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German Pages 140 [141] Year 2020
Ingo von Münch Die Krise der Medien
Die Krise der Medien
Von
Ingo von Münch
Duncker & Humblot · Berlin
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Umschlag: Der Politiker (William Hogarth) (© World History Archive / Alamy Stock Photo) Alle Rechte vorbehalten
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Fremddatenübernahme: 3w+p gmbh, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-428-15268-18017-2 (Print) ISBN 978-3-428-58017-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort (ziemlich persönlich) Meine erste Begegnung mit Medien erfolgte in meiner Kindheit in Berlin in der NS-Zeit. Meine Eltern hatten den „Berliner Lokal-Anzeiger“ als Tageszeitung abonniert. Der „Völkische Beobachter“ oder „Der Stürmer“ wären nie in unsere Wohnung gelangt. Selbstverständlich war allerdings auch der „Berliner Lokal-Anzeiger“, wie alle Medien damals, politisch gleichgeschaltet. Als Kind, das ich (Jahrgang 1932) war, las ich nicht den politischen Teil sondern nur den Sportteil. Inzwischen längst verklungene Namen von damaligen Fußballvereinen wie „Luftwaffensportverein Hamburg“, „Grube Marga“, „Beuthen 09“, „Dresdner SC“ sind mir daraus noch heute in Erinnerung, was zeigt, welche Haltbarkeitsdauer Zeitungslektüre haben kann. Ein Onkel von mir, mit gewissen Affinitäten zur herrschenden Ideologie, bezog die Wochenzeitschrift „Das Reich“. Das von Joseph Goebbels herausgegebene Blatt galt damals als anspruchsvoll. Ich konnte das natürlich nicht beurteilen; ich weiß nur, dass mir das große Format dieser Zeitschrift imponierte. Irgendwann gab es „Das Reich“ nicht mehr. Auch das „Großdeutsche Reich“ endete, sehr klein geworden, spätestens am 8. Mai 1945. Der Rundfunk spielte, jedenfalls in unserer Familie, in der NS-Zeit als Informations- und Unterhaltungsmedium kaum eine Rolle. Wohl hörte man die „Wehrmachtsberichte“ und die zu Anfang des Krieges häufigen, später spärlicher werdenden „Sondermeldungen“, die jeweils mit einem Fanfarenklang angekündigt wurden. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass unsere Familie sich jemals längere Zeit um das Rundfunkgerät geschart hätte, vielleicht auch deshalb, weil die Menschen wegen ihrer Bemühungen um Versorgungsgüter aller Art weniger freie Zeit hatten als die Generationen heute. So entging uns auch die Meldung des Senders Hamburg am 1. Mai 1945 um 22.26 Uhr, „daß unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist“. Vermutlich erfuhren wir von
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dieser letzten Lüge von irgendjemand, der die Nachricht im Rundfunk selbst oder von Anderen gehört hatte. Teil der Propagandamaschine des NS-Systems war auch das Medium Film, stets eingeleitet von der „Deutschen Wochenschau“. Unabhängig davon war ein Kinobesuch für das Kind immer ein Erlebnis, sei es eine Komödie wie „Quax der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle oder ein Durchhaltefilm wie „Kolberg“ oder „Kadetten“ oder ein Heroenfilm wie „Friederikus Rex“ (mit Otto Gebühr) oder „Bismarck“ (mit Emil Jannings) oder „Carl Peters“ (mit Hans Albers). Der letzte Film, den ich in jener düsteren Zeit ansehen wollte, war ein Farbfilm: „Münchhausen“. Es blieb bei dem Vorhaben, weil kurz nach Beginn der Vorstellung ein Fliegeralarm den Kinoabend jäh beendete. Während ich mich an diesen ärgerlichen „Filmriss“ noch gut erinnere, weiß ich nicht mehr, wann nach dem 8. Mai 1945 wieder eine erste Zeitung erschien. Proklamationen der Militärregierung waren in Anschlägen zu lesen. Irgendwann erschienen dann deutsche Zeitungen. In der Kleinstadt am Harz, in die es mich als Flüchtlingskind verschlagen hatte, wurde als Lokalblatt die „Goslarsche Zeitung“ gelesen, als überregionale Zeitung die „Braunschweiger Zeitung.“ Für ein Zeitungsabonnement reichte allerdings das schmale Einkommen des aus Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vaters nicht. Erst in Frankfurt am Main, wohin wir Anfang der fünfziger Jahre umgezogen waren, konnte eine Tageszeitung abonniert werden. Frankfurt a.M. war eine Medienstadt: Neben dem „Hessischen Rundfunk“ gab (und gibt es noch heute) die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Frankfurter Neue Presse“, die „Frankfurter Rundschau“; im nahegelegenen Offenbach erschien die „Offenbach-Post“, im nahegelegenen Wiesbaden der „Wiesbadener Kurier“, im nahegelegenen Darmstadt das „Darmstädter Echo“, im nahegelegenen Mainz die „Mainzer Allgemeine“, im nahegelegenen Bad Homburg d.v.H. der „Taunusbote“. Naheliegend war für uns der Bezug einer der großen, überregionalen Tageszeitungen; es wurde, jahrzehntelang, unterbrochen nur für eine kürzere Zeit durch ein Abo der „Frankfurter Rundschau“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Deren Kopfleiste mit dem Erscheinungsdatum der jeweiligen Nummer diente sogar als Dokument für die Existenz des Abonnenten: Mein Vater bezog von einer niederländischen Gesellschaft, für die er in den zwanziger Jahren auf Sumatra als Verwalter einer Plantage gearbeitet hatte, eine bescheidene Rente. Um sicher-
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zustellen, dass der Empfänger der Rente noch lebt, verlangte die Gesellschaft die – in bestimmten Abständen zu erfolgende und mit Unterschrift zu versehende – Übersendung eines Exemplars der Kopfleiste einer Tageszeitung (was dann auch geschah): eine ungewöhnliche Funktion der Presse. Während meines Jurastudiums an der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt am Main war einer meiner akademischen Lehrer der Staatsrechtler Helmut Ridder. Er hatte im Handbuch „Die Grundrechte“ einen engagierten Beitrag zum Grundrecht der Meinungsfreiheit geschrieben. Sein nachdrückliches Plädoyer für die Meinungsfreiheit beeindruckte mich und so kam es, dass ich bei ihm meine Doktorarbeit schrieb zum Thema Meinungsfreiheit in speziellen Abhängigkeitsverhältnissen (damals „besondere Gewaltverhältnisse“ genannt). Als Motto stellte ich der Arbeit einen Ausspruch von John Stuart Mill aus seinem Buch über die Freiheit voran, der in deutscher Übersetzung lautet: „Ein Staat, der die Menschen verkleinert, um sie gefügig zu machen, und sei es auch um nützlicher Zwecke willen, wird erkennen, daß mit kleinen Menschen keine große Sache wirklich vollendet werden kann.“ Das war Liberalismus pur, ohne den Doktorvater zu stören. Ridder stand politisch eher links, was unser Vertrauensverhältnis jedoch nicht im Geringsten belastete: Wir schätzten uns gegenseitig – es gab damals (1957) jedenfalls in meinem sozialen Umfeld – noch nicht die heutige strenge Trennung „Wir und die Anderen“. Ridder war es dann auch (oder vielleicht nur der Gegenstand meiner Dissertation), der eine Verbindung zu dem vom Stuttgarter Presserechtsanwalt Martin Löffler geleiteten „Studienkreis für Presserecht und Pressefreiheit“ herstellte. Seitdem hat mich das Thema Medien nicht mehr losgelassen. In dem von mir begründeten, im Verlag C.H. Beck erschienenen und später von Philip Kunig fortgeführten sog. „Gelben“ Grundgesetz-Kommentar (so benannt nach der Farbe des Umschlages und Einbandes) habe ich in den ersten Auflagen u. a. den Artikel 5 des Grundgesetzes (Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Pressefreiheit, Rundfunkfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und Freiheit der Kunst) bearbeitet. Ein im Auftrag des Bundesministerium des Innern von mir erstattetes Rechtsgutachten befasste sich mit „Öffnungsklauseln bei Zeitungen und Zeitschriften“, d. h. mit der im Bericht der Bundesregierung über die Lage von Presse und Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland 1974 gestellten
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Frage „rechtlicher Verpflichtungen für Zeitungen in Monopolstellung, bestimmten politischen oder gesellschaftlich relevanten Kräften Raum für die Darstellung ihrer wesentlichen Ansichten zur Verfügung zu stellen sowie sonstiger Abdruckverpflichtungen der Presse“. Das Gutachten hielt eine gesetzliche Verpflichtung zur Einführung derartiger Öffnungsklauseln aus verfassungsrechtlichen Gründen für bedenklich. In der Politik wurde das Projekt nicht weiter verfolgt. Für den Wissenschaftler ist Publizieren eine Notwendigkeit: „Publish or perish“ bezieht sich allerdings nur auf Veröffentlichungen in einschlägigen Fachzeitschriften. Veröffentlichungen von Professoren in Tageszeitungen waren in meiner frühen Zeit als Hochschullehrer – anders als heute – noch eher selten. Als ich nach einigen Jahren an der Ruhr-Universität Bochum auf einen Lehrstuhl an der Universität Hamburg gewechselt war, stellte ein älterer Kollege, der offenbar einige Artikel von mir im „Hamburger Abendblatt“ gelesen hatte, mich auf einem Empfang anderen Gästen mit den Worten vor: „Und dies ist Herr von Münch vom Hamburger Abendblatt.“ Der feine Spott, der in diesen Worten lag, war unüberhörbar, irritierte mich aber nicht. Ich war und bin immer noch der Meinung, dass es sinnvoll ist, wenn Wissenschaftler über relevante Themen allgemeinverständlich auch für eine breitere Öffentlichkeit publizieren. Deshalb, aber zugegeben einfach auch aus Lust am Schreiben, habe ich in rund einem Dutzend verschiedener Tageszeitungen und in einigen Wochenzeitschriften Beiträge untergebracht, allerdings stets nur als freier Mitarbeiter oder als „fremde Feder“. „On revient toujours à son premier amour“ – zu meiner „ersten Liebe“, dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung, bin ich mit dem Buch „Meinungsfreiheit gegen Political Correctness“ zurückgekehrt, dies deshalb, weil ich Auswüchse der p.c. als eine reale Bedrohung der Meinungsfreiheit ansehe. In meiner Politikzeit, zunächst als Vorsitzender der Hamburger FDP, später als Mitglied des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, wurde ich vom Subjekt eines Schreibenden zum Objekt eines Beschriebenen. Die bis dato längsten Koalitionsverhandlungen in der Geschichte der Bundesrepublik und die seit langer Zeit wieder einmal gebildete sozial-liberale Koalition von SPD und FDP waren verständlicherweise Gegenstand nicht geringen Interesses für die Medien, insbesondere der lokalen. Meine persönlichen Erfahrungen mit jener Berichterstattung in Presse und Rundfunk sind positiv: Fast immer
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wurde meine politische Tätigkeit korrekt, informativ und fair kommentiert. Die Privatsphäre wurde respektiert. Ich hatte mir vorgenommen, meine Familie aus der Öffentlichkeitsindustrie herauszuhalten. An diesen Wunsch haben Presse und Rundfunk sich gehalten. Fazit: Wenn ein Politiker keine „homestories“ wünscht und keine Fotos aus dem Urlaub, dann kommen auch keine. Das Verhältnis zwischen Politikern und Journalisten sollte und kann ein Vertrauensverhältnis sein, ohne in Kumpanei auszuarten. Das vorliegende Buch versteht sich als ein überzeugtes (und hoffentlich auch überzeugendes) Plädoyer für die Existenz und für die Verbreitung von gut gemachten Medien. Unter „Medien“ werden hier vor allem die herkömmlichen Printmedien verstanden. Der rasant wachsende digitale Bereich, dessen aktuelle außerordentlich große Bedeutung damit nicht unterschätzt werden soll, bleibt also im Folgenden schon aus Raumgründen im Wesentlichen ausgespart. Zurück zu den Printmedien: Ein guter Morgen beginnt mit einer guten Tageszeitung, ein gutes Wochenende mit einer guten Wochenzeitschrift. Diese banale Feststellung enthebt nicht von der Notwendigkeit, nach der Verantwortung der Medien zu fragen. Wo viel Licht ist, ist auch Schatten. Eine Auflistung von unkorrekten oder zumindest ungenauen oder sonst wie problematischen publizistischen Beispielen sollte nicht als unziemliche Besserwisserei missverstanden werden, sondern als Wunsch, sich der Verantwortung der Medien bewusst zu werden. Die Verantwortung der Medien steht in direktem Verhältnis zu ihrer Bedeutung. Die allgemeine Bedeutung der Medien betrifft deren Relevanz z. B. für Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und Föderalismus wie auch für das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt. Die konkrete Bedeutung betrifft die einzelnen Rezipienten, die erfahrungsgemäß die verschiedensten Medien nutzen. Der Autor dieses Buches gesteht, dass er die sog. Neuen Medien des Internet weder gebraucht noch braucht. Internet, Twitter, Facebook, Instagram, Sims, Bots, Skype etc. sind für ihn Worte, aber keine Lebensnotwendigkeit. Damit soll die bereits oben erwähnte übergroße Bedeutung der sozialen digitalen Medien nicht verkleinert oder gar negiert werden; eine solche Beurteilung der medialen Fakten ginge an der Lebenswirklichkeit der modernen Kommunikationswege meilenweit vorbei. Die Selbstbeschränkung des Autors auf die Lektüre der Printmedien mag demgegenüber zuvörderst der Generation seines Lebensalters geschuldet sein
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oder schlicht der Macht der Gewohnheit oder dem Image der neuen Medien als Plattform für Hassausbrüche. Es liegt darin aber auch eine diskrete Form einer Art von Liebeserklärung: Das Rascheln des Zeitungspapiers, die Neugier, was in der jeweils vorliegenden Ausgabe wohl drin steht, das Aha-Erlebnis der Bestätigung einer eigenen Meinung, das Anstreichen und Ausschneiden eines aufhebenswerten Artikels, die für einen Autor wichtigste Frage: Ist mein Beitrag im Blatt?, aber auch die Enttäuschung oder der Ärger über einen den Leser unbefriedigenden Artikel – alles und anderes mehr bietet das Abenteuer Nutzung von Medien. Ich gestehe: Ich war – jedenfalls früher – ein fast manischer Zeitungsleser (Ausspruch meiner Frau [einer früher freiberuflichen Journalistin]: „Du liest noch das Einwickelpapier des Salatkopfes“). Ich gestehe aber auch, dass ich immer öfters jedenfalls mit einer meiner Zeitungen unzufrieden bin. „Meine“ Zeitungen sind eigentlich zwei Zeitungen: Seit mehr als einem halben Jahrhundert bin ich regelmäßiger Leser der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und seit nicht ganz so vielen Jahren lese ich häufig die „Neue Zürcher Zeitung“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die kürzlich ihr siebzigjähriges Jubiläum gefeiert hat, gehört unzweifelhaft zu den sog. Leitmedien der deutschen Publizistik; die Geschichte der FAZ hat der Historiker Peter Hoeres in seinem voluminösen Buch „Zeitung für Deutschland“ (München/Salzburg 2017) dargestellt. Die „Neue Zürcher Zeitung“ ist zweifellos eine der besten im Ausland erscheinenden deutschsprachigen Tageszeitungen. Die Leser-Blatt-Bindung des Autors an die FAZ und an die NZZ machen es verständlich, dass diese beiden Medien im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen, während andere Medien zwar nicht völlig ausgespart werden, aber doch deutlich seltener erwähnt werden. Die Fokussierung auf FAZ und NZZ hält sich dabei nicht nur an die Lebenserfahrung „In der Beschränkung zeigt sich der Meister“, sondern lässt sich damit rechtfertigen, dass auch die sog. Qualitätsmedien einem gewissen Mainstream folgen – mal mehr, mal weniger: Kritik an Beiträgen in der FAZ und Zitate in der NZZ lassen sich also durchaus in gewisser Weise auch auf Beiträge in anderen Medien übertragen, dies als pars pro toto. Hamburg, im Frühjahr 2020
I. v. M.
Inhaltsverzeichnis A. Medienkritik – altes und neues Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 B. Die Krise der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 C. Vom engagierten Meinungsjournalismus über den belehrenden, erregten, empörten Journalismus zum Wut- und Hassjournalismus . . . . . . . 35 D. Übertreibungen und Untertreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 E. Der angebliche Untergang des Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 F. Dürftige Geschichtskenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 G. Das Geeiere um Ortsnamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 H. Der inflationäre und damit sich abnutzende Gebrauch des Wortes „Nazi“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 I. „Hetze“, „Hetzer“, „Hetzjagden“: Die Karriere eines Schimpfwortes . 87 J. Der Meinungskorridor: eng und langweilig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 K. Verrutschte Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 L. Die Berichterstattung zum UN-Migrationspakt: Der Mainstream lässt grüßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 M. Ein überdimensionierter Heißluftballon namens Kathryn Mayorga . . . 120 Anhang: Medien und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Abkürzungen APuZ BamF Bild FAS FAZ FR GG HA JF MHR NDR NZZ OBS PAZ RuP SWR SZ TAZ Thür.VBl. VBlBW WamS WDR ZDRW Zeit ZRP
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A. Medienkritik – altes und neues Problem Solange es Medien gibt, so lange existiert vermutlich auch Kritik an diesen. Neueren Datums ist allerdings das auffallend intensive kritische Interesse (auch Selbstinteresse) an der Rolle der Medien in einer gespaltenen Gesellschaft. „Lügenpresse“, „Lückenpresse“, „Pinocchio Presse“ und – weniger scharf – „Verdichtungs- und Zuspitzungspresse“ sind Überspitzungen extrem kritischer Wahrnehmung. Unübersehbar ist aber auch die wachsende breite seriöse Befassung mit der Positionierung der Medien und der Rolle der Journalisten in der Gegenwart. Als einige Beispiele für die diesbezügliche Diskussion innerhalb eines kurzen Zeitraumes seien hier nur die folgenden Veröffentlichungen in Tageszeitungen genannt: „Die Logik, das bin ich. Das Deutschlandradio fragt auf einer Tagung, ob Journalisten aus der Öffentlichkeit verdrängt werden“1; „Welche Rolle der Journalismus spielt. In der digitalen Öffentlichkeit stellt sich für Journalisten die Frage, was aus ihrer Zunft wird. Macht sie es richtig, sind wir unersetzlich“2; „Journalisten sollten für etwas und nicht gegen etwas arbeiten. Fake-News, schrumpfende Lokalredaktionen und politischer Aktionismus – steckt der Journalismus in der Krise?“3 ; „CNN hat Donald Trump erfunden. Salman Rushdie hat mit Politik und Medien ein paar Rechnungen offen“4 ; „Eidg. dipl. Journalist? Gütesiegel für die Medien in der Schweiz“5; „Medienförderung im rechtlichen Spannungsfeld. Bei der geplanten Subventionierung von Online-Medien stellen sich Grundsatzfragen“6 ; „Die Unterdrücker der Wirklichkeit. Warum die Mainstream-Medien treiben, was sie tun: Ein Blick auf die beklemmenden
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Michael Hanfeld, in: FAZ Nr. 268 v. 18. 11. 2019, S. 11. Stefan Raue, in: FAZ Nr. 271 v. 21. 11. 2019, S. 13. Ann Marie Lipinski (Interview), in: NZZ v. 02. 11. 2019, S. 9. Salman Rushdie (Interview), in: NZZ v. 18. 11. 2019, S. 27. Jürg Altwegg, in: FAZ Nr. 277 v. 28. 11. 2019, S. 13. Manuel Bertschi, in: NZZ v. 04. 11. 2019, S. 11.
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Hintergründe“.7 Die Verleihung des Henri Nannen-Preises wurde mit einem „Tag des Journalismus“ verknüpft.8 Tag des Journalismus ist eigentlich jeder Tag. Aber was ist Journalismus – kritisch oder unkritisch gefragt? In der NZZ wird das Bonmot zitiert: „Journalismus ist eine – unpräzise Wissenschaft“9. Wenn keine Wissenschaft – was dann? Wie sehr das Bild des Journalismus Gegenstand von Fragen, Diskussionen und Nachdenklichkeit geworden ist, zeigen auch die vielen unterschiedlichen – im Folgenden in alphabetischer Reihenfolge aufgelisteten – Kategorisierungen: „Ablenkungsjournalismus“; „belehrender Journalismus; „Betroffenheitsjournalismus“; „Blockjournalismus“; „Boulevardjournalismus“; „Empörungsjournalismus“; „Enthüllungsjournalismus“; „Erziehungsjournalismus“; „Gefälligkeitsjournalismus“; „Gesinnungsjournalismus“; „Gouvernantenjournalismus“; „Gonzojournalismus“; „Hordenjournalismus“; „Informationsjournalismus“; „Investigationsjournalismus“; „Konstruktiver Journalismus“; „Mainstreamjournalismus“; „Mehrheitspresse“; „Meinungsjournalismus“; „moralischer Journalismus“; „Nanny-Journalismus“; „Qualitätsjournalismus“; „Rudeljournalismus“; „Schönwetterjournalismus“; „Sensationsjournalismus“; „seriöser Journalismus“; „Thesenjournalismus“. Die in diesen Kategorien z. T. geäußerte Kritik an bestimmten Formen des Journalismus resultiert nicht nur, aber wohl auch aus kritischen Existenzbedingungen der Medien überhaupt. Unter der Überschrift „Und ewig rauschen die Schlagzeilen“ weist Reinhard Mohr auf „die dramatisch zurückgegangenen Auflagen führender europäischer Zeitungen“ hin, mit der Feststellung: „Massive Anzeigenverluste, verändertes Leserverhalten und völlig neue Kommunikationswege 7
Wolfgang Kaufmann, in: PAZ Nr. 47 v. 22. 11. 2019, S. 12. „Tag des Journalismus“ mit Schweiger. Vor dem Nannen-Preis sprechen Prominente bei Gruner + Jahr am Baumwall über ihre Erfahrungen. Bericht in: HA v. 25./26. 05. 2019, S. 25; Peter Wenig, „Früher war mehr Lametta“. Der Nannen-Preis, die begehrteste Auszeichnung für Journalisten, wurde in einer Kantine vergeben – Reaktion auf die Glaubwürdigkeitskrise der Medien, in: HA v. 27. 05. 2019, S. 19. 9 Zit. bei Michael Schönenberger, Wahlumfragen: Die Politologen lagen daneben. Keine Prognose sah die „grüne Flut“ und das Absacken der SP voraus, in: NZZ v. 22. 10. 2019, S. 17, mit dem Fazit: „Sowohl Politologen wie Journalisten können mit ihren Einschätzungen falsch liegen. Aber nur Erstere nennen sich Wissenschaftler.“ 8
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haben die Zeitung als Kulturprodukt marginalisiert und junge Influencer machen sich lustig über das knitteranfällige Papier ohne LikeButton.“10 Die kritischen Punkte sind bekannt, z. T. in Deutschland und in der Schweiz identisch. Beispiele hierfür sind die Existenzkrise der regionalen Presse11; die Dauerbaustelle der Gebühren der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten12 ; die wachsende Kritik an Fernseh-Talkshows, dokumentiert durch die Vergabe des vom Verein „Neue Deutsche Medienmacher*innen“ ausgelobten Negativpreises „Goldene Kartoffel“ an die großen Talkshows von ARD und ZDF13 (im Jahr davor war der Negativpreis von der Gruppe, die sich als „Interessenvertretung für Medienschaffende mit Migrationsgeschichte“ versteht, an die BildZeitung verliehen worden); zunehmende gerichtliche Schritte von Politikern gegen kritische Medienberichterstattung14 ; die Gefährdung flächendeckender Zustellung von Zeitungen wegen gestiegener Lo-
10 Reinhard Mohr, Die Zeitung von gestern, heute gelesen. Und ewig rauschen die Schlagzeilen, in: NZZ v. 05. 10. 2019 (Internationale Ausgabe), S. 18. 11 Dazu Michael von Ledebur, Dorfkönige brauchen Kontrolle. Die regionale Presse stirbt einen langsamen Tod, in: NZZ v. 25. 10. 2019, S. 14. 12 Dazu David Vonplon, Massive Forderungen an die SRG. Die Finanzkontrolle überprüft, ob das Unternehmen zu viel Gebühren bezogen hat, in: NZZ v. 10. 10. 2019, S. 13. 13 Dazu Michael Hanfeld, Divers ist anders. Die Talkshowkritik kennt kein Maß mehr, in: FAZ Nr. 258 v. 06. 11. 2019, S. 15; Oliver Jungen, Ich habe Sie auch ausreden lassen. Rezension von Oliver Weber, „Talkshows hassen“. Ein letztes Krisengespräch, in: FAZ Nr. 260 v. 08. 11. 2019, S. 12; zur ungleichen Verteilung der Parteienvertreter: Marc Felix Serrao, Deutschland und seine Talkshow-Lieblinge, in: NZZ v. 20. 12. 2019 (Internationale Ausgabe), S. 2. Zur Absetzung der von Gregor Gysi und Lothar Späth moderierten MDR-Talkshow s. miha, In medias res, in: FAZ Nr. 76 v. 31. 03. 2003, S. 40. 14 Beispiele bei A.G., Liebesentzug, Gegendarstellung und jetzt sogar Schmerzensgeld. Politiker gehen immer härter gegen Medien vor, in: Die Welt v. 31. 12. 2002/1. 01. 2003, S. 30; Rainer Stadler, Der „Blick“ sitzt auf der Anklagebank. Eine Klage der früheren Politikerin Johanna Spiess-Hegglin soll klären, wie weit Medien auf der Jagd nach Aufmerksamkeit gehen dürfen, in: NZZ v. 09. 04. 2019, S. 13; Antonio Fumagalli, Broulis knüpft sich nächsten Redaktor vor. Der Finanzvorsteher des Kantons Waadt reicht einen Strafantrag wegen übler Nachrede ein – Tamedia gibt sich gelassen, in: NZZ v. 28. 11. 2019, S. 13.
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gistikkosten15, was zur Forderung nach staatlichen Zuschüssen (also Subventionierung) für die Zeitungszustellung geführt hat. Eine umfassende Bestandsaufnahme der Situation der Medien, insbesondere auch der aktuellen Herausforderungen, findet sich im „Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung 2018“, auf den insoweit verwiesen werden kann16. Die Verantwortlichkeit der Presse betrifft primär die inhaltliche Berichterstattung und Kommentierung, also die eigentliche Arbeit der Journalisten17. Hier muss demgemäß auch die Medienkritik ansetzen. Wohlfeil und deshalb im Folgenden nicht zu erörtern ist dabei die Kategorie des Sensationalismus, wie er z. B. von dem Filmregisseur und -produzenten Oliver Stone in einem Interview mit der NZZ kritisiert worden ist: „Was mich wirklich auf der ganzen Welt stört, ist dieser journalistische und politische Sensationalismus. Stets braucht es eine Superstory, jeder Satz muss mit einem Ausrufungszeichen enden. Alle schreien …“18. Ähnlich beklagt der Philosoph Reinhard K. Sprenger: „Es ist immens gefährlich für unsere politische Ordnung, dass in der Medien-Demokratie nur der laute, überzuständige und hyperaktive Politiker Zustimmung findet, nicht aber der zurückhaltende.“19 Von Interesse, weil von Relevanz, ist demgegenüber die Kritik an den sog. Qualitätsmedien; an diese Medien hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vermutlich gedacht, als er seine Überzeugung kundtat, dass Demokratie Journalismus braucht; „Nicht irgendeinen Journalismus, auch keinen, der Geschichten erfindet oder manipuliert,
15 Von Dietmar Wolff, Zustellung von Zeitungen für die Zukunft sichern, stammt die Feststellung: Das Zustellnetz der deutschen Tageszeitungen ist „eine nicht zu unterschätzende Stütze der Demokratie“. 16 Deutscher Bundestag. 19. Wahlperiode. Drucksache 19/6970 v. 14. 01. 2019. 17 Der Ausdruck „Journalisten“ wird hier wie im Folgenden geschlechtsneutral verwendet, umfasst also selbstverständlich auch Journalistinnen. 18 „Obama war ein schwacher Präsident.“ Die grossen USA bereiten ihm Albträume, die kleine Schweiz hingegen findet er grossartig. René Scheu hat den amerikanischen Starregisseur Oliver Stone in Zürich zum Gespräch getroffen, in: NZZ v. 09. 10. 2019, S. 37. 19 Reinhard K. Sprenger, Die positive Kraft des negativen Denkens. Wir sind unverbesserliche Weltverbesserer. Wo bleiben die mutigen Nein-Sager?, in: NZZ v. 08. 11. 2018 (Internationale Ausgabe), S. 19.
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sondern einen, der recherchiert, prüft und analysiert, bevor er publiziert“20. So wie eine sinnvolle Medienkritik sich eben nicht auf den Sensationalismus fokussieren sollte, so dürfte auch ein generalisierender Rundumschlag gegen die deutschen Medien aufgrund eines Vergleiches mit ausländischen Medien nicht zielführend sein. Mit dieser Beurteilung soll das Vorhandensein solcher vergleichender Medienkritik nicht negiert werden. Der langjährige Kolumnist der NZZ am Sonntag, Beat Kappeler21, fasst seinen Tadel in die Interviewsätze: „Ich habe bewusst in den letzten 40 Jahren nie TV geschaut, nie das deutschsprachige Schweizer Radio gehört, keine Deutschschweizer Presse gelesen ausser der NZZ. Und grundsätzlich nichts aus Deutschland.“ Auf die Frage „Weshalb?“ antwortet Kappeler mit einem Lob auf die angelsächsischen Quellen: „Nicht aus ideologischen Überlegungen, sondern weil die angelsächsischen Quellen mindestens drei Monate oder drei Jahre voraus sind. Ihre Medien sind interessanter, kreativer und oft unkonventioneller. Die vielgekauten Themen Deutschlands und oft auch der deutschen Schweiz sagen mir nicht zu.“ Vielleicht kann man diese Einlassung eines Schweizer Wirtschaftsjournalisten als eine Einzelmeinung abtun, dies auch deshalb, weil just der US-amerikanische Medienwissenschaftler Fred Turner von der Universität Stanford davon überzeugt ist, „dass Deutschland eine florierende, zutiefst demokratische Medienlandschaft besitzt. Die deutschen Zeitungen vertreten ein breites Spektrum politischer Meinungen und erreichen ein hohes intellektuelles Niveau, das nur wenige amerikanische Herausgeber ihren Lesern zumuten zu können glauben.“22 20 Bericht „Demokratie braucht Journalismus“, in: FAZ Nr. 150 v. 02. 07. 2019, S. 4. 21 „Das sind Umverteilungen an den Reichsten von uns allen, den Staat“. Beat Kappeler hat 2002 seine erste Kolumne für die „NZZ am Sonntag“ verfasst – und seither jede Woche wirtschaftliche Themen reflektiert. Nach der Rekordleistung verabschiedet er sich von uns. Von Daniel Hug (Interview), in: NZZ am Sonntag v. 28. 10. 2018, S. 35. 22 In: Über die Demokratie in Deutschland und Amerika. Der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht und der Medienwissenschaftler Fred Turner stritten an der Universität Stanford über den politischen Stil auf beiden Seiten des Atlantiks. Gumbrecht wünscht sich die Deutschen weniger staatstragend. Turner vermisst bei seinen Landsleuten deutschen Gemeinsinn. Sie wurden sich nicht einig, in: FAZ Nr. 193 v. 21. 08. 2019, S. N 4.
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In diesem Pingpong-Spiel von Tadel und Lob sei schließlich noch ein Auszug aus einem Interview mit dem früheren Redakteur bei Stern und Spiegel Matthias Matussek zitiert. Auf die an ihn gestellte Frage, ob deutsche Journalisten, anders als ihre Kollegen in Italien, England, Spanien oder in den USA in der Mehrheit keine Faktenvermittler, sondern Prediger seien, antwortete Mattussek: „Korrekt. Diese Feststellung traf Max Weber schon 1923 nach einem New York Besuch. Die angelsächsischen Journalisten, so beobachtete er, berichten Fakten. Der Deutsche Journalist will erziehen.“23 Ist der deutsche Journalist, in dem Max Weber 1923 kritisch einen Erzieher sah, heute – immerhin fast hundert Jahre später – ein anderer? Vieles spricht dafür. Aber die grundsätzliche Einstellung vieler (fairerweise muss man einschränken: nicht aller) Journalisten bietet auch in der Gegenwart Anlass zu Kritik. Eric Gujer, immerhin Chefredaktor der „Neue Zürcher Zeitung“, urteilt dazu: „Angesichts der Flüchtlingskrise 2015 und des Aufstiegs der AfD verloren viele Journalisten den Kompass. Sie sahen ihre Aufgabe nicht mehr darin, die Politik zu kontrollieren. Sie verstanden sich als Staatsbürger in Uniform, dazu da, die Rechtspopulisten zu bekämpfen und die gesellschaftliche Spaltung zu verhindern. Journalisten sahen sich plötzlich als eine Art Sozialarbeiter und wollten das verirrte Volk auf den richtigen Weg bringen. Es kam ihnen nicht in den Sinn, darauf hinzuweisen, dass die unkontrollierte Einwanderung politische Gegenreaktionen auslösen würden“24. Gujer rügt, dass Journalisten in diesem Zusammenhang „ein vorgefertigtes Bild im Kopf“ hatten: „Helldeutschland gegen Dunkeldeutschland.“ Von dem Journalisten und Juristen Rudolf Gerhardt25 stammt die Einschätzung: „Journalisten sind keine Richter, auch wenn sie sich zuweilen so fühlen. Sie sind kritische Beobachter …“. Hat der Leser das Gefühl, ihm werde keine faire sachliche Beobachtung vorgesetzt, sondern quasi ein richterliches Urteil, so wird der Leser zu Recht ungehalten reagieren. Die frühere Chefredakteurin der Bild23 Matthias Matussek, Eine wunderbare und friedliche Gründungserzählung (Interview mit Walter Krämer), in: Sprachnachrichten Nr. 79 III/2018, S. 3. 24 Eric Gujer, Gibt es eine Moral für Journalisten und eine für Normalsterbliche? Medien urteilen über sich selber milder als über andere, in: NZZ v. 05. 01. 2018, S. 9. 25 Rudolf Gerhardt, Wenn man’s Recht betrachtet. Richterliches und Menschliches vom Baum der Erkenntnis, Köln 1988, S. 10.
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Zeitung und jetzige Chefredakteurin der Zentralredaktion von RTL, Tanit Koch, hat die Voraussetzung überzeugender journalistischer Arbeit auf den Punkt gebracht: „Wenn wir nicht ergebnisoffen an eine Recherche herangehen, versagen wir in unserem Job. Ich möchte Menschen zum Nachdenken bringen, ohne ihnen zu sagen, was sie denken sollen“26. Die hier geforderte Ergebnisoffenheit der Recherche ist deshalb so wichtig, weil das Gegenteil – nämlich publizistische Bevormundung – erfahrungsgemäß zu Entfremdung zwischen Medium und Rezipient führt, eine Entfremdung, die nicht selten beklagt wird27. Medien leben von und mit Sprache, Bild und Ton, die Printmedien (soweit es sich nicht um Illustrierte handelt) vor allem mit Sprache. Gedruckte Sprache kann Gefährdungen ausgesetzt sein, wofür die Zensur in totalitären Regimen ein besonders hartes Beispiel darstellt. Außerhalb der Zensur liegen andere, weichere Formen der Regulierung von Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit, wie Gebote der Political Correctness28 und das Praktizieren von „Sensitive Reading“29. Von einer Praxis des „Sensitive Reading“ in Redaktionen der Leitmedien ist allerdings nichts bekannt – vermutlich, weil nicht gegeben. Mit der Tabuzone der Political Correctness hat man sich wohl arrangiert, indem anstößige Wörter vermieden werden oder einfach nicht zum Sprach26
Gespräch mit Tanit Koch, Chefredakteurin der „Zentralredaktion“ von RTL. Wir wollen alle erreichen (Interview mit Michael Hanfeld), in: FAZ Nr. 241 v. 17. 10. 2019, S. 13. 27 Dazu Stephan Russ-Mohl, Brüchige Glaubwürdigkeit der Medien. Vor allem bei Berichten über Flüchtlinge und Kriminalität herrscht Skepsis, in: NZZ v. 30. 09. 2017, S. 11; Jürg Altwegg, Verdammte der Globalisierung, in: FAZ Nr. 27 v. 27. 11. 2018, S. 13, zur Kritik des linken französischen Geographen Christophe Guilluy an den Medien: „Jahrelang, sagt Guilluy, hätten die Medien diese Herablassung und Bevormundung geteilt. Er fordert Journalisten, Politiker und Intellektuelle auf, das Volk in Ruhe zu lassen.“ 28 Dazu z. B. Michael Behrens/Robert von Rimscha, „Politische Korrektheit“ in Deutschland. Eine Gefahr für die Demokratie, Bonn 1995; Daniel Ullrich/Sarah Diefenbach, Es war doch gut gemeint. Wie Political Correctness unsere freiheitliche Gesellschaft zerstört, München 2017; Ingo von Münch, Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, Berlin 2017; ders., Darf man alles sagen? Eine kritische Antwort auf die Schönredner, in: PAZ Nr. 49 v. 07. 12. 2018, S. 2. 29 Dazu kritisch Manfred Papst, Gut gemeint, falsch gedacht. Ein Gespenst geht um: „Sensitive Reading“ erschreckt Autoren und Leser, weil es Korrektheit höher gewichtet als Authentizität, in: NZZ am Sonntag v. 13. 10. 2019, S. 57.
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schatz der in den Leitmedien tätigen Journalisten gehören. Diese Vermeidungsstrategie ist auch deshalb bemerkenswert, weil eine im Auftrag der FAZ angestellte repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Mai 2019 zu dem Ergebnis kam, dass 41 Prozent der Befragten kritisierten, dass die „politische Korrektheit“ übertrieben werde30. Hinsichtlich „der Rigorosität, mit der bestimmte Sprachregelungen eingefordert werden“, finden es zwei Drittel der Bevölkerung „übertrieben, wenn statt der Begriffe Ausländer oder Ausländischstämmige umständlich von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen werden soll – ein Begriff, der für akademische Seminare, aber nicht für die Alltagssprache taugt“.31 Bemerkenswert ist allerdings auch, dass das Thema der Political Correctness in deutschen Leitmedien verhältnismäßig selten kritisch aufgegriffen wird, wenn überhaupt, geht es insoweit in Deutschland um das Gendern32. Der umfangreiche, engagierte Beitrag von Bernhard Schlink in der FAZ zur Verengung des Meinungskorridors war eine beachtliche und beachtete Ausnahme33. Immerhin wurde schon das Wort „Unterschicht“ in der Politik als politisch unkorrekt empfunden34. In der Schweiz hält der frühere Inlandsredakteur der NZZ Max Frenkel die Politische Korrektheit nicht nur für ein sprachliches, sondern auch für ein politisches Unwesen und glossiert diese mit harten Bonmots 30 Notiz Mehrheit beklagt „politische Korrektheit“, in: FAZ Nr. 119 v. 23. 05. 2019, S. 1. 31 Renate Köcher, Grenzen der Freiheit. Der Raum für die Meinungsfreiheit wird kleiner, so sieht es eine Mehrheit der Bürger. Denn mehr Themen werden zu Tabuzonen, in: FAZ Nr. 119 v. 23. 05. 2019, S. 12. 32 Dazu Peter Eisenberg, Missbrauchte Sprache. Kaum einer kann sich noch äußern, wie ihm Kopf und Schnabel gewachsen sind, in: FAZ Nr. 220 v. 21. 09. 2017, S. 6 (auch mit kritischer Erwähnung des von der Journalistenvereinigung „Neue deutsche Medienmacher“ erstellten Glossars zur „Berichterstattung im Einwanderungsland“). – Ausführlich Jessica Ammer (Hrsg.), Die deutsche Sprache und ihre Geschlechter. Beiträge von Josef Bayer, Peter Eisenberg und Helmut Glück. Eine Dokumentation, Paderborn 2019. 33 Bernhard Schlink, Der Preis der Enge. Wie der gesellschaftliche und politische Mainstream die Rechten stärkt, in: FAZ Nr. 176 v. 01. 08. 2019, S. 8. 34 Dazu Marina Küchen, Die neue „Unterschicht“. Den Teufelskreis durchbrechen, in: HA v. 17. 10. 2006, S. 2; Günter Bannas, Im Berliner Planschbecken. Die von Beck angestoßene Debatte über „Unterschichten“ bewegt die SPD, in: FAZ Nr. 242 v. 18. 10. 2006, S. 4; Ulrich Wickert, Medien: Macht & Verantwortung, Hamburg 2016, S. 102 ff.
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wie: „Der politisch Korrekte ist immer verletzt, stellvertretend“35. Erfreulicherweise existiert für die Redaktion der Printmedien kein „Framing-Manual“, wie die von der ARD-Vorsitzenden Karola Wille bei der Linguistin Elisabeth Wehling bestellte Handlungsanleitung („Deutungsrahmen“). Dass die ARD eine solche Argumentationshilfe gegen Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Auftrag gegeben hat, ist – auch wenn von der ARD beteuert wird, dass dies keine Mitarbeiteranweisung“ sei – nicht nur ein Skandal, sondern auch ein Armutszeugnis. Zu Recht ist diese Anleitung zu sprachlicher Manipulation in der Öffentlichkeit kritisiert worden.36 Für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mögen Vorgaben oder Wünsche der Herausgeber existieren, aber von einem „Framing-Manual“ ist nichts bekannt geworden. Was kann an der „Zeitung für Deutschland“ kritisiert werden? Beanstandet wird zunächst, dass die FAZ „nach weit links abgedriftet“ sei37. Diese Feststellung in einer konservativen Wochenzeitschrift muss allerdings nicht unbedingt eine speziell die FAZ betreffende Wahrnehmung bedeuten; denn selbst ein 35 Zit. bei Sieglinde Geisel, „Äxgusi“. Max Frenkels „ABC des politisch unkorrekten Schweizers“, in: NZZ v. 18. 02. 2004, S. 45. – Kritische Beiträge von deutschen Autoren in einer Schweizer Zeitung: Eckhard Jesse, Die offene Gesellschaft ist von vielen Seiten bedroht, in: NZZ v. 31. 07. 2019, S. 9; Cora Stephan, Normal sein ist ganz normal. Er ist arbeitsam, familiär, eigenheimfixiert, ziemlich friedlich: ein Lob auf den modernen Spießer, in: NZZ v. 29. 04. 2017, S. 43; Reinhard Mohr, Meinungskampf und Phrasendeutsch. „Wir müssen mehr zu den Menschen gehen“, in: NZZ v. 15. 03. 2019, S. 10. 36 Dazu Bericht ARD rüstet ihre Mitarbeiter für Debatten mit Gegnern. Privatsender sollen nach einem Handbuch „medienkapitalistische Heuschrecken“ genannt werden, in: FAZ Nr. 42 v. 19. 02. 2019, S. 15; Philip Plickert, ARD auf Abwegen, in: FAZ Nr. 43 v. 20. 02. 2019, S. 17; Philipp Krohn, Die Sprachmanipulation. Mit ihrem Handbuch für Mitarbeiter der ARD und deren Sprachgebrauch hat Elisabeth Wehling eine Debatte über Framing ausgelöst. Woher stammen ihre Ideen, in: FAZ Nr. 43 v. 20. 02. 2019, S. 24; miha, Neun Seminare. Das Framing-Manual der ARD ist in Gebrauch, in: FAZ Nr. 43 v. 20. 02. 2019, S. 15; miha, Heucheltraining. 120 000 Euro steckt die ARD ins „Framing-Manual“, das lohnt sich, in: FAZ Nr. 44 v. 21. 02. 2019, S. 13; Michael Hanfeld, Von uns, mit uns, für uns. Der allgemeine Wille des Volkes und die ARD, in: FAZ Nr. 42 v. 19. 02. 2019, S. 9; Holger Klatte, Neuer Deutungsrahmen für die ARD, in: Sprachnachrichten Nr. 83 III/2019, S. 8. 37 So Volker Wittmann/H.H., Alles im Rahmen. Wie die Medien unsere Wahrnehmung durch „Framing“ gezielt auf den Kopf stellen, in: PAZ Nr. 29 v. 19. 07. 2019, S. 12.
