und die Weltoffenheit des Menschen Es ist dieser Ausgriff auf den Menschen, dem Max Scheler sich entgegenstellt, dem er sozusagen in den Arm fällt. Nein, der Mensch ist nicht eingebunden in die Funktionskreise seines Wahrnehmens und Verhaltens, wenn diese auch noch so komplex und differenziert konzipiert sein mögen. Der Mensch, so Scheler, ist das Wesen, das weltoffen ist, das die Einheit seiner Erfahrungen, und zwar sowohl der Gegenstände als auch der umfassenden Welt seiner Erfahrungen, allein der Tatsache verdankt, daß es die Funktionskreise durchbricht und eine eigene selbsterzeugte Innenwelt zwischen die Erfassung der Außenwelt und sein Verhalten baut, nämlich die selbständige und gänzlich neue Welt seines Geistes. Dieser Geist ist nicht zu verwechseln mit unserem durch praktische Zwecke geleiteten, mit unserem technischen Handeln, zu dem im begrenzten Ausmaß auch Tiere wie die Köhlerschen Schimpansen fähig sind. Scheler drückt das in einer drastischen Bemerkung so aus: „Zwischen einem klugen Schimpansen
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Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. (Erstveröffentlichung 1940) Wiesbaden [Aula] ^1986, S. 44. Dieses Beispiel stammt von Hans Volkelt: Über die Vorstellungen der Tiere: Ein Beitrag zur Entwicklungspsychologie. Leipzig [Engelmann] 1912, S. 55-61.
18 I Auf dem Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen und Edison, dieser nur als Techniker genommen, besteht nur ein - allerdings sehr großer - gradueller Unterschied." 6 Der Geist, das ist eben jenes Vermögen der Gegenstandsbestimmung, das ein Identisches in allen seinen verschiedenen Umwelträumen festhalten und das sich eigene Welten ausdenken, gegen die bestehende Welt andenken und damit aus den Zwängen der geschlossenen Funktionskreise ausbrechen kann. Allerdings hat diese Befreiung auch Kosten. Der Mensch, der in seinem Geist eine Welt erschaffen und die Gegenstände festhalten kann, ist selbst herausgefallen aus den sicheren Kreisen des Wahrnehmens und Verhaltens, hat seinen eigenen Halt verloren. Er hat nur noch sich selbst, worauf er sich stützen kann, muß sich auf sich selbst stellen, wenn er überhaupt einen Stand gewinnen will. Damit scheint denn der Versuch, eine umfassende Wissenschaft vom Menschen zu begründen, die auch die philosophische Tradition aufnimmt, vorerst gescheitert. Kann man doch die abschließende Deutung Max Schelers auch so lesen, daß mit ihr eine prinzipielle Unzuständigkeit der Wissenschaften für das volle Verständnis des Menschen konstatiert wird und die Wissenschaften überhaupt nur konsultiert worden sind, um ihre Unzulänglichkeit deutlich zu machen.
Wissenschaftliche Selbstbegrenzung und philosophischer Anspruch Tatsächlich ist dies eine Überzeugung, die auch heute noch oder wieder ihre Macht auf die Meinungen ausübt, und zwar nicht nur auf die Meinungen der Philosophen, sondern auch auf die der Wissenschaftler selbst. Gerade die Wissenschaftler, die sich der Erforschung besonderer menschlicher Leistungen und Merkmale gewidmet haben, betonen immer wieder die Begrenztheit ihrer Gegenstände und Ergebnisse. Nicht Wissenschaftler, sondern Philosophen sind es denn auch häufig bis nahezu ausschließlich, die die triumphale Auflösung der Rätselfrage Mensch feiern möchten und dazu gar neue Disziplinen wie etwa die der Neurophilosophie ins Leben gerufen haben. Natürlich können wir mitfeiern und die endgültige Erklärung des menschlichen Geistes durch Algorithmen und Computermodelle proklamieren. Aber damit würden wir nur etwas wiederholen, was schon längst und immer wieder eine Methode war, auf die Frage nach dem Menschen zu antworten: Man engt die Frage immer weiter ein, bis ihr selbst eine kleine Antwort genügt. Das ist zwar nicht die Beantwortung der ursprünglichen Frage, sondern nur deren Beseitigung. Aber auch dies genügt manchem, wenn er nur theoretisch hinreichend genügsam ist.
6 MaxScheler: Op.cit., S. 31 Anm. 1.
Wissenschaftliche Selbstbegrenzung und philosophischer Anspruch I 19
Die Rettung des Geistes Bevor wir in dieser Weise jeglichem common sense den Laufpaß geben, lohnt es sich, noch einmal Schelers Antwort aufzunehmen und zu fragen, ob wir heute mehr wissen und daher anders antworten können, als er es damals tat. Max Scheler wollte den Geist retten. Er glaubte, daß die Vorstellung von geschlossenen Funktionskreisen niemals die Beweglichkeit des Geistes, insbesondere seine Fähigkeit zur Identifizierung von Gegenständen in den sich wandelnden Fluten unserer Eindrücke, erklären könne. So bestand er denn auf der Weltoffenheit des Menschen, die sich in seiner Macht zur Festsetzung zeigt. Die Welt öffnet sich ins Unendliche, weil der Mensch ihr eine Struktur geben kann - eine Struktur aus Gegenständen, d. i. aus Dingen und Ereignissen -, die uns einen Halt gibt, ein Gerüst zur Fortsetzung in immer fernere Regionen der Erfahrung bis hin zu solchen Bereichen, die wir nur noch über die Apparate der Wissenschaften erreichen und deren Anschaulichkeit, so sie überhaupt besteht, eine erdachte, modellierte ist.