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Journalist, der für die Tageszeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Stern und den Spiegel geschrieben hat, urteilt, es „hat sich nicht nur die „FAZ“, sondern die gesamte Medienlandschaft bis in die linke Mitte hinein bewegt …“38. Die „gesamte Medienlandschaft“ politisch so zu verorten, mag vielleicht übertrieben sein. Immerhin wird man jedenfalls die „Süddeutsche Zeitung“, den „Tagesspiegel“, „Die Zeit“ und den „Spiegel“ ohne zu übertreiben als halblinks einordnen können – anders als „Die Welt“ und die „Bild-Zeitung“ wie auch den Wirtschafts- und Finanzteil der FAZ. Solche politischen Verortungen resultieren allerdings aus der persönlichen politischen Einstellung der Leser; diese Verortungen bieten also per se eigentlich keinen Anlass zu grundsätzlicher Kritik. Klar ist auch das, dass Beiträge, die dem einen Leser als kritikwürdig erscheinen, bei einem anderen Leser Zuspruch finden. Mit dieser Relativierung versteht sich der nachfolgend abgedruckte (unbeantwortete) Brief des Autors an einen der Herausgeber der FAZ schon aus dem Jahr 2014: „Ich weiß, dass eigentlich Lob immer besser ankommt als Kritik. Aber als langjähriger Abonnent – ich weiß nicht genau: ob seit vierzig oder fünfzig Jahren – fühle ich mich nun auch einmal zu Kritik legitimiert. natürlich handelt es sich nur um subjektive Eindrücke, die viele andere Leser vielleicht nicht teilen. Aber ich halte mich auch nicht für eine Ausnahmeerscheinung oder für einen Sonderling. Ich fasse also meinen Unmut in den folgenden zehn Punkten zusammen: 1.
Anders als Sie antworten FAZ-Redakteure in der Regel nicht auf Zuschriften. Eine zu lobende Ausnahme hiervon sind Manfred Schmidt und Konrad Schuller (bitte geben Sie dieses Lob weiter). Als Abonnent frage ich mich, wieso ich Redakteure bezahle, die zu hochnäsig sind, um auf Briefe zu antworten – und sei es auch nur mit einem Formbrief.
2.
Die FAZ neigt seit einiger Zeit zu überlangen Artikeln, d. h. zu Breitwandgemälden. Die Seite 3 ähnelt insofern sehr der Seite 3 der Süddeutschen Zeitung oder Artikeln in der „Zeit“. Nur: letztere ist eine Wochenzeitschrift, für deren Lektüre der Leser mehr Zeit aufbringen kann als der Leser einer Tageszeitung. Das Thema der FAZ-Seite 3 ist zwar meist interessant; aber ich verzichte wegen
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Reinhard Mohr (Anm. 10).
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der Länge der dort veröffentlichten Artikel oft einfach aus Zeitgründen auf die Lektüre. 3.
Eine einleuchtende Trennung von „Feuilleton“ und „Politik“ ist nicht ersichtlich. Der Leser hat den Eindruck, dass Artikel, die der Politikredaktion inhaltlich nicht schmecken, Asyl im Feuilleton finden.
4.
Peinlich wird die Sache dann, und ärgerlich für den Leser, wenn in der FAZ Wahlkampf für eine Person gemacht wird, so zuletzt in geradezu penetranter Weise für Martin Schulz. In einer Ausgabe wurde der Kandidat gleich dreimal ins Blatt gehoben. Nicht genug damit: Die Wahlkampfmaschine für M.S. läuft in der FAZ weiter, so in der FAZ vom 23. April (Gespräch von ihm mit Claudio Magris) und subkutan im Artikel von Juli Zeh, in der Ausgabe vom 5. Mai.
5.
Als penetrant habe ich die Artikel von Christian Geyer in seiner Unterstützung für die damalige Kandidatur von Gesine Schwan für das Amt des Bundespräsidenten in Erinnerung; wenn ich mich richtig erinnere, verglich Herr Geyer Frau Schwan sogar mit Jürgen Habermas. Ob dieser Bewunderung erstaunt konnte der Leser der FAZ später lesen, dass Geyer ein Buch über Schwan geschrieben hat (Interviews mit ihr). Gibt es keine Befangenheit oder hatte die Sache nur ein „Gschmäckle“?
6.
Ein Lieblingsthema der FAZ war über Monate der großspurige Bischof von Limburg. Irgendwann – nach stetiger publizistischer Berieselung – hatte der Leser das Gefühl, es sei genug darüber geschrieben. Vielleicht resultiert das diesbezügliche Gelangweiltsein des Hamburger Lesers aber auch nur daraus, dass Limburg von Hamburg aus gesehen weiter weg ist als von Frankfurt.
7.
Gelegentlich – zugegeben: nicht häufig – findet sich der gleiche Artikel mit fast demselben Text an zwei Stellen in ein und derselben Ausgabe der FAZ. Gibt es keinen Chef vom Dienst, dem solche Wiederholung auffällt?
8.
Zweimal abgedruckt wurde in der FAZ die Karikatur zur Pädophilie. Den ersten Abdruck konnte man mit Schmunzeln zur Kenntnis nehmen. Der zweite Abdruck befand sich über dem Brief einer Leserin. Ich hatte den Eindruck, dass der durchaus lesens-
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werte Leserbrief mit der Wiederholung der Karikatur lächerlich gemacht werden sollte – ein absolut unfaires Verfahren gegenüber der Leserbriefschreiberin. 9.
Nicht nur unfair sondern geradezu abwegig war es, wenn in der FAZ im Zusammenhang mit dem Urteil des Landgerichts Köln von 2012 zur Beschneidung von Knaben auf die Rolle der Justiz in der NS-Zeit hingewiesen wurde.
10. Hält die political correctness Einzug in die FAZ? Die Frage drängt sich auf, wenn in einer Buchrezension in der FAZ statt des Ausdruckes „Nationalsozialismus“ der des „Faschismus“ gebraucht wird. Diese Ausdrucksweise war nach meiner Erinnerung die des „Neuen Deutschland“ zur Zeit der DDR. Noch zur Political Correctness: In Bezug auf die Nennung der Nationalität von Straftätern torkelt die FAZ hin und her: mal Ja, mal Nein; im letzteren Fall soll der Leser seine eigenen Vermutungen anstellen. „Ermittler haben am späten Donnerstagabend in einem Waldstück in Duisburg den Leichnam der 26 Jahre alten Mine O. gefunden. Zuvor hatte die Polizei ihren Ehemann Ercan E. festgenommen, der Mine O. am 7. September als vermisst gemeldet hatte“39. Relevante Zahlen werden verschwiegen: „In Bielefeld haben am Samstag 14 000 Menschen gegen einen Aufmarsch der rechtsextremen Kleinpartei „Die Rechte“ demonstriert …“ berichtete die FAZ40. Gern hätte der Leser erfahren, gegen wie viele (wenige?) Rechte die 14 000 auf die Straße gegangen sind. Eine Antwort auf diese naheliegende Frage gab die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ nicht, anders als die „Süddeutsche Zeitung“: „Dem Aufruf der Partei „Die Rechte NRW“ waren nach Polizeiangaben 230 Teilnehmer gefolgt“41. 14 000 gegen 230: eindrucksvoll oder peinlich?
39 Bericht Frauenleiche in Duisburger Wald gefunden, in: FAZ Nr. 285 v. 07. 12. 2019, S. 9 – Zur Problematik des Verschweigens der Herkunft von Straftätern kritisch Ingo von Münch (Anm. 28) S. 42 ff.; Horst Pöttker, Pressefreiheit in Deutschland. Nutzen, Grenzen, Gefährdungen, in: APuZ 66. Jg. H. 30 – 32/2016 v. 25. 07. 2016, S. 9 ff. (13). 40 Bericht 14 000 gegen Naziaufmarsch, in: FAZ Nr. 262 v. 11. 11. 2019, S. 4. 41 Bericht 14 000 gegen rechts, in: SZ v. 11. 11. 2019, S. 6.
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Zur Sprache: Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat sich vor nicht allzulanger Zeit gegen Aufwallung ausgesprochen: „Ich mag keine Hysterie, diese Aufwallungskultur in Deutschland ist für mich keine überzeugende politische Haltung“42. Aufwallung findet sich leider und auffallend mehr und mehr in Medien, die eigentlich für gewählte Sprache stehen. Tätigkeitsworte werden automatisch zu Schimpfwörtern, wenn der Empörungsjournalismus seine Urteile spricht: „brüllen“, „schreien“, „grölen“ – andere Ausdrucksformen gibt es nicht, wenn eine Journalistin in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ den Verlauf einer Pegida-Veranstaltung schildert43. „Pöbeln“, „schimpfen“, „ereifern“, „hetzen“ sind ebenfalls publizistisch oft gebrauchte Wortkeulen, mit denen Meinungsäußerungen von Andersdenkenden belegt werden: Da ist er wieder, der Journalist als Erzieher der Leser, denen ein eigenes Urteil über jene Meinungsäußerungen offensichtlich nicht zugetraut wird. Oder liegt jenes journalistische Aufwallen daran, dass Pegida in Sachsen stattfand und der Freistaat für etliche Journalisten ein braunes Tuch ist? Die aus der ehemaligen DDR stammende Schriftstellerin Monika Maron weiß wovon sie spricht, wenn sie schreibt: „Der Osten avancierte in den Jahren danach (gemeint ist 2014 und 2015, d. Verf.) von der Mitleidsund Witzfigur der Medien zu ihrer Hassfigur … Die Jugend, die dem Osten fehlt, lebt im Westen. Auch danach hätte man fragen können, ehe man ganz Sachsen zum Nazisumpf erklärt und, wie eine Journalistin kürzlich stolz verkündete, keinen sächsischen Apfelsaft mehr kauft“44. Der kluge Beitrag von Monika Maron erschien in der „Neuen Zürcher Zeitung“, nicht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“; zu letzterer schrieb mir ein früherer Staatsminister einer ostdeutschen Landesregierung: „Ich habe diese Zeitung seit 1990 abonniert; die Einebnung dieses einst hochgeschätzten Blattes in den allgemeinen Blätterwald 42 Aufwallung ist keine Haltung. Joachim Gauck über den Herbst 1989, berechtigte Ängste, Hysterie, die Schwierigkeit der Deutschen, stolz auf das Erreichte Gute zu sein, sowie rote und blaue Reaktionäre. Interview mit Stefan Locke und Matthias Wyssuwa, in: FAZ Nr. 261 v. 09. 11. 2019, S. 3. 43 Siehe Franziska Jäger, Der faule Frieden von Dresden. Pegida hatte zu einem Spaziergang durch die Stadt eingeladen. Das klang freundlich und idyllisch. War es aber nicht, in: FAS Nr. 15. v. 12. 04. 2015, S. 6; zit. auch bei Ingo von Münch (Anm. 28), S. 126. 44 Monika Maron, Unser galliges Gelächter. Es liegt mir fern, die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen, in: NZZ v. 09. 11. 2019, S. 43.
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deprimiert mich.“ Noch mehr Kritik gefällig? Oder trotzdem: weiterlesen? Weitere Frage: Was ist die Rolle des Journalisten? Der Ausbilder Volker Lilienthal wird mit dem Satz zitiert: „Mir ist es wichtig, die Leute dafür zu sensibilisieren, dass sie ein Wächteramt für die Demokratie wahrnehmen“.45 Sind Journalisten von Amts wegen Verfassungsschützer? Eine solche Rollenzuschreibung geht über die Verantwortung hinaus, die der Fernsehjournalist und Autor Ulrich Wickert in seinem Buch „Medien: Macht & Verantwortung“ beschrieben hat.46
45 Zit. bei Deike Uhtenwoldt, Was mit Medien. Journalist werden – noch immer ein Traumberuf. Doch die Branche ist im Umbruch. Eine Karriere macht das nicht leichter, in: FAZ Nr. 291 v. 14. 12. 2019, S. C 3. 46 Ulrich Wickert (Fn. 34), S. 86 ff. – Zum Rollenverständnis auch: Stefan Niggemeier, Nicht nur die Welt, auch sich selbst erklären. Zur Rolle des Journalismus heute, in: APuZ 66. Jg. H. 30 – 32/2016 v. 25. 07. 2016, S. 4 ff.
B. Die Krise der Medien Institutionen und Wirtschaftszweige erleben gelegentlich tiefgreifende Krisen. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland traf dieses Schicksal bisher neben anderen die politischen Parteien, Hochschulen, Kirchen, Banken, den Schiffbau, den Bergbau, die Atomindustrie und die Automobilindustrie. Aktuelles Beispiel sind die Medien, hier verstanden als Presse und Rundfunk (das Internet und die sozialen Netzwerke bilden ein eigenes Kapitel, das im Folgenden nur sporadisch erwähnt werden kann). Existenzgrundlage der Medien ist das Vertrauen der Rezipienten in die Berichterstattung der Medien, ein Vertrauen, das weitgehend verlorengegangen zu sein scheint. Als Zäsur gilt die Kölner Silvesternacht1 von 2015 mit ihrer dreifachen Niederlage: Die schwerste Niederlage traf die Frauen. Laila Mirzo, eine Deutsch-Syrerin, Ex-Muslimin und Autorin des Buches „Nur ein schlechter Muslim ist ein guter Muslim. Über die Unvereinbarkeit des Islam mit unserer Kultur“, weist auf das Frauenbild vieler muslimischer Männer hin, „dem Gleichberechtigung und Selbstbestimmung fremd sind … Dieses Frauenbild manifestierte sich in den sexuellen Übergriffen der Kölner Silvesternacht 2015. In dieser Nacht wurden wir Frauen in unsere Schranken verwiesen, es war unser Waterloo, eine Niederlage im gewonnenen geglaubten Kampf für die Frauenrechte.“2 1
Hinweise zu den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht bei Ingo von Münch, Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, Berlin 2017, S. 31. Ausführlich: Alice Schwarzer (Hrsg.), Der Schock – Die Silvesternacht von Köln, 2. Aufl. Köln 2016; Christian Wiermer/Gerhard Voogt, Die Nacht, die Deutschland veränderte, München 2016. 2 Laila Mirzo, Wir Frauen müssen wieder aufstehen. Kölner Silvesternacht, Morde in Österreich: Sind wir diesen schweren Weg gegangen, um jetzt vor dem frauenfeindlichen Islam zu kuschen?, in: NZZ v. 16. 02. 2019, S. 39. – Siehe auch „Neue Qualität von Gewalt“. Sexuelle Übergriffe in der Öffentlichkeit haben auch kulturelle Gründe, sagt Ethnologin Susanne Schröter. Die Probleme der Migration seien ein Tabu (Interview: Silke Mertins), in: NZZ am Sonntag v. 06. 01. 2019, S. 58.
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Das Versagen eines Schutzes für die angegriffenen Frauen war auch eine gravierende Niederlage der Kölner Polizei.3 Gemeint sind damit nicht die einzelnen Polizeibeamten, von denen einige später geschildert haben, wie frustriert sie waren, weil sie die attackierten Frauen nicht schützen konnten. Verantwortlich für die Niederlage der Polizei war die Polizeiführung; demgemäß wurde der Kölner Polizeipräsident vom Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen seines Amtes enthoben, wobei der Innenminister sich in Bezug auf seine Person keiner Schuld bewusst war. Zutreffend ist jedenfalls die Beurteilung der Ereignisse in der Kölner Silvesternacht als „Chiffre für den Kontrollverlust des Rechtsstaats“.4 Eine dritte Niederlage betrifft die Medien, hier insbesondere die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: Die Kölner Silvesternacht wird nicht selten als Anfang des Vertrauensverlustes in die Medien gesehen, womit sich zugleich die Frage stellt, ob das zunehmende Misstrauen in die Medien berechtigt ist. Repräsentativ für die Beurteilung der Bedeutung der Kölner Silvesternacht im Hinblick auf den Vertrauensverlust der Medien ist der folgende Auszug aus einem Leserbrief, in welchem dessen Verfasser schreibt: „… möchte ich Ihnen den wesentlichen Kipp-Punkt meines früheren ,Urvertrauens‘ in die öffentlichen Medien nennen: Es war die anfängliche Vertuschung der Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015/2016, die schlagartig das Vertrauen in staatliche und öffentlich-rechtliche Verlautbarungen und Medienberichte nachhaltig zerstörte – das Wort ,nachhaltig‘ ist hier in seiner gesamten Tragweite genannt und nicht nur schmückende Floskel.“5 Ein anderer Leserbrief kritisiert „die Situation der öffentlichrechtlichen Medienanstalten in Deutschland“, indem eine Leserin schreibt: „Manche Sendungen verfolgen meines Erachtens eine Vereinfachungspolitik, die in der Verdummung enden muss …“, beklagt wird, dazu eine „Tendenz zur Verzerrung“ und: „Die Kürze der „Ta3 Zur Kritik an der Kölner Polizei s. die Hinweise bei Ingo von Münch (Fn. 1), S. 32, 39. 4 Formulierung von Reiner Burger, Die Nacht, die kein Ende findet. Nach den Übergriffen in der Silvesternacht steht „Köln“ als Chiffre für den Kontrollverlust des Rechtsstaats. Wie konnte es dazu kommen, und was hat die Politik gelernt?, in: FAZ Nr. 304 v. 29. 12. 2016, S. 4. 5 Fritz Grenacher, Kipp-Punkt war die Kölner Silvesternacht, in: FAZ Nr. 299 v. 24. 12. 2018, S. 7.
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gesschauen“ bei ZDF und ARD gleichermaßen degradiert sie zu Hofberichterstattungen mit dem Charakter einer Sportschau, gemischt mit etwas Politik.“6 Die so umschriebene Krise der Medien wird nicht nur von Rezipienten festgestellt, sondern beschäftigt inzwischen auch Journalisten und Kommunikationswissenschaftler. So konstatieren die Journalisten Stefan Niggemeier und Boris Rosenkranz: „Das Vertrauen in Medien ist dramatisch gesunken.“7 Noch schärfer formuliert Georg Diez („Der Spiegel“): „Was in Köln passiert ist, war eine Schande. Was danach passiert ist, war ein Tiefpunkt des Journalismus in diesem Land.“8 Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ machte selber negative Schlagzeilen, als die Fälschungen seines Radaktionsmitgliedes Claas Relotius bekannt wurden. Die Affäre Relotius löste ein breites Medienecho aus9, 6 Gabriele Mentges, Vereinfachungspolitik bei ARD und ZDF, in: NZZ v. 19. 12. 2018, S. 9. 7 Zit. in: Ronald Berthold, Seite für Überblicker. uebermedien.de: Das neue Blog von Stefan Niggemeier geht mit den Leitmedien ins Gericht, in: JF Nr. 4/16 v. 22. 01. 2016, S. 17. 8 Zit. in: JF Nr. 4/6 v. 22. 01. 2016, S. 17. 9 Peter Wessig, Das Versagen der „Spiegel“-Chefs. Wie Claas Relotius über Jahre seine Geschichten fälschen konnte. Alle Warnungen wurden ignoriert, in: HA v. 25./26. 05. 2019, S. 28. Allein in der FAZ erschienen u. a. die Artikel: Storytelling. Der Fall Claas Relotius nimmt noch Fahrt auf, in: FAZ Nr. 297 v. 21. 12. 2018, S. 15 (miha); Der Betrug von Relotius ist so perfekt wie schmerzlich (Gespräch von Sebastian Eder mit Cordt Schnibben), in: FAZ Nr. 297 v. 21. 12. 2018, S. 15; Gold spinnen. Die Fälschungen im „Spiegel“, in: FAZ Nr. 298 v. 22. 12. 2018, S. 9 (Jürgen Kaube); Spendenbetrug. Der Fall Relotius wächst, in: FAZ Nr. 299 v. 24. 12. 2018, S. 11 (miha); Lektion in Demut. „Spiegel“ kehrt nach Fergus Falls zurück, in: FAZ Nr. 300 v. 27. 12. 2018, S. 13 (Michael Hanfeld); Sie hatten ein Quäntchen Vertrauen, in: FAZ Nr. 2 v. 03. 01. 2019, S. 13 (Nina Rehfeld); Fiktionen und kaum Fakten. Was Claas Relotius beim „Spiegel“ so alles fälschte, in: FAZ Nr. 22. v. 26. 01. 2019, S. 14 (miha). In der ausländischen Presse z. B.: Zu perfekt, um wahr zu sein – Der tiefe Fall eines Journalisten. Er galt als einer der besten Reporter Deutschlands. Nun wurde bekannt, dass der „Spiegel“-Redakteur Claas Relotius systematisch betrogen hat, in: NZZ Internat. Ausgabe v. 21. 12. 2108, S. 27 (Hansjörg Müller). Ausführliche Darstellung bei Juan Moreno, Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Berlin 2019; dazu Michael Hanfeld, Wie ein Reporter den „Spiegel“ rettete. Heute erscheint das Buch „Tausend Zeilen Lüge“. Der Reporter Juan Moreno schildert, wie er den „Spiegel“-Fälscher Claas Relotius entlarvte. Das Magazin entging dem Untergang nur knapp, in: FAZ Nr. 216 v. 17. 09. 2019, S. 9; Bernhard Pörksen,
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das aber unter Zeitungslesern kaum ein lang anhaltendes Echo hervorrief – vielleicht weil die betrügerische Schreibe von Claas Relotius als ein besonderer Einzelfall angesehen wurde10 oder weil diese Affäre von der fast gleichzeitig laufenden Diskussion über publizistische Erfindungen des österreichischen Schriftstellers Robert Menasse überlagert wurde11. Über diese fakes wird vermutlich mit der Zeit genauso das Gras wachsen wie über die 1983 im Stern veröffentlichten „geheimen HitlerTagebücher“ des Reporters Gerd Heidemann12. Dass nicht nur Printmedien, sondern auch Fernsehstationen auf gefälschte Beiträge hereinfielen, zeigt auch der Fall Michael Born, der in den neunziger Jahren erfundene oder über Gebühr frisierte Reportagen an diverse Fernsehsender verkaufen konnte13. Märchen für Erwachsene. Der Skandal um Claas Relotius ist ein Lehrstück über die Manipulationsanfälligkeit des Menschen, in: NZZ v. 17. 09. 2019, S. 35; Markus Götting, Relotius Reloadet. Das Buch zum Skandal beim „Spiegel“ ist ein Bestseller. Jetzt wird Autor Juan Moreno abgemahnt – vom Fälscher selbst, in: Focus H. 44/2019, S. 40 f. 10 Stellungnahmen der Redaktion des „Spiegel“ in: Sagen, was ist. In eigener Sache: Wie einer unserer Reporter seine Geschichten fälschte und warum er damit durchkam, „Der Spiegel“ H. Nr. 52 v. 22. 12. 2018: Mitteilung der Jury des Reporterpreises. In: Erschüttert und wütend. Die Jury des Reporterpreises erklärt sich zum Fall Relotius, in: FAZ Nr. 23 v. 28. 01. 2019, S. 12 (miha). – Zu einem anderen „Einzelfall“ eines anderen Autors in einem anderen Magazin s. die Notiz Erfundene Figur. „SZ Magazin“ trennt sich von Autor, in: FAZ Nr. 45 v. 22. 02. 2019, S. 15. 11 Dazu: Patrick Bahners, Ein Verwalter der Unwahrheit, in: FAZ Nr. 10 v. 12. 01. 2019, S. 1; Thomas Isler, Ich darf schwindeln, ich gehöre zu den Guten. Der österreichische Autor Robert Menasse erfindet Zitate und Fakten, um für Europa zu werben. In den USA bekämpft eine Demokratin Trump mit falschen Angaben. Sie berufen sich auf Moral. Das ist absurd, in: NZZ am Sonntag v. 12. 01. 2019, S. 15; Harald Tews, „Hallstein-Fake“ als Verhängnis, in: PAZ Nr. 2 v. 11. 01. 2019, S. 24. 12 Heft 18 des Stern vom 28. 04. 1983 hatte die Titelseite „Hitlers Tagebücher entdeckt“. Im Inhaltsverzeichnis hieß es: „Hitlers Tagebuch entdeckt. Eine historische Sensation. 38 Jahre nach Kriegsende fand Stern-Reporter Gerd Heidemann die geheimen Tagebücher, an denen Adolf Hitler von 1932 bis 1945 schrieb. Seite 20.“ 13 Ausführlich dazu: Urs Tremp, Der Geschichtenerzähler. Michael Born, deutscher Fernsehjournalist, der in den neunziger Jahren Sender mit gefälschten Beiträgen bediente, ist 60-jährig gestorben, in: NZZ am Sonntag v. 10. 03. 2019, S. 23. – Notiz: Fernsehfälscher. Journalist Michael Born gestorben, in: FAZ
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Zurück zu den medialen Auswirkungen der Kölner Silvesternacht und der Flüchtlingskrise von 2015. In der „Neuen Zürcher Zeitung“ ist zu lesen: „Was immer die Silvesternacht aus Köln gemacht hat, im medialen Diskurs über die Migration war sie eine Zeitenwende“14. Der an der New York University Journalistik lehrende Publizist Jay Rosen berichtet über seine Befragung von 53 deutschen Publizisten; auch in diesem Bericht spielen die Ereignisse von Köln (und die Flüchtlingskrise 2015) eine gewichtige Rolle: „Das Ergebnis war, dass deutsche Journalisten innehielten und ihre Arbeit zu hinterfragen begannen“; in Redaktionen und Seminarräumen werde nun intensiv darüber debattiert (dies im Wege einer bis heute andauernden Selbstbefragung), „was mit Blick auf die wachsende Kluft zwischen Journalisten und Öffentlichkeit zu tun ist, die weit über die Anhänger von AfD und Pegida hinausgeht“15. Auf die Kluft zwischen Medienmachern und Rezipienten macht auch Susanne Gaschke, deren Stimme als frühere Journalisten der Wochenzeitschrift Die Zeit und jetzige Mitarbeiterin der Tageszeitung Die Welt Gewicht hat, aufmerksam, wenn sie schreibt16: „Die Bedeutung dieser aktuellen „Spiegel“-Affäre geht über die individuelle Verfehlung eines Autors und die manchmal gar nicht zu vermeidende Gutgläubigkeit einer Redaktion hinaus. Sie ist das Sinnbild einer Entfremdung zwischen Publikum und Medienmachern.“ Den Grund für diese Entfremdung sieht Susanne Gaschke einmal in der Nutzung des Internet; zum anderen hätten aber die Medien selbst „erheblichen Anteil am verlorenen Kontakt zum Publikum. Darüber ist meist wenig zu lesen: Für Journalisten scheint ihr eigenes Tun oft im toten Winkel. Nr. 58 v. 09. 03. 2019, S. 14 (auch mit dem Hinweis, der Strafprozess gegen Michael Born wg. Betrugs und anderer Straftaten „warf ein Schlaglicht auf die Leichtgläubigkeit im Fernsehjournalismus“). 14 Andreas Ernst/Daniel Steinvorth, Den Schrecken verdaut. In der Kölner Silvesternacht vor drei Jahren wurden Frauen sexuell belästigt und beraubt – es war das Ende der Willkommenskultur, in: NZZ v. 31. 12. 2018, S. 5. 15 Jay Rosen, Brief an die deutschen Journalisten. Wie tickt die Presse in diesem Land? Anders als in meiner Heimat? Was ist mit „Fake News“? Dazu habe ich 53 Publizisten befragt. Ihr Selbstverständnis ergibt ein spannendes Bild, in: FAZ Nr. 203 v. 01. 09. 2018, S. 16. 16 Susanne Gaschke, Wir schreiben einfach wundervoll. Die „Spiegel“Affäre und der Fall Relotius zeigen die Entfremdung zwischen Medienmachern und dem Publikum, in: NZZ v. 23. 01. 2019, S. 35.
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Es ist schon erstaunlich, dass eine Branche, die Kritik für ihre wesentliche Aufgabe hält, sich selbst mit dem Kritisiertwerden so schwertut.“ Eine wachsende Kluft zwischen Journalisten und Öffentlichkeit muss allerdings nicht unbedingt bedeuten, dass die Medien unrichtig berichten. Eine neuere Untersuchung von Marcus Maurer, Pablo Jost, Jörg Haßler und Simon Kruschinski vom Mainzer Institut für Publizistik unter dem Titel „Auf den Spuren der Lügenpresse. Zur Richtigkeit und Ausgewogenheit der Medienberichterstattung in der Flüchtlingskrise“ kommt in Bezug auf die Berichterstattung in drei überregionalen Tageszeitungen (FAZ, SZ und Bild) sowie in drei Hauptnachrichtensendungen (bei ARD, ZDF und RTL) über die Flüchtlingskrise zu einem vorwiegend positiven Ergebnis, zusammengefasst: „Unsere Analysen zeigen, dass die untersuchten Medien die Faktenlage überwiegend richtig dargestellt haben.“17 Die in der Bevölkerung vorhandenen Zweifel an der Richtigkeit der Berichterstattung in den Medien über die Flüchtlingskrise sehen die Verfasser der Untersuchung unter anderem darin begründet, „dass die Wahrnehmung der Ausgewogenheit von Medienberichten erheblich von den Voreinstellungen der Rezipienten zum Berichterstattungsgegenstand geprägt ist.“18 Der Ausdruck „Voreinstellungen“ verdeckt nur notdürftig den Ausdruck „Vorurteile“, womit die Rezipienten kritisiert werden. Diese Kritik ist aber nur dann fair, wenn Vorurteile nicht einseitig den Rezipienten angelastet werden während gleichzeitig Journalisten für vorurteilsfrei gehalten werden. Vor allem aber dürfen gerade im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Kölner Silvesternacht und über die Flüchtlingskrise Gefühle der Rezipienten nicht ignoriert werden; denn auch Gefühle (Emotionen) sind Fakten. Wie z. B. ein von einem ausreisepflichtigen Asylbewerber begangenes Sexualverbrechen beurteilt wird, ist eben nicht nur eine Frage rationaler Kriterien, 17
Zit. bei Reinhard Müller, Die Lage richtig dargestellt. Eine Studie über die Berichterstattung großer Medien über die Flüchtlingskrise, in: FAZ Nr. 14 v. 17. 01. 2019, S. 8. Zum Begriff „Lügenpresse“: Irene Neverla, „Lügenpresse“Begriff ohne jede Vernunft? Eine alte Kampfvokabel in der digitalen Medienlandschaft, in: Volker Lilienthal/Irene Neverla (Hrsg.), „Lügenpresse“. Anatomie eines politischen Kampfbegriffs, Köln 2017, S. 25 ff. 18 Zit. bei Reinhard Müller (Fn. 17).
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sondern auch eine solche der Empathie. Häufig zitierte politische Forderungen wie die, derartige Ereignisse nicht politisch zu „instrumentalisieren“, helfen in solchen Fällen kaum weiter, zumal wenn andere Ereignisse durchaus instrumentalisiert werden. Hinsichtlich der Frage nach der Glaubwürdigkeit der Medien ist jedenfalls festzuhalten, dass die Medien nicht nur selber glaubwürdig sein müssen, sondern, dass sie von den Rezipienten auch für glaubwürdig gehalten werden sollten. Ist dies nicht der Fall, muss man von einer Krise der Medien sprechen. In dieser Situation ist es kaum ein Trost – eigentlich garkeiner –, wenn nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland die Glaubwürdigkeitswerte der Medien sinken. So wird z. B. über Frankreich berichtet: „Die seit 1987 jährlich von der Zeitung „La Croix“ durchgeführte, jeweils Ende Januar publizierte Umfrage über das Vertrauen der Bevölkerung in die Medien hat für alle Gattungen – Fernsehen, Radio, Zeitungen – neue Tiefstwerte ergeben“.19 In Deutschland, so meint der Schriftsteller und Publizist Peter Schneider, „wird der Kampf gegen die Meinungsfreiheit mit dem Kampfruf „Lügenpresse“ vorgetragen. Es ist eine Anklage, zu der leider auch die Medien selber mit hysterischen oder gefälschten Berichten Anlässe liefern“.20 Susanne Gaschke zitiert in ihrem oben erwähnten Beitrag eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Forsa von 2018, wonach nur noch 40 Prozent der Deutschen der Presse vertrauen und nur noch 28 Prozent dem Fernsehen21. Alle diese Zahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frage der Glaubwürdigkeit der Medien und die Entfremdung zwischen Medien und Publikum ein diskussionswürdiges Thema geworden ist.22 Nicht ohne Grund leitet der Medienwissenschaftler Hans Mathias Keplinger sein Buch zum Thema „Totschweigen und Skandalisieren“ mit den Kapiteln ein: „I. Pressefreiheit
19 Jürg Altwegg, Teuflische Verbindung. Feindbilder und Komplizen: Frankreichs Medien hinterfragen nach langen Wochen des Aufruhrs, wie sie über die „Gilets Jaunes“ berichten, in: FAZ Nr. 25 v. 30. 01. 2019, S. 13. 20 Peter Schneider, Warum ich immer noch an Europa glaube, in: NZZ v. 25. 02. 2019, S. 10. 21 Susanne Gaschke (Fn. 16). 22 Notiz Quellenkunde. Mainzer Studie zu Vertrauen in die Medien, in: FAZ Nr. 56 v. 07. 03. 2019, S. 13.
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und Pressefrust“. „II. Fehlentwicklungen“.23 Als „Alarmzeichen“ wird auch der von dem an der Universität Oxford etablierten Reuters Institute erstellte „Reuters Digital News Report“ benannt, der allerdings in Bezug auf die Berichterstattung von ARD und ZDF eine Abhängigkeit des Vertrauens von der politischen Orientierung der Rezipienten feststellt.24 Feststeht jedenfalls, dass für das Vertrauen der Rezipienten die Einhaltung des journalistischen Distanzgebotes relevant ist: „Professionelle Distanz ist die große Tugend unabhängiger Redaktionen. Der mediale Umgang mit den Rändern der politischen Skala wirft Fragen auf: Verspielen die Medien ihre Glaubwürdigkeit?“25 Interessant ist auch die Kritik, die der Schweizer Journalist Benedict Neff nach fünf Jahren als Deutschlandkorrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ am Journalismus hierzulande übt: „Das Problem mancher Journalisten in Deutschland ist, dass sie nicht über die Wirklichkeit schreiben, sondern über die gewünschte Wirklichkeit. Die Folge ist ein verzerrtes Bild.“26
23 Hans Mathias Keplinger, Totschweigen und Skandalisieren. Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken, Köln 2017, S. 9 ff., S. 16 ff. 24 Dazu Frank Lüberding, Links von der Mitte. Einer Reuters-Studie zufolge stehen ARD und ZDF anders als die BBC da, in: FAZ Nr. 217 v. 18. 09. 2019, S. 13. – Kritisch zum Deutschlandfunk Hansjörg Müller, Konstruktiver Journalismus in Grün. Öffentlichrechtliche Sender wie der Deutschlandfunk stehen in der Kritik – wer zwei Tage lang zuhört, taucht in eine Parallelwelt ein, in: NZZ v. 24. 01. 2020 (Internationale Ausgabe), S. 6. 25 Michael Hirz, Distanzgebot, in: liberal 01/2020, S. 68, auch mit der dazu getroffenen Beobachtung: „So wie die Grünen in einigen Redaktionen eine Projektionsfläche für alles Gute und Schöne sind, beginnt am rechten Rand des Spektrums das Reich der Finsternis.“ 26 Benedict Neff, Die deutsche Erregungsgesellschaft. Ein Rückblick auf fünf Jahre Deutschland – ein Land, in dem Nüchternheit eine Provokation ist, in: NZZ v. 29. 02. 2020, S. 7.
C. Vom engagierten Meinungsjournalismus über den belehrenden, erregten, empörten Journalismus zum Wut- und Hassjournalismus Nach der Landtagswahl in Thüringen, bei der am 24. Oktober 2019 fast jeder Fünfte der Wähler für die AfD gestimmt hatte (genau 23,4 %), wurde eine Mitarbeiterin des NDR mit ihrer auf Twitter geäußerten Bemerkung zitiert: „In Thüringen würde ich ab morgen bedenkenlos jedem fünften Menschen, der mir begegnet, einfach eine reinhauen.“1 Für diese grobschlächtige, später gelöschte Kundgebung einer einzelnen Mitarbeiterin kann der NDR (Werbeslogan: „Das Beste am Norden“) gewiss nicht haftbar gemacht werden; aber einen besseren Einstieg in das Thema „Engagierter Journalismus“ kann man sich kaum vorstellen. Vorab: Alle Meinungsmacher haben Meinungen. Dieses Faktum gehört zu ihrem Beruf und bietet keinerlei Anlass zu Kritik. Problematischer kann die Angelegenheit sein, wenn die Meinung zum dauerhaften Engagement wird. Ein besonders intensives politisches Engagement bedeutet die Mitgliedschaft in einer politischen Partei. Marion Gräfin Dönhoff war zu ihren Lebenszeiten nicht nur eine prominente und politisch einflussreiche Journalistin, sondern auch eine Art moralische Instanz.2 Ich befragte sie einmal, vermutlich im Zusammenhang mit einem von mir veranstalteten Seminar zum Presserecht, ob sie (eine Parteilose) die Mitgliedschaft von Journalisten in einer politischen Partei gut finde; ihre Antwort war ein klares „Nein“. 1
Zit. bei flü, Polarisierung. Wie Journalisten auf die Wahl in Thüringen reagieren, in: FAZ Nr. 251 v. 29. 10. 2019, S. 17. 2 Aus den inzwischen nicht wenigen Veröffentlichungen zu ihr s. z. B. Dieter Buhl, Marion Gräfin Dönhoff. Wie Freunde und Weggefährten sie erlebten, Hamburg 2006; Gunter Hofmann, Marion Dönhoff. Die Gräfin, ihre Freunde und das andere Deutschland, München 2019; Haug von Kuenheim, Marion Dönhoff, Reinbek 1999.
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Vermutlich sah Marion Dönhoff in der Mitgliedschaft von Journalisten in politischen Parteien eine Gefahr für die publizistische Unabhängigkeit. Ich sehe das nicht so streng – vielleicht weil ich selbst Mitglied einer Partei bin. Gewiss drängt sich die Frage einer etwaigen Befangenheit in vielen Fällen auf; aber dies gilt nicht nur für das Verhältnis von Parteimitgliedschaft zum Journalismus, sondern zu etlichen anderen Berufen auch, etwa dem des Richters, des Hochschullehrers, des Lehrers an allgemeinbildenden Schulen, wie überhaupt in Bezug auf Angehörige des öffentlichen Dienstes. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Erinnerung daran, dass die britische Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer Besatzungszone diesbezügliche Beschränkungen einführen wollte, letztlich ohne Ergebnis. Problematisch ist allerdings die Tatsache, dass die Intendanten der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten auffallend häufig ein Parteibuch besitzen.3 Problematisch ist dies einmal wegen der besonderen herausgehobenen Stellung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Medienlandschaft, zum anderen aber auch deshalb, weil der sog. Rundfunkbeitrag von allen Wohnungsinhabern zu entrichten ist, gleichgültig, ob sie überhaupt einer politischen Partei angehören und wenn ja, welcher. Parteilose Intendanten, wie früher Friedrich Nowottny (WDR), bestätigen jedenfalls als Ausnahmen eher die Regel.
3 Dazu schon Ingo von Münch, Mit dem Parteibuch befangen? Über Unabhängigkeit und Journalismus, in: Die Zeit Nr. 12 v. 14. 03. 1980, S. 2; ders., Warum ich gegen den neuen Intendanten stimmte, in: Die Zeit Nr. 24 v. 06. 06. 1980, S. 10. Zur Intendantenwahl beim Südwestrundfunk am 23. 05. 2019 standen zwei Bewerber zur Auswahl: Kai Gniffke ist seit Beginn der achtziger Jahre SPDMitglied, Stefanie Schneider wird ihre Nähe zu den Grünen vorgeworfen (Rüdiger Soldt, Nimm zwei und nicht vier. Zur Intendantenwahl beim SWR treten nur Stefanie Schneider und Kai Gniffke an, in: FAZ Nr. 70 v. 23. 03. 2019, S. 14). Einer früheren Notiz zufolge gilt Stefanie Schneider „als SPD-nah“ (miha), Nimm zwei. Gniffke und Schneider für SWR-Intendanz gesetzt, in: FAZ Nr. 60 v. 12. 03. 2019, S. 13). Zur Kritik am Verfahren: Peter Voß, Kandidaten nicht anzuhören ist nicht souverän. Warum die Verteidigung des Verfahrens zur Intendantenwahl im SWR nicht verfängt, in: FAZ Nr. 87 v. 12. 04. 2019, S. 13; s. aber auch den Bericht SWR-Intendanz. Verwaltungsrat weist Kritik zurück in: FAZ Nr. 85 v. 10. 04. 2019, S. 13. Gewählt wurde schließlich Kai Gniffke; dazu Rüdiger Soldt, Zweiter Wahlgang. Kai Gniffke locker zum SWR-Intendanten gekürt, in: FAZ Nr. 120 v. 24. 05. 2019, S. 13.
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Aus den Printmedien sind vor allem Verleger und Herausgeber mit Parteibuch bekannt: Gerd Bucerius, Rudolf Augstein und Helmut Schmidt könnten als Beispiele genannt werden. Für die Arbeit des „einfachen“ Journalisten dürfte ein Parteibuch in der Regel weniger interessant sein (schließlich gibt es auch in politischen Parteien wie in anderen Vereinigungen nicht wenige „Karteileichen“), als seine Haltung, anders – weniger pathetisch ausgedrückt – seine innere Unabhängigkeit („Haltungsjournalismus“ ist allerdings in Leserbriefen bereits wieder eine kritische Bezeichnung4). Unabhängig vom Bestehen oder Nichtbestehen einer Parteimitgliedschaft kann ein Spannungsverhältnis zwischen Engagiert-Sein und journalistischer Arbeit existieren. Für engagierten Journalismus, der allerdings mit „Argumenten und Gegenargumenten“ zu betreiben sei, hat der Spiegel-Redakteur Dirk Koch sich in seinem Buch „Der ambulante Schlachthof oder Wie man Politiker das Fürchten lehrt“ ausgesprochen.5 Peter Voss, der frühere Intendant des Südwestfunks (SWF), hält dagegen in seiner Besprechung dieses Buches das Plädoyer von Koch für einen „engagierten Journalismus“ für eine „etwas stumpfe Lanze“: Koch stelle sich damit „gegen Hanns Joachim Friedrichs’ berühmtes Diktum, ein Journalist mache sich ,nicht gemein mit einer Sache, auch nicht mit einer guten‘“; und Voss weiter: „Zumeist freilich liegt die Gefahr solchen Engagiert-Seins wohl ,nur‘ in der selektiv verengten Wahrnehmung, die jene argumentative Offenheit des Engagierten mehr oder weniger einschränkt … Kurz und arg zugespitzt: Engagiert-Sein heißt allzu oft, dass einem irgendeine Sache oder Person nolens volens wichtiger wird als die Wahrheit“.6 Zur Erinnerung: Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hat schon vor Jahren die Medien aufgefordert, die eigene Berichterstattung mit „selbstreflektierender
4 Bsp.: Sebastian Köppl, Mangelnde Neutralität (Leserbrief): „Am Beispiel der Kommentare im Deutschlandfunk nach den Abendnachrichten um 19.00 Uhr oder bei der Auswahl der Interviewpartner nach der morgendlichen Presseschau zeigen sich die Unausgewogenheit und der ,Haltungsjournalismus‘ dieses Senders, der, abgesehen von seinen Ratgebersendungen, ebenfalls viel Vertrauen verloren hat“, in: FAZ Nr. 60 v. 12. 03. 2019, S. 6. 5 Dirk Koch, Der ambulante Schlachthof oder Wie man Politiker das Fürchten lehrt, Frankfurt a. M. 2016. 6 Peter Voss, Engagiert! Dirk Koch enthüllt sich (Buchbesprechung), in: FAZ Nr. 50 v. 03. 05. 2016, S. 6.
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Distanz zu begleiten“ und vor „festgefügten Meinungsmilieus“ gewarnt.7 Die Skala der Attribute, die inzwischen dem Journalismus beigelegt werden, ist vor allem neuerdings breit angelegt. Die Skala beginnt mit dem sog. „Meinungsjournalismus“, womit vermutlich gemeint ist, dass die Medien ihre eigenen Meinungen nicht ihren Rezipienten aufdrücken sollten. Wohl in diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die bisherige Programmdirektorin des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) und neue Direktorin des öffentlich-rechtlichen Schweizer Radio und Fernsehens (SRF), Nathalie Wappler, ankündigt: „Wir müssen keinen Meinungsjournalismus machen … Wir müssen ein Programm machen, das informiert, aber nicht polarisiert. Ich habe diesbezüglich in Deutschland sehr viel gelernt. Diese Abgehängten, die man nicht mehr zurückholen kann, beschäftigen mich zutiefst.“8 Die „Abgehängten“ werden vom engagierten Meinungsjournalismus bei Pegida-Demonstrationen, bei den bekannten Ereignissen in Chemnitz, bei Veranstaltungen der im Osten besonders stark vertretenen AfD und bei anderen Anlässen streng beobachtet und oft disqualifiziert: „Eine Horde tobt um einen Bus, in dem ein paar Menschen angekommen sind, die der Mob hier nicht haben will … Die Handgreiflichkeit ruft Unartikuliertes hervor, vielleicht Zustimmung, vielleicht bloßes Blöken Betrunkener. Aber auch eine Parole wird gebrüllt: ,Wir sind das Volk, wir sind das Volk!‘ … Auch eine Kulturgemeinschaft ist dieses ,Volk‘ nicht, das in Drohrotten gegen Fremde mobil macht … Man beobachtet also den Polizisten vor dem Mob … das Bündnis von Mob und Elite … Die Leute, die da brüllen und toben … Wenn der Mob aber gerade nicht Banker und Bürokraten angreift, sondern Wehrlose … Der Rückfall ins Stammesverhalten …“. Fazit: „Horde“, „Mob“, „Rotten“, „toben“, „brüllen“, „blöken“, „Betrunkene“ – viele verbale Schrotkugeln in einem einzigen Artikel in einem sog. Qualitätsmedium.9 Demonstranten sind „Pack“ und „Mob“: „In Ihrer Stadt ist gerade ein rechter Mob durch die Straßen gezogen“ 7
Zit. im Bericht Gauck: Autoritätsgläubigkeit war Herzog fremd, in: FAZ Nr. 21 v. 25. 01. 2017, S. 4. 8 Zit. bei Jürg Altwegg. Es wird zu viel gemeint. Nathalie Wappler landet beim Schweizer Rundfunk, in: FAZ Nr. 264 v. 13. 11. 2018, S. 13. 9 Zitate aus Dietmar Dath, Staat gegen Stämme. Tribalismus wird Alltag, wo Politik sich abwendet, in: FAZ Nr. 45 v. 23. 02. 2016, S. 11.
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empört sich eine Interviewerin in demselben „Qualitätsmedium“.10 „Pack“ und „Mob“ sind Beschreibungen, die offenbar keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Vielleicht erwartet der Leser aber gerade Erläuterungen in Form von sachlichen Argumenten anstatt Häme. Illustriert wird dies in einem Leserbrief zum Bericht über eine Wahlkampfveranstaltung der AfD in Baden-Württemberg, der, so der Leser, die „gebotenen Pfade der argumentativen Auseinandersetzung verlässt“: Da heißt es, es gehe der „Onkologe mit Fliege“, der AfDKreisvorsitzende, in den Kappelmühlsaal. Die Zuhörer der Veranstaltung werden beschrieben als „größtenteils ältere Männer in FleecePullis mit Gesichtern, die von einem harten Arbeitsleben und vielen Kneipenbesuchen zeugen“.11 Lesenswert in diesem Zusammenhang auch, und ohne jeden politischen Informationswert, die Beschreibung von Zuhörern einer AfD-Veranstaltung mit dem früheren tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus: „Und sie, meist ältere Männer in großkarierten Hemden, die über dem Gürtel spannen …“.12 Engagierter Meinungsjournalismus will belehren. In gewissem Maße ist dies ein natürlicher Teil von Informationsvermittlung, also von nahezu jeder journalistischen Tätigkeit. Andererseits sind Journalisten nicht die Oberlehrer der Nation, eben keine Erzieher. Bei der belehrenden Information oder der informierenden Belehrung kommt es auf das Maß an – dies im Sinne von Maßhalten. Es gibt wohl keine bessere Regel für überzeugende publizistische Arbeit als „fortiter in re, suaviter in modo“. Aufdrängendes emotionales Moralisieren kommt jedenfalls bei mündigen Rezipienten nicht gut an, wie nicht wenige Belege beweisen. So hat der Sprecher der CDU-Bundestagsabgeordneten aus den östlichen Bundesländern Arnold Vaatz erklärt, warum er lieber tschechische oder polnische Medien konsumiert als ARD oder ZDF: In Polen und Tschechien „dominieren nicht die Interessen von 10 In: Gespräch mit Klaus Kowalke, dem Inhaber der Buchhandlung „Lessing und Kompanie“ in Chemnitz, nach den Krawallen. Hier herrscht Angst, blanke Angst. Schutzlos ausgeliefert: Gibt es in Sachsen eine zu große Toleranz gegenüber rechtsextremer Gesinnung?, in: FAZ Nr. 201 v. 30. 08. 2018, S. 9. Die Fragen stellte Sandra Kegel. 11 Bernhard Klöckner, Niveauvoller, sachlicher Umgang mit der AfD (Leserbrief), in: FAZ Nr. 57 v. 08. 03. 2016, S. 6. 12 Paul Ingendaay, Erregungsabend mit Schwarzrotgoldrand. Deutsche Szene: Die AfD empfängt den früheren tschechischen Staatspräsidenten Klaus in Schwerin, in: FAZ Nr. 197 v. 24. 08. 2016, S. 11.
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Randgruppen oder der volkspädagogische Eifer der Redaktion beim Anpreisen der Vorteile von Migration und erwünschten Verhaltensweisen. Dort geht es mehr um die Belange der Mehrheitsbevölkerung, ihre Erfahrungen und Wünsche ohne einen redaktionellen Filter.“13 Der in Mainz Geschichte lehrende Historiker Andreas Rödder antwortet auf die Frage: „Wie würden Sie denn die derzeitige politische Kultur in Deutschland charakterisieren“ so: „Die Deutschen haben das politische Argumentieren durch emotionales Moralisieren ersetzt.“ Die Kampagne gegen Friedrich Merz zeige, „wie stark ein moralisierender Mainstream in Politik, Journalismus und Demoskopie durch Empörung ausgrenzt“.14 Angesprochen ist damit der erregte Empörungsjournalismus; vom engagierten Journalismus unterscheidet er sich durch stärkere Intensität und heftigere Emotionalität. Humus für sein Wachsen ist der von Peter Sloterdijk geschilderte Eindruck, „wir hätten seit einigen Jahren einen veränderten Aggregatzustand der medieninduzierten Aufgeregtheit erreicht … Ich hege den Verdacht, dass es einen Mechanismus gibt, der das ganze diskutierende System in eine erhöhte Nervosität hineintreibt – nennen wir ihn das Gesetz der wachsenden Irritabilität.“15 Sloterdijk entlehnt hier aus der Physiologie die Fähigkeit, auf einen Reiz anzusprechen. Für Erregtsein und Empörtsein im Journalismus sind Gereiztsein und Reizbarkeit konstituierende Merkmale, die sich an Reizworten festmachen; häufige Beispiele hierfür sind Islamkritik („Islamphobie“) und Flüchtlingsprobleme.
13 Arnold Vaatz, zit. in: idea e.V. Evangelische Nachrichtenagentur. Pressedienst v. 23. 01. 2019 Nr. 019, S. 2: Nachrichten. CDU-Abgeordneter: ARD und ZDF senden an den Ostdeutschen vorbei: 30 Jahre friedliche Revolution: Dresdner Vaaz äußert schwere Vorwürfe. 14 In: „Alle haben Angst vor Deutschland.“ Der Historiker Andreas Rödder sieht ein großes Problem darin, dass die Deutschen das Argumentieren durch Moralisieren ersetzt haben (Interview), in: NZZ v. 28. 11. 2018, S. 37. 15 Peter Sloterdijk, „Die Sitten verwildern, die Gerechtigkeit ist obdachlos.“ Identitäten lösen sich auf, Gesellschaften verwandeln sich in hypernervöse Gemeinschaften, die Aggressivität nimmt zu: Die Welt scheint aus den Fugen. Peter Sloterdijk sieht eine große Drift am Werk, die sich durch die Migrationsdynamik verstärkt. Wohin stürzen wir? René Scheu hat den Philosophen in Karlsruhe getroffen (Interview), in: NZZ v. 31. 03. 2018, Internationale Ausgabe S. 27.
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Interessant ist, wie der deutsche Erregungs- und Empörungsjournalismus im Ausland gesehen und kritisch kommentiert wird. Zur Debatte um die Islamkritik war schon früher in der „Neuen Zürcher Zeitung“ zu lesen: „Glaubenskriege auf deutschem Boden sind indes nicht zu befürchten. Auch keine „Vertreibung“ der Muslime oder ihre gigantische Umerziehung nach dem Modell der Entnazifizierung“, wie der Literaturchef der „Süddeutschen“ gestern suggerierte. Solche Sorgen, Schaum feuilletonistischer Erregung, zergehen an den Realitäten von Alltag und Politik.“16 Noch schärfer – um nicht zu sagen: vernichtend – war die Kritik in der „Neuen Zürcher Zeitung“ an der Berichterstattung in Presse und Fernsehen über die Begegnung der Bundeskanzlerin mit dem damals vierzehnjährigen palästinensischen Flüchtlingsmädchen Reem Sahwil beim Besuch einer Schulklasse in Rostock.17 Als Reem Sahwil im Gespräch mit der Kanzlerin ihr Schicksal schilderte, fing das Mädchen an zu weinen. Das Bild der sie tröstenden Kanzlerin ging um die Welt, vor allem das Weinen. Kommentar aus Zürich: „Was wiederum die in den Medien gerne der Gefühlskälte bezichtigte Mutter der Nation angeht, war der über sie niedergegangene Shitstorm von subtiler Bösartigkeit – nicht nur in den emotional aufgeladenen Sphären der sozialen Netzwerke“. Die „Süddeutsche Zeitung“ gab die Stimmungslage vor, indem sie rasch ventilierte: „Wie die Kanzlerin ein Flüchtlingsmädchen zum Weinen bringt“. Zu einem Fernsehfilm des Norddeutschen Rundfunks (NDR) über die Begegnung in der Schulklasse bemerkt die „Neue Zürcher Zeitung“: „Angela Merkel tappte übrigens keineswegs in die von manchen nun gerne kolportierte ,Realitäts-Falle‘, sondern ging bewusst in dieses Gespräch hinein, indem sie das Mädchen fragte: ,Also, ihr habt keinen genehmigten Asylantrag?‘, als dieses von seiner Herkunft erzählte. Der kurze NDR-Beitrag zeigt all das nicht, weil er schlicht und 16
Joachim Güntner, Worte sind keine Äxte. Die Kritik der Islamkritik verwischt den Unterschied zwischen Polemik und Hasspredigt. Was kann der Islam dafür, wenn in seinem Namen Gewalt verübt wird? Die Frage, seit Jahren debattiert, führt auch in Deutschland zu stetem Zwist zwischen Religiösen und Säkularisten. Und bisweilen zu fragwürdigen intellektuellen Volten von Kommentatoren. Derweil sucht die deutsche Politik den praktischen Dialog, in: NZZ Nr. 26 v. 02. 02. 2010, S. 46. 17 Die folgenden Informationen zu diesem Fall finden sich bei Claudia Schwartz, Gefühlte Grenzen. Deutsches TV und das Flüchtlingsthema, in: NZZ Nr. 166 v. 21. 07. 2015, S. 37.
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ergreifend Vorurteile bedienen will. Möchte man ihm dennoch etwas Gutes abgewinnen, dann allenfalls, dass er die intellektuellen Grenzen eines Empörungsjournalismus belegt, der im Versuch, eine Politikerin in Misskredit zu bringen, eine junge Palästinenserin missbraucht.“18 Ausdrucksformen des erregten Empörungsjournalismus sind die üblichen medialen Kommunikationsarten, also insbesondere Wort, Schrift, Bild oder Ton. Schon eine positive oder negative Wahl eines einzigen Wortes können Sympathie oder Antipathie erkennen lassen, so wenn z. B. in einem Leitartikel zur Rettung des Weltklimas die Antipoden der Idee einer generellen Geschwindigkeitsbegrenzung wie folgt vorgestellt werden: „Die einen sind begeistert, sie sehen ungeahnte Einsparmöglichkeiten für Kraftstoffverbrauch und Kohlendioxidausstoß; die anderen schnauben entsetzt, fühlen sich ihrer Freiheit beraubt.“19 In dieses Bild passt, dass der Bundesverkehrsminister und CSU-Politiker Andreas Scheuer „schimpfte“, dass Gedankenspiele zu einer generellen Geschwindigkeitsbegrenzung weder sozial noch wirtschaftlich zu verantworten seien.20 Wenig mediale Sympathie genoss in Deutschland auch Italiens früherer Innenminister Matteo Salvini; was bei anderen Politikern „hartnäckig“ oder „konsequent“ gewesen wäre, war bei ihm „stur“. Zur Behandlung von Schiffen mit Asylnehmenden und Migranten ist so zu lesen: „Nun zeigt er sich aber auch gegenüber einem Schiff der eigenen Küstenwache stur …“; und nach seiner Entscheidung, unbegleitete Kinder und Jugendliche an Land zu lassen, wird wieder gerügt: „Gegenüber den verbliebenen 150 Asylnehmenden zeigt sich Salvini aber weiter stur und fordert den Staatsanwalt heraus …“.21 Noch härtere verbale Schläge werden mit Vergleichen ausgeteilt. Den völlig zutreffenden Satz „Rassismus und politischer Liberalismus 18 Claudia Schwartz (Fn. 17). Das Mädchen hat später erklärt, dass es die Kanzlerin „damals überhaupt nicht als kalt und gefühllos empfunden habe“ (zit. in: Reem Sawil [Interview mit Felix Rettberg], in: Der Stern v. 20. 02. 2020, S. 122). 19 Kerstin Schwenn, Gefährliches Klima, in: FAZ Nr. 20 v. 24. 01. 2019, S. 15. 20 Kerstin Schwenn (Fn. 19). 21 Formulierungen in tp/now., Weiter Streit um Migranten auf „Diciotti“. Salvini: Das verdammte Europa muss sich melden/Kinder dürfen Schiff verlassen, in: FAZ Nr. 196 v. 24. 08. 2018, S. 5.
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schließen sich aus“ kommentiert der FAZ-Journalist Patrick Bahners mit dem abwegigen und denunzierenden Vergleich: „Das ist die Logik Palmströms und der Abteilung Agitation und Propaganda beim Zentralkomitee der SED“.22 Der Vergleich mit dem Zentralkomitee der SED ist zudem deshalb pikant, weil der vom ungarischen Justizminister László Trócsányi gezogene (in der Tat abwegige) Vergleich der EUKommission mit einem Politbüro in derselben Zeitung, für die Patrick Bahners schreibt, als „infam“ bezeichnet wird.23 Empörungsjournalismus praktiziert Patrick Bahners wohl auch, wenn er zur Kopftuchdebatte schreibt: „Mit dem Stolz auf die Kultur der Freiheit, den die liberalen Imperialisten unter den Islamfeinden von ihren Mitbürgern fordern, ist es bei den Einpeitschern selbst nicht weit her.“24 „Liberale Imperialisten“, „Einpeitscher“ – man muss kein Liberaler sein, um in diesen aggressiven Floskeln mehr Polemik zu sehen als sachliche Information. Eine wissenschaftlich fundierte, von Bahners Polemik abweichende Darstellung geben die Historiker und Politikwissenschaftler Heiko Heinrich und Nina Scholz unter der Überschrift „Die europäische Mission des politischen Islams“ in derselben Zeitung, in der Bahners schreibt.25 Empörungsjournalismus (auch: Gesinnungsjournalismus) ist noch kein Wutjournalismus, aber vielleicht schon ein Schritt in diese Richtung. Wutjournalismus lässt sich wohl nur mit Hassgefühlen erklären, die ein Journalist gegenüber seinem Objekt (oder sollte man sagen: seinem Opfer?) hegt. Ein widerwärtiges Beispiel solcher Hassschreibe bietet eine auf der Internetseite der taz veröffentlichte Kolumne von Denis Yücel, der den infolge eines Schlaganfalles körperlich behinderten „leider erfolgreichen Buchautor“ Thilo Sarrazin als „eine lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ verun22 Patrick Bahners, Die Panikmacher, München 2011, S. 74. Die von Bahners inkriminierte Aussage stammt von Johannes Kandel und war eine Erwiderung auf die Behauptung von Carolin Emcke, die Islamkritik der Gebildeten sei „liberaler Rassismus“ (zit. bei Patrick Bahners, a.a.O., S. 73). 23 Glosse Infamer Vergleich, in: FAZ Nr. 60 v. 01. 03. 2019, S. 8 (K.F.). 24 Patrick Bahners (Fn. 22), S. 106. 25 Heiko Heinrich/Nina Scholz, Die europäische Mission des politischen Islams. Der legalistische Islamismus ist in Deutschland auf dem Vormarsch. Sein Einfallstor ist die Bildung – sein Ziel die Errichtung eines islamischen Gottesstaats mit friedlichen Mitteln in: FAZ Nr. 212 v. 12. 09. 2019, S. 9.
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glimpfte, und hinzufügte, man könne „Thilo S.“ nur wünschen, „der nächste Schlaganfall möge sein Werk gründlicher verrichten“.26 Ausbrüche und Auswüchse von Hass sind ein relativ neues, aber inzwischen weit verbreitetes Erscheinungsbild in den sog. sozialen Netzwerken. Das Faktum der dortigen massiven Beschimpfungen und Beleidigungen ist unübersehbar und nicht selten schon kritisch registriert. Bernd Eilert von der Neuen Frankfurter Schule spricht von „dem Ton, der in den sogenannten sozialen Netzwerken über alle gewohnten Beschimpfungsrituale hinausgeht“.27 Von Peter Sloterdijk stammt die Beobachtung: „Die Heftigkeit und Giftigkeit der Invektiven in Europa, ja im ganzen Westen und, wie man so sagt, im Rest der Welt, hat zugenommen, und zwar in allen Richtungen: links gegen rechts, der rechte Rand gegen den linksliberalen Mainstream, oben gegen unten, Geschlecht gegen Geschlecht, Inländer gegen Ausländer, Alt gegen Jung.“28 Der britische Schriftsteller Ian McEwan berichtet von seiner persönlichen Erfahrung: „Gelegentlich sage ich etwas und werde dann Zeuge eines Twittersturms von solch frenetischen und beleidigenden Ausmaßen, dass man fast das Gefühl hat, dass die öffentliche Diskussion es kaum noch wert ist.“29 Angesichts der Hassinflation stellt sich nicht überraschend die Frage nach deren Ursachen. „Woher der Hass im Netz kommt, ist inzwischen leicht zu beantworten“, schrieb Julia Bähr in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, nämlich: „Zum einen agieren Menschen ungehemmter, die durch ihren Usernamen anonym bleiben. Zum anderen bewegen sie sich auf Twitter oder Facebook meist in Filterblasen, umgeben von Gleichgesinnten, und fühlen sich deshalb stark … Durch
26 Zit. nach Notiz „taz“-Redakteur wünscht Sarrazin Schlaganfall, in: JF Nr. 47/12 v. 16. 11. 2012, S. 17. Dort auch Hinweis auf einen entsprechenden Beitrag der Kolumnistin Mely Kiyak der „Berliner Zeitung“ und auf eine Missbilligung des Deutschen Presserates. 27 In: „Das ist inquisitorisch“. Bernd Eilert von der neuen Frankfurter Schule über Satire, Politik und Reinheitswahn im Gespräch mit Reinhard Müller, in: FAZ Nr. 57 v. 08. 03. 2019, S. 8. 28 Peter Sloterdijk (Fn. 15). 29 In: „Als hätte ich den Holocaust verleugnet“ (Interview). Seine Romane begeistern Leser seit Jahrzehnten – aber gegen Twitter-Stürme ist auch Ian McEwan nicht gefeit, in: NZZ v. 16. 07. 2018, S. 27.
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die Distanz gehen verkümmerte Reste von Empathie ganz verloren.“30 In der Formulierung ähnlich, in der Sache gleich beantwortet Rainer Paris in der „Neuen Zürcher Zeitung“ die Frage, warum der Hass so gut im Internet gedeiht, zunächst mit dem Hinweis auf die Anonymität: „Entscheidend für die Enthemmung im Netz ist, dass der Hass hier nichts zu fürchten hat. Das Internet ermöglicht ,Hass ohne Konfrontation‘ (Philip Blom), er muss gerade nicht mit unmittelbaren Gegenaggressionen rechnen.“31 Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auch auf die „technischen Besonderheiten des Mediums Internet. Nie war es so leicht und einfach für jedermann, eine große Anzahl von Adressaten zu erreichen und sich mit ihnen emotional auszutauschen“; unter der Zwischenüberschrift „Die Hassgemeinschaft“ wird sodann festgestellt: „Das Netz ist das ideale Medium, um lange schwelende Gefühle von Neid und Zurückgesetztheit in Hass und Ressentiment zu verwandeln. Der User ist vor dem Bildschirm allein und doch in ständigem Kontakt mit Gleichgesinnten. Die Einsamkeit des Neides geht über in die Gemeinschaft des Hasses.“32 Hier ist nicht der Ort für eine Diskussion darüber, wie mit dem ausufernden Hass im Internet umzugehen ist und ob das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ein sinnvolles Instrument gegen Hasskriminalität darstellt.33 Auch einschlägige Bemühungen von Facebook sind hier 30 Julia Bähr, Raus aus der Beklemmung. Kaum jemand kann sich im Internet bewegen, ohne beleidigt oder bedroht zu werden. Was nun? Anzeigen oder zurückpöbeln? Es gibt Mittelwege, in: FAZ Nr. 73 v. 27. 03. 2019, S. B 7. 31 Rainer Paris, Die Einsamkeit nagt an ihnen. Hasserfüllte Nutzer lassen ihren Gefühlen im Netz gerne freien Lauf. Hinter den Ausbrüchen verbergen sich Neid und Isolation, in: NZZ v. 28. 02. 2019, S. 36. 32 Rainer Paris (Fn. 31). – Gegen einen zu häufig erhobenen Hass-Vorwurf: Dirk Pelster, Der Hass-Vorwurf erstickt die Freiheit. „Hetzer“, „Spalter“, „Nazi“: Statt mit Argumenten zu kontern, wird Opposition mit maßlosen Kampfparolen niedergemacht, in: PAZ Nr. 40 v. 04. 10. 2019, S. 12. 33 Dazu z. B. Christian Schmitt/Felix Maurer, Die Bekämpfung der Kriminalität in sozialen Netzwerken: Kritische Anmerkungen zum NetzDG, in: Juris 2018, S. 346 ff.; Till Steffen, Hasskriminalität im Netz wirksam bekämpfen, in: RuP 55 (2019), S. 11 ff.; s. auch – zum Hass gegen Homosexuelle – Daniel Gerny, Eine neue Strafnorm gegen Hass ist keine gute Idee. Die Argumente, mit denen konservative Kräfte gegen die Strafbarkeit von Hassreden gegen Homosexuelle kämpfen, sind scheinheilig. Doch die Frage, was die schrittweise Ausweitung der Rassismusstrafnorm bringen soll, ist berechtigt, in: NZZ v. 07. 12. 2019, S. 12. – Für künftige Strafbarkeit homophober Hassreden in der
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nicht zu kommentieren.34 Die zu erörternde Frage ist vielmehr die, wie es zu Hassjournalismus kommen kann, also zu Beiträgen nicht von irgendwem irgendwo, sondern von professionellen Medienschaffenden in der öffentlichen Medienszene. Vorab ist dem die erfreuliche Tatsache vorauszuschicken, dass engagierter Journalismus und Empörungsjournalismus häufig sind, Hassjournalismus dagegen – jedenfalls in Deutschland – noch eine Ausnahme im publizistischen Geschehen bildet. Eine Hasstirade wie die erwähnte von Denis Yücel kommt glücklicherweise eher selten vor. Offenkundig existieren gravierende Unterschiede zwischen dem professionellen Publizieren in öffentlichen Medien auf der einen Seite und der allgemeinen Nutzung des Internets durch Jeden auf der anderen Seite. Einer dieser Unterschiede liegt in der Person des Journalisten. In aller Regel gehört er nicht dem Biotop an, wo Hass wächst und gedeiht, nämlich „dort, wo ehedem Abgesicherte und Aufstiegsgewohnte absteigen (oder ihre Abstiegsängste dramatisieren) und die Zukunft kein Glück mehr verspricht“.35 Journalisten, die publizieren, also (noch) bei Verlagen angestellt sind, gehören also nicht zu den sog. „Abgehängten“, auch nicht zum sog. „Pack“ oder „Mob“. Journalisten haben kraft ihrer beruflichen Tätigkeit ein selbstverständliches Forum, das in dieser Form den Zehntausenden von Netznutzern fehlt, „die einfach ihren Frust loswerden wollen“.36 Eine Barriere für Hassausbrüche dürfte auch die Einbindung in eine Redaktionsgemeinschaft sein: Die Kollegen und Kolleginnen, nicht zuletzt auch die Chefredaktion, werden Hassartikel nicht goutieren, dies auch schon wegen des Renommees Schweiz dagegen Charlotte Schoder, Brandstifter verdienen einen Maulkorb, in: NZZ v. 14. 01. 2020, S. 10. In einem Referendum hat am 09. 02. 2020 eine Mehrheit für eine diesbezügliche Erweiterung der sog. Anti-Rassismus-Strafnorm gestimmt; s. Isabel Pfaff, Wer Homosexuelle beleidigt, macht sich strafbar. In der Schweiz stimmt eine Mehrheit dafür, den gesetzlichen Schutz gegen Diskriminierung auszuweiten, in: SZ Nr. 33 v. 10. 02. 2020, S. 6. 34 Dazu Julia Bähr, Wohin nur mit dem ganzen Hass? Trotz aller Bemühungen: Wer sich im Internet bewegt, muss das Kunststück lernen, mit Beleidigungen und Drohungen umzugehen, in: FAZ Nr. 27 v. 01. 02. 2019, S. 9; dies. (Fn. 30). Zu Fakes: Stefan Betschon, Das Internet ist ein Brutkasten für Falschinformation. Die Politkommunikation in sozialen Netzwerken wird durch Fake-News und Junk-News geprägt, in: NZZ v. 09. 11. 2018, S. 57. 35 Rainer Paris (Fn. 31). 36 Corina Milborn, zit. bei Julia Bähr (Fn. 34).
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des Blattes oder des Senders, für die der Journalist arbeitet. Kritische Leserbriefe mögen eine gewisse Bremswirkung zeitigen. Nicht leicht einzuschätzen in ihrer Wirkung zur präventiven Verhinderung von Hassartikeln sind die möglichen Sanktionen des Deutschen Presserates; im Fall Denis Yücel waren sie wirkungslos. Noch zum Deutschen Presserat: Im Zusammenhang mit den Stichwörtern Krise der Medien und Ethos des Journalisten ist nicht uninteressant, dass die Zahl der beim Deutschen Presserat von Lesern eingelegten Beschwerden 2018 mit 2038 den zweithöchsten Stand nach dem Jahr 2015 (mit 2358 Beschwerden) erreicht hat. Der Presserat sprach 28 Rügen aus, mehr als 2017 (21).37 Schließlich: Das Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bleibt ein Dauerproblem.38
37 Notiz 28 Rügen. Mehr Beschwerden beim Presserat, in: FAZ Nr. 85 v. 10. 04. 2019, S. 13. – Zur Funktion des Schweizer Presserates s. Markus Spillmann, Schweizer Presserat. Rasche Verfahren, mehr Gehör und solide Finanzen, in: NZZ v. 10.05.219, S. 18. – Zur Medienselbstkontrolle allgemein: Susanne Fengler, Twitter statt Presserat? Medienselbstkontrolle im internationalen Vergleich, in: APuZ 66. Jg. H. 30 – 32/2016, v. 25. 07. 2016, S. 34 ff. 38 Dazu Viktor Volkmann, Meinungsfreiheit für die Feinde der Freiheit? Meinungsäußerungsdelikte zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als Instrumente der wehrhaften Demokratie, Berlin 2019.
D. Übertreibungen und Untertreibungen Die Sprache in den Medien muss nicht langweilig sein; denn Aufmerksamkeit herbeizuführen gehört zum Wesen von Presse und Rundfunk. Dessen ungeachtet sollte die Sprache in den Medien sachlich bleiben. Übertreibungen tragen nicht zur publizistischen Glaubwürdigkeit bei; deshalb sollten z. B. medizinische und juristische Fachausdrücke nicht leichtfertig gebraucht werden. Ein solcher Missbrauch der Sprache ist in der Publizistik nicht neu. Schon 1979 wurde die Ablösung eines Ministers der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen auf Seite 1 einer überregionalen Tageszeitung unter der Überschrift „Hinrichtung in Düsseldorf“ wie folgt kommentiert: „So wie Horst-Ludwig Riemer ist in einer deutschen demokratischen Partei seit langem kein Politiker mehr hingerichtet worden … Die FDP exekutierte ihren ersten Mann in Nordrhein-Westfalen binnen einer knappen Stunde … Riemer war noch nicht guillotiniert, da waren die Neuen schon ausgerufen, die die Macht der Regierung Rau bei der Landtagswahl im Mai sichern sollen …!“1 Ein neueres Beispiel betrifft Verrisse des Romans „Stella“ von Takis Würger, die in den Feuilletons der sog. Leitmedien erschienen sind und die wie folgt kommentiert wurden: „Eine blonde Jüdin, die mit den Nationalsozialisten kollaboriert? Das geht natürlich gar nicht in einer Zeit, wo man es als Widerspruch in sich begreift, wenn Juden in der AfD sind. Und es geht schon gar nicht in Buchform. Der Journalist Takis Würger hat genau das gewagt und wird dafür jetzt öffentlich hingerichtet“.2
1 Lothar Bewerunge, Hinrichtung in Düsseldorf, in: FAZ Nr. 246 v. 12. 11. 1979, S. 1. 2 Harald Tews, Die Kollaborateure. Ein Autor soll nicht mehr unterhalten dürfen, in: PAZ Nr. 8 v. 22. 02. 2019, S. 9 (mit Hinweisen auf die kritischen Besprechungen in der SZ, der Zeit und der FAZ: „Es klang wie eine konzertierte Aktion der Leitmedien“). Ausführlich Erik Lommatzsch, Im Abgrund eines Charakters. Wirbel um den Roman „Stella“: Die Jüdin, die im NS-Staat Juden jagte, überfordert manchen Zeitgenossen, in: PAZ Nr. 9 v. 01. 03. 2019, S. 12.
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Wenn ein Journalist in derartigen Fällen eine „Hinrichtung“ sieht, so befindet er sich mit dieser großzügigen Ausdrucksweise immerhin insofern in guter Gesellschaft, als auch der spätere Nobelpreisträger Günter Grass in einer solchen Kategorie zu denken beliebte – interessanterweise in Bezug auf Medien. So schrieb der in nicht wenigen Feuilletons gepriesene Großschriftsteller über die Darstellung der Kunst in der DDR in der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik nach der Wende: „Einst sorgsam gepflegte Freiräume – Feuilleton genannt – sind zu Hinrichtungsstätten umfunktioniert worden … Und als Christa Wolf auf den Richtplatz gezerrt wurde, sollte es nicht nur ihr an den Kragen gehen …“.3 Eine Hinrichtung ist wahrlich kein schöner Vorgang. Noch härter ist die Anschuldigung, jemand sei ein Mörder. Das Strafgesetzbuch definiert als Mörder, „wer aus Mordsucht, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet“ (§ 211 Abs. 2). Als eine so beschriebene Person, eben als „Mörder“, kann schwerlich jemand genannt werden, der oder die in einer demokratischen geheimen Wahl seine/ihre Stimme nicht entsprechend dem Wunsch einer Partei abgegeben hat. Bei der geplanten (Wieder-)Wahl von Heide Simonis zur Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein war genau dies geschehen: Jemand aus der Landtagsfraktion der SPD hatte sich der Stimme enthalten, was angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse zum Amtsverzicht der Ministerpräsidentin, also zum Sturz von Heide Simonis, führte. Der oder die nicht namentlich bekannte Dissentierende wurde in der Presse als der „Heide-Mörder“ denunziert. Unter der Überschrift „Nord-SPD jagt den ,Heide-Mörder‘. Die Sozi-Abgeordneten werden jetzt in Einzelgesprächen verhört“ war u. a. zu lesen: „Die Jagd nach dem „Heide-Mörder“ läuft derweil auf Hochtouren. SPD-Landeschef Claus 3 Günter Grass, Ein Schnäppchen namens DDR. Rede im Berliner Reichstag anlässlich der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, in: Günter Grass, Als der Zug abfuhr. Rückblicke auf die Wende, Göttingen 2009, S. 41 ff. (55). – Zur Kritik in den Feuilletons an Martin Walser s. Paul Jandl, Martin Walser hadert mit den großen Gefühlen. Mit 91 Jahren macht der Autor dort weiter, wo er immer schon das Beste aus sich herausgeholt hat: in der Poesie der Egozentrik, in: NZZ v. 04. 12. 2018, S. 39.
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D. Übertreibungen und Untertreibungen
Möller und Sozi-Fraktionschef Lothar Hay sind die Spürhunde, die den Fahnenflüchtigen gnadenlos hetzen. Auge in Auge fühlen sie jedem Verdächtigen mit bohrenden Fragen auf den Zahn … Wie lange hält der Gehetzte das durch? Wann wird er endlich einknicken? Und was passiert dann mit ihm oder ihr?“4 Weil das Bild vom Mord in diesem Fall so schön war, legte eine Christina Jäger in der „Hamburger Morgenpost“ noch einmal nach. Unter der Überschrift „Nach Simonis’ Demontage. Kieler Doppelmord“ vermutete sie, es scheine, als sollte mit der Stimmenthaltung im Landtag „gleich die gesamte Führung der Nord-SPD demontiert werden. Denn mit der Suche nach dem Verräter geraten alle ins Visier der Ermittler in Politik und Medien. Da hilft es wenig, dass Finanzminister Ralf Stegner vehement bestreitet, hinter dem ,Heide-Mord‘ zu stecken. Gegen Rufmord ist kein Kraut gewachsen.“ Engagiertes Fazit: Der Abweichler habe „gleich einen Doppelmord begangen: an der Landesmutter Simonis und ihrem ehemaligen Kronprinzen Ralf Stegner. Nimmt man das Ansehen der Sozialdemokraten in Deutschland als weiteres Opfer dazu, ist der Unbekannte fast ein Massenmörder.“5 Um noch einmal festzuhalten, um was es tatsächlich und konkret in Kiel ging: Ein Mitglied der SPD-Fraktion im Landtag von SchleswigHolstein hat bei der Abstimmung über die Wahl der (damals nicht unumstrittenen) Ministerpräsidentin nicht für Heide Simonis gestimmt; der oder die betreffende Abgeordnete hat damit von dem in der
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Nord-SPD jagt den „Heide-Mörder“. Die Sozi-Abgeordneten werden jetzt in Einzelgesprächen verhört, in: Hamburger Morgenpost v. 19./20. 03. 2005, S. 5 (dja). 5 Christina Jäger, Nach Simonis’ Demontage. Kieler Doppelmord, in: Hamburger Morgenpost v. 19./20. 03. 2005, S. 2. – Der in dem Kommentar erwähnte Ralf Stegner nannte das Verhalten des Abweichlers in einem offenen Brief eine „ehrlose Schweinerei“ (zit. in: Stegners offener Brief an den Verräter, in: Hamburger Morgenpost v. 19./20. 03. 2005, S. 4). – Das Wort „HeideMörder“ wurde 2019 wieder im Zusammenhang mit Stegner zitiert: „2005 tauchte ein Gerücht auf, das zum Karrierekiller hätte werden können. Selbst Parteimitglieder hatten damals den Verdacht, dass Stegner der ,Heide-Mörder‘ gewesen sein könnte – also derjenige Abgeordnete, der mit seinem Stimmverhalten in geheimer Wahl dafür sorgte, dass nicht Heide Simonis, sondern Peter Harry Carstensen (CDU) Ministerpräsident wurde“, in: HA v. 29. 03. 2019, S. 18.
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Landesverfassung garantierten freien Mandat Gebrauch gemacht.6 Wenn der Abweichler damit für eine Zeitungsredaktion „fast ein politischer Massenmörder“ ist, so kann man nur fragen: Geht es nicht auch ein wenig undramatischer? Nicht nur übertrieben, sondern geradezu makaber wird die Schreibe über den „Heide-Mörder“ noch aus einem anderen Grund. Während der medial beschriebene „Heide-Mörder“ in Wahrheit nichts, aber auch gar nichts mit einem Mord zu tun hatte, gab es tatsächlich einen Mörder, der in der Heide (nämlich der Nordheide bei Hamburg) drei Frauen vergewaltigt und danach erdrosselt hatte.7 Die Verbrechen dieses in der Presse als „Heidemörder“ bezeichneten Täters Thomas Holst erregten ein breites Aufsehen nicht nur wegen der grausamen Art der Ausführung sondern weil weitere Morde des gesuchten Täters befürchtet wurden. Eine zusätzliche Publizität erfuhr der Fall des „Heidemörders“ nach seiner Ergreifung und Verurteilung zu einer lebenslänglichen Strafe, zu verbüßen in der Psychiatrie der Anstalt Ochsenzoll; denn eine dort als Teilzeit-Beschäftigungstherapeutin angestellte Diplom-Psychologin verhalf diesem ihrem Patienten zur Flucht.8 War also im Zusammenhang mit der gescheiterten (Wieder)-Wahl der Heide Simonis von einem „Heide-Mörder“ die Rede, so musste jeder aufmerksame Zeitungsleser, vor allem auch die Hinterbliebenen der Opfer, unwillkürlich an den echten „Heidemörder“ denken. Unter diesem Aspekt war der Gebrauch des Ausdrucks „Heide-Mörder“ ein ungewöhnlich unsensibler journalistischer Sprachgebrauch. Historische Reminiszenz: Die Nicht-Wiederwahl von Heide Simonis zur Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein erinnert in gewisser Weise an die spätere Nicht-Wahl von Andrea Ypsilanti zur 6
Art. 11 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein bestimmt zur Stellung der Landtagsabgeordneten: „Bei der Ausübung ihres Amtes sind sie nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden.“ 7 Darstellung des Falles bei Yitzhak Goldfine/Peter Mathews, Die Wahrheit hinter der Wahrheit. Die Goldfine-Akten, Berlin/München/Zürich/Wien, 2016, S. 80 ff. 8 Die Fluchthelferin Tamar Segal heiratete 1997 Thomas Holst; 2003 klagten beide auf „Vollzug der Ehe“: „sie wollten sich regelmäßig und unbeobachtet in einem Besucherraum treffen dürfen“ (Goldfine/Mathews jFn. 7], S. 95).
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D. Übertreibungen und Untertreibungen
Ministerpräsidentin von Hessen im Herbst 2008, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass die vier Abweichler aus den Reihen der SPD sich offen zu ihrer Entscheidung bekannt hatten. Die publizistische Behandlung dieser Landtagsabgeordneten (Carmen Everts, Silke Tesch, Dagmar Metzger und Jürgen Walter) war kein Ruhmesblatt in der Berichterstattung jedenfalls des Hessischen Rundfunks.9 Der unpassende Gebrauch der Worte „Mord“ und „Mörder“ ist in den Medien kein publizistischer Einzelfall und nicht auf die Boulevardpresse beschränkt. Ein – inhaltlich im Übrigen durchaus gelungenes – Dossier in der Tageszeitung (taz) zum Beschluss des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, per vereinbartem Misstrauensvotum eine Neuwahl des Bundestages herbeizuführen, erschien unter der Überschrift „Kanzler-Mörder gesucht“.10 Ein Leser (= d. Verf.) faxte dem Autorenduo, dass ihm der Artikel gut gefallen habe, kritisierte aber: „Nicht schön finde ich die Überschrift ,Kanzler-Mörder gesucht‘. Mord und Mörder sind Worte, die sich nach meinem Geschmack nicht für Wortspiele eignen.“11 Ein neueres Beispiel, diesmal aus der Feder eines prominenten Journalisten, war die von Gabor Steingart gebrauchte Formulierung vom „perfekten Mord des Parteivorsitzenden Martin Schulz an Sigmar Gabriel“. Kurz darauf verlor Gabor Steingart seine Stellung als Chefredakteur und Herausgeber des „Handelsblatt“. Ob jene Formulierung der wahre oder alleinige Grund für seine Entlassung war, braucht hier nicht geklärt zu werden. Es genügt die Feststellung, dass die „Mord“-Bezeichnung als unpassend empfunden wurde, was immerhin als eine begrüßenswerte Abkehr von verbalen Übertreibungen und damit als Fortschritt in der Mediensprache zu werten ist. Keine
9 Dazu Michael Hanfeld, Wir bilden eine Legende. Hessisches Fernsehen lädt SPD-Konservative aus, in: FAZ Nr. 260 v. 06. 11. 2008, S. 42, u. a. auch mit der Beschreibung als „Treibjagd“. 10 Lukas Wallraff/Ulrike Winkelmann, Kanzler-Mörder gesucht. Alle spielen „schwarzer Peter“. Wie kommt man zum Misstrauensvotum? Wer spielt den Schuldigen? Der Streit darüber spaltet die Koalition, in: TAZ (Dossier) v. 30. 05. 2005, S. 3. 11 Kritik ohne Antwort.
D. Übertreibungen und Untertreibungen
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bloße Übertreibung, sondern eine veritable Falschberichterstattung betraf den Fall Sebritz.12 Die Kehrseite von publizistischen Übertreibungen sind Untertreibungen. Melioration nennen Juristen die Besänftigung von Bezeichnungen, so wenn z. B. aus dem „Kriegsminister“ der „Minister für Verteidigung“ wird, aus dem „Gefängnis“ die „Justizvollzugsanstalt“, aus der „elterlichen Gewalt“ die „elterliche Sorge“. Melioration ist aber nicht nur ein Werkzeug von Juristen sondern auch von Journalisten. Geradezu abenteuerlich ist es, wenn in einem sog. Qualitätsmedium in Bezug auf Flucht und Vertreibung von „der durch den Krieg hervorgerufenen Völkerwanderung von Ost nach West“ die Rede ist.13 Es war nicht die Redaktion der Zeitung, die diese Untertreibung korrigierte sondern ein Leserbrief dazu: „Dies ist nun wirklich ein bisher ungelesener Euphemismus bezüglich der Vertreibung von 15 Millionen Menschen, vor allem Deutschen, aus den Ostgebieten. Auf der Flucht sind rund drei Millionen Menschen elend umgekommen“.14 Hat keiner der Herausgeber jener Zeitung sich geschämt, als er in dem Leitartikel (!) auf Seite 1 von der „Völkerwanderung“ las? Ein neueres Beispiel für verharmlosende Berichterstattung bieten die Vorfälle im Hambacher Forst. Der Leiter des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, Burkhard Freier, wird dazu mit der Feststellung zitiert, dass in den Medien „die radikalen Waldbesetzer meistens verharmlosend als Aktivisten bezeichnet würden“, dies obwohl das, was im Hambacher Forst passiert, alles andere als eine friedliche Demonstration sei, „sondern eine ganz bewusst gewaltorientierte“.15 Gravierender ist ein unübersehbares, aber wenig diskutiertes Beispiel, das nicht vor unserer Haustür liegt, nämlich die Berichterstattung in deutschen und schweizerischen Medien hinsichtlich der Tötung von 12 Dazu Ulrich Wickert, Medien: Macht & Verantwortung, Hamburg 2016, S. 32: „Der wohl größte Presseskandal der letzten zwanzig Jahre.“ 13 Jörg Bremer, Kirche in Bewegung, in: FAZ Nr. 98 v. 28. 04. 2014, S. 1. 14 Brigitte Wacheck, Um Beistand bitten, in: FAZ Nr. 114 v. 17. 05. 2014, S. 8 (Leserbrief). 15 Zit. bei Reiner Burger, Moralisch wertvolle Gewalt? Warum NordrheinWestfalen verstärkt gegen Linksextremismus vorgehen will, in: FAZ Nr. 267 v. 16. 11. 2018, S. 8.