Der Mensch als Organismus Bei näherer Betrachtung müssen wir Max Scheler in einem Punkte Recht geben, in einem anderen aber von ihm abweichen. Beginnen wir mit der Abweichung. Was Max Scheler und mit ihm ganze Generationen von Philoso phen in ihrem Eifer, den Geist zu retten, übersehen haben, ist die Eigenexistenz und das Eigenrecht des Körpers. Zunächst ist der Mensch ein Organismus, ein hochkomplexer Körper in einer Welt mit anderen Körpern. Und dieser Körper ist nicht nur eine Hülle, nur dafür da, den Geist zu stützen und zu schützen, eine Hülle, die man womöglich abstreifen oder doch zumindest in asketischer Disziplinierung, wie es dann heißt, „abtöten" muß, um zum wahren - nämlich unsterblichen geistigen - Leben vorzudringen. Der Körper ist der Ort unserer Existenz, die ansonsten ortlos wäre. Er ist der Ort unseres Weltverhältnisses, in dem sich die Wirkungslinien aus der uns umgebenden Welt und in sie hinein immer wieder versammeln, im lebendigen Pulsschlag der Koexistenz und Kooperation mit all den anderen Körpern der Welt, den lebendigen ebenso wie den unbelebten.
Der Körper als Ort unseres Weltverhältnisses Unser Körper, das ist unsere Verbindung mit der Welt in einer doppelten Dimension und in zwei Richtungen: Die erste Dimension ist die des Wahrnehmens und des Verhaltens, des Erlebens und des Ausdrucks. In dieser Dimension erfaßt unser Körper das Geschehen der Welt und prägt er dieser Welt
2 0 I Auf d e m W e g e zu e i n e r W i s s e n s c h a f t v o m M e n s c h e n zugleich s e i n e Antwort auf. Körperlos - also in e i n e m Zustand, den nur Philosop h e n und vormals T h e o l o g e n d e n k e n k ö n n e n - , körperlos wären wir o h n e E r l e b e n und o h n e Ausdruck, o h n e W a h r n e h m u n g e n und o h n e Verhalten, o h n e G e f ü h l e u n d o h n e Welt, also gar nichts. Und damit e r r e i c h e n wir die zweite D i m e n s i o n u n s e r e s körperlichen Weltverhältnisses, unsere Abhängigkeit v o n der Welt und unsere Zuträglichkeit für sie. D i e Abhängigkeit b r a u c h e ich nicht zu b e w e i s e n . Sie zeigt sich hinlänglich dramatisch überall dort, w o der M e n s c h sie nicht b e a c h t e t e und inzwischen e i n e vergiftete o d e r e r s t o r b e n e Umwelt all die, die in ihr leben, selber vergiftet und krank macht. Unsere Zuträglichkeit ist d a g e g e n nicht s o augenfällig. A b e r auch dieses ist wahr. D e r M e n s c h ist ein Teil d e r Welt, der auch in seiner körperlichen Existenz einen Beitrag leistet: W i e die a n d e r e n T i e r e auch ist e r eingebettet in die vielen Kreisläufe u n d Wirkungslinie n der Natur, die er in sich aufnimmt und auf die er antwortet. Mit d e m M e n s c h e n tritt dabei a b e r e i n e n e u e Form d e s A u f n e h m e n s und A n b a h n e n s von W i r k u n g e n in die Welt, die n e u e Entwicklungen ermöglicht, aber auch, w i e wir nur allzugut wissen, viele s o n s t m ö g l i c h e Entwicklungen verstellt.
Die Solidarität mit der Welt S u c h t m a n e i n e n Titel, unter d e m m a n d i e s e w e l t e i n g e b u n d e n e Situation d e s M e n s c h e n e r f a s s e n k a n n u n d der d a b e i b e i d e n D i m e n s i o n e n s e i n e s Weltverhältnisses R e c h n u n g trägt, d a n n ist dies der Titel der Solidarität. D i e Solidarität mit der Welt als g a n z e r als ein Ding unter D i n g e n , ein L e b e w e s e n
unter
L e b e w e s e n , ein K ö r p e r unter K ö r p e r n , dies ist d i e existentielle Situation d e s M e n s c h e n . Zugleich ist dies a b e r auch e i n e Situation, die d e r M e n s c h selbst in s e i n e r G e s c h i c h t e v e r g e s s e n u n d verdrängt hat.
Selbstbilder des Menschen: Differenz statt Solidarität Fast überall da, w o er sich ein Bild v o n sich selbst g e m a c h t hat, w a r e s d i e D i f f e r e n z zur Welt, die strikte T r e n n u n g s l i n i e z w i s c h e n ihm und allem anderen, die ihm die Definition s e i n e s W e s e n s liefern sollte. Nahezu alle d i e s e Bilder, d i e der M e n s c h seit d e m Anfang u n s e r e r G e s c h i c h t e von sich selbst g e m a c h t hat, s c h r e i b e n d e m M e n s c h e n e i n e unvergleichliche S o n d e r s t e l l u n g im Universum zu. Selbst Gott, s o sagt u n s die B i b e l gleich zu Anfang ihres ( e r s t e n ) S c h ö p f u n g s b e r i c h t e s , bestätigt d i e s e Sonderstellung. D e n n e r s c h u f d e n M e n s c h e n „als sein Bild" u n d g a b ihm nicht nur d e n Auftrag, f r u c h t b a r zu sein u n d sich zu m e h r e n , s o n d e r n auch, sich die Erde Untertan zu m a c h e n . 7
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Genesis 1.27f.