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D. Übertreibungen und Untertreibungen
Palästinensern im Konflikt mit Israel. Werden Palästinenser erschossen, so sind sie in Medienberichten regelmäßig „ums Leben gekommen“. Einige Beispiele von vielen für solche Berichte: „Der israelische Staat hat am Mittwoch die Folter von Gefangenen verteidigt … In mindestens einem Fall ist ein Palästinenser umgekommen, der gefesselt und heftig geschüttelt worden war.“16 „Eine Untersuchung der israelischen Streitkräfte ergab zwar, dass die Besatzung zweier Panzer, die am 16. April im Gazastreifen auf den 24 Jahre alten Bildjournalisten, einen Reuters-Tonmann und eine Gruppe Schaulustiger aus eineinhalb Kilometer feuerten, ihr Ziel nicht identifizieren konnten … Neben Sharia kamen acht weitere Palästinenser im Alter zwischen 12 und 20 Jahren ums Leben.“17 „Die israelische Armee lässt mehrere Vorfälle während des Gaza-Kriegs untersuchen … Zudem soll der Tod von vier Jungen am Strand von Gaza-Stadt am 16. Juli untersucht werden. Sie hatten dort Fußball gespielt und waren durch israelischen Beschuss umgekommen.“18 „Demonstranten, die auf die Grenzanlagen zugehen, Steine werfen und Autoreifen anzünden, treffen auf eine kompromisslose Armee, die „weichere“ Eindämmungsmaßnahmen gar nicht erst in Erwägung zieht, sondern Scharfschützen einsetzt. Über 30 Personen sind bisher ums Leben gekommen.“19 Der Sachverhalt, dass Palästinenser „ums Leben gekommen“ seien, wird nicht selten in noch ungewöhnlicherer Weise umschrieben, z. B.: „Ebenfalls untersucht wird ein von Soldaten verbreitetes Handyvideo, auf dem diese den Abschuss eines offensichtlich unbewaffneten Palästinensers vor dem Zaun bejubeln.“20 Israels Regierung sieht sich mit 16 Bericht (o.V.), Israel verteidigt die Folter von Verdächtigen, in: NZZ Nr. 10 v. 14. 01. 1999, S. 3. – Inzwischen ist die Folter auch in Israel für rechtswidrig erklärt. 17 Tod des Fadel Shana. Israel stellt sich hinter die Soldaten, in: FAZ Nr. 189 v. 14. 08. 2008, S. 46 (H.H.). 18 Untersuchung nach Gaza-Krieg, in: FAZ Nr. 211 v. 11. 09. 2014, S. 5 (hcr). 19 Ulrich Schmid, Kairo will Ruhe in Gaza. Ägyptens Präsident Sisi findet keinen Gefallen am palästinensischen „Marsch der Rückkehr“, in: NZZ v. 18. 04. 2018, S. 3. 20 Notiz Vom Journalisten zum Terroristen. Liebermanns Reaktion auf einen tödlichen Schuss in Gaza, in: FAZ Nr. 85 v. 12. 04. 2018, S. 5. – Das Wort „Abschuss“ ist zumindest in der Umgangssprache nur in Bezug auf Tiere oder Flugzeuge üblich.
D. Übertreibungen und Untertreibungen
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Vorwürfen konfrontiert, „nachdem sie ihre Ankündigung wahrmachte und auch Scheich Jassin Ahmed Rantisi, gerade vier Wochen lang Chef der Hamas-Terrororganisation, eliminierte“.21 „Eliminieren“ ist auch ein Sprachgebrauch der israelischen Armee. Als Antwort auf die Kritik der im Mai 2018 vom Menschenrechtsrat der UNO eingesetzten Untersuchungskommission zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen an der Grenze zum Gazastreifen, die eine inadäquate übertriebene Gewaltanwendung rügte, verlautbarte die Armee: „Als Erstes feuere man Warnschüsse ab, wenn Menschen dem Zaun „zu nahe“ kämen … Wer dennoch weitergehe, werde unter Beschuss genommen, man ziele auf die Beine. Es gehe darum, die „zentralen Aufrührer“ zu eliminieren.“22 Terroristen werden allerdings zumeist nicht „eliminiert“, sondern „liquidiert“. Hendryk M. Broder schrieb: „Eine Woche nach der Entführung der Air-France-Maschine, in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1976, landete ein israelisches Kommando in Entebbe, liquidierte die Geiselnehmer, befreite die Geiseln aus der Obhut der ugandischen Armee und flog sie über Nairobi nach Tel Aviv.“23 Unter der Überschrift „Liquidieren mit Stil“ berichtet Joseph Croiturou in der FAZ im Zusammenhang mit Medienberichten in Israel über einen angeblichen Mossad-Anschlag auf den Palästinenserführer Mabhuh von einem Gespräch zwischen dem damaligen Staatspräsidenten Schimon Peres und Verteidigungsminister Ehud Barak: Dieser Sarkozy „attackiert uns immer wieder wegen dieses Mordes“, entrüstete sich Peres und wurde vom Verteidigungsminister prompt korrigiert: „Nicht Mord, es war eine Liquidierung.“ Ein gefundenes Fressen für den Radiomoderator Gazit, der triumphierte: „Wir haben Mabhuh also nicht ermordet, wir haben ihn liquidiert.“24 Anmerkung eines Lesers: Der Ausdruck „liquidieren“ für die Tötung von Menschen war vorher eigentlich nur aus der Sprache des NKWD bekannt. Deshalb wirkt es wenig sensibel, 21 Friedemann Diederichs, Gesetz und Moral, in: Braunschweiger Zeitung v. 21. 04. 2004, S. 4. 22 Zit. bei Ulrich Schmid, Streit um Gaza-Bericht. Experten kritisieren Israel für Menschenrechtsverletzungen, in: NZZ v. 01. 03. 2019, S. 9. 23 Hendryk M. Broder, „Die Einlösung der Israel-Frage“, in: WamS Nr. 10 v. 04. 03. 2012, S. 5 f. (6). 24 Joseph Croitoru, Liquidieren mit Stil. Auch Israels Medien wollen das Dubai-Rätsel lösen, in: FAZ Nr. 45 v. 23. 02. 2010, S. 33.
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D. Übertreibungen und Untertreibungen
wenn selbst in Qualitätsmedien der Ausdruck „liquidieren“ für die Tötung von Menschen verwendet wird, wie z. B. in dem bereits erwähnten Beitrag: „Streit um Gaza-Bericht“ in der NZZ: „Viele Beobachter, die Israels Recht auf Selbstverteidigung nicht anzweifeln, haben sich gefragt, ob es wirklich nötig sei, mit schwerer Spezialmunition nach Gaza hinein zu schießen, um als gefährlich eingestufte Personen zu liquidieren.“25 Es war wiederum ein Leserbrief, der eine andere unscharfe Formulierung konkretisierte, nämlich die in einer Buchbesprechung gebrauchte Formulierung vom „gewaltsamen Tod“ des UN-Vermittlers Graf Folke Bernadotte, der in Wahrheit von Mitgliedern der „Stern-Gruppe“ in Jerusalem ermordet wurde.26 Eine Kritik an Untertreibungen oder Meliorationen in deutschen Medien in deren Berichterstattung über Israel wird allerdings die historisch begründete Besonderheit des deutsch-israelischen Verhältnisses nicht unberücksichtigt lassen können.
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Ulrich Schmid (Fn. 22). Leserbrief von Dieter Neuhaus, Der Tod von Folke Bernadotte, in: FAZ Nr. 131 v. 10. 06. 2013, S. 8 (zu der Buchbesprechung „Weiße Busse im Inferno“ von Michael Wildt in: FAZ v. 21. 05. 2013). 26
E. Der angebliche Untergang des Rechtsstaates Der Fall Sami A. beherrscht zwar nicht mehr die Schlagzeilen der sog. Qualitätsmedien, aber die Berichterstattung über diesen Fall wird wegen ihrer ungewöhnlichen Intensität noch lange Zeit nicht vergessen sein. Zur Erinnerung1: Der aus Tunesien stammende, als sog. „Gefährder“ betrachtete Dschihadist Sami A., der zeitweilig zur Leibgarde des Terroristen Usama Bin Ladin gehört haben soll, wurde am 13. Juli 2018 in einem eigens dafür gecharterten Flugzeug nach Tunesien abgeschoben. Obwohl sein Asylantrag schon vor Jahren abgelehnt worden war und er deshalb seit langer Zeit „vollziehbar ausreisepflichtig“ war, gelang es ihm immer wieder, sich den Rechtsstaat zunutze zu machen und immer wieder ein Abschiebeverbot zu erwirken, weil verschiedene Gerichte meinten, dass dem Sami A. in Tunesien möglicherweise Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) jedoch festgestellt hatte, dass ein Abschiebehindernis nicht mehr bestehe, ordnete der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) die Abschiebung an, dies zu einem Zeitpunkt, in dem das von Sami A. angerufene Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in dieser Sache noch nicht entschieden hatte. Einen Tag vor der Abschiebung verhängte das Gericht einen Abschiebestopp. Weil die Abschiebung dennoch erfolgt war, sah das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in diesem Vorgang eine Verletzung „grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien“.2 Noch schärfer urteilte das als nächste Instanz angerufene Oberverwaltungsgericht Münster: Die Abschiebung des Sami A. sei 1
Die folgenden Informationen stammen vor allem aus den Artikeln von Reiner Burger, Das vorläufige Ende des Falls Sami A. Warum der Streit um die Abschiebung des Gefährders nun beigelegt ist, in: FAZ Nr. 272 v. 22. 11. 2018, S. 4; ders., Der Rechtsstaat heilt seine Wunden. Das Abschiebeverbot für den islamistischen Gefährder Sami A. bleibt aufgehoben, in: FAZ Nr. 14 v. 17. 01. 2019, S. 4. 2 Zit. bei Reiner Burger, Der Rechtsstaat heilt seine Wunden (Fn. 1).
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„evident rechtswidrig“ gewesen; die Nichtbekanntmachung des Abschiebetermins an das Verwaltungsgericht sei „mit rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Gewaltenteilungsprinzip nicht vereinbar“.3 Auf Antrag der Rechtsanwältin von Sami A. hatte das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen am 3. August 2018 die Stadt Bochum zur Rückholung des Sami A. verpflichtet und für den Fall der Nichterfüllung dieser Verpflichtung ein Zwangsgeld in Höhe von 10 000 Euro festgesetzt; die Festsetzung des Zwangsgeldes wurde später vom Oberverwaltungsgericht Münster aufgehoben, weil die Stadt Bochum inzwischen „alles in ihrer Macht Stehende getan habe, um den Tunesier zurückzuholen“.4 Der Fall des Sami A. wurde selbst in Qualitätsmedien in einer Weise hochgepuscht, dass der Eindruck entstehen musste (und wohl auch sollte), dass der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland in Gefahr sei. Zutreffend hat der Präsident des Verwaltungsgerichts Düsseldorf Andreas Heusch in diesem Zusammenhang vor einer Verallgemeinerung des Falles des Sami A. mit der Feststellung gewarnt: „Es handelt sich nach meiner Einschätzung um einen Einzelfall, aus dem man keine Vertrauens-, Verfassungs- oder Rechtsstaatskrise herleiten kann.“5 Angeheizt waren die Emotionen in diesem Fall allerdings auch durch eine zumindest unkluge Äußerung der Präsidentin des mit der Hauptsache befassten Oberverwaltungsgerichts Münster, Ricarda Brandts, die in einem Interview meinte sagen zu müssen, im Fall Sami A. seien offensichtlich „die Grenzen des Rechtsstaats ausgetestet“ worden, und sie rate Richtern nach den jüngsten Erfahrungen, sich auf Zusagen von Behörden nicht mehr in jedem Fall zu verlassen.6 3
Zit. bei Reiner Burger (Fn. 2). Notiz Bochum muss kein Zwangsgeld zahlen, in: FAZ Nr. 200 v. 29. 08. 2018, S. 4. 5 Zum Rechtsstaatbegriff allgemein schon früh Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1986. – Zur Stärkung des Rechtsstaates s. das vom Deutschen Richterbund herausgegebene Zehn-Punkte-Papier zur Stärkung des Rechtsstaates. Rechtspolitische Eckpunkte für die 18. Wahlperiode, in: MHR 3/2013, S. 3 ff. 6 Zit. in Notiz „Causa Sami A. ein Einzelfall“. Gerichtspräsident: Es gibt keine Vertrauenskrise, in: FAZ Nr. 197 v. 25. 08. 2018, S. 4. – Verallgemeinernd und raunend dagegen Katarina Barley, Rechtsstaatliche Prinzipien werden offen in Frage gestellt, in: FAZ Nr. 50 v. 28. 02. 2019, S. 7: „… Gerichtliche Ent4
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Als Verteidiger des im Fall des Sami A. durch die nordrheinwestfälische Landesregierung angeblich missbrauchten Rechtsstaates trat auch der frühere Landesjustizminister und jetzige Oppositionsführer im Landtag von Nordrhein-Westfalen Thomas Kutschaty (SPD) auf, der in einem Interview dem Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) wegen der Abschiebung des Sami A. vorwarf: „Man darf den Rechtsstaat nicht missbrauchen, um seine politischen Ziele durchzusetzen“, und: „Die Justiz ist belogen und betrogen worden“; und: „Diese Landesregierung hat offensichtlich ein gestörtes Verhältnis zum Rechtsstaat“.7 Peinlich für den Herrn Oppositionsführer, aber auch kein gutes Zeugnis für die Vorbereitung des Interviewers auf das Gespräch, ist allerdings die Tatsache, dass schon am folgenden Tag eine Information aus der Amtszeit von Thomas Kutschaty in derselben Zeitung zu lesen war, die seine Kritik in einem faden Licht erscheinen lässt: Der bereits erwähnte Präsident des Verwaltungsgerichts Düsseldorf Andreas Heusch erinnert nämlich daran, dass Anfang 2015 der damalige Oberbürgermeister von Düsseldorf Thomas Geisel einen Beschluss des dortigen Verwaltungsgerichts, der ihm das demonstrative Ausschalten der Lichter an städtischen Gebäuden wegen einer politisch missbilligten Veranstaltung untersagt hatte, einfach missachtete (begründet mit der öffentlichen Erklärung, dies sei nicht Sache der Gerichte, sondern „seine Kanne Bier“), ohne dass der damalige Justizminister Kutschaty Veranlassung gesehen hatte, „diesem offenen Rechtsungehorsam des Oberbürgermeisters entgegenzutreten“.8 Es war ein Leser, nicht der das Interview führende Journalist, der an die Kumpanei des Schweigens zwischen dem damaligen Justizminister der SPD und dem ebenfalls der SPD angehörenden Oberbürgermeister erinnerte: „Es ist möglich, dass ihm (gemeint ist: Kutschaty, d. Verf.) der seinerzeitige Vorfall nicht mehr in Erinnerung war. Dann kann man es ihm nachsehen. Wenn das jedoch nicht der Fall war, dann betrachte ich die
scheidungen werden missachtet … Rechtsstaatliche Prinzipien werden in Deutschland offen in Frage gestellt…“. 7 Im Gespräch: Thomas Kutschaty (SPD), Oppositionsführer im nordrheinwestfälischen Landtag. „Die Justiz ist belogen und betrogen worden“ (Interview), in: FAZ Nr. 196 v. 24. 08. 2018, S. 4. 8 Zit. nach „Causa Sami A. ein Einzelfall“ (Fn. 6).
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Äußerungen von ihm als heuchlerisch, da sie offensichtlich dazu dienen, die Skandalisierung des Falles Sami A. noch weiter zu treiben.“9 Die bemerkenswerte Art von Solidarisierung in einem deutschen Qualitätsmedium mit dem islamistischen Gefährder Sami A. zeigt sich noch in einem anderen Interview, diesmal geführt von Helene Bubrowski und Eckart Lohse mit der damaligen Bundesjustizministerin Katarina Barley. Nach der Eingangsfrage „Frau Ministerin, haben die Vorkommnisse im Fall Sami A. das Vertrauen zwischen Behörden und Gerichten zerstört?“ setzen die Fragesteller noch einmal nach mit dem martialisch formulierten Vorwurf: „Warum hat noch kein Politiker, weder im Bund noch in Nordrhein-Westfalen, auf den Tisch gehauen und gesagt, dass nun alles dafür getan werden müsse, Sami A. zurückzuholen und alles dafür zu tun, dass er ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren bekommt?“10 Inzwischen ist die Rede davon, dass „der womöglich letzte Akt im Fall von Sami A.“11 begonnen habe. Hier die Daten der neueren Etappen12 : Anfang November 2018 legte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen geforderte tunesische Zusicherung in Form einer diplomatischen Verbalnote vor, dass Sami A. in seinem Heimatland weder Folter noch unmenschliche Behandlung drohe.13 Aufgrund dieser Zusicherung hob die für Eilverfahren zuständige Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen das Abschiebeverbot auf, womit die im Juli vom Integrationsministr Joachim Stamp angeordnet Abschiebung gleichsam rückwirkend genehmigt wurde. Am 16. Januar 2019 bestätigte das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren die bereits im Eilverfahren getroffene Entscheidung; diese wiederum wurde schließlich letztinstanzlich vom Oberverwaltungsgericht Münster bestätigt, weil durch die Verbalnote 9 Karl Schleef, Rechtsungehorsam (Leserbrief), FAZ Nr. 209 v. 8. 09. 2018, S. 22. 10 Im Gespräch: Katarina Barley. „Der Respekt vor dem Staat nimmt ab“ (Interview), in: FAZ Nr. 194 v. 22. 08. 2018, S. 2. 11 Formulierung von Reiner Burger, Der Rechtsstaat heilt seine Wunden (Fn. 1). 12 Die folgenden Informationen finden sich in den beiden Artikeln von Reiner Burger (Fn. 1). 13 Notiz Verbalnote zu Sami A., in: FAZ Nr. 256 v. 03. 11. 2018, S. 5.
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„der durch die Abschiebung zunächst geschaffene rechtswidrige Zustand entfallen sei“.14 Darf man nach diesem Ende des Falles Sami A. sagen: „Tant de bruit pour une omelette“? Wohl kaum; denn auch wenn dieser Fall allein und für sich betrachtet weder zu einer „Erosion des Rechtsstaates“ oder dessen „Gefährdung“ noch gar zu einer „Verfassungskrise“ geführt hat15, so bleiben doch etliche Fragen nicht zuletzt an die über den Fall berichtenden Medien. So hätte den Leser interessiert, wie es dem als Gefährder eingestuften Sami A. möglich war, sich jahrelang „den deutschen Rechtsstaat zunutze zu machen“16, obwohl sein Asylantrag schon vor Jahren abgelehnt worden war. Auch hätte es den Leser interessiert zu erfahren, aufgrund welcher Kriterien die Einstufung des Sami A. als „Gefährder“ erfolgte. Naturgemäß hat der Rechtsstaat seine Kosten17; aber wenn in einem Zeitungsbericht zu lesen ist, dass Sami A. obwohl „vollziehbar ausreisepflichtig“ in Deutschland bleiben durfte „und musste obendrein vom Steuerzahler alimentiert werden“, so drängt sich für den Leser die in dem Artikel nicht beantwortete Frage auf, was der Tunesier inzwischen den deutschen Steuerzahler gekostet hat. Auch vermisst der Leser in der Berichterstattung von Mitte Januar 2019 einen Hinweis darauf, dass der Bundestag schon Anfang Januar 2019 Tunesien (neben Marokko, Algerien und Georgien) zu einem der 14
S. 7.
Zit. nach Notiz Sami A. bleibt in Tunesien, in: FAZ Nr. 136 v. 14. 06. 2019,
15 Zu diesen Formulierungen allg. z. B. Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Erosion von Demokratie und Rechtsstaat? Beiträge auf der 17. Speyerer Demokratietagung vom 26. bis 27. Oktober 2017 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2018; Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ist der Rechtsstaat in Gefahr?, in: liberal 04.2018, S. 14 ff.; Reinhard Müller, Risse im Rechtsstaat?, in: FAZ Nr. 204 v. 03. 09. 2018, S. 1; Volker Rieble, Schwächen sind dem Recht immanent. Ständig ist die Rede vom gefährdeten Rechtsstaat – doch punktuelle Verstöße stellen ihn nicht in Frage, in: FAZ Nr. 213 v. 13. 09. 2018, S. 8; s. auch Notiz Rechtsstaatskritik überzogen (Äußerungen des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier und des Präsidenten des hessischen Staatsgerichtshofs Roman Posseck), in: FAZ Nr. 256 v. 03. 11. 2018, S.5. 16 Formulierung von Reiner Burger, Der Rechtsstaat heilt seine Wunden (Fn. 1). 17 Grundlegend dazu: Fritz Scharpf, Die politischen Kosten des Rechtsstaats, Eine vergleichende Studie der deutschen und amerikanischen Verwaltungskontrolle, Tübingen 1970.
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„sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt hatte, wie dies übrigens bereits der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom Februar 2018 bestimmte.18 Schließlich hätte es den Leser der zahlreichen und ausführlichen Berichte über das Schicksal des Sami A. mit Sicherheit interessiert, was aus ihm nach seiner Rückführung in sein Heimatland Tunesien geworden ist. Eine darüber informierende Recherche wäre allerdings aufwändiger gewesen als ein Schreibtischkommentar zur angeblichen Erosion des Rechtsstaates. Wenn von einer Erosion des Rechtsstaates die Rede ist, könnten und sollten die Medien sich vielleicht mehr um die Erosion des im demokratischen Rechtsstaat so wichtigen Grundrechts der Versammlungsfreiheit als um die Story des Medien-Darlings Sami A. kümmern. Immerhin ist anerkennenswert, dass ein Beitrag des u. a. auf Fragen des Versammlungsrechts spezialisierten Prof. Jürgen Schwabe von der Universität Hamburg unter der Überschrift „Im rechtsfreien Raum“ veröffentlicht worden ist.19 Jürgen Schwabe weist in seinem Beitrag darauf hin, dass die Aufforderung, eine Versammlung durch eine Blockade zu vereiteln, nach § 111 Strafgesetzbuch strafbar ist, ebenso wie die Blockade selbst nach § 21 des Versammlungsgesetzes. Gleichwohl dankte der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit einem Bündnis „Berlin Nazifrei“, das mit 5 000 Anhängern eine Demonstration von 100 Rechtsextremisten erfolgreich verhindert und anschließend diesen Sieg gefeiert hatte, ausdrücklich. Kommentar Schwabe: „Irgendeine kritische Stellungnahme hierzu war kaum auszumachen – auch ein medialer Offenbarungseid“, und: „Berlin ist kein Einzelfall … Im Ergebnis ist die Strafnorm des § 21 des Versammlungsgesetzes durch Ignorieren und Nichtanwenden außer Kraft gesetzt worden. Solch eine Missachtung eines Parlamentsge-
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Abschnitt VIII Nr. 4: „Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung werden Algerien, Marokko und Tunesien sowie weitere Staaten mit einer regelmäßigen Anerkennungsquote unter fünf Prozent zu sicheren Herkunftsstaaten bestimmt.“ 19 Jürgen Schwabe, Im rechtsfreien Raum. Die Blockade einer erlaubten Versammlung ist strafbar. Doch wird diese Straftat nicht verfolgt. Im Gegenteil: Die Politik ruft oft dazu auf. Die Aberkennung eines Grundrechts, in: FAZ Nr. 169 v. 24. 07. 2014, S. 6; s. auch ders., Erosion im Versammlungsrecht oder Legalitätsprinzip nach Belieben, in: Thür. VBl. 2016, S. 57 ff.; ders., Das Versammlungsrecht in Theorie und Praxis, VBlBW 2016, S. 106 f.
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setzes durch die Exekutive gab es bislang noch nie.“20 Verglichen mit dieser fortwährenden Erosion des Prinzips der Gewaltenteilung21 war die diesbezügliche mediale Aufregung im Fall des Sami A. wohl nur ein Sturm im Wasserglas. Interessant bleibt in jedem Fall die von Annegret Kramp-Karrenbauer geäußerte Meinung, der deutsche Rechtsstaat lasse sich nicht auf der Nase herumtanzen.22 Schließlich lässt sich auch die Frage stellen, ob ein ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts (in diesem Fall: Hans-Jürgen Papier) von „Erosionserscheinungen des Rechtsstaates“ reden sollte.23 Die wochenlange mediale Aufregung im Fall des Sami A. entzündete sich vordergründig an der Behauptung der Missachtung einer Gerichtsentscheidung durch die Exekutive. Da dieser Vorgang so viel Anlass für Erregung bot, drängt sich dem Leser die Frage auf, warum in einem anderen Fall, in dem die Exekutive sich offen und gewollt über eine Entscheidung sogar des Bundesverfassungsgerichts hinwegsetzte, ein ähnlicher medialer Aufschrei unterblieb.24 Die Antwort lautet vermutlich: Sami A. war den Medien sympathischer als die NPD. Der Sachverhalt: Der unsympathischen Partei hatte die Stadtverwaltung Wetzlar im Frühjahr 2018 die Nutzung der Stadthalle für eine Wahlkampfveranstaltung untersagt. Auf die dagegen gerichtete Klage der NPD verurteilte das Verwaltungsgericht Gießen und in 2. Instanz der Hessische Verwaltungsgerichtshof die Stadt Wetzlar zur Erteilung der Nutzungsgenehmigung. Da die Stadtverwaltung dennoch erneut die 20
Jürgen Schwabe (Fn. 19). – Zur Blockade eines ganzen Parteitages (der AFD): Jan Fleischhauer, Demokratie und Feigheit. Jagdszenen am Rhein. Wo ist eigentlich der Bundespräsident, wenn man ihn braucht? In Köln wurden AfDDelegierte von der Antifa drangsaliert und bedroht – und die politische Klasse in Deutschland scheint das völlig in Ordnung zu finden, in: Der Spiegel Online v. 24. 04. 2017. 21 Kritisches Bonmot zur Gewaltenteilung bei Irene Brezˇná, Die undankbare Fremde. Roman, Köln 2013, S. 32: „Das Land war stolz auf die Gewaltenteilung. Aber Mara ließ sich davon nicht beeindrucken: ,Das kennen wir. Die einen üben Gewalt aus, und die anderen teilen aus‘.“ 22 Zit. bei Jasper von Altenbockum, Nicht verplempert, in: FAZ Nr. 37 v. 13. 02. 2019, S. 1. 23 Hans-Jürgen Papier, „Der Staat setzt Recht nicht durch“, in: Bild v. 05. 11. 2018, S. 1 (Interview, S. 2). 24 Nachfolgende Schilderung des Falles bei Toni Wowtscherk, Wetzlar: Eine Kleinstadt ignoriert das Bundesverfassungsgericht in: RuP H. 1/2019, S. 40 ff.
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Genehmigung versagte, drohte das Verwaltungsgericht Gießen ein Zwangsgeld an, falls die Stadt die Halle der Klägerin nicht zur Nutzung überlasse; die hiergegen gerichtete Beschwerde der Stadt beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof hatte wiederum keinen Erfolg. Trotz dieser Gerichtsentscheidungen blieb die Stadtverwaltung bei ihrer Versagung. Die NPD beantragte deshalb beim Bundesverfassungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht entschied: Der Stadt Wetzlar wird aufgegeben, der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung Folge zu leisten und dem Antragsteller die Stadthalle für die Durchführung einer Wahlkampfveranstaltung zu überlassen. Der Oberbürgermeister der Stadt, Manfred Wagner (SPD), ließ zwar durch einen Sprecher mitteilen, die Stadt Wetzlar „erkenne diese Urteile selbstverständlich an“, änderte aber seine negative Entscheidung nicht. Anmaßender als die Stadtverwaltung von Wetzlar hat wohl noch keine Exekutive das höchste deutsche Gericht ignoriert. Kritik der Qualitätsmedien dazu? Fehlanzeige.
F. Dürftige Geschichtskenntnisse Tageszeitungen, Wochenzeitschriften und Magazine sind keine historischen Fachzeitschriften. Journalisten müssen keine examinierten Geschichtswissenschaftler sein. Dennoch sollte ein Minimum an Geschichtskenntnissen vorhanden sein, wenn jemand sich publizistisch mit historisch relevanten Ereignissen befasst. Der Zweite Weltkrieg und die unmittelbar darauf folgende Nachkriegszeit sind inzwischen so intensiv erforschte Ereignisse, dass für Irrtümer oder Mythen jedenfalls in Bezug auf bekannte Vorgänge und Ereignisse eigentlich kein Anlass besteht. Dennoch erlebt der Leser selbst bei Beiträgen in den sog. Qualitätsmedien immer wieder Überraschungen, die von – gelinde gesagt – mangelhaften Geschichtskenntnissen der Autoren oder Interviewer zeugen. Gelegentlich, aber längst nicht immer, wird eine Falschinformation durch ein Korrigendum der Redaktion repariert, so z. B. mit der in der „Neuen Zürcher Zeitung“ abgedruckten Richtigstellung: „Im Artikel ,Spielen, bis die Deutschen kommen‘ (NZZ 26.05.14) sind der Autorin zwei Fehler unterlaufen. Die deutsche Wehrmacht ist im Zweiten Weltkrieg in Dänemark und Norwegen, nicht aber in Schweden einmarschiert, wie das im Bericht irrtümlich behauptet wird. Auch ist die Bezeichnung Tschechien falsch. Korrekt musste es Tschechoslowakei heißen“.1 Kein Korrigendum brachte die Schweizer Wochenzeitschrift „Die Weltwoche“, als deren Autor Peter Bodenmann im Zusammenhang mit der griechischen Finanzkrise die deutsche Bundeskanzlerin scharf kritisierte und dazu schrieb: „Zwischen 1939 und 1945 legte das Dritte Reich Europa samt Griechenland in Schutt und Asche.“2 Ein Leserbrief, der die schlimmen Verbrechen des 1
Korrigendum, in: NZZ Nr. 121 v. 27. 05. 2014, S. 20. Peter Bodenmann, Griechenland. Suppenküchen dank Merkel, in: Die Weltwoche Nr. 29/2015, S. 24. – Charakterbild von Peter Bodenmann bei Marc Tribelhorn, Ansichten eines Orakels. Als SP-Chef überlistete Peter Bodenmann regelmäßig seine Gegner – auch als Hotelier weiß er fast alles besser, in: NZZ v. 27. 08. 2019, S. 15. 2
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F. Dürftige Geschichtskenntnisse
NS-Regimes durchaus erwähnte, aber die Behauptung des Autors, dass „Europa in Schutt und Asche“ gelegt wurde, als übertrieben (und damit falsch) kritisierte3, wurde von der Redaktion nicht veröffentlicht. Dem Autor jener Falschinformation hätte zwar bekannt sein können, dass einige Länder Europas, insbesondere Polen und die Sowjetunion, unter dem von Hitler begonnenen Krieg – wie jeder weiß – schwer gelitten haben, aber es hätte ihm auch bekannt sein müssen, dass etliche europäische Länder – insbesondere die Schweiz – eben nicht in Schutt und Asche gelegt wurden. Falschinformationen zum Zweiten Weltkrieg finden sich aber nicht nur in Schweizer Medien. Der später als „Geschichtenerzähler“4 unrühmlich bekannt gewordene Journalist Claas Relotius schrieb im Spiegel, die Wehrmacht habe im Jahr vor 1941 „Frankreich überfallen“.5 Tatsache ist dagegen, dass Frankreich nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 dem Deutschen Reich am 3. September 1939 den Krieg erklärt hatte , nicht umgekehrt, so dass von einem Überfall der Wehrmacht auf Frankreich wohl schwerlich die Rede sein kann.6 Immerhin könnte der Leser mit viel gutem Willen den von Relotius erwähnten „Überfall der Wehrmacht“ in den späteren Angriff der Wehrmacht am 10. Mai 1940 uminterprätieren. Eindeutig und in jedem Fall falsch ist die von Georges-Arthur Goldschmidt in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ aufgestellte Behauptung, Paris sei „dank des schwedischen Generalkonsuls Nordling“ von der von Hitler verlangten völligen Zerstörung verschont geblieben.7 Tatsache ist 3
Leserbrief des Verf. (unveröffentlicht). Ausdruck bei Michael Hanfeld, Geschichtenerzähler. Der „Spiegel“ wartet mit einer Enthüllung in eigener Sache auf: Ein Redakteur hat massive journalistische Fälschungen begangen. Er schrieb früher auch für andere. Das Ausmaß des Falles ist beachtlich, in: FAZ Nr. 296 v. 20. 12. 2018, S. 13. 5 Claas Relotius im Spiegel-Gespräch mit Traute Lafrenz „Kehrt nicht auch das Böse, wenn man es lässt, eines Tages zurück?“, in: Der Spiegel Nr. 39 v. 22. 08. 2018, S. 58 ff. (60). 6 Zum „Überfall auf Frankreich“ s. auch den Leserbrief von Joachim Kuropka, Überfall, in: FAZ Nr. 126 v. 04. 06. 2013, S. 30. 7 Nach der Okkupation. Zwischen Kollaboration und Résistance: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt über Frankreichs Nachkriegsgesellschaft und das Jahr 1968. Gespräch geführte von Jan Bürger, in: FAZ Nr. 131 v. 09. 06. 2018, S. 18. – Zu Goldschmidt neuestem Buch „Der Ausweg“ (deutsche Übersetzung von „Le Recours“, Frankfurt a.M. 4
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vielmehr, dass nicht der schwedische Generalkonsul, der ja keinerlei Befehls- und Kommandogewalt über die deutschen Besatzungstruppen hatte, Paris vor der Zerstörung bewahrt hat, sondern dass dies unbestreitbar das Verdienst des Militärbefehlshabers von Groß-Paris, General Dietrich von Choltitz, war.8 Der schwedische Generalkonsul hatte in Wahrheit lediglich eine kurzzeitige Waffenruhe zwischen der Resistance und der deutschen Garnison vermittelt, die aber vom „Pariser Befreiungsausschuss“ am 21. August aufgekündigt wurde.9 Eine andere falsche Information zum Verlauf des Zweiten Weltkriegs findet sich in einem Interview, das der Agrarwissenschaftler Theodor Bergmann der „Süddeutschen Zeitung“ gegeben hat.10 Auf die von der Interviewerin Franziska Augstein an ihn gestellte Frage: „Welches Land ist gut geführt?“ antwortet Theodor Bergmann: „Mit meiner Frau hatte ich vereinbart, nach der Wiedergeburt, an die wir nicht glauben, uns in Neuseeland zu treffen. Die haben immerhin keine Kriege geführt.“ Tatsache ist dagegen, dass Neuseeland in beiden Weltkriegen als britisches Dominion das Mutterland militärisch unterstützt hat und damit eine der kriegführenden Mächte war. Folgerichtig hat Neuseeland deshalb an der Seite der Siegermächte den Versailler Friedensvertrag unterzeichnet. Die Besonderheit der historisch unrichtigen Informationen in den beiden hier erwähnten Gesprächen war, dass es sich eben nicht um Äußerungen von Journalisten handelte, sondern um Äußerungen von deren Interviewpartnern. Für den Leser bleibt aber dennoch in beiden Fällen das Faktum einer falschen Presseinformation. Die Frage drängt sich auf: Gibt es insoweit auch zumindest eine Mitverantwortung des 2014) s. die Besprechung von Herbert Wiesner, Dieser Seelenmord verjährt niemals. Das Ich im Schmerz: Georges-Arthur Goldschmidt erzählt ergreifend von der Schuld, die die Schoah-Überlebenden empfinden, in: Die Welt v. 18. 04. 2015. 8 Siehe dazu Thankmar von Münchhausen, Paris. Geschichte einer Stadt von 1800 bis heute, München 2007, S. 505. 9 Zit. bei Thankmar von Münchhausen (Fn. 8), S. 503. 10 „Ein Kommunist jammert nicht.“ Der Agrarwissenschaftler Theodor Bergmann hat einen guten Überblick über die Zeitläufte: Er ist 100 Jahre alt. Als Jugendlicher musste er Deutschland wegen der Nazis verlassen, in Israel schlug er sich als Tagelöhner durch. Ein Gespräch über Kapitalismus, eine gerechtere Gesellschaft und Geldnot. Interview mit Franziska Augstein, in: SZ Nr. 238 v. 14. 10. 2016, S. 22.
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Interviewers? Ich meine: ja. Um mit dieser Einschätzung nicht allein zu stehen, habe ich einen erfahrenen älteren Journalisten, der lange Jahre bei einem sog. Qualitätsmedium beschäftigt war, aber namentlich nicht genannt werden möchte, nach seiner Einschätzung des Interviews mit Georges-Arthur Goldschmidt zur Rettung von Paris befragt, und folgende Antwort erhalten: „Zum Hergang lässt sich sagen, dass es sich um ein Interview mit Frage und Antwort handelt. Einwände hätten noch im Verlauf des Gesprächs vom Interviewer erhoben werden müssen. Dass dies nicht geschah, mag an Wissenslücken des Fragestellers oder auch an der Selbstzensur der ,politischen Korrektheit‘ liegen. Ist das Interview abgeschlossen oder vom Befragten gebilligt, kann die Redaktion keine Änderungen vornehmen und keine Richtigstellung nachliefern. Vielleicht fehlen bei den nachwachsenden Redakteuren auch die zeitgeschichtlichen Kenntnisse, die für uns selbstverständlich sind.“ Die definitiv falsche Behauptung in dem Interview wurde in einem Leserbrief korrigiert.11 Die Vermutung liegt nahe, dass der Leserbrief (mit der darin enthaltenen Korrektur) der Redaktion als Richtigstellung von außen willkommen gewesen ist. Mängel in der Information durch die sog. Qualitätsmedien müssen aber nicht immer auf mangelhaften Geschichtskenntnissen beruhen. Anders ausgedrückt: Informationsdefizite können auch auf bewusst einseitiger Wahrnehmung beruhen, also eine Form von engagiertem Journalismus darstellen. Ein publizistisches Beispiel hierfür ist das Beschweigen der völkerrechtswidrigen Angriffe von Partisanen auf deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg. Informiert wird der Leser in solchen Fällen erst durch Leserbriefe, falls solche zu den hierzu schweigenden Artikeln verfasst und abgedruckt werden. Ein Beispiel einer solchen aufklärenden Reaktion auf einseitige Artikel zum Verhalten deutscher Soldaten in Italien findet sich in dem Leserbrief des ehemaligen Bundeswehrgenerals Gerd Schultze-Rhonhof zu den Artikeln „Panorama des Schreckens“ und „Besatzer, Partisanen und Verräter“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Schultze-Rhonhof erinnert in seinem Leserbrief zunächst an die von den FAZ-Autoren nicht erwähnte italienische Besetzung Albaniens und die ebenfalls nicht erwähnten italienischen Angriffsaktionen in Afrika und Griechenland, referiert sodann den Wechsel Italiens auf die Seite der Al11 Leserbrief „General von Choltitz Widerstand“ von Hans-Karl Lübbe, in: FAZ Nr. 139 v. 19. 06. 2018, S. 16.
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liierten mit der folgenden Kriegserklärung an Deutschland12 und kommt schließlich auf den Punkt: „Als dann italienische Partisanengruppen ihre völkerrechtswidrigen Hinterhaltsangriffe gegen deutsche Soldaten aufnahmen und dabei meist äußerst brutal vorgingen, schlugen Wehrmacht und SS zurück. Jedes Opfer aus dieser Zeit ist bedauerlich, die italienischen und auch die deutschen. Warum gehen Christiane Liermann und Rolf Wörsdörfer nicht auf die vielen deutschen Opfer in Italien ein? Warum erwähnen sie die brutale Vorgehensweise der italienischen Partisanen gegen die deutschen Soldaten nicht?“13 Ja, warum nicht fragt sich der Leser – aus politischer Überzeugung? Aus Sorge vor dem Vorwurf des Revisionismus? Aus Nichtwissen? Aus Rücksichtnahme auf Political Correctness? Eine ehrliche Antwort könnten wohl nur die Autoren jener Artikel oder Psychologen geben. Auf eine solche Antwort wird der Leser vermutlich vergeblich warten. Das Beschweigen der Aktivitäten der italienischen Widerstandskämpfer kann allerdings nicht nur den beiden genannten Autoren angelastet werden. So heißt es in einer Notiz über eine Entschärfung einer Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg in Giove, rund 90 Kilometer nördlich von Rom, lakonisch: „Nach der Absetzung des Diktators Benito Mussolini und dem Waffenstillstand mit den Alliierten 1943 wurde Italien von der deutschen Wehrmacht besetzt und war Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen deutschen und alliierten Truppen.“14 Da der Fund der Fliegerbombe eine zentrale Nord-Süd-Verbindung in Italien vorübergehend lahmgelegt hatte, wäre schließlich eine Information darüber angebracht gewesen, ob es sich um eine deutsche oder alliierte Fliegerbombe gehandelt hat. Darf man angesichts der 1943/44 existenten Luftherrschaft der Alliierten über Italien vermuten, es war keine deutsche Fliegerbombe? 12 Zum Verlauf der Geschehnisse s. Klaus Hammel, Der Krieg in Italien 1943 – 45. Brennpunkt Cassino-Schlachten, Bielefeld/Garmisch-Partenkirchen, 2012; zu deutschen Kriegsverbrechen: Joachim Staron, Fosse Ardeatine und Morzabotto: Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza. Geschichte und nationale Mythenbildung in Deutschland und Italien (1944 – 1999), Paderborn/ München/Wien/Zürich, 2002. 13 Leserbrief „Italiens Seitenwechsel“ von Gerd Schultze-Rhonhof, in: FAZ Nr. 43 v. 20. 02. 2013, S. 30. 14 Notiz Bombenentschärfung behindert Verkehr, in: FAZ Nr. 281 v. 03. 12. 2015, S. 8.
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Ungenannt bleibt auch die Herkunft einer „mutmaßlichen aus dem Jahr 1941 stammenden Bombe“, wegen deren Entschärfung mehr als die Hälfte der Bewohner der italienischen Stadt Brindisi zeitweilig ihre Wohnungen verlassen mussten15. Information an die Redaktion der NZZ: Im Jahre 1941 war Italien ein Verbündeter des Deutschen Reiches im Krieg gegen die Alliierten. Wer warf wohl 1941 Bomben auf Italien?
15 Notiz Halb Brindisi evakuiert. Weltkriegsbombe musste entschärft werden, in: NZZ v. 16. 12. 2019, S. 18.
G. Das Geeiere um Ortsnamen In der abendlichen ntv-Nachrichtensendung vom 11. Dezember 2018 war in dem unter den Fernsehbildern laufenden Band zu lesen: „Schüsse im ostfranzösischen Straßburg“. Der Hinweis auf das „ostfranzösische Straßburg“ musste den Zuschauer irritieren und ließ ihn fragen: Für wie blöde (vornehmer ausgedrückt: wie ungebildet) hält die ntv-Nachrichtenredaktion uns, dass sie meint, uns darüber belehren zu müssen, dass Straßburg eine französische Stadt ist? Auch drängt sich die Frage auf: Wenn die Schüsse z. B. in Bordeaux gefallen wären, hätte ntv über „Schüsse im südwestfranzösischen Bordeaux“ berichtet? Immerhin: Es stimmt ja, dass Straßburg eine ostfranzösische Stadt ist. Dagegen war es ein schwerer Schnitzer, als die angesehene „Neue Zürcher Zeitung“ über den „Kalingrader“ (was verstanden werden muss als in Kaliningrad geborenen) Immanuel Kant schrieb.1 Da der später weltberühmte Philosoph im Jahre 1724 geboren wurde, hieß sein Geburtsort „Königsberg“; erst rd. 230 Jahre später wurde das ostpreußische Königsberg in das sowjetrussische Kaliningrad umbenannt. Mit dem aus Königsberg zu Kaliningrad gewordenen Stadtnamen betritt der Leser ein offensichtlich publizistisch heikles Gelände. Eine – allerdings sowohl geographisch als auch juristisch sehr ungenaue – Hilfe bietet eine allgemeine Umschreibung, so wenn über die aus dem Ermland vertriebenen Eltern von Winfried Kretschmann, wiederum in der „Neuen Zürcher Zeitung“ zu lesen war, nach dem Krieg „aus Polen“ vertrieben zu sein.2
1
Stephan Ramming, Liebes Tagebuch. Nur die Schweiz ist noch kleiner, in: NZZ v. 12. 07. 2018, S. 48. Zutreffend fand ein Zeitungsleser es „befremdlich“, im Zusammenhang mit Immanuel Kant Königsberg Kaliningrad zu nennen mit dem Zusatz „dem ehemaligen Königsberg“ (Gerd-Peter Buyken, Deutsche Namen [Leserbrief], in: FAZ Nr. 135 v. 13. 06. 2019, S. 18). 2 Andreas Ernst, Die grüne Bourgeoisie, in: NZZ Nr. 274 v. 24. 11. 2018, S. 1.
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Die Ortsnamen von Städten in den ehemaligen deutschen Ostgebieten geben nicht selten Anlass zu einem scheinbar diplomatischen Sprachgebrauch, der niemandem wehtun soll, nämlich der Nennung des ehemaligen deutschen Namens und zugleich des jetzigen fremden Namens, verbunden mit Bindestrich oder Schrägstrich oder Klammerzusatz. So wird in einem Artikel über Lemberg berichtet, dass die meisten der dort 1945 noch lebenden polnischen Familien in den Westen, „überwiegend in die von den besiegten Deutschen geräumte Region von Wroclaw/Breslau, umgesiedelt worden waren“;3 die Formulierung der von den Deutschen „geräumten Stadt“ kann, jedenfalls was die Vertriebenen betrifft, nur als euphemistisch bezeichnet werden. Über eine Ausstellung des früher in Breslau lebenden Malers Otto Mueller wird berichtet, diese sei in Berlin „als Kooperation mit dem Nationalmuseum in Wroclaw/Breslau entstanden“.4 Günter Grass gebrauchte für seine Heimatstadt Danzig die Bindestrichlösung „DanzigGdansk“5. In deutschen Presseberichten über einen tödlichen Messerangriff auf den Bürgermeister dieser Stadt wurde dagegen die Bindestrichlösung nicht verwendet, sondern nur der Name „Danzig“;6 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ ist dagegen in einer Artikelüberschrift „Gdansk“ fassungslos,7 während im Text die „Bucht von Gdansk (Danzig)“ erwähnt wird. Wie unsicher und uneinheitlich die Medien hinsichtlich der Ortsbezeichnungen von Städten in den ehemaligen deutschen Ostgebieten sind, zeigt auch die Tatsache, dass in ein und derselben Zeitung die Schreibweise unterschiedlich gehandhabt wird: Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtete ausführlich und mehrmals, ebenso wie die 3
Larissa Cybenko, Es war einmal in Lemberg. Nach einem Jahrhundert von Krieg und Vertreibung kommen sich die Menschen in Polen und der Ukraine wieder näher, in: NZZ v. 20. 01. 2018, S. 50. 4 Konstanze Crüwell, Von Akten zu Fröschen. Expressionist aus Breslau: Berlin entdeckt Otto Mueller, in: FAZ Nr. 282 v. 04. 12. 2018, S. 11. 5 Günter Grass, Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung, in: Günter Grass, Als der Zug abfuhr. Rückblicke auf die Wende, Göttingen 2009, S. 65 ff. (89). 6 Reinhard Veser, Die Folgen des Hasses. Danzigs Bürgermeister stirbt nach Messerangriff, in: FAZ Nr. 12 v. 15. 01. 2019, S. 3. 7 Paul Flückiger, Gdansk ist fassungslos. Der ermordete Bürgermeister hat die polnische Stadt geprägt wie kein anderer Politiker seit dem Zweiten Weltkrieg, in: NZZ Internationale Ausgabe v. 17. 01. 2019, S. 5.
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„Süddeutsche Zeitung“,8 von der Weltklimakonferenz in Kattowitz9 (also nicht mit Querstrich oder Bindestrich: Katowice), die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtet aber zugleich darüber, dass der neue Generalsekretär der CDU Paul Ziemiak „im September 1985 im polnischen Szczecin“ geboren sei10 – gemeint ist Stettin, von dem jeder (nicht nur ein kluger Kopf) weiß, dass es 1985 wie heute polnisch ist. Viele Nichtpolen werden allerdings kaum wissen, wie man Szczecin korrekt ausspricht; schon deshalb ist der Gebrauch dieser Ortsbezeichnung in der deutschen Sprache problematisch.11 Während in den Medien wie in der Umgangssprache Warschau nicht Warszawa, sondern stets Warschau genannt wird, Krakau nicht Kraków und Kattowitz nicht Katowice, soll also Stettin nicht Stettin und Breslau nicht Breslau (oder nur mit dem Zusatz Wroclaw) genannt werden. Der politisch unverdächtige Zeitgenosse fragt sich: Was soll dieses sprachliche Geeiere, das jedenfalls heute, fast fünfzig Jahre nach dem Abschluss des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (dem sog. Warschauer Vertrag12) nur als unnormal zu verstehen ist? Wer wie das „Süddeutsche Zeitung Magazin“13 in der Verwendung deutscher Ortsnamen in den ehemali8 Andreas Mihm, Brückenbauer und Blockierer. Auf der Klimakonferenz in Kattowitz stoßen die Interessen etlicher Ländergruppen aufeinander, in: FAZ Nr. 291 v. 14. 12. 2018, S. 10; Gerhard Gnauck, Langsam verhallt die Hymne der Bergleute. In Kattowitz findet der UN-Klimagipfel statt, in: FAZ Nr. 287 v. 10. 12. 2018, S. 5. 9 „Dieser Kampf endet nie“. Interview von Michael Bauchmüller mit Jennifer Morgan, in: SZ Nr. 288 v. 14. 12. 2018, S. 12. 10 Eckart Lohse, Aufsteiger, in: FAZ Nr. 287 v. 10. 12. 2018, S. 8. 11 Ein weiteres Beispiel: In Berichten über den Tod von drei polnischen Mädchen durch eine Feuerkatastrophe wurde der Unglücksort, die im ehemals deutschen Pommern gelegene Stadt Köslin, mit dem polnischen Namen Koszolin beschrieben. 12 Zum Gebot der Normalisierung nach dem Warschauer Vertrag s. schon Ingo von Münch, Abnormitäten der Normalisierung – Gedanken zum deutschpolnischen Verhältnis, in: liberal 21. Jg. Heft 7/8 vom Juli/August 1979, S. 586 ff. – Allgemein zur völkerrechtlichen Beurteilung von Ortsnamen: Karin Schmid, Ortsbezeichnungen im Völkerrechtsverkehr, Köln 1978, S. 70 ff. 13 So Rainer Erlinger, Die Gewissensfrage. Darf man für ehemals deutschsprachige Orte noch ihre alten Namen verwenden?, in: SZ Magazin vom 08. 04. 2013 H. 14.
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gen deutschen Ostgebieten einen „revisionistischen Beigeschmack“ wittert, beschwört Gespenster der Vergangenheit. Die Gegenwart zeigt ein Leserbrief auf, in dem über die Reaktion eines jungen Polen wie folgt berichtet wird: „Bei einem Besuch in Breslau kam ich mit einem jungen Polen ins Gespräch und erzählte ihm, dass ich in der Gegend von Jelenia Góra geboren sei. ,Ach, Hirschberg‘, war die Antwort. Vielleicht war es Einbildung, aber ich meinte, einen leicht vorwurfsvollen Unterton herauszuhören, warum ich nicht gleich den ursprünglichen deutschen Namen gebraucht hatte.“14 Die in den Medienberichten zur Weltklimakonferenz durchgängig verwendete Ortsbezeichnung „Kattowitz“ gab Anlass zu der Hoffnung, dass das Geeiere um die Namen von Orten in den ehemaligen deutschen Gebieten nun endlich beendet sein könnte. Bedauerlicherweise ist dies jedoch immer noch nicht der Fall. In einer ganzseitigen Anzeige unter der Überschrift „Frankfurter Allgemeine. Selection. Ausgesuchtes für kluge Köpfe“15 wird eine Skulptur und Grafik von Markus Lüpertz angeboten, dies mit der Angabe, Lüpertz sei „1942 im heutigen Liberec/Tschechien geboren.“ Man muss kein kluger Kopf sein, um zu wissen, dass diese Ortsangabe unrichtig ist; denn Lüpertz ist nicht im heutigen Liberec geboren, sondern im damaligen Reichenberg.16 Geeiert wurde in den Medien auch bei der Berichterstattung über den EU-Gipfel 2018 in Rumänien. In ein und derselben Zeitung trafen die Regierungschefs sich sowohl in Hermannstadt (so der deutschsprachige Name) als auch in Sibiu (so der rumänische Name); auch eine doppelte Bezeichnung, also mit Klammerzusatz war zu lesen: Hermannstadt (Sibiu). Die öffentlich-rechtliche Anstalt ZDF erwähnte in ihrer abendlichen Nachrichtensendung „heute“ in politisch korrektem Gehorsam nur Sibiu, ohne Rücksicht darauf, dass mit Sicherheit nur die wenigsten Zuschauer mit dieser Ortsbezeichnung etwas anzufangen wussten. Man muss kein Vertriebener aus Siebenbürgen ein, um diese Sprachregelung zu kritisieren; deshalb hat der Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), Bernd Fabritius, recht, wenn er feststellt: „Nie14 Leserbrief „Polen und Deutsche gemeinsam“ von Hans Dieter Sauer, in: FAZ Nr. 285 v. 08. 12. 2014, S. 20. 15 Abgedruckt in: FAZ Nr. 301 v. 28. 12. 2018. 16 Reichenberg war von 1938 – 1941 die Hauptstadt des „Reichsgaues Sudetenland“.
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mand berichtet für das ZDF oder den ,Spiegel‘ aus ,Warszawa‘ oder ,Bucuresti‘. Nur bei Städten, die früher mehrheitlich deutsch besiedelt waren, scheint es diese journalistischen Verrenkungen immer wieder zu geben. Statt falsch verstandener Political Correctness wäre hier seitens der Medien etwas mehr Sensibilität für die eigene Sprache geboten.“17 Hinsichtlich der ehemaligen deutschen Ostgebiete und der von Deutschen besiedelten Gebieten in anderen Ländern gibt es eben ein Früher und Heute. Zutreffend erwähnt eine Buchbesprechung in der „Neuen Zürcher Zeitung“ die Kindheit von Wolfgang Koeppen „in Ortelsburg-Masuren, dem heutigen polnischen Szczytno“.18 Ein Beitrag über die Erinnerungskultur an das damalige „deutsche Judentum in Breslau“ beginnt vernünftig mit den Worten: „Auf dem Salzmarkt in Breslau, heute Wroclaw“.19 Die Nachrichtensendung von ntv meldete am 23. Juni 2019 kurz und bündig: „Deutschland-Achter feiert Weltcuperfolg in Posen“. Über einen Auftritt des Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei PiS Jaroslaw Kaczynski vor der Parlamentswahl in Polen berichtet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „An diesem Samstag ist er im schlesischen Oppeln“20 – aus Sicht der Political Correctness wohl eine Harakiri-Formulierung. Vielleicht deutet sich mit der Wahl dieser Formulierung ein erfreuliches und bemerkenswertes Ende des Geeieres um die Ortsnamen an; denn es fällt auf, dass in den Nachrufen auf den früheren Ministerpräsidenten von Brandenburg Manfred Stolpe sowohl die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ als auch die „Neue Zürcher Zeitung“ und „Die Zeit“ als Geburtsort „Stettin“ nannten.21 17 Zit. im Bericht „Zeichen des Beistandes.“ Merkel und Johannis bei der deutschen Minderheit in Rumänien, in: PAZ Nr. 20 v. 17. 05. 2019, S. 1. 18 Beatrice von Matt, Seine Blockade brachte alle zur Verzweiflung. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg machte Wolfgang Koeppen mit drei Romanen Furore. Dann verstummte er vollständig, in: NZZ v. 28. 05. 2019, S. 39. 19 Judith Leister, Die Häuser haben einiges gesehen. Das deutsch-jüdische Breslau wird endlich Teil der Erinnerungskultur, in: NZZ v. 22. 06. 2019 (Internationale Ausgabe), S. 24. 20 Gerhard Gnauck, Zurück im Rampenlicht. Vor der polnischen Parlamentswahl zeigt sich der PiS-Vorsitzende Kaczynski wieder öffentlich als Vorkämpfer für seine Partei, in: FAZ Nr. 233 v. 08. 10. 2019, S. 3. 21 Lt, Bereiter des Brandenburger Wegs. Der frühere Ministerpräsident und Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe ist im Alter von 83 Jahren in Potsdam gestorben, in: FAZ Nr. 303 v. 31. 12. 2019, S. 6; dpa, Brandenburg trauert um
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Schließlich: Die in der deutschen Umgangssprache wie auch in der Mediensprache absolut übliche Ortsbezeichnung „Auschwitz“ zeigt, dass eine dogmatische Handhabung von Ortsbezeichnungen sich verbietet; denn obgleich Auschwitz kein Ort in den ehemaligen deutschen Ostgebieten war, hat die Bezeichnung Auschwitz sich anstelle von Oswie˛cim aus ebenso verständlichen wie auch vor allem aus berechtigten polnischen Interessen durchgesetzt, da es sich um ein deutsches Vernichtungslager handelte.
Manfred Stolpe, in: NZZ v. 31. 12. 2019, S. 2; Christoph Dieckmann, Ein Mann mit zwei Leben. Zum Tod des ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, in: Die Zeit Nr. 2 v. 03. 01. 2020, S. 6.
H. Der inflationäre und damit sich abnutzende Gebrauch des Wortes „Nazi“ Als am 8. Mai 1945 der irrsinnige, von Hitler entfesselte Krieg zu Ende war und damit auch das totalitäre NS-Regime, hätte man denken müssen, dass es nie wieder Nazis geben könnte und dürfte. Das von unzähligen Menschen in vielen Ländern erlittene persönliche Leid, vor allem aber auch die Kenntnis der von den Nazis in Form des Völkermordes begangenen massenhaften Verbrechen, schloss eine Wiederkehr von NS-Gedankengut eigentlich kategorisch aus. Verständlicherweise konnte damit nicht der Gebrauch des Wortes „Nazi“ oder „nationalsozialistisch“ gemeint sein. Schon im Wort „Entnazifizierung“ findet sich die Silbe „nazi“. Der Terminus „nationalsozialistisch“ ist Bestandteil der amtlichen Bezeichnung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg. Das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland bezieht sich in der Vorschrift über Volksverhetzung (§ 130) auf eine „unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art“ (Abs. 3) und bestraft ein Verhalten, das unter bestimmten Umständen „die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“ (Abs. 4). Zahlreiche andere Gesetze sowie Gerichtsentscheidungen zu NS-Verbrechen, z. B. im Auschwitz-Prozess, könnten zusätzlich genannt werden. Schließlich und überhaupt: Wer sich in welcher Weise auch immer mit dem Nationalsozialismus befasst, sei es in Wissenschaft, Belletristik, Film oder in einem anderen Feld, kommt um den Gebrauch des Wortes „Nazi“ oder einer sprachlich ähnlichen Bezeichnung nicht herum. Die Häufigkeit ergibt sich schon daraus, dass es über die zwölfjährige NS-Zeit inzwischen geschätzt mehr als 20.000
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Bücher oder wissenschaftliche Fachaufsätze gibt1 – und es kommen immer weitere hinzu. Wer über die NS-Zeit schreibt oder spricht, schreibt oder spricht eben zumindest auch über Nazis. Von diesem sich aus der Natur der Sache ergebenden Sprachgebrauch ist eine stereotype Verwendung des Wortes „Nazi“ zu unterscheiden – ein sich irgendwann abnutzender Sprachgebrauch, von dem leider auch Medien nicht frei sind, wie die folgenden Beispiele zeigen: Während der Olympischen Spiele in London 2012 machte die BildZeitung ihre Titelgeschichte vom 6. August auf Seite 1 mit der Überschrift auf: „Nazi-Skandal“. Unter einem Foto der Ruderin Nadja Drygalla folgten die Zeilen: „Jetzt spricht die Ruderin! Es geht mir nicht gut. Mein Freund ist nicht mehr in der NPD. Ich habe an Trennung gedacht.“2 Der dem Artikel zugrundeliegende Sachverhalt ist vielleicht noch bekannt: Es ging um den Ausschluss der Ruderin Nadja Drygalla aus dem Olympia-Team der Bundesrepublik, dies wegen der ehemaligen NPD-Mitgliedschaft ihres Freundes Michael Fischer. Der Generalsekretär des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und zugleich Delegationsleiter in London, Michael Vesper (Bündnis 90/Die Grünen), hatte Nadja Drygalla in einem eineinhalbstündigen Gespräch überzeugt, das Olympische Dorf verlassen zu müssen3, was dann auch geschah, um wie der DOSB mitteilte, „keine Belastung für die Olympiamannschaft entstehen zu lassen“.4 Demgegenüber hatte der Ruderverband Mecklenburg sich für die Rostocker Ruderin eingesetzt: Nadja Drygalla habe sich von rechtsradikaler Haltung „offen distanziert. Sie hat immer wieder betont, dass sie die politischen Überzeugungen von Fischer nicht teilt. Und das ist für uns auch derart überzeugend vorgetragen worden, dass wir es zu akzeptieren haben. Mir liegen auch keine Hinweise darauf vor, dass es bei zuständigen In1 Zahlenangabe bei Jörg Berkemann, Werkstattbericht. Staat und Verwaltung im NS-Staat – Ein Werkstattbericht über eine Vorlesung, in: ZDRW 6 (2019), S. 85 ff. (93). 2 Bild v. 06. 08. 2012, S. 1. Ausführlich: Jetzt spricht Ruderin Nadja Drygalla. Mein Freund ist kein Nazi mehr, in: Bild v. 06. 08. 2012, S. 2. 3 Anno Hecker, „Drygallas Verhältnis ist seit Jahren bekannt.“ Der Fall der Ruderin könnte Thema im Sportausschuss werden, in: FASZ Nr. 31 v. 05. 08. 2012, S. 13. 4 Zit. bei Klaus Blume, Neonazis im deutschen Sport? Ruderin Drygalla verlässt Olympia – DOSB gibt sich ahnungslos, in: NZZ Nr. 179 v. 04. 08. 2012, S. 26.
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stanzen unseres Staates (gemeint ist vermutlich der Verfassungsschutz. d. Verf.) andere Informationen zu dem Thema gibt.“5 Das Urteil der Öffentlichkeit brachte ein Leserbrief in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ überzeugend zum Ausdruck: „Gegen Nadja Drygalla gibt es keine belegbaren Vorwürfe rechtsextremen Denkens oder Handelns. Zudem hat sie sich vom Rechtsextremismus ihres Freundes Fischer klar distanziert. Eine ,Sippenhaft‘ unseligen Angedenkens kann es im heutigen demokratischen Deutschland nicht geben. Nur Diktaturen jeglicher Couleur praktizieren diese.“6 Als Resümee des Falles Nadja Drygalla bleibt: Eine junge Sportlerin wurde vom Deutschen Olympischen Sportbund auf dem Altar der politischen Korrektheit geopfert. Das sog. Ansehen des deutschen Sportes war den Vereinsoberen wichtiger als eine faire und korrekte Behandlung der Sportlerin. Die Rolle der Medien in diesem Trauerspiel schildert der resignierende Olympia-Kommentar „Auswegloses Szenario“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ dagegen so: „Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hatte keine Wahl … Denn in der immer schneller rotierenden Welt der verkürzten, auf Effekte ausgerichteten Kommunikation hätte die Stichwort-Kombination ,junge Deutsche, Freundin eines Nazis, Mitglied des Olympia-Teams‘ schnell in England und dann in aller Welt ein groteskes, aberwitziges, falsches Bild produziert, gegen das aber jede Aufklärung machtlos gewesen wäre: Deutsche Sportler von Nazis unterwandert. Dazu durfte es der DOSB nicht kommen lassen.“7 Wirklich nicht? War es Einknicken vor einem unberechtigten Shitstorm? Jedenfalls: Die BildÜberschrift „Nazi-Skandal“ im Fall Nadja Drygalla war falsch und irreführend.8 5 Zit. bei Anno Hecker (Fn. 3). S. auch Bericht Ruderin Nadja Drygalla wird am 1. November Sportsoldatin, in: HA v. 19. 10. 2012, S. 26: „Nach ihrer Rückkehr hatte sie sich öffentlich deutlich von der rechten Szene distanziert.“ 6 Wolfram Ender, Keine „Sippenhaft“ im Rechtsstaat (Leseerbrief), in: FAZ Nr. 191 v. 17. 08. 2012, S. 9. 7 Anno Hecker, Auswegloses Szenario, in: FAZ Nr. 180 v. 04. 08. 2012, S. 27. 8 Erstaunlich auch die – allerdings mit einem Fragezeichen – versehene Überschrift des Artikels von Klaus Blume, Neonazis im deutschen Sport? (Fn. 4), erstaunlich deshalb, weil in dem Beitrag die Antwort von Michael Vesper darauf zitiert wird: „Da gibt es nicht den geringsten Hinweis.“
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Erklärbar, wenn auch nicht entschuldbar, ist dieser laxe mediale Gebrauch des Wortes „Nazi-Skandal“ mit dem inflationären Gebrauch des Wortes „Nazi“ generell – vor allem in der Sprache der Politik und in der Sprache der Medien. Offenbar ist der inzwischen übermäßige und damit vermutlich auf Dauer sich abnutzende Gebrauch der Bezeichnung „Nazi“ (nicht selten ergänzt mit „Neo“ [„Neo-Nazi“]) jedenfalls zurzeit nicht aufzuhalten. Die Linie dieser Entwicklung beginnt damit, dass – wie der Historiker Andreas Rödder zutreffend bemerkt – „zum Beispiel ,rechts‘ umstandslos mit ,rechtsextrem‘ gleichgesetzt“ wird.9 Von „rechtsextrem“ zu „Neo-Nazi“ oder „Nazi“ ist es dann weniger als ein Schritt. Eigentlich vorhandene Unterschiede gehen dabei verloren, auch wenn auf eine notwendige Differenzierung hingewiesen wird, so von dem ehemaligen Hamburger Bürgermeister Ole von Beust mit dessen zutreffender Feststellung: „Rechts ist nicht rechtsradikal und nicht gleich Nazi. Es ist den Linken geschickt gelungen, alles, was rechts von der Mitte ist, als politisch nicht zulässig zu diskreditieren. Das war lange aus deren Sicht erfolgreich, weil es zu einem moralischen Überlegenheitsgefühl geführt hat. Gleichzeitig schmiss es Rechte und Konservative in einen Topf mit Rechtsradikalen und Nazis.“10 Die fehlende Differenzierung wird nicht nur von Andreas Rödder und Ole von Beust gesehen. „Ein Unterschied, und ist er wesentlich, zwischen konservativ, rechts und rechtsextrem wird da nur noch selten gemacht. Damit werden viele Millionen Bürger und Wähler dieses Landes in einen Topf geworfen und diffamiert“ schreibt ein Leserbrief11. Stefan Locke bemerkt in seiner Besprechung des Buches von Thomas Wagner „Die Angstmacher, 1968 und die Neuen Rechten“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Die pauschale Einordnung als ,rechts‘ aber scheint bis heute für nicht wenige in Politik und Medien 9
„Alle haben Angst vor Deutschland.“ Der Historiker Andreas Rödder sieht ein großes Problem darin, dass die Deutschen das Argumentieren durch Moralisieren ersetzt haben (Interview mit Claudia Schwarz), in: NZZ v. 28. 11. 2018, S. 37. – Siehe auch Reinhard Müller, Nazis raus?, in: FAZ Nr. 19 v. 23. 01. 2019, S. 1: „,Rechts‘ wird meist mit ,rechtsextrem‘ gleichgesetzt.“ 10 Ole von Beust, Schluss mit dem Klein-Klein. Der frühere Bürgermeister Hamburgs, Ole von Beust (CDU), kritisiert die fehlende klare Kante und Haltung seiner Partei. Die Menschen wollten Antworten auf die großen Fragen, in: Die Welt Nr. 218 v. 18. 09. 2018, S. 2. 11 Hanno Graf von Kielmannsegg, Eine Verschiebung unserer Wertordnung (Leserbrief), in: FAZ Nr. 38 v. 14. 02. 2019, S. 7.
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alles zu erklären, nur selten wird überhaupt zwischen konservativ, rechtspopulistisch, rechtsradikal und rechtsextrem getrennt. Vielmehr ist ,rechts‘ meist irgendwie ,Nazi‘, womit sich in einer Mischung aus Feigheit und Faulheit jede weitere Auseinandersetzung erübrigen soll.“12 Zwischen nicht weit voneinander entfernten Begriffen zu differenzieren ist nicht immer einfach- Gelegentlich wird sogar behauptet, dies sei hinsichtlich „rechts“ und „rechtsradikal“ nicht möglich; so findet sich in einem Artikel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ die Behauptung: „,Rechts‘ und ,rechtsradikal‘ sind keine objektiven Tatbestände, sondern mehr denn je Kampfbegriffe um die politische Deutungsmacht, die sich auch von Juristen nicht scharf und abschließend voneinander trennen lassen.“13 Ein solches resignatives Ausweichen hilft aber nicht weiter, wenn ein Fall von ehrverletzender übler Nachrede vorliegt. Zwei Entscheide aus der Schweiz können als Beleg für praktizierte Differenzierung genannt werden: Im ersten Fall entschied das Bezirksgericht Zürich über die Klage der Südtiroler Rockband „Frei. Wild“ gegen einen Journalisten des Schweizer Boulevardblattes „20 Minuten“. Dieser hatte in einem Artikel auf dem Onlineportal von „20 Minuten“ die Rockband „Frei.Wild“ in einem Atemzug mit zwei rechtsradikalen Bands genannt. Konkret zeigte der Artikel das Bild eines T-Shirts von „Frei. Wild“ mit der Legende: „Eine rechtsextreme Überzeugung lässt sich auch versteckter transportieren, zum Beispiel durch T-Shirts von Bands wie Frei.Wild, Landser oder Skrewdriver.“ Über das Strafverfahren wurde in der „Neuen Zürcher Zeitung“ wie folgt u. a. berichtet: „Die Bands Landser und Skrewdriver seien erwiesenermaßen rechtsradikaler Gesinnung, befand das Bezirksgericht. Indem der Redaktor ,Frei. Wild‘ mit ihnen verglich, habe er sie ,in denselben Topf‘ geworfen und damit in die rechtsextreme Ecke gedrängt. Und die Bezeichnung ,rechtsextrem‘ sei in der Schweiz als ehrverletzend anzuschauen … Die Richterin folgte der Argumentation der Anklage. Wenn man von einer politischen Gesinnung am 12 Stefan Locke, Raus aus der Bunkermentalität. Streit ist der bessere Weg: Thomas Wagner plädiert für einen unverkrampften Umgang mit den „Neuen Rechten“, in: FAZ Nr. 203 v. 01. 09. 2017, S. 12. 13 Martin Beglinger/Peer Teuwsen, Holen wir die Meinungspolizei! Was die Angriffe gegen den Berliner Historiker Jörg Baberowski über den Zustand einer polarisierten Gesellschaft aussagen, in: NZZ v. 24. 06. 2017, S. 43.
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rechten Rand spreche, seien Aussagen wie ,rechtspopulistisch‘ oder ,rechtsaußen‘ angebracht. ,Rechtsextrem‘ stehe hingegen für eine radikale Gesinnung und suggeriere Sympathien für den Nationalsozialismus. Das sei rufschädigend.“ Der Journalist wurde wegen übler Nachrede zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 180 Franken bestraft.14 Ein anderer Fall betraf das Nachrichtenmagazin „10 vor 10“ des Schweizer Fernsehens. Ein Zuschauer hatte beanstandet, dass in dem Beitrag am 16. Oktober 2017 zum Thema Rechtsparteien die deutsche AfD, die österreichische FPÖ und die niederländische PVV mehrere Male als „rechtsextrem“ bezeichnet worden seien – ein Fall „politischer Indoktrination“. Der mit der Beschwerde des Zuschauers befasste Ombudsmann der Schweizerischen Rundfunkgesellschaft (SRG) Roger Blum stellte in seinem im Internet veröffentlichten Bescheid fest, dass es korrekt sei, jene Parteien „rechtspopulistisch“ zu nennen; dagegen sei es nicht angebracht, sie undifferenziert als „rechtsextrem“ zu bezeichnen.15 Nicht überraschen kann es, dass mit dem Aufkommen der AfD die Verwendung des Begriffes „Nazi“ (oder „Neo-Nazi“) Konjunktur hat. Im Zusammenhang mit dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 erinnerte ein Kommentar von Jasper von Altenbockum in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter der Überschrift „Die Aussätzigen“ daran: „Alle Parteien sind im Wahlkampf der Versuchung erlegen, die AfD abwechselnd als ,Schande‘, als Partei der ,Nazis‘ oder der Rassisten zu bezeichnen.“16 In der NDR-Sendung ,Extra 3‘ nannte der Moderator Christian Ehring die damalige Spitzenkandidatin der AfD für die Bundestagswahl Alice Weidel eine „Nazi-Schlampe“. Alice Weidel, eine zweifellos politisch und menschlich unsympathische und später in einem Parteispendenskandal verwickelte Person, hatte im Wahlkampf die vergleichsweise harmlose Meinung vertreten: „Die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte“. Der empörte Kommentar im NDR dazu: „Jawohl. Schluss mit der 14
Bericht Bezirksgericht Zürich. Bezeichnung „rechtsextrem“ ist ehrverletzend, in: NZZ v. 01. 11. 2016, S. 18 (sda). 15 Notiz: „Rechtspopulistisch“, aber nicht „rechtsextrem“, in: NZZ v. 04. 01. 2018, S. 13. 16 Jasper von Altenbockum, Die Aussätzigen, in: FAZ Nr. 225 v. 27. 09. 2017, S. 1.
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politischen Korrektheit, lasst uns alle unkorrekt sein. Da hat die NaziSchlampe doch recht. War das unkorrekt genug? Ich hoffe.“17 Der NDR verteidigte den Moderator mit der Behauptung: „Zu keiner Zeit wollte er oder die Redaktion von ,Extra drei‘ Alice Weidel persönlich beleidigen. Aber ihrer öffentlich geäußerten Polemik darf aus Sicht des NDR ihrerseits zugespitzt entgegengetreten werden.“18 Eine andere öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt wird mit dem Twitter zitiert: „Ein Tweet für alle Trolle und Rechten … Nazis raus.“19 Im Zusammenhang mit der Parole „Nazis raus“ ist zu Recht gefragt worden: „Wohin eigentlich mit den Nazis?“ und „wer eigentlich raus muss“.20 Die Parole „Nazis raus“ erinnert übrigens – wenn auch mit umgekehrter politischer Zielrichtung – an die früher an Linke gerichtete Aufforderung: „Geht doch in die DDR!“ Und wie schnell jemand zu einem (angeblichen) „Nazi“ gemacht wird zeigt die Erfahrung des Rappers Patrick Losensky (Künstlername „Fler“), der zur Offensive des Berliner Senats gegen kriminelle Clans schreibt: „Der Rechtsstaat kann dir in Berlin oft nicht helfen. Bei mir stehen seit 20 Jahren immer wieder Leute vor der Tür, die mich bedrohen wollen … Ich hatte mit sechs, sieben Jahren schon solche Probleme, weil ich Deutscher bin. Wenn ich später darüber gerappt habe, wurde ich als Nazi hingestellt.“21 Ist die Bezeichnung als „Nazi“ nicht hart genug, wird sie mit „Schwein“ verstärkt. Als Bernd Lucke seine Vorlesung „Makroökonomik II“ an der Universität Hamburg beginnen wollte, wurde er von Störern mit den Rufen „Nazischwein raus“ niedergeschrien.22 Die in Politik, in sozialen Netzwerken und durch kommentarloses Zitieren in Medien inflationär verteilte Visitenkarte „Nazi“ oder „Neo17
Ausführlicher dazu Ingo von Münch, „Nazi-Schlampe“ keine Beleidigung. Landgericht Hamburg gibt dem NDR im Streit mit der AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel recht, in: PAZ Nr. 21 v. 26. 05. 2017, S. 3; ders., Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, Berlin 2017, S. 88. 18 Zitiert bei Ingo von Münch (Fn. 17). 19 Zit. bei Reinhard Müller (Fn. 9). 20 Reinhard Müller (Fn. 9). 21 FAZ Nr. 23 v. 28. 01. 2019, S. 7. 22 Ausführlich zu den Vorgängen um die Vorlesung von Bernd Lucke: Tobias Becker u. a., Grenzöffnungen, in: Der Spiegel Nr. 45 v. 03. 11. 2019, S. 10 ff.; Wolfgang Krischke, Einladung zum Exzess. Streit um Lucke-Vorlesung: Die Universität Hamburg ringt um Haltung, in: FAZ Nr. 255 v. 02. 11. 2019, S. 17.
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Nazi“ ist vor allem deshalb problematisch, weil sie geeignet ist, die ungeheuerlichen Nazi-Verbrechen zu relativieren. Wenn z. B. jeder Pegida-Mitläufer allein schon deshalb als „Nazi“ betrachtet wird, ist die Abnutzung der Etikettierung unübersehbar. Die Literaturwissenschaftlerin Nikola Roßbach hat auf Abnutzungsgefahren des übermäßigen Gebrauches eines anderen Begriffes, nämlich des der „Zensur“, aufmerksam gemacht; ihre diesbezügliche Beobachtung zur „Zensur“ lässt sich auf den Gebrauch des Wortes „Nazi“ übertragen, wenn man die Worte austauscht, die im Original bei Nikola Roßbach lauten: „Denn nicht nur im politischen, auch im gesellschaftlich – kulturellen Bereich sind Abnutzungsgefahren da. Wer ständig und überall Zensur wittert und beklagt, braucht sich nicht darüber zu wundern, wenn ihm irgendwann bei ernst zu nehmender Zensur keiner mehr glaubt“.23 Positiv zu registrieren ist in diesem Zusammenhang, dass in den Medien die Problematik derartiger Pauschalierungen mehr und mehr erkannt und kritisch betrachtet wird, so wenn die „Neue Zürcher Zeitung“ den Historiker Andreas Rödder in einem Interview fragt: „Warum ist es ein Fehler, die AfD-Anhänger pauschal als Neonazis zu bezeichnen?“ Rödder antwortete: „Weil man damit erstens das Selbstverständnis als ausgegrenzte Opfer aufseiten der AfD verstärkt und weil man zweitens viele Menschen stigmatisiert, die keine Nazis sind, sondern gegen die etablierten Parteien protestieren“.24 Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bezieht in einer Glosse von Reinhard Müller Stellung: „Wenn aber alle ,Rechten‘ als Nazis gelten, können sich die echten Nazis freuen … Die inflationäre Verwendung der Nazis-raus-Parole, das Etikettieren des politischen Gegners mit dem schlimmstmöglichen Begriff hat weder etwas mit Vergangenheitsbewältigung zu tun noch mit einem Kampf gegen Extremismus. Im Gegenteil: Die Rassismuskeule gegen Konservative – das ist verhetzender Extremismus. Eine weitere schaurige Wendung und Verirrung der deutschen Geschichte.“25
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Nikola Roßbach, Achtung Zensur. Über Meinungsfreiheit und ihre Grenzen, Berlin 2018, S. 88. 24 Fundstelle des Textes des Interviews oben Fn. 9. 25 Reinhard Müller (Fn. 9); zur Faschismus-Keule: René Zeyer, Achtung, Faschismus! Die ständigen Warnungen dienen manchen Medien auch dazu, Andersdenkende zu pathologisieren, in: NZZ v. 14. 12. 2019, S. 9.
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Die Rede im Vorangegangenen bezog sich auf das „Nazi“-Etikett, das in der Gegenwart auf heute lebende Personen aufgeklebt wird. Eine andere Sicht muss für die Zeit des NS-Regimes gelten. Im Mai 1945 waren – bezogen auf die damaligen Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 – rd. 8,5 Millionen Deutsche Mitglieder der NSDAP.26 Als NS-„Personal“ sind zudem die Mitglieder der Organisationen wie SA, SS, NSKK usw. anzusehen. Gläubige Nazis gab es aber nicht nur unter den Mitgliedern der einschlägigen Organisationen: Um Nazi zu sein, musste man nicht unbedingt Mitglied sein. Mit Sicherheit gab es viel mehr überzeugte Anhänger des Systems als Mitgliedsbücher. Andererseits waren nicht alle Mitglieder aller NS-Organisationen zugleich überzeugte Nazis. Eine angestrebte berufliche Karriere konnte Grund für eine Mitgliedschaft sein oder ein Schutzbedürfnis, letzteres Gegenstand des sarkastischen Gedichtes: „Ein Bäumchen steht im Wiesengrund / Es ist organisiert / Es ist im NS-Bäumchenbund / Damit ihm nichts passiert.“ Seltener sind vermutlich die Fälle, in denen jemand gegen seinen Willen oder unwissend Mitglied der NSDAP oder einer der ihr angeschlossenen Organisationen war (Fall Walter Jens). Aus dieser Gemengelage folgt, dass Medien auch in der Gegenwart bei Rückschau auf die Zeit von 1933 – 1945 nicht wahllos und damit pauschalierend die Bezeichnung „Nazi“ verwenden sollten. Gewiss: Wer Nationalsozialist (Nazi) war, muss als solcher benannt werden; was nationalsozialistisches Gedankengut (NS-Ideologie) war, z. B. als Treibsatz für NS-Verbrechen, muss genannt werden. Die Verantwortung der Medien sollte jedoch nichtbelegbare Urteile oder stereotype Pauschalierungen vermeiden. Waren etwa alle Offiziere der Kriegsmarine Nazis? Diesen Eindruck vermittelt ein Artikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in ihrem Reiseteil über das Bunkermuseum in La Rochelle und die Geschichte der dritten deutschen U-Boot-Flottille, wenn dort zu lesen ist: „Fünf Jahre hielten die Deutschen die Hafenstadt besetzt; unter dem Hotel, in dem die NaziOffiziere logierten, ließen sie einen zweihundertachtzig Quadratmeter großen Luftschutzbunker anlegen … Zwei junge Frauen aus Hamburg, Annie Chèrié und Ruth Monsheimer, waren der Einladung eines NaziOffiziers gefolgt, ihren Job als Schaufenstergestalterinnen aufzugeben
26
Zahlenangabe bei Jörg Berkemann (Fn. 1), S. 112.
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und stattdessen die Bunker-Bar auszumalen …“.27 Zum Ausdruck „Nazi-Offiziere“: Mit Sicherheit gab es auch unter den Offizieren der Marine Nazis; aber ebenso sicher ist, dass nicht alle Seeoffiziere Nazis waren – der nach dem 20. Juli 1944 hingerichtete Admiral Wilhelm Canaris kann dafür als vorbildhaftes Beispiel genannt werden. Kurz: Die mediale Formulierung „Nazi-Offiziere“ beinhaltet einen Generalverdacht, der in anderen Zusammenhängen allgemein kritisiert wird.28 Wenn Waffen der Wehrmacht in einem Zeitungsartikel als „Nazikriegsgerät“ bezeichnet werden,29 entfernt sich der Schreiber von der Alltagssprache meilenweit.
27 Veronika Eckl, Ein Goldfisch für den jungen Franzosen. Das Bunkermuseum von La Rochelle rekonstruiert die Geschichte der dritten deutschen U-Boot-Flottille, in: FAZ Nr. 80 v. 04. 04. 2019, S. R 2. – Ähnliche Generalisierung auch in dem Artikel von Martin Stolzenau, „Graf Zeppelin“ – Unvollendeter Flugzeugträger. Vom Hoffnungsträger der Marine in Kiel zum Ersatzteillieferanten in Stettin, in: PAZ Nr. 10 v. 08. 03. 2019, S. 19, wo von der „Nazimarine“ die Rede ist. 28 Zutreffend kritisch zu der abwertenden Bezeichnung der deutschen Marine-Offiziere als Nazi-Offiziere („irritierend und historisch falsch“) auch Thomas Künzer, Keine Nazi-Offiziere (Leserbrief), in: FAZ Nr. 127 v. 03. 06. 2019, S. 18. 29 Tim Wolf, In Speyer kein Fortschritt, in: FAZ Nr. 96 v. 25. 04. 2019, S. R 2.
I. „Hetze“, „Hetzer“, „Hetzjagden“: Die Karriere eines Schimpfwortes In etlichen Jahrzehnten der Nachkriegszeit waren die Wörter „Hetze“, „Hetzer“ und „Hetzjagden“ selten zu hören oder zu lesen. Der Gebrauch dieser Schimpfworte war – jedenfalls verglichen mit heute – ungebräuchlich. In der Gegenwart hat „Hetze“ und Ähnliches Konjunktur. Diese Entwicklung zeigt sich nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch im Ausland. So wird über einen Vorfall in Zürich wie folgt berichtet: „Rote Farbflecken und die Aufschrift ,Gegen rechte Hetze‘: Vergangene Woche verübten Unbekannte einen Farbanschlag auf die Redaktion der ,Weltwoche‘. … Nun ist auf dem linken Portal ,barrikade.info‘ ein anonymes Bekennerschreiben aufgetaucht. Die Zeitung schüre ein reaktionäres, frauenverachtendes und fremdenfeindliches Klima, heißt es darin. Zudem erhalte das Blatt die ,Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse dieser kapitalistischen Gesellschaft‘ aufrecht“. Ein Journalist der Zeitschrift „Weltwoche“ wurde auf einer Festveranstaltung zum 1. Mai angegriffen, weil er – wie in dem Bekennerschreiben begründet – als „Vertreter dieses Hetzblattes“ nichts zu suchen habe und „Fratzen wie seine“ nicht willkommen seien.1 Eine Plakatkampagne der ungarischen FideszPartei von Viktor Orbán gegen EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und gegen George Soros wurde in einer deutschen Tageszeitung mit dem Urteil kommentiert, Fidesz nehme für sich „das Recht auf Hetze in Anspruch“.2 Ein Recht auf Hetze soll es aber nicht geben. In derselben Tageszeitung heißt es zu den bekannten Vorgängen in Chemnitz: „Es sollte sich von selbst verstehen, dass es das gute Recht
1 Zit. im Bericht Bekennerbrief aufgetaucht. Nach Farbanschlag auf die „Weltwoche“-Redaktion, in: NZZ v. 15. 05. 2019 (Internationale Ausgabe), S. 32. 2 Peter Sturm, Kein Recht auf Hetze, in: FAZ Nr. 68 v. 21. 03. 2019, S. 1.
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I. „Hetze“, „Hetzer“, „Hetzjagden“
eines jeden ist, eine Gewalttat öffentlich gemeinsam zu betrauern, dass es aber keine Rechtfertigung für Hetze gibt.“3 Aber was ist „Hetze“? Wer ist „Hetzer“? Die Antwort ergibt sich nicht von selbst. Es war immerhin Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen), der bei einem gemeinsamen Auftritt mit dem Publizisten Claus Strunz sich darüber beschwerte, wie schnell man vom „politisch-journalistischen Mainstream als ,Hetzer‘ gebrandmarkt“ werde. Richtig ist an der Kritik an Boris Palmer höchstens, dass er innerhalb seiner Partei ein Querdenker ist, der nicht immer auf der Parteilinie liegt; zur Erinnerung: In der Flüchtlingsdebatte mahnte er seine Partei zu „Realismus“ („Wir schaffen das nicht“) und die Werbekampagne der Deutschen Bahn kritisierte er auf Twitter mit der Frage: „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“ Mitglieder der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Flucht warfen Palmer in einem offenen Brief vor, er habe „sich mittlerweile als rechtspopulistischer Pöbler etabliert“.4 Als „Hetzer“ muss sich aber nicht mehr nur ein „rechtspopulistischer Pöbler“ wie angeblich Boris Palmer fühlen, sondern der Vorwurf „Hetzer“ und „Hetze“ greift viel weiter aus. In einem Artikel über den Kongress des Instituts für Deutsche Sprache wird über das Referat des Sprachwissenschaftlers Anatol Stefanowitsch berichtet: „Die HassPosts, die Stefanowitsch in Mannheim präsentierte, dienten ihm vor allem als Belastungsmaterial, um jede Art von Kritik an politischkorrekten Weltbildern zu diskreditieren. Zu den Quellen frauen- und fremdenfeindlicher Hetze zählte er auch „die Feuilletons von „Welt“ und „FAZ“, deren Sprachgebrauch es zu „dekonstruieren“ gelte5. Bezugspunkte, gegen die sich der Vorwurf der „Hetze“ richtet, sind die von „Hetzern“ geübte Kritik am Zustand der Europäischen Union (Andrea Nahles: „Wir lassen uns dieses Europa nicht kaputtreden, die
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S. 1.
Reinhard Müller, Wofür Chemnitz steht, in: FAZ Nr. 66 v. 19. 03. 2019,
4 Zitate in Helene Bubrowski, Der Provokateur stößt an Grenzen. Grüne diskutieren über Palmer, in: FAZ Nr. 98 v. 27. 04. 2019, S. 5. 5 Wolfgang Krischke, Die User brauchen jetzt eine eindeutige Ansage. Emotional berührt: Die Sprachwissenschaft schlägt auf dem Kongress des Instituts für Deutsche Sprache kulturkämpferische Töne an, in: FAZ Nr. 66 v. 19. 03. 2019, S. 9.
I. „Hetze“, „Hetzer“, „Hetzjagden“
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Hetzer und Ewiggestrigen werden nicht durchkommen“6), vor allem aber Kritik an toleranter Flüchtlings- und Migrantenpolitik. „Solidarität statt Hetze“ lautet demgemäß der Slogan auf einem Wahlplakat der Partei Die Linke zur Europa-Wahl 2019. Was ist die Verbindung zwischen dem häufig geübten Vorwurf der „Hetze“ und der Tätigkeit der Medien? Zunächst ergibt diese Verbindung sich aus dem Transport von einschlägigen Zitaten, wie z. B. dem oben wiedergegebenen Ausspruch von Andrea Nahles. Die Veröffentlichung von veröffentlichenswerten Zitaten gehört zu einer sorgfältigen Berichterstattung in Presse und Rundfunk; eigene Akzente können die Medien dabei durch die von ihnen gewählte Platzierung des Zitates setzen oder durch positive oder negative Kommentierung, aber auch durch Verschweigen. Ein Medium oder ein Verlag kann schließlich mit eigenem Engagement sich an einer Aktion gegen „Hetze“ beteiligen. Als Beispiel für eine solche aktive Beteiligung soll hier ein Artikel aus einer norddeutschen Regionalzeitung genannt werden: Unter der Überschrift „Elmshorn setzt ein Zeichen gegen rechte Hetze“ war im „Wedel-Schulauer Tageblatt. Unabhängige Tageszeitung für den Kreis Pinneberg“ zu lesen: „Auch der A. BeigVerlag, zu dem unter anderen diese Zeitung gehört, möchte in Absprache mit der Stadt und dem Stadtmarketing gemeinsam mit den Menschen der Region ein weithin sichtbares Zeichen setzen – für ein tolerantes und respektvolles Miteinander, für ein buntes und weltoffenes Elmshorn, für Solidarität, für eine Gesellschaft, die dumpfe Parolen und das Schüren von Ausländerhass nicht toleriert. Für Mittwoch, 6. Dezember, rufen wir zu einer Kundgebung auf dem Lichtermarkt auf – und zwar unter dem Motto ,Elmshorn leuchtet für Toleranz‘ … Unser Verlag bittet die Vereine, die Verbände, die Kirchen, die Parteien, die Schulen und Kindergärten in unserer Stadt, sich an dieser Kundgebung zu beteiligen …“.7
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Zit. im Bericht Scharfe Attacken aus der SPD gegen Kramp-Karrenbauer. Nahles: Lassen uns Europa nicht kaputtreden, in: FAZ Nr. 71 v. 25. 03. 2018, S. 4. 7 Christian Brahmeshuber, Elmshorn setzt ein Zeichen gegen rechte Hetze. Lichtermarkt. Spektakuläre Eröffnung/Kundgebung am 6. Dezember auf dem alten Markt, in: Wedel-Schulauer Tageblatt. Unabhängige Tageszeitung für den Kreis Pinneberg, Nr. 277 v. 28. 11. 2017, S. 1.