Die Solidarität mit der Welt I 21 Der Mensch und die Erde, das ist damit von Beginn an ein Verhältnis der Verfügung, der Macht des Menschen über die Erde und des Besitzes. In seinem Selbstverständnis steht der Mensch so jenseits von allem anderen in der Welt. Er lebt zwar in der Welt - aber nur mit seinem Körper. Mit seinem Geist, der nur ihm zukommt, gehört er dieser Welt nicht an, überschreitet er sie und ist er Gott nahe. Diese tiefe Trennungslinie durch das Universum, auf deren einer Seite der Mensch als Geistwesen lebt und auf deren anderer Seite die übrige Welt wie auch die körperliche Seite des Menschen existiert, verstellt damit nicht nur den Blick auf diese Welt, in der der Mensch als in seiner unüberschreitbaren Umgebung lebt, sondern verdeckt auch die Sicht auf den Menschen selbst, der zunächst ein körperliches Wesen bleibt. Statt seiner Solidarität mit dem Universum wird eine Differenz und prinzipiell uneingeschränkte, weil letztlich ja durch Gott selbst garantierte, Dominanz hervorgekehrt, die den Menschen zu einem Wesen ohne Welt, aber auch ohne Gefühl, also zu einem Unwesen macht, das mit der Welt dann tatsächlich auch sein Unwesen getrieben hat.
Die Wissenschaft vom Menschen: eine ökologische Wissenschaft von der solidarischen Existenzform des Menschen Damit ist es an der Zeit, ein erstes Postulat für eine Wissenschaft vom Menschen aufzustellen. Dieses fordert, die existentielle Solidarität des Menschen mit seiner Welt wieder ernst zu nehmen und aufzuklären. Beides ist zu erforschen, die Wirkungslinien, die den Menschen in ihre Netze hineinziehen, und die Rückwirkungen, die der Mensch in seine Welt hineinbringt und hineinbringen könnte. Eine solche Wissenschaft ist noch in dem Sinne, in dem bereits Ernst Haeckel 8 den Terminus prägte und in die Biologie einführte, eine ökologische Wissenschaft: eine Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen den Organismen und der unbelebten und belebten Umwelt. Darüber hinaus ist sie aber noch in einem radikaleren und neuen Sinne ökologisch: als eine Wissenschaft nämlich, die den Menschen in seiner organischen Identität als ein Wirkungsgeschehen in und mit seinen wechselnden Umgebungen sieht. In dieser Sicht tritt der Mensch nicht nur als ein abgegrenztes Wesen auf, das seine Identität durch diese Abgrenzungen gegenüber der Natur gewonnen hat und nun erhalten muß, sondern als ein lebendiges Geschehen, zu dem zwar auch das Sich-Ausgrenzen und -Abgrenzen gehört, aber als Teilgeschehen in einem übergreifenden Austauschprozeß, zu dem die Natur ebenso 8
Ernst Haeckel: Generelle 1866, S. 2 8 6
Morphologie
der Organismen.
Band II. Berlin [Georg Reimerl
22 I Auf dem Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen gehört wie der jeweilige Organismus. Wenn der Mensch daher über sich selber spricht, m u ß er auch diese Natur in das Bedeutungsfeld seiner Rede miteinbeziehen. Sie ist nicht nur seine von ihm getrennte Umwelt, sie ist das Feld seiner eigenen Existenz und gehört damit in seine Identität hinein. Wir haben erst angefangen, diese Zusammenhänge zu verstehen. Sie verlangen eine Umkehrung vertrauter und tief eingewurzelter Verständnisse, mit d e n e n wir uns selbst und die Welt als einander gegenüberstehende Wirklichkeiten zu sehen gelernt haben. Die Philosophie ist hier aufgerufen, diese Umkehrung einsichtig zu machen, die Begriffsfelder umzuarbeiten, in d e n e n wir uns unsere Existenz verständlich machen. Insbesondere hat sie dabei aufzuzeigen, wie die Trennung und Entgegensetzung von Mensch u n d Welt, die die Philosophen auf den Gegensatz zwischen Geist u n d Natur zu gründen pflegen, eine Weltentrennung - nämlich zwischen Geist u n d Körper - in den Menschen selbst hineinverlegt, die ein Verständnis des Menschen selbst unmöglich macht.
Der Geist und seine Eigenstruktur Damit haben wir den zweiten Punkt erreicht, den Punkt, in dem die philosophische Anthropologie ihr Recht behaupten kann. Es ist dies ihr Bestehen auf d e m Sondercharakter des Geistes und natürlich ihre Berufung auf diesen Geist, w e n n es um ein Verständnis des Menschen in seinem Wesen geht. Hier, so scheint es, hat ein Philosoph wie Max Scheler etwas gesehen, das wir nicht abweisen können. Gibt es doch in der Tat eine Differenz des Geistes zu den geschlossenen Funktionskreisen der übrigen Organismen, die nicht durch höhere Komplexität u n d weitere Differenzierung dieser Funktionskreise erklärt werden kann. Diese Differenz betrifft die elementare und für uns so selbstverständliche, aber eben nur scheinbar einfache Fähigkeit, alle unsere Eindrücke ganz unmittelbar als Aspekte von Gegenständen aufzufassen, die als solche ihre eigene Identität besitzen.