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I. „Hetze“, „Hetzer“, „Hetzjagden“
Die in diesem Medienaufruf genannten Kundgebungsziele „tolerantes und respektvolles Miteinander“, „buntes und weltoffenes Elmshorn“, „Solidarität“, „eine Gesellschaft, die dumpfe Parolen und das Schüren von Ausländerhass nicht toleriert“ zeigen zugleich die üblichen Objekte von „Hetze“. Wer die genannten Ziele nicht anerkennt oder sogar kritisch in Frage stellt oder gar das Gegenteil propagiert, betreibt – wie nicht anders zu erwarten – „Hetze“. Der Gebrauch des Wortes „Hetze“ ist dabei nicht auf Akteure der Zivilgesellschaft und auf Medien beschränkt, sondern er hat Eingang auch in offizielle Dokumente und Verlautbarungen von Regierungs- und Verwaltungsorganen gefunden. Als Beispiel sei die Ansprache des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang auf einem Sicherheitssymposium in Berlin am 13. Mai 2019 genannt. Nachdem Haldenwang von einer „Erosion der Grenzen“ zwischen Extremisten und Bürgerlichen gesprochen hatte, konstatiert er: „Aber zurzeit sind die Stimmen, die Hetze verbreiten, lauter.“8 „Hetze“ kann als verbale Hetzjagd aufgefasst werden. Wenn in Medien von „Hetzjagd“ die Rede ist, so ist damit allerdings kein psychischer, sondern ein physischer Vorgang gemeint. Eine in den Medien viel zitierte „Hetzjagd“ (auch „Menschenjagd“ genannt) fand angeblich oder tatsächlich am 26. August 2018 in Chemnitz statt. Anlass war, wie in der Zeitung „Die Welt“ zutreffend (wenn auch unter übertriebener Überschrift: „Sachsen ist überall“), berichtet wurde „ein bislang ungeklärter Todesfall“.9 Inzwischen hat das Landgericht Chemnitz einen der Täter (ein zweiter Tatverdächtiger ist noch flüchtig) wegen gemeinschaftlichen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu neun Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt (noch nicht rechtskräftigt).10 Im Übrigen war die mediale Berichterstattung über das Geschehen in Chemnitz kein Ruhmesblatt für die Medien. Hetzjagd ja oder nein – mal ja, mal nein. Hier Auszüge dazu in ein- und derselben Zeitung: „Zurückgehen dürfte die Dramatisierung auf ein 8 Zit. bei Helene Bubrowski, Die Grenzen und ihre Erosion. Haldenwangs Warnungen, in: FAZ Nr. 111 v. 14. 05. 2019, S. 2. 9 Ulf Poschardt, Sachsen ist überall, in: Die Welt v. 29. 08. 2018, S. 1. 10 Dazu Reinhard Müller, Das Urteil, in: FAZ Nr. 195 v. 23. 08. 2019, S. 1; Stefan Locke, Eine Tat als Projektionsfläche. Vor einem Jahr wurde auf dem Chemnitzer Stadtfest ein 35 Jahre alter Mann erstochen. Nun hat das Gericht einen der Täter verurteilt, in: FAZ Nr. 195 v. 23. 08. 2019, S. 4.
I. „Hetze“, „Hetzer“, „Hetzjagden“
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Video der „Antifa Zeckenbiss“, das unter dem Rubrum „Menschenjagd in Chemnitz“ große Verbreitung fand. Es zeigt eine Szene, die beileibe nicht harmlos ist; es zeigt, wie ein junger Afghane von einem schwarzgekleideten Mann verfolgt wird und die Flucht ergreift.“11 (Frage an den Journalisten: Woher weiß man, dass der Verfolgte ein Afghane war? Trug er ein Schild „Ich bin Afghane“ oder eine afghanische Fahne? D. Verf.). Wenige Tage später war im Leitartikel zu lesen: „Nicht die engagierte Verurteilung der AfD nach den Ereignissen in Chemnitz wird von der Regierungserklärung des sächsischen Ministerpräsidenten vor dem Landtag in Dresden bleiben, sondern dieser Satz: ,Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, und es gab keine Pogrome in Chemnitz.‘ Damit wandte sich Michael Kretschmer gegen eine einseitige Berichterstattung, die von Chemnitz ein Bild gezeichnet hatte, das nicht ganz der Wirklichkeit entsprach … Man kann lange darüber streiten, was denn nun eigentlich ein ,Mob‘ und was eine ,Hetzjagd‘ ist. Die Polizeiberichte aus Chemnitz waren da recht eindeutig und bestätigten (auch im Eigeninteresse) die Sicht des Ministerpräsidenten.“12 Zwei Tage später: „Bei den Ereignissen von Chemnitz war schnell von ,Hetzjagden‘, von ,Menschenjagd‘ und von Pogromstimmung die Rede, auch die Bundesregierung formulierte eilfertig. Die Tötung des 35 Jahre alten Chemnitzers, die, da die Polizei inzwischen einen dritten Täter sucht, nach gemeinschaftlich begangenem Mord aussieht, wurde, wenn überhaupt, nur unter ,ferner liefen‘ erwähnt … Es ist ein Kampf um Deutungshoheit im Gange, bei dem es um Zuschreibungen geht, hinter denen die Wirklichkeit verschwindet …“.13 Selbst mehrere Monate nach dem Geschehen ist der „Kampf um Deutungshoheit“ offenbar immer noch nicht entschieden; denn am 6. November 2018 schrieb Helene Bubrowski in der FAZ zum Video der Gruppe „Antifa Zeckenbiss“: „Ob darauf eine Hetzjagd zu sehen ist, kann man so oder anders bewerten …“.14 Im Dezember desselben 11 Glosse Begriffsklärung. Für den Journalismus ist Chemnitz ein Prüfstein, in: FAZ Nr. 203 v. 01. 09. 2018, S. 16 (miha). 12 Jasper von Altenbockum, Das Körnchen Wahrheit, in: FAZ Nr. 218 v. 06. 09. 2018, S. 1. 13 Glosse Alles gut? Was Demokratiefeinde nicht nur in Schweden stark macht, in: FAZ Nr. 209 v. 08. 09. 2018, S. 16 (miha). 14 Helene Bubrowski, Mit dem Kopf durch die Wand. Maaßen wollte seine Sicht der Dinge klarmachen, ließ die Rede vor Geheimdienstlern übersetzen – und wartete wohl darauf, dass sie durchgestochen wird, in: FAZ Nr. 258 v.
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I. „Hetze“, „Hetzer“, „Hetzjagden“
Jahres gibt es immer noch keine Klarheit. Stefan Locke erwähnt im FAZ-Magazin „ein Handyvideo, das als Beweis dafür galt, dass Hetzjagden auf Ausländer in Chemnitz stattgefunden hatten. Das Video ist echt, ob es eine Hetzjagd zeigt, ist Auslegungssache.“15 Ob am 26. August 2018 in Chemnitz auf einem Handyvideo eine Hetzjagd zu sehen war oder nicht ist also nach der Berichterstattung in einem Qualitätsmedium „Auslegungssache“, die man „so oder anders bewerten kann“. Keine Zweifel hatten demgegenüber Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Sprecher der Bundesregierung Steffen Seibert; beide übernahmen die Version „Hetzjagd“ mit der Folge weltweiter Verbreitung. Obwohl die Urheberin des Videos dem Magazin „Tichys Einblick“ inzwischen mitgeteilt hatte, Hetzjagden habe sie keine gesehen,16 beharrte die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Große Anfrage im Bundestag auf dieser Einschätzung. Diese fuße „auf der Berichterstattung in den Medien“; „über die Presseberichterstattung hinausgehende Erkenntnisse“ lägen der Bundesregierung in dieser Angelegenheit nicht vor.17 Videoaufnahmen machen zuweilen Politik und damit auch Mediengeschichte. Ein heimlich aufgenommenes Video, in dessen Falle dümmlich-naiv ein Vizekanzler und Parteivorsitzender tappte, führte im Mai 2019 zu einer veritablen Regierungskrise in Österreich und zum Sturz der Regierung.18 In Deutschland führte das 19-Sekunden-Video von Chemnitz zwar nicht zu einer Regierungskrise (und schon gar nicht zu einer Staatskrise), aber zum vorzeitigen Ende der Amtszeit des damaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz HansGeorg Maaßen. Die Irrungen und Wirrungen des Falles Maaßen 06. 11. 2018, S. 3, s. auch dies., 19 Sekunden und kein Ende. Maaßen und das Chemnitz-Video, in: FAZ Nr. 197 v. 26. 08. 2019, S. 4. 15 Stefan Locke, Bilder des Jahres, in: FAZ Magazin v. 15. 12. 2018, S. M 34 (Beilage zur FAZ Nr. 292 v. 15. 12. 2018). 16 Zitiert bei Hans Heckel, Gefährlich für Merkel. Hetzjagden? Magazin findet Chemnitzerin mit der Handykamera, in: PAZ Nr. 47 v. 23. 11. 2018, S. 1. 17 Bericht Regierung bleibt bei „Hetzjagden“, in: PAZ Nr. 14 v. 05. 04. 2019, S. 2. Kritisch zur diesbezüglichen Informationspolitik der Bundesregierung schon Hans Heckel, Belogen, in: PAZ Nr. 47 v. 23. 11. 2018, S. 8. 18 Weitergehend Achim Thurnher, Festwochen der Verlogenheit. Das IbizaVideo führt keine Staatskrise herbei, es enthüllt die Staatskrise, unter der Österreich schon lange leidet, in: FAZ Nr. 118 v. 22. 05. 2019, S. 11.
I. „Hetze“, „Hetzer“, „Hetzjagden“
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(Versetzung in den einstweiligen Ruhestand; geplante Beförderung zum Staatssekretär; Entlassung aus dem Amt, Diskussion über eventuellen Ausschluss aus der CDU) sollen hier nicht nachgezeichnet werden; das diesbezügliche Hin und Her betraf die Regierungsorganisation und die politischen Parteien. Im vorliegenden Zusammenhang ist nur die Reaktion der Medien von Belang. Wie erinnerlich hatte Maaßen sich als Kritiker der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin geoutet. Zum Video der Gruppe „Antifa Zeckenbiss“ hatte er gegenüber der Bild-Zeitung erklärt: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist. Nach meiner vorsichtigen Bewertung gibt es gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.“19 In einer Rede in Warschau vor den Chefs der europäischen Inlandsgeheimdienste kritisierte er das Bild von den „Hetzjagden“ mit der Einschätzung: „Dass aber Politiker und Medien ,Hetzjagden‘ frei erfinden oder zumindest ungeprüft diese Falschinformation verbreiten, war für mich eine neue Qualität von Falschberichterstattung in Deutschland“.20 Hans-Georg Maaßen, der sich in seiner Rede vor seinen ausländischen Kollegen als „Kritiker einer idealistischen, naiven und linken Ausländer- und Sicherheitspolitik“ bezeichnet hatte und dem – fast im Sinne einer Verschwörungstheorie – mangelnde Distanz zur AfD vorgeworfen wurde,21 konnte auf keine wohlwollende Presse rechnen, schon gar nicht, wenn er sich per Bild-Zeitung („via Boulevard“) äußerte; beispielhaft für das kritische Urteil über Maaßen formuliert die Leitglosse in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Wer sich im Fall Chemnitz so unrühmlich hervorgetan hat … der darf sich über das Ende seiner Beamtenlaufbahn nicht wundern … Anstatt seine Bedenken im Fall Chemnitz ausschließlich im Hintergrund vorzutragen, spitzte er 19
Zit. bei Helene Bubrowski (Fn. 14). Zit. bei Helene Bubrowski (Fn. 14); dazu auch Bericht Maaßen wird in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Umstrittene Rede/Seehofer: Vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht mehr möglich, in: FAZ Nr. 258 v. 06. 11. 2018, S. 1. 21 Am 16. Januar 2019 twittert Ralf Stegner: „Die Rechtspopulisten von der AfD kommen endlich in den Fokus des Verfassungsschutzes. Dazu musste der unselige Herr Maaßen gehen, damit das passieren kann, was längst überfällig war“, zit. bei Hans Heckel, Prüffall Gloria, in: PAZ Nr. 4 v. 25. 01. 2019, S. 24. 20
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diese via Boulevard in einer Weise zu, die ihn auch als Politiker in Schwierigkeiten gebracht hätte … Letztlich hat er seinen Job verfehlt …“.22 Noch mehr als ein halbes Jahr nach der tatsächlichen oder vermeintlichen Hetzjagd in Chemnitz wurden dem längst entlassenen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz in einem Zeitungsinterview die vorwurfsvoll-kritischen Fragen gestellt: „Wenn Sie sich heute politisch positionieren, haben Sie nicht die Sorge, dass Ihre Entscheidungen als Behördenleiter im Rückblick als parteilich bewertet werden könnten?“ Und: „Das Spannungsfeld bleibt: Von Behördenleitern wird politische Neutralität erwartet, zugleich hat jeder politische Mensch eine Haltung. Wie sind sie damit umgegangen?“ Und: „War es dann im Rückblick ein Fehler, als Behördenleiter dem Kanzleramt in einem ,Bild‘-Zeitungsinterview das Verbreiten von Fehlinformationen in Bezug auf angebliche ,Hetzjagden‘ in Chemnitz vorzuwerfen – und dafür nicht den Dienstweg zu nutzen?“ Schließlich: „Sie hatten in der ,Bild‘-Zeitung den Begriff ,Hetzjagden‘ kritisiert, nachdem auch die Bundeskanzlerin und ihr Sprecher ihn verwendet hatten.“23 Interessant ist hinsichtlich der Maaßen-Affäre, wie in der ausländischen Presse Maaßens Verhalten beurteilt worden ist. Unter der Überschrift „Die deutsche Regierung entledigt sich eines Querkopfs“ war dazu in der „Neuen Zürcher Zeitung“ eher positiv – jedenfalls unaufgeregt – zu lesen: „Schaut man sich die echten und vermeintlichen Fehlleistungen aus der Distanz an, muss man sagen: Der Mann hat in einer aufgepeitschten Situation ein unglückliches Statement abgegeben. Mehr nicht. Maassen war einer der Ersten, die den politischen Betrieb vor den Folgen der unkontrollierten Masseneinwanderung gewarnt haben. Das bleibt sein Verdienst, auch wenn lange niemand auf ihn hören wollte, die Kanzlerin vorneweg.“24 22
S. 1.
Reinhard Müller, Eine Nummer kleiner, in: FAZ Nr. 258 v. 05. 11. 2018,
23 Alle Zitate aus Im Gespräch: Hans-Georg Maaßen, früherer Verfassungsschutzpräsident. „Ich war derjenige, gegen den es eine „Hetzjagd“ gab“ (Interview mit Justus Bender), in: FAZ Nr. 60 v. 12. 03. 2019, S. 4. 24 Marc Felix Serrao, Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maassen wird abberufen. Die deutsche Regierung entledigt sich eines Querkopfs, in: NZZ v. 19. 09. 2018, S. 13. – Zurückhaltendes spätes Lob auch bei Jasper von Altenbockum, Risiken der Einwanderung, in: FAZ Nr. 26 v. 31. 01. 2019, S. 1: „Besonders Maaßen hat Anteil daran, dass der Verfassungsschutz zu einem er-
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Verständlich und nicht ungewöhnlich ist die Reaktion des Entlassenen selbst; Hans-Georg Maaßen ist sich keiner Fehler bewusst. In einem Interview, wiederum veröffentlicht in der „Neuen Zürcher Zeitung“,25 antwortete er auf die Frage: „Vergangenes Jahr mussten Sie Ihren Posten räumen. Sie hatten kritisiert, dass Regierung und Medien von Hetzjagden auf Ausländer in Chemnitz gesprochen hätten, ohne dies schlüssig belegen zu können. Machten Sie einen Fehler?“ „Es ist kein Fehler, die Wahrheit zu sagen.“ Und auf die Frage: „An welchem Punkt endet die Loyalität gegenüber einer Regierung?“ belehrte Maaßen: „Wenn man sieht, dass ein Vorgesetzter sich über Gesetze hinwegsetzt und nicht bereit ist, falsche Entscheidungen zu revidieren, muss man dies aussprechen. Man muss auch den Mut haben, dies einem Minister oder Kanzler zu sagen. Die Bereitschaft zum notwendigen Widerspruch findet man bei Beamten leider immer seltener.“ Loyalität des Beamten – zu diesem Stichwort hätte man sich als Leser der vielen Presseberichte zum Fall Maaßen mehr sachkundige Informationen gewünscht. Dabei hätte auf das im Beamtenrecht seit langer Zeit kodifizierte Remonstrationsrecht zurückgegriffen werden können, zudem auch – soweit es um die Form der Maaßenschen Äußerungen ging – auf die häufig diskutierte sog. „Flucht in die Öffentlichkeit.“ Beamte mit Rückgrat – erwünscht oder unerwünscht?26 Zurück zum Gebrauch des Wortes „Hetze“. Ein inflationärer Gebrauch dieses Ausdruckes schadet seiner Überzeugungskraft: Irgendwann könnte der Unterschied zwischen der notwendigen Kategorie der „Kritik“ und der nicht zu tolerierenden Kategorie der „Hetze“ unscharf werden. Schließlich – auf die Spitze getrieben – könnte sich die ketzerische Frage stellen, ob auch eine „Hetze“ gegen „Hetzer“ denkbar ist. So geartete Wortspiele dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass unbestreitbare Hetze unbestreitbar zu ernsten Gefahren folgreichen Dreh- und Angelpunkt der Islamistenbekämpfung geworden ist. Hat es ihm jemand gedankt?“. 25 Text des Interviews: „Nur mit dem Verstand sieht man gut.“ Hans-Georg Maassen war Chef des deutschen Inlandgeheimdienstes. Dann widersprach er der Kanzlerin und verlor sein Amt. Wer in Deutschland vom politischen Mainstream abweiche, werde stigmatisiert, sagt er im Gespräch mit Jonas Hermann und Hansjörg Müller, in: NZZ v. 10. 05. 2019 (Internationale Ausgabe), S. 6. 26 Historisch-soziologische Untersuchung zu früherer Zeit: Herbert von Borch, Obrigkeit und Widerstand. Zur politischen Soziologie des Beamentums, Tübingen 1954.
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von im öffentlichen Leben stehenden Persönlichkeiten und damit auch für das demokratische System in unserem Land führen kann. Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Auch wenn bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Gerichtsurteils gegen den Tatsverdächtigen noch manches Detail nicht völlig geklärt sein mag27, so liegen doch schon jetzt belastende Erkenntnisse zum politischen und damit auch zum sprachlichen Umfeld des Täters vor. Bundeskanzlerin Angela Merkel lag gewiss nicht falsch, als sie über eine Regierungssprecherin verlauten ließ: „Sprache kann zu Hetze, Hetze zu Taten werden.“28 Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sieht in seiner Rede im Bundestag auf Walter Lübcke in menschenfeindlicher Sprache den Nährboden für Gewalt.29 Die Geschichte politischer Morde, verbunden allein in Deutschland z. B. mit den Namen Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Matthias Erzberger, Walter Rathenau, Hanns-Martin Schleyer, Siegfried Buback, Alfred Herrhausen, Jürgen Ponto, Detlev Karsten Rohwedder, ist lang; sie beginnt bereits lange vor der Digitalisierung der Meinungsbildungsprozesse in den sozialen Medien, in denen, wie Constantin van Lijnden zutreffend feststellt, „allzu oft das Asoziale gedeiht“ und deren Mechanismen „zur Verrohung der Sprache und Radikalisierung des Denkens führen können“.30 Die Politik hat dies erkannt: „Der Hass lauert im Netz“, sagt Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul
27 Beispiel für Hin und Her: Das Geständnis des Verdächtigen; dazu Jonas Hermann, Rechtsextremist gesteht Mord. Verdächtiger im Fall Lübcke bricht sein Schweigen, in: NZZ Nr. 147 v. 28. 06. 2019 (Internationale Ausgabe), S. 1; Bericht Stephan E. widerruft Geständnis. Verdächtiger im Fall Lübcke zieht Aussagen zurück/Kaum Auswirkungen auf Verfahren, in: FAZ Nr. 150 v. 03. 07. 2019, S. 1. 28 Zit. in Bericht Politiker fordern Debatte über verrohte Sprache. Merkel: Hetze kann zu Taten werden/Morddrohungen gegen Bürgermeister, in: FAZ Nr. 141 v. 21. 06. 2019, S. 1. 29 Zit. bei Marc Felix Serrao, Neonazi gesteht Mord an CDU-Politiker Lübcke. Die AfD und der Dünger der Gewalt, in: NZZ v. 28. 06. 2019 (Internationale Ausgabe), S. 17. 30 Constantin van Lijnden, Die Filterblase zum Platzen bringen, in: FAZ Nr. 150 v. 03. 07. 2019, S. 1.
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bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2018 in Düsseldorf.31 Die Diagnose ist klar. Eine erfolgversprechende Therapie ist nicht in Sicht. Zuzustimmen ist der fast resignierenden medialen Feststellung: „Der Hetze ist kaum beizukommen. Nicht jeder aggressive Satz ist gleich ein Aufruf zum Mord, aber letztlich ist es eine Frage, auf welchen Empfänger dieser Satz stößt und was der daraus macht. Der Boden ist bereitet. Und diejenigen, die sich darauf niederlassen, finden ihren Platz.“32 Wer ist in der Lage, der Hydra von Hass im Netz Paroli zu bieten? Alle sind gefordert – aber wie? Jedenfalls sollte die Sprache der Politik keinen Beitrag zur Verrohung der Sprache leisten33 : „Ab morgen kriegen sie in die Fresse“ (Andrea Nahles) war deshalb kein vorbildhafter Satz.
31 Notiz Mehr politische Gewalt, in: FAZ Nr. 152 v. 04. 07. 2019, S. 1. – Zu strafrechtlichen Ermittlungen s. Julian Staib, Tausende Verfahren gegen den Hass. Hessen geht verstärkt gegen Hetzer vor, in: FAZ Nr. 154 v. 06. 07. 2019, S. 2. 32 Katharina Iskandar, Der Boden ist bereitet, in: FAZ Nr. 141 v. 21. 06. 2019, S. 1. 33 Dazu Ingo von Münch, Die Sprache der Politik. Glaubwürdigkeit als Grundvoraussetzung, in: Sprachnachrichten Nr. 82 (II/2019), S. 7.
J. Der Meinungskorridor: eng und langweilig Bernhard Schlink ist nicht irgendwer: Wenn es eine Zuordnung der deutschen Staatsrechtslehrer in eine Liga gäbe, würde der Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin zweifellos zur Bundesliga gehören. Sein gemeinsam mit Bodo Pieroth verfasstes Lehrbuch „Grundrechte“ ist inzwischen in 31. (!) Auflage erschienen.1 Bernhard Schlink hat sich aber nicht nur in der Wissenschaft seines Faches einen Namen gemacht, sondern bekanntlich auch in der Belletristik. Sein – auch verfilmter – Roman „Die Vorleserin“, dem weitere Romane aus seiner Feder folgten, wurde ein in 45 Sprachen übersetzter Welterfolg.2 Nicht mit der Szene eines fiktiven Romans, sondern mit der Realität des Mainstreams hat Schlink sich in seinem umfangreichen und mit zahlreichen Beispielen belegten Beitrag „Der Preis der Enge“ befasst.3 Der Autor, unzweifelhaft nicht der rechten politischen Szene nahe stehend, kritisiert in diesem Beitrag unter anderem die Kommunikationslosigkeit zwischen dem Mainstream und den Rechten. Fazit: Die „Engführung des Mainstreams“ habe „auch dem Mainstream nicht gutgetan. Als er weit, offen, vielfältig war, war er lebendig. Je enger er wurde, desto moralisch anmaßender und intellektuell langweiliger wurde er.“ In der Unterzeile des Beitrages wird „der gesellschaftliche und politische Mainstream“ genannt.4 Zu diesem gehört auch, ohne von 1
Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 31. Aufl. Heidelberg 2015. 2 Bernhard Schlink, Der Vorleser, Zürich 1995, inzwischen in 78. Auflage. 3 Bernhard Schlink, Der Preis der Enge. Wie der gesellschaftliche und politische Mainstream die Rechten stärkt, in: FAZ Nr. 176 v. 01. 08. 2019, S. 8. 4 Kritische Leserbriefe zu dem Beitrag von Schlink in: FAZ Nr. 181 v. 07. 08. 2019, S. 6. Grundsätzliche, aber nicht überzeugende Kritik von Peter Altmaier, Bürgerliche Moderne. Der Mainstream ist ausgewogener und umfassender als je zuvor. Er nimmt den Einzelnen ernst. Gerade diese Freiheit ist es allerdings, die viele Konservative schreckt. Versuch einer Antwort auf Bernhard Schlink, in: FAZ Nr. 200 v. 29. 08. 2019, S. 7. Kritik an Altmaiers Beitrag bei Christoph Bergner, Altmaiers Bild der „Rechten“ ist vorurteilsgeprägt (Leserbrief), in:
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Schlink ausdrücklich genannt zu werden, der Bezug zu den Medien („Mainstream-Medien“). In seinem den Islam gegen Kritik in Schutz nehmenden Buch „Die Panikmacher“ unterzieht Patrick Bahners von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ den Ausdruck „Mainstream-Medien“ einer extrem kritischen Beurteilung: „Politische Korrektheit“ und „MainstreamMedien“ seien „Chiffren einer radikalen Hermeneutik des Verdachts, die eine ähnliche Funktion haben wie in der Weimarer Republik die Hetzparolen vom ,System‘ und den ,Systemparteien‘.“5 Ist diese harte Kritik am Begriff „Mainstream-Medien“ berechtigt? Eine Antwort auf diese Frage sollte zunächst klären, welche inhaltliche Bedeutung diesem Begriff aktuell innewohnt. Eine gesetzliche Definition dazu ist nicht vorhanden. Im allgemeinen Sprachgebrauch, insbesondere in politischen Zusammenhängen, kommen dem Ausdruck „Mainstream“ wohl Inhalte wie „richtungweisend“, „Trendsetter“, „Mehrheitsmeinung“ oder „Meinungsdominanz“ am nächsten. Der Jurist wird an die Formel der „herrschenden Lehre“ („h.L.“) oder „herrschenden Meinung“ („h.M.“) erinnert. Eine negative Konnotation ergibt sich, wenn „Mainstream-Medien“ als „Meinungskartell“ gesehen werden und die darin ausgeübte Tätigkeit – in einer Formulierung von Helmut Schmidt – als „Hordenjournalismus“.6 Letztlich geht es darum, wer mit welcher Meinung den öffentlichen Diskurs in den meinungsbildenden Medien (den sog. Leitmedien) bestimmt und wer nur außerhalb dieser Medien zu Wort kommt. Inhaltlich geht es allen Beteiligten nicht um Wahrheit oder Unwahrheit7 (soweit nicht Fake News in Rede stehen8), sondern um Ur-
FAZ Nr. 204 v. 03. 09. 2019, S. 8; Reinhard Müller, Die Farben der Freiheit, in: FAZ Nr. 204 v. 03. 09. 2019 S. 1. 5 Patrick Bahners, Die Panikmacher, München 2011, S. 35. 6 Ähnliche Formulierung: „Rudeljournalismus“; s. dazu Alex Baur, Wider die moralische Erpressung, in: Die Weltwoche Nr. 22/2013, S. 34: „Die Meinungsbildung findet nach wie vor in erster Linie über die etablierten Medienkanäle statt. Doch wehe, wenn Journalisten Rudel bilden …“. 7 Dazu Robert Misik, Was ist wahr in diesem Jahr? Die Medien und der Mainstream-Verdacht, in: NZZ v. 17. 09. 2016, S. 52. 8 Dazu Michael Meyer-Resende, Fake News sind nicht das einzige Problem. Für die Verteidigung der Demokratie im Internet reicht kein Faktencheck. Statt
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teile im Sinne von Beurteilungen, vor allem im Sinne einer Wertung als positiv oder negativ und einer Gewichtung als wichtig oder unwichtig. Offensichtlich lebt der Mainstream von einem Meinungskorridor und in einem Meinungskorridor. Wer sich innerhalb des Meinungskorridors bewegt, entgeht der Gefahr, politisch-moralisch anzuecken, konkret: die Gebote der Political Correctness nicht einzuhalten. Die Wände des Meinungskorridors, also die von ihm gesetzten Grenzen, markieren notwendig und bedauerlich publizistische Eintönigkeit – hart formuliert: Einheitsbrei. Selbst Günter Grass hat schon 2009 in seinem Buch „Als der Zug abfuhr. Rückblick auf die Wende“ sogar unter Nennung bestimmter Medien bemerkt: „Beklemmend wirkt sich die Vereinheitlichung der öffentlichen Meinung von ,Spiegel‘ über die ,FAZ‘ bis zur Wochenzeitung ,Die Zeit‘ aus“.9 Ein neueres Beispiel dieser Kritik findet sich in einem zustimmenden Leserbrief zu dem Beitrag von Bernhard Schlink. Gerügt wird „die immer deutlicher werdende Einseitigkeit des gesellschaftlichen und politischen Mainstreams, einschließlich des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und Rundfunks, gegenüber den von diesem Mainstream abweichenden Meinungen, die zum Teil übergangslos einem undemokratischen rechten Denken zugerechnet werden“; „diese Einseitigkeit“ werde „schon lange als einer wahren Demokratie unwürdig“ empfunden.10 Kritik an der Medienkonformität des Mainstreams sollte gewiss nicht leichtfertig in die Welt gesetzt werden. Diese Kritik sollte aber auch nicht – vor allem nicht von den in den Medien Tätigen – auf die leichte Schulter genommen und allenfalls mit einem Achselzucken ad acta gelegt werden; denn wer, wie der Autor dieses Buches, der Auffassung ist, dass die Bedeutung der Medien in einer freiheitlichen Demokratie gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, sollte jene Kritik nicht ignorieren. Kein Grund zur Beruhigung ist es, dass die Engführung des Mainstreams sich nicht nur in der Medienlandschaft bemerkbar macht, sondern inzwischen auch die Hochschulen erreicht
über Fehler und Falschmeldungen muss über die Mechanismen der Meinungsbildung geredet werden, in: FAZ Nr. 187 v. 14. 08. 2019, S. 11. 9 Günter Grass, Als der Zug abfuhr. Rückblicke auf die Wende, Göttingen 2009, S. 52. 10 Friedhelm Sieker, Immer deutlicher werdende Einseitigkeit (Leserbrief), in: FAZ Nr. 178 v. 03. 08. 2019, S. 6.
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hat11, und dass das Erscheinungsbild des Mainstreams nicht auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt ist.12 Bernhard Schlink hat, wie erwähnt, die Tendenz des enger werdenden Mainstreams registriert, „moralisch anmaßender und intellektuell langweiliger“ zu werden. Langweiligkeit ist mit das Schlimmste was einer Zeitung oder einer Rundfunksendung vorzuwerfen ist; denn der Rezipient ist prinzipiell neugierig und interessiert. Wenn der publizistische Mainstream eng geführt wird, lässt er sich so definieren: Mainstream ist, wenn man schon vor der Lektüre eines Zeitungsartikels weiß, was drin steht. Zwei Namen genügen als Beispiele: Thilo Sarrazin und Clemens Tönnies. Die mediale Treibjagd auf Sarrazin ist bekannt; sie ist in den sog. Qualitätsmedien üblich, geläufig, sich wiederholend, stereotyp und vorhersehbar. Seine so heftig kritisierten Bücher sind zwar nicht unbedingt lesenswert; aber das gängige Sarrazin-bashing kann inzwischen kaum mehr als ein Gähnen des Lesers hervorrufen. Wie überraschend und erfrischend wäre es deshalb, wenn einer der Meinungsbildner wenigstens einmal aus dem Meinungskorridor des Mainstream ausbräche, im Fall Sarrazin also den üblichen medialen Prügel aus der Hand legen würde. Als das zuständige Parteigremium der SPD den Weg für einen möglichen Ausschluss des unliebsamen Autors aus der Partei frei machte, war dies der „Süddeutschen Zeitung“ eine Leitglosse wert – zu Recht.13 Nur: Was war der Inhalt? Erwartete den Leser eine Neuigkeit, eine interessante Überraschung gar – etwa des Inhalts: „Hat die SPD derzeit keine anderen Sorgen als die Mitgliedschaft eines Thilo Sarrazin? Wie geht eine Partei, deren Vorsitzender einst ,mehr De11 Vgl. Hannah Bethke, Die Feigheit der Wissenschaft. Der enge Mainstream hat die Hochschulen erreicht. Im Streit um ein Vorhaben des Historikers Jörg Baberowski entledigt sich die Humboldt-Universität eines politisch unliebsamen Professors, in: FAZ Nr. 182 v. 08. 08. 2019, S. 9; s. auch Sandra Kostner, Der eindimensionale Akademiker. Wenn Wissenschaftler eine Agenda verfolgen, verdrängen Macht und Moral an Hochschulen die Erkenntnis, in: NZZ v. 13. 01. 2020, S. 25. 12 Beispiel aus den USA bei Michael Hanfeld, Trump v. Hitler. Aufruhr um eine Titelseite der „New York Times“, in: FAZ Nr. 182 v. 08. 08. 2019, S. 13; zit. wird u. a. die Kongressabgeordnete der Demokraten Alexandria Ocasio-Cortez, die in der Überschrift „die Feigheit der Institutionen des Mainstreams“ erkennen wollte. 13 Jens Schneider, Der Fremde, in: SZ Nr. 159 v. 12. 07. 2019, S. 4.
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mokratie wagen‘ wollte, mit einem Querdenker um? Welche Meinungsäußerungen des Autors Sarrazin sind für die SPD schädlich und worin liegt konkret der angebliche Schaden?“14 Nichts von alldem findet sich in der Glosse, stattdessen die alte Leier: Es sei „gut, dass nach mehreren vergeblichen Versuchen nun entschieden ist, dass die Partei ihn ausschließen kann“ … Mit Demokratie „hat der Fall Sarrazin nichts zu tun“ (wirklich nicht, möchte man als Leser fragen – gehört zur Demokratie nicht auch Meinungsfreiheit?). „Der einstige Berliner Finanzsenator hat in seinen Büchern krude islamophobe Thesen formuliert …“ (wie wäre es, etwas weniger dramatisierend, mit „islamkritischen Thesen“?15) „Es ist logisch, dass er mit diesen abseitigen Thesen nie eine Rolle in ihren (gemeint ist: der SPD, d. Verf.) Debatten spielen konnte.“ Wenn aber Sarrazins Thesen in den Debatten seiner Partei „nie eine Rolle spielen konnten“ – wie könnten sie dann einen Parteiausschluss rechtfertigen? Fazit der Lektüre dieser Leitglosse: Nichts Neues im Meinungskorridor des Mainstreams. Nur Bla, Bla. Keine Überraschung ist es dann auch, wenn Heribert Prantl in seinem Verfolgungseifer in der „Süddeutschen Zeitung“ meint, „wenn die SPD einen wie Sarrazin einfach weitermachen ließe. Das wäre nicht Ausdruck von Gelassenheit, sondern von politischer Liederlichkeit.“16 14
Kritisch zum Umgang der SPD mit Thilo Sarrazin und seinen „kruden Thesen“ in dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“ auch Susanne Gaschke, Gesundbetung im Angesicht der Katastrophe. Das Show-Format zur SPDVorsitzenden-Wahl bringt alle Fehlentwicklungen auf den Punkt, in: NZZ v. 19. 11. 2019, S. 35. – Kritisch zur fehlenden Dialogbereitschaft der Kritiker von Thilo Sarrazin auch Jaques Schuster, Sarrazin ist zurück. Am Donnerstag veröffentlicht der umstrittene SPD-Politiker sein Buch über den Islam. Es wird wieder die Gemüter erregen, zu wütenden Attacken führen und zeigen, wie es um unsere Debattenkultur steht, in: Die Welt v. 27. 08. 2018, S. 3. 15 Kritisch zu Pauschalurteilen als „islamophob“ Kacem El Ghazzali, zit. bei Lucien Scherrer, Der böse Flüchtling. Ein Atheist aus Marokko warnt vor einer naiven Haltung gegenüber dem politischen Islam – und wird dafür gehasst, in: NZZ v. 29. 09. 2017, S. 17; Ruud Koopmans, So gewinnt der Fundamentalist. Wer Islam-Kritiker pauschal als Islamophobe abtut, macht es sich zu leicht, in: NZZ v. 20. 02. 2020, S. 37; ders., Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020. Zum muslimischen Antisemitismus: Ayaan Hirsi Ali, Mein lieber Gott, vernichte sie alle. Ich wuchs in einer von muslimischem Antisemitismus durchdrungenen Welt auf. Wie habe ich mich davon befreit?, in: NZZ v. 05. 10. 2019 (Internationale Ausgabe), S. 25. 16 Heribert Prantl, Irrlicht Sarrazin, in: SZ v. 01. 02. 2020, S. 5.
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Clemens Tönnies war vermutlich außerhalb seiner Heimatstadt, außerhalb seiner Unternehmensbranche und außerhalb des Fußballvereins Schalke 04 kaum bekannt. Das änderte sich schlagartig, als der Mainstream einen medialen Tornado entfesselte. Der Grund: ein Halbsatz. Auf einer Wirtschaftstagung in Paderborn hatte Tönnies angeregt, man solle den Bau von Kraftwerken in Afrika finanzieren: „Dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzieren.“ In Afrika haben Millionen von Wohnstätten keinen elektrischen Strom. Insbesondere in den ländlichen Regionen ist dies ein gravierender Mangel für die Lebensverhältnisse der dort lebenden Menschen. Das Heizungsmaterial für die Zubereitung von Mahlzeiten in den oft ärmlichen Hütten wird aus den Wäldern geholt. Beide Tatsachen zeigen, dass die von Clemens Tönnies geäußerte Anregung, in Afrika Kraftwerke zu bauen, dies auch um das Abholzen von Wäldern zu verringern, durchaus erwägenswerte und menschenfreundliche Gedanken sind. Selbst der des Rassismus gewiss unverdächtige AfrikaBeauftragte der Bundeskanzlerin Günter Nooke hat Tönnies in Schutz genommen mit der Anmerkung: „Die von Tönnies angesprochenen Probleme, wie das Verschwinden des Regenwalds und das Bevölkerungswachstum auf dem afrikanischen Kontinent, sind real. Und darüber muss gesprochen und gegebenenfalls kontrovers diskutiert werden.“17 Gesprochen und kontrovers diskutiert wurde in den MainstreamMedien weder über Tönnies’ Äußerung zum Bau von Kraftwerken noch über seine Kritik am Abholzen. Diskutiert wurde überhaupt nicht, sondern es wurde allein seine Äußerung zum Bevölkerungswachstum kritisiert, dies mit dem scharfen Vorwurf des Rassismus. Zuzugeben ist: Ein Halbsatz mit der auf „die Afrikaner“ bezogenen Formulierung „und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzieren“, ist geschmacklos und gehört sich nicht. Ich hätte so etwas nicht gesagt. Punkt. Aber aus diesen wenigen Worten eine seitenlange mediale 17 Zit. bei Michael Horeni, Spielt nicht mit den Schmuddelkindern? Im deutschen Fußball ist es dank der sensiblen Öffentlichkeit schwierig geworden, etwas unter den rechten Teppich zu kehren. Aber inzwischen lässt sich auch am Fall Tönnies ein Übermaß an moralischer Empörung erkennen. Sie spielt Radikalen wie Rassisten in die Hände, in: FAZ Nr. 184 v. 10. 08. 2019, S. 32.
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Haupt- und Staatsaktion zu machen18, kann wohl als übertrieben bezeichnet werden19. Dem Shitstorm im Meinungskorridor folgte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) gehorsam, dessen Ethikrat und Ethikkommission sich mit dem Fall Tönnies beschäftigten. Auch die DFBEthik-Kommission vertrat demgemäß die Auffassung, dass die Qualifizierung des Ausspruches von Tönnies als rassistisch „nach allgemeinem Sprachverständnis zu Recht“ erfolgt sei; sein Satz „wäre zumindest geeignet, rassistisches Gedankengut an anderer Stelle zu unterstützen“. Jedoch habe Tönnies, so die Kommission, „ausreichend Reue gezeigt“.20 Die DFB-Ethik-Kommission verzichtete schließlich auf eine Anklageerhebung, weil „Herr Tönnies bei der eingehenden Anhörung und Befragung überzeugend vermitteln konnte, dass er kein Rassist ist“.21 Ethik allerorten: In den Nachrichten von ntv durfte ein „Ethiker“ den Fall Tönnies kommentieren, natürlich mit der dem Mainstream entsprechenden gehörigen Kritik. Wenn die Rassismuskeule niedersaust22, nutzt auch eine Entschuldigung des Gerügten nichts. Ein Leserbrief im „Hamburger Abendblatt“ bemerkt dazu: „Ich war in dieser Diskussion 18
Beispiel für ausufernde Berichterstattung in: FAZ Nr. 182 v. 08. 08. 2019 S. 28: Daniel Theweleit, Was ist schon Rassismus? Schalkes Ehrenrat sieht in den Äußerungen von Clemens Tönnies „nur“ Diskriminierung. Der Aufsichtsratschef will sein Amt drei Monate ruhen lassen – und erntet neue Kritik; Anno Hecker, Der Irrweg bei Tönnies. Törichtes Schalke, in: FAZ Nr. 182 v. 08. 08. 2019, S. 28; Daniel Theweleit, Grossmetzger auf der Anklagebank. Clemens Tönnies, Chef des FC Schalke 04, muss sich nach rassistischen Äußerungen vor dem Ehrenrat des Bundesligisten verteidigen, in: NZZ v. 07. 08. 2019, S. 35. 19 In diesem Sinne kritisch auch Peter Entinger, Politik beherrscht das Spielfeld. „Politische Korrektheit“ greift auch im Fußball immer weiter um sich – Harmlose Vorkommnisse aufgebauscht, in: PAZ Nr. 33 v. 16. 08. 2019, S. 3. 20 Zit. in Notiz DFB leitet kein Verfahren gegen Tönnies ein, in: FAZ Nr. 201 v. 30. 08. 2019, S. 31; s. auch Anno Hecker, Öffentliche Prüfung, in: FAZ Nr. 201 v. 30. 08. 2019, S. 31. 21 Zit. In Notiz Kein Verfahren gegen Clemens Tönnies, in: Die Welt v. 30. 08. 2019, S. 19. 22 Zur Rassismuskeule: Ingo von Münch, Knüppel gegen Meinungen: Die Rassismuskeule, in: PAZ Nr. 30 v. 29. 07. 2016, S. 8; Judith Sevinç Basad, Die Rassismuskeule macht viele mundtot. Lieber schweigt man heute in politischen Debatten, um ja nicht beschimpft zu werden. Davon profitiert eine radikale Minderheit, in: NZZ v. 21. 12. 2019 (Internationale Ausgabe), S. 21.