Die Identität der Gegenstände und die Gegenstandswelt Was für uns das Selbstverständlichste ist, ist für die Tiere überhaupt nicht zugänglich. Natürlich erinnert sich unser Hund an uns, auch wenn wir lange weggeblieben sind. Und in diesem Sinne identifiziert er uns auch. Aber diese Identität ist keine Gegenstandsidentität. Wie Beobachtungen u n d Versuche zeigen, bleibt dieses Wiedererkennen eingebunden in die Wahrnehmungsu n d Handlungssituationen, in die der Hund gerät. Der Garten, den er täglich durchstreift, wird sich für ihn nie in einem Überblick seiner Wege zeigen.
Der Geist und seine Eigenstruktur I 23 Diese Wege zeigen sich erst im Ablauf seines Durchstreifens. Sie tauchen sozusagen auf und erlauben ihm nie, sie zu überblicken oder gar in einem Schema festzuhalten. Sie bleiben Momente seines Erlebens, aus dem und über das er sich nicht hinausheben kann. Die Identität eines Gegenstandes verläßt dagegen diese Grenzen einander folgender Situationen. Der Gegenstand und sei er so praktisch und trivial wie der Tisch, an dem ich sitze, oder das Pult, an dem ich stehe - behält seine Identität auch im Wechsel der Situationen. Ja, mehr noch und wesentlicher: Eben durch diese ihre Identität spannen die Gegenstände sozusagen ein Netz auf, in dem die wechselnden Situationen in ihrem Wechsel erkannt und eingeordnet werden können. Und noch einmal anders gewendet: Mit der Identität der Gegenstände gewinnen wir einen neuen Standort für unsere Welterfahrung insgesamt. Außerhalb der wechselnden Situationen haben wir uns eine in sich gefügte und geordnete Gegenstandswelt geschaffen, in der wir uns nun angesiedelt haben und von der aus wir auch den Wechsel und Fluß des Geschehens - zu dem übrigens auch unser eigenes unmittelbares Erleben gehört - in den Blick nehmen und, wie es uns beliebt, in unserer Wahrnehmung auftreten lassen können oder nicht.
Externe Identität Dieser neue Grund befindet sich außerhalb unseres unmittelbaren Erlebens und Wahrnehmens. Dies ist der entscheidende Punkt. Er kann daher auch nicht aus einer wechselseitigen Verschränkung der verschiedenen Wahrnehmungsbereiche entstehen. Denn eine solche Verschränkung, wie komplex auch immer wir sie denken mögen, führt nicht über sich hinaus - auch wenn sie durchaus lokale oder regionale Orientierungen, gleichsam Markierungen bietet, die wir suchen, erreichen und von denen wir dann ausgehen können: interne, nämlich erlebnis- und verhaltensinterne, Stabilisierungen, die unser Verhalten steuern. Die externen Identitäten dagegen benötigen ein Medium, das selbst außerhalb unseres Erlebens existiert und seine Struktur gewinnt, ein externes Medium. Was Max Scheler und die ihm folgende philosophische Anthropologie gesehen haben, ist die externe Existenz und Struktur der identischen Gegenstände, was sie übersehen haben, ist die Tatsache, daß ein Medium, ein materielles Medium erforderlich ist, damit sich eine solche externe Existenz und Struktur bilden kann. Diese Autoren haben die „Exteriorisierung", um die es hier geht, nicht als ein wirkliches Geschehen in unserer Welt erfaßt, sondern als ein Gedankenprodukt im Reich reiner Gedanken, ein Nichts an Existenz, ein Etwas jenseits unserer Welt, als eine - wie man dann in der Philosophensprache auch sagen mag - reine Idealität. Der Geist, das ist für Scheler dann ein „weltexzentrisch" gewordenes Sein, 9 das den Menschen dem9
Max Scheler: Op.cit., S. 6y.
24 I Auf dem Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen gemäß zum „Neinsagenkönner", zum „Asket des Lebens", zum ,,ewige[n] Protestanten] gegen alle bloße Wirklichkeit" macht. 10 Sehen wir dagegen, daß, um es einmal mit einer lakonischen Wendung des common sense zu sagen, von nichts nichts kommen kann, dann haben wir das äußere Medium zu suchen, in dem die Identität von Gegenständen ihren realen Grund finden kann.
Das Medium der Symbolismen Dieses Medium sind die Symbolismen: vor allem unsere Sprache, aber auch die Bild- und Klangwelten, die Bewegungs- und Geschmacksformen, die die Menschen in ihren Kulturen oder genauer: als das tragende Fundament und verbindende Medium ihrer Kulturen entwickelt, erhalten, ergänzt und verändert haben. Mit diesem Blick auf die kulturellen Symbolismen tut sich eine völlig neue Perspektive auf den Menschen auf - und auf die alte Frage nach dem, was er denn nun in seinem Wesen sei.
Imagination: die erste Quelle des Geistes und der Beginn der Exteriorisierung Diese Perspektive mag noch ein wenig ausgearbeitet werden. Dazu haben wir zunächst einen Schritt zurück zu tun, einen Schritt noch hinter die Entwicklung von Symbolismen zu einer zweiten Quelle des Geistes, zur Imagination. Sie ist es nämlich, durch die der Funktionskreis von Merken und Wirken, von Wahrnehmen und Verhalten erstlich durchbrochen wird und mit der der Aufbruch zur Menschwerdung beginnt. Ich kann hier nicht über die Entstehung der Imagination spekulieren. Dazu müßten wir wenigstens über eine neurophysiologische Beschreibung verfügen, die uns einen genauen Einblick vermittelte in die Besonderheit ihres Funktionierens, über die entscheidenden neuen Elemente in den psychischen Prozessen, durch die ein eigenes Reich der verselbständigten Eindrücke, Gefühle und Bilder geschaffen wurde, durch die - anders gesagt - die mit den Wahrnehmungen und Bewegungen entstehenden Gefühle nicht mehr nur die Brücken bilden, auf denen Wahrnehmen und Verhalten sich verbinden, sondern durch die sie nun festgehalten werden, im erwachenden Bewußtsein sozusagen kreisend und umherirrend, eine eigene, in sich verbleibende Wirklichkeit bildend. Wie gesagt, wir wissen noch viel zu wenig, um uns den Augenblick der Entstehung dieser neuen Wirklichkeit zwischen Wahrnehmen und Verhalten
10
Ebda., S. 44.
Das Medium der Symbolismen I vergegenwärtigen zu können. Aber wir können uns eine wichtige Funktion dieser Zwischen-Wirklichkeit verdeutlichen. Diese besteht in einer elementaren Repräsentationsleistung, einem Gegenwärtigbleiben und Vergegenwärtigen der Umwelten, in denen wir bis dahin existierten. Erinnern wir uns. Da, wo die Funktionskreise des Wahrnehmens und Verhaltens geschlossen bleiben, bleibt auch das Erleben, bleiben auch die Eindrücke und Gefühle - oder wie immer wir diese Ereignisse des tierischen Innenlebens nennen wollen - eingeschlossen in die einander folgenden und jeweils durch neues Wahrnehmen und Verhalten erschlossenen Umwelträume. Die Umwelten öffnen und schließen sich als die ineinander verfließenden und auseinander entstehenden jeweiligen Umgebungen, in denen Erleben und Verhalten miteinander verbunden werden. In dieser Art des Erlebens ist auch die Präsenz der Welt eingebunden in den Fluß der wechselnden Umgebungen und Situationen. Das, was der Körper, was der Organismus in der Komplexität seiner Reaktionen als die ihn umgebende Welt jeweils verarbeitet, dringt nur teilweise über die Schwelle des Wahrnehmens oder Erlebens und sinkt auch immer wieder ab in den umfassenderen Zusammenhang unserer organischen Funktionen, wenn die Situationen sich ändern. Dies muß nicht ein totales Verschwinden dieser Wahrnehmungen und Erlebnisse bedeuten. Absinken heißt nicht Verschwinden. Es heißt nur, daß der Körper selbst - natürlich mit seinem Gehirn, in das sich Muster unserer Wahrnehmungen und Erlebnisse als Bahnen neuronaler Aktivierungsmöglichkeiten einschreiben - das untergründige Lagerhaus dieser abgesunkenen Wahrnehmungen und Erlebnisse ist, ein „Gedächtnis" noch vor aller eigens bemühten Erinnerung. In dem Augenblick aber, in dem sich eine Wahrnehmung, in dem sich ein Erlebnis in etwas Eigenständiges, in etwas, das bleibt, verwandelt, verwandelt es sich auch selbst. Das, was bleibt von dem, was war, bleibt nicht mehr dasselbe, was es war. Es ist ein „Bild" von dem, was war, eine Repräsentation. Wie immer man den Mechanismus dieser „Abbildung", Repräsentation oder Vergegenwärtigung beschreiben mag, es bleibt eine Beziehung nicht der einfachen Wiederholung oder Verdoppelung, sondern der Verbildlichung, d. i. sowohl der vereinfachenden Anpassung als auch der schöpferischen Neugestaltung. Der Umschlag vom gefühlten Drang zum vorgestellten Bild, um den es hier geht, muß über eine Art Echoeffekt ausgelöst worden sein, über die Aktivierung von Erregungen, die wie ein Nachhall dem auslösenden Ereignis zugeordnet bleiben und doch etwas eigenes sind. Solange wir den Mechanismus nicht kennen, werden wir uns mit solchen Bildern begnügen müssen. Und auch wenn wir sie durch die abstraktere Rede von einem Selbstbezug oder einer Selbstreferenz ersetzen, bleiben sie Hilfsvorstellungen, um die Entstehung von Vorstellungen verständlich zu machen. Was mit ihnen gesagt werden kann, ist jedenfalls dieses: Es muß in irgendeinem Sinne eine Re-Produktion
26 I Auf dem Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen der ursprünglichen Erlebnisse stattfinden, die ihrerseits immer wiederholt werden kann. 11 Damit eine solche Wiederholung möglich ist, bedarf es einer gewissen Prägnanz und Situationsdistanz, da sie sonst nicht für sich selbst identifizierbar wäre. Die Prägnanz ergibt sich über eine Vereinfachung, die so etwas wie eine Kondensierung auf einige Charakteristika bedeutet u n d dadurch auch die Situationsdistanz schafft. Zugleich m u ß aber auch der Bezug zum ursprünglichen Erleben festgehalten werden. Dieses wird nun gerade dadurch erreicht, daß die Reproduktion prägnant ist und damit dem ursprünglichen Erleben überhaupt erst eine Identität verleiht. Denn wir müssen daran denken, daß dieses ursprüngliche Erleben gerade keine genauen Grenzen besitzt. Es ist eher wie ein aufsteigendes und abschwellendes Fließen. Durch seine prägnante Reproduktion aber gewinnen wir ein Bild von diesem Erleben, das wir nun an dessen Stelle setzen können. Denn dieses Bild besitzt Grenzen und eine Gestalt, die sich immer wieder vergegenwärtigen läßt. Eben diese reproduktiv vermittelte Identität beruht auf einer Repräsentationsbeziehung, die darin besteht, ein Ganzes - nämlich das ursprüngliche Erleben - durch einen seiner Teile - das Abbild oder Nachbild, die Vorstellung - zu vergegenwärtigen u n d festzuhalten. Irgendwann jedenfalls m u ß es diesen Umschlag vom gefühlten Drang zum vorgestellten Bild in unserem Empfinden gegeben haben. Durch diesen Umschlag haben sich Erlebnisse fort- und umgesetzt in Bilder, die dann in uns bleiben, eine eigene Gegenwart gewinnen und nicht mehr nur die Überleitung vom Erleben und Verhalten stellen.