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darüber entsetzt, wie erbittert manche Politiker und die Presse hierzulande auf die – natürlich politisch nicht korrekte – Aussage von Herrn Tönnies reagiert haben, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, dessen Entschuldigung zu akzeptieren.“23 Wo wird Empörung zur Hysterie? Erinnerung: Vor einigen Jahren meinte Gloria Gräfin von Thurn und Taxis, Afrikaner „schnackseln“ gern. Allgemeine Reaktion: Schmunzeln. Der Meinungskorridor ist offensichtlich enger geworden. Wohltuend ist es, wenn außerhalb des Orchesters der Empörung noch eine eigenständige Meinung wahrnehmbar ist, so – wiederum im „Hamburger Abendblatt“ – in einem Kommentar des stellvertretenden Chefredakteurs Matthias Iken zur Kritik an Clemens Tönnies: „Es ist erschreckend, dass Akzentuierungen in der öffentlichen Empörung kaum noch möglich scheinen … Wer bestimmt eigentlich, was noch gesagt und nicht mehr gesagt werden darf?“ … Als das Wort („ein Fehlgriff“) dann „in der Welt war, begann in Politik und Medien ein Wettrüsten der Empörung. Einer schreit Rassist – und alle brüllen mit. Es ist ja auch so einfach – man stellt den Bösewicht (Tönnies) ins Aus und inszeniert sich als besserer, moralischer Mensch. Je härter man den bösen ,Rassisten‘ kritisiert, umso edler steht man als Antirassist da.“24 Nachtrag zur demographischen Entwicklung ein Afrika-Zitat aus der FAZ: „Nigeria, schon heute ein Bevölkerungsriese, wird bis 2050 eine Verdoppelung auf 400 Millionen erleben, bis 2100 sollen es laut UNPrognose kaum vorstellbare 793 Millionen werden.“25 Der enge Meinungskorridor ist im Übrigen keine ganz neue Erscheinung; denn schon im Jahr 2014 äußerte der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, er habe das Gefühl: „Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche 23 Norbert Schäfer, Typisch deutsche Reaktion? (Leserbrief), in: HA v. 13. 08. 2019, S. 2. 24 Matthias Iken, Vorsicht mit der Rassismuskeule. Die Aussagen von Clemens Tönnies waren schlimm. Angst macht aber die Maß- und Gnadenlosigkeit seiner Kritiker, in: HA v. 10./11. 08. 2019, S. 2. Kritisch zum Vorwurf „Rassismus“ im Fall Tönnies auch Jost Müller-Neuhof, Pups oder Giftgas. Über Rassismus und Kriminalität von Migranten, in: „Tagesspiegel am Sonntag“ v. 11. 08. 2019, S. 7: „… Allerdings muss man fragen, ob der Vorwurf ,Rassismus‘ berechtigt ist. Nicht jeder Pups ist eine Giftgaswolke. Rassismus ist als Diagnose mittlerweile inflationär.“ 25 Philip Plickert, Ökonomisch-demographischer Teufelskreis, in: FAZ Nr. 6 v. 08. 01. 2019, S. 15.
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Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.“26 Horst Pöttker (früher Professor für Journalistik an der TU Dortmund) erwähnt in seiner Darstellung der Pressefreiheit in Deutschland „selbst auferlegte Beschränkungen, die aus einem allzu pädagogischen Berufsverständnis mancher Journalisten herrühren“.27 Da ist er wieder: Der Journalist als Erzieher und der selbst gewählte Meinungskorridor als Selbstgefährdung der Pressefreiheit.
26 Zit. bei Uwe Krüger, Medien im Mainstream. Problem oder Notwendigkeit?, in: APuZ 66. Jg. H. 30 – 32/2016 v. 25. 07. 2016, S. 22 ff. (22). 27 Horst Pöttker, Pressefreiheit in Deutschland. Nutzen, Grenzen, Gefährdungen, in: APuZ 66. Jg. H. 30 – 32/2016 v. 25. 07. 2016, S. 9 ff. (12).
K. Verrutschte Maßstäbe Die Kleinstadt Wächtersbach im Main-Kinzig-Kreis bietet nicht oft Anlass zu einer Schlagzeile in den Medien. Im Juli 2018 änderte sich dies: Wächtersbach war Ort eines schlimmen Verbrechens geworden, über das die lokale und die überregionale Presse ganz besonders ausführlich berichtete. Was war geschehen? Unter der Überschrift „Rassistischer Mordanschlag in Wächtersbach“ schilderte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ den Vorfall auf Seite 1, beginnend mit: „Im hessischen Wächtersbach ist ein 26 Jahre alter Eritreer am Montag wegen seiner Hautfarbe auf offener Straße angeschossen worden. Nachdem der Täter, ein 55 Jahre alter Deutscher, das Feuer auf den Eritreer eröffnet hatte, floh er und richtete sich danach selbst. Der Eritreer erlitt eine Schussverletzung im Bauch und befindet sich seit einer Notoperation in einem stabilen Zustand.“1 Zum Motiv des Täters war in dem Bericht zu lesen: „Nach ersten Erkenntnissen der Ermittler war die Tat fremdenfeindlich motiviert.“ Der Täter selbst konnte nach seinem Motiv von den Ermittlern verständlicherweise nicht mehr befragt werden. Jedoch deuten alle Umstände des Geschehens auf eine fremdenfeindliche Gesinnung des Täters hin; wegen der Hautfarbe des Opfers ist in diesem Fall das oft inflationär gebrauchte Wort „rassistisch“ angebracht. Da der Sachverhalt klar ist, kann auch das Urteil über die kriminelle Tat in Wächtersbach nicht anders lauten als von Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier artikuliert: „Dass ein Mensch einzig wegen seiner Hautfarbe auf offener Straße angeschossen wird, ist entsetzlich.“2 1
oll/jib, Rassistischer Mordanschlag in Wächtersbach. Eritreer durch Bauchschuss lebensgefährlich verletzt / „Aufgrund von Hautfarbe ausgewählt“, in: FAZ Nr. 169 v. 24. 07. 2019, S. 1. 2 Zit. bei Julian Staib, „Ich habe auf einen Asylanten geschossen“. Vor dem Mordanschlag von Wächtersbach ging der Schütze in seine Stammkneipe und kündigte die Tat an – danach kehrte er zurück, gestand und trank zwei Bier, in: FAZ Nr. 170 v. 25. 07. 2019, S. 4.
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Ein merkwürdiger Zufall brachte es mit sich, dass kurze Zeit nach dem Anschlag auf den Eritreer in Wächtersbach erneut ein Eritreer mediale Aufmerksamkeit auf sich zog, diesmal allerdings nicht als Opfer, sondern als Täter. Am 29. Juli 2019 stieß ein aus der Schweiz nach Deutschland eingereister 40 Jahre alter Eritreer im Hauptbahnhof von Frankfurt am Main eine Mutter und deren achtjährigen Sohn gezielt vom Bahnsteig vor einen einfahrenden ICE-Zug. Während die Mutter sich in letzter Sekunde gerade noch retten konnte, wurde das Kind von dem Zug erfasst und getötet. Der Täter floh, konnte aber außerhalb des Bahnhofs festgenommen werden, da mehrere Zeugen den Vorfall beobachtet hatten. Täter und Opfer kannten sich nicht, so dass eine Beziehungstat, die in den Medien oft als weniger gravierend erscheint, ausschied. Die Ausführung des Mordes im Frankfurter Hauptbahnhof erinnerte an die nur einige Tage vorher erfolgte Ermordung einer 34 Jahre alten Frau, die im Bahnhof der niederrheinischen Stadt Voerde von einem in Deutschland geborenen serbischen Staatsangehörigen ebenfalls vor einen einfahrenden Zug gestoßen worden war.3 Für die Opfer dieser Morde und für die Angehörigen der Opfer wiegen die Taten gleich schwer. Auffallend und eigentlich erklärungsbedürftig ist allerdings der Unterschied im Maß der Berichterstattung. Der Anschlag in Wächtersbach wurde in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 24. Juli auf S. 1 dreispaltig dargestellt4, in derselben Ausgabe auf S. 2 noch einmal vierspaltig5, schließlich in derselben Ausgabe Gegenstand einer Leitglosse auf Seite 8.6 Am folgenden Tag befasste die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sich erneut mit der Tat in Wächtersbach, nämlich in einer Notiz auf der ersten Seite7 und vierspaltig auf der vierten Seite.8 3
Bericht Heimtückisch, aus Mordlust. Der mutmaßliche Täter von Voerde ist polizeibekannt, in: FAZ Nr. 168 v. 23. 07. 2019, S. 7. – Notiz Verdächtiger von Voerde wohl nicht schuldfähig, in: FAZ Nr. 216 v. 17. 09. 2019, S. 7. 4 Siehe Anm. 1. 5 Julian Staib, Auf offener Straße. Ein Mann aus Eritrea wird angeschossen, der mutmaßliche Täter tot aufgefunden. Zuhause soll er Devotionalien mit Hakenkreuzen gehortet haben und einige Waffen, in: FAZ Nr. 169 v. 24. 07. 2019, S. 2. 6 bko, In den Arm fallen, in: FAZ Nr. 169 v. 24. 07. 2019, S. 8. 7 jib, Täter soll Angriff auf Flüchtling angedroht haben, in: FAZ Nr. 170 v. 25. 07. 2019, S. 1.
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Im Vergleich dazu war die Berichterstattung in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu dem Kindesmord im Frankfurter Hauptbahnhof geradezu karg: Eine Notiz (immerhin auf Seite 1)9 und ein weiterer, etwas ausführlicherer Bericht auf S. 7 (einspaltig)10. Ein Leitartikel unter der Überschrift „Mord im Hauptbahnhof“ befasste sich nicht nur mit dem dortigen Kindesmord, sondern behandelte zudem auch den Mord im Bahnhof von Voerde wie überhaupt „die allgemeine Sicherheitslage“.11 Dem unvoreingenommenen Leser drängt sich die Frage auf: Warum war die mediale Aufmerksamkeit in einem sog. Qualitätsmedium zu dem Vorgang in Wächtersbach (bei dem das Opfer immerhin – wenn auch schwer verletzt – überlebte) so anders gewichtet als bei der Tat in Frankfurt (bei der das Opfer starb)?12 Verrutschte Maßstäbe waren auch in der publizistischen Berichterstattung im Fall „Oma-Gate“ zu beobachten13. Der Sachverhalt ist bekannt: Dem in der Kölner Silvesternacht 2015 auf 2016 schweigsamen Westdeutschen Rundfunk (WDR) gelang es, am Tag nach Weihnachten 2019 (genau: am 27. Dezember, diesmal also kurz vor Silvester) in die Schlagzeilen der deutschen und der ausländischen Presse zu geraten. Was war geschehen? Die „Süddeutsche Zeitung“ informierte darüber: „Der WDR Kinderchor, der bislang eher für Singveranstaltungen mit der orangefarbenen Maus bekannt war, hat eine Satire-Version des Kinderliederklassikers ,Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad‘ eingesungen. Es sei eine ,2019-Fridays-forFuture-Version‘, so wurde der Song am Freitag noch im WDR-Radio
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Julian Staib (Anm. 2). isk, Junge vor Zug gestoßen und getötet, in: FAZ Nr. 174 v. 30. 07. 2019, isk, Mann stößt Achtjährigen vor den Zug, in: FAZ Nr. 174 v. 30. 07. 2019, Reinhard Müller, Mord im Hauptbahnhof, in: FAZ Nr. 174 v. 30. 07. 2019,
Zur großen kollektiven Anteilnahme an dem tödlichen Angriff auf den achtjährigen Jungen im Frankfurter Hauptbahnhof s. den Kommentar von Benedict Neff, Etwas stimmte nicht in Deutschland, in: NZZ v. 31. 07. 2019, S. 3. 13 Der Ausdruck „Oma-Gate“ findet sich u. a. in der Überschrift des Artikels von Marc Felix Serrao, „Oma-Gate“ war kein Ausrutscher. Der Fall des WDRKinderchors zeigt, wie sich die gebührenfinanzierte Anstalt als weltanschauliche Orientierungsmaschine begreift, in: NZZ v. 07. 01. 2020, S. 28.
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anmoderiert. Zudem postete der Sender ein Video auf Facebook.“14 Der Inhalt des umgetexteten Liedes und des später gelöschten Videos wird in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wie folgt wiedergegeben: „Tausend Liter Super im Monat verbrauche die Oma mit ihrem Motorrad im Hühnerstall, sang der Dortmunder Kinderchor des WDR. Sie fahre mit dem SUV beim Arzt vor, überrolle dabei zwei Opis mit Rollator, brate sich jeden Tag ein Kotelett vom Discounter, weil das so gut wie nix koste, und mache zehnmal im Jahr eine Kreuzfahrt.“15 Bekannt wurde die WDR-Version des Liedes vor allem durch seinen Titel „Meine Oma ist ’ne alte Umweltsau“. Angespitzt wurde die daran anknüpfende Debatte noch durch das Urteil eines Mitarbeiters des WDR, der twitterte: „Man müsse mal über die Großeltern reden, von denen, die jetzt sich über #Umweltsau aufregen. Eure Oma war keine #Umweltsau. Stimmt. Sondern eine #Nazisau.“16 Aktivisten von Fridays for Future posteten. „Warum reden uns die Grosseltern eigentlich immer noch jedes Jahr rein? Die sind doch eh bald nicht mehr dabei“17 – eine Formulierung, die nur als Hinweis auf das baldige Ableben der Großeltern verstanden werden kann. Die publizistische und die politische Erörterung fuhr in der Folgezeit auf Nebengeleise. So wurde die Frage gestellt, ob der Intendant des WDR seinen Sender gegen Kritik nicht verteidigt habe – eine Frage, die Tom Buhrow überzeugend beantwortete.18 Behauptet wurde eine 14 Anna Ernst, Alle gegen Oma? Der WDR beauftragt seinen Kinderchor mit einer Satire über den Generationenkonflikt in der „Fridays for Future“-Bewegung – und verärgert damit viele Menschen. NRW-Ministerpräsident Laschet übt Kritik, Intendant Buhrow entschuldigt sich „ohne Wenn und Aber“, in: SZ Nr. 309 v. 30. 12. 2019, S. 21. Zu Drohungen gegen Mitarbeiter des WDR s. dpa Notiz Streit über WDR-Satire spitzt sich zu, in: FAZ Nr. 303, v. 31. 12. 2019, S. 9. 15 Zit. bei Michael Hanfeld, Meine Oma hatte kein Motorrad. Zum Jahreswechsel zeigte sich, was man mit „sozialen Medien“ anrichten kann. Von „#Umweltsau“ zu „#Oma=gate“, in: FAZ Nr. 1 v. 01. 01. 2020, S. 15. 16 Zit. bei Michael Hanfeld (Fn. 15). 17 Zit. bei Anja Stehle, Die „alte Umweltsau“ des Kinderchors macht Ärger. Ein umgedichtetes Kinderlied, ausgestrahlt im Regionalsender WDR 2, löst wieder einmal eine Debatte über Satire aus, in: NZZ v. 30. 12. 2019, S. 16. 18 „Ich bin nicht eingeknickt“. Debatten. Der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow über den Skandal um ein Satirevideo des WDR-Kinderchors, den Zorn von Senioren und die Kampagne von rechts (Interview mit Markus Brauck) in: Der
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„Sehnsucht nach Empörung“19 – „Kritik“ oder gar „Betroffenheit wären dem Schreiber vermutlich nicht kritisch genug gewesen. Gerügt wurde der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Armin Laschet, der die Diskussion „auf die Fallhöhe einer Landeskrise“ angehoben habe20 – eine erstaunliche Gleichsetzung einer Rundfunkanstalt mit einem Land der Bundesrepublik. Diskutiert wurde, ob die Kinder des WDR-Kinderchores (zwischen neun und dreizehn Jahre alte Mädchen) in diesem Fall instrumentalisiert worden seien21, da sie das OmaUmweltsau-Lied sangen, wurden sie jedenfalls für den Inhalt der Sendung genutzt. Für Heribert Prantl („Die fröhlich frechen kleinen Mädchen trällerten …“) arbeiteten die über eine Instrumentalisierung der Kinder Empörten „aber selbst mit einer Instrumentalisierung der angeblichen Instrumentalisierung, um den Kampf für eine neue Klimapolitik zu diskreditieren“.22 Schließlich – so Der Spiegel – sei die öffentliche Erregung „nicht wirklich spontan zustande gekommen, sie wurde von rechten Kreisen stark aufgefacht“; und „rechte Kreise“ hätten „dieses Kinderlied instrumentalisiert“23. Kann es aber sein, dass nicht nur „rechte Kreise“ die Großmutter nicht als „Umwelt-Sau“ verunglimpft sehen wollen, sondern auch ganz normale Menschen aus der Mitte der Gesellschaft?
Spiegel Nr. 2 v. 04. 01. 2020, S. 66 f. (67); s. auch end/F.A.Z. Buhrow zum „Omagate“-Eklat, in: FAZ Nr. 3 v. 04. 01. 2020, S. 14. 19 Matthias Dobrinski, Sehnsucht nach Empörung, in: SZ Nr. 300 v. 30. 12. 2019, S. 2. 20 Anna Ernst (Fn. 14). – Beitrag zur Diskussion von Armin Laschet, Wie bitte, WDR? Die Oma ist ’ne Umweltsau? Wenn aus Debatten Tribunale werden, zerbricht die Gesellschaft, in: Die Zeit Nr. 2 v. 03. 01. 2020, S. 10; Auszüge daraus in: epd/F.A.Z., Andersdenkende „keine Sau und auch kein Schwein“. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet äußert sich zu „#Omagate“, in: FAZ Nr. 2 v. 03. 01. 2020, S. 13. 21 Hinweise dazu bei Anna Ernst (Fn. 14), auch mit Stellungnahme des Chorleiters. 22 Heribert Prantl, Kinderhymne. Ein Grundrecht für die Jüngsten gehört in die Verfassung. Die jetzt geplante Formulierung ist kleinmütig, unzureichend und läppisch, in: SZ Nr. 3 v. 04./05./06. 01. 2020, S. 3. 23 Interview Markus Brauck (Fn. 18). – Von „einem offenbar von Rechtsextremen orchestrierten Shitstorm“ spricht auch die Redakteurvertretung des WDR, zit. bei Michael Hanfeld, Rechts gegen links. Die „Omagate“-Debatte verläuft spiegelverkehrt, in: FAZ Nr. 4 v. 06. 01. 2020, S. 12.
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Alle diese Diskussionspunkte mögen wichtig sein, aber sie sind nicht die Hauptfrage von „Oma-Gate“. Anna Ernst hat diese in der „Süddeutschen Zeitung“ zutreffend gestellt, nämlich „Was darf Satire?“24 Ja, was darf Satire und was nicht? Wer an die berühmten Satirezeitschriften „Simplicissimus“ und „Titanic“ oder an die Werke von George Grosz denkt, glaubt die Antwort zu wissen – nur: so einfach ist sie nicht immer. Das Ganze wird kompliziert, wenn man an die Gebote der Political Correctness denkt. Würde jemand die „Oma“ als „Umweltsau“ durch die Bezeichnung einer ethnischen oder religiösen Minderheit austauschen, wäre der Aufschrei in Publizistik und Politik über eine solche Formulierung groß. Die Verschiebung der Maßstäbe zeigt auch der Vergleich zwischen dem Fall Tönnies und dem der „Umweltsau“. Im Fall Tönnies war die publizistische Verurteilung der Äußerung von Clemens Tönnies zum Kinderkriegen in Afrika nahezu einhellig25, während die Bezeichnung der Großmutter als „Umweltsau“ in den Leitmedien (abgesehen von der Bild-Zeitung) kaum kritisiert wurde, nicht einmal (Oma statt Opa) unter dem Aspekt des Sexismus. Zutreffend ist jedenfalls die Feststellung von Michael Hanfeld in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: In dem Streit um das „Umweltsau“-Video des WDR „geht es längst nicht mehr um Urteile über die Qualität der vermeintlichen Satire oder um Satirefreiheit. Es geht um Diskurshoheit und Macht. Es geht um die Frage, für wen der öffentlichrechtliche Rundfunk da ist und wie er seinen Auftrag erfüllt.“26 Dem aus einer Zwangsgebühr (dem euphemistisch genannten „Rundfunkbeitrag“) finanzierten WDR sollte zudem zu denken geben, dass nach Ansicht eines neutralen ausländischen Beobachters in der „Neuen Zürcher Zeitung“ der Fall des WDR-Kinderchors zeigt, „wie sich die gebührenfinanzierte Anstalt als weltanschauliche Orientierungsmaschine begreift“.27
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So die Fragestellung bei Anna Ernst (Fn. 14). Dazu oben Abschnitt J. 26 Michael Hanfeld (Fn. 23). 27 Marc Felix Serrao (Fn. 13), auch mit Hinweisen auf Passagen im Geschäftsbericht des WDR. – Hinweis auf die Finanzierung durch Gebühren auch bei René Nehring, Von der Peinlichkeit zur Grundsatzfrage. In der Affäre um das „Umweltsau“-Lied des WDR zeigt sich die Verachtung medialer Eliten für die Bürger, von deren Gebühren sie leben, in: PAZ Nr. 2 v. 10. 01. 2020, S. 1. 25
L. Die Berichterstattung zum UN-Migrationspakt: Der Mainstream lässt grüßen Eine kurze Zeitungsnotiz berichtete unter der Überschrift „Migrationspakt angenommen“ am 20. Dezember 2018 wie folgt: „Die Vollversammlung der Vereinten Nationen hat den UN-Migrationspakt angenommen. Für den rechtlich nicht bindenden Pakt stimmten am Mittwoch in New York 152 von 193 UN-Mitgliedern, darunter Deutschland. Amerika (gemeint sind die USA, d. Verf.), Israel, Polen, die Tschechische Republik und Ungarn stimmten dagegen. Weitere zwölf Staaten enthielten sich, einige Länder nahmen an der Abstimmung nicht teil.“1 Konkret ging es um den „Global Compact for Safe Orderly and Regular Migration (GCM)“, wie die offizielle Bezeichnung des in Deutschland „Migrationspakt“ genannten Vertrages lautet. Der Pakt war am 10. Dezember auf einer von der UNO einberufenen Konferenz in Marrakesch nach einem Zeitungsbericht von „mehr als 150 UNMitgliedstaaten“ angenommen worden.2 Konkreter hieß es in einer rechtswissenschaftlichen Abhandlung: „Auf der Konferenz von Marrakesch unterzeichneten 164 Staaten das Dokument.“3 Der Auftritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde mit Beifall bedacht, das Fernbleiben des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron bedauert.4 Genannt wurden allerdings auch die Nicht-Unterzeichner,
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Notiz in: FAZ Nr. 296 v. 20. 12. 2018, S. 4. hcr, Merkel will für UN-Migrationspakt kämpfen. „Nationale Alleingänge helfen nicht“/Guterres weist Mythen zurück/Akklamation, in: FAZ Nr. 288 v. 11. 12. 2018, S. 1. 3 Stephanie Schiedermair, Der Migrationspakt zwischen Recht und Politik, in: ZRP 2019, S. 48 ff. (49). 4 Hans-Christian Rößler, Ohne Pomp gegen nationale Alleingänge. In Marokko wird der UN-Migrationspakt angenommen, in gedämpfter Stim2
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nämlich u. a. Australien, Bulgarien, Chile, Estland, Israel, Italien, Lettland, Österreich, Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn, USA.5 Ausführliche Zeitungsartikel befassten sich mit den Erörterungen über den Pakt in Österreich6 und in der Schweiz7 (dort ging es auch um die Frage, wer letztlich über die Zustimmung zu dem „umstrittenen UNO-Migrationspakt“ entscheiden soll8). Der Inhalt des Paktes wird in Medien als Absichtserklärung bezeichnet, „die die Zusammenarbeit von Herkunfts-, Transit- und Zielländern bei der Steuerung von Migrationsprozessen verbessern und illegale Migration verhindern soll“.9 Eine Stimme aus der Schweiz weist darauf hin, dass die Schwerpunkte des Pakts den „langjährigen Prioritäten der Schweizer Migrationspolitik“ entsprechen, „etwa mit mehr Hilfe an Ort und Stelle, dem Kampf gegen den Menschenhandel und Menschenschmuggel, sicheren Grenzen, Rückführungsabkommen und einer nachhaltigen Integration. Er bekräftigt zudem die Verknüpfung von internationaler Zusammenarbeit und Migration“ … „Kernziel des Pakts“ sei es, die „Migration muss eben geordnet, sicher und regulär erfolgen“.10 Aus deutscher Sicht sei die in dem Pakt vorgesehene mung – Begeisterung weckt der Auftritt Angela Merkels, in: FAZ Nr. 288 v. 11. 12. 2018, S. 2. 5 Stephanie Schiedermair (Anm. 3), S. 49; siehe auch Notiz Migrationspakt verliert weiter Unterzeichner, in: FAZ Nr. 272 v. 22. 11. 2018, S. 2; Bericht Prag lehnt UN-Migrationspakt ab. Babisˇ : Klare Ablehnung illegaler Migration fehlt, in: FAZ Nr. 266 v. 15. 11. 2018, S. 5. 6 Siehe Stephan Löwenstein, In einem Atemzug mit Orbán und Trump. Der Ausstieg Österreichs aus dem UN-Migrationspakt wird viel kritisiert – doch die Regierung verteidigt die Entscheidung, in: FAZ Nr. 258 v. 06. 11. 2018, S. 4; ders., Großer Druck durch weiche Gesetze. Warum Wien nicht an die Unverbindlichkeit des UN-Migrationspaktes glaubt, in: FAZ Nr. 268 v. 17. 11. 2018, S. 10. 7 Bsp.: Michael Schoenenberger, Diesen Pakt darf die Schweiz nicht unterzeichnen, in: NZZ v. 30. 11. 2018, S. 11. 8 Michael Surber, Der Uno-Migrationspakt soll dem Parlament vorgelegt werden. Bundesrätliche Hoheiten in der Aussenpolitik kommen unter Druck – National- und Ständerat fordern vermehrt Mitsprache, in: NZZ v. 13. 11. 2018, S. 13. 9 bub., Berlin wirbt für UN-Pakt zu Migration. CDU: Falschmeldungen muss man entgegentreten, in: FAZ Nr. 256 v. 03. 11. 2018, S. 4. 10 „Die Kritiker schüren Ängste.“ Eduard Gnesa verteidigt den umstrittenen Migrationspakt. Als Sonderbotschafter der Schweiz war Edmund Gnesa in die
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„Kooperation bei der Rückkehr und Wiederaufnahme von Migranten“ besonders wichtig, „denn die Abschiebung ausreisepflichtiger Migranten scheitert oft daran, dass die Herkunftsländer ihre Staatsangehörigen nicht zurücknehmen oder Unklarheiten über die Staatsangehörigkeit bestehen“.11 In Belgien führte die Diskussion des Paktes zu einer veritablen Regierungskrise. Hier ist nicht der Ort, um alle Details des 30-seitigen Papiers des Migrationspaktes mit seinen 23 sog. „Zielen“ auszubreiten und zu erörtern. An dieser Stelle soll auch nicht eine rechtswissenschaftliche Untersuchung der mit dem Pakt aufgeworfenen Fragen angestellt werden, die von anderen Autoren beantwortet worden sind.12 Vielmehr geht es im vorliegenden Zusammenhang darum, wie der Pakt in den Medien diskutiert worden ist. Eine ausführliche Darstellung der Frage, wie die Leitmedien über den UN-Migrationspakt aufgeklärt haben, findet sich in dem von Michael Haller ausgearbeiteten Arbeitspapier der Otto Brenner Stiftung „Zwischen „Flüchtlingskrise“ und „Migrationspakt“. Mediale Lernprozesse auf dem Prüfstand“, mit den Kapiteln „Die im öffentlichen Diskurs zu behandelnden Problemthemen“, „Der Themenverlauf in den Printausgaben der Tageszeitungen“, „Der Themenverlauf in den Onlineausgaben der überregionalen Tageszeitungen“, „Die Politiker auf der Bühne der Medien“, und „Zusammenfassung und Interpretation“.13 Die folgenden, vor Erscheinen jenes Arbeitspapieres verfassten Ausführungen verstehen sich demgegenüber mehr als Skizze meiner eigenen Beurteilung, denn als Entstehung der Uno-Vereinbarung involviert. Er warnt davor, den Pakt nicht zu unterzeichnen (Interview mit Tobias Gafafer), in: NZZ v. 27. 10. 2018, S. 17. 11 Helene Bubrowski, Global und unverbindlich. Was steht im UN-Migrationspakt?, in: FAZ Nr. 259 v. 07. 11. 2018, S. 8. 12 Siehe z. B. Stephanie Schiedermair (Anm. 3) mit weiteren Hinw.; Gerd Seidel, Ist der GCP wirklich unverbindlich? Warum der Globale Migrationspakt der UN in seinem Wirkungspotential nicht unterschätzt werden sollte, in: PAZ Nr. 46 v. 16. 11. 2018, S. 2. 13 Michael Haller, Zwischen „Flüchtlingskrise“ und „Migrationspakt“. Mediale Lernprozesse auf dem Prüfstand. Ein Projekt der Otto Brenner Stiftung. Frankfurt a.M. 2019 (OBS-Arbeitspapier 37); dazu miha, Diskurs wagen. Haben die Medien aus der Flüchtlingskrise gelernt?, in: FAZ Nr. 117 v. 21.05. 2019, S. 13; Stephan Russ-Mohl, Brüchige Glaubwürdigkeit der Medien. Vor allem bei Berichten über Flüchtlinge und Kriminalität herrscht Skepsis, in: NZZ v. 30. 09. 2017, S.11.
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medienwissenschaftliche Untersuchung zur Rezeption des Migrationspaktes. „Obwohl Deutschland ein wichtiges Zielland für Migranten ist, begann dort die Debatte über den Uno-Migrationspakt später als in anderen Staaten“ – mit diesem Satz leitet ein Artikel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ in die deutsche Debatte um den Pakt ein.14 Auch das „Hamburger Abendblatt“ sieht die verzögerte Behandlung in Politik und Medien kritisch: „Politik wie Medien haben sich in beiden Fällen (gemeint ist das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP und der Migrationspakt, d. Verf.) nicht mit Ruhm bekleckert – und damit den Zuspitzern, Vereinfachern und Angstmachern ihren Job erleichtert. Viele Menschen erfuhren erst von den Plänen, als ihre Gegner längst auf den Barrikaden standen und auf ihren Webseiten Alarm schlugen.“15 In der Sache sieht aber auch das „Hamburger Abendblatt“ im Migrationspakt „ein vernünftiges Instrument“.16 Damit liegt das „Hamburger Abendblatt“ auf derselben positiv gestimmten redaktionellen Linie wie z. B., um nur eines der sog. Qualitätsmedien zu nennen, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Unter der Überschrift „Der UN-Migrationspakt ist im deutschen Interesse“ findet sich schon in der Ausgabe vom 14. November 2018 ein Beitrag des stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Stephan Harbarth, der lobt: „Der Pakt ist ein sehr guter Kompromiss, in dem, gemessen an unseren nationalen Interessen, die Vorteile die Nachteile ganz eindeutig überwiegen.“17 Wenig später wird einem redaktionellen Beitrag unter der Überschrift „Nichts zu machen wäre viel schlimmer“ ein Kasten beigefügt „Wo liegen die Vorteile für Deutschland?“18 Zwar werden dort 14
Jonas Hermann, Alle gegen die AfD. Die Rechtspartei macht im Bundestag gegen den umstrittenen Uno-Migrationspakt mobil, bleibt damit aber isoliert, in: NZZ v. 09. 11. 2018, S. 6. 15 Matthias Iken, Sind Zuwanderer die neuen Chlorhühnchen? Die Kritik am Migrationspakt klingt überzogen – hier geht es längst um den Wert internationaler Abkommen, in: HA v. 24./25. 11. 2018, S. 2. 16 A.a.O. (Anm. 14). 17 Fremde Federn: Stephan Harbarth, Der UN-Migrationspakt ist im deutschen Interesse, in: FAZ Nr. 265 v. 14. 11. 2018, S. 8. 18 Wo liegen die Vorteile für Deutschland? Kasten zu Timo Frasch/Markus Wehner, Nichts zu machen wäre schlimmer. Die Union streitet weiter über den neuen Migrationspakt. Spahn verstärkt seine Kritik, Söder schwankt – doch Dobrindt steht weiter dazu, in: FAZ Nr. 271 v. 21. 11. 2018, S. 2.
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auch „andere Ziele“ genannt, die „eher im Interesse der Herkunftsländer“ sind, aber der unvoreingenommene Leser hätte die Frage erwarten dürfen, welches nicht nur die Vorteile, sondern auch die Nachteile des Paktes für unser Land sind. Der Jahrestag der Unterzeichnung hätte auch Anlass zu einer medialen Evaluation der Wirksamkeit des Paktes sein müssen; denn die Frage, ob der Pakt alle seine hoch gesteckten Ziele oder auch nur einige davon erreicht hat, drängt sich geradezu auf. Der im Zusammenhang mit den Verhandlungen von Bundesinnenminister Horst Seehofer Anfang Oktober 2019 in der Türkei und in Griechenland erwähnte neue Flüchtlingszuzug führt offenbar zu einer – jedenfalls bisher – negativen Bilanz.19 Dies einzugestehen fällt den Mainstream-Medien naturgemäß nicht leicht; denn der ursprüngliche Zustimmungsjubel müsste nachträglich korrigiert werden. Corrigenda sind jedenfalls für ein sog. Qualitätsmedium immer ärgerlich. Hinzu kommt, dass Migration in den Medien grundsätzlich eher positiv als negativ konnotiert ist, woran naturgemäß auch die Beurteilung des Migrationspaktes partizipiert. So gesehen ist es auch verständlich, dass die Frage nach der etwaigen Verbindlichkeit des Paktes im Wege des „soft law“ kaum tiefgehend medial diskutiert wurde. Erfrischend und präzise ist dagegen die Kommentierung in der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Das Problematische überwiegt allerdings. Zunächst zur Frage der Verbindlichkeit. Es wird immer wieder betont, der Migrationspakt sei nicht bindend und die Staaten blieben souverän. Der Bundesrat (die Schweizer Bundesregierung, d. Verf.) formuliert es so: Der Pakt sei ,rechtlich nicht verbindlich, aber politisch bindend.‘ Was bitte, soll dieser Unsinn bedeuten? Wer sich politisch verpflichtet, muss selbstverständlich irgendwann seinen Rechtsrahmen oder Teile davon anpassen. Was wäre denn sonst der Sinn der Übung? Zudem: Es ist Rechenschaft abzulegen, die Umsetzung wird überprüft, und zwar so, dass den im Pakt enthal-
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Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass nicht gelungen ist, mehr als die vier Unterzeichnerstaaten des sog. „Malta-Deal“ betr. die Verteilung von Flüchtlingen in Seenot für eine einvernehmliche Lösung zu gewinnen; s. dazu Daniel Steinworth, Seehofer läuft auf Grund. Deutscher Innenminister kann seine EU-Kollegen nicht vom „Malta-Deal“ überzeugen, in: NZZ v. 09. 10. 2019, S. 5.
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tenen Worten konkrete Taten folgen. Deutlicher kann man die Erwartungshaltung nicht formulieren.“20 Immerhin bewegen die meisten Ziele des Migrationspaktes sich noch in einem vertretbaren medialen und politischen Meinungsspektrum. Ganz und gar unverständlich ist es aber, wie zurückhaltend die Kritik an den Regelungen des Paktes zur Medienberichterstattung ausfällt, so wenn es dazu in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ heißt: „Doch mutet die Selbstverpflichtung im Pakt schon seltsam bis widersprüchlich an, eine unabhängige, objektive und hochwertige Berichterstattung durch Medien über Migration zu fördern und eine etwaige öffentliche Finanzierung von Medien zu streichen, die Intoleranz oder andere Formen der Diskriminierung von Migranten förderten – unter voller Achtung der Medienfreiheit natürlich. Staatliche Aufklärungskampagnen, heißt es an anderer Stelle, sollten auf der Grundlage von Fakten „die öffentliche Wahrnehmung des positiven Beitrags einer sicheren, geordneten und regulären Migration“ gestalten.“ Zutreffend liest sich die abschließende kurze Feststellung: „Probleme sind in dem Pakt nicht vorgesehen.“21 Einem Kommentar in der Zeitung „Die Welt“ war die Medienproblematik des Paktes keiner tieferen Analyse wert.22 Erfreulich ausführlich behandelt allerdings Michael Hanfeld in der FAZ die Frage, ob der Migrationspakt die Pressefreiheit bedroht.23 Sein Beitrag beginnt mit dem Zitat einer erstaunlichen Äußerung des Vorsitzenden des Deutschen JournalistenVerbandes (DJV) Frank Überall, demzufolge der Pakt nur „klare Aufforderungen zur unvoreingenommenen Berichterstattung“ formuliere, „die wir voll und ganz unterstreichen können“. Überraschen kann diese weichspülende Äußerung nur deshalb nicht, weil der Vorsitzende 20
Michael Schoenenberger (Anm. 7). Vorsichtige (zutreffende) Einschätzung von Reinhard Müller, Der Mensch und seine Rechte, in: FAZ Nr. 288 v. 11. 12. 2018, S. 1: „Auch der UN-Migrationspakt wird zur Auslegung nationalen Rechts herangezogen werden – von der Einwanderung bis zur Berichterstattung darüber wird er Wirkungen entfalten.“ Kritische Leserbriefe zum „soft law“: Axel Hopfauf, Wenn „soft law“ zu „hard law“ wird, in: FAZ Nr. 274 v. 24. 11. 2018, S. 22; Marlies Murswiek, Pakt für Migration mit Unschärfen, in: FAZ Nr. 269 v. 19. 11. 2018, S. 5. 21 Stephan Löwenstein, In einem Atemzug mit Orbàn und Trump (Anm. 6). 22 Ansgar Graw, Der Pakt und die Grenzen, in: Die Welt v. 09. 11. 2018, S. 1. 23 miha, Sensibilisierung. Bedroht der Migrationspakt die Pressefreiheit?, in: FAZ Nr. 279 v. 30. 11. 2018, S. 15.
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des Deutschen Journalisten-Verbandes schon im Zusammenhang mit der Herkunftsangabe von Straftätern ein merkwürdiges Verständnis der Pressefreiheit offenbart hat.24 Zutreffend stellt demgegenüber Michael Hanfeld fest, es „sollte die Frage erlaubt sein, was mit der in Ziff. 33 c des Paktes genannten „Sensibilisierung und Aufklären von Medienschaffenden hinsichtlich Migrationsfragen und -begriffen, durch Investitionen in ethische Standards der Berichterstattung“ gemeint sei. Hanfeld fragt dazu: „Ein bisschen wohlmeinende Anleitung vielleicht? Freundliche Hinweise der Regierung zu kritischen Texten? Formulierungshilfe? Betreute Berichterstattung?“. Alle diese Fragen sind berechtigt. Die Vorstellung, dass Journalisten am Händchen genommen werden müssen (von wem wohl? Vom Staat), damit sie ordnungsgemäß und geziemend über Migrationsfragen berichten, ist mehr als abenteuerlich. Der Pakt verordnet eine gezielte „Aufklärung von Medienschaffenden“ – haben die Medienschaffenden eine solche Aufklärung nötig? Eine solche Nachhilfe wäre allerdings ein Armutszeugnis sondergleichen. Eine freie Presse sollte sich Wohlverhaltensregeln nicht wünschen. Dies einschlägige Ziel des Migrationspaktes sieht die „Neue Zürcher Zeitung“ zutreffend als „Aufforderung, die Medien zu beeinflussen oder nach willkürlich dehnbaren Vorgaben zu gängeln (nährt zum Beispiel Intoleranz, wer systematisch den Islam kritisiert?)“; gestellt wird „die Frage, ob solche Methoden einer nicht gelenkten Demokratie würdig sind“.25
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Frank Überall, Niemand darf diskriminiert werden. Wann Journalisten bei Berichten über Kriminalität persönliche Hintergründe nennen dürfen, regelt der Pressekodex – aus gutem Grund, in: FAZ Nr. 57 v. 08. 03. 2016, S. 13. 25 Lucien Scherrer, Plötzlich herrscht Angst vor dem Uno-Pakt. Seit der Bundesrat angekündigt hat, ein Uno-Migrationspapier zu unterschreiben, sorgt dieses weitherum für Unmut, in: NZZ v. 24.10. 2018, S. 13; Kritik zitiert auch bei Heidi Gmür, Ein Pakt, der vor allem Misstrauen weckt. Bürgerliche Ständeräte befürchten, dass der Uno-Migrationspakt die Einwanderung fördern könnte, in: NZZ v. 30. 11. 2018, S. 13. – Zum Widerstand in der Schweiz auch Fabian Schäfer, Harter Widerstand gegen weiches Recht. Die Kontroverse um den Migrationspakt hält an – die Skepsis gegen solches „Soft Law“ wächst, in: NZZ v. 24. 01. 2020, S. 27.
M. Ein überdimensionierter Heißluftballon namens Kathryn Mayorga Im Jahre 1957 erschien eine von Hans Magnus Enzensberger verfasste Geschichte über „Die Sprache des Spiegel“.1 Der Spiegel von heute ist nicht mehr derselbe wie jener von damals. Der von Enzensberger hoch gelobte Rudolf Augstein (O-Ton: „der wichtigste Mitarbeiter des Blattes“) weilt schon seit 2002 nicht mehr unter den Schreibenden. Mehrere Chefredakteure und andere Redaktionsmitglieder kamen und gingen. Die vermutlich unwichtigste Veränderung betrifft den von Montag auf Samstag vorgezogenen Erscheinungstermin, auch wenn dadurch die Lesegewohnheit und damit die Lebensgewohnheit nicht weniger Leser beeinflusst wurde. Ungleich wichtiger war die Etablierung von Spiegel-Online2 sowie die wachsende Konkurrenz auf dem Markt der Magazine (z. B. Focus; Cicero) und durch die sozialen Medien. Die digitale Entwicklung der Medienlandschaft ist auch am Spiegel nicht spurlos vorbeigegangen. Geblieben ist die Spiegel-Story. Gemeint ist damit nicht die Story des Magazins3, sondern die Hauptgeschichte im Spiegel. Die SpiegelStory kann man, ohne zu übertreiben, als eines der Markenzeichen des Magazins bezeichnen. Die Qualität dieses Beitrages färbt deshalb jedenfalls auf das Gesamtbild des betreffenden Heftes ab. Gegenstand und Darstellung der verschiedenen Beiträge sind verständlicherweise unterschiedlich. Lässt sich dennoch für die Spiegel-Story eine „inquisitorische Gestik“ (Formulierung von Hans Magnus Enzensberger4) 1 Nachdruck in: Hans Magnus Enzensberger, Einzelheiten I. BewußtseinsIndustrie, Frankfurt am Main, 16. Aufl. 2010, S. 74. 2 Zur Fusion der Redaktionen der Print-Ausgabe und von Spiegel Online: Notiz Alles eins. „Spiegel“ fusioniert Online und Print, in: FAZ Nr. 140 v. 19. 06. 2019, S. 15. 3 Zur Entstehungsgeschichte des Magazins: Leo Brawand, Die SpiegelStory. Wie alles anfing, Düsseldorf/Wien/New York, 2. Aufl. 1987. 4 Hans Magnus Enzensberger (Anm. 1), S. 91.
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feststellen? Der Frage soll am Beispiel der Story „Ihr Name ist Kathryn“ nachgegangen werden, eines Beitrages, dem ein Vorfall im Juni 2009 zugrunde lag und den der Spiegel Ende September 2018 veröffentlichte.5 Worum ging es? Die Zeilen unter der Überschrift des Beitrages führen in die Story wie folgt ein: „Fußball – Eine Amerikanerin behauptet, Christiano Ronaldo habe sie in Las Vegas vergewaltigt. Der Superstar erkaufte vor Jahren ihr Schweigen. Jetzt tritt die Frau erstmals ans Licht und verklagt den Portugiesen. Sie besitzt ein Dokument, das für ihn äußerst gefährlich sein könnte.“ Aufmacher der Story ist ein großformatiges Foto einer attraktiven Frau mit Filmgesicht und tiefem Ausschnitt, betitelt mit „Klägerin Mayorga: ,Ich habe ihn weggestoßen und Nein gesagt‘.“ Ihr Name ist Kathryn, sein Name ist Ronaldo. Die angebliche oder wirkliche neun Jahre alte Vergewaltigungsgeschichte zwischen beiden, der „unbekannten Frau“ und dem „Fußballer der Superlative“, wird in dem Spiegel-Heft auf nicht weniger als zehn Druckseiten ausgebreitet. Ein Problem: „Sie hat einen Vertrag unterschrieben und Geld dafür bekommen, ihre Vorwürfe niemals laut auszusprechen. Aus Angst um sich und ihre Familie sagt sie, habe sie zugestimmt. Aus Ohnmacht, ihm nichts entgegensetzen zu können. Aus Hoffnung, mit allem abschließen zu können. Doch das sei ihr nie gelungen, sagt Kathryn Mayorga.“6 Was folgt, ist die – in epischer Breite ausgewalzte – Geschichte eines Treffens mit Folgen. Ronaldo und die Amerikanerin, „eine schlanke Frau mit langen dunklen Haaren und grünen Augen“, waren „sich am 12. Juni 2009 in einem Nachtklub in Las Vegas begegnet … Kathryn Mayorga, damals 25 Jahre alt, arbeitete in dieser Zeit viel als Model. Einer ihrer Jobs war es, sich mit anderen jungen, schönen Frauen vor Bars aufzuhalten, um Gäste anzuwerben.“ Der Leser hätte zu diesem Job gern etwas mehr erfahren – doch schweigt hier der Journalisten Höflichkeit. Mehr erfährt der Leser darüber, wie „die Wege des Models und des Multimillionärs“ sich im VIP-Bereich des Nachtklubs „Rain“ an jenem Freitag „kreuzen“. „Paparazzi-Fotos zeigen, wie Kathryn 5 Rafael Buschmann, Andreas Meyhoff, Nicola Naber, Gerhard Pfeil, Antje Windmann, Christoph Winterbach, Michael Wulzinger, Ihr Name ist Kathryn, in: Der Spiegel Nr. 40 v. 29. 09. 2018, S. 94 ff. 6 A.a.O., S. 95, auch zum Folgenden.