Die Bilderflut als Heimsuchung Und so hat sich denn die Imagination entwickelt, die Phantasie an der Schwelle des Bewußtseins, mit der ein neues Reich der Vorstellungen und Bilder gegründet wird. An diesem Anfang des Bewußtseins sind diese Bilderströme nicht nur eine Beglückung. Sie sind auch eine Beklemmung. Sie sind nicht nur eine Befreiung aus der Geschlossenheit von Funktionskreisen. Sie sind auch eine Heimsuchung, der man sich erwehren muß, will man in ihr nicht untergehen. Nur mühsam mögen wir uns diese neue Situation, in der die Phantasie geboren ist, vor Augen führen. Am ehesten gelingt das vielleicht noch dann, w e n n wir uns an die Vorstellungen erinnern, die uns heimsuchen, w e n n wir alleine sind, im schlaflosen Dunkel einer quälenden Nacht, in der die Maßstäbe verschwunden sind u n d die Vorstellungen ihr Eigenleben gewinnen u n d womöglich zu Albträumen werden. Da ist es selbst uns, den aufgeklärten
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D e t a i l l i e r t e r e Ü b e r l e g u n g e n d a z u f i n d e n sich in K a p i t e l II.
Die Bilderflut als Heimsuchung I 27 Verwaltern unserer Vorstellungen und Erinnerungen manchmal schwer, zwischen Phantasie und Wirklichkeit die Trennungslinien zu ziehen. Wie erst mag es d a n n den Menschen ergangen sein, deren Bewußtsein erst erwacht!
Die Notwendigkeit externer Stützen Es mußten Stützen gefunden werden, an die man sich halten konnte, die den überflutenden Strom der Bilder wenigstens teilweise lenken ließen. Diese Stützen konnten nur von außen kommen. Sie lagen nicht in den Bildern selbst, die sich nur durchdringen u n d ineinander verschränken, nicht aber gegeneinander abgrenzen u n d füreinander zur immer wieder präsentierbaren Identität verfestigen können. Das Außen der Bilder ist unser Körper und sind seine Bewegungen, unsere Handlungen. Diese Handlungen, das mögen am Anfang nicht viel mehr als bestimmte Bewegungen gewesen sein: etwa des Stampfens u n d Tanzens, aber auch des Schreiens, Rufens und - wenn man d e n n seinen Ohren diesen Ausdruck zumuten mag - Singens. Ks geht hier um Bewegungen, die wirklich „außen" vollführt werden: gemeinsame und teilweise gleiche Bewegungen, u n d dies zu Gelegenheiten, die sich wiederholen: zunächst vielleicht nur, weil sie als solche den Drang zur Wiederholung wecken, dann aber auch, weil sie eine bestimmte Situation begleiten u n d schließlich charakterisieren: die Vorbereitung der Jagd oder des Kampfes, einen Teil des Festes oder der Beschwörung in der Not. Bilder binden sich an Bewegungen u n d vor allem an Gesten und Laute. Sie werden von diesen Bewegungen und Lauten hervorgerufen oder unterdrückt, ausgesondert oder festgehalten. So bleibt das erwachende Bewußtsein nicht länger alleine mit seiner Bilderflut, sondern es entsteht eine Gemeinsamkeit. Es wird zum Teil einer Gruppe, die tanzt u n d klatscht und stampft u n d schreit. Erst dieses Außen der Körperbewegungen, die sich da mit den Schlägen der Trommel verbinden, bändigt die Bilderfluten der übermächtigen Innenwelten.
Die rituelle Ordnung der Phantasie Natürlich bleiben die Bilder der Imagination, steigen sie in unserem Bewußtsein weiter auf u n d können sie es auch besetzen. Aber sie bekommen sozusagen neue Begleiter, Begleiter von außen. Der körperliche Ausdruck der Imaginationen bindet die fließenden Welten der Bilder an die Körperbewegungen, die im gleichen Rhythmus oder im Wechselspiel gemeinsamen Handelns immer wieder verwirklicht werden können - auf eben dieselbe Weise wie hier u n d jetzt. Es entsteht eine rituelle Ordnung der imaginären Phantasie, die ein erster Festpunkt, ein Halt ist, der so etwas wie die Möglichkeit eines eigenen Standes aufscheinen läßt.
28 I Auf dem Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen
Die Spannung zwischen Innen und Außen Bereits hier, in der ersten Dämmerstunde des Bewußtseins, zeigt sich eine Spannung, die von nun an die Entwicklung der Menschheit vorantreiben und doch zugleich deren Verständnis erschweren wird·, die Spannung zwischen einem Innen und einem Außen, zwischen Isolierung und Eingliederung, Ausgrenzung und Einschluß. Dies wird noch deutlicher, wenn wir den nächsten großen Schritt betrachten, den Schritt zum reinen Ausdruck, an dem nicht mehr der ganze Körper beteiligt ist, sondern der in und mit einem eigenen Medium entsteht, einem Medium, das nur ihm zugehört und nur für ihn - weil mit ihm - geschaffen ist. Dieser reine Ausdruck ist der symbolische und vor allen anderen der sprachliche Ausdruck.
Die Eigenstruktur der Sprache Damit eine Sprache sich entwickeln kann, bedarf es mehr als einzelner Laute, die man ausstößt oder sich zuruft. Sprache ist ein eigenes System, eine ganze Welt von Lauten, vermischt mit anderen Bewegungen und Zuständen unseres Körpers, eine Welt, die in sich bereits eine Ordnung aufweisen muß, bevor man sie für den Ausdruck zwischen Sprechenden nutzen kann. Ich will hier keine Geschichte der Sprachentstehung erzählen. Es kommt mir alleine darauf an, Sprache als Teil und bestimmendes Moment des Menschen verständlich zu machen. Dies scheint nicht zuletzt auch darum notwendig zu sein, weil wir es inzwischen mit einem geradezu wuchernden Sprachgebrauch hinsichtlich der Sprache zu tun haben. Die vielen Tiersprachen, von denen da die Rede ist, und auch die längst selbstverständlich gewordene Berufung auf Computersprachen haben den Sinn von Sprache zurechtgestutzt und die Sicht auf die menschliche Sprache und damit auch auf den Menschen selbst - zum Teil verdeckt. Aus Sprache werden mit diesen Reden über die Sprachen der Tiere und Computer Rufe und Laute oder Algorithmen und Regelsysteme. Der Schmerzens- oder Freudenschrei, das Knurren oder Bellen avancieren damit zum Urbild der Sprache. Und die Autokorrektur des Computers bringt es womöglich noch zum Ideal einer durch und durch richtigen Sprache. Was wir aber dabei vergessen haben oder jedenfalls vergessen müssen, ist die Tatsache, daß beides - der tierische Schrei und die Aktivierung einer Computerschaltung - gerade Zeichen einer elementaren Sprachlosigkeit sind. Denn was ist für uns der Schrei, der Aufschrei oder, wie der Grammatiker dessen gezähmte Form, die ein Element unserer Sprache geworden ist, nennt: die Interjektion? Ausdruck einer Erregung, in der uns die Worte fehlen, eher ein unmittelbarer Ausdruck unseres Körpers als das Ergebnis einer Überlegung. Ernst Cassirer bringt es auf den Punkt, wenn er in eben diesem Zusam-
Die Spannung zwischen Innen und Außen I 29 menhang formuliert: „Interjektionen verwendet man nur, wenn man entweder nicht sprechen kann oder nicht sprechen will." 12 Und so ist es auch mit dem scheinbaren Ideal, der Computersprache. In ihr gibt es formale Transformationen, die zwar im System der jeweils etablierten Regeln fehlerfrei sind, dafür aber auch nichts zu sagen haben. Die Logik bleibt tautologisch. Und auch, wo mit raffinierten Parallelschaltungen Muster aufgebaut werden können, sind diese auf Folgerungen aufgebaut, die uns eben das sagen, was in den Programmen steckt. Um die menschliche Sprache und also eines der wesentlichen Momente des Menschen zu verstehen, müssen wir sowohl die natürlichen Schein-Ebenbilder als auch die künstlichen Schein-Ideale verlassen und unseren Blick auf eben das richten, was wir verstehen wollen, nämlich die menschliche Sprache selbst.
Die Sprache: Ein System von Verweisungen Die menschliche Sprache ist ein in sich geordnetes System mit inneren Verweisungen und nicht bloß ein Repertoire aus Schreien, Lauten oder auch Gesten. Eine Sprache entsteht erst dort, wo die Laute sich miteinander zu einer eigenen Welt verbinden, die ihre eigenen Gesetze hat. Da, wo die Laute nur den unmittelbaren Körperausdruck begleiten und verstärken, bleiben sie Ausdruckssplitter, die in den entsprechenden Situationen aufblitzen, aber sich nicht zu einem Bild zusammenfügen. Sie besitzen ihre je eigene Situationsunmittelbarkeit, bedürfen keiner Geschichte, um verstanden, d. h. um als Signale für eine Situation und eine Reaktion in dieser Situation oder auf sie erfaßt zu werden. Dies ändert sich mit der Entstehung der Sprache. Die Sprache ist von Anfang an ein Medium, ein Eigenreich der geordneten Laute, das unseren Ausdruck vermittelt.
Die Differenz im Innersten des Menschen Diese mediale Existenz und Struktur der Sprache bringt eine Differenz in das Innerste des Menschen selbst. Denn wenn wir uns ausdrücken wollen, müssen wir dies durch die Arbeit an einer Gestalt tun, die sich in einem Medium mit eigenen Gesetzen zu bilden hat. Die Sprache ist ein lebendiges Material, das ein Eigenleben besitzt, in dessen Gesetze und Rhythmen wir uns einfügen müssen, wenn wir überhaupt etwas sagen wollen. Was kostet es uns oft für 12
Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Hamburg [Felix Meiner Verlag) 1996, S. 183. In der amerikanischen Originalausgabe An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (Erstveröffentlichung 1944). New Haven - London [Yale University Press] 1972, S. 117.
30 I Auf dem Wege zu einer Wissenschaft vom Menschen eine Mühe, den rechten Ausdruck zu finden! Der Kampf um den rechten Ausdruck zeigt uns ganz unmittelbar den Verlust der Unmittelbarkeit.