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Mayorga und Chrstiano Ronaldo eng beieinanderstehen, sich unterhalten … Er gibt sich cool, sie strahlt ihn an.“ Aus dem Ihn-Anstrahlen wird nach Mitternacht mehr: „In den frühen Morgenstunden feiern sie in Ronaldos Penthouse im nahe gelegenen Hotel Palms Palace weiter. Was dort in einem der Schlafzimmer geschieht, wissen nur zwei Personen: Kathryn Mayorga und Christiano Ronaldo.“ Von da an und nun an laufen die Erinnerungen der Beteiligten in sehr verschiedene Richtungen. Fest steht immerhin, dass der Fußballspieler laut Spiegel dem Model „Monate später im Zuge einer außergerichtlichen Einigung 375.000 Dollar zahlte“. Für eine einmalige Eskapade wäre dies eine ziemlich großzügige Entlohnung gewesen. Insofern spricht durchaus einiges dafür, dass es sich bei dieser Zahlung um ein Schweigegeld handelte: Kathryn Mayorga sollte, wie Der Spiegel schreibt, „zum Schweigen verdammt sein“. Die Schweigeverpflichtung hielt nicht, was sie versprach; denn: „Nun redet sie (gemeint ist Kathryn Mayorga) doch. Erstmals. Und sehr ausführlich.“Als Gründe für diesen Sinneswandel nennt die Story: Kathryn Mayorga habe einen neuen Anwalt, „der das Schweigeabkommen als rechtswidrig bewertet“; die Welt habe „sich verändert für Frauen, die reklamieren, Opfer sexueller Übergriffe geworden zu sein“ – der Hashtag #MeToo habe „das gesellschaftliche Klima gewandelt“; schließlich wolle sie herausfinden, „ob noch andere Frauen behaupten, von Ronaldo missbraucht worden zu sein“. Die Nacht, „von der sie sagt, sie habe ihr Leben zerstört“, wird dann, obwohl sie so viele Jahre zurückliegt, von ihr so beschrieben, „als liefe ein Video vor ihrem inneren Auge ab“.7 Dem „Video“ zufolge hatte sie an jenem Abend in ihrem „Promotionjob“ gearbeitet und anschließend mit Freunden gefeiert. „Es gab Champagner, von dem ich aber nur ein bisschen getrunken habe.“ Mit einer Freundin traf sie sich im VIPBereich des Nachtclub „Rain“: „Und plötzlich war er da, griff meinen Arm und sagt so etwas wie: Du komm mit mir mit … Sie hätten sich noch ein bisschen unterhalten, und dann habe er nach ihrer Telefonnummer gefragt. ,Ich habe sie ihm gegeben und weg war er. Und ich dachte. Okay, cool‘.“ Mit ihrer Freundin sei sie dann einer von Ronaldo per SMS übermittelten Einladung zu einer Party in das nebenan gelegene Hotel Palms Place gefolgt. In der Lobby des Hotels hätten 7
A.a.O., S. 96, dort auch zum Folgenden.
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Ronaldo und Freunde von ihm schon gewartet. Weil die Party aber bereits vorbei gewesen sei, habe Ronaldo dann gesagt, „wir könnten alle noch zu ihm gehen“ (gemeint war: in sein Apartment). „Und wir dachten: Die Aussicht dort ist atemberaubend, machen wir ein paar Fotos, und dann gehen wir nach Hause.“ Nach Kathryns Angaben verlief die Nacht anders. Die anderen seien „plötzlich in den Whirlpool gestiegen …8. Ronaldo habe ihr Badesachen angeboten … Sie sei dann zum Umziehen ins Bad gegangen, das an eines der Schlafzimmer angrenzte…“. Ronaldo sei plötzlich hereingekommen „als sie nur in Shorts dastand“. Im Folgenden schildert die Story die von Kathryn memorierten sexuellen Wünsche des Ronaldo („was für ein Idiot“, „ein Widerling“), auf die sie „Nein“ gesagt habe. „Doch Ronaldo habe keine Ruhe gegeben“. Irgendwann habe er dann „so etwas“ gesagt wie: „Ich lasse dich gehen, wenn du mir einen Kuss gibst. Und ich sagte: okay. Ich küsse dich, aber ich fasse dich nicht an.“ Nach dem Kuss habe er sie „überall angefasst, ist an mir runter und wollte mich überall küssen. Ich habe ihn weggestoßen und wieder nein gesagt“, „No, no, no“ wird noch einmal in der Schilderung der Bedrängten vorkommen – man/frau erinnert sich an die Lebensweisheit der Sophia Loren: „Die wichtigsten drei Worte im Leben einer Frau sind: Nein, Nein, Nein.“ Im Fall der Kathryn Mayorga halfen diese Worte nichts. Nachdem sie eine Gelegenheit genutzt hatte, „schnell mein Kleid wieder anzuziehen“, habe Ronaldo sie „ins Schlafzimmer gezogen“; sie habe ihm „noch mal gesagt, dass nichts zwischen uns passieren werde“. Jedoch habe Ronaldo „nicht aufgegeben“. „Ich habe ihn wieder von mir gestoßen … Und dann ist er auf mich drauf.“ Fazit: „Ronaldo habe sie anal vergewaltigt, behauptet Kathryn Mayorga.“ Bei allen diesen Zitaten handelt es sich nur um einige Auszüge aus einer voluminösen Veröffentlichung. Statt „Ihr Name ist Kathryn“ hätte die Spiegel-Redaktion ihrer Story auch den Titel „Sex and Crime“ oder „Der Reiche und die Schöne“ oder – in umgekehrter Reihenfolgen – „La belle et la bête“ (Die Schöne und das Biest) geben können. Die letztgenannte Kategorisierung hätte die unterschiedliche Verteilung von Sympathie einerseits und Verachtung andererseits der Autoren in Bezug auf die Beteiligten unterstrichen. Sympathie (man könnte auch sagen: Empathie) für das Opfer, Verachtung (man könnte auch sagen: 8
A.a.O., S. 97, dort auch die folgenden Angaben.
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Verurteilung) des Täters sind im Rahmen einer journalistischen Bearbeitung eines solchen Falles (wie auch sonst) durchaus verständliche Reaktionen. Allerdings gilt auch hier – wie bei ähnlichen schweren Vorwürfen – die Regel: audiatur et altera pars, dies auch deshalb, weil die erwähnten Begleitumstände des Vorfalles in jener Nacht immerhin mehrdeutig sind: Promotionjob (Anwerben von Gästen für eine Bar); Champagnerdrinks; Aushändigung der Telefonnummer; Flirt mit Ronaldo im VIP-Bereich des Nachtclubs; Annahme der Einladung in das Hotel und in Ronaldos Apartment; Whirlpool; Annahme der von Ronaldo angebotenen Badesachen; Küsse. Schließlich und erstaunlich: „Auf dem Weg zum Fahrstuhl habe sie dann zu Jordan (ihrer Freundin, d. Verf.) gesagt: was für eine Nacht, was für ein Spaß! Irgendwann hätten sie sich verabschiedet.“9 Die lange Story über die kurze Nacht von Kathryn Mayorga und Christiano Ronaldo in Las Vegas fordert Medienkritik heraus. Die Kritik betrifft nicht in erster Linie die bereits erwähnte offensichtliche Parteilichkeit des Autorenteams. Die Kritik macht sich auch nicht fest an Banalitäten wie „Ronaldos Anwälte fahren in einer Limousine vor“10 (Frage: Sollen sie mit einem Dreirad vorfahren?), oder an kitschigen Bildern: „Sie hat sich sorgfältig geschminkt, doch das Make-up lenkt nicht von ihren müden Augen ab.“11 Schließlich geht es auch nicht um eine Kritik daran, dass der Leser in Wahrheit als Voyeur behandelt wird, dem die Frage nahegebracht werden soll: Wie treiben es die Promis? Kritik an der Story der Kathryn Mayorga ist vielmehr deshalb angebracht, weil der Umfang der Geschichte der tatsächlichen oder nur behaupteten Vergewaltigung dieser einen Frau in keinem Verhältnis zu den zahlreichen Vergewaltigungen anderer Frauen und Mädchen stehen, die unter für die Opfer ungleich schlimmeren Umständen, nämlich nicht im Umfeld von Champagner, Nachtclub, Whirlpool und Luxusapartment stattgefunden haben. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur für die Massenvergewaltigungen am Ende des Zweiten Weltkrieges12 9
A.a.O., S. 98. A.a.O., S. 100 (gemeint ist: zu einem Mediationstermin der Parteien). 11 A.a.O., S. 95. 12 Zahlreiche Beispiele dafür bei Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen, München 2015; Ingeborg Jacobs, Freiwild. Das Schicksal deutscher Frauen 1945, München 2008; Ingo von Münch, „Frau, komm!“ Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45, Graz 3. Aufl. 2013. 10
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und heute noch in der Situation der Bürgerkriege vor allem in Afrika, sondern auch für Gruppenvergewaltigungen heute und hierzulande.13 Im Vergleich zu diesen Scheußlichkeiten wirkt die zehn Druckseiten umfassende Story der Kathryn Mayorga wie ein überdimensioniert aufgeblasener Heißluftballon, zumal Der Spiegel bereits früher schon über den Fall Mayorga berichtet hatte.14 Im Unterschied zur Lektüre dieser Breitwand-Panorama-Darstellung erinnert man gern an das – allerdings etliche Jahre zurückliegende – Gespräch, das Susanne Beyer im Spiegel mit dem Vergewaltigungsopfer Gabi Köpp über deren autobiographisches Buch „Warum war ich bloß ein Mädchen? Das Trauma einer Flucht 1945“15 geführt hat. Auch der Beitrag von Susan Vahabzadeh in der „Süddeutschen Zeitung“ zu dem Buch „The Girl“ von Samantha Geimer16 ist als Schilderung der Gefühle eines Opfers einer Vergewaltigung aufschlussreicher als die vielen Seiten zu Kathryn Mayorga. Jedenfalls: Wer in der Nacht des 12. Juni 2009 in Las Vegas nicht dabei war, kann sich schwerlich ein Urteil über die angeblichen oder tatsächlichen Vorkommnisse bilden, um die es in der Spiegel-Story der Kathryn Mayorga und des Christiano Ronaldo geht. Ein solches Urteil 13 Siehe dazu z. B. Wiebke Dördrechter, Höhere Strafen im zweiten Anlauf. Mehrere junge Männer beteiligen sich 2016 an der Vergewaltigung einer 14Jährigen. Doch zunächst wird nur ein Peiniger zu einer Haftstraße verurteilt. Im Revisionsprozess trifft es nun weitere Täter, in: HA v. 07. 06. 2018, S. 25; Rüdiger Soldt, Und wieder wird ein Schwerverbrechen aufgearbeitet. Nach der mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung einer Studentin stehen in Freiburg elf Männer vor Gericht, in: FAZ Nr. 146 v. 27. 06. 2019, S. 3; Stefan Kober, Kinder sollen Frau missbraucht haben. Ein Sexualdelikt in Mülheim sorgt für Entsetzen: Die Verdächtigen sind erst zwischen zwölf und 14 Jahre alt, in: HA v. 08. 07. 2019, S. 26. 14 Der Spiegel Heft 16/2017, S. 95. 15 Gabi Köpp, Warum war ich bloß ein Mädchen? Das Trauma einer Flucht 1945, München 2010, in: Susanne Beyer, Zeitgeschichte 14 Tage lebenslänglich. Die 80-jährige Gabriele Köpp veröffentlicht als erste Betroffene unter eigenem Namen ein Buch über die Vergewaltigungen, die sie 1945 als 15Jährige erdulden musste. Sie ist eine von unzähligen Frauen, die im Zweiten Weltkrieg zu Opfern sexueller Gewalt wurden, in: Der Spiegel Nr. 8 v. 22. 02. 2010, S. 106 ff. 16 Susan Vahabzadeh, Eine andere Form von Makel und Scham. Anlässlich des Buchs „The Girl“ von Samantha Geimer: Wie geht die Gesellschaft mit Vergewaltigungsopfern um?, in: SZ Nr. 255 v. 05. 11. 2013, S. 13.
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zu fällen ist letztlich Sache der zuständigen Staatsanwaltschaft oder des zuständigen Gerichts. Über den (vorläufig?) letzten Stand in dieser Angelegenheit berichtet eine dpa-Meldung wie folgt: „Die Staatsanwaltschaft des Clark Country im US-Bundesstaat Nevada will im Fall des Vergewaltigungsvorwurfs gegen ihn keine Anklage erheben. … Die Amerikanerin Kathryn Mayorga hatte Ronaldo vorgeworfen, sie 2009 in Las Vegas vergewaltigt zu haben. Ronaldo hatte das stets zurückgewiesen.“17
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Notiz Christiano Ronaldo. Staatsanwaltschaft will keine Anklage erheben, in: HA v. 27. 07. 2019, S. 28. – Einen neueren, ähnlichen Fall (diesmal aus Japan) schildert Alexandra Rojkov, Aufschrei. Japan: Die Journalistin Shiori Ito erwacht in einem Hotelzimmer, nackt und ohne Erinnerung. Sie verklagt den Mann, der sie dorthin gebracht hat. Ihr Fall verändert Japan, in: Der Spiegel Nr. 45 v. 02. 11. 2019, S. 96 ff.
Anhang: Medien und Politik* Das Thema „Medien und Politik“ konkretisiert in einem Ausschnitt das größere Thema „Macht und Medien“. Die Formel Macht und Medien kann verstanden werden als Macht der Medien, oder als Macht über die Medien. Zurückbezogen auf Medien und Politik geht es hier also um politische Macht der Medien oder um politische Macht über die Medien. Die Vorfrage ist dabei die nach der politischen Macht der Medien. Wenn diese Frage zu bejahen ist, wenn also die Medien eine politische Macht sind oder jedenfalls politische Macht haben, dann wird die Frage nach der politischen Macht über die Medien relevant. Der Umkehrschluß zeigt die Logik der Fragefolge: Haben die Medien keine politische Macht, so ist es politisch gleichgültig, wer die politische Macht über die politisch ohnmächtigen Medien besitzt. Die Macht über die Medien ist in diesem Fall irrelevant und für die potentiellen Machthaber vermutlich auch uninteressant. Gibt es eine politische Macht der Medien? Die Publizistik-Geschichte ist hierzu voller Sprüche. Napoleon hat die Presse als die „Siebente europäische Großmacht“ bezeichnet. Joseph Goebbels hat dieses Wort variiert, als er in seiner Rede zur Eröffnung der Berliner Funkausstellung am 18. August 1933 den Rundfunk als „achte Großmacht“ apostrophierte. Wie mächtig der spätere Reichspropagandaminister den Rundfunk als Instrument der „geistigen Mobilmachung“ einschätzte, hatte Joseph Goebbels schon auf der Intendantenkonferenz am 25. März 1933 gesagt: „Ich halte den Rundfunk für das allermodernste und für das allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt“. Und: „Der Rundfunk muß der Regierung die fehlenden 48 Prozent zusammentrommeln, und haben wir sie dann, muß der Rundfunk die 100 Prozent halten, muß sie verteidigen, * Erstveröffentlichung in: Macht und Medien. Die Dokumentation der Hamburger Medientage ’83 vom 3. Oktober bis 5. Oktober 1983. Hrsg. Hans Bredow-Institut für Rundfunk und Fernsehen, Hamburg 1984, S. 60 – 66.
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muß sie so innerlich durchtränken, daß niemand mehr ausbrechen kann.“ Wer Napoleon und Goebbels als Zeugen nicht akzeptieren mag, der findet andere Stimmen genug. Von Woodrow Wilson stammt der Slogan: „The editor directs public opinion, the congresman obeys it.“ Gustav Heinemann hat, noch als Bundestagsabgeordneter, Presse und Rundfunk als „eminente Faktoren der öffentliche Meinungsbildung“ bezeichnet. „Wer sie beherrscht, hat im politischen Kampf einen unschätzbaren Vorsprung.“ Bei dem amerikanischen Verfassungsrechtler und Soziologen Karl Loewenstein liest sich das so: „Wer die Massenkommunikationsmittel beherrscht, beherrscht die Wählerschaft. Wer die Wählerschaft beherrscht, beherrscht den politischen Prozeß.“ Carl Friedrich von Weizsäcker schließlich meinte 1950, die Erfindung des Radios erlege dem Menschen eine noch größere Verantwortung auf als die Erfindung der Atombombe: „denn Propaganda greift tiefer als Bomben“. Wie tief Propaganda oder – im demokratischen Staat: der Einfluss der Massenmedien – tatsächlich greift, wird von der sogenannten Wirkungsforschung, einem Teil der Kommunikationsforschung, untersucht. Die Ergebnisse der Wirkungsforschung sind wellenförmig und bisher nicht sicher. Die gegen Ende der zwanziger Jahre vorherrschende Ansicht von der Allmacht der Medien – Lasswell: „… one of he most powerful instruments in the modern world“ – wurde Ende der vierziger Jahre abgelöst von Forschungsergebnissen, die den Einfluß der Massenmedien, das „Manipulationspotential“, deutlich niedriger hängten. Man entdeckte nun „intervenierende Variablen“: Massenkommunikative Inhalte würden selektiv aufgenommen und vor allem selektiv behalten. Neben diesem psychologischen Faktor wurde die Bedeutung des sozialen Faktors herausgestrichen, nämlich der Einfluß von Meinungsführern außerhalb der Medien, so insbesondere amerikanische Untersuchungen zum Einfluß der Massenmedien auf das Wählerverhalten. Die Einbindung in Gruppen und Kleingruppen schaffe „Diffusionsnetze“ und führe zu einem „Filtereffekt“, der die Wirkung der Massenmedien verringere. Der heutige Stand der Wirkungsforschung wellt die Einflüsse der Massenmedien eher wieder nach oben. So resümiert Kurt Lüscher in seiner Abhandlung „Wie wirkt das Fernsehen? Eine Zwischenbilanz der Forschung“: „Insgesamt sprechen … triftige Gründe für die Annahme, daß die Auswirkungen des Fernsehens auf das menschliche
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Zusammenleben größer sind als wir bisher feststellen und erklären konnten.“ Für alle Massenmedien – also nicht nur für das Fernsehen – wird heute zwischen relativ geringer kurzfristiger und wesentlicher langfristiger Wirkung unterschieden; etwa bei Hans D. Jarass: „So läßt sich nicht ausschließen, daß der relativ bescheidenen Stellung der Massenmedien hinsichtlich der kurzfristigen Wirkung möglicherweise im langfristigen Bereich eine wesentlich stärkere Position gegenübersteht“ – sogenannter Sicker-Effekt. Wie umstritten und ungeklärt die Frage der politischen Wirkung der Medien im Übrigen ist, zeigen nicht zuletzt die Kontroversen um die Theorie der Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann, die in der wissenschaftlichen Diskussion im Ausland als eine der „Theories of powerful media“ läuft. Als Ergebnis der Wirkungsforschung läßt sich aber jedenfalls festhalten, daß die Überzeugungskraft der Medien gering, die Informationskraft aber ungeheuer groß ist. Hält man sich nicht an Theorien sondern an facts, so erinnern wir uns: Ein Präsident der USA – Nixon – stürtze über Recherchen der Washington Post; der Schah von Persien verlor seinen Thron aufgrund einer Volkserhebung, die „die Revolution der Transistorradios“ genannt wurde; ein Ministerpräsident von Baden-Württemberg – Filbinger – stolperte über ein Buch Hochhuths und nachfolgende Vorwürfe in Presse und Rundfunk; zwei Bundesminister – Strauß und Maihofer – hätten ohne die Hiebe der Massenmedien ihr damaliges Amt vermutlich nicht verloren. Die genannten Beispiele – seinerzeit politische Erdbeben mittlerer Stärke – waren dabei noch harmlos im Vergleich zu der Tatsache, daß, wie heute unter Historikern unbestritten ist, der Ausbruch des amerikanisch-spanischen Krieges von 1898 das Werk der yellow press gewesen ist. Die wissenschaftliche Redlichkeit gebietet es allerdings diese Beispiele zu relativieren. Die genannten Fälle waren nicht Alltagsfälle sondern Sonderfälle. Die Vielfalt der Meinungen in den verschiedenen Medien führt selten zu konzertierten Aktionen. Wer von der Macht der Medien spricht muß sich vor Augen halten, daß die Medienlandschaft eine bunte Landschaft ist. Medien: das sind gedruckte Handzettel und Fernsehsendungen, Anschläge an Litfaßsäulen und Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Schallplatten, Filme, Theateraufführungen, Videokassetten, Bildschirmzeitung usw. Innerhalb der einzelnen Medien ist die Skale nicht weniger weit. Wer „Panorama“ und „ZDF-Magazin“
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sieht, der wundert sich, daß man beide mit demselben Fernsehgerät empfangen kann. Zwischen FAZ und TAZ liegen nicht nur Buchstaben, sondern Welten. Die politische Macht der Medien wird also häufig – nicht immer – gebändigt durch die unterschiedlichen Meinungen in den Medien selbst, Meinungsunterschiede, die nicht selten sogar in ein und demselben Blatt zwischen politischem Teil, Wirtschaftsteil und Feuilleton aufbrechen. Die Macht der Medien muß sich nicht in der Steuerung von Meinungen oder in der Gestaltung, der Herbeiführung oder Verhinderung politischer Entscheidungen ausdrücken. Macht wird auch durch den Transport von Meinungsäußerungen ausgeübt, etwa von Äußerungen wie „Fünfte Kolonne der anderen Seite“ oder „Kanzler der Alliierten“. Fragt man Politiker, ob Journalisten politische Macht besitzen, so lautet die Antwort „Ja“. Besonders weh tut diese Macht, wenn sie schweigt. Ein Bundestagsabgeordneter einer der beiden Oppositionsparteien im Bundestag, von mir befragt, wie der Wechsel von der Mehrheitsbank auf die Minderheitsbank schmecke, sagte bitter: „Man ist für die Medien nicht mehr interessant“. Es kann hier dahinstehen, ob dieser Eindruck zu Recht besteht – wichtig ist, daß er besteht. Weil Politiker davon überzeugt sind, daß Journalisten politische Macht haben und ausüben, kümmert man sich um Personalpolitik in den Rundfunkanstalten, interveniert man gegen einzelne Sendungen. Wären Rundfunksendungen idyllisch wie weiland die Gartenlaube, so wäre das Gerangel um die Gremien und in den Gremien nicht erklärlich. Fragt man Journalisten selbst, ob sie politische Macht haben, so stößt man bei den Antworten auf eine Generationslinie: Journalisten mittlerer und älterer Jahrgänge – also etwa die vor Kriegsende geborenen – verneinen meist die Frage nach ihrer Macht. Jüngere Journalisten äußern sich positiver, optimistischer, selbstbewußter. Einer dieser Jüngeren, ein Rundfunkjournalist und Buchautor, antwortete mir auf meine Frage, ob er meine, daß er Macht habe: „Aber natürlich; darum mache ich doch diesen Job.“ Nach einigem Hin und Her in unserem Gespräch, in dem ich auf die entgegengesetzte Meinung älterer Journalisten hinwies, kam dies: „Vielleicht ist das Wort Macht zu groß. Setzten Sie an seine Stelle Einfluß, dann sind wir beim Punkt“.
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Warum scheuen Journalisten vor der Vorstellung zurück, politische Macht zu besitzen? Ist es Koketterie? Wohl kaum. Ist Macht unsympathisch und will man im sympathischen Lager stehen? Ist es das Gefühl, daß politische Macht einer politischen Legitimation bedarf, und daß eine solche Legitimation womöglich nicht vorhanden ist? Oder verbindet der Journalist mit Macht eine besondere Verantwortung, die zu tragen er nicht gewillt ist? Die Frage nach der Legitimation führt in verfassungsrechtliche und politikwissenschaftliche Felder. Die demokratische Legitimation des Mediums Rundfunk ist dabei verhältnismäßig einfach zu finden; sie liegt – jedenfalls für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – in den von den Landesparlamenten beschlossenen Rundfunkgesetzen der Länder und den Zustimmungsgesetzen der Länder zu den Staatsverträgen über die Errichtung der betreffenden Rundfunkanstalt. Gesetze werden übrigens auch für die eventuelle Errichtung von Privatrundfunk, das sogenannte kommerzielle Fernsehen, für erforderlich gehalten; solche Gesetze sind zum Teil bereits beschlossen, so im Saarland, oder liegen als Entwurf vor, so in Baden-Württemberg und in Niedersachsen. Weil Rundfunk ein – wie es der konservative Staatsrechtlicher Prof. Werner Weber genauso wie der progressive Staatsrechtler Prof. Helmut Ridder genannt haben – „Machtinstrument allerersten Ranges“ ist, wurde schon früh das Staatsmonopol für dieses Medium gefordert, so von dem Hamburger Staatsrechtler Prof. Herbert Krüger in seinem für den NDR erstatteten Rechtsgutachten „Der Rundfunk im Verfassungsgefüge und in der Verwaltungsordnung von Bund und Ländern“. Die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols ist heute offen. Schwieriger liegt die Frage nach der demokratischen Legitimation der Presse. Wo liegt diese Legitimation und ist sie überhaupt notwendig? Vorab muß man sich klar machen, daß die Presse eine Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens ist, aber kein Teil der Staatsgewalt. Deshalb ist die von dem Stuttgarter Presserechtler Martin Löffler geprägte Formulierung von der Presse als „Vierte Gewalt“ nicht nur unglücklich, sondern auch falsch. Einem solchen Verständnis der Presse als „Vierte Gewalt“ steht nicht nur der klare Wortlaut des Grundgesetzes entgegen, der in Artikel 20 Absatz 2 die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung nennt, aber eben gerade nicht die Presse, sondern auch der Wesensunterschied, der
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darin liegt, daß staatliche Gewalten ihre Entscheidungen mit rechtlichen Mitteln, notfalls mit Zwang; durchsetzen können, während die Presse auf das Mittel des Überzeugens beschränkt ist. Macht und Einfluß sind keine Staatsgewalt im Sinne des Verfassungsrechts. Wer die Presse als „Vierte Gewalt“ bezeichnet, verbiegt nicht nur das verfassungsrechtliche Begriffsinstrumentarium, sondern muß sich dann auch der Frage stellen, wo er Gewerkschaften, Kirchen und Parteien einordnet – etwa als 5., 6. und 7. Gewalt? Weil das Verfassungsgebot der Gewaltenteilung nicht auf außerstaatliche Erscheinungen gemünzt ist, sollte auch der Ausdruck „publizistische Gewaltenteilung“ vermieden werden. Am ehesten könnte die politische Presse noch mit den politischen Parteien verglichen werden; denn von beiden – Parteien wie Presse – wird gesagt, sie seien Mittler zwischen Bürger und Staat. Jedoch ist auch insoweit die Entscheidung des Grundgesetzes eindeutig – nämlich gegen eine verfassungsrechtliche Parallele. Artikel 21 GG mit dem darin enthaltenen Gebot, daß die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muß, und daß die Partei über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft ablegen muß, gilt gerade nur für die politischen Parteien, nicht aber für andere gesellschaftliche Gruppen und Verbände. Die Legitimation der Presse ist die der Öffentlichkeit. Das „Plebiszit der Füße“ am Kiosk ist die „Wahl“, wobei der „Wechselleser“ allerdings wohl nicht viel häufiger existiert als der Wechselwähler. Da die Medien keine Staatsgewalt sind, trifft die Medien auch keine einklagbare staatsrechtliche Verantwortlichkeit. Diese Tatsache enthebt die Medien nicht von jeder Verantwortung. Auch wer dem in Presse- und Rundfunkgesetzen gebrauchten Begriff der „öffentlichen Aufgabe“ kritisch gegenübersteht, wird eine moralische Verantwortlichkeit nicht leugnen können. Von Max Weber kennen wir die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Beides sollte beim guten Journalisten zusammentreffen, einmal, weil er Macht ausübt, zum anderen weil die rechtlichen Mittel eines von oder in Medien Angegriffenen, insbesondere der Gegendarstellungsanspruch, nach deutschem Recht unzureichend sind. Die Kategorien, die die Berufsethik des Journalisten ausfüllen, sind nicht juristischer Natur und sie brauchen nicht in Berufskodizes aufgeführt oder in Aufrufen unterschrieben zu werden; aber diese Kategorien brauchen
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deshalb nicht weniger verbindlich zu sein. Drei Kategorien sollen hier herausgegriffen werden, die für das Thema „Medien und Politik“ besonders wichtig sind. Jede dieser drei Kategorien ist an sich eine Selbstverständlichkeit, aber tatsächlich wird gegen diese Selbstverständlichkeit verstoßen. Gemeint sind die Kategorien Fairneß, Qualität, Unabhängigkeit. Zur Fairneß: Der Journalist hat gegenüber dem Rezipienten (Leser, Hörer, Zuschauer) einen Informationsvorsprung. Otto B. Roegele hat seinem in der Festschrift für Elisabeth Noelle-Neumann veröffentlichten Beitrag „Warum so viele Journalisten glückliche Menschen sind“ den Informationsvorsprung als einen der Faktoren genannt, die vielen Journalisten ihren Beruf so schätzenswert erscheinen lässt. Der Informationsvorsprung kann zeitlicher Art sein, er kann aber auch – etwa bei Berichten über Veranstaltungen – der Vorsprung der Anwesenheit sein. Weil der Leser (Hörer, Fernsehzuschauer) eben nicht am Ort des Geschehens „dabei“ ist, sondern ihm die Anwesenheit erst und nur durch die Medien vermittelt wird, darf die vermittelnde Hand des Journalisten nicht tricksen. Auch engagierter Journalismus darf nicht aus Schwarz Weiß machen oder aus Weiß Schwarz, kurz: es darf nicht manipuliert werden, weder mit Geschehnissen noch mit Worten. Besonders heikel ist die Grenze zwischen Manipulation und Wortspiel. Ein Feuilletonchef einer großen Hamburger Wochenzeitschrift nennt die Ablehnung der Herstellung des Kuby-Buches über die Stern-Affäre um Hitlers Tagebücher durch den Verleger einen Akt der Zensur. Natürlich weiß der Feuilletonchef, daß der Ausdruck Zensur einen ganz bestimmten Inhalt hat, nämlich die Abhängigmachung der Verbreitung eines geistigen Werkes von behördlicher Genehmigung, um die es in diesem Fall gerade nicht ging. Vermutlich hat derselbe Feuilletonchef Dutzende von Manuskripten abgelehnt, ohne diese seine Ablehnung als Zensur zu bezeichnen. Die Liste der Wortwechsel ließe sich beliebig verlängern. Der Abschuß eines Passagierflugzeuges wird zur „Tragödie“, zum „Drama“, zur „Katastrophe“; Gesetzesverletzungen werden zu „Regelverletzungen“; Todesschußautomaten werden zu „Selbstschußanlagen“ – schießt die Anlage auf sich selbst oder will das Opfer Selbstmord begehen? Und was heißt: „Feindbild“? „Leihstimme“? „Gewaltfreier Bürgerkrieg“?
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Zur Qualität: Klagen über zu wenig Recherchenjournalismus im Verhältnis zu zuviel „meinungsengagiertem Journalismus“ (C. Ahlers) sind oft erhoben, aber wenig erhört worden. Journalismus ist für viele kein Bewegungssport, und selbst der Telefonhörer scheint zur Hantel zu werden, die ungern gewuchtet wird. In einem Artikel in einer evangelischen Wochenzeitschrift konnte man lesen, daß 17 Professoren der Universität Tübingen die Stationierung von Pershing II für rechtswidrig halten. Eine wichtige Information; nur: hätte nicht recherchiert werden sollen, ob dies Professoren für Verfassungs- und Völkerrecht oder Professoren für Zahnmedizin waren? Und: hätte sich nicht ein Anruf bei der Universität Tübingen gelohnt, der die Auskunft erbracht hätte, daß die Uni Tübingen 508 Professoren hat? Qualität müßte sich aber auch im frühzeitigen Erkennen von Mißständen zeigen. In Sachen Volkszählung haben die Medien offensichtlich ebenso geschlafen wie die Politiker. Gleichgültig wie die Entscheidung über das Volkszählungsgesetz ausgeht, so ist jedenfalls die Brisanz der Volkszählung lange nicht erkannt worden. Gleiches gilt für den fälschungssicheren Personalausweis; hier klappte die Presse nach. Einige Zeitschriften noch später als andere – insbesondere den in einer großen Wochenzeitschrift veröffentlichten Artikel des ehemaligen Bundesbeauftragten für den Datenschutz hätte man früher erwarten dürfen. Medien und Politiker entwickeln sich immer mehr zu Blitzmerkern mit Zeitzündung. Es fehlt – nicht auf der lokalen, wohl aber auf der Bundesebene – eine ausreichende laufende Parlamentsberichterstattung, die aufspürt. Zur Unabhängigkeit: Es ist wenig dagegen einzuwenden, daß Journalisten sich parteipolitisch engagieren Dabei ist unter anderem zu bedenken, daß in der Bundesrepublik Deutschland Partei- und Meinungszeitungen ungleich seltener sind als in der Zeit der Weimarer Republik. Von den damals erscheinenden 4703 Zeitungen waren 973 Parteizeitungen, 1270 Zeitungen waren Meinungsblätter mit einer ausgeprägten bestimmten politischen Richtung. Jedoch sollten Journalisten sich ihre innere und äußere Unabhängigkeit bewahren und sich nicht unnötig dem Vorwurf der Befangenheit aussetzen. Soll eine Journalistin einer Rundfunkanstalt, die einer Partei angehört und für eine Regierungsmannschaft dieser Partei vorgesehen war, über einen Parteitag eben dieser ihrer Partei berichten? Ist es – abgesehen vom Werbegag – gut, daß ein ehemaliger Bundeskanzler und immer noch
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prominentes Mitglied des Vorstandes einer Partei Mitherausgeber einer unabhängigen Wochenzeitschrift wird? Und ist es gut, daß er im Sonderheft einer Frauenzeitschrift das neueste Buch seiner Mitherausgeberin bespricht? Ist es gut, daß bei Parteiveranstaltungen, an denen Rundfunkjournalisten als Redner oder Podiumsdiskutanten teilnehmen, unübersehbar deren öffentlich-rechtliche Anstalt mit genannt wird? Aber warum nicht? Die Grenzen sind fließend. Vieles ist eine Geschmacksfrage.
Personenregister A., Sami 57, 59, 60, 61, 62, 63 Ahlers, Conrad 134 Albers, Hans 6 Altenbockum, Jasper von 82 Augstein, Franziska 67 Augstein, Rudolf 37, 120
Ehring, Christian 82 Eilert, Bernd 44 Enzensberger, Hans Magnus 120 Ernst, Anna 112 Erzberger, Matthias 96 Everts, Carmen 52
Bahners, Patrick 43, 99 Bähr, Julia 44 Barak, Ehud 55 Barley, Katarina 60 Bergmann, Theodor 67 Bernadotte, Graf Folke 56 Beust, Ole von 80 Beyer, Susanne 125 Bin Ladin, Usama 57 Blom, Philip 45 Blum, Roger 82 Bodenmann, Peter 65 Born, Michael 30 Brandts, Ricarda 58 Broder, Hendryk M. 55 Buback, Siegfried 96 Bubrowski, Helene 60, 91 Bucerius, Gerd 37 Buhrow, Tom 110
Fabritius, Bernd 74 Filbinger, Hans 129 Fischer, Michael 78 Freier, Burkhard 53 Frenkel, Max 20 Friedrich, Hanns Joachim 37
Canaris, Wilhelm 86 Choltitz, Dietrich von 67 Croitorou, Joseph 55 Diez, Georg 29 Dönhoff, Marion Gräfin 35, 36 Drygalla, Nadja 78, 70
Gabriel, Sigmar 52 Gaschke, Susanne 31, 33 Gauck, Joachim 25 Gebühr, Otto 6 Geisel, Thomas 59 Gerhardt, Rudolf 18 Geyer, Christian 23 Goebbels, Joseph 5, 127, 128 Goldschmidt, Georges Arthur 66, 68 Grass, Günter 49, 72, 100 Grosz, George 112 Gujer, Eric 18 Habermas, Jürgen 23 Haldenwang, Thomas 90 Haller, Michael 115 Hanfeld, Michael 112, 118, 119 Harbarth, Stephan 116 Haßler, Jörg 32 Hay, Lothar 50 Heidemann, Gerd 30
Personenregister Heinemann, Gustav 128 Heinrich, Heiko 43 Herrhausen, Alfred 96 Herzog, Roman 37 Heusch, Andreas 58, 59 Hitler, Adolf 5, 66, 77 Hochhuth, Rolf 129 Holst, Thomas 51 Iken, Matthias 105 Jäger, Christina 50 Jarass, Hans D. 129 Jens, Walter 85 Jost, Pablo 32 Juncker, Jean-Claude 87 Kaczynski, Jaroslaw 75 Kant, Immanuel 71 Kappeler, Beat 17 Keplinger, Hans Mathias 33 Klaus, Václav 39 Koch, Dirk 37 Koch, Tanit 18 Koeppen, Wolfgang 75 Köpp, Gabi 125 Kramp-Karrenbauer, Annegret 53 Kretschmann, Winfried 71 Kretschmer, Michael 91 Krüger, Herbert 131 Kruschinski, Simon 32 Kunig, Philip 7 Kutschay, Thomas 59 Laschet, Armin 111 Lasswell, Harold D. 128 Liermann, Christiane 69 Lijnden, Constantin van 96 Lilienthal, Volker 26 Locke, Stefan 80, 92 Loewenstein, Karl 128 Löffler, Martin 7, 131
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Lohse, Eckart 60 Losensky, Patrick 83 Lübcke, Walter 96 Lucke, Bernd 83 Lüpertz, Markus 74 Lüscher, Kurt 128 Luxemburg, Rosa 96 Maaßen, Hans-Georg 92, 93, 94, 95 Macron, Emmanuel 113 Maihofer, Werner 129 Maron, Monika 25 Matussek, Matthias 18 Maurer, Marcus32 Mayorga, Kathryn 121, 122, 123, 124, 125 McEwan, Ian 44 Menasse, Robert 30 Merkel, Angela 41, 92, 96, 113 Merz, Friedrich 40 Metzger, Dagmar 52 Mill, John Stuart 7 Mirzo, Laila 27 Mohr, Reinhard 14 Möller, Claus 50 Mueller, Otto 72 Müller, Reinhard 84 Mussolini, Benito 69 Nahles, Andrea 88, 89, 97 Neff, Benedict 34 Niggemeier, Stefan 29 Nixon, Richard 129 Noelle-Neumann, Elisabeth 129, 133 Nooke, Günter 103 Nowottny, Friedrich 36 Orbán, Viktor 87 Palmer, Boris 88 Papier, Hans-Jürgen 63 Paris, Rainer 45
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Personenregister
Peres, Schimon 55 Pieroth, Bodo 98 Ponto, Jürgen 96 Pöttker, Horst 106 Prantl, Heribert 102, 111 Rantisi, Jassin Ahmed 55 Rathenau, Walter 96 Rau, Johannes 48 Relotius, Claas 29, 30, 66 Reul, Herbert 96 Ridder, Helmut 7, 131 Riemer, Horst-Ludwig 48 Rödder, Andreas 40, 80, 84 Roegele, Otto B. 133 Rohwedder, Detlev Karsten 96 Ronaldo, Christiano 121, 126 Rosen, Jay 31 Rosenkranz, Boris 29 Roßbach, Nicola 84 Rühmann, Heinz 6 Rushdie, Salman 13 Sahwil, Reem 41 Salvini, Matteo 42 Sarkozy, Nicolas 55 Sarrazin, Thilo 44,101, 102 Schäuble, Wolfgang 96 Scheuer, Andreas 42 Schleyer, Hanns-Martin 96 Schlink, Bernhard 20, 98, 100, 109 Schmidt, Helmut 37, 99 Schmidt, Manfred 22 Schneider, Peter 33 Scholz, Nina 43 Schröder, Gerhard 52 Schuller, Konrad 22 Schultze-Rhonhof, Gerd 68 Schulz, Martin 23, 52 Schwabe, Jürgen 62 Schwan, Gesine 22 Seehofer, Horst 117
Seibert, Steffen 92 Simonis, Heide 49, 50, 51 Sloterdijk, Peter 40, 44 Soros, George 87 Sprenger, Reinhard K. 16 Stamp, Joachim 57, 59, 60 Stefanowitsch, Anatol 88 Stegner, Ralf 50 Steingart, Gabor 52 Steinmeier, Frank-Walter 16, 105 Stolpe, Manfred 75 Stone, Oliver 16 Strauß, Franz Josef 129 Strunz, Claus 88 Tesch, Silke 52 Thurn und Taxis, Gloria Gräfin 105 Tönnies, Clemens 101, 103, 104, 105, 112 Tróksányi, László 43 Trump, Donald 13 Turner, Fred 17 Überall, Frank 118 Vaatz, Arnold 39 Vahabzadeh, Susan 125 Vesper, Michael 78 Voss, Peter 37 Wagner, Manfred 64 Wagner, Thomas 80 Walter, Jürgen 52 Wappler, Nathalie 38 Weber, Max 18, 131 Weber, Werner 131 Wehling, Elisabeth 21 Weidel, Alice 82, 83 Weizsäcker, Carl Fridrich von 128 Wickert, Ulrich 26 Wille, Karola 21
Personenregister Wilson, Woodrow 128 Wolf, Christa 49 Wörsdörfer, Rolf 69 Wowereit, Klaus 62 Würger, Takis 48
Ypsilanti, Andrea 51 Yücel, Denis 43, 46, 47 Zeh, Juli 23 Ziemiak, Paul 73
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Zum Autor Ingo von Münch, geboren 1932 in Berlin, Jurastudium in Frankfurt a.M. und an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Promotion 1957 mit einer Arbeit über Freie Meinungsäußerung; Habilitation 1963 für die Fächer Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Völkerrecht. Professor für Öffentliches Recht an der Ruhr-Universität Bochum 1965 – 1973, an der Universität Hamburg 1973 – 1998. Zweiter Bürgermeister, Wissenschafts- und Kultursenator der Freien und Hansestadt Hamburg sowie Mitglied des Bundesrates 1987 – 1991. Dr. h.c. (Rostock) 1994. Zwischen 1995 und 2001 Gastprofessor in Australien, Frankreich, Neuseeland, Südafrika und in den USA. Veröffentlichungen u. a.: Herausgeber: „Grundgesetz-Kommentar“ (1973 – 1985); „Gesetze des NS-Staates. Dokumente eines ,Unrechtssystems‘, 3. Aufl. Paderborn/München/Wien/Zürich 1994; Verf.: „Öffnungsklauseln bei Zeitungen und Zeitschriften“ (1977); „Rechtspolitik und Rechtskultur. Kommentare zum Zustand der Bundesrepublik Deutschland“ (2011); „Der Autor und sein Verlag“ (zusammen mit Georg Siebeck 2013); „Meinungsfreiheit gegen Political Correctness“ (2017). Zahlreiche Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, unter anderen in: Archiv des öffentlichen Rechts; Archiv des Völkerrechts; Archiv für Presserecht; Bild; Deutsches Verwaltungsblatt; Die Öffentliche Verwaltung; Focus; Frankfurter Allgemeine Zeitung; Frankfurter Rundschau; Hamburger Abendblatt; Hamburger Morgenpost; Handelsblatt; JURA-Juristische Ausbildung; Juristenzeitung; Juristische Schulung; Kölner Stadtanzeiger; Kunst und Recht; liberal; Magdeburger Volksstimme; Neue Juristische Wochenschrift; Neue Ruhr-Zeitung; Norddeutsche Neueste Nachrichten; Nordwestzeitung; Preußische Allgemeine Zeitung; Rheinische Post; Schlesien heute; Der Staat; Stern; Die Welt; Welt am Sonntag; Westfälische Rundschau; Zeitschrift für Beamtenrecht; Zeitschrift für Parlamentsfragen; Die Zeit; Zeitschrift für Europäisches Privatrecht.