Die Verschränkung von Innenwelt und Außenwelt in der Kultur Aber wir wissen ebensogut, daß dieser Verlust mit einem Gewinn verbunden ist, den wir unter den Gesamttitel der Kultur bringen können. Die Kultur beginnt genau dort, wo der Mensch zum ersten Mal seinen Organismus überschreitet u n d sich eine neue Welt zwischen den Individuen aufbaut, eine Welt der materiellen Zeichen u n d Geräte, die fortan die Außenwelt seines Handelns wie die Innenwelt seines Denkens und Fühlens, seines Erlebens und Strebens prägen werden. Zugleich wird dabei aber auch in einem gewissen Sinn der Unterschied zwischen Innenwelt und Außenwelt aufgehoben. Vorwegnehm e n d kann man sagen, daß Kultur eben darin besteht, die Innenwelt des Menschen aus seiner selbstgeschaffenen Außenwelt, als die Innenseite der Außenwelt, zu bilden und die Außenwelt als Präsentation, als faßbare Gegenwart der Innenwelt, als die Außenseite der Innenwelt, aufzubauen. Gehen wir dieser Verschränkung von Innen und Außen durch die Kultur noch etwas weiter nach. Der bloße Schrei ist ein Aufschrei des Körpers. Er durchschießt sozusagen unser Bewußtsein oder, besser noch, er geht an ihm vorbei, manchmal sogar, o h n e es überhaupt zu streifen. Würde man versuchen, ihn zu artikulieren, man würde ihn blockieren. Denn das, was mit ihm in einer unmittelbaren Äußerung im wörtlichen Sinne nach außen gebracht wird, ist e b e n ein Körperzustand, ein Körpergefühl, das sich selbst in unserem Körper, seinem Aufschrei oder anderen Bewegungen zum Ausdruck bringt, tatsächlich wie in einer Entladung von Energie, als die unsere Sprache von Wilhelm von Humboldt in seiner klassischen Unterscheidung von Ergon u n d Energeia ja ohnehin gesehen wird. 13 Würde man diesen Körperzustand oder auch dieses Körpergefühl auf eine Artikulation hin abfragen, es würde aus unserem Blickfeld verschwinden. Artikulation ist etwas anderes. Artikulation besteht gerade darin, die vielen Regionen unserer zunächst durchaus körperlichen Innenwelten symbolisch zu fixieren und dadurch miteinander zu verbinden. So werden sie nicht nur in eine eigene symbolisch artikulierte Form gebracht, sondern sie entstehen auch erst durch ihre allein symbolisch möglich gewordene Verbindung in dieser Form. Es gibt nicht das artikulierte Innenleben, das entweder im tief-
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Die „klassische" Formulierung findet sich in Wilhelm von Humboldt: lieber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren lünfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, Bd. III. Schriften zurSprachphilosophie. Darmstadt [Wissenschaftliche Ikichgesellschaft] 1963, S. 418.
Die Verschränkung von Innenwelt und Außenwelt in der Kultur I 31 gründigen Schweigen verbleibt oder redend seinen Ausdruck findet. Wer schweigt, hat oft auch nichts zu sagen. Und wer redet oder sich überhaupt ausdrückt, erreicht auch erst im tatsächlichen Ausdruck die Gestalt dessen, was er ausdrücken will. Der Grund dafür, daß es keine „Präexistenz" des Auszudrückenden im Innenleben des Menschen gibt, liegt darin, daß unser Innenleben - das, was die Tradition immer wieder auch die Seele des Menschen genannt hat - erst durch die fixierende Verbindung seiner Teilwelten entstehen kann und diese Verbindung ihrerseits aber ein Werk der symbolischen Artikulation unserer Erlebnisse ist. Eben das machte unsere Welt ja zu einer menschlichen Welt des Geistes u n d macht sie, wie wir nun auch sagen können, zu einer Welt der Kultur: daß zwischen unseren Teilwelten, den Hör- und Sehwelten, den verschiedenen Welten unserer Sinne feste und immer wieder nutzbare Verbindungen geschaffen wurden, Brücken, durch die aus den Teilwelten ein Kontinent entstehen konnte, in dem sich die vielen Empfindungen aus den verschiedenen Teilwelten zu sinnlichen Erfahrungen von Gegenständen zusammenfügen. Und weil diese „Brücken", nämlich die symbolischen Fixierungen unserer vielen verschiedenen Erlebnisse außerhalb unseres Organismus, in einem eigenen Zwischenreich der Symbolismen aufgebaut werden, verschwinden sie auch nicht wieder in und mit den Rhythmen unserer organischen Existenz. Sie bleiben, weil sie immer wieder verwirklicht und benutzt werden, in der gemeinsamen Beteiligung am Austausch in der Welt der Sprache u n d den anderen Welten symbolischer Formen. Durch diese ihre Außen- oder auch Zwischenexistenz gewinnen die Symbole darüber hinaus eine Rolle für unsere Erinnerung. Das, was sonst in ein bloßes Körpergedächtnis absinken würde, kann nun immer wieder wach gehalten werden. Eine Beschreibung, aber auch die Wahrnehmung, die wir machen, oder das Gefühl, das uns überfällt, verfängt sich sozusagen in den Verknüpfungen der Symbolismen u n d wird dadurch in das erinnerte Reich vergangener Erfahrungen eingefügt. Henri Bergson findet für dieses Verhältnis die prägnante Formulierung, daß „Wahrnehmung schließlich nur noch ein Anlaß zur Erinnerung ist".14
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Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg [Felix Meiner) 1991, S. 54. (Erstveröffentlichung der französichen Originalausgabe 1896: Matière et memoire. lissai sur la relation du corps à l'esprit) In der Centenaire-Ausgabe: Henri Bergson: Oeuvres. Paris [Presses Universitaires de Prance] 1959 (im folgenden zitiert als: Oeuvres